Grundwissen Medizin
für Nichtmediziner in Studium und Praxis
1018
2021
978-3-8385-5774-8
978-3-8252-5774-3
UTB
Reinhard Strametz
Ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die sich im Studium oder in der Arbeit mit dem Gesundheitssystem und der Medizin beschäftigen.
Reinhard Strametz stellt medizinisches Grundwissen fundiert und leicht verständlich vor und führt kundig in Fachtermini ein. In den Mittelpunkt stellt er u.a. den Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses von der Anamnese bis zur Therapie sowie wichtige Methoden und Ansätze der Medizin, etwa die Evidenzbasierte Medizin und die Prävention.
Auf Krankheitsbilder wie etwa Adipositas, Diabetes mellitus, Schlaganfall und Krebs geht er ebenso ein wie auf Pandemien und das Coronavirus SARS-CoV-2 (Covid-19). Auch Spannungsfelder der Medizin, die sich aus der Ökonomisierung und Digitalisierung ergeben, finden Beachtung.
Die 5. Auflage wurde überarbeitet und in den Bereichen Diabetes, Covid-19 und Regelungen zum assistierten Suizid überarbeitet und erweitert.
<?page no="0"?> Reinhard Strametz Grundwissen Medizin für Nichtmediziner in Studium und Praxis 5. Auflage <?page no="1"?> utb 4669 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="3"?> Reinhard Strametz Grundwissen Medizin für Nichtmediziner in Studium und Praxis 5., überarbeitete und erweiterte Auflage mit einem Geleitwort von Dr. med. Günther Jonitz, ehemaliger Präsident der Ärztekammer Berlin und einem Gastbeitrag von Vince Ebert UVK Verlag · München <?page no="4"?> Einbandmotiv: © NanoStockk · iStock Autorenportrait: Foto Studio Hoffmann, Frankfurt am Main Abbildungen: Abb. 3: Minimalinvasive Operation am Beispiel der Laparoskopie (© Bilderzwerg - fotolia.com), Abb. 4: Schematische Darstellung der kathetergestützten Wiedereröffnung (© dissoid - fotolia.com), Abb. 9: Funktionskeise der TCM (© Johannes Sense), Abb. 11: TCM Leitbahnen (© Peter Hermes Furian - iStock), Abb. 12: Schematische Darstellung des Herz-Kreislauf-Systems (© Thieme, Stuttgart) Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.dnb.de> abrufbar. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2020 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2019 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2017 1. Auflage 2016 © UVK Verlag 2021 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck UTB-Nr. 4669 ISBN 978-3-8252-5774-3 (Print) ISBN 978-3-8385-5774-8 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5774-3 (ePub) <?page no="5"?> Der Autor Dr. Reinhard Strametz ist Arzt und Ökonom. Nach seinem Medizinstudium in Frankfurt am Main war er acht Jahre ärztlich am dortigen Universitätsklinikum tätig. Als Facharzt für Anästhesiologie übernahm er für vier Jahre die Ärztliche Leitung der Stabsstelle Qualitätsmanagement am Universitätsklinikum Frankfurt. Im Rahmen seiner zahlreichen Tätigkeiten in Organisationen wie dem Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. und der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V. sowie nationalen und internationalen Normungsgremien im Bereich Qualität und Sicherheit in der Medizin, hat er an der Entwicklung zahlreicher Handlungsempfehlungen und Normen zur Verbesserung der Patientenversorgung mitgewirkt. Reinhard Strametz ist Professor an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschungstätigkeiten insbesondere mit Aspekten der Patientensicherheit. Ob als Dozent, Autor oder Keynote-Speaker, die Verknüpfung einer humanen und wissenschaftsbasierten, sicheren und patientenorientierten Medizin mit ökonomisch sinnvollen Lösungen aus Qualitäts- und Risikomanagement ist zentrales Anliegen seiner Tätigkeiten. <?page no="6"?> Geleitwort »A g ’ sunder Mensch hat viele Wünsch‘. A Kranker bloß oin.« schwäbisches Sprichwort Gesundheit geht uns alle an und ist längst nicht mehr eine geheime Wissenschaft, die nur vom hoch angesehenen Stand der Ärzteschaft durchschaut und gestaltet wird. Wissen über Gesundheit und Medizin betrifft jeden, der mit kranken Menschen oder Krankheiten zu tun hat. Dieses Buch vom klinisch erfahrenen und theoretisch äußerst beschlagenen Professor Dr. med. Reinhard Strametz füllt eine wichtige Lücke. Grundwissen über Gesundheit und Krankheit, über die Medizin und ärztliche Versorgung wird in nahezu allen wesentlichen Aspekten in verständlicher Form dargestellt, Zusammenhänge erläutert und die Fähigkeit, Wichtiges von weniger Wichtigem, Relevantes von Nichtrelevantem zu unterscheiden, gefördert. Gerade in einer Zeit, in der eine Vielzahl neuer Berufsgruppen Mitverantwortung in der Patientenversorgung übernimmt, ist ein gutes Verständnis dessen, was Medizin ist, wie sie funktioniert und wo ihre Möglichkeiten und Grenzen liegen, eine essentielle Voraussetzung für gute Zusammenarbeit zum Wohle des Patienten. Gerade in Zeiten gesundheitlicher Bedrohung ist solides Grundwissen wichtig. Angst, z. B. vor Krankheiten, macht unfrei und selbst anfällig, sauberes Wissen macht souverän und frei, auch im Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Ich danke Reinhard Strametz für sein aufklärendes Engagement bei höchster Kompetenz und wünsche dem Buch eine große Verbreitung. Mit herzlichen Grüßen Ihr Günther Jonitz Berlin, im Mai 2021 ehemaliger Präsident der Ärztekammer Berlin <?page no="7"?> Vorwort zur 5. Auflage Mit der fünften Auflage in fünf Jahren zeigt sich die medizinische Entwicklung auf vielfältige Weise. Innovativ und patientenorientiert am Beispiel der stärkeren Betonung patientenrelevanter Endpunkte und partizipativer Entscheidung in der Nationalen Versorgungsleitlinie Diabetes mellitus, kontrovers im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung des assistierten Suizides und bedrückend in der Entwicklung der Todesfallzahlen nach COVID-19-Infektion mit 3,4 Millionen Corona-Toten weltweit bei Redaktionsschluss dieser Auflage gegenüber ca. 7.500 bei Erscheinen der letzten Auflage. Mein besonderer Dank in dieser Auflage gilt den Kollegen vom arznei-telegramm® für die Abdruckgenehmigung der 10 Indizien für Quacksalberei sowie Martin Strickler und meiner Ehefrau Mirjana Matic-Strametz für die vielen wertvollen Hinweise. Frankfurt am Main, im August 2021 Reinhard Strametz Vorwort zur 4. Auflage Es freut mich sehr, innerhalb von 4 Jahren nun die Vorbereitungen der 4. Auflage nahezu abgeschlossen zu haben. Die Erstellung dieser Auflage geschieht unter dem Eindruck der Corona-Pandemie, die derzeit das gesellschaftliche, medizinische und politische Leben dominiert und die Interventionsmöglichkeiten bei einer Pandemie jeden selbst erfahren lässt. Umso wichtiger zur Bewältigung einer solchen globalen Krise ist solides medizinisches Grundwissen, Fakten statt Fake News! Nachdem dieses Buch in jeder Auflage überarbeitet und erweitert wurde, finden sich die wesentlichen Änderungen dieser Auflage im vierten Kapitel dieses Buches: Selbstverständlich wurde die leider wahrgewordene Vorhersage kommender Pandemien ersetzt durch eine erweiterte Übersicht zu Merkmalen einer Pandemie, den allgemeinen <?page no="8"?> Strategien zur Bekämpfung einer Pandemie und natürlich auch dem derzeitigen Wissensstand zum SARS-CoV-2-Virus. Es handelt sich jedoch dabei nur um eine Momentaufnahme, die in Teilen bei Erscheinen des Buches schon wieder überholt ist. Umso wichtiger an dieser Stelle der Appell, auch nach der hoffentlich baldigen Bewältigung der Corona-Pandemie, medizinische Informationen stets kritisch zu überprüfen und nicht unreflektiert über soziale Medien zu teilen. Einige hilfreiche Hinweise und Illustrationen zur Einschätzung medizinischer Risiken sind im Kapitel Eigenverantwortung aufgenommen worden. Darüber hinaus erfährt das Thema Patientensicherheit, die inhaltliche Klammer dieses Buches, zusätzliche Bedeutung, indem der gerechte Umgang mit Behandlungsfehlern thematisiert wird. Ich danke erneut zahlreichen meiner Studierenden für wertvolle Korrekturhinweise und Ergänzungen, ebenso wie Dr. Günther Jonitz für sein Geleitwort und Vince Ebert für seinen Fachbeitrag zur Frage, was ein Bier im Kühlschrank mit Wissenschaft zu tun hat. Anregungen und Feedback sind nach wie vor herzlich willkommen! Frankfurt am Main, im April 2020 Reinhard Strametz Vorwort zur 3. Auflage Nach nicht einmal anderthalb Jahren seit Veröffentlichung der ersten Auflage erscheint nun die dritte Auflage dieses Buches. Die Hoffnung, mit diesem Buch gleichsam einen relevanten Beitrag zum Verständnis der Medizin in unserem Gesundheitssystem zu leisten und eine bis dahin vorhandene Wissenslücke zu schließen, scheint sich somit bestätigt zu haben. Die in der ersten Auflage unterstellte Dynamik des deutschen Gesundheitswesens hat sich auch in der kompletten Überarbeitung dieses Buches gezeigt. So sind in der 2. Auflage bereits die Kapitel „Medizin als ärztliche Heilkunst“ und „Medizin als Hochrisikobereich“ hinzugekommen. Die dritte Auflage wird durch die Bereiche „Value(s)-based Medicine“ und „Digitalisierung in der Medizin“ ergänzt. <?page no="9"?> Gleichzeitig wurden viele Textpassagen an aktuelle politische, aber auch medizinische Entwicklungen angepasst. So wurde beispielsweise das Kapitel Asthma bronchiale nach Erscheinen der 3. Auflage der Nationalen Versorgungsleitlinie komplett überarbeitet. Besonders gefreut haben mich die zahlreichen positiven Rückmeldungen und konstruktiven Ergänzungsvorschläge vieler Studierender und Kollegen. Stellvertretend möchte ich mich insbesondere herzlich bei Dr. Günther Jonitz bedanken für dessen zahlreiche Hinweise und Tipps, von denen die Lesenden dieser Auflage profitieren werden, und für sein Geleitwort. Mein herzlicher Dank geht ebenfalls an Vince Ebert, den ich nach einem seiner Auftritte in Frankfurt am Main treffen durfte, und der mir nach unserem Gespräch quasi aus dem Stand den in dieser Auflage erstmals erscheinenden Gastbeitrag zur Verfügung gestellt hat. Er beantwortet die hoch relevante Frage, was ein Bier im Kühlschrank mit Wissenschaft zu tun hat (S. 75). Seien Sie gespannt! Ich hoffe, dass auch diese Auflage zu einem vertieften Verständnis medizinischer Inhalte führt und letztlich dadurch, an welcher Stelle auch immer es nötig erscheint, zu einer Verbesserung der Patientenversorgung beitragen kann. Weiterhin sind Anregungen und konstruktive Kritik ausdrücklich erwünscht, um in künftigen Auflagen berücksichtigt werden zu können. Frankfurt am Main, im März 2019 Reinhard Strametz Vorwort zur 2. Auflage Gesundheitssysteme der westlichen Welt zählen zu den umsatzstärksten, aber auch komplexesten Branchen der Welt. Die klassischen Berufsgruppen von Ärzteschaft und Pflege wurden um eine Vielzahl an Berufen unterschiedlichster Art ergänzt, um die Komplexität dieses Gebietes beherrschbar und zukunftsfähig zu machen. Dies findet zum einen durch die zunehmende Differenzierung und Akademisierung der Gesundheitsfachberufe, zum anderen durch zunehmend spezialisierte Ausbildungen im administrativ-theoretisch-technischen Bereich wie <?page no="10"?> der Gesundheitsökonomie, der Medizinischen Informatik, der Epidemiologie oder der Medizintechnik statt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es jedoch unabdingbar, den Kern dieses Systems, die medizinische Versorgung - die nach Auffassung des Autors sowohl ärztliche als auch pflegerische Versorgung einschließt - zu kennen und zu verstehen. Dieses Lehrbuch soll - als meines Wissens nach erstes dieser Art - insbesondere Studierenden nicht-medizinischer Studiengänge zu Beginn ihres Studiums einen überschaubaren, aber auch fundierten Einblick in die Medizin ermöglichen und das notwendige Grundwissen vermitteln, um als Fachexperten auf ihrem jeweiligen Gebiet mit medizinischem Grundverständnis das Gesundheitssystem zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu gestalten. Ich danke allen, die mich bei der Realisierung dieses Buches unterstützt haben, insbesondere meiner Ehefrau für die wertvollen Kommentare aus der Sicht einer Nicht-Medizinerin. Dieses Buch ist eine Momentaufnahme eines dynamischen Gesundheitssystems und der von stetigem Wissenszuwachs geprägten Medizin. Anregungen und konstruktive Kritik sind daher ausdrücklich erwünscht und herzlich willkommen. Frankfurt am Main, im August 2017 Reinhard Strametz <?page no="11"?> Hinweis ∣ Haftungsausschluss Die Medizin unterliegt einem ständigen Wandel, sodass einzelne Angaben in diesem Buch bereits nicht mehr dem aktuellen Stand des Wissens entsprechen können. Alle medizinischen Inhalte wurden sorgfältig recherchiert, stellen aber lediglich Informationen zur Orientierung in der Berufsausbildung dar. Dieses Buch ersetzt keinesfalls eine individuelle Beratung, Diagnostik oder gar Therapie durch fachkompetente Behandelnde. Bei Anwendung eines der genannten Medikamente obliegt es jedem Benutzer, durch sorgfältige Prüfung der Packungsbeilage, Indikation, Dosierung und mögliche Kontraindikationen zu prüfen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Autor und Verlag appellieren an die Leser, eventuell vorhandene Fehler dem Verlag mitzuteilen. Für Schäden, die aus der Anwendung der hier dargestellten Inhalte und aus dem Verzicht auf Inanspruchnahme kompetenter Behandelnder resultieren, wird somit keinerlei Haftung übernommen. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. <?page no="13"?> Inhalt Der Autor .............................................................................................................5 Geleitwort ...........................................................................................................6 Vorwort ................................................................................................................7 1 Einführung in die Systematik der Medizin ..................................19 1.1 Medizinische Grundprinzipien ...................................................19 1.1.1 Primum nil nocere........................................................................19 1.1.2 Salus aegroti suprema lex...........................................................20 1.2 Meilensteine in der Geschichte der Medizin ...............................22 1.2.1 Hygienische Händedesinfektion...............................................23 1.2.2 Impfungen ......................................................................................24 1.2.3 Anästhesie und aseptisches Arbeiten......................................27 1.2.4 Entdeckung des Penicillins ........................................................28 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses .........30 1.3.1 Anamnese.......................................................................................30 1.3.2 Diagnostik ......................................................................................32 1.3.3 Diagnose .........................................................................................35 1.3.4 Prognose .........................................................................................37 1.3.5 Therapie..........................................................................................38 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie ................................41 1.4.1 Terminologie vs. Nomenklatur .................................................42 1.4.2 Zusammengesetzte Fachbegriffe ..............................................43 1.4.3 Weitere Arten medizinischer Fachbegriffe ............................46 1.4.4 Fallstricke bei medizinischen Fachbegriffen..........................50 <?page no="14"?> 14 Inhalt 1.5 Medizin als ärztliche Heilkunst ..................................................56 2 Methoden und Ansätze der Medizin ........................................61 2.1 Arzneimitteltherapie ....................................................................61 2.2 Interventionell-operative Medizin .............................................66 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) ...............................................71 2.3.1 Entstehung und Begriffsdefinition...........................................71 2.3.2 Medizin zwischen Kunst und Wissenschaft ..........................72 2.3.3 Die 5 Schritte der EbM nach Sackett .......................................73 2.3.4 Grundlagen medizinischer Studien..........................................75 2.3.5 Bewertung diagnostischer Studien ..........................................87 2.3.6 Bewertung therapeutischer Studien ........................................96 2.3.7 Zusammenfassende Arbeiten ................................................. 107 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung ................................ 112 2.4.1 Arten von Prävention............................................................... 112 2.4.2 Gesundheitsförderung.............................................................. 117 2.5 Disease-Management-Programme (DMP) ........................... 125 2.5.1 Gründe für die Einführung von DMPs................................. 125 2.5.2 Voraussetzungen zur Etablierung eines DMPs .................. 126 2.5.3 Bisher eingeführte DMPs in Deutschland ........................... 128 2.5.4 DMPs - ein Erfolgsmodell? ..................................................... 129 2.6 Palliativmedizin/ Palliative Care .............................................. 132 2.6.1 Die Geschichte der Palliativmedizin..................................... 132 2.6.2 Grundannahmen der Palliative Care .................................... 134 2.6.3 Schmerztherapie als Säule der Palliativmedizin ................ 136 2.6.4 Palliativmedizin contra Sterbehilfe? ..................................... 137 <?page no="15"?> Inhalt 15 2.7 Alternativmedizin ...................................................................... 140 2.7.1 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) .......................... 140 2.7.2 Homöopathie .............................................................................. 149 2.7.3 Möglichkeiten und Grenzen der Alternativmedizin......... 153 2.8 Individualisierte Medizin .......................................................... 157 2.8.1 Grundkonzept der Individualisierten Medizin................... 158 2.8.2 Diagnostische/ Prognostische Ansätze ................................. 159 2.8.3 Therapeutische Ansätze........................................................... 161 2.8.4 Ethische Problemfelder ............................................................ 161 3 Ausgewählte Krankheitsbilder ................................................ 165 3.1 Adipositas .................................................................................... 165 3.1.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 165 3.1.2 Diagnostik ................................................................................... 167 3.1.3 Therapeutische Konzepte ........................................................ 168 3.1.4 Primärpräventive Maßnahmen .............................................. 170 3.2 Diabetes mellitus ....................................................................... 171 3.2.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 171 3.2.2 Diagnostik ................................................................................... 174 3.2.3 Insulinsubstitution/ Stufentherapie ....................................... 175 3.2.4 Prognose und Perspektiven .................................................... 176 3.3 Arterielle Hypertonie ................................................................ 178 3.3.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 180 3.3.2 Diagnostik ................................................................................... 182 3.3.3 Therapeutische Konzepte ........................................................ 182 3.3.4 Prognose ...................................................................................... 183 3.4 Akutes Koronarsyndrom .......................................................... 184 3.4.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 184 <?page no="16"?> 16 Inhalt 3.4.2 Diagnostik ................................................................................... 186 3.4.3 Therapeutische Konzepte ........................................................ 187 3.4.4 Prognose und Präventive Maßnahmen................................ 187 3.5 Schlaganfall ................................................................................. 188 3.5.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 188 3.5.2 Diagnostik ................................................................................... 190 3.5.3 Therapeutische Konzepte ........................................................ 191 3.5.4 Prognose und Perspektiven .................................................... 192 3.6 Krebserkrankungen ................................................................... 193 3.6.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 193 3.6.2 Diagnostische und therapeutische Ansätze ........................ 197 3.6.3 Prognose und Perspektiven .................................................... 198 3.7 Asthma bronchiale .................................................................... 199 3.7.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 199 3.7.2 Diagnostik ................................................................................... 200 3.7.3 Stufentherapie ............................................................................ 200 3.7.4 Prognose ...................................................................................... 203 3.8 Psychische Erkrankungen ....................................................... 204 3.8.1 Kontext der Erkrankung .......................................................... 204 3.8.2 Therapeutische Ansätze........................................................... 206 3.8.3 Prognose und Perspektiven .................................................... 207 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin ................... 211 4.1 Lebensverlängerung vs. Lebensqualität ............................. 211 4.1.1 Demographischer Wandel....................................................... 211 4.1.2 Wohl des Patienten/ Medizinethik......................................... 212 <?page no="17"?> Inhalt 17 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ..................... 214 4.2.1 Der Wille des Patienten als oberstes Gesetz ....................... 214 4.2.2 Aspekte der Eigenverantwortung ......................................... 217 4.2.3 Voraussetzung für eigenverantwortliches Handeln ......... 218 4.2.4 Empowerment vs. Anreizprogramme .................................. 223 4.3 Ökonomisierung der Medizin .................................................. 225 4.3.1 Ursachen zunehmender Ökonomisierung........................... 225 4.3.2 Gesundheitsökonomische Evaluation .................................. 227 4.3.3 Optimierung des Lebens .......................................................... 228 4.3.4 Optimierung des Sterbens ....................................................... 230 4.3.5 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)......................... 231 4.3.6 Value(s)-based Healthcare - Neuorientierung an Werten statt Einzelleistungen ...... 233 4.4 Globalisierung in der Medizin ................................................. 235 4.4.1 Chancen/ Risiken aus Patientensicht..................................... 236 4.4.2 Chancen/ Risiken aus Anbietersicht...................................... 237 4.4.3 Multiresistente Keime und Pandemien ................................ 239 4.5 Digitalisierung in der Medizin ................................................. 243 4.6 Medizin als Hochrisikobereich ................................................ 247 Glossar ............................................................................................................ 255 Index ................................................................................................................ 259 Hinweis ∣ Websites und Onlinematerialien Im Buch finden sich Verweise auf Websites und Onlinematerialien. Diese Links waren am 17. März 2020 aktiv und abrufbar. <?page no="19"?> 1 Einführung in die Systematik der Medizin 1.1 Medizinische Grundprinzipien Das Wissen über die Entstehung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen ist integraler Bestandteil jeder menschlichen Kultur. Basis der Anwendung und Weiterentwicklung der Medizin in unserem Kulturkreis ist dabei ein Selbstverständnis, das auf dem Corpus Hippocraticum beruht, einer Sammlung von 60 Schriftstücken der antiken griechischen Medizin aus dem 5. bis 2. vorchristlichen Jahrhundert. Hieraus wurden im Wesentlichen zwei Grundprinzipien abgeleitet. 1.1.1 Primum nil nocere Wissen Primum nil nocere, secundum cavere, tertium sanare (lat.): Zuallererst nicht schaden, als Zweites vorsorgen, zum Dritten (erst) heilen. Das Prinzip Primum nil nocere wurde von Scribonius Largus , Hofarzt des römischen Kaisers Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, etwa 50 n. Chr. aufgestellt und mag auf den ersten Blick verwundern, da die Absicht medizinischen Handelns auf den Erhalt der Gesundheit oder die Verbesserung eines Krankheitszustandes abzielt und an sich keine schädlichen Absichten in sich trägt. Es ist jedoch bereits vor fast 2000 Jahren aus der Erkenntnis entstanden, dass medizinisches Handeln, trotz bester Absicht, dem Patienten mehr schaden als nutzen kann. So können zum einen durch Fehler im Behandlungsablauf, aber zum anderen auch durch Risiken, die jede medizinische Behandlung in gewissem Maße in sich trägt, Schäden bei Patienten hervorgerufen werden, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen. So kann ein Patient nach einer Operation beispielsweise durch eine Infektion im Operationsgebiet eine schwer- <?page no="20"?> 20 Einführung in die Systematik der Medizin wiegende Komplikation bis hin zur Sepsis (Blutvergiftung) oder gar dem Tod erleiden, obgleich dies natürlich nicht beabsichtigt war. Ebenso kann ein Patient durch eine seltene aber gravierende Nebenwirkung eines ordnungsgemäß verschriebenen Medikamentes in hohem Maße beeinträchtigt werden oder schlimmstenfalls an der Nebenwirkung sogar versterben. Ergänzend zu dieser primär ärztlichen Erkenntnis stellt Florence Nightingale , die Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege, in ihren Notes on Hospitals im Jahr 1859 gleichermaßen fest: Wissen „It may seem a strange principle to enunciate as the very first requirement in a hospital that it should do the sick no harm.“ Es ist daher mit Fug und Recht bereits zu Beginn eines Medizinstudiums oder einer Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf an vielen Ausbildungsstätten gute Tradition, Studierende und Auszubildende auf diesen Umstand hinzuweisen, damit das Bewusstsein in ihnen reift, dass keine medizinische Maßnahme unabhängig von der Art oder der durchführenden Person frei von Risiken für den Patienten ist und dass daher jede Intervention vor Anwendung am Patienten im Einzelfall einer sorgfältigen Abwägung von erwartetem Nutzen und drohendem Schaden unterzogen wird. 1.1.2 Salus aegroti suprema lex Wissen Salus aegroti suprema lex (esto) (lat.): Das Wohl des Kranken (sei) höchstes Gesetz! Der oben erläuterte Grundsatz des Nicht-Schadens kann das heutige Selbstverständnis medizinischer Behandlung nicht alleine beschreiben, da unter strenger Auslegung der Aufforderung, keinesfalls zu schaden, auch keine medizinische Intervention möglich wäre. Er wird daher ergänzt um eine ethische Grundhaltung, die aktueller <?page no="21"?> Medizinische Grundprinzipien 21 denn je aufzeigt, was letztlich Triebkraft und Legitimation aller Akteure im Gesundheitswesen sein sollte, das Wohl des Patienten. Hierbei ist nicht gemeint, dass die Patientenversorgung an sich den alleinigen Grund des Handelns darstellt, dass jedoch, wenn Wohl des Patienten und andere Interessen einander gegenüberstehen, diese anderen Interessen das Wohl des Patienten nicht übersteigen dürfen. Dieser Grundsatz steht damit durchaus im Widerspruch zu ähnlich lautenden Grundsätzen wie dem von Cicero verfassten Grundsatz „Salus populi suprema lex (esto)“, also das Wohl des Volkes sei höchstes Gesetz, oder der Abwandlung des oben genannten Grundsatzes in „Salus aegrotorum suprema lex (esto)“, das Wohl der Kranken (als Gemeinschaft) sei höchstes Gesetz. So tritt dem individuellen Wohl des Patienten im Zuge knapper Ressourcen das Wohl der Gemeinschaft gegenüber. Die sich hieraus ergebenden Spannungsfelder werden im → Kapitel 4.3 wieder aufgegriffen. Der oben genannte Grundsatz hat außerdem im Zuge des Wandels der Arzt-Patienten-Beziehung eine Ergänzung erfahren. Neben dem Wohl des Patienten, das lange Zeit alleine durch den Arzt definiert wurde, rückt die mündige Selbstbestimmung des Patienten immer stärker in den Mittelpunkt der Arzt-Patienten-Beziehung. Mit der Ergänzung Salus et voluntas aegroti suprema lex (esto) wurde dem gesetzlich verankerten und gesellschaftlich grundsätzlich akzeptierten Recht auf Selbstbestimmung Rechnung getragen. Da in einer Vielzahl von Fällen aber das objektive Wohl des Patienten und sein subjektiver Wille in Widerspruch stehen können, ergeben sich durch diese Erweiterung ethische und auch juristische Spannungsfelder in der Medizin, die im → Kapitel 4.2 nochmals thematisiert werden. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Brodersen, K. (2016): Scribonius Largus, Der gute Arzt/ Compositiones. Lateinisch und Deutsch. Wiesbaden. <?page no="22"?> 22 Einführung in die Systematik der Medizin Krones, C.; Rosch, R.; Steinau; G., Schumpelick, V. (2007): Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb - die Patientensicht. In: Volker Schumpelick/ Bernhard Vogel (Hrsg.). Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb. Probleme, Trends und Perspektiven. Im Internet unter: http: / / www.kas.de/ upload/ dokumente/ verlagspublikationen/ Medizin/ Medizin_krones.pdf Nightingale, F. (1863): Notes on Hospitals. London. Im Internet unter: https: / / archive.org/ details/ notesonhospital01nighgoog 1.2 Meilensteine in der Geschichte der Medizin Erklärungsversuche zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen von Krankheiten vergangener Jahrhunderte muten für heutige Verhältnisse sonderbar an, sind jedoch das Resultat kontinuierlicher Forschung und Entdeckungen auf dem Gebiet der Medizin. Während sich die Beschreibung zahlreicher Krankheitsbilder und Krankheitsverläufe schon in der antiken Medizin wiederfindet, liegen die meisten Erfolge der modernen Medizin, die heute als selbstverständlich hingenommen werden, teilweise weniger als ein Jahrhundert zurück. Ebenso werden vermeintliche Innovationen in der Medizin in der gegenwärtigen Berichterstattung inflationär als Durchbrüche und Sensationen dargestellt, die wenigsten dieser Entdeckungen weisen jedoch tatsächlich das zugesprochene Potenzial auf. Wesentliche Basis des heutigen Krankheitskonzeptes der wissenschaftlich begründeten Medizin sind die im 19. Jahrhundert von Rudolf Virchow entwickelte Zellularpathologie sowie die wesentlich von Robert Koch und Louis Pasteur geprägte Mikrobiologie. Ihre Entdeckungen bildeten die Grundlage für nahezu alle in diesem Buch beschriebenen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Ebenso undenkbar wäre die heutige Medizin ohne die Entdeckung der nach seinem Entdecker Wilhelm Conrad Röntgen benannten Röntgen- Strahlung. <?page no="23"?> Meilensteine in der Geschichte der Medizin 23 Einige medizinische Errungenschaften werden im Laufe dieses Buches wie selbstverständlich erscheinen, was ihre Bedeutung für die Medizin und damit die betroffenen Menschen nicht mindern soll. So werden Meilensteine in der Chirurgie, wie beispielsweise minimalinvasive oder sogar kathetergestützte Operationsverfahren und Interventionen in → Kapitel 2.2. und → Kapitel 3.4.3. beschrieben. Auch die immensen Fortschritte im Bereich der Notfallmedizin, beispielsweise bei einem Herzinfarkt, vor 70 Jahren quasi noch ein sicheres Todesurteil, werden in diesem Buch an anderer Stelle in → Kapitel 3.4. beschrieben. Die vier im Folgenden beschriebenen Meilensteine zählen neben den bereits genannten Entdeckungen zu den bedeutendsten Errungenschaften der Medizin und sind Garanten für die immer weiter zunehmende Lebenserwartung und Lebensqualität der Bevölkerung. 1.2.1 Hygienische Händedesinfektion Die Übertragung von krankheitsauslösenden Keimen geschieht am einfachsten und häufigsten durch Hände. Sowohl im häuslichen Umfeld als auch in der medizinischen Versorgung ist dies somit der Hauptübertragungsweg von Krankheiten. Die hygienische Händedesinfektion bzw. das Händewaschen im häuslichen Umfeld ist somit eine der wirksamsten Methoden, der Verbreitung von Infektionen und den daraus erwachsenden Komplikationen vorzubeugen. Diese mittlerweile in der Medizin unbestrittene Erkenntnis geht auf die Überlegungen und Erkenntnisse von Ignaz Semmelweis (1818- 1865) zurück, der als Assistenzarzt in der Geburtshilfe des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien mit den hohen Sterblichkeitsraten auf der Wöchnerinnenstation konfrontiert war. Zur damaligen Zeit betrug die Sterblichkeit auf Entbindungsstationen, in denen Ärzte und Medizinstudenten tätig waren, zwischen 5 % und 30 % und lag somit um ein Vielfaches höher als in den Entbindungskliniken, an denen nur Hebammen ausgebildet wurden. Durch eine kleine Verletzung seines befreundeten Kollegen Jakob Kolletschka im Rahmen einer Leichensektion, die wenige Tage später zu dessen qualvollem Tod führte, erkannte Semmelweis einen Zusammenhang zwischen dem in seiner Klinik weit verbreiteten Kind- <?page no="24"?> 24 Einführung in die Systematik der Medizin bettfieber und der Sektion von Leichen. Die Medizinstudierenden, die nachmittags Wöchnerinnen untersuchten, sezierten zuvor am Vormittag zu Ausbildungszwecken Leichen. Semmelweis vermutete, dass ein „Leichengift“ für die Auslösung des Kindbettfiebers verantwortlich war und ordnete umgehend das Aufstellen von Waschtischen mit Chlorkalklösung an, an denen sich Studierende vor der Untersuchung der Patientinnen dieses Leichengift von den Händen abwaschen sollten. Seine Entdeckung führte dort, wo sie konsequent umgesetzt wurde, zu einer deutlichen Reduktion der Wöchnerinnen-Sterblichkeit . So konnte Semmelweis auf seiner eigenen Station die Sterblichkeitsrate von 12,3 % auf 1,3 % senken. Von vielen Kollegen seiner Zeit wurde seine Entdeckung jedoch als Zeitverschwendung und unvereinbar mit bisherigen Krankheitstheorien abgetan. Semmelweis, der in offenen Briefen seine Widersacher als „Apostel der Kadaversepsis“ bezeichnete, erlebte selbst den Siegeszug seiner Entdeckung nicht mehr und starb verbittert und unter mysteriösen Umständen im Jahre 1865 bei Wien. Erst in der folgenden Generation, in Kenntnis der Tatsache, dass Bakterien und nicht Leichengift als Krankheitserreger millionenfach auf Händen existieren und übertragen werden können, etablierte sich seine Methode. Dies wurde nicht zuletzt aufgrund der Arbeit des Chirurgen Joseph Lister möglich, der im Folgenden noch erwähnt werden wird. Während die Erkenntnisse der Notwendigkeit von Händehygiene heutzutage weltweit unbestritten sind, zeigen die Infektionsstatistiken, dass der Umsetzungsgrad empfohlener Maßnahmen noch nicht ausreichend ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rief im Jahr 2005 die Kampagne „Clean Care is Safer Care“ ins Leben, in der sich weltweit 162 Staaten verpflichtet haben, auf nationaler Ebene eine Kampagne zur Verbesserung der Compliance der Händedesinfektion durchzuführen. In Deutschland läuft diese Kampagne unter dem Titel Aktion Saubere Hände seit dem 1. Januar 2008. 1.2.2 Impfungen Infektionskrankheiten haben die Menschheit seit Beginn der Sesshaftigkeit immer wieder massiv beeinträchtigt. Eine Infektionskrankheit, <?page no="25"?> Meilensteine in der Geschichte der Medizin 25 seit dem Altertum bekannt und ab dem 15. Jahrhundert weltweit verbreitet, war jedoch besonders gefürchtet: die Pocken . In der damaligen Zeit wurden wie bei vielen Erkrankungen Verunreinigungen in der Luft, sogenannte Miasmen, für die Verbreitung der Krankheit verantwortlich gemacht. Heute wissen wir, dass die Erkrankung über Viren von Mensch zu Mensch durch Tröpfcheninfektion, also Niesen oder Husten verbreitet wurde. Die Erkrankung endete in etwa 30 % aller Fälle tödlich und sorgte bei den Überlebenden durch entstellende Narben und weitere mögliche Komplikationen wie Erblindung, Hörverlust, Lähmungen und Hirnschäden zu massiven Beeinträchtigungen. Im 18. Jahrhundert starb etwa jedes zehnte Kind vor seinem zehnten Lebensjahr an Pocken, für etwa 400.000 Menschen endete die Erkrankung jedes Jahr tödlich. Zahlreiche Versuche wurden daher unternommen, um Menschen vor diesem Schicksal zu bewahren. So wurden in Indien, China und in der Türkei Gesunde im Rahmen der Variolation mit dem Eitersekret leicht erkrankter Menschen bewusst infiziert, um einer schweren Erkrankung vorzubeugen. Diese Methode schütze allerdings nicht zuverlässig vor einer ernsthaften Erkrankung und hatte sogar das Potenzial, eine Epidemie auszulösen. Ab dem Jahr 1770 wurden Patienten mit Kuhpockensekret infiziert, im Glauben, damit einen schlimmeren Ausbruch der Pocken zu verhindern. Im Jahr 1796 unternahm der Landarzt Edward Jenner in seiner Praxis einen Versuch, der dem Kampf gegen die Erkrankung eine entscheidende Wendung geben sollte. Nachdem er der Landbevölkerung glaubte, die ihm versicherte, sie könne nach der Erkrankung an Kuhpocken, eine beim Melken der Kühe häufig übertragene Krankheit, nicht mehr an den echten Pocken erkranken, bestellte er die an Kuhpocken der Kuh Blossom erkrankte Melkerin Sarah Nelmes und den Sohn seines Gärtners James Phipps in seine Praxis ein. Er infizierte Phipps mit dem Sekret aus einer Kuhpockenpustel von Nelmes. Phipps zeigte kurze Zeit später milde Symptome der Erkrankung, die folgenlos ausheilten. Danach infizierte Jenner den Jungen mit dem Sekret eines todkranken an Pocken erkrankten Menschen. James Phipps erkrankte jedoch nicht, woraus Jenner schloss, dass die Immunisierung mit Kuhpocken einen wirksamen Schutz vor der Erkrankung bot. Jenner nannte die Methode aufgrund des aus der Kuh (lat. vacca) gewonnenen Impfstoffes Vaccination , ein Begriff, der sich im Englischen für alle Impfungen als <?page no="26"?> 26 Einführung in die Systematik der Medizin Fachbegriff in der Medizin bis heute etabliert hat. Impfstoffe tragen daher auch die Bezeichnung Vakzine. Ähnlich wie Semmelweis wurden Jenners Ergebnisse in der Fachwelt zunächst verleugnet, seine Methode setzte sich aber wesentlich schneller durch als die Händedesinfektion. Der ursprünglich aus Kuhpocken gewonnene Impfstoff wurde später aus abgeschwächten menschlichen Viren hergestellt, da dieser noch effektiver war. Einzelne Staaten führten sukzessive eine Impfpflicht gegen Pocken ein. Da die Erkrankung trotz Jenners Entdeckung im 20. Jahrhundert noch immer nicht ausgerottet war, startete die WHO die größte Kampagne gegen Infektionskrankheiten in ihrer Geschichte und konnte nach weltweit abgestimmten Impfaktionen und einigen Rückschlägen, zuletzt im ehemaligen Jugoslawien, am 8. Mai 1980 die Ausrottung der Erkrankung verkünden. Erkrankung Erkrankungen pro Jahr vor Impfprogramm Erkrankungen 2006 Rückgang in % Diphterie 175.885 0 100 Masern 503.282 55 99,9 Mumps 152.209 6.584 95,7 Pertussis (Keuchhusten) 147.271 15.632 89,4 Polio (Kinderlähmung) 16.316 0 100 Röteln 47.745 11 99,9 Rötelnembryopathie 823 1 99,9 Tetanus 1.314 41 99,9 Haemophilus Influenza Typ B und unbekannte (*) ca. 20.000 208 99,9 insgesamt 1.064.854 22.532 97,9 Impfnebenwirkungen - 15.484 - Tab. 1: Rückgang der Erkrankungszahlen nach Einführung von Impfprogrammen in den USA Quelle: CDC, The Pink Book: Course Textbook - 13. Auflage (2015), Kapitel 3, Seite 47, (*) Zahlen für HIB vor Einführung der Impfprogramme geschätzt, da keine systematische Datenerhebung vor Einführung eines Impfprogrammes erfolgte <?page no="27"?> Meilensteine in der Geschichte der Medizin 27 Das auf Jenner zurückgehende Prinzip der Impfung wurde auch für andere Erkrankungen angewandt, gegen die es außer einer Impfung keine ursächliche Behandlungsmöglichkeit gibt. So konnten die Erkrankungszahlen, und damit verbunden auch die Sterblichkeit und Komplikationen, für zahlreiche Erkrankungen wie in → Tabelle 1 gezeigt, deutlich reduziert werden. Allerdings sind weitere Ziele der Weltgesundheitsorganisation wie die Ausrottung der Masern nicht zuletzt am Widerstand zahlreicher Impfgegner bislang gescheitert. Dies verwundert angesichts der Erkenntnis, dass im Jahr 2012 nach Angaben der WHO noch immer 122.000 Menschen an Masern starben. Die Zahl der Erkrankungen konnte durch konsequente Impfaktionen binnen 10 Jahren um 75 % gesenkt werden. Ohne Impfmöglichkeit müsste von ca. 13,8 Millionen Todesfällen pro Jahr ausgegangen werden. Dies kann mit dem Erfolg der Impfungen an sich erklärt werden. Durch das starke Zurückdrängen der Erkrankungen geht das Problembewusstsein in der Bevölkerung verloren, sodass die Notwendigkeit weiterer Impfungen in Frage gestellt wird, da diese Erkrankungen ohnehin nicht vorkämen. Dass dies vielfach nur aufgrund flächendeckender Impfungen erreicht werden kann, bleibt dabei außer Acht. Diese Problematik wird auch als Präventionsparadox bezeichnet. 1.2.3 Anästhesie und aseptisches Arbeiten Während bis vor wenigen Jahrhunderten die Medizin nahezu vollständig auf chirurgische Eingriffe verzichtete und der Hippokratische Eid sogar einen Verzicht auf die Durchführung bestimmter Operationen enthält, ist die moderne Medizin ohne operativchirurgische Interventionen überhaupt nicht denkbar. Nach Schätzungen der WHO werden jährlich ca. 250 Millionen Operationen durchgeführt, die im Wesentlichen zwei Entwicklungen zu verdanken sind, der Möglichkeit, Patienten in Anästhesie schmerzfrei operieren zu können, und dem Arbeiten unter sterilen Bedingungen zur Vermeidung von Wundinfektionen. Das Geburtsdatum der modernen Anästhesie ist der 16. Oktober 1846, der sogenannte Ether Day. Der Zahnarzt William Thomas Green Morton führte in einem Operationssaal in Boston, der heute <?page no="28"?> 28 Einführung in die Systematik der Medizin Ether-Dome heißt, eine Äthernarkose an einem Patienten durch, dessen Geschwulst am Hals vom Chirurgen John Collins Warren entfernt wurde. Basierend auf diesem Erfolg wurden weitere Innovationen und neue Narkosemittel entwickelt, das medizinische Fachgebiet der Anästhesie etablierte sich jedoch erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Viele, der auf diese Weise ermöglichten Operationen, endeten für Patienten jedoch kurze Zeit nach dem Eingriff tödlich. In Operationssälen drängten sich unter ungünstigen klimatischen Bedingungen viele Studierende, Operationsbestecke wurden teils ohne Säuberung mehrfach benutzt und die von Semmelweis propagierte Händedesinfektion fand zunächst keine Anwendung. Der britische Chirurg Joseph Lister experimentierte in Kenntnis der Schriften von Louis Pasteur über Bakterien als Ursache von Fäulnisprozessen mit der Substanz Phenol (damals Karbolsäure genannt). Zunächst tränkte er Verbände mit Phenol, um die auf Wunden befindlichen Bakterien zu eliminieren, später ließ er bei Operationen das Operationsgebiet mit einem Nebel aus Phenol einsprühen, um so aseptische Bedingungen herzustellen. Mit der Entwicklung von Gummihandschuhen für das OP-Personal und der systematischen Desinfektion von OP- Instrumenten in Verbindung mit der von Semmelweis entdeckten Bedeutung der Händehygiene sanken die Sterblichkeitsraten aufgrund der vermiedenen postoperativen Infektionen deutlich ab. 1.2.4 Entdeckung des Penicillins Die Vermeidung von Infektionskrankheiten durch Impfungen und postoperativen Infektionen durch aseptisches Arbeiten rettete Millionen Menschen das Leben. Kam es jedoch zu einer Infektion, waren die Ärzte oft machtlos gegen die Bakterien. Zahlreiche Arzneien erwiesen sich als wenig effektiv oder hatten gravierende Nebenwirkungen. Die Entwicklung einer wirksamen und weitgehend verträglichen Therapie gegen Bakterien verdankt die Menschheit einem glücklichen Zufall. Der schottische Bakteriologie Alexander Flemming experimentierte 1928 an einer Bakterienkultur, die er vor seinem Sommerurlaub angelegt hatte. Nach seiner Rückkehr am 28. September 1928 musste er feststellen, dass die Bakterienkultur von <?page no="29"?> Meilensteine in der Geschichte der Medizin 29 einem Schimmelpilz namens Penicillium notatum überwuchert worden war. An den Orten des Pilzwachstums wurde durch eine vom Schimmelpilz produzierte Substanz das Wachstum der Bakterien komplett unterbunden. Fleming nannte die Substanz Penicillin und publizierte seine Ergebnisse 1929. Allerdings wurde Penicillin nach dieser Entdeckung noch nicht als Medikament eingesetzt. Im Jahr 1938 nahmen die Forscher Howard W. Florey, Ernst B. Chain und Norman Heatley die Arbeiten von Flemming auf und testeten die therapeutische Wirkung zunächst an Mäusen und dann am Menschen. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem immensen Bedarf an Penicillin für die alliierten Soldaten entwickelte sich die Produktion von Penicillin in den USA rasant. Penicillin als erster Vertreter der Arzneimittelgruppe der Antibiotika markierte in der Therapie bakterieller Wundinfektionen einen deutlichen Wendepunkt. Für die Entdeckung und Anwendung des Penicillins erhielten Sir Alexander Flemming, Howard W. Florey und Ernst B. Chain im Jahr 1945 den Nobelpreis für Medizin . Die Auswirkung dieser Entdeckung kann am besten anhand eines historischen Vergleichs dargelegt werden. Im Rahmen der Pestepidemie in den Jahren 1347 bis 1353 starben in Europa etwa 25 Millionen Menschen, also ein Drittel der damals dort lebenden Bevölkerung an der Pest , die durch das Bakterium Yersinia Pestis ausgelöst wird. Die auch heute bei vereinzelt auftretenden Pesterkrankungen angewandte Standardbehandlung besteht in der Gabe der Antibiotika, die ausgehend von der Entdeckung des Penicillins entwickelt wurden. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Aktion Saubere Hände. Im Internet unter: http: / / www.aktion-sauberehaende.de/ ash/ ash/ Clean Care is Safer Care. Im Internet unter: http: / / www.who.int/ gpsc/ en/ <?page no="30"?> 30 Einführung in die Systematik der Medizin Semmelweis, I. (1861): Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers, Pest. Wien und Leipzig. Im Internet unter: http: / / www.deutschestextarchiv.de/ book/ show/ semmelweis _kindbettfieber_1861 Centers for Disease Control and Prevention; Hamborsky, Jennifer, Kroger, Andrew, Wolfe, Charles (Skip) (2015): Epidemiology and Prevention of Vaccine-Preventable Diseases. Washington D.C. Im Internet unter: http: / / www.cdc.gov/ vaccines/ pubs/ pinkbook/ index.html 1.3 Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses Die medizinische Behandlung lässt sich unabhängig von der Art der Erkrankung allgemein in verschiedene in → Abbildung 1 dargestellte Phasen einteilen, die in den meisten Fällen zeitlich nacheinander ablaufen. Abb. 1: Die Komponenten des medizinischen Behandlungsprozesses 1.3.1 Anamnese Zu Beginn einer medizinischen Behandlung stellt sich ein Patient mit gewissen Beschwerden ( Symptomen ) den versorgenden Personen vor oder die Inanspruchnahme erfolgt beim beschwerdefreien Pati- Symptom(e) Anamnese Diagnostik Diagnose Therapie Prognose <?page no="31"?> Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 31 enten im Rahmen einer Vorsorgemaßnahme bzw. aufgrund eines Beratungs- oder Behandlungswunsches. Im ersten Schritt erfolgt durch die Behandelnden eine Erhebung der bisherigen Krankheitsgeschichte, die abgeleitet vom griechischen Wort anamnesis (Erinnerung) als Anamnese bezeichnet wird. Ziel ist hierbei, durch strukturierte Befragung und Auswertung vorhandener Informationen einen Eindruck über den Patienten und seine mutmaßliche Erkrankung zu erhalten, um auf Basis dieser Informationen eine Verdachtsdiagnose zu stellen und das weitere Vorgehen festzulegen. Hierbei kann die Erhebung der Krankheitsgeschichte als Eigenanamnese durch Befragung des Patienten oder auch je nach Alter und Gesundheitszustand der Patienten als Fremdanamnese durch Befragung Dritter (Ehepartner, Eltern bei Kindern, gesetzliche Betreuer bei nicht kontaktfähigen Patienten, ärztliche Kollegen) geschehen. Da verschiedene Aspekte für das weitere Vorgehen wichtig sind, wird die Anamnese nochmals unterteilt in: somatische Anamnese psychische Anamnese Sozialanamnese Familienanamnese In der somatischen (körperlichen) Anamnese wird der aktuelle Zustand hinsichtlich körperlicher Beschwerden (z. B. Schmerzen, Bewegungseinschränkungen) erfragt. Demgegenüber zielt die psychische Anamnese auf den seelischen Zustand des Patienten ab, der durch die körperlichen Beschwerden aber auch durch psychische Erkrankungen beeinträchtigt sein kann. Ebenso kann möglicherweise eine psychosomatische Erkrankung erkannt werden, also durch psychische Beeinträchtigung ausgelöste körperliche Beschwerden. Die Sozialanamnese erfragt das persönliche und berufliche Umfeld des Patienten, da bestimmte soziale Faktoren oder auch Berufe Hinweise auf mögliche Erkrankungen geben (z. B. die Farmerlunge bei Landwirten). Ebenso können Erkenntnisse über die sozialen Strukturen, in denen sich der Patient bewegt, Hinweise auf <?page no="32"?> 32 Einführung in die Systematik der Medizin den mutmaßlichen Erfolg einer Erkrankung geben. Die Familienanamnese erfragt das familiäre Auftreten von Erkrankungen, die bei bestimmten Erkrankungen einen Hinweis auf eine genetische Veranlagung (Disposition) der Patienten geben können, selbst an dieser Krankheit zu leiden oder später daran zu erkranken. Neben den hier genannten Anamnesearten wird vereinzelt noch die Medikamentenanamnese als separater Bestandteil aufgeführt, also das Erfragen nach der Einnahme bestimmter Medikamente inkl. ihrer Art, Dosis, Verabreichungsform und Dauer der Einnahme. Anstelle der separaten Betrachtung dieser Anamneseform wird jedoch auch vielfach argumentiert, dass die Nachfrage nach eingenommenen Medikamenten sowohl Teil der somatischen als auch der psychischen Anamnese sein sollte. In jedem Fall ist das Erfragen der aktuellen und ggf. zurückliegenden Medikamenteneinnahme integraler Bestandteil der Anamnese. 1.3.2 Diagnostik Auf Basis der in der Anamnese gewonnenen Informationen stellen die Behandelnden zunächst aufgrund eines Verdachts die sogenannte Verdachtsdiagnose . Um diese zu bestätigen oder auszuschließen, werden nun im Rahmen der Diagnostik Untersuchungsverfahren angewandt. Je nach Verdachtsdiagnose kommen folgende Formen der Diagnostik zur Anwendung: körperliche Untersuchung bildgebende Verfahren Messen elektrischer Felder des Körpers Analyse von Zellen oder Gewebeteilen des Körpers Analyse von Blut oder anderen Körperflüssigkeiten Wird für die Diagnostik oder die im Folgenden beschriebenen Behandlungsschritte ein (fach-)ärztlicher Rat aus einer anderen Fachdisziplin eingeholt, so wird dies als Konsil (lat. consilium Ratschlag) bezeichnet. Der beratende Arzt wird als Konsiliararzt bezeichnet, die Empfehlung zu Diagnostik, Prognose oder Therapie als Konsiliarbericht bzw. ebenfalls als Konsil. <?page no="33"?> Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 33 Körperliche Untersuchung Die körperliche Untersuchung ist in den meisten Fällen die erste diagnostische Maßnahme im Anschluss an die Anamnese. Je nach Krankheitsbild werden verschiedene Prüfungen durchgeführt. Hierbei ist eine systematische Vorgehensweise wie z. B. das in → Tabelle 2 dargestellte IPPAF-Schema weit verbreitet. Untersuchungstechnik Wortbedeutung praktisches Vorgehen I nspektion inspicere (lat.) anschauen Betrachtung des Patienten inkl. seines Geruchs (z. B. nach krankheitstypischen Haut- oder Staturveränderungen sowie krankheitstypischen Körpergerüchen) P alpation palpare (lat.) tasten, fühlen Abtasten bestimmter Körperregionen zur Identifikation von Schwellungen oder Überwärmungen, z. B. als Zeichen von Entzündungsprozessen P erkussion percussio (lat.) Erschütterung Abklopfen bestimmter Körperregionen (z. B. Brustkorb oder Wirbelsäule) zur Identifikation krankhafter Veränderungen A uskultation auscultare (lat.) abhorchen Abhören von Körperregionen (z. B. Herz, Lunge, Bauchraum) i. d. R. mittels Stethoskop zur Identifikation krankhafter Veränderungen F unktionsuntersuchungen Beurteilung von Organsystemen durch Überprüfung bestimmter Körperfunktionen, wie z. B. Blutdruckmessung, Nervenreflexmessungen etc. Tab. 2: Das IPPAF-Schema zur körperlichen Untersuchung Bildgebende Verfahren Durch Anwendung verschiedener Techniken können in bildgebenden Verfahren Teile des menschlichen Körpers oder der gesamte menschliche Körper dargestellt werden. Dies kann beispielsweise durch Ultraschallwellen im Rahmen der sogenannten Sonographie, durch radioaktive Strahlung in Form von Röntgenbildern, Computer- <?page no="34"?> 34 Einführung in die Systematik der Medizin tomographien (CT) und Szintigraphien oder durch die Erzeugung starker Magnetfelder bei der Magnetresonanztomographie (MRT) erfolgen. Je nach verwendeter Untersuchungsmethode und klinischer Fragestellung aufgrund einer Verdachtsdiagnose können einzelne Strukturen wie Knochen, Weichteile, Hirnmasse, Herzkranzgefäße oder Muskelgewebe gezielt dargestellt werden. Messen elektrischer Felder des Körpers Im menschlichen Körper werden zahlreiche Informationen über Nervenbahnen mittels kleinster elektrischer Ströme weitergegeben. Die Messung dieser Ströme wiederum erlaubt Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit der Informationsweiterleitung und möglicher krankhafter Veränderungen, sofern diese Weiterleitung gestört ist. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Untersuchungstechnik ist das Elektrokardiogramm (EKG) , in dem die Ströme der Reizweiterleitung am Herzen gemessen und beurteilt werden. Weitere auf diesem Prinzip beruhende gängige Untersuchungstechniken sind das Elektroencephalogramm (EEG) zur Beurteilung der Hirnstromaktivitäten und das Elektromyogramm (EMG) zur Beurteilung der elektrischen Reizweiterleitung in den jeweils beobachteten Muskeln. Analyse von Zellen oder Gewebeteilen des Körpers Die Analyse von Zellen oder Gewebeteilen ist bei zahlreichen Erkrankungen, insbesondere bei Krebserkrankungen, das Mittel der Wahl zur Bestätigung einer Diagnose. Hierzu können Zellen auf unterschiedliche Weise gewonnen werden. Während ein Abstrich an Schleimhäuten einen relativ wenig invasiven Test darstellt, werden im Rahmen von sogenannten Biopsien Gewebeproben aus dem umliegenden Gewebe herausgeschnitten oder gestanzt. Je nach Krankheitsbild kann sogar eine Operation denkbar sein, die ausschließlich dazu dient, tief im Körperinneren liegendes Gewebe zu gewinnen, um dieses im Nachgang zu untersuchen. Zur Untersuchung müssen Gewebe und Zellen je nach Fragestellung häufig aufbereitet werden, z. B. durch eine bestimmte Färbung des Gewebes oder eine chemische Aufbereitung. Die eigentliche Diagnose kann durch Analyse per Mikroskop oder durch laborchemische Methoden bis hin zur Analyse des Erbgutes (DNA) erfolgen. Bei Gewebeproben im Rahmen einer <?page no="35"?> Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 35 Operation, in der ein Patient in Narkose versetzt wurde, und das weitere Vorgehen, also eine mögliche Ausweitung der Operation, die vom Ergebnis des mikroskopischen Befundes einer Gewebeprobe abhängt, haben sich sogenannte Schnellschnitte bewährt. Hierbei stellt ein Pathologe unverzüglich nach Gewebeentnahme innerhalb von ca. 30 Minuten eine Diagnose, während der Patient diese Zeit narkotisiert im Operationssaal verbringt, um bei notwendiger Erweiterung der Behandlung eine zusätzliche Operation und eine damit verbundene zusätzliche Narkose zu vermeiden. Andere diagnostische Gewebeuntersuchungen benötigen je nach Aufwand ggf. mehreren Wochen, bevor ein Untersuchungsergebnis vorliegt. Analyse von Blut oder anderen Körperflüssigkeiten Die Analyse von Körperflüssigkeiten, insbesondere von Blut, zählt zu den häufigsten Untersuchungsmethoden überhaupt. Während die Entnahme von Blut in der Regel aus größeren peripheren Venen oder kleinsten Blutgefäßen (Kapillaren), seltener aus Schlagadern (Arterien) erfolgt, kann auch die Untersuchung einer Vielzahl anderer Körperflüssigkeiten wie Urin, Hirnwasser (Liquor), Speichel, Auswurf (Sputum), Gallensekret, Schweiß, Sperma oder Fruchtwasser je nach Verdachtsdiagnose angebracht sein. Wie auch bei der Gewinnung von Gewebeproben kann die Gewinnung von Körperflüssigkeiten, wie beispielsweise Liquor, durchaus mit gravierenden Risiken verbunden sein. Sie bedarf daher einer sorgfältig gestellten Verdachtsdiagnose, die diesen Eingriff in den Körper des Patienten rechtfertigt. 1.3.3 Diagnose Das Wort Diagnose leitet sich aus dem griechischen Wort diagnosis ab und bedeutet Unterscheidung. Es bezeichnet die zusammenfassende Bewertung vorliegender Erkenntnisse aus der Anamnese unter Zuhilfenahme der Diagnostik zur Benennung der Erkrankung und damit verbundenen Festlegung der weiteren Behandlung. Hierbei stellen verschiedene Arten von Diagnosen feststehende Begriffe dar, die klinische Relevanz haben und unterschieden werden müssen: <?page no="36"?> 36 Einführung in die Systematik der Medizin Neben der bereits erläuterten Verdachtsdiagnose ist der Begriff der Differentialdiagnose von Bedeutung. Hierunter sind alle nach derzeitigem Erkenntnisstand ebenfalls in Betracht zu ziehenden Diagnosen zu verstehen. So kann ein plötzlich eintretender Brustschmerz zwar einen akuten Herzinfarkt ankündigen, aber auch ein Bandscheibenvorfall oder eine Lungenembolie können solche Symptome verursachen. Differentialdiagnosen müssen also bis zu ihrem Ausschluss oder der Bestätigung der Verdachtsdiagnose im Bewusstsein der Behandelnden verbleiben. Führt eine Verdachtsdiagnose zu weiteren konkreten diagnostischen Maßnahmen, wird auch von einer Arbeitsdiagnose, analog dem Begriff der Arbeitshypothese, gesprochen. Es gibt Erkrankungen, die nicht direkt beweisbar sind, aber durch Ausschluss aller in Frage kommenden Differentialdiagnosen identifiziert werden können. In diesem Fall wird eine Ausschlussdiagnose gestellt. Demgegenüber gibt es eine Reihe von negativ behafteten Begriffen. Erweist sich eine Diagnose im Nachhinein als falsch, wird von einer Fehldiagnose gesprochen. Dies muss nicht zwingend zum Nachteil des Patienten sein, kann aber insbesondere bei zeitkritischen schweren Krankheitsbildern gravierende Folgen nach sich ziehen und Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen werden, insbesondere, wenn bei Diagnosestellung mangelnde Erfahrung oder Sorgfalt eine Rolle gespielt haben. Zwar ist streng genommen jede nicht bestätigte Verdachtsdiagnose eine Fehldiagnose, der Begriff wird aber meist nur in Verbindung mit den eben genannten Defiziten verwandt. Ebenfalls unschmeichelhaft, aber seltener mit Konsequenzen verbunden, ist die Verlegenheitsdiagnose . Sie wird gestellt, um der (mutmaßlichen) Erkrankung einen Namen zu geben, obgleich die Behandelnden nicht sicher sind, ob eine (und wenn ja, welche) Erkrankung vorliegt. Davon abzugrenzen ist die Gefälligkeitsdiagnose , die zwar auch eine Form der Fehldiagnose darstellt, aber bewusst fehlerhaft gestellt wird. So entsteht in mancher Situation der Eindruck, dass weniger eine eigentliche Erkrankung, sondern die Bitte um eine ungerechtfertigte Krankschreibung oder Bescheinigung der Prüfungsunfähigkeit Ursache des Arztbesuches war. Sofern dieser Bitte nachgegeben wird, handelt es sich um eine Gefälligkeitsdiagnose. <?page no="37"?> Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 37 Im Laufe der Zeit finden sich immer wieder Häufungen bestimmter Diagnosen, die möglicherweise Ausdruck eines gewissen Trends in der Medizin sind, so wie in jeder Zeit bestimmte Kleidungsstile dominieren. Diagnosen dieser Art werden auch als Modediagnosen bezeichnet, wobei durch Nennung dieses Begriffes die Korrektheit der Diagnose immer auch in Zweifel gezogen wird. So gibt es derzeit eine Fachdiskussion, ob die Diagnose des Aufmerksamkeits-Defizits- Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) nicht häufiger gestellt wird als sinnvoll. So nahm dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) gemäß der Anteil der 3 bis 17-jährigen AOK-Versicherten mit ADHS-Diagnose von 2,5 % (2006) auf 4,6 % (2012) zu. Laut Barmer GEK Arztreport stellten jedoch in 85 % der Fälle Haus- und Kinderärzte die Diagnose ohne Einbezug eines von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) geforderten Spezialisten. 1.3.4 Prognose Die gestellte Diagnose ist Ausgangspunkt für jede einzuleitende Behandlung, die dem Grundsatz „primum nil nocere“ gemäß nur angewandt werden soll, wenn zu erwartender Nutzen und das damit einhergehende Risiko in einem akzeptablen Verhältnis zueinander stehen. Somit ist vor Beginn einer Therapie im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Informationen zu prüfen, ob die angedachte Therapie hinsichtlich des Therapieziels erfolgversprechend ist. Der Erfolg einer Therapie kann im Vorfeld nicht garantiert werden, jedoch kann anhand der Vorerfahrung der Behandelnden und/ oder erhobener Statistiken vergangener vergleichbarer Behandlungen eine Prognose abgegeben werden. Das Wort Prognose leitet sich vom griechischen Begriff prognosis ab und bedeutet Vorhersage und unterscheidet sich in der Bedeutung nicht von Prognosen in anderen Lebensbereichen. Eine Prognose im Rahmen der Patientenbehandlung ist somit eine Einschätzung des Krankheitsverlaufs bezüglich der Heilungschancen, des Wiederauftretens der Erkrankung, was als Rezidiv bezeichnet wird, bzw. der künftig zu erwartenden Lebensqualität. <?page no="38"?> 38 Einführung in die Systematik der Medizin Eine hohe Chance auf Heilung der Erkrankung oder eine geringfügige Beeinträchtigung der Lebensqualität des Patienten wird allgemein als gute Prognose, das Gegenteil dessen als schlechte Prognose bezeichnet. Ist die Prognose nach Ansicht der Ärzte so schlecht, dass das Überleben des Patienten unwahrscheinlich ist, sprechen die Behandelnden auch von einer infausten Prognose , abgeleitet vom lateinischen Wort infaustus (ungünstig). Die Abgabe von Prognosen ist aus zwei Gründen problematisch: Einerseits liegen für viele Erkrankungen relative Häufigkeiten für Krankheitsverläufe oder Heilungsraten vor, ob der Patient als Individuum zu dem Anteil der heilbaren oder nicht heilbaren Patienten gehört, lässt sich aus einer Heilungsrate, die auf einer Statistik aus vielen Behandlungsverläufen resultiert, nicht vorhersagen. Andererseits können neben der Haupterkrankung viele Faktoren die Prognose einer Erkrankung positiv oder negativ beeinflussen. Hierzu zählen beispielsweise das Stadium, in dem die Erkrankung entdeckt wurde, das Alter oder Geschlecht der betroffenen Person, weitere vorhandene Begleiterkrankungen, das soziale Umfeld und die Kooperationsbereitschaft des Patienten zur Durchführung der Therapie, die auch mit den Begriffen Compliance bzw. Adherence bezeichnet wird. Die Prognose einer Erkrankung wird nicht nur nach Stellen der Diagnose zur Festlegung der angemessenen Therapie erhoben, sondern im Verlauf der Behandlung an die jeweilige Gesundheitssituation des Patienten angepasst. So kann sich bei unerwartet positivem Krankheitsverlauf die Prognose verbessern, bei negativem Krankheitsverlauf die Prognose aber auch verschlechtern, was wiederum im Einzelfall Konsequenzen für Art und Umfang der weiteren Behandlung haben kann. 1.3.5 Therapie Die Behandlung von Erkrankungen oder Verletzungen wird in der Medizin als Therapie bezeichnet, abgeleitet vom griechischen Wort therapeia, was mit dem Begriff Pflege der Kranken zu übersetzen ist. Ziele einer Therapie sind, je nach Krankheitsbild und Stadium der Erkrankung, die Ermöglichung oder Beschleunigung der Heilung, die <?page no="39"?> Der Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses 39 Beseitigung oder Linderung von Symptomen der Erkrankung bzw. die Wiederherstellung körperlicher und/ oder psychischer Funktionen. Nach Stellen der Diagnose und Abschätzung der Prognose des Patienten wird die für den individuellen Fall passende, in der Fachsprache als indizierte (angezeigte) Therapie bezeichnet, ausgewählt und angewandt. Ist eine Therapie aufgrund fehlender Wirksamkeit oder eines ungünstigen Nebenwirkungsprofils nicht angemessen, wird sie als kontraindiziert bezeichnet. Ebenso gebräuchlich ist die Bezeichnung, bei einer angemessenen Handlungsoption die Indikation zu einer bestimmten Therapie zu stellen. Liegt jedoch ein Hindernis für eine Therapie vor, beispielsweise eine Schwangerschaft, die eine Verabreichung bestimmter Medikamente aufgrund der Nebenwirkungen auf den Embryo verbietet, stellt diese Situation, hier die Schwangerschaft, eine Kontraindikation (Gegenanzeige) dar. Obgleich der Begriff bei therapeutischen Interventionen, insbesondere bei Medikamentengabe, gebräuchlich ist, können auch diagnostische Maßnahmen indiziert oder kontraindiziert sein. Hinsichtlich verschiedener Therapien werden häufig folgende Unterscheidungen getroffen: Zielt eine Therapie auf die Krankheitsursache ab (z. B. die Gabe von Antibiotika zum Abtöten von Bakterien, die eine Infektion auslösen) wird von einer kausalen Therapie gesprochen. Werden hingegen nur Symptome bekämpft (z. B. Fiebersenkung und Schmerzlinderung als einzig verfügbare Option bei vielen Viruserkrankungen), wird die Therapie als symptomatisch bezeichnet. Therapien, die auf die Heilung des Patienten von der Erkrankung abzielen, werden als kurativ bezeichnet. Ist hingegen eine Heilung nicht möglich, kommen palliative Therapien zum Einsatz (siehe hierzu auch das → Kapitel 2.6). Während es Interventionen gibt, die ohne Zeitverzug im Rahmen einer Notfallversorgung durchgeführt werden müssen, wie beispielsweise die Herz-Lungen-Wiederbelebung bei Herz-Kreislaufstillstand, werden Therapien außerdem in dringliche, also zeitkritische Therapien und elektive , also planbare, nicht dringliche Therapien unterschieden. Diese Einteilung spielt insbesondere bei der Zuteilung knapper Ressourcen wie z. B. Facharzt- oder Operationstermine eine wichtige Rolle. Wird das gewünschte Therapieziel erreicht, verläuft <?page no="40"?> 40 Einführung in die Systematik der Medizin die Therapie erfolgreich, wird das gewünschte Ziel nicht erreicht, insbesondere das Leben des Patienten nicht gerettet, bezeichnen die Behandelnden die Therapie als frustran . Neben der Therapie der eigentlichen Erkrankung kommen je nach Krankheitsbild unterstützende Maßnahmen, sogenannte supportive Therapien, zum Einsatz. So geht die bei Krebserkrankungen eingesetzte Chemotherapie häufig mit den Nebenwirkungen Übelkeit und Erbrechen einher. Die Gabe von Medikamenten zur Bekämpfung der Übelkeit hat dann zwar keinen Einfluss auf das Krebswachstum, ermöglicht aber indirekt erst den Einsatz wirksamer Chemotherapeutika. Obgleich eine gesicherte Diagnose vor Beginn der Therapie den Idealfall darstellt, erfolgt aus verschiedenen Gründen vor Sicherung der Diagnose bereits eine Intervention. Dies kann indiziert sein, wenn die Sicherung der Diagnose in keinem Verhältnis zum betriebenen Aufwand steht. So wird bei etlichen Erkrankungen aufgrund ihrer kurzen Krankheitsdauer oder des milden Verlaufs auf eine umfangreiche Diagnostik bewusst verzichtet, da mit hoher Wahrscheinlichkeit ein bekanntes Vorgehen erfolgversprechend ist. Ebenso gibt es Erkrankungen wie die Blutvergiftung (Sepsis), bei der ein diagnostisches Ergebnis nicht abgewartet werden kann, sondern auf Verdacht mit der Behandlung begonnen werden muss. In beiden Fällen, in denen sich die Therapie nicht auf eine gesicherte Diagnose stützt, wird von einer kalkulierten Therapie gesprochen. Lesetipps ∣ Literatur Schröder, H.; Schüssel, K.; Waltersbacher, A. (2014): ADHS: Diagnose Zappelphilipp - Analyse des WIdO. AOK Forum Gesundheit und Gesellschaft. Im Internet unter: http: / / aok-bv.de/ imperia/ md/ aokbv/ mediathek / gg / ggbeitrag_adhs_gg1014.pdf <?page no="41"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 41 Grobe, T. G.; Bitzer, E. M.; Schwartz, F. W. (2013): Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung. BARMER GEK Arztreport 2013. Schwerpunkt ADHS. Hannover. Im Internet unter: http: / / presse.barmer-gek.de/ barmer/ web/ Portale/ Presseportal/ Subportal/ Presseinformationen/ Archiv/ 2013/ 130129-Arztreport- 2013/ PDF-Arztreport-2013.pdf Webtipp ∣ Untersuchungstechniken Darstellung verschiedener Untersuchungstechniken per Video finden Sie auf der Internetseite Doccheck Flexikon unter: http: / / flexikon.doccheck.com/ de/ K%C3%B6rperliche_Untersuchung 1.4 Medizinische Fachsprache/ Terminologie Die Medizin hat wie jedes Fachgebiet eine eigene Fachsprache. Diese ist stark vom Einfluss der antiken Medizin geprägt. Neben dem sicher bekannten umfangreichen lateinischen Fachvokabular finden sich zahlreiche griechische Ausdrücke wieder, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits beispielhaft erwähnt worden sind. In diesem Kapitel sollen die wichtigsten Grundzüge und Grundbegriffe der medizinischen Fachsprache erläutert werden. Ein Lehrbuch zur Einführung in die medizinische Fachsprache kann diese Darstellung jedoch nicht ersetzen. Da die Beherrschung der medizinischen Fachsprache ein, wenn nicht das wesentliche Kriterium ist, an dem Angehörige der Heilberufe die fachliche Kompetenz von Nicht-Medizinern festmachen, ist eine sichere Beherrschung der Fachsprache im jeweiligen Tätigkeitsgebiet unabdingbar und sollte ab Beginn der Ausbildung eingeübt werden, so wie im Medizinstudium der Kurs Medizinische Terminologie zum absoluten Pflichtprogramm im ersten Semester des Studiums gehört. <?page no="42"?> 42 Einführung in die Systematik der Medizin 1.4.1 Terminologie vs. Nomenklatur Die Lehre einer Fachsprache wird als Terminologie bezeichnet, gelegentlich wird die Fachsprache selbst mit diesem Begriff belegt. Diese Terminologie unterliegt einerseits bestimmten Regeln, die im Folgenden erläutert werden, andererseits auch einem steten Wandel und regionalen Unterschieden. Ebenso fließen Eigennamen ( Eponyme ) in die Terminologie ein, mehrere Begriffe für einen Sachverhalt ( Synonyme ) sind ebenfalls möglich. Demgegenüber stellt eine Nomenklatur, wie die Nomina Anatomica zur Bezeichnung anatomischer Strukturen wie Knochen, Muskeln, Nerven, Blutgefäßen etc., ein international einheitliches, strengen Regeln unterworfenes Benennungs- und Ordnungssystem dar, frei von Eponymen und stets eindeutig in der Begriffswahl. Abb. 2.: Vereinfachte Darstellung der wichtigsten anatomischen Richtungs- und Lagebeziehungen <?page no="43"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 43 Anatomie , abgeleitet vom altgriechischen Wort „anatemnein“ (trennen, zerschneiden) bezeichnet hierbei die Lehre vom Aufbau des Körpers sowie der Kunst des Zergliederns. Ein Beispiel für anatomische Grundbegriffe sind die anatomischen Richtungs- und Lagebezeichnungen, die in Kombination mit anatomischen Strukturen verwendet werden können wie in → Abbildung 2 dargestellt. 1.4.2 Zusammengesetzte Fachbegriffe Eine Vielzahl medizinischer Fachbegriffe wird aus bestimmten Wortbestandteilen (Morphemen) zusammengesetzt. Die Kenntnis der Regeln dieser Zusammensetzung und eine überschaubare Anzahl an Wortbestandteilen ermöglichen die Übersetzung eines Großteils medizinischer Fachtermini. Daher sollen die wichtigsten Regeln zur Zusammensetzung medizinischer Fachbegriffe im Folgenden dargestellt werden. Wortbestandteile zusammengesetzter Fachbegriffe Zusammengesetzte Fachbegriffe bestehen aus mindestens zwei der folgenden Bestandteile: Vorsilbe ( Präfix ) Wortstamm, ggf. mit Bindevokal Nachsilbe ( Suffix ) Der Wortstamm ist der Kern des Wortes und gibt die Hauptbedeutung des Wortes, z. B. die Zuordnung zu einem Organ- oder Organsystem, vor. Zur erleichterten Aussprache wird an den Wortstamm häufig ein Bindevokal angehängt, in der Regel ein „o“. Ein Wortstamm mit Bindevokal wird auch als Bindeform bezeichnet. Beispiele Wortstamm Bindevokal Bindeform Bedeutung Arthro Arthro- Gelenk Hepato Hepato- Leber Kardio Kardio- Herz <?page no="44"?> 44 Einführung in die Systematik der Medizin Das Suffix wird ans Ende des Wortstammes bzw. der Bindeform angefügt. Es spezifiziert die Bedeutung des Wortes und legt die Wortart (z. B. Substantiv) fest. Beispiele Suffix Bedeutung -al etwas betreffend -ie krankhafter Zustand -itis Entzündung von etwas -logie Lehre von etwas (und dessen Erkrankungen) Das Präfix wird vor dem Wortstamm platziert und schränkt die Bedeutung des Wortes ebenso ein wie das Suffix. Häufig finden sich im Präfix Angaben zu Lage, Richtung, Ort, Menge oder Zeit. Beispiele Präfix Bedeutung Polyviele Epioberhalb Tachy- (zu) schnell Beispiele für die Zusammensetzung der Wortbestandteile Eine sehr häufige Zusammensetzung medizinischer Fachbegriffe findet sich in der Kombination von einer Bindeform mit einem Suffix. Beispiele Bindeform Suffix Bedeutung Hepat- -itis Leberentzündung Kardio- -logie Lehre des Herzens An diesen Beispielen wird eine grammatikalische Regel deutlich: Regel │ Beginnt ein Suffix mit einem Vokal, entfällt der Bindevokal. <?page no="45"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 45 Ebenso ist die Kombination mehrerer Wortstämme bzw. Bindeformen mit einem Suffix möglich. Beispiele Bindeform 1 Bindeform 2 Suffix Gastroenteritis Magen- Darm- Entzündung Regel │ Anders als bei einem Suffix wird zwischen zwei Bindeformen nicht auf den Bindevokal verzichtet, selbst wenn der zweite Wortstamm mit einem Vokal beginnt. Die Anwendung eines Präfixes trifft in der Regel in Kombination mit einem Suffix und einem Wortstamm auf. Beispiele Präfix Bindeform Suffix Bedeutung Polyarthritis Entzündung vieler Gelenke Epikardial oberhalb des Herzens Tachykardie zu schneller Herzschlag Bei der Verbindung von Präfix und Wortstamm kann es zur Erleichterung der Aussprache noch zu folgenden Modifikationen kommen: zur Angleichung ( Assimilation ) des letzten Buchstabens des Präfixes mit dem ersten Buchstaben des Wortstammes, zur Streichung des letzten Buchstabens des Präfixes ( Elision ) oder zum Hinzufügen von Konsonanten, insbesondere, wenn sonst gleichlautende Vokale aufeinandertreffen würden. Wie am Beispiel der Tachykard(i)ie gezeigt, kann eine Elision auch zwischen Wortstamm und Suffix erfolgen. Beispiele statt Syn-metrie Symmetrie Assimilation statt A-archie Anarchie Konsonanteneinfügung <?page no="46"?> 46 Einführung in die Systematik der Medizin Strategie zum Erlernen zusammengesetzter Fachbegriffe Anstelle des Auswendiglernens tausender zusammengesetzter medizinischer Fachbegriffe, kann in Kenntnis der Regeln zur Zusammensetzung sowie der Kenntnis einer überschaubaren Anzahl an Präfixen, Wortstämmen und Suffixen die Mehrheit medizinischer Fachbegriffe sinnhaft erfasst werden. Hierzu wird der unbekannte Fachbegriff sinnvollerweise zunächst in seine Wortfragmente unterteilt, diese werden übersetzt und die übersetzten Wortbestandteile in eine logische Abfolge gebracht. Beispiel ∣ zusammengesetzte Fachbegriffe verstehen Duodenopankreatektomie Duodeno|pankreat|ektomie Duodeno- = Zwölffingerdarm pancreat(o)- = Bauchspeicheldrüse ektomie = operative Entfernung von etwas operative Entfernung des Zwölffingerdarms und der Bauchspeicheldrüse Hinweis: Eine umfassende Liste relevanter Präfixe, Wortstämme und Suffixe findet sich beispielsweise im Lehrbuch „Fachsprache Medizin im Schnellkurs“ von Axel Karenberg (siehe weiterführende Literatur am → Ende des Kapitels). 1.4.3 Weitere Arten medizinischer Fachbegriffe Neben zusammengesetzten Fachbegriffen griechischen und lateinischen Ursprungs finden sich weitere Arten von Fachausdrücken in der medizinischen Fachsprache. So können medizinische Fachausdrücke aus anderen Sprachen übernommen werden wie beispielsweise Bypass (engl.) oder Influenza (ital.). Ebenso finden sich folgende Kategorien von Fachbegriffen in der medizinischen Terminologie wieder: Eigennamen (Eponyme) Kurzwörter (Akronyme) <?page no="47"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 47 Mehrfachbenennungen (Synonyme) Gegensatzwörter (Antonyme) Eponyme Wie auch in anderen Branchen üblich, wurden und werden in der Medizin zahlreiche Fachbegriffe zu Ehren des Erstbeschreibenden bzw. Entdeckers oder anderer berühmter Persönlichkeiten mit einem Eigennamen versehen. So wurde die bereits beschriebene Technik des Chirurgen Joseph Lister zur Desinfektion des OP-Gebietes beispielsweise als listern bekannt. Theodor Escherich entdeckte das nach ihm benannte Bakterium Escherichia (E.) coli und die von Alois Alzheimer entdeckte Erkrankung (Morbus) des Gehirns trägt ebenfalls bis heute den Namen des Entdeckers. Das Ebolafieber erhielt seinen Namen nach dem Fluss im Kongo, an dem die Erkrankung im Jahr 1976 das erste Mal beobachtet wurde. Auf diese Art und Weise existieren mehr als 1.000 Eigennamen in der medizinischen Fachsprache. Problematisch wird dies insbesondere bei Eigennamen, die in verschiedenen Sprachräumen nicht einheitlich gebraucht werden. Beispiele deutscher Sprachraum angloamerikanischer Sprachraum Basedow-Krankheit Grave’s disease Röntgenstrahlen X-rays Akronyme Zur Benennung komplexer Sachverhalte oder langer Namen mit Wortketten, die in ursprünglicher Form umständlich auszusprechen sind, wurden Kunstworte erschaffen, die meist aus den Anfangsbuchstaben der einzelnen Worte gebildet werden. Statt bei einem Vortrag um den „ L ight A mplification by the S timulated E mmision of R adiation“-Pointer zu bitten, möchten wir lieber den LASER -Pointer benutzen. Anders als bei im heutigen Sprachgebrauch üblichen Hang zu buchstabierten Abkürzungen wie mfg, DSDS oder ABS werden Akronyme als neues Wort ausgesprochen. Hierbei finden sich unter den Akronymen bevorzugt angloamerikanische Begriffe und Institutionen wieder. Das wahrscheinlich bekannteste Akronym im Bereich <?page no="48"?> 48 Einführung in die Systematik der Medizin der Medizin ist AIDS , das für A quired I mmune D eficiency S yndrome steht, was mit erworbenem Immunschwäche-Syndrom übersetzt werden kann. Beispiele Akronym Bedeutung DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information IGeL Individuelle Gesundheitsleistungen IQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen KISS Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System OSCE Objective Structured Clinical Examination QALY Quality Adjusted Life Year SARS Severe Acute Respiratory Syndrome STEMI ST-Elevation Myocardial Infarction Auch bei der Verwendung von Akronymen ist die uneinheitliche Verwendung unter Umständen problematisch. So ist das Akronym AIDS in Frankreich beispielsweise weitgehend unbekannt, da die Übersetzung des oben genannten Begriffs im Französischen SIDA (Syndrome Immuno-Déficitaire Acquis) lautet. <?page no="49"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 49 Synonyme In der Entwicklung jeder Sprache gibt es zu einem Sachverhalt oft mehrere sinn- oder bedeutungsverwandte Begriffe. So existieren auch in der Medizin für die Beschreibung eines Sachverhaltes oft mehrere konkurrierende Bezeichnungen. Beispiele ∣ Synonyme regional bzw. umgangssprachlich Die durch das Varizella-Zoster-Virus ausgelöste Erkrankung wird je nach geographischer Region als Feuchtblattern, Schafblattern, Spitzpocken, Varizellen, Wasserpocken oder Windpocken bezeichnet. Nicht nur umgangssprachlich, sondern auch in der Fachsprache existieren derartige Synonyme, die eine Klassifikation medizinischer Erkrankungen durch eindeutige Nomenklaturen erschweren. Beispiele ∣ Synonyme in der Fachsprache Mukoviszidose oder zystische Fibrose Multiple Sklerose (MS) oder Encephalomyelitis disseminata (ED) Lepra oder Morbus Hansen Pfeiffer-Drüsenfieber oder Mononucleosis infectiosa oder Lymphoidzellangina (es gäbe noch fünf weitere Synonyme) <?page no="50"?> 50 Einführung in die Systematik der Medizin Antonyme Als Antonyme werden Gegensatzwörter bezeichnet wie beispielsweise rechts und links. Sie haben im → Kapitel 1.3.5 bereits solche Gegensätze in den Wortpaaren kurativ und palliativ bzw. indiziert und kontraindiziert kennen gelernt. Beispiele ∣ wichtige Antonyme kennen akut vs. chronisch Arterie (vom Herzen wegführendes Blutgefäß) vs. Vene (zum Herzen hinführendes Blutgefäß) benigne (gutartig) vs. maligne (bösartig) suffizient (ausreichend) vs. insuffizient (nicht ausreichend) superior (oberhalb von etwas) vs. inferior (unterhalb von etwas) 1.4.4 Fallstricke bei medizinischen Fachbegriffen Verwendung umgangssprachlicher Begriffe mit anderem Kontext Die medizinische Fachsprache bedient sich einiger umgangssprachlicher Begriffe, die im medizinischen Kontext jedoch eine andere Bedeutung erhalten. So denken wir beim Wort Herd in der Umgangssprache zunächst an eine Kochstelle, der Mediziner benutzt diesen Ausdruck jedoch als Bezeichnung für die Quelle einer Infektion oder anderweitigen Störung. Das Substantiv Medium hat umgangssprachlich eine spirituelle Bedeutung, in der Medizin wird damit ein Nährboden zur Anzüchtung von Bakterienkulturen bezeichnet. Verwendung von Abkürzungen Neben Akronymen kommen in unserer Sprache viele Abkürzungen zur Anwendung. Dies dient im Idealfall zur Verkürzung des Textes ohne gleichzeitigen Informationsverlust. Da die Anzahl verfügbarer Abkürzungen bei Verwendung von drei bis vier Buchstaben begrenzt <?page no="51"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 51 ist, kann es in der Medizin auch zu Verwechslungen aufgrund von Abkürzungen kommen. Beispiel ∣ Risiko Abkürzungen Ein prägnantes Beispiel ist die Abkürzung HWI , die von Kardiologen als (Herz-)Hinterwandinfarkt, von Urologen als Harnwegsinfektion, von Orthopäden als Halswirbelimmobilisation oder sogar von Venerologen (Fachärzten für Geschlechtskrankheiten) für häufig wechselnde Intimpartner verwendet wird. Es liegt auf der Hand, dass den jeweiligen Erkrankungsbildern oder Maßnahmen grundlegend unterschiedlich begegnet werden sollte und eine Verwechslung für den Patienten fatale Folgen haben kann. Der Begriff EBM kann zum einen für die in → Kapitel 2.3 dargestellte Evidence-based Medicine , zum anderen aber auch für den Einheitlichen Bewertungsmaßstab zur Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen stehen. Beckers Lexikon für medizinische Abkürzungen listet unter AAP sogar insgesamt 26 verschiedene Begrifflichkeiten auf. Sogar Verwechslungen bei Antonymen sind denkbar: Während die Bezeichnung UL-Resektion im deutschsprachigen Raum die operative Entfernung des U nterlappens der L unge beschreibt, steht der Begriff resection of UL im englischsprachigen Bereich für die Entfernung des u pper l obe, also des Oberlappens! Aussprache medizinischer Fachbegriffe Die sichere Verwendung der medizinischen Fachsprache erstreckt sich nicht nur auf das geschriebene Wort in der Korrespondenz mit medizinischem Personal, sondern insbesondere auch auf das gesprochene Wort. So kann durch falsche Aussprache eines Wortes die eigene Kompetenz in Frage gestellt werden. <?page no="52"?> 52 Einführung in die Systematik der Medizin Beispiel ∣ Fachbegriffe richtig aussprechen und verwenden Ein junger, dynamischer Unternehmensberater trat eines Tages vor eine Runde von Klinikdirektoren eines großen Krankenhauses und begann damit, den ärztlichen Kollegen zu berichten, dass er die Struktur der Kliniken binnen weniger Tage verstanden hätte und diese nun optimieren wollte. Ihm fiel jedoch auf, dass in der Patientendokumentation immer wieder ein Wort auftauche, nämlich cave . Er sprach das Wort mehrmals auf Englisch aus, da er es offenbar für den englischen Begriff für Höhle hielt, bis ihn einer der ärztlichen Kollegen, nicht ohne süffisanten Unterton, darauf hinwies, dass es sich hier nicht um eine Höhle, sondern um den lateinisch ausgesprochenen Begriff cave handelt, was so viel wie „Achtung/ Vorsicht“ heißt. Über die Kompetenz dieses Beraters fällten die ärztlichen Klinikdirektoren im Nachgang ein einstimmiges Urteil. Um sich derartige Peinlichkeiten zu ersparen, helfen zwei Grundregeln: [1] Gute Vorbereitung Klären Sie im Vorfeld eines Gesprächs oder Vortrages, in dem Sie bestimmte medizinische Fachbegriffe verwenden wollen, im Zweifel bei jedem Begriff die korrekte Aussprache. Neben medizinischem Fachpersonal können auch Fernsehbeiträge oder Videoclips von medizinischen Experten im Internet eine wichtige Unterstützung bieten. [2] Unnötige Fehler vermeiden Es gibt medizinische Fachbegriffe, die eine falsche Aussprache durch ihre Länge oder Ähnlichkeit aufeinanderfolgender Silben nahezu provozieren. So kann auf einer Präsentationsfolie zwar der Fachbegriff Epididymitis auftauchen, es spricht aber im wahrsten Sinne des Wortes nichts gegen die Verwendung des (etwas) leichter auszusprechenden Begriffs der Nebenhodenentzündung. <?page no="53"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 53 Ärztelatein - (k)eine Geheimsprache Die Verwendung lateinischer Sprache war über viele Jahrhunderte nur gebildeten Personen vorbehalten, diente als Abgrenzung in Religion und Medizin und sicherte so den Verbleib des Herrschaftswissens in bestimmten Kreisen. Noch heute ist die Verwendung der medizinischen Fachsprache den meisten Patienten nicht geläufig und wird daher im Alltag der Mediziner mehr oder weniger subtil, teilweise mit guten Absichten, teilweise bösartig eingesetzt. Gründe für die Verwendung des sogenannten Ärztelateins können sein: [1] bei unklarer Diagnose, um den Patienten nicht zu beunruhigen [2] Austausch medizinischer Fachinformationen, die vor anwesenden Nicht-Medizinern im Raum verborgen bleiben sollen [3] Austausch nicht-dienstlicher Informationen, die von anwesenden Nicht-Medizinern nicht als solche erkannt werden sollen [4] Einschätzung der persönlichen Situation, Intelligenz oder Compliance des Patienten Neben überwiegend anerkennenswerten oder zumindest tolerablen Absichten bei Gebrauch des Ärztelateins gibt es aus dem Erfahrungsschatz des Autors aber auch einige weniger rühmliche Beispiele. Beispiele ∣ Ärztelatein verstehen zu [1]: Visite im Patientenzimmer „Die Neoplasie ist unklarer Dignität und wird diagnostisch abgeklärt, alles Weitere extra muros“ anstelle von „Bei der Wucherung (Neoplasie) des Patienten könnte es sich um Krebs handeln (unklare Dignität), das wissen wir noch nicht und machen deswegen die üblichen Tests, alles Weitere besprechen wir wohl besser vor der Tür (extra muros).“ <?page no="54"?> 54 Einführung in die Systematik der Medizin zu [2]: Visite im Vierbettzimmer „Die C2-Symptomatik steht im Vordergrund“ anstelle von „Der übermäßige Alkoholgenuss (C2 steht verkürzt für die chemische Formel C 2 H 5 OH für Ethanol) des Patienten ist sein eigentliches Problem.“ zu [3]: Auf dem Flur der Station vor wartenden Angehörigen: „Herr Kollege, das gastroenterologische Konsil wartet dringend auf Ihr Erscheinen! “ anstelle von „Komm mit, wir wollen uns unterhalten (Konsil) beim gemeinsamen Mittagessen (gastroenterologisches).“ zu [4]: Häufige Diagnose am Neujahrstag in chirurgischen Ambulanzen: Zustand nach „PAM“ anstatt der ausgeschriebenen Version Zustand nach „paar aufs Maul“. Die Angabe, der Patient leide an Morbus Bahlsen hat nicht etwa mit übermäßigem Konsum bestimmter Backwaren zu tun, sondern heißt schlicht und ergreifend, dass der Patient abgrundtief dumm sei. Das Kürzel c.p. im Bereich der Physiotherapie bedeutet caput piger (fauler Kopf) und kennzeichnet Patienten, die sich nicht ausreichend um Genesung bemühen, bei Zahnärzten wird gelegentlich das Kürzel OS (Oralsau) verwendet, dass mangelnde Zahnhygiene des Patienten ausdrücken soll. Die Beschreibung eines „anspruchsvollen“ Patienten mit der Nebendiagnose „Flatus transversus“ hört sich für Außenstehende vermeintlich unverdächtig an, die Übersetzung „quersitzender Furz“ dagegen beschreibt recht plastisch die möglicherweise strapazierte Arzt-Patienten-Beziehung. Während die Umschreibung einer klinischen Situation bis zur vollständigen Klärung möglicherweise im Interesse des Patienten sein kann - auch hierzu das → Kapitel 4.2 Eigenverantwortung und <?page no="55"?> Medizinische Fachsprache/ Terminologie 55 Selbstbestimmung - haben persönliche Urteile bis hin zu Beleidigungen sicherlich nichts in der auf absolutem Vertrauen basierenden Kommunikation der Behandelnden über den Patienten in Gegenwart Dritter oder gar in der Patientendokumentation zu suchen. Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten der Dechiffrierung des Ärztelateins enorm zugenommen haben. So ist ein Großteil aller stationären Patienten binnen Minuten nach der Visite in der Lage, die verklausulierten Botschaften über Suchmaschinen zu entziffern. Ebenso gibt es Dienste, wie die von Medizinstudierenden getragene Initiative www.washabich.de, die Patienten kostenlos eine Übersetzung medizinischer Befunde in leicht verständliche Sprache anbietet. Der als Argument angeführte Datenschutz bei Verwendung des Ärztelateins gemäß Punkt 2 der oben genannten Aufzählung ist somit nicht mehr sichergestellt. Da das Verständnis über die eigene Erkrankung, die durchgeführten Maßnahmen und die Prognose der Erkrankung die Mitarbeit (Compliance) des Patienten erheblich verbessern kann, und von Patienten berechtigterweise auch zunehmend eingefordert wird, sollte die Anwendung des Ärztelateins in Gegenwart von Patienten und Dritten auf das notwendige Mindestmaß beschränkt werden und grundsätzlich stets wertschätzend erfolgen. Lese- und Webtipps ∣ Literatur und Websites Karenberg, A. (2015): Fachsprache Medizin im Schnellkurs. Für Studium und Berufspraxis . Stuttgart. Deschka, M. (2012): Lernkarten Grundwortschatz Medizin . 324 Karteikarten zum Einstieg in die medizinische Fachsprache. Melsungen. Beckers, H. (2015): Abkürzungslexikon medizinischer Begriffe . Einschl. Randgebiete. Köln. Internetpräsenz der „Was hab’ ich? “ gGmbH Kostenlose Übersetzung medizinischer Befunde durch Medizinstudierende: http: / / www.washabich.de <?page no="56"?> 56 Einführung in die Systematik der Medizin 1.5 Medizin als ärztliche Heilkunst Obgleich als Basis der Medizin Naturwissenschaften wie Biologie, Biochemie oder der Physiologie angesehen werden, ergänzt von Psychologie und Sozialwissenschaften, ist Medizin aufgrund mangelnder Theoriebildung weder Naturnoch Geisteswissenschaft im eigentlichen Sinn. Die angewandte Medizin wird als (ärztliche) Heilkunst betrachtet, eine ordnungsgemäße Behandlung somit als den Gesetzen der Heilkunst ( lege artis ) folgend angesehen. Dies kann dadurch begründet werden, dass neben biochemischen Prozessen im menschlichen Körper auch die behandelnden Personen einen wesentlichen Einfluss auf den Patienten haben und sich viele Prozeduren einer wissenschaftlich Überprüfung entzogen haben und sich teilweise aufgrund offensichtlicher Wirksamkeit einer systematischen Überprüfung entziehen. Ebenso war die Medizin bis vor wenigen Jahrzehnten auf vielen Fachgebieten geprägt vom Mangel effektiver kausaler Therapien, wie beispielsweise in → Kapitel 1.2.4. dargelegt. Umso wichtiger waren positive Effekte der sog. Sprechenden Medizin , die durch die zwischenmenschliche Interaktion zwischen Patient und Arzt erzeugt werden konnten. So können durch emotionale Zuwendung und Beistand Krankheitsverläufe teilweise positiv beeinflusst werden. Beispiel ∣ den Schmerz wegpusten Ein vermeintlich harmloses aber sehr eingängiges Beispiel für die hier beschriebenen Effekte haben die meisten Leser (hoffentlich) in Ihrer Kindheit erfahren. Kindern, die stürzen und sich dabei wehgetan haben, beispielsweise durch Zuziehen einer oberflächlichen Schürfwunde, werden am effektivsten durch emotionale Zuwendung getröstet. Häufig wird in diesem Zusammenhang durch eine ritualisierte Handlung geholfen, beispielsweise durch „Wegpusten“ des Schmerzes. <?page no="57"?> Medizin als ärztliche Heilkunst 57 Um hier in den Worten des Arztes Eckart von Hirschhausen zu sprechen, gibt es mutmaßlich keine biochemischen Reaktionen an der Wundfläche, die eine sofortige „emotionale Genesung“ des Kindes erklären könnten, dem Kind das „Wegpusten“ des Schmerzes zu verweigern wäre aber trotzdem eine unterlassene Hilfeleistung. In diesem Zusammenhang haben ritualisierte Handlungen und Insignien nicht nur bei Naturvölkern oder in der kindlichen Entwicklung, sondern auch in der modernen Medizin einen festen Bestandteil und können gezielt zum Wohle des Patienten eingesetzt werden. Wichtige Insignien der modernen Medizin sind neben dem weißen Arztkittel auch ein am Körper getragenes Stethoskop und sicherlich auch ein Doktortitel, obgleich dieser nur etwas über die wissenschaftliche, nicht aber zwingend die ärztliche Kompetenz des Titelträgers aussagen sollte. Einer der prominentesten Fürsprecher der sprechenden Medizin, der ungarische Psychoanalytiker und Biochemiker Mihály Maurice Bergsmann, besser bekannt unter seinem späteren Namen Michael Balint , postulierte, dass das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel der Arzt selbst sei. So kann für bestimmte Gesundheitsprobleme durch ein überzeugendes Auftreten des Arztes bei Gabe eines Scheinmedikamentes (placebo (lat.) = Ich werde gefallen) ein nicht durch pharmakologische Wirkung erzielter Effekt, der sog. Placebo-Effekt , beobachtet werden. Jedoch hat diese Interaktion ebenso wie jede andere Form der Therapie auch Risiken und Nebenwirkungen. So kann als Gegensatz zum positiv wirkenden Placebo-Effekt eine unpassende Interaktion zwischen Patient und Arzt auch zu einem negativen Ergebnis führen, dem sog. Nocebo-Effekt (nocebo (lat.) = ich werde schaden). <?page no="58"?> 58 Einführung in die Systematik der Medizin Beispiel ∣ Chefarztvisite Eine ritualisierte Handlung in der Medizin stellt beispielsweise eine Visite im Patientenzimmer dar. Ob dieses Ritual dem Patienten nützt, indem die Anwesenden auf den Patienten empathisch eingehen, vorhandene Fragen verständlich beantworten und den Gesundheitszustand durch Linderung der Ängste und Sorgen verbessern, hängt von Ihrer Heilkunst ab. Ebenso könnte eine Chefarztvisite als Massenandrang weiß bekittelter Personen stattfinden, die sich vor dem Patienten aufbauen und sich über diesen statt mit ihm in bestem Ärztelatein kurz austauschen. Nach kurzer Zeit ohne wirkliche Interaktion mit dem Patienten zieht die Karawane dann weiter zum „nächsten Fall“ und lässt den Patienten unbeteiligt, uninformiert und verunsichert zurück. Während die wissenschaftsbasierte Medizin, wie in → Kapitel 2.3. dargestellt werden wird, enorme Fortschritte in der Behandlung von Patienten erzielt hat, trat die Sprechende Medizin als integraler Bestandteil der ärztlichen Heilkunst in den letzten Jahren zu Unrecht immer mehr in den Hintergrund, was in den → Kapiteln 4.5 und → 4.6. nochmals aufgegriffen wird. So wird in der Ausbildung der Medizinstudierenden viel Wert auf naturwissenschaftliche Zusammenhänge und medizinische Fakten gelegt. Dagegen sind, die systematische Ausbildung zur Entwicklung bzw. Beibehaltung einer empathischen Grundhaltung und spezieller kommunikativer Fähigkeiten, beispielsweise zur Überbringung schlechter Nachrichten, nur an einzelnen medizinischen Hochschulen etabliert. Die Vermittlung von Humor in der Medizin ist trotz der sogar sprichwörtlichen Erkenntnis, dass Lachen gesund sei, ebenso an den meisten Ausbildungsstätten (noch) nicht etabliert. <?page no="59"?> Medizin als ärztliche Heilkunst 59 Lesetipps ∣ Literatur Balint, Michael (2010): Der Arzt, sein Patient und die Krankheit . Stuttgart. Berndt, Christina (2003): Medizin ist Show . Süddeutsche Zeitung vom 05.08.2003. Im Internet unter: http: / / www.sueddeutsche.de/ wissen/ 2.220/ aerzte-heilmittelund-rituale-medizin-ist-show-1.912199 <?page no="61"?> 2 Methoden und Ansätze der Medizin 2.1 Arzneimitteltherapie Die Behandlung von Patienten mit bestimmten Substanzen (Arzneien) bzw. Medikamenten (medicamentum (lat.) = Heilmittel) zur Behandlung von Beschwerden hat eine lange Tradition. So ist der Einsatz natürlich vorkommender aktiver Substanzen in Rezepturen bereits seit 3000 v. Chr. belegt. Neben den teilweise auch heute noch als sog. Phytotherapeutika (Arzneimittel auf pflanzlicher Basis) gebräuchlichen Substanzen wurden zahlreiche chemisch synthetisierte Wirkstoffe erfunden und finden nach Testung unter Laborbedingungen am Menschen in nahezu allen medizinischen Fachgebieten praktischen Einsatz. Neben den beschriebenen Bezeichnungen für Arzneimittel findet sich auch der aus dem Griechischen stammende Begriff des Pharmakons (pharmakon (griech.) = Gift, Droge, Arznei), der neben dem Hinweis auf potenziell gewünschte Effekte durch die Übersetzung auch auf potenzielle Risiken und Nebenwirkungen hindeutet. Zitat Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei. Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim), Schweizer Arzt, Alchemist, Mystiker und Philosoph (1493-1541) Heute nehmen Arzneimittel neben den in Kapitel 2.2. beschriebenen operativ-interventionellen Maßnahmen in der Therapie einen sehr bedeutenden Stellenwert ein. So lagen beispielsweise die Gesamtausgaben der GKV-Versicherten für Arzneimittel laut Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. (ABDA) im Jahr 2019 bei 35,43 Mrd. Euro. Das Wissen über die Wirkung eines Pharmakons ist für den Erfolg der medikamentösen Behandlung eines Patienten von entscheiden- <?page no="62"?> 62 Methoden und Ansätze der Medizin der Bedeutung. Diesem Wissen widmet sich die Lehre von der Wirkung der Arzneimittel, die Pharmakologie . Hierbei wird unterschieden zwischen den Teilgebieten der Pharmakodynamik und der Pharmakokinetik. Die Pharmakodynamik beschreibt die Wirkung eines Pharmakons auf den Organismus, während die Pharmakokinetik die Wirkung des Organismus auf das Pharmakon, also beispielsweise dessen Abbau innerhalb des Körpers sowie die Ausscheidung des Arzneimittels aus dem Körper beschreibt. Jeder pharmakologische Eingriff ist dabei stets einer sorgfältigen Indikationsstellung nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung zu unterziehen. Insbesondere im Rahmen der Zulassung neu entwickelter Wirkstoffe und Rezepturen ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen eine umfangreiche und schrittweise Testung der Substanz auf potenzielle Schädigungen unerlässlich. Beispiel ∣ Thalidomid - gut verträglich? Im Jahr 1957 kam ein Schlafmittel namens Contergan auf den Markt, das als „erstes bromfreies Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere Nebenwirkungen“ vermarktet wurde. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Kinder von Schwangeren, die das Mittel während der Schwangerschaft einnahmen, mit erheblichen Missbildungen zu Welt kamen. Da dieser Zusammenhang erst 1961 zur Rücknahme des Präparates vom Markt führte, wird die Zahl betroffener Kinder weltweit auf ca. 10.000 geschätzt, von denen ein Großteil aufgrund der überwiegenden Vermarktung in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurden. Heute leben noch etwa 2.800 Menschen mit diesen schweren Missbildungen in Deutschland. Aufgrund dieses Contergan-Skandals und anderer gravierender Ereignisse wurden die Arzneimittelzulassung international strengen Regularien unterworfen und wird in den USA von der Food and Drug Administration ( FDA ) und in Europa von der Europäischen Arzneimittel-Agentur ( EMA ) streng überwacht. Im Rahmen der Klinischen Prüfung durchläuft ein Arzneimittel nach biochemischer <?page no="63"?> Arzneimitteltherapie 63 Grundlagenforschung und Tierversuchen die in → Tabelle 3 dargestellten Stadien der Arzneimittelprüfung. Phase Fragestellungen Probanden Stichprobe (~) Studienform I „first in human“ Toxizität? Pharmakokinetik? Höhe der akzeptablen Einzeldosen? in der Regel freiwillige Gesunde klein (10-15) Interventionsstudie ohne Kontrolle II Dosis-Effekt- Beziehung? proof of concept (IIa) dose finding study (IIb) ausgewählte erkrankte Patienten mittel (50-100) Interventionsstudie ohne Kontrolle III signifikanter Wirknachweis (pivotal study)? vor Marktzulassung (IIIa) bzw. nach Marktzulassung (IIIb) Patienten mit definierten Ein- und Ausschlusskriterien groß (200-10.000) Interventionsstudie Randomisierte kontrollierte Studie IV Wirksamkeit/ Nutzen unter Routinebedingungen? seltene Nebenwirkungen? repräsentatives Patientenkollektiv sehr groß (bis 10 6 ) Kohortenstudie Beobachtung im Sinne der Versorgungsforschung Tab. 3: Phasen der klinischen Prüfung eines Arzneimittels Arzneimittel sind im deutschsprachigen Raum bis auf wenige Ausnahmen apothekenpflichtig, können also nur von approbierten Apothekern im Rahmen eines Beratungsgespräches verkauft werden (Selbstbedienungsverbot). Je nach Indikation und Nebenwirkungsprofil wird zwischen rezeptfreien, also frei verkäuflichen Medikamenten und verschreibungspflichtigen (rezeptpflichtigen) Arzneimitteln unterschieden, die aufgrund der Nebenwirkungen bzw. Risiken nur auf Rezept eines Arztes, Zahnarztes oder Veterinärmediziners ausgegeben werden dürfen. Eine Sonderform der Rezeptpflicht stellt <?page no="64"?> 64 Methoden und Ansätze der Medizin die Verschreibung von Präparaten dar, die zur Minimierung möglichen Missbrauchs als sogenannte Betäubungsmittel (BTM) unter die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BTMVV) fallen. Neben den von pharmazeutischen Unternehmen entwickelten zugelassenen Originalmedikamenten werden nach Auslaufen der sogenannten Patentzeit auch wirkstoffgleiche Medikamente von anderen Herstellern, sogenannte Generika , produziert. Diese sind aufgrund deutlich geringerer Zulassungskosten in aller Regel deutlich preisgünstiger als das Originalpräparat. Neben der chemischen Struktur eines Pharmakons sind vor allem die Darreichungsform und Applikationsart entscheidend für pharmakodynamische Eigenschaften, wie beispielsweise die Zeit bis zum Wirkeintritt der Substanz. Gängige Darreichungsformen sind in → Tabelle 4 aufgelistet. Darreichungsform fest halbfest flüssig sonstige Beispiele Tablette Dragee Kapsel Granulat Puder Suspension Creme Paste Gel Lösung (z. B. Augentropfen) Sirup Injektionslösung Infusionslösung Pflaster Dosieraerosol Spray … Tab. 4: Darreichungsformen für Arzneimittel Die häufigsten Applikationsarten, die ihrerseits wiederum in enterale (über den Verdauungsweg aufgenommene) und parenterale (nicht über den Verdauungsweg aufgenommene) Gaben unterschieden werden, sind inkl. der hierfür gebräuchlichen Abkürzungen bei Verordnungen in → Tabelle 5 aufgeführt. <?page no="65"?> Arzneimitteltherapie 65 Bezeichnung Abkürzung Applikationsweg oral/ per os p.o. über den Mund intravenös i.v. über eine Vene subkutan/ subcutan s.c. über das Unterhautfettgewebe intramuskulär i.m. über die Muskulatur intraossär i.o. über das Knochenmark Intraarteriell i.a. über eine Arterie inhalativ / per inhalationem p.i. über die Atemwege sublingual s.l. im Mundraum unterhalb der Zunge nasal über die Nasenschleimhaut intraartikulär über das Gelenk peridural über den Periduralraum (rückenmarksnah) rektal über den Enddarm transdermal durch die Haut hindurch vaginal über die Schleimhaut der Scheide Tab. 5: Häufige Applikationsarten für Arzneimittel Aufgrund der Vielzahl verschiedener Wirkstoffe, Darreichungsformen, Bezeichnungen unter denen Medikamente vermarktet werden und der Gefahr einer Verwechslung aufgrund ähnlichen Aussehens oder Namensähnlichkeit kurz als LASA ( L ook A like S ound A like)- Problematik bekannt, kommt der korrekten Verschreibung aber auch der korrekten Verabreichung von Medikamenten eine besondere Bedeutung zu. Etabliert hat sich hier die sog. 5R-Regel : R ichtiger Patient R ichtiges Arzneimittel R ichtige Dosierung (oder Konzentration) R ichtige Applikation (auch Applikationsart) R ichtige Zeit (richtiger Zeitpunkt) <?page no="66"?> 66 Methoden und Ansätze der Medizin Lesetipps ∣ Literatur und Websites Paracelsus (1538): Die dritte Defension wegen des Schreibens der neuen Rezepte . In: Septem Defensiones 1538. Im Internet unter: http: / / www.zeno.org/ Philosophie/ M/ Paracelsus/ Septem+Defensio nes/ Die+dritte+Defension+wegen+des+Schreibens+der+neuen +Rezepte ABDA (2021): Die Apotheke - Zahlen, Daten, Fakten 2020 . Im Internet unter: https: / / www.abda.de/ fileadmin/ user_upload/ assets/ Pressetermine / 2020/ TdA_2020/ ABDA_ZDF_2020_Brosch.pdf Bundesgesundheitsministerium (2015): Tipps für eine sichere Arzneimitteltherapie . 2. Auflage. Im Internet unter: https: / / www.bundesregierung.de/ Content/ Infomaterial/ BMG/ _2713.html 2.2 Interventionell-operative Medizin Neben pharmakologischen Therapiekonzepten prägen Operationen und andere interventionelle Verfahren die moderne Medizin. Eine Operation , abgekürzt auch OP genannt, ist ein durch OP- Instrumente unterstützter Eingriff im oder am Körper eines Menschen. Die Ausrichtung einer OP ist meist therapeutisch, im Rahmen einer Gewebeprobegewinnung (Biopsie) teilweise aber auch zu diagnostischen Zwecken indiziert. Die Personen, die eine OP durchführen, werden Chirurgen bzw. Operateure genannt. Während erste operative Eingriffe bereits in der Steinzeit durchgeführt und im Einzelfall überlebt wurden, sind erst durch die in → Kapitel 1.2.1 und → 1.2.3 beschriebenen Errungenschaften Operationen vergleichsweise risikoarm und erfolgreich durchführbar. Die WHO schätzt, dass im Jahr 2012 weltweit ca. 313 Millionen Operationen durchgeführt wurden, wobei der Großteil dieser Interventionen in Ländern mit hohem Wohlstand durchgeführt wurde. Die meisten Operationen werden im Fachgebiet der Chirurgie (cheirurgía (altgriech.) = <?page no="67"?> Interventionell-operative Medizin 67 Handwerk) durchgeführt, die sich wiederum in Spezialgebiete wie beispielsweise die Allgemeinchirurgie, Herzchirurgie oder die Unfallchirurgie aufteilt. Jedoch gibt es zahlreiche Fachgebiete, die sowohl konservative als auch operativ-chirurgische Therapien durchführen, wie beispielsweise die Gynäkologie und Geburtshilfe. Für die meisten Operationen ist eine Anästhesie erforderlich, entweder in Form einer Allgemeinanästhesie (Narkose) oder eine Regionalanästhesie durch einen Anästhesisten (Narkosearzt) oder mittels örtlicher Betäubung der OP-Stelle (Lokalanästhesie) durch den Operateur. Operationen werden hinsichtlich ihrer medizinischen Dringlichkeit im Allgemeinen in drei Kategorien unterteilt. Während Notoperationen keinen Aufschub dulden, müssen dringliche OPs innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Besteht jedoch in gewissen Grenzen eine Wahlfreiheit bezüglich des OP-Termins, wird von sogenannten elektiven (electivus (lat.) = die Wahl lassend) Eingriffen gesprochen. Eine OP besteht klassischerweise aus drei Phasen: In der präoperativen Phase erfolgen die Indikationsstellung sowie die Aufklärung des Patienten bezüglich des Ziels und Ablaufs der geplanten Operation sowie der möglichen Risiken und Nebenwirkungen. Der Aufklärung muss sich die Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters in die konkret durchzuführenden Maßnahmen anschließen. Neben der OP-Aufklärung hat für eine geplante Allgemein- oder Teilanästhesie ebenfalls eine Indikationsstellung, eine ärztliche Aufklärung und die Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters zu erfolgen. Dieses Prozedere kann je nach Eingriffsart sehr ausführlich und langwierig sein, in Akutsituationen bei Not-OPs aber auch drastisch abgekürzt werden, so dass bei Gefahr im Verzug ggf. auch die mutmaßliche Einwilligung des Patienten ohne Aufklärung und Einwilligung ausreichen kann. Die präoperative Phase endet mit der unmittelbaren Vorbereitung auf die Operation, in dessen Rahmen beispielsweise auch die Anästhesie eingeleitet wird. In der intraoperativen Phase findet die eigentliche operative Prozedur statt. Hierzu erfolgt nach Abschluss der Vorbereitungen (Anästhesie, Lagerung des Patienten, Desinfektion) ein operativer Zugang zum gewünschten Operationsgebiet, auch Situs (situs (lat.) = Lage, <?page no="68"?> 68 Methoden und Ansätze der Medizin Stellung) genannt. Dies kann beispielsweise durch vorhandene Körperöffnungen oder per Schnitt durch die Haut und ggf. darunterliegende Strukturen, wie Muskulatur, geschehen. Diesem schließt sich die eigentliche Intervention an. Nach deren Abschluss wird der OP- Zugang beispielsweise durch Zusammennähen oder Klammern der durchtrennten Strukturen wieder verschlossen und ggf. durch Verbände zum Schutz vor Infektionen abgedeckt. Je nach Komplexität des Eingriffs können der Zugang zum OP-Gebiet und der Verschluss der dadurch entstandenen OP-Wunde teilweise sogar länger dauern als die eigentliche Intervention. Die postoperative Phase besteht aus der Ausleitung der Anästhesie, der Aufhebung einer OP-Lagerung, dem Umlagern in das Patientenbett und der je nach Eingriff unterschiedlich lange andauernden postoperativen Überwachung der Patienten. Für die gemeinsame Betrachtung aller drei genannten Phasen wird der Begriff perioperative Phase verwendet. Im Zuge der postoperativen Behandlung kann es nicht nur durch die Intervention im OP-Gebiet, sondern vor allem durch den Zugang dorthin zu Komplikationen und vor allem zu Schmerzen für den Patienten kommen. So ist die operative Entfernung der Gallenblase beim offen-chirurgischen Verfahren mutmaßlich weniger schmerzhaft als die Operationswunde, die dem Patienten dafür zugefügt werden muss. Aus diesem Grund konnten für zahlreiche OP- Indikationen sogenannte minimal-invasive Zugangsarten etabliert werden. Das bekannteste Verfahren hierfür ist die sogenannte Laparoskopie (Bauchspiegelung), bei der Eingriffe im Bauchraum mittels Instrumenten durchgeführt werden, die nach kleinen Hautschnitten durch die Zugänge offen haltende Instrumente (Trokare) in den Körper eingeführt werden und dort anstelle der Hände des Operateurs am Situs entsprechende Bewegungen ausführen. Dies geschieht unter Sicht, da durch einen Trokar eine Kamera eingeführt wird, durch die der Operateur die Bewegungen im OP-Gebiet unter Sicht durchführen kann. Hierzu wird der Bauchraum zuvor mit Kohlenstoffdioxid (CO 2 ) gefüllt, um eine entsprechende Übersicht zu ermöglichen. Bei minimalinvasiven Operationen an Gelenken (Kniespiegelung) erfolgt dies in der Regel mittels steriler Kochsalzlösung. Dieses Ver- <?page no="69"?> Interventionell-operative Medizin 69 fahren hat aufgrund der in randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesenen Überlegenheit im Hinblick auf postoperative Schmerzen oder Zeit bis zur vollständigen Genesung ( Rekonvaleszenz ) bisherige offen-chirurgische Verfahren als Standardverfahren abgelöst. Jedoch sind der Laparoskopie insbesondere bei intraoperativen Komplikationen durch eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten Grenzen gesetzt, sodass die Beherrschung der offenenchirurgischen Verfahren weiterhin notwendig bleibt. Abb. 3: Minimalinvasive Operation am Beispiel der Laparoskopie Nicht-operative Fachgebiete wie die Innere Medizin oder die Radiologie führen durch die Möglichkeit der interventionellen Verfahren mittels einer Gefäßpunktion und einem Zugang mittels Katheter beispielsweise zu Herzkranz- oder Hirngefäßen zunehmend ebenfalls invasive Prozeduren durch. Diese werden in Abgrenzung zu OPs <?page no="70"?> 70 Methoden und Ansätze der Medizin aber als interventionelle Verfahren beschrieben, unterliegen aber auch den entsprechenden Aufklärungs- und Einwilligungspflichten und bestehen ebenfalls aus den Phasen der Vorbereitung, Durchführung und Nachbeobachtung des Patienten. Vorteil solcher interventioneller Verfahren kann die geringere Invasivität der Maßnahme sein. So kann es durch die Gefäßpunktion zwar auch zu relevanten Risiken kommen, eine kathetergestützte Wiedereröffnung eines verschlossenen Blutgefäßes beispielsweise ist aber weniger invasiv als der hierfür notwendige offen-chirurgische Zugang. Abb. 4: Schematische Darstellung der kathetergestützten Wiedereröffnung eines verschlossenen Herzkranzgefäßes <?page no="71"?> Evidence-based Medicine (EbM) 71 Eine weitere potenzielle Innovation könnte die Einführung sogenannter roboterassistierter OP-Instrumente sein. Hierbei führt zwar der Operateur weiterhin die OP durch, wird aber in seinen Bewegungen von einem sogenannten OP-Roboter unterstützt. Aufgrund des damit verbundenen erhöhten Aufwandes muss im Einzelfall jedoch nach den in → Kapitel 2.3. beschriebenen Kriterien der Evidenzbasierten Medizin sorgfältig abgewogen werden, ob diese Technik tatsächlich einen konkreten Zusatznutzen hinsichtlich patientenrelevanter Endpunkte erbringen kann oder nicht. Lesetipps ∣ Literatur und Websites WHO. Themenseite Safe Surgery . Im Internet unter: http: / / www.who.int/ patientsafety/ safesurgery/ en/ 2.3 Evidence-based Medicine (EbM) 2.3.1 Entstehung und Begriffsdefinition Der Begriff Evidence-based Medicine (EbM) wurde von der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe David Sacketts im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der McMasters Universität in Hamilton, Kanada Anfang der 1990er-Jahre geprägt. Die Evidencebased Medicine beschreibt einen formalen Ansatz, aber auch eine Haltung, medizinisches Handeln aus drei Komponenten zu betreiben, die David Sackett , der Mitbegründer dieser Methodik, im Jahr 2000 nochmals folgendermaßen zusammenfasste: Wissen Evidence-based Medicine verbindet die bestverfügbaren Forschungsergebnisse mit der eigenen klinischen Expertise und den Vorstellungen des Patienten. In den deutschsprachigen Raum hielt die Evidence-based Medicine erstmals 1995 Einzug, wobei die Übersetzung des Begriffs in Evidenzbasierte Medizin zu einer Umdeutung des Begriffes im deut- <?page no="72"?> 72 Methoden und Ansätze der Medizin schen Sprachgebrauch führte: Während der englische Begriff „evidence“ mit „Beleg/ Beweis“ übersetzt werden kann, steht der deutsche Begriff „Evidenz“ für „Offensichtlichkeit“, also etwas, dass überhaupt keines Beweises bedarf. Mittlerweile wird der Begriff Evidenz im medizinischen Kontext ungeachtet der Wortherkunft wie im Englischen angewandt. Der Ansatz, die bestverfügbaren Forschungsergebnisse mit dem eigenen klinischen Wissen zu verbinden und dabei die Vorstellungen des Patienten zu berücksichtigen, erscheint zunächst als etwas Selbstverständliches und daher wenig innovativ. Nach kritischem Hinterfragen der Behandlungsverfahren zur Zeit der Implementierung der EbM, muss jedoch festgehalten werden, dass nur ein gewisser Anteil der praktizierten Verfahren jemals in einer systematischen, vergleichenden wissenschaftlichen Untersuchung auf seine Wirksamkeit hin überprüft wurde. 2.3.2 Medizin zwischen Kunst und Wissenschaft Die Gründe für das Fehlen zahlreicher Nutzennachweise in der Medizin liegen im Fach selbst und in seiner geschichtlichen Entwicklung begründet. Obgleich für jede medizinische Therapie auf den ersten Blick ein wissenschaftlich fundierter Wirksamkeitsnachweis einzufordern ist, stößt diese Forderung schnell an zwei wesentliche Grenzen: Zum einen gibt es medizinische Verfahren, für deren offensichtliche Wirkung bislang keine theoriebasierte Erklärung vorliegt. Beispiel ∣ Wirkung ohne wissenschaftliche Erklärung Die genaue Wirkungsweise im menschlichen Körper von Paracetamol und Metamizol, zwei der am häufigsten eingesetzten Schmerzmittel, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Seit vielen Jahrhunderten werden Muskelschmerzen durch Anwendung von Wärme kuriert. Eine genaue wissenschaftliche Erklärung, warum Wärme bei Muskelschmerzen hilft, existiert bis heute jedoch nicht. <?page no="73"?> Evidence-based Medicine (EbM) 73 Zum anderen gibt es wirksame Behandlungen bei kritischen Erkrankungen, die einen kontrollierten Vergleich gegen ein mutmaßlich weniger effektives Verfahren oder gar das Unterlassen einer Therapie aus ethischen Gründen ausschließen. Beispiel ∣ Menschenverstand statt Kontrollgruppe So gab es beispielsweise niemals eine Studie, die den Nachweis erbrachte, dass Fallschirme bei Stürzen aus großer Höhe Menschen vor Schaden bewahren, indem eine Gruppe von Menschen mit und eine Gruppe von Menschen ohne Fallschirme aus einem Flugzeug sprangen und das Ergebnis wissenschaftlich evaluiert wurde. Trotzdem würde jeder vernünftig denkende Mensch einen Fallschirm wählen, wenn ein Sprung aus einem Flugzeug aus großer Höhe notwendig wäre. 2.3.3 Die 5 Schritte der EbM nach Sackett Die EbM ist eine patientenorientierte, problembasierte Methodik und gliedert sich nach Sackett in fünf Schritte: [1] Stellen einer beantwortbaren Frage [2] Suche nach bestverfügbaren Forschungsergebnissen [3] Beurteilung der gefundenen Forschungsergebnisse [4] Anwendung am Patienten [5] Evaluation der eigenen Leistung Im ersten Schritt wird eine Frage formuliert, die zum einen auf wissenschaftliche Art beantwortbar ist und ein konkretes Problem in der Patientenversorgung beschreibt, für das das eigene klinische Wissen des Behandelnden nicht ausreicht. Hierfür haben sich strukturierte Vorgehensweisen wie die Formulierung der in → Tabelle 6 dargestellten PICO-Frage für therapeutische Interventionen bewährt. <?page no="74"?> 74 Methoden und Ansätze der Medizin Element Funktion Beispiel Patient beschreibt den Patienten bzw. das Gesundheitsproblem Ist für einen 22-jährigen Studierenden, der auf seiner Abschlussfeier übermäßigen Alkoholkonsum plant, Intervention beschreibt die zu überprüfende (neue) Behandlungsmethode die Einnahme von Artischocken- Extrakt in Form von Kapseln Control beschreibt die Vorgehensweise, gegen das die Intervention getestet werden soll im Vergleich zu keiner therapeutischen Intervention Outcome beschreibt das gewünschte Ergebnis, auf das hin untersucht werden soll geeignet, Symptome eines alkoholbedingten Katers am nächsten Morgen zu verhindern? Tab. 6: Die PICO-Frage mit Praxisbeispiel Die auf diese Weise gestellte Frage ist gleichzeitig Ausgangspunkt für die Suche nach wissenschaftlicher Literatur zur Fragestellung, da gewisse Suchworte (Artischocken-Extrakt, alkoholbedingter Kater) daraus abgeleitet werden können. So liefert die Suchoberfläche PubMed der National Library of Medicine der USA auf die übersetzten Suchbegriffe: „artichoke extract“ und „alcohol-induced hangover“ tatsächlich eine randomisiert, kontrollierte Studie, die sich dieser Fragestellung widmet (Pittler MH et al. CMAJ. 2003; 169: 1269-73). Webtipp ∣ medizinische Datenbanken Eine Liste medizinischer Datenbanken zur Suche nach medizinischen Forschungsergebnissen finden Sie online unter Zusatzmaterial direkt beim Buch: www.utb-shop.de <?page no="75"?> Evidence-based Medicine (EbM) 75 2.3.4 Grundlagen medizinischer Studien Die moderne Medizin basiert auf den Prinzipien der Wissenschaft. Ein grundlegendes Verständnis der Medizin setzt daher auch ein grundlegendes Verständnis wissenschaftlicher Prinzipien voraus. Diese Grundprinzipien kann meiner Meinung nach niemand besser beschreiben als Vince Ebert, dem ich für den folgenden Gastbeitrag herzlich danke und dem ich für die kommenden Seiten hiermit die Tastatur übergebe: Gastbeitrag ∣ Was ein Bier im Kühlschrank mit Wissenschaft zu tun hat Nicht wenige sind der Meinung, Naturwissenschaftler beschäftigten sich hauptsächlich mit komplizierten Formeln und Rechnungen. Im Kern jedoch bedeutet Naturwissenschaft eine bestimmte Art zu denken. Wissenschaft ist, banal gesagt, eine Methode zur Überprüfung von Vermutungen. Wenn ich vermute: „Im Kühlschrank könnte noch Bier sein ...“ und ich schaue nach, dann betreibe ich im Grunde schon eine Vorform von Wissenschaft. Das ist im Übrigen der große Unterschied zur Theologie. In der Theologie werden Vermutungen in der Regel nicht überprüft. Wenn ich also nur behaupte „Im Kühlschrank ist Bier.“ bin ich Theologe. Wenn ich nachsehe, bin ich Wissenschaftler. Wenn ich nachsehe, nichts finde, aber trotzdem behaupte: „Es ist Bier drin! “, dann bin ich Esoteriker. Was aber mache ich, wenn der Kühlschrank abgeschlossen ist? Dann muss ich versuchen, die Wahrheit anderweitig herauszufinden. Ich kann zum Beispiel daran rütteln, ich kann ihn wiegen oder mit Röntgenstrahlen durchleuchten. Ich kann das Ding sogar abfackeln und danach die Verbrennungsprodukte auf Bier untersuchen. Das alles ist natürlich extrem aufwändig und langwierig. Deswegen kann ein Esoteriker in fünf Minuten auch mehr Unsinn behaupten als ein Wissenschaftler in seinem ganzen Leben widerlegen kann. <?page no="76"?> 76 Methoden und Ansätze der Medizin Aber selbst wenn ich alle möglichen Experimente durchgeführt habe, habe ich trotzdem nie die volle Gewissheit, ob sich in diesem blöden Kühlschrank tatsächlich Bier befindet. Ein Restzweifel bleibt immer. Weil ich mit jedem Experiment immer nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit abbilden kann. Das ist der Grund, weshalb es in der Wissenschaft kein absolut gesichertes Wissen gibt. Ein Dilemma, das man auch aus dem täglichen Leben kennt. Der Bauer geht jeden Morgen zum Füttern in den Gänsestall und die Gänse denken sich: „Unser Bauer ist schon ein netter Kerl …“ Kurz vor Weihnachten jedoch wird den Gänsen schlagartig klar: „Irgendetwas an unserer Theorie ist faul …“ Im Fachjargon nennt man das Falsifizierbarkeit. Jede Theorie gilt nur so lange als richtig bis sie durch eine neue, eine bessere Theorie ersetzt wird. Und dadurch irren wir uns nach oben. Paradoxerweise hat die Menschheit sehr lange gebraucht, um die wissenschaftliche Methodik zu entwickeln. Genauer gesagt, existiert sie erst seit wenigen hundert Jahren. Viele stutzen jetzt und verweisen auf Menschen wie Aristoteles oder Archimedes. Aber die alten Griechen waren keine Wissenschaftler. Archimedes hat eine Entdeckung gemacht, aber er hat seine Idee, wie es zu dieser Entdeckung kam, nie überprüft. Auch Aristoteles war der Meinung, dass man die Geheimnisse der Natur durch reines Nachdenken erforschen konnte. In der griechischen Philosophie gab es keine Doppelblindstudien. Weder Demokrit noch Sokrates kümmerte sich um Evidenzen, Falsifizierbarkeiten und Placebo-Gruppen. So ist es zum Beispiel zu erklären, dass der große Aristoteles der festen Überzeugung war, dass Männer mehr Zähne im Mund haben als Frauen. Einfach nachzuschauen war ihm viel zu unphilosophisch. <?page no="77"?> Evidence-based Medicine (EbM) 77 Erst im 17. Jahrhundert wurde das Experiment als evidenzbasierte Erkenntnismethode durch Gelehrte wie Francis Bacon, Johannes Keppler, Galileo Galilei oder René Descartes eingeführt. Und das hat den Fortschritt enorm beschleunigt. Der Nobelpreisträger Richard Feynman sagte einmal: „Naturwissenschaft ist eine lange Geschichte, wie wir gelernt haben, uns nichts mehr vorzumachen.“ Noch vor 400 Jahren wurde jedes Unwetter und jede Krankheit, alles was irgendwie außerhalb der Normalität war, dem Hexenwerk zugeschrieben. Heute liefern Molekularbiologie und Meteorologie eine Erklärung für das, was noch vor wenigen Jahrhunderten ausgereicht hat, um Frauen zu verbrennen. Das größte Geschenk der Wissenschaft besteht darin, dass sie uns etwas über den Gebrauch von geistiger Freiheit lehrt. Wenn Sie wissen wollen, wann die nächste Sonnenfinsternis ist, können Sie sich an einen Magier wenden, aber Sie fahren viel besser mit einem Astronomen. Bei Brustschmerzen können Sie die Ursachen gerne von einem Pendler bestimmen lassen oder Sie lassen ein EKG schreiben. Sie können zu einem Medizinmann gehen, damit er den Zauber aufhebt, der Ihre perniziöse Anämie verursacht, oder Vitamin B 12 nehmen. Probieren Sie es mit der Wissenschaft. Nichts anderes reicht an ihre Genauigkeit heran. Ob es uns gefällt oder nicht, aber nur mit wissenschaftlichem Denken haben wir die Freiheit, unser Weltbild zu überprüfen und gegebenenfalls über den Haufen zu werfen. Wissenschaft ist sicherlich nicht perfekt. Aber sie ist das Beste, was wir haben. <?page no="78"?> 78 Methoden und Ansätze der Medizin Zum Autor ∣ Vince Ebert Vince Ebert ist Diplom-Physiker, Kabarettist und Bestsellerautor. In seinen Bühnenprogrammen, Vorträgen und Büchern vermittelt er naturwissenschaftliche Themen mit den Gesetzen des Humors in deutscher und in englischer Sprache. In der ARD moderiert er regelmäßig die Sendung „Wissen vor acht - Werkstatt“. Abseits der Bühne engagiert sich Vince Ebert als Botschafter für die „Stiftung Rechnen“ und „MINT Zukunft schaffen“, um naturwissenschaftliche Kompetenzen in Deutschland zu fördern. Mehr Infos unter: www.vince-ebert.de Geschichtliche Entwicklung Die Heilkunst wurde bereits lange vor Etablierung der Natur- und Geisteswissenschaften angewandt, nicht selten verknüpft mit spirituellen, kultischen oder religiösen Handlungen. So entzog sich das über Jahrhunderte tradierte Wissen zunächst einer naturwissenschaftlichen Überprüfung. Im Laufe der Geschichte wurden Entdeckungen auf der Basis systematischer Untersuchungen oder Vergleiche jedoch bereits lange vor der Einführung der EbM gemacht. Neben den bereits erwähnten Statistiken von Ignaz Semmelweis zur Sterblichkeit der Wöchnerinnen durch einen Vergleich der ärztlichen Entbindungsklinik mit dem Geburtshaus der Hebammen markiert in der Entwicklung der nachweisorientierten Medizin die erste kontrollierte Vergleichsstudie von James Lind im Jahr 1747 einen Wendepunkt. Wissen ∣ Prinzip der vergleichenden Untersuchung James Lind war als Schiffsarzt an Bord der HMS Salisbury stationiert, die im Ärmelkanal zum Schutz von Handelsschiffen patrouillierte. Seine Soldaten erkrankten regelmäßig an der Krankheit Skorbut , die sich durch allgemeine Schwäche, Anfälligkeit gegenüber Krankheiten, Zahnfleischbluten bis hin zu hohem Fieber äußert. <?page no="79"?> Evidence-based Medicine (EbM) 79 Heute wissen wir, dass ein Mangel an Vitamin C ursächlich für diese Erkrankung ist. Zur Identifikation der bestmöglichen Behandlung teilte James Lind die 12 Patienten auf seiner Krankenstation in sechs Gruppen auf. Jeweils zwei Patienten bekamen so eine der sechs verfügbaren Therapien. In fünf Gruppen trat keine Besserung oder sogar eine Verschlechterung der Beschwerden ein. Die beiden Soldaten in der Gruppe, die Zitrusfrüchte erhielten, erholten sich rasch von der Erkrankung und gaben somit den Hinweis auf eine erfolgreiche Behandlung der Erkrankung, lange bevor Vitamin C als solches entdeckt wurde. Das hier zugrundliegende Prinzip der vergleichenden Untersuchung wird auch heute noch zur Beurteilung therapeutischer Verfahren angewandt, auch wenn die Methoden natürlich weiterentwickelt wurden. Zum weiteren Verständnis der systematischen Bewertung diagnostischer oder therapeutischer Interventionen ist an dieser Stelle ein kurzer Exkurs in die klinische Epidemiologie zur Beschreibung der wichtigsten Prinzipien wissenschaftlicher Evaluation medizinischer Interventionen notwendig. Dies geschieht am konkreten Beispiel, wird jedoch, sofern sinnvoll, um den jeweiligen epidemiologischen Fachbegriff in Klammern hinter dem jeweiligen Beispiel ergänzt. Hypothesenbildung und -überprüfung »Die Wissenschaft von heute ist der Irrtum von morgen.« Jakob von Üexkull, deutsch-schwedischer Biologie, 1864-1944 Ein wesentliches Merkmal aller Wissenschaften ist es, Hypothesen aufzustellen und diese im Anschluss daran zu überprüfen. Anders als auf den ersten Blick vermutet, ist der grundsätzliche Ansatz nicht, eine Hypothese zu beweisen, sondern durch Falsifikation auszuschließen. Dies erlaubt durch Nachweis eines Gegenbeispiels den Umkehrschluss, während der Beweis der Hypothese ungleich schwerer ist. <?page no="80"?> 80 Methoden und Ansätze der Medizin Beispiel ∣ schwarze Schwäne und Hypothesen Die Frage, ob alle auf der Welt lebenden Schwäne weiß sind, ist selbst bei Sichtung von 100.000 Schwänen nicht sicher beantwortbar. Erst wenn alle auf der Welt lebenden Schwäne untersucht worden sind (also eine Vollerhebung durchgeführt wurde), kann dies mit Sicherheit behauptet werden. Dies erscheint in der Praxis zum einen ineffizient, zum anderen in vielen Fällen nicht möglich. Wird hingegen vermutet, dass nicht alle Schwäne weiß sind, und es findet sich nur ein einziger, nicht weißer Schwan, so kann die Frage eindeutig beantwortet werden. Somit werden gemäß der von Sir Karl R. Popper aufgestellten Wissenschaftstheorie des Kritischen Empirismus Hypothesen primär zur Falsifikation (Widerlegung) aufgestellt. Hierbei ist zur Falsifikation die Hypothese grundsätzlich vor ihrer Überprüfung aufzustellen. Eine nachträgliche Änderung der Hypothese, z. B. weil die ursprüngliche Hypothese nicht falsifizierbar war, ist nicht zulässig. Zeitliche Betrachtung der Hypothesenerstellung Die Art und Weise, wie wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden, legt somit fest, ob eine Untersuchung in der Lage ist, eine Hypothese zu widerlegen. Wird die Gewinnung der Untersuchungsdaten durchgeführt, nachdem eine klare Hypothese formuliert worden ist, so wird diese Untersuchung als prospektiv bezeichnet und ist grundsätzlich zur Hypothesenüberprüfung geeignet. Wird hingegen erst eine Datensammlung durchgeführt und im Nachgang eine Hypothese formuliert, wird von einer retrospektiven Untersuchung gesprochen. Retrospektive Untersuchungen sind zwar nicht in der Lage, Hypothesen zu falsifizieren, können aber neue Hypothesen generieren, die im Nachgang durch prospektive Untersuchungen falsifiziert werden können. Somit tragen sowohl retrospektive als auch prospektive Untersuchungen zum Erkenntnisgewinn bei, wenngleich auf verschiedenen Ebenen. <?page no="81"?> Evidence-based Medicine (EbM) 81 Ansatzpunkte klinischer Studien Bei der Untersuchung medizinischer Sachverhalte bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Zum einen kann durch einen gezielten Eingriff in Versorgungsabläufe eine Intervention evaluiert werden, zum anderen können Erkenntnisse durch systematische Beobachtung ohne Eingriff in das eigentliche Geschehen gewonnen werden. Daher wird in der Epidemiologie zwischen sogenannten Interventionsstudien und Beobachtungsstudien unterschieden. Ebenso wie prospektive und retrospektive Ansätze haben beide Studienformen in der Beurteilung medizinischer Interventionen ihre absolute Berechtigung. Während der direkte therapeutische Vergleich zweier medizinischer Interventionen nur durch eine Interventionsstudie erfolgen kann, kann beispielsweise der Erfolg einer Therapie unter Alltagsbedingungen nur durch Beobachtung evaluiert werden, nicht aber durch Intervention, da auf diese Weise Alltagsbedingungen verfälscht und somit die Aussagekraft der Alltagstauglichkeit gemindert werden würde. Beide Studientypenformen unterliegen strengen gesetzlichen Anforderungen, die jedoch bei Interventionsstudien nochmals deutlich höher sind als bei Studien, die unter der Therapiefreiheit der Behandelnden erfolgen. Studienarten Im Folgenden sollen fünf wesentliche Studienarten anhand einer kurzen einführenden Beschreibung dargestellt werden: Fallbericht Fallserie Fall-Kontroll-Studie Kohortenstudie Randomisierte kontrollierte Studie Die dargestellten Studientypen haben unterschiedliche Aussagekraft aufgrund der jeweiligen Systematik und sind in aufsteigender Reihenfolge bei gleichbleibend sorgfältiger Planung und Durchführung immer robuster gegen zufällige oder systematische Verzerrungen, die auch als Bias bezeichnet werden. <?page no="82"?> 82 Methoden und Ansätze der Medizin Fallbericht Der Fallbericht stellt einen ausführlichen Bericht über Symptome, Anamnese, Diagnose, Therapie und ggf. Nachbeobachtung eines einzelnen Patienten dar. Häufig beschreibt ein Fallbericht eine seltene oder gar bisher unbekannte Krankheit, eine unerwartete Konstellation von Symptomen oder unerwartete Effekte (z. B. Nebenwirkungen) aufgrund einer Therapie. Es handelt sich somit um eine anekdotische Betrachtung ohne wissenschaftliche Methodik der Studienplanung. Der wesentliche Vorteil eines Fallberichtes liegt in der Möglichkeit der schnellen Verbreitung wichtiger medizinischer Information ohne großen Aufwand, da außer der Einwilligung eines Patienten zur Darstellung seines Falls keine umfangreiche Planung und Genehmigung einer Studie zu erfolgen hat. Gleichzeitig ist eine solche Beschreibung eines einzelnen Falls nicht automatisch repräsentativ und unterliegt unter allen dargestellten Untersuchungsformen dem höchsten Risiko für einen Bias und einer daraus resultierenden Fehlinterpretation. Fallserie Die Fallserie ist die Beschreibung einer Reihe von Behandlungsfällen von Patienten mit gleicher Erkrankung oder gleichen Risikofaktoren. Die Fallserie kann konsekutiv erfolgen, sodass alle über einen bestimmten Zeitraum behandelten Patienten mit bestimmten Kriterien in die Beschreibung aufgenommen werden, oder sie kann als Auswahl bestimmter Behandlungsfälle, also nicht konsekutiv erfolgen. Vorteile der Fallserie sind ihre Durchführbarkeit auch bei sehr geringer Anzahl von Erkrankungen und damit niedriger Patientenzahl und die schnelle bzw. mit geringem Aufwand verbundene Durchführbarkeit. Im Gegensatz zum Fallbericht ist die Fallserie weniger anfällig gegenüber Fehlinterpretationen, da mit gleicher wiederholter Beobachtung (Reproduzierbarkeit der Ergebnisse) die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Beobachtung auf einem Zufall beruht. Durch die meist geringe Fallzahl und Beobachtungsdauer ist diese Studienform gegenüber den folgenden Untersuchungsformen trotzdem sehr <?page no="83"?> Evidence-based Medicine (EbM) 83 anfällig für Fehlinterpretationen, insbesondere bezüglich der Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Fall-Kontroll-Studie Eine Möglichkeit der Reduktion des Risikos für einige Bias-Formen ist die Fall-Kontroll-Studie. Hierbei wird zu einem Patienten aus der Fall-Gruppe, der ein bestimmtes positives oder negatives Behandlungsergebnis ( Outcome ) erreicht hat, ein anderer Patient in die Kontroll-Gruppe aufgenommen, der dieses Ergebnis nicht erreicht hat. Beide Patienten werden nun hinsichtlich einer bestimmten Voraussetzung ( Exposition ), z. B. dem Vorliegen eines Risikofaktors, untersucht. Im Anschluss daran wird untersucht, ob die Exposition in einem Zusammenhang mit dem in der Fallgruppe erreichten und der Kontrollgruppe nicht erreichten Ergebnis stehen kann. Die Planung der Studie und die Interpretation der Ergebnisse stellen jedoch sehr hohe Anforderungen an die Untersuchenden und sind ebenfalls mit zahlreichen Fallstricken versehen. Aufgrund verschiedener Konstellationen oder aus ethischen Gründen nicht anders durchführbarer Studien ist die Fall-Kontroll-Studie jedoch nicht verzichtbar. Beispiel ∣ vermeiden Helme Schädel-Hirn-Verletzungen? Um zu untersuchen, ob Fahrradhelme bei Unfällen vor schweren Schädel-Hirn-Verletzungen schützen, ist es nicht möglich, Radfahrern vorzuschreiben, ab sofort keinen Helm mehr zu tragen, obwohl sie dies bevorzugen. Ebenso ist es aus ethischen Gründen nicht möglich, Fahrradfahrer mit und ohne Helm gezielt Unfällen mit dem Risiko einer Schädel-Hirn-Verletzung auszusetzen. Es kann bei Fahrradfahrern, die einen Unfall erleiden, aber ermittelt werden, ob Sie eine schwere Schädel-Hirn- Verletzung erlitten haben, oder im Nachgang mutmaßlich ermittelt werden, ob sie zum Zeitpunkt des Unfalls einen Helm getragen haben. Wenn Fahrradfahrer, die einen Helm getragen haben, bei vergleichbar schweren Unfällen weniger Schädel- Hirn-Verletzungen erleiden, kann dies ein Hinweis auf die mögliche Schutzwirkung eines Fahrradhelms sein. <?page no="84"?> 84 Methoden und Ansätze der Medizin Ob das Tragen des Helms die wahre Ursache für geringere Anzahl an Schädel-Hirn-Verletzungen ist, oder Fahrradfahrer, die einen Helm tragen, aufgrund eines höheren Sicherheitsbewusstseins weniger riskantes Verhalten im Straßenverkehr zeigen, ist jedoch insbesondere im Nachgang, wenn überhaupt, nur schwer zu ermitteln. Kohortenstudie Der Begriff der Kohorte leitet sich aus dem römischen Militärwesen ab und bezeichnete zur Zeit des Römischen Reiches eine ca. 400 Personen umfassende Untereinheit einer Legion. Im heutigen Kontext bezeichnet eine Kohorte eine bestimmte Gruppe von Patienten ( Merkmalsträgern ). Diese Gruppe wird nun in zwei Gruppen unterteilt: eine Gruppe, die eine gewisse Voraussetzung erfüllt, z. B. das Vorhandensein eines Risikofaktors ( Exposition ), und eine Gruppe, die diese Voraussetzung nicht erfüllt. Im Rahmen der Studie wird nun beobachtet, ob ein bestimmtes Outcome erreicht wird oder nicht. Sofern in der Gruppe mit Exposition das Ergebnis häufiger oder seltener erreicht wird, kann ein je nach untersuchtem Outcome schädigender oder schützender Einfluss des Faktors vorliegen. Beispiel ∣ Gruppen bilden und untersuchen Es wird eine Gruppe von Patienten untersucht, die das Risiko trägt, an der Krankheit X zu erkranken. Einige der Patienten tragen ein bestimmtes Gen in ihrem Erbgut (Exposition), andere Patienten nicht. Werden die Patienten nun in zwei Gruppen eingeteilt - eine Gruppe mit und eine ohne das zu untersuchende Gen - und tritt die zu untersuchende Krankheit in beiden Gruppen unterschiedlich häufig auf, so kann ein schützender oder schädigender Einfluss dieses Gens auf die Erkrankung vermutet werden. <?page no="85"?> Evidence-based Medicine (EbM) 85 Eine andere Form der Untersuchung am Menschen ist unethisch oder in Fällen wie diesem Beispiel unmöglich, da den Menschen bestimmte Risikofaktoren nicht zugewiesen werden können. Neben der Möglichkeit, im Rahmen einer Kohortenstudie gleichzeitig die Neuerkrankungsrate ( Inzidenz ) zu bestimmen, hat diese Studienform ein deutlich geringeres Bias-Risiko als die bisher beschriebenen Studienformen. Je nach Fragestellung kann die Zahl notwendigerweise zu untersuchender Patienten die Größe von 400 Patienten deutlich übersteigen, bis hin zu Kohortengrößen von mehreren hunderttausend Patienten, was ggf. einen enormen zeitlichen, personellen und finanziellen Aufwand bedeuten kann. Die Kohortenstudie ist ebenfalls die bestmögliche Studienform zur Überprüfung der Genauigkeit diagnostischer Tests, die in → Kapitel 2.3.5 anhand einer Kohortenstudie dargestellt wird. Randomisierte kontrollierte Studie Die randomisierte kontrollierte Studie beinhaltet zwei wesentliche Kriterien zur größtmöglichen Reduktion systematischer Fehler (Bias) oder unbekannter Störgrößen ( Confounder ). Eine vorab definierte Patientengruppe wird zur vergleichenden Untersuchung in mindestens zwei unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Dies erfolgt nicht willkürlich durch die Behandelnden, sondern durch zufällige Zuteilung zu den Behandlungsgruppen ( Randomisation ), die idealerweise so abläuft, dass die Behandelnden nicht wissen, in welche Gruppe der nächste wann auch immer in die Studie einzuschließende Patient zugeteilt wird (Verdeckte Randomisation bzw. concealment of allocation). Die Zuteilung kann zusätzlich durch Eingabe bestimmter Parameter (z. B. Alter, Geschlecht, Begleiterkrankungen etc.) durch ein Computerprogramm bewusst auf Gleichverteilung in beiden Gruppen ausgerichtet werden ( Stratifikation ). Sofern die Zahl der in die Studie eingeschlossenen Patienten groß genug ist, sind die Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit hinsichtlich aller relevanten Faktoren, auch unbekannter Störgrößen (Confounder), in beide Gruppen gleichverteilt. Somit haben beide Gruppen, obgleich sich jeweils Patienten un- <?page no="86"?> 86 Methoden und Ansätze der Medizin terschiedlichen Geschlechts, Alters oder Krankheitsstadiums darin befinden, durch diese Gleichverteilung gleiche Startbedingungen. Die Gruppen werden nach erfolgter Randomisation nun unterschiedlich behandelt. Erreicht eine Gruppe wesentlich häufiger das zu untersuchende Ergebnis, so ist dies mutmaßlich auf die unterschiedliche Behandlung zurückzuführen und nicht auf eine unterschiedliche Zusammensetzung der Behandlungsgruppen. Somit stellt die randomisierte kontrollierte Studie die beste Form der vergleichenden Untersuchung unterschiedlicher Behandlungsansätze dar und sollte, sofern aufgrund der Rahmenbedingungen anwendbar, zur Beurteilung der Wirksamkeit von Behandlungen zur Anwendung kommen. Die Beurteilung der Aussagekraft therapeutischer Studien am Beispiel der randomisierten kontrollierten Studie wird in → Kapitel 2.3.6 beschrieben. Validität medizinischer Studien Zusätzlich zu den bisher genannten Aspekten, die zur ordnungsgemäßen Durchführung einer aussagekräftigen Studie notwendig sind, müssen je nach Fragestellung und Studienart eine Vielzahl weiterer Parameter berücksichtigt werden, damit die Validität, also die Gültigkeit bzw. Verlässlichkeit der Ergebnisse gewährleistet ist. So können technische Aspekte der Studienplanung das Risiko systematischer Fehler (Bias) oder den Einfluss unbekannter Störgrößen (Confounder) minimieren und so eine verlässliche Aussage im Rahmen der Studie ermöglichen. Dies wird auch als interne Validität bezeichnet. Weiterhin soll die Studie dazu dienen, von Beobachtungen innerhalb der Studie auf allgemeingültige Zusammenhänge zu schließen. Hierzu muss eine Studie nicht nur technisch einwandfrei geplant sein, sondern auch unter realitätsnahen Rahmenbedingungen stattfinden, also beispielsweise mit repräsentativen Patientengruppen, im Alltag reproduzierbaren Arbeitsabläufen und in der Praxis anwendbaren, also beispielsweise nicht veralteten, Methoden. Wird dies erfüllt, so ist auch die externe Validität gewährleistet. Während die Überprüfung der internen Validität häufig eher einen formalen Akt darstellt, benötigt die Beurteilung der externen Validität detaillierte Fachkenntnisse der jeweiligen medizinischen Fachrichtung. Somit ist und bleibt die Beurteilung der Wirksamkeit einer medizinischen Intervention letztlich Sache der behandelnden Fach- <?page no="87"?> Evidence-based Medicine (EbM) 87 experten. Statistisch bzw. epidemiologisch kompetentes nichtmedizinisches Personal kann den Bewertungsprozess an vielen Stellen unterstützen, aber niemals ohne medizinische Fachkompetenz komplett übernehmen. Bei der Darstellung der Bewertung diagnostischer und therapeutischer Studien in den → Kapiteln 2.3.5 und → 2.3.6 wird aus Gründen der Übersicht die Prüfung auf externe Validität im jeweiligen Unterkapitel Anwendbarkeit aufgeführt, obgleich einzelne Kriterien externer Validität simultan zur internen Validität geprüft werden können. Lesetipp ∣ Literatur und Website Buchberger, Barbara et al. (2014): Bewertung des Risikos für Bias in kontrollierten Studien . Bundesgesundheitsblatt 57: 1432-8. Im Internet unter: https: / / link.springer.com/ content/ pdf/ 10.1007%2 Fs00103-014-2065-6.pdf Evans, Imogen et al. (2013): Wo ist der Beweis? Plädoyer für eine Evidenzbasierte Medizin. Bern. Im Internet unter: http: / / de.testingtreatments.org/ Hammer, Gaël et al. (2009): Vermeidung verzerrter Ergebnisse in Beobachtungsstudien . Deutsches Ärzteblatt 106(41): 664-8. Im Internet unter: https: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=66222 Gigerenzer, Gerd (2009): Das Einmaleins der Skepsis: Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken . Berlin. 2.3.5 Bewertung diagnostischer Studien Die Bewertung diagnostischer Studien erfolgt grundsätzlich in drei Schritten: Überprüfung der (internen) Validität der Studie Überprüfung der Relevanz des Verfahrens Überprüfung der Anwendbarkeit der Studienergebnisse (externe Validität) <?page no="88"?> 88 Methoden und Ansätze der Medizin Zur Überprüfung medizinischer Studien wurden auf verschiedene Fragestellungen ausgerichtete Bewertungsinstrumente entwickelt, die anhand konkreter Fragestellungen die Anwendung und Einhaltung wichtiger methodischer Grundsätze bei der Planung, Durchführung und Auswertung medizinischer Studien überprüfen. Für diagnostische Studien steht beispielsweise die STARD-Checkliste oder eine Bewertungscheckliste des Centers of Evicence Based Medicine ( CEBM ) der Universität Oxford zur Verfügung. Elemente der CEBM- Checkliste sollen im Folgenden dargestellt werden. Interne Validität diagnostischer Studien Frage 1: Wurde das zu überprüfende Verfahren gegen den Goldstandard getestet? Um ein neues diagnostisches Testverfahren zu überprüfen, ist eine verlässliche Antwort darüber notwendig, ob das Testergebnis tatsächlich korrekt ist. Hierzu ist der Vergleich des neuen Testverfahrens mit dem derzeit bestverfügbaren Testverfahren ( Goldstandard ) notwendig. Sofern mehrere Testverfahren zur Identifikation einer Erkrankung existieren, sollte gegen das aussagekräftigste Verfahren getestet werden. Frage 2: Wurden alle Teilnehmenden mit beiden Verfahren getestet? Die Überprüfung des neuen Testverfahrens mittels Goldstandard muss unabhängig vom Ergebnis des neuen Testverfahrens durchgeführt werden. Würden beispielsweise Personen, deren Testergebnis im neuen Verfahren auf eine Krankheit hindeutet, gleichbehandelt und nicht mit dem Goldstandard untersucht, könnte nicht überprüft werden, ob die diagnostizierte Krankheit tatsächlich vorlag. Frage 3: War das Ergebnis des ersten Tests vor Durchführung des zweiten Tests bekannt? Die Interpretation von Testergebnissen ist häufig subjektiv. Während ein Laborgerät unabhängig von vorherigen Testergebnissen Messwerte ausgibt, ist die Beurteilung eines Röntgenbildes oder eine <?page no="89"?> Evidence-based Medicine (EbM) 89 klinische Untersuchung immer von der diagnostizierenden Person abhängig. Ist das Ergebnis des ersten durchgeführten Tests bekannt, so kann dies bewusst und/ oder unbewusst Einfluss auf die Beurteilung des zweiten Tests nehmen. So wird die untersuchende Person bei einem negativen Testergebnis im ersten Test möglicherweise im zweiten Test weniger aufmerksam nach pathologischen Ergebnissen suchen, als wenn im ersten Testverfahren bereits ein eindeutig pathologischer Befund aufgetreten wäre. Frage 4: Haben sich die Tests wechselseitig beeinflusst? In einigen Fällen können sich die durchgeführten Testverfahren sogar gegenseitig beeinflussen. So gibt es zwei Testverfahren, die zur Beurteilung des Vorhandenseins von Prostatakrebs eingesetzt werden. Die Bestimmung eines Laborwertes im Blut, das sogenannte Prostata Spezifische Antigen ( PSA ) und die Abtastung der Prostata mittels eines Fingers (digitus (lat.) = Finger) durch den Enddarm (Rektum). Diese sogenannte digitale rektale Untersuchung führt aber durch Massage der Prostata dazu, dass PSA in hoher Konzentration ins Blut ausgeschieden wird und verfälscht daher für einige Tage den aus dem Blut bestimmbaren PSA-Wert. Daher ist die Reihenfolge bei der Diagnostik entscheidend: Erst muss die Blutabnahme zur Bestimmung des PSA-Wert erfolgen, dann die digitale rektale Untersuchung. Ob eine solche wechselseitige Beeinflussung vorliegt, ist durch Fachexperten zu beurteilen. Relevanz diagnostischer Studien Die Relevanz diagnostischer Studien sollte nur überprüft werden, wenn die oben genannten Kriterien zur Validität in mindestens ausreichendem Maß erfüllt sind. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Ergebnisse einer methodisch mangelhaft geplanten Studie nicht vertrauenswürdig sind und daher auch nicht beachtet werden sollten. Die diagnostische Vierfeldertafel Aus der Untersuchung der Patienten mit einem neuen, zu überprüfenden Testverfahren und dem Goldstandard sind vier mögliche Ergebniskonstellationen denkbar, die sich in der sogenannten Vierfel- <?page no="90"?> 90 Methoden und Ansätze der Medizin dertafel wie in → Tabelle 7 darstellen lassen. Die in → Tabelle 7 verwendeten Buchstaben A bis D werden für die Berechnung aller diagnostischen Maßzahlen verwendet. Im Zusammenhang mit diagnostischen Testverfahren bedeutet ein positives Testergebnis, dass der Test den Patienten als krank in Bezug auf die zu untersuchende Krankheit definiert. Das Wort wird somit anders gebraucht als in der Umgangssprache, in der positive Ergebnisse allgemein mit etwas Gutem in Verbindung gebracht werden. Ein positiver HIV-Test hingegen ist beispielsweise genau das Gegenteil einer guten Nachricht. Die Art des Ergebnisses bestimmt sich aus der Frage, ob der Test richtig oder falsch liegt und dem Ergebnis des Tests. Ein Test, der falsch ist und ein positives Testergebnis ergibt, wird somit als falsch-positiv bezeichnet. Ein Patient würde somit unnötig beunruhigt oder sogar einer unnötigen bzw. falschen Therapie ausgesetzt. Ein falsch-negativer Befund hingegen würde unberechtigte Sicherheit vermitteln, der Patient würde im schlimmsten Fall eine indizierte Therapie nicht erhalten. Die Konsequenzen falscher Testergebnisse sind jedoch immer von der Art und Schwere der Erkrankung abhängig. So ist ein falsch-negatives Testergebnis auf Fußpilz sicher anders zu werten als ein falsch-negatives Ergebnis bei Verdacht auf Herzinfarkt. Goldstandard an Zielkrankheit erkrankt („krank“) nicht an Zielkrankheit erkrankt („gesund“) neues Testverfahren positiv A richtig-positiv B falsch-positiv negativ C falsch-negativ D richtig-negativ Tab. 7: Die diagnostische Vierfeldertafel <?page no="91"?> Evidence-based Medicine (EbM) 91 Die erste wichtige Maßzahl, die sich aus den Messwerten bestimmen lässt, ist die sogenannte Vortestwahrscheinlichkeit, also die Wahrscheinlichkeit erkrankt zu sein, bevor ein Testverfahren durchgeführt wird. Dieser Wert wird auch als Prävalenz der Erkrankung in der Studienpopulation bezeichnet. Er berechnet sich aus der Anzahl der Erkrankten mit der Formel: Testgütekriterien Anhand der gewonnenen Messwerte lassen sich weiterhin die Testgütekriterien Sensitivität und Spezifität messen. Die Sensitivität beschreibt den Anteil der an der Zielkrankheit erkrankten Menschen, die durch den Test auch tatsächlich als erkrankt erkannt werden, und lässt sich berechnen durch die Formel: Demgegenüber beschreibt die Spezifität den Anteil der bezogen auf die Zielkrankheit gesunden Patienten, die durch den Test auch tatsächlich als gesund erkannt werden, und wird mit der Formel ermittelt: Die Testgütekriterien beschreiben also das Maß, in dem erkrankte und nicht erkrankte Patienten erkannt werden, und sind zunächst unabhängig von der Prävalenz. Prävalenz = alle an Zielkrankheit erkrankten Patienten (A+C) alle Patienten (A+B+C+D) Sensitivität = erkannte an Zielkrankheit erkrankte Patienten (A) alle an Zielkrankheit erkrankten Patienten (A+C) Spezifität = erkannte bezogen auf Zielkrankheit gesunde Patienten (D) alle bezogen auf Zielkrankheit gesunde Patienten (B+D) <?page no="92"?> 92 Methoden und Ansätze der Medizin Prädiktive Werte Da bei Einführung des neuen Testverfahrens die Überprüfung mittels des zu Studienzwecken durchgeführten Goldstandard entfallen soll, helfen diese Messwerte nur bedingt weiter. Es sind daher weitere Parameter notwendig, die abhängig von dem ermittelten positiven oder negativen Testergebnis eine Vorhersage (Prädiktion) erlauben. Diese sogenannten prädiktiven Werte lassen sich ebenfalls mit Hilfe der Vierfeldertafel berechnen. Der positive prädiktive Wert (PPW) beschreibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Patient bei positivem Testergebnis auch tatsächlich an der Zielkrankheit erkrankt ist. Er lässt sich wie folgt ermitteln: Ebenso kann im negativen prädiktiven Wert (NPW) die Wahrscheinlichkeit beschrieben werden, in der negativ getestete Patienten tatsächlich auch nicht an der Zielkrankheit erkrankt sind. Dies geschieht mit der Formel: Im Gegensatz zu Testgütekriterien werden die prädiktiven Werte von der Prävalenz in erheblichem Maße beeinflusst. Weitere allgemeine Rechenbeispiele, ein weiteres Fallbeispiel zur besonderen Bedeutung der Prävalenz für die diagnostische Wertigkeit eines Testverfahrens und der Link zu einem Online-Rechner zur Ermittlung diagnostischer Messwerte anhand der Daten einer Vierfeldertafel finden sich als Zusatzmaterialien zum Buch unter www.utb-shop.de. PPW = an Zielkrankheit erkrankte positiv getestete Patienten (A) alle positiv getesteten Patienten (A+B) NPW = an Zielkrankheit nicht erkrankte negativ getestete Patienten (D) alle negativ getesteten Patienten (C+D) <?page no="93"?> Evidence-based Medicine (EbM) 93 Beispiele ∣ Auf den Vorhersagewert kommt es an Die folgende → Abbildung 5 zeigt anhand eines Zahlenbeispiels, dass trotz vergleichsweise hoher Sensitivität und Spezifität ein positives Testergebnis nicht immer auch bedeutet, an der Zielkrankheit erkrankt zu sein. Im vorliegenden Beispiel haben nur 9 von 98 Patientinnen mit positivem Befund im Mammographie-Screening (Brustkrebsfrüherkennung) tatsächlich auch Brustkrebs. Die Darstellung der natürlichen Häufigkeiten in den Kreisen hilft beim Verständnis der Gesundheitsinformation wie in → Kapitel 4.2.3 genauer erläutert. Abb. 5: Sensitivität versus positiver prädiktiver Wert am Beispiel der Brustkrebsfrüherkennung Quelle: in Anlehnung an Schirren, C (2019) Deutsches Ärzteblatt; 116(38): A-1642 / B-1355 / C-1330 1000 10 990 9 1 89 901 in natürlichen Häufigkeiten Frauen mit Brustkrebs ohne Brustkrebs richtig positiv falsch negativ falsch positiv richtig negativ Referenzgruppe Erkrankung negativer Vorhersagewert: 901 (1+901) > 99 % positiver Vorhersagewert: 9 (9+89) = ca. 9 % Testergebnis <?page no="94"?> 94 Methoden und Ansätze der Medizin Anwendbarkeit diagnostischer Testverfahren Frage 1: Wurde ein geeignetes Spektrum an Patienten in die Studie aufgenommen? Anhand der Beschreibung der Ein- und Ausschlusskriterien der Patienten und der in der Studie dargestellten Prävalenz kann auf die Übertragbarkeit der Studienergebnisse geschlossen werden. Wurde das Testverfahren an Patienten getestet, die nicht dem Patienten oder Patientenkollektiv entsprechen, für das die Frage beantwortet werden soll, sind die Ergebnisse nicht übertragbar. So kann beispielsweise bei einem Test, der ausschließlich an Erwachsenen mittleren und hohen Alters durchgeführt wurde, nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass gleiche Testgütekriterien auch bei Säuglingen vorliegen. Frage 2: Ist die Prävalenz der Erkrankung in eigenem Kollektiv bekannt? Wie in den das Lehrbuch ergänzenden Beispielen gezeigt, ist die Aussagekraft eines diagnostischen Testverfahrens entscheidend von der Prävalenz abhängig. Je höher die Vortestwahrscheinlichkeit durch sorgfältige Auswahl der Patienten vor Durchführung eines Tests wird, desto aussagekräftiger ist das Testverfahren. Zur Einschätzung der Aussagekraft eines Tests im eigenen Umfeld ist es daher wichtig, die Prävalenz der Erkrankung im eigenen Patientenkollektiv wenigstens ungefähr abschätzen zu können. Frage 3: Ist der Test verfügbar/ bezahlbar und geeignet für die Bedürfnisse? Die Anwendbarkeit eines Tests hängt in entscheidendem Maße von der Verfügbarkeit des diagnostischen Verfahrens ab. Dies bedeutet zum einen das Vorhandensein entsprechender Messgeräte (z. B. eines Kernspintomographen), zum anderen aber auch das Vorhandensein entsprechender Expertise zur Beurteilung der Befunde (z. B. nachts oder am Wochenende). Neben der reinen Verfügbarkeit spielen ökonomische Aspekte ebenfalls eine entscheidende Rolle, da in bestimmten Situationen die durch das Testverfahren entstehenden Kosten nicht bezahlt werden. Somit kann auch das zweit- oder drittbeste Verfahren zum Einsatz kommen, wenn die Verfügbarkeit eine Be- <?page no="95"?> Evidence-based Medicine (EbM) 95 handlung mit dem bestmöglichen Verfahren in der jeweiligen Situation nicht möglich ist. Frage 4: Kann die Diagnose aufgrund des Ergebnisses gestellt oder ausgeschlossen werden? Diagnostische Testverfahren sollten durch hohe prädiktive Werte die Diagnose zuverlässig stellen oder ausschließen können. Hierbei können je nach Fragestellung (Bestätigung oder Ausschluss einer Diagnose) durchaus unterschiedliche Testverfahren indiziert sein. Ebenfalls möglich ist die Situation, dass mehrere Tests im Zusammenspiel eine Diagnose ermöglichen, beispielsweise bei Erkrankungen, die als Ausschlussdiagnose gestellt werden. Hat ein diagnostisches Verfahren jedoch keinerlei Konsequenz auf das Stellen oder den Ausschluss einer Diagnose, würde also unabhängig vom Testergebnis noch ein weiterer alleine entscheidender Test durchgeführt, dann wäre das erstgenannte diagnostische Verfahren nicht nur überflüssig, sondern dem Grundsatz „primum nil nocere“ folgend sogar kontraindiziert. Frage 5: Würde der Patient kooperieren? Da EbM die besten Forschungsergebnisse mit den eigenen Fertigkeiten und den Vorstellungen des Patienten integriert, ist die Kooperationsbereitschaft des Patienten ebenso von entscheidender Bedeutung. So wird eine Sicherheit von 95 % bezüglich des Testergebnisses nicht jeden Patienten zu gleichem Verhalten veranlassen. Beispiele ∣ Umgang mit Unsicherheit Ein Patient, der mit Brustschmerzen in eine Klinik eingewiesen wird, verlangt nach kurzer Zeit um Entlassung gegen ärztlichen Rat, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich kein Herzinfarkt vorliegt, noch unter 80 % liegt. Ein anderer Patient, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,89 % nicht an einer Zielkrankheit erkrankt ist, verweigert die stationäre Entlassung, „bis einhundertprozentig geklärt ist“, dass er nicht krank sei. <?page no="96"?> 96 Methoden und Ansätze der Medizin Lesetipps ∣ Literatur und Websites Fallbeispiele und Link zum Online-Rechner für diagnostische Studien finden Sie online unter Zusatzmaterial direkt beim Buch: www.utb-shop.de Kritische Bewertung diagnostischer Studien mittels Fragenkatalog des Center of Evidence Based Medicine (CEBM) der Universität Oxford. Im Internet unter: http: / / www.cebm.net/ category/ ebm-resources/ STARD-Checkliste zur Bewertung diagnostischer Studien. Im Internet unter: http: / / www.equator-network.org/ reporting-guidelines/ stard/ 2.3.6 Bewertung therapeutischer Studien Die Bewertung therapeutischer Studien erfolgt analog zum Vorgehen bei diagnostischen Studien in drei Schritten: Überprüfung der (internen) Validität der Studie Überprüfung der Relevanz des Verfahrens Überprüfung der Anwendbarkeit der Studienergebnisse (externe Validität) Ebenso wie für diagnostische Studien stehen für die Beurteilung therapeutischer Studien Bewertungsinstrumente zur Verfügung. Für randomisierte kontrollierte Studien wurde das CONSORT- Statement ( Con solidated S tandards o f R eporting T rials) entwickelt, das Mindestanforderungen an die Berichterstattung randomisierter kontrollierter Studien definiert hat wie das in → Abbildung 6 dargestellte CONSORT-Flowchart zur anschaulichen und transparenten Angabe der Patientenzahlen während aller Phasen der Studie. <?page no="97"?> Evidence-based Medicine (EbM) 97 Abb. 6: Das CONSORT-Flowchart Dieser Standard wiederum eignet sich auch als Grundlage für Prüfinstrumente wie die Bewertungcheckliste des bereits oben erwähnten CEBM. Interne Validität therapeutischer Studien Frage 1: Erfolgte die Zuteilung der Patienten in einem angemessenen Randomisationsverfahren? Wie in → Kapitel 2.3.4.5 beschrieben, ist die Randomisation von Patienten das wirksamste Mittel zur Vermeidung des Einflusses von Confoundern . Voraussetzung ist jedoch, dass die Randomisation frei von Möglichkeiten der Einflussnahme geschieht. Daher sollte die Zuordnung künftiger Studienpatienten nicht bekannt sein, da sonst durch Nichtaufnahme von Patienten oder Verschiebung von Terminen zur Prüfung auf Eignung die Zuteilung in die Gruppen beeinausgeschlossen (n = ) Einschlussgründe nicht erfüllt (n = ) Teilnahme abgelehnt (n = ) andere Gründe (n = ) randomisiert (n = ) zur Behandlung zugeordnet (n = ) Beh. wie zugeordnet erhalten (n = ) Beh. nicht wie zugeordnet erhalten (Gründe: ) (n = ) Nachbeobachtung unvollständig (Gründe: ) (n = ) Behandlung abgebrochen (Gründe: ) (n = ) Daten analysiert (n = ) von Datenanalyse ausgeschlossen (Gründe: ) (n = ) Aufnahme Zuordnung Follow-up Datenanalyse zur Behandlung zugeordnet (n = ) Beh. wie zugeordnet erhalten (n = ) Beh. nicht wie zugeordnet erhalten (Gründe: ) (n = ) Nachbeobachtung unvollständig (Gründe: ) (n = ) Behandlung abgebrochen (Gründe: ) (n = ) Daten analysiert (n = ) von Datenanalyse ausgeschlossen (Gründe: ) (n = ) auf Studieneinschluss überprüfte Patienten (n = ) <?page no="98"?> 98 Methoden und Ansätze der Medizin flussbar wäre. Neben der Angabe, dass verdeckt randomisiert wurde, sollten genauere Angaben zum Verfahren der Randomisation gemacht werden. Frage 2: Waren die Gruppen zu Behandlungsbeginn ähnlich genug hinsichtlich wichtiger Parameter? Sofern genügend Patienten in die Studie eingeschlossen werden konnten und die Randomisation funktioniert hat, sollten beide Behandlungsgruppen zu Beginn der Untersuchung hinsichtlich der als relevant bestimmten Merkmale miteinander vergleichbar sein. Dies sollte in der Studie durch Angabe der jeweiligen Gruppenzusammensetzung transparent dargestellt werden. Frage 3: Wurden die Gruppen, abgesehen von der zu prüfenden Intervention, jeweils gleich behandelt? Jede Behandlungsgruppe wird hinsichtlich der zu überprüfenden Intervention anders behandelt. Auch werden innerhalb einer Therapiegruppe nicht alle Patienten gleich behandelt. So erhalten einige der Patienten beispielsweise Medikamente zur Behandlung von Begleiterkrankungen. Wird einer gesamten Behandlungsgruppe, abgesehen von der zu untersuchenden Intervention, noch eine weitere Behandlung zuteil, dann kann bei einem Effektunterschied nicht unterschieden werden, ob eine Therapie wegen der zu untersuchenden Intervention, der Begleitintervention oder einer Kombination aus beidem dieses unterschiedliche Ergebnis erzielt hat. Beispiel ∣ Wirkung erkennbar, Ursache nicht Es werden zwei Kopfschmerztabletten miteinander verglichen. Die Patienten der Kontrollgruppe erhalten Medikament A, die Patienten der Gruppe mit dem zu überprüfenden neuen Verfahren erhalten Medikament B und hören zusätzlich entspannende Musik. Sofern nun B besser als A wirkt, kann es am Medikament B, an der Musik oder an der Kombination aus Medikament B und Musik liegen. <?page no="99"?> Evidence-based Medicine (EbM) 99 Ein derartiger systematischer Fehler würde als Interventionsbias bezeichnet. Frage 4: Wurden die Patienten in den Gruppen ausgewertet, denen sie bei Randomisation zugeordnet waren? Die Patienten werden zu Beginn der Studie einer Behandlungsgruppe zugeteilt. Durch Fehler im Studienablauf oder durch eine notwendige Änderung im Behandlungsablauf kann es vorkommen, dass Patienten eine andere als die geplante Therapie erhalten. Die Auswertung kann nun nach zwei Aspekten erfolgen. Bei der Per-Protocol- Analyse werden nur die Patienten berücksichtigt, die auch die vorgesehene Therapie erhalten haben. Bei der Intention-To-Treat- Analyse hingegen werden alle Patienten, unabhängig davon, welche Therapie sie erhalten haben, in der Gruppe ausgewertet, in die sie randomisiert wurden. Dies ermöglicht zum einen die Aufrechterhaltung der Gruppenähnlichkeit nach Randomisation und gibt zum anderen ein realistisches Bild bei komplikationsbedingten Wechseln von Patienten in andere Behandlungsgruppen ( Konversion ). Beispiel │ Umgang mit Komplikationen Ein neues minimalinvasives, roboterassistiertes Verfahren soll gegen die Standard-OP-Methode mit großen Schnitten verglichen werden. Bei einigen Patienten in der roboterassistierten Verfahrensgruppe kommt es zu Komplikationen, sodass während des Eingriffs auf die Standard-OP-Methode gewechselt werden muss. Werden diese Patienten nun ausgeschlossen oder gar der Standard-OP-Methode zugeteilt, wird das neue Verfahren verzerrt dargestellt, da die mutmaßlich gravierendsten Komplikationen bei der Per-Protocol-Analyse ausgeblendet werden. <?page no="100"?> 100 Methoden und Ansätze der Medizin Frage 5: War die Quote der Studienabbrecher und Patienten mit unvollständiger Nachbeobachtung akzeptabel und in beiden Gruppen ähnlich? Im Rahmen einer Studie gibt es immer wieder aus den verschiedensten Gründen Studienabbrecher oder Patienten, die nach einer Intervention entsprechende Nachbeobachtungstermine nicht mehr wahrnehmen. Dies ist grundsätzlich akzeptabel, da es hierfür insbesondere bei länger dauernden Studien oder Nachbeobachtungszeiten viele nachvollziehbare Gründe gibt. Die Aussagekraft einer Studie wird jedoch dann eingeschränkt, wenn relativ viele Patienten die Studie oder Nachbeobachtung abbrechen oder die Abbruchquote in einer Behandlungsgruppe deutlich höher ist als in der anderen. Beispiel ∣ Umgang mit Studienabbrechern Es werden die Medikamente C und D gegeneinander getestet. Nach Datenanalyse zeigen sich deutlich höherer Therapieerfolge nach Einnahme des Medikamentes C. In dieser Gruppe brachen allerdings 65 % aller Patienten aufgrund von massiven Nebenwirkungen die Studie ab, in Gruppe D hingegen nur 5 % aufgrund nicht behandlungsbedingter Ursachen. Somit kann keine Überlegenheit von Medikament C unterstellt werden. Frage 6: Waren die Teilnehmenden, Behandelnden und Auswertenden sofern möglich verblindet? Ebenso wie bei der Zuteilung der Patienten zu einer Behandlungsgruppe können bewusste und unterbewusste Effekte bei der Behandlung von Patienten unter Studienbedingungen auftreten. Wird beispielsweise ein neues Medikament gegen ein Scheinmedikament ( Placebo ) getestet und ist dem Behandelnden bekannt, ob der Patient ein Scheinpräparat einnimmt, wird er den Patienten unbewusst anders behandeln als einen Patienten, der das neue Medikament erhält. Ebenso berichten Patienten trotz Einnahme eines Scheinmedikamentes in vielen Fällen von behandlungstypischen Wirkungen und/ oder Nebenwirkungen, was als Placebo-Effekt bezeichnet wird. Dieser <?page no="101"?> Evidence-based Medicine (EbM) 101 Effekt wurde ebenfalls in anderen Behandlungssituationen wie der Schmerztherapie und sogar für chirurgische Eingriffe nachgewiesen. Daher ist es sinnvoll, sofern dies möglich ist, sowohl Patienten als auch Behandelnde als auch die Personen, die das Behandlungsergebnis auswerten, sofern möglich im Unklaren zu lassen, welcher Behandlungsgruppe der Patient angehört, um diesen Effekt nicht zu verfälschen. Dieses Vorgehen wird als Verblindung bezeichnet. Beispiele ∣ Verblindung und Placebo-Chirurgie Ein Patient wird zum Abschluss einer Studie hinsichtlich seiner Beweglichkeit in einem Gelenk untersucht. Zum Vergleich stehen eine Operation und ein konservatives Therapieverfahren (Physiotherapie). Sieht der Untersuchende nun eine OP-Narbe, so beurteilt er die Beweglichkeit möglicherweise anders als bei einem Patienten ohne Narbe. Mögliche Lösung könnte ein großes Pflaster sein, das vor Beurteilung auf die Stelle der möglicherweise vorhandenen Operationsnarbe geklebt wird. Bei Placebo-Chirurgie wurden Patienten in Narkose Hautschnitte gesetzt, so dass diese nach der Narkose nicht beurteilen konnten, ob sie wirklich operiert wurden oder nicht. Die Behandelnden sind in diesem Fall natürlich nicht zu verblinden, die Auswertenden hingegen schon, sofern sie keinen Einblick in die entsprechende Behandlungsdokumentation haben. Wird nur der Patient verblindet, handelt es sich um eine Einfachverblindung. Wissen Patient und Behandelnder nicht um die Zuteilung, wird von einer Doppelblindstudie gesprochen. Sind auch noch die Auswertenden der Studie verblindet, liegt eine dreifache Verblindung vor. Frage 7: Erfolgt die Auswertung der Studie anhand patientenrelevanter Endpunkte? Die Wirksamkeit eines therapeutischen Verfahrens kann anhand sehr verschiedener Messgrößen erfolgen. So kann der Effekt eines <?page no="102"?> 102 Methoden und Ansätze der Medizin blutdrucksenkenden Medikamentes anhand der erreichten Blutdrucksenkung ermittelt werden. Dieser Parameter sagt jedoch nichts über die daraus resultierenden Effekte aus, die tatsächlich relevant für den Patienten sind, nämlich Effekte auf Lebensqualität und Restlebenszeit. Solche Parameter werden auch als Surrogatparameter bezeichnet und sollten zur Beurteilung der Wirksamkeit eines Verfahrens durch patientenrelevante Endpunkte ersetzt werden. Frage 8: Liegen Informationen zur Finanzierung der Studie und zu möglichen Interessenkonflikten der Autoren vor und sind diese akzeptabel? Die Durchführung von Studien, insbesondere von randomisierten kontrollierten Studien, ist mit hohem Aufwand verbunden und muss daher finanziert werden. Da der Nachweis der Wirksamkeit eines Verfahrens insbesondere im Bereich der Medikamentenzulassung aufgrund gesetzlicher Bestimmungen durch die Hersteller erforderlich ist, finden sich viele Studien, die von den Produzenten des mutmaßlich wirksamen Medikamentes durchgeführt wurden. Dies ist nicht per se schlecht, jedoch liegt aufgrund der hohen finanziellen Auswirkungen bei Zulassung bzw. Nichtzulassung des Medikamentes ein Interessenkonflikt vor. Ebenso sind vermeintlich unabhängige Wissenschaftler nicht wirklich unabhängig, wenn sie direkt oder indirekt von der Firma finanziert werden, über deren Medikament eine Bewertung erstellt werden soll. Interessenkonflikte können auch ohne Einfluss der Produzenten durch Auftraggeber oder sogar unabhängig davon entstehen, z. B. da die Publikation „bahnbrechender“ bzw. positiver Studienergebnisse deutlich häufiger und prominenter erfolgt und damit die eigene wissenschaftliche Karriere begünstigt wird. Wichtig sind daher zunächst die transparente Offenlegung potenzieller Interessenskonflikte und geeignete Maßnahmen, um diese ggf. zu begrenzen. Hierzu zählen beispielsweise die Genehmigung des Studienprotokolls durch unabhängige Dritte und die öffentliche Registrierung der Studie vor Beginn, so dass Manipulationen z. B. an Endpunkten oder die Unterdrückung unliebsamer Studienergebnisse nicht mehr möglich sind. <?page no="103"?> Evidence-based Medicine (EbM) 103 Relevanz therapeutischer Studien Bei einer vergleichenden Untersuchung zweier Therapieverfahren wird ein neues Verfahren (experimentelles Verfahren) mit einer etablierten Therapie (Kontrollverfahren) verglichen. Die Behandlungsgruppe des neuen zu untersuchenden Verfahrens wird als Experimentalgruppe bezeichnet, die Behandlungsgruppe mit der etablierten Therapie als Kontrollgruppe . Durch direkten Vergleich der Misserfolgsraten beider Gruppen lässt sich nun das Ausmaß bestimmen, in dem sich durch Einführung der neuen Therapie das Risiko gegenüber der bisherigen Therapie verändert. Hierzu wird in der Kontrollgruppe die Rate der Patienten ermittelt, bei denen die durchgeführte Therapie nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat bzw. der negativ formulierte Endpunkt erreicht wurde. Diese Patienten werden auch als Therapieversager bezeichnet. Die sogenannte Kontrollereignisrate ( C ontrol E vent R ate = CER ) berechnet sich wie folgt: In der Experimentalgruppe wird ebenfalls der Anteil der Patienten bestimmt, bei dem die Therapie nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat, als Experimentalereignisrate ( E xperimental E vent R ate = EER ) analog ermittelt mit der Formel: Die Reduktion des Risikos für ein Therapieversagen durch Verwendung der neuen statt der alten Therapie kann durch Subtraktion der EER von der CER ermittelt werden und wird als absolute Risikoreduktion ( A bsolute R isk R eduction = ARR ) bezeichnet: ARR = CER - EER CER= Anzahl Therapieversager Kontrollgruppe Anzahl aller Patienten in der Kontrollgruppe EER= Anzahl Therapieversager Experimentalgruppe Anzahl aller Patienten in der Experimentalgruppe <?page no="104"?> 104 Methoden und Ansätze der Medizin Ist das Risiko des Therapieversagens in der Experimentalgruppe wider Erwarten größer als in der Kontrollgruppe, so wird die ermittelte Maßzahl nicht als absolute Risikoreduktion, sondern als absolute Risikoerhöhung ( A bsolute R isk I ncrease = ARI) bezeichnet. Das Ergebnis der absoluten Risikoreduktion bzw. Risikoerhöhung kann nochmals in Relation zum Ausgangsrisiko gesetzt werden, um beurteilen zu können, wie stark sich das Risiko relativ zur bisherigen Situation geändert hat. Dies wird als relative Risikoreduktion ( R elative R isk R eduction = RRR ) bzw. relative Risikoerhöhung ( R elative R isk I ncrease = RRI) bezeichnet und folgendermaßen ermittelt: Die Unterscheidung von ARR und RRR ist theoretisch vergleichsweise einfach möglich, praktisch jedoch mit Problemen behaftet. Ein Fallbeispiel zur Problematik der Verwendung von ARR und RRR findet sich online unter www.utb-shop.de. Aus der ARR lässt sich eine Maßzahl berechnen, die vergleichsweise anschaulich darlegt, wie viele Patienten mit der neuen statt der alten Therapie behandelt werden müssen, um bei einem Patienten zusätzlich das Therapieversagen zu verhindern. Dies wird als sogenannte N umber N eeded to T reat ( NNT ) 1 bezeichnet und berechnet sich aus dem Kehrwert der ARR: NNT = 1/ ARR. Die auf diese Art und Weise gewonnene Zahl kann als Dezimalzahl mit Nachkommastellen dargestellt werden, praktisch bedeutet dies jedoch, dass die Zahl aufgerundet werden muss. 1 Gelegentlich wird diese Kennzahl auch als Number Needed to Treat to Benefit (NNTB) bezeichnet. RRR= ARR CER <?page no="105"?> Evidence-based Medicine (EbM) 105 Beispiel ∣ NNT verstehen Ein neues Behandlungsverfahren hat gegenüber dem bisherigen Verfahren eine ARR von 8 % bezüglich des Endpunktes Tod. Daraus ergibt sich Es müssten also 13 (nicht 12,5) Patienten mit dem neuen statt dem alten Verfahren behandelt werden, um einen Todesfall mehr zu verhindern. Im Fall einer absoluten Risikoerhöhung durch die neue Therapie (ARI) würde die so ermittelte Zahl als N umber N eeded to H arm ( NNH ) 2 bezeichnet. Allgemeine Rechenbeispiele finden sich als Zusatzmaterialien online unter www.utb-shop.de. Anwendbarkeit therapeutischer Interventionen Frage 1: Wurde eine repräsentative Patientengruppe ausgewählt, sodass die Ergebnisse auf andere Patienten übertragbar sind? Anhand der Beschreibung der Ein- und Ausschlusskriterien der Patienten kann auf die Übertragbarkeit der Studienergebnisse geschlossen werden. Häufig werden randomisiert kontrollierte Studien an männlichen Patienten mittleren und hohen Alters ohne Begleiterkrankungen durchgeführt. Daher kann vielfach nicht auf die Wirksamkeit in anderen Patientengruppen geschlossen werden wie Kinder, Frauen (insbesondere Schwangere), ältere Menschen oder multimorbide Patienten, also Menschen mit vielen Begleiterkrankungen. 2 Gelegentlich wird diese Kennzahl auch als Number Needed to Treat to Harm (NNTH) bezeichnet. NNT = 1 0,08 = 12,5 <?page no="106"?> 106 Methoden und Ansätze der Medizin Frage 2: Erhielt die Kontrollgruppe die angemessene Vergleichstherapie? Bei Bewertung der Wirksamkeit eines Therapieverfahrens durch vergleichende Untersuchung kommen vier Möglichkeiten in Betracht: [1] Vergleich der Therapie mit der Unterlassensalternative [2] Vergleich der Therapie mit Placebo (sofern möglich) [3] Vergleich der Therapie mit einer beliebigen Alternativtherapie [4] Vergleich der Therapie mit der derzeit bestverfügbaren Alternativtherapie Während bei einer Therapie ohne bisher bekannte Alternative Variante 1, bei medikamentöser Therapie i.d.R. Variante 2 zur Anwendung kommen sollte, so ist es ethisch nicht akzeptabel, Patienten in der Kontrollgruppe eine bekanntermaßen wirksame Therapie vorzuenthalten. Ebenso ist die Bewertung der Wirksamkeit der Studie nur dann sinnvoll möglich, wenn ein möglicher Zusatznutzen durch direkten Vergleich mit der bisher bestverfügbaren Therapie ermittelt werden kann. Frage 3: Ist das untersuchte Behandlungsziel relevant für den Patienten? Neben der Frage der in → Kapitel 2.3.6.1 besprochenen Surrogatparameter stellt sich zur Berücksichtigung der Vorstellungen des Patienten gemäß Grundkonzept der EbM die Frage, ob das Verfahren und seine mutmaßlichen Ziele auch den Wünschen des Patienten entsprechen. So kann eine effektivere, aber gleichzeitig aufwändigere oder belastende Therapie den Wünschen des Patienten entgegenstehen. Frage 4: Wiegt der Zusatznutzen mögliche Risiken auf? Sofern durch eine neue Therapie tatsächlich ein Zusatznutzen ermittelt wurde, muss diese natürlich nach den in den → Kapiteln 1.1 und → 1.3.4 dargelegten Grundsätzen kritisch einer Nutzen-Risiko- Bewertung unterzogen werden. Dies ist insofern problematisch, da im Gegensatz zu langjährigen etablierten Therapien innovative Verfahren häufig noch nicht lange oder intensiv genug untersucht wer- <?page no="107"?> Evidence-based Medicine (EbM) 107 den konnten, um seltene Nebenwirkungen, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder Langzeitfolgen abzuschätzen. Somit trägt jedes neue Therapieverfahren gewisse nicht vorhersehbare Risiken, die nur bei einem klaren Zusatznutzen in Kauf genommen werden sollten. Lesetipps ∣ Websites Fallbeispiele und Link zum Online-Rechner für therapeutische Studien finden Sie online unter Zusatzmaterial direkt beim Buch: www.utb-shop.de Kritische Bewertung therapeutischer Studien mittels Fragenkatalog des Center of Evidence Based Medicine (CEBM) der Universität Oxford. Im Internet unter: http: / / www.cebm.net/ category/ ebm-resources/ Website der CONSORT-Group mit Download-Möglichkeit des CONSORT-Statements und der CONSORT-Checklist . Im Internet unter: http: / / www.consort-statement.org/ Website des European Communication on Research Awareness Needs (ECRAN) Projektes mit deutschsprachigen Informationen und Zeichentrickfilm zu klinischen Studien. Im Internet unter: http: / / www.ecranproject.eu/ de 2.3.7 Zusammenfassende Arbeiten Systematische Übersichtsarbeiten Neben der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse in Einzelstudien ist für die praktische Arbeit eine zusammenfassende Darstellung der bisherigen Erkenntnisse von hoher Relevanz. So existiert zur gleichen Fragestellung möglicherweise eine Vielzahl von Studien, die gegebenenfalls zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Hierfür hat sich die Zusammenfassung der bisherigen Forschungsdaten mittels Systematischer Übersichtsarbeiten etabliert. <?page no="108"?> 108 Methoden und Ansätze der Medizin Systematische Übersichtsarbeiten basieren auf einer konkreten Fragestellung, die durch systematische Recherche der Weltliteratur anhand definierter Bewertungskriterien beantwortet werden soll. Sie verfolgen drei Ziele: Zusammenfassung der gegenwärtig vorhandenen Publikationen zur Fragestellung Analyse der Heterogenität von Studienergebnissen Formulierung einer Handlungsempfehlung basierend auf den analysierten Daten Innerhalb einer Systematischen Übersichtsarbeit kann, sofern eine ausreichende Anzahl vergleichbarer Studien identifiziert und in die Analyse eingeschlossen wurde, eine statistische Aufarbeitung der Ergebnisse zu einem Gesamtergebnis erfolgen. Dieses Vorgehen wird als Metaanalyse bezeichnet und fälschlicherweise oft synonym zur Systematischen Übersichtsarbeit verwendet. Die Metaanalyse ist aber nur eine Teilmenge der Systematischen Übersichtsarbeit. So gibt es zahlreiche Systematische Übersichtsarbeiten ohne Metaanalyse aber keine Metaanalyse ohne Systematische Übersichtsarbeit. Die Durchführung einer Systematischen Übersichtsarbeit gliedert sich in die folgenden fünf Schritte: [1] Formulierung einer Forschungsfrage und Festlegung der Methodik der Systematischen Übersichtsarbeit [2] Suche nach relevanter Literatur und Einschluss von Studien gemäß festgelegter Methodik [3] Extraktion der Daten aller eingeschlossenen Studien [4] Beurteilung des Risikos für Bias aller eingeschlossenen Studien [5] Kombination, ggf. mittels statistischer Aufarbeitung und Interpretation, der eingeschlossenen Studien Sofern die Systematische Übersichtsarbeit sorgfältig geplant und durchgeführt wurde, stellt sie die zuverlässigste Quelle medizinischer Information dar. Durch unzureichende Planung oder systematische Fehler bei Einschluss der zu analysierenden Studien können jedoch ebenso falsche Schlüsse aus Systematischen Übersichtsarbeiten gezogen werden. Durch eine Inflation der Anzahl Systematischer Über- <?page no="109"?> Evidence-based Medicine (EbM) 109 sichtsarbeiten finden sich zudem mittlerweile viele Publikationen mit klinisch irrelevanten Fragestellungen und teilweise intransparenter Methodik. Die kritische Analyse einer Systematischen Übersichtsarbeit, z. B. mit dem Bewertungsinstrument PRISMA ( P referred R eporting I tems for S ystematic Reviews and M eta- A nalyses), ist daher ebenso unverzichtbar wie bei Einzelstudien. Als ein Standard für Systematische Übersichtsarbeiten hat sich das Vorgehen der Organisation Cochrane , früher bekannt als Cochrane Collaboration, etabliert. Cochrane ist ein unabhängiges, weltweit agierendes, gemeinnützig tätiges Netzwerk von über 31.000 Ärzten und Wissenschaftlern aus über 130 Ländern. Ziel von Cochrane ist die Erstellung, Verbreitung und Aktualisierung von Systematischen Übersichtsarbeiten, um diese als Entscheidungsbasis für Akteure im Gesundheitswesen nach dem Prinzip der EbM bereitzustellen. Leitlinien Neben der Beantwortung einzelner medizinischer Fragestellungen haben sich Leitlinien in der Medizin etabliert. Die Erstellung medizinischer Leitlinien erfolgt vorwiegend durch medizinische Fachgesellschaften, die in Deutschland überwiegend in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften ( AWMF ) organisiert sind. Die Definition der AWMF zu Leitlinien lautet wie folgt: Zitat „Die „Leitlinien“ der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die „Leitlinien“ sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.“ <?page no="110"?> 110 Methoden und Ansätze der Medizin Leitlinien bilden somit einen Handlungskorridor ab, der anders als bei Richtlinien durchaus verlassen werden kann. Die Abweichung von einer Leitlinie sollte jedoch sinnvoll begründbar sein. Leitlinien ersetzen keinesfalls die individuelle Einschätzung der Situation des Patienten und entbinden ebenso wenig von individueller Beratung des Patienten und dessen Einwilligung. Somit unterstützen Leitlinien die medizinische Entscheidungsfindung, schränken aber weder die Therapiefreiheit der Behandelnden, noch die Wahlfreiheit der Patienten ein, sich beispielsweise den in → Kapitel 2.7 dargestellten alternativmedizinischen Behandlungsformen zuzuwenden, solange die Behandlung gemäß Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes „nicht gegen die guten Sitten verstößt“. Die Erstellung von Leitlinien kann über verschiedene methodische Ansätze erfolgen, ausgedrückt durch folgende Klassifikation der AWMF nach Entwicklungsstufen: S1-Leitlinie: durch informellen Konsens erarbeitet S2k-Leitlinie: durch formalen Konsens erarbeitet S2e-Leitlinie: durch formale Recherche nach Kriterien der EbM erarbeitet S3-Leitlinie: Leitlinie mit allen Elementen einer systematischen Entwicklung Eine Sonderform der S3-Leitlinien stellen die Nationalen Versorgungsleitlinien dar. Diese sollen insbesondere die Vernetzung medizinischer Leistungen in integrierten, verschiedene Bereiche übergreifenden Versorgungsformen berücksichtigen und Lösungen für Nahtstellen zwischen verschiedenen Sektoren, aber auch zwischen den verschiedenen beteiligten Disziplinen und Gesundheitsberufen anbieten. Nationale Versorgungsleitlinien existieren bereits für die in den → Kapiteln 3.2 und → 3.7 beschriebenen Erkrankungen. Durch Ihren Einfluss auf die medizinische Behandlung haben Leitlinien in den letzten Jahren einen enormen Stellenwert erfahren, sind damit aber auch potentiell anfällig für Interessenkonflikte. Vor Übernahme einer Leitlinie in die Versorgung sollten daher analog zu <?page no="111"?> Evidence-based Medicine (EbM) 111 PRISMA für systematische Übersichtsarbeiten eine inhaltliche und eine methodische Bewertung erfolgen. Als international anerkanntes Bewertungsinstrument für Leitlinien hat sich AGREE II (Appraisal of Guidelines Research & Evaluation) etabliert. Zur Stärkung der internationalen Vernetzung und des Wissenstransfers zur Erstellung von Leitlinien wurde im Jahr 2002 das Guidelines International Network (G-I-N) gegründet. Es bestand im Jahr 2018 neben Individualmitgliedern aus 100 Organisationen verteilt auf 47 Länder auf allen Kontinenten. Health Technology Assessment (HTA) Die umfassende und nachhaltige Berücksichtigung medizinischer Forschungsergebnisse kann nur im Kontext der Organisationsstrukturen erfolgen, in denen das Gesundheitswesen agiert. Aus diesem Grund wurde das sogenannte Health Technology Assessment ( HTA ) eingeführt, ein strukturiertes Verfahren zur systematischen Bewertung medizinischer Interventionen und Organisationsstrukturen, in denen medizinische Leistungen erbracht werden. Neben medizinischen Kriterien wie Wirksamkeit und Sicherheit werden auch die Kosten des Verfahrens, unter Berücksichtigung sozialer, rechtlicher und ethischer Aspekte berücksichtigt. Das Ergebnis eines solchen Assessments wird in der Regel als HTA-Bericht veröffentlicht und soll als Entscheidungshilfe bei gesundheitspolitischen Fragestellungen dienen. In Deutschland sind mit der Erstellung von HTA-Berichten primär das Deutsche Institut für Dokumentation und Information (DIMDI) , speziell die Deutsche Agentur für Health Technology Assessment (DAHTA@DIMDI), und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt. Das IQWiG erstellt und veröffentlicht gem. § 35b SGB V im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA ) Berichte als Entscheidungsgrundlage bei Antrag auf Aufnahme innovativer Medikamente in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung. <?page no="112"?> 112 Methoden und Ansätze der Medizin Lesetipps ∣ Websites Informationen zu Cochrane . Im Internet unter: http: / / www.cochrane.org/ de/ about-us Website der AWMF mit Open Access Zugang zur größten deutschsprachigen Leitliniendatenbank . Im Internet unter: http: / / www.awmf.org Website der Initiative Nationale Versorgungsleitlinien (NVL) des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ). Im Internet unter: http: / / www.leitlinien.de/ nvl/ Unterseite HTA des DIMDI mit Zugang zu einem HTA-Glossar . Im Internet unter: http: / / htaglossary.net/ Homepage-de Informationen zu AGREE II . Im Internet unter: https: / / www.agreetrust.org/ agree-ii/ Informationen zum Guidelines International Network (G- I-N) . Im Internet unter: https: / / www.g-i-n.net/ 2.4 Prävention und Gesundheitsförderung Die bisher dargestellten Ansätze medizinischer Versorgung haben sich nur auf die Behandlung bereits symptomatischer Krankheiten fokussiert. Damit ist ein wesentlicher Teil der medizinischen Versorgung jedoch noch nicht berücksichtigt, Maßnahmen der Prävention und der Förderung und Stärkung von Gesundheit, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. 2.4.1 Arten von Prävention Der Begriff Prävention, abgeleitet vom lateinischen Verb prävenire (zuvorkommen), wird umgangssprachlich mit dem Wort Vorbeugung übersetzt, was problematisch ist, da der Begriff in der Fachsprache nicht nur für die Vorbeugung also Verhinderung von Krankheiten gebräuchlich ist. <?page no="113"?> Prävention und Gesundheitsförderung 113 Nach Gerald Caplan werden seit 1964 folgende Arten von Prävention hinsichtlich ihrer zeitlichen Abfolge wie folgt unterschieden: Primärprävention Sekundärprävention Tertiärprävention Quartärprävention (1986 durch Marc Jamoulle ergänzt) Diese können in den in → Kapitel 1.3 beschriebenen Behandlungsablauf wie in → Abbildung 7 dargestellt integriert werden. Abb. 7: Behandlungsablauf mit Präventionsarten nach Caplan/ Jamoulle Außerdem werden folgende Begriffe verwendet: Primordialprävention Verhaltensprävention Verhältnisprävention Primärprävention Der Begriff Primärprävention beschreibt Maßnahmen, die darauf abzielen, das Entstehen von Krankheiten zu verhindern. Er stellt damit die Maßnahmen dar, die umgangssprachlich mit dem Begriff Vorbeugung am ehesten in Verbindung gebracht werden. Klassische Beispiele für primärpräventive Maßnahmen sind die in den → Kapiteln 1.2.1 und → 1.2.2 beschriebenen Maßnahmen der Händedesinfektion und der Impfungen. Weitere prominente Beispiele sind die Einnahme von Folsäure in den ersten Schwangerschaftswo- Symptom(e) Anamnese Diagnostik Diagnose Prognose Therapie Primärprävention Sekundärprävention Quartärprävention Tertiärprävention <?page no="114"?> 114 Methoden und Ansätze der Medizin chen zur Verhinderung bestimmter Rückenmarksfehlbildungen und eine gesunde Ernährung zur Vermeidung fehlernährungsbedingter Erkrankungen. Sekundärprävention Maßnahmen der Sekundärprävention zielen darauf ab, die Folgen einer bereits bestehenden Erkrankung durch frühzeitiges Erkennen und daraus abgeleitet frühzeitige Behandlung positiv zu beeinflussen. Die am häufigsten angewendete Form der Sekundärprävention ist das Screening . Screening bedeutet in diesem Kontext die Anwendung einer oder mehrerer Untersuchungsverfahren an Patienten, die hinsichtlich der zu untersuchenden Krankheit keinerlei Beschwerden aufweisen, also asymptomatisch sind. So werden alle Neugeborenen am dritten Tag nach ihrer Geburt auf verschiedene Stoffwechselerkrankungen hin untersucht, da beispielsweise bei frühzeitiger Entdeckung und Therapie der Stoffwechselkrankheit Phenylketonurie (PKU) durch rechtzeitige Therapie in Form einer speziellen Diät ein normales Leben ermöglicht werden kann, während nicht rechtzeitig behandelte Kinder schwerste körperliche und geistige Behinderungen entwickeln würden. Ebenso werden für zahlreiche Krebserkrankungen Screening-Programme angeboten, die jedoch teilweise durch den Begriff „Krebsvorsorge“ den Eindruck erwecken, es könnte einer Krebserkrankung durch Teilnahme an diesem Programm vorgebeugt werden. Richtigerweise sollten solche Untersuchungen aber als „ Krebsfrüherkennung “ bezeichnet werden, da durch die Teilnahme lediglich die Chance besteht, eine bereits existierende Krebserkrankung zu erkennen, bevor diese die ersten Krankheitssymptome hervorruft. Wie in → Kapitel 3.6 ausführlich erläutert, kann die Prognose bei einzelnen Krebserkrankungen erheblich vom Stadium der Erkrankung abhängig sein, eine frühere Entdeckung beispielsweise die Heilungschancen deutlich erhöhen. Allerdings ergab die wissenschaftliche Überprüfung der Wirksamkeit einiger Krebsfrüherkennungsprogramme durchaus ernüchternde Ergebnisse, sodass die Teilnahme an einem Krebsfrüherkennungsprogramm nicht pauschal empfohlen werden kann, sondern ggf. von anderen Faktoren, beispielsweise einer bekannten genetischen Vorbelastung, abhängig gemacht werden sollte. Auch zur Überprüfung von Screening- <?page no="115"?> Prävention und Gesundheitsförderung 115 Programmen existieren Bewertungsinstrumente, beispielsweise die Kriterien des National Screening Committees ( NSC ) des Britischen National Health Service (NHS) . Neben Screening können auch andere Interventionen als sekundärpräventive Maßnahmen angesehen werden. Das rechtzeitige Erkennen eines Herzinfarktes ( → Kapitel 3.4) oder eines Schlaganfalls ( → Kapitel 3.5) können ebenfalls die Prognose des Patienten in erheblichem Maß beeinflussen. Tertiärprävention Die Tertiärprävention beschreibt Maßnahmen, die einen Krankheitsverlauf günstig beeinflussen sollen, in dem sie die Verschlimmerung oder das Wiederauftreten einer Erkrankung verhindern sollen. Klassisches Instrument der Tertiärprävention sind Maßnahmen der Rehabilitation eines Patienten. Das Wort Rehabilitation , abgeleitet von dem lateinischen Begriff rehabilitatio (Wiederherstellung), beschreibt den Versuch, aber auch den Erfolg, eine Person in eine ehemalige Situation zurückzuversetzen. Hierbei kann grundsätzlich unterschieden werden in: medizinische Rehabilitation Wiedererlangung des Gesundheitszustandes vor der Erkrankung, z. B. durch Anschlussheilbehandlung, Krankengymnastik, Logopädie etc. berufliche Rehabilitation Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und Wiedereingliederung in das Berufsleben, z. B. durch Anpassung des Arbeitsplatzes oder Umschulung soziale Rehabilitation Wiedererlangung des Ansehens der Person, z. B. durch juristischen Freispruch oder Aufhebung eines Urteils aus der Vergangenheit Regelungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation finden sich im → 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX). Nach dem Grundsatz „Reha vor Rente“ sollen Wiedereingliederungsversuche Vorrang vor reinen Unterhaltsleistungen haben. <?page no="116"?> 116 Methoden und Ansätze der Medizin Quartärprävention Der Begriff der Quartärprävention ist je nach Fachgebiet unterschiedlich besetzt. In der Suchtmedizin werden Maßnahmen zur Verhinderung eines Rückfalls als Quartärprävention bezeichnet. Im Bereich der somatischen Medizin bedeutet der Begriff die Unterlassung unnötiger medizinischer Interventionen zur Vermeidung einer Überversorgung, die dem in → Kapitel 1.1.1 beschriebenen Grundsatz des primum nil nocere entgegenliefe. In diesem Zusammenhang wurde vom American Board of Internal Medicine (ABIM) im Jahr 2011 die Initiative „ Choosing Wisely “ ins Leben gerufen, die unter anderem mit TOP-5-Listen unnötiger medizinischer Maßnahmen je nach Fachgebiet auf das Problem der Überversorgung aufmerksam macht. Die Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat eine entsprechende Initiative in Deutschland im Jahr 2015 begonnen. Primordialprävention Als Primordialprävention werden Maßnahmen beschrieben, die gesellschaftliche Risikofaktoren positiv beeinflussen. So ist der individuelle Verzicht auf Rauchen einerseits ein Instrument der Primärprävention, ein generelles Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden, das auch die durch Passivrauchen entstehenden Krankheiten verhindern soll, aber eine Maßnahme der Primordialprävention. Verhaltensprävention Der Begriff Verhaltensprävention beschreibt Maßnahmen, die auf das konkrete Verhalten einzelner Personen abzielen und vor allem im Kontext der Betrieblichen Gesundheitsförderung verwendet werden. Hierunter fallen beispielsweise Sicherheitsunterweisungen von Mitarbeitenden in bestimmte Tätigkeiten oder Bereiche, Beratungsangebote wie Schulungen zu rückengerechtem Arbeiten oder Angebote zu gesundheitsbewusstem Verhalten wie Rauchentwöhnungsprogramme . Verhältnisprävention Die Verhältnisprävention beschreibt im Gegensatz zur vorher genannten Verhaltensprävention Maßnahmen, die auf die Verbesse- <?page no="117"?> Prävention und Gesundheitsförderung 117 rung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen abzielen. Im Kontext der Betrieblichen Gesundheitsförderung werden hier Maßnahmen der gesundheitsgerechten Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsabläufen zur Vermeidung oder Verminderung des Risikos von Fehlbelastungen verstanden. Lesetipps ∣ Websites Bewertungskriterien für Screening-Programme des NSC . Im Internet unter: https: / / www.gov.uk/ government/ publications/ evidence-review-criteria-national-screening-programmes/ criteriafor-appraising-the-viability-effectiveness-and-appropriateness-ofa-screening-programme Website der Choosing Wisely Initiative des ABIM . Im Internet unter: http: / / www.choosingwisely.org/ Vorstellung des Grundkonzepts Choosing Wisely anhand eines Videos von James McCormack (sehens- und hörenswert! ). Im Internet unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=FqQ- JuRDkl8 Informationsseite Arbeitsschutz des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales . Im Internet: https: / / www.bmas.de/ DE/ Themen/ Arbeitsschutz/ arbeitsschutz. html 2.4.2 Gesundheitsförderung Während sich Prävention mit der Verhinderung von Krankheiten oder deren Folgen befasst, richtet das Konzept der Gesundheitsförderung seinen Blick auf die Frage, durch welche Ressourcen und Potenziale Gesundheit erhalten werden kann. Dies soll zum einen durch Verhaltensänderungen von Individuen und auch Gruppen, zum anderen durch Beeinflussung sozialer, ökonomischer und ökologischer Rahmenbedingungen bewerkstelligt werden. <?page no="118"?> 118 Methoden und Ansätze der Medizin Die Ottawa-Charta Das Konzept der Gesundheitsförderung wurde 1986 von der WHO auf der ersten internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Ottawa in der sogenannten Ottawa-Charta zusammengefasst. Sie beschreibt sowohl die Handlungsstrategien als auch die Handlungsfelder der Gesundheitsförderung. Die Handlungsstrategien der Ottawa-Charta lauten: anwaltschaftliches Eintreten für Gesundheit (advocate) durch Beeinflussung politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller, biologischer sowie Umwelt- und Verhaltensfaktoren Befähigung/ Empowerment (enable) durch Kontrolle über eigene Gesundheitsbelange, Gesundheitsbildung (health care literacy) und Zugang zu Informationen Vermittlung und Vernetzung (mediate) durch Kooperation der Akteure innerhalb (Krankenhäuser, Arztpraxen etc.) und außerhalb (z. B. Arbeitgeber, Vereine) des Gesundheitswesens Die fünf vorrangigen Handlungsfelder zur Umsetzung dieser Strategie sind: die Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik die Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten die Durchführung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen die Entwicklung persönlicher Kompetenzen die Neuorientierung der Gesundheitsdienste Salutogenese vs. Pathogenese Das Konzept der Gesundheitsförderung war mit dem bislang verwendeten Konzept der Pathogenese nicht kompatibel. Als Gegenpol zum pathogenetischen Ansatz, der auf die Verhinderung oder Behandlung von Krankheiten zur Wiederherstellung von Gesundheit abzielt, prägte der Medizinsoziologe Aaron Antonowsky den Begriff der Salutogenese. Auslöser seiner Überlegungen waren Untersuchungen an Patientinnen, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern inhaftiert waren, zu einem erheblichen Teil aber Jahre später als körperlich und psychisch gesund ein- <?page no="119"?> Prävention und Gesundheitsförderung 119 gestuft werden konnten. Antonowsky unterstellte die Existenz von generalisierten Widerstandsressourcen , die Individuen zur Bewältigung belastender Situationen befähigen. Sein Konzept der Salutogenese fragt nicht, welche Faktoren Krankheit verhindern, sondern zielt auf die Frage ab, welche Faktoren durch Stärkung dieser Widerstandsressourcen Gesundheit entstehen lassen. Zentrales Element der Antwort Antonowskys auf die Frage nach stärkenden Faktoren für die Widerstandsfähigkeit eines Menschen ist das sogenannte Kohärenzgefühl , das aus der subjektiven Wahrnehmung folgender drei Aspekten entsteht: die Fähigkeit, Zusammenhänge des Lebens zu verstehen (Verstehbarkeit) die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können (Handhabbarkeit) der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat (Sinnhaftigkeit) Dies lässt sich anhand seiner Flussmethapher beschreiben: Wissen ∣ Rettungsschwimmer oder Schwimmlehrer? Antonowsky beschreibt das Leben als einen Fluss, in dem die Menschen schwimmen. Dieser Fluss fließt an einigen Stellen ruhig, hat an anderen Stellen jedoch auch Stromschnellen, Untiefen und ist verschmutzt. Der pathogenetisch orientierte Arzt wäre nach Antonowsky ein Rettungsschwimmer, der den Patienten an einer gefährlichen Stelle des Flusses versucht aus dem Wasser zu ziehen, um ihn vor dem Ertrinken zu retten. Der salutogenetisch orientierte Arzt hingegen wäre ein Schwimmlehrer, der versucht, den im Fluss schwimmenden Menschen zu einem guten Schwimmer auszubilden, der die im Leben nun einmal auftretenden Risiken und Unwägbarkeiten besser meistern kann. Die Fähigkeit, in diesem Fluss überhaupt schwimmen zu können, ist das Kohärenzgefühl. <?page no="120"?> 120 Methoden und Ansätze der Medizin Während die Prävention somit eindeutig dem pathogenetischen Ansatz zuzurechnen ist, ist die Gesundheitsförderung salutogenetisch orientiert. Verwandt zu dem Konzept der Salutogenese ist der von Jack Block 1950 eingeführte und von Emmy Werner und Ruth Smith durch empirische Untersuchungen geprägte Begriff der Resilienz . Dieser in vielen Branchen höchst unterschiedlich verwendete Begriff bezeichnet im Bereich der Psychologie und Medizin einen Zustand besonderer Widerstandsfähigkeit bei bestimmten Menschen gegenüber physischen oder psychischen Belastungen, die bei anderen Individuen zu einer Erkrankung führen würden. Der Setting-Ansatz Basierend auf der Strategie der Ottawa-Charta, Personen zur Kontrolle über eigene Gesundheitsbelange zu befähigen, verbunden mit den Zielen der Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten und der Durchführung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen, wurde der sogenannte Setting-Ansatz (gelegentlich auch als Lebenswelten-Ansatz bezeichnet) als zentraler Ansatzpunkt zur Etablierung gesundheitsfördernder Maßnahmen definiert. Dies findet im abschließenden Aufruf der Ottawa-Charta folgenden Ausdruck: Wissen ∣ sich um sich selbst und andere sorgen Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen. Ein Setting ist ein Ort oder ein soziales Gefüge, in dem Gesundheit geschaffen und gelebt wird. Dieser Ansatz trägt der Erkenntnis Rech- <?page no="121"?> Prävention und Gesundheitsförderung 121 nung, dass Gesundheitsverhalten das Ergebnis sozialer Interaktion in einem gewissen Setting ist und somit Veränderungen in der Lebenswelt einen bedeutenden Einfluss auf das Individuum haben können. Die WHO hat verschiedene Setting-Konzepte entwickelt, beispielsweise für Schulen, Krankenhäuser oder Städte. Der Setting-Ansatz ist ebenfalls Grundlage der Betrieblichen Gesundheitsförderung, da die Arbeitsstätte ebenfalls als Setting betrachtet werden kann und einen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten der Menschen hat. Ein wesentliches aus der Ottawa-Charta abgeleitetes Element des Setting- Ansatzes ist die Befähigung der Handelnden. Dies wird durch eine Kombination von Verhaltensprävention (siehe → Kapitel 2.4.1.6) und Verhältnisprävention (siehe → Kapitel 2.4.1.7), das Angebot der Beteiligung am gesamten Prozess ( Partizipation ) und die Vernetzung der Akteure inkl. des Erfahrungsaustausches erreicht und durch Schaffung gesundheitsfördernder Strukturen nachhaltig verankert. Wichtige Akteure in Deutschland sind staatliche Institutionen auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene (z. B. Gesundheitsämter), Krankenkassen, Einrichtungen der Kinderbetreuung, Schulen, Hochschulen, Firmen, Selbsthilfeorganisationen oder auch Vereine. Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) Im Rahmen des Settings Arbeitswelt existiert eine Vielzahl an gesetzlich vorgeschriebenen und freiwillig einführbaren Elementen zur Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsumgebung. Dies sind: der Arbeits- und Gesundheitsschutz (Betrieblicher Gesundheitsschutz) die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) die Personal- und Unternehmensentwicklung Der seit vielen Jahren gesetzlich eingeforderte und verbindlich geregelte Arbeits- und Gesundheitsschutz soll die arbeitsbedingten Gefahren von Mitarbeitenden, wie Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, durch vorgeschriebene Instrumente reduzieren. Hierzu zählen insbesondere verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen wie: <?page no="122"?> 122 Methoden und Ansätze der Medizin arbeitsmedizinische Pflicht- und Angebotsuntersuchungen durch den Betriebsmedizinischen Dienst des Arbeitgebers Arbeitsplatzbegehungen durch den Betriebsmedizinischen Dienst und/ oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit Gefährdungsbeurteilungen für Arbeitsplätze und Tätigkeiten mit nachfolgend abgeleiteten Präventionsmaßnahmen Die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) bezeichnet eine Handlungsstrategie, die darauf abzielt, Gesundheitsressourcen in einem Betrieb aufzubauen. Grundlage der BGF ist in der EU die „Luxemburger Deklaration zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Europäischen Union“ aus dem Jahr 1997. Sie definiert BGF wie folgt: Wissen ∣ Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) umfasst alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Dies kann durch eine Verknüpfung folgender Ansätze erreicht werden: Verbesserung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen Förderung einer aktiven Mitarbeiterbeteiligung Stärkung persönlicher Kompetenzen Beispiele für Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung können je nach Setting sein: Verbesserung der Arbeitsorganisation, z. B. durch Flexibilisierung der Arbeitszeiten Verbesserung der Arbeitsumgebung, z. B. durch Bereitstellung gesunder Kantinenkost <?page no="123"?> Prävention und Gesundheitsförderung 123 Motivation der Beschäftigten zur Teilnahme an gesundheitsfördernden Aktivitäten, z. B. aktive Mittagspause mit Bewegungsangebot Anregung persönlicher Entwicklung, z. B. durch Teilnahme an Rauchentwöhnung oder Stressbewältigungsseminar Wie an den oben genannten Beispielen deutlich wird, besteht bei Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung eine hohe Schnittmenge mit Maßnahmen der Personal- und Unternehmensentwicklung . Beide Handlungsfelder wiederum erfordern eine auf Vertrauen und Wertschätzung basierende Unternehmenskultur, um Wirkung entfalten zu können. Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) beschreibt den systemischen Managementansatz, alle Aktivitäten, die das Wohlbefinden der Mitarbeitenden erhalten und fördern, in die Unternehmensstruktur zu integrieren und Gesundheitsförderung zu einer Führungsaufgabe auszubauen. BGM beinhaltet somit Elemente des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, der Betrieblichen Gesundheitsförderung und der Arbeitsorganisation, aber auch Elemente der systematischen Überprüfung der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit, z. B. durch Integration des Fehlzeitenmanagements und des Betrieblichen Eingliederungsmanagements zum Wohl und zur Zufriedenheit der Mitarbeiter und des Unternehmens. Die wesentlichen Gründe, ein BGM als strategische Führungsaufgabe in ein Unternehmen zu integrieren, liegen im Wesentlichen in folgenden Herausforderungen, die sich teilweise in den kommenden Jahren noch verschärfen: Fachkräftemangel demographischer Wandel veränderte Arbeitsbedingungen durch Globalisierung und Digitalisierung veränderte Anspruchshaltung von Arbeitnehmern <?page no="124"?> 124 Methoden und Ansätze der Medizin Durch die derzeit in vielen Bereichen gute wirtschaftliche Situation herrscht in zahlreichen Berufen, nicht zuletzt im Gesundheitswesen, ein Fachkräftemangel . BGM kann somit einen Beitrag zur Bindung vorhandenen Personals leisten, da sowohl vorübergehende als auch dauerhafte Arbeitsausfälle den teilweise bestehenden Fachkräftemangel noch verschärfen. Durch den demographischen Wandel steigt in vielen Bereichen das durchschnittliche Alter der Erwerbstätigen an. Durch Einsatz eines BGM kann insbesondere bei den älteren Erwerbstätigen die Leistungsfähigkeit erhalten werden. Die Arbeitsbedingungen haben sich unter anderem durch Globalisierung und Digitalisierung in den letzten Jahren radikal verändert. Dies verlangt in immer komplexeren Arbeitsumgebungen zunehmend Flexibilität und kontinuierliche Lernbereitschaft von Arbeitnehmern. Diesen Veränderungen muss durch strukturierte Maßnahmen begegnet werden, um steigende Belastungen ausgleichen zu können. Gleichzeitig zu steigenden Anforderungen der Arbeitswelt an Arbeitnehmer haben sich umgekehrt auch deren Ansprüche deutlich erhöht. Während die Loyalität zu Unternehmen im Vergleich zu früheren Generationen sinkt, bekommen Aspekte wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Work-Life-Balance und der Anspruch an ein positives Betriebsklima einen deutlich höheren Stellenwert eingeräumt. Ein BGM kann somit, insbesondere bei Fachkräftemangel, als Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte eingesetzt werden. Lesetipps ∣ Websites Autorisierte deutsche Übersetzung der Ottawa-Charta der WHO . Im Internet unter: http: / / www.euro.who.int/ __data/ assets/ pdf_file/ 0006/ 129534/ Ottawa_Charter_G.pdf? ua=1 <?page no="125"?> Disease-Management-Programme (DMP) 125 Luxemburger Deklaration zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Europäischen Union . Im Internet unter: http: / / www.bkk-dachverband.de/ fileadmin/ publikationen/ luxemburger_deklaration/ Luxemburger_Deklaration.pdf 2.5 Disease-Management-Programme (DMP) Disease-Management-Programme (DMP) haben ihren Ursprung in den USA und bezeichnen strukturierte Behandlungsprogramme für Patienten mit chronischen Erkrankungen nach den Grundsätzen der EbM. Nach Definition der Disease Management Association of America (DMAA) ist ein DMP „ein System koordinierter Gesundheitsversorgungsmaßnahmen und Informationen für Patientenpopulationen mit Krankheitsbildern, bei denen eine aktive Beteiligung der Patienten an der Behandlung zu substanziellen Effekten führen kann.“ Disease-Management-Programme sollen nach dieser Definition die Arzt-Patienten-Beziehung unterstützen und die Wichtigkeit der Verhinderung von Krankheitsverschlechterungen und Komplikationen betonen. Dies soll durch die Verwendung evidenzbasierter Behandlungsleitlinien und Strategien zum Empowerment der Patienten erfolgen. Im Rahmen der Durchführung von DMPs sollen die klinischen, humanitären und ökonomischen Behandlungsergebnisse mit dem Ziel der Gesamtverbesserung der Gesundheitslage fortlaufend überprüft werden. 2.5.1 Gründe für die Einführung von DMPs Ein hoher Anteil der Patienten im deutschen Gesundheitssystem leidet an chronischen Erkrankungen. Da das Gesundheitssystem primär auf eine Akutversorgung ausgerichtet war und langzeitpräventive Maßnahmen sowie intersektorale Kooperation bei der Behandlung von Patienten keinen ausreichenden Stellenwert erhielten, kam es einerseits häufig zur deutlichen Verschlimmerung ( Exazerbationen ) chronischer Erkrankungen einhergehend mit vermeidbaren medizinischen Komplikationen. Andererseits führten diese <?page no="126"?> 126 Methoden und Ansätze der Medizin Exazerbationen auch zu immensen Kostensteigerungen durch ineffiziente Nutzung vorhandener Ressourcen. Ziele der Einführung von DMPs in Deutschland waren somit eine optimierte Langzeitversorgung chronisch kranker Menschen bei gleichzeitiger Optimierung des Ressourceneinsatzes. Dies sollte im Wesentlichen gelingen durch: spezielle Berücksichtigung langzeitpräventiver Effekte Empowerment des Patienten durch umfassende Information über seine Erkrankung gut abgestimmte Behandlung der verschiedenen Akteure (z. B. Hausarzt, Facharzt, Krankenhäuser, Reha-Einrichtungen) explizite Berücksichtigung evidenzbasierter medizinischer Leitlinien Möglichkeiten der optimierten Behandlung chronisch kranker Menschen bestehen beispielsweise durch den Einsatz von: Informationsbroschüren über die Erkrankung telefonische Beratungsangebote der Krankenversicherungen Erinnerungssysteme (Reminder) an notwendige Arztbesuche Patientenschulungen zum besseren Umgang mit der eigenen Erkrankung 2.5.2 Voraussetzungen zur Etablierung eines DMPs Die Einführung von DMP wurde im Jahr 2001 durch das Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht. Somit konnten DMPs im Rahmen der Versorgung von Patienten der Gesetzlichen Krankenversicherung mittels des zwischen den Krankenkassen stattfindenden Risikostrukturausgleichs (RSA) berücksichtigt werden. Neben diesen RSA-DMPs ist auch die Entwicklung freier DMPs, beispielsweise für privat versicherte Patienten, möglich, hat aber bislang im Gesundheitswesen keinen derartigen Stellenwert wie RSA-DMPs. Durch Kopplung der DMPs an den sogenannten Risikostrukturausgleich wurden Krankenkassen als Initiatoren von DMPs durch einen erheblichen finanziellen Anreiz dazu motiviert, mit den zuständigen Kas- <?page no="127"?> Disease-Management-Programme (DMP) 127 senärztlichen Vereinigungen unter Prüfung durch das hierfür erweiterte Bundesversicherungsamt Verträge zu DMPs abzuschließen. Aufgrund der föderalen Struktur des Gesundheitssystems bedeutete dies allerdings für Krankenkassen, ggf. mit allen 17 Kassenärztlichen Vereinigungen separate Verträge abzuschließen. Nach Abschluss eines Vertrages zwischen einer Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung im Geltungsbereich des niedergelassenen Arztes kann dieser Arzt Patienten in das genehmigte DMP aufnehmen. Da sowohl die Aufnahme durch den behandelnden Arzt als auch die Erklärung der Teilnahme auf freiwilliger Basis geschehen, wurde die DMP-Teilnahme für Behandelnde und Patienten ebenfalls finanziell bzw. durch Bonusprogramme mit den in → Kapitel 2.5.1 genannten Möglichkeiten unterstützt. Um die in → Kapitel 2.5.1 genannten Ziele zu erreichen, bedurfte es hinsichtlich der Auswahl der geeigneten Erkrankungen und der administrativen Rahmenbedingungen gewisser Voraussetzungen, die im Folgenden beschrieben werden. Administrative Voraussetzungen Die Anforderungen an DMPs beinhalten nach § 137f Abs. 2 SGB V folgende Aspekte: [1] Behandlung nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft unter Berücksichtigung von evidenzbasierten Leitlinien oder nach der jeweils besten, verfügbaren Evidenz sowie unter Berücksichtigung des jeweiligen Versorgungssektors, [2] durchzuführende Qualitätssicherungsmaßnahmen unter Berücksichtigung der Ergebnisse nach § 137a Absatz 3 SGB V, [3] Voraussetzungen für die Einschreibung des Versicherten in ein Programm, [4] Schulungen der Leistungserbringer und der Versicherten, [5] Dokumentation einschließlich der für die Durchführung der Programme erforderlichen personenbezogenen Daten und deren Aufbewahrungsfristen, [6] Bewertung der Auswirkungen der Versorgung in den Programmen (Evaluation). <?page no="128"?> 128 Methoden und Ansätze der Medizin Seit 1. Januar 2012 erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss (G- BA) die für jedes RSA-DMP der Gesetzlichen Krankenkassen erforderlichen Richtlinien. Medizinische Voraussetzungen Die medizinischen Voraussetzungen zur Auswahl einer Erkrankung für die Erstellung von DMP ist in § 137f Abs. 1 SGB V geregelt. Demnach sollen bei der Auswahl von Erkrankungen folgende Kriterien berücksichtigt werden: [1] Zahl der von der Krankheit betroffenen Versicherten, [2] Möglichkeiten zur Verbesserung der Qualität der Versorgung, [3] Verfügbarkeit von evidenzbasierten Leitlinien, [4] sektorenübergreifender Behandlungsbedarf, [5] Beeinflussbarkeit des Krankheitsverlaufs durch Eigeninitiative des Versicherten und [6] hoher finanzieller Aufwand der Behandlung. Somit wurde bei der Auswahl geeigneter Erkrankungen auf chronische Erkrankungen mit hoher Prävalenz fokussiert, in denen zum einen ein hohes Optimierungspotenzial durch Empowerment vermutet wurde und zum anderen ein intersektoraler Behandlungsbedarf, der beispielsweise entsteht, wenn ein beim Hausarzt in Behandlung befindlicher Patient aufgrund einer Komplikation der Erkrankung sich in stationäre Behandlung begeben muss. DMPs sollen hier insbesondere den über die Krankenkassen organisierten Informationsaustausch unter den Beteiligten gewährleisten, da im üblichen Behandlungsablauf ein Hausarzt die stationäre Einweisung des Patienten nicht regelhaft, sondern allenfalls zufällig oder auf Initiative des Patienten erfährt. 2.5.3 Bisher eingeführte DMPs in Deutschland Aktuell gibt es für folgende Indikationen DMP: Brustkrebs (seit Juli 2002) <?page no="129"?> Disease-Management-Programme (DMP) 129 Diabetes mellitus Typ 2 (seit Juli 2002) Koronare Herzkrankheit (KHK) (seit Mai 2003) Diabetes mellitus Typ 1 (seit März 2004) Chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen (COPD) (seit Januar 2005) Asthma bronchiale (seit Januar 2005) Während nahezu alle DMPs die Behandlung chronisch kranker Erwachsener betreffen, gibt es für das DMP Asthma bronchiale auch eine Version zur Versorgung von Kindern, da Asthma bronchiale, wie in → Kapitel 3.7 beschrieben, die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter mit einer Prävalenz von ca. 10 % darstellt. Die Einführung weiterer DMPs zu folgenden Indikationen ist derzeit in Planung. Für folgende Erkrankungen sind inhaltliche Anforderungen und Dokumentationsvorgaben in der DMP-Anforderungen- Richtlinie geregelt worden: Chronischer Rückenschmerz Osteoporose Chronische Herzinsuffizienz Depressionen Rheumatoide Arthritis (Anforderung noch nicht in Kraft) 2.5.4 DMPs - ein Erfolgsmodell? Die Einführung der DMPs war sowohl mit hohen administrativen Anlaufschwierigkeiten als auch mit methodischen Schwächen verbunden. So war der bürokratische Aufwand durch Zwischenschaltung des Bundesversicherungsamtes und eine papierbasierte Dokumentation, die erst 2005 durch eine teilweise elektronische Datenübermittlung abgelöst wurde, immens. Gleichzeitig wurde die Ausgangslage der Versorgung vor DMP-Einführung offenbar unzureichend evaluiert, was die Bewertung von DMPs erschwert bzw. die <?page no="130"?> 130 Methoden und Ansätze der Medizin Aussagekraft der Evaluation stark einschränkt. Durch die föderalen Strukturen und Einzelprogramme der Krankenkassen kamen für eine Indikation unterschiedliche Verträge zustande, die von behandelnden Ärzten in Abhängigkeit der zugehörigen Krankenkasse des Patienten berücksichtigt werden müssen. So gab es im Jahr 2011 nahezu 11.000 verschiedene DMP-Verträge, zum Jahresende 2017 waren 6,6 Millionen Patienten in einem oder mehreren DMPs, wie in → Tabelle 8 angegeben, eingeschrieben. Indikation Zulassungen* Teilnahme am DMP Versicherte, die einem (oder mehreren) DMP eingeschrieben sind Asthma bronchiale 1.496 1.032.672 Brustkrebs 1.446 144.845 COPD 1.507 782.078 Diabetes mellitus Typ 1 1.482 239.117 Diabetes mellitus Typ 2 1.592 4.384.702 KHK 1.495 1.935.507 insgesamt 8.955 8.518.921 7.204.601 Tab. 8: Teilnehmende an DMPs, Stand: 30.06.2020 * Anzahl der teilnehmenden Krankenkassen x Anzahl der teilnehmenden Regionen (max. 17) Quelle: Bundessamt für Soziale Sicherung Positive Effekte nach Einführung eines DMP haben eine deutliche zeitliche Verzögerung, da zum einen bislang wenige systematische Untersuchungen vorliegen, zum anderen positive Effekte in der Langzeitversorgung erst nach einiger Zeit und nicht unmittelbar nach Einschreibung in das DMP vorliegen. Bezüglich der Indikation Diabetes mellitus Typ 2 liegen jedoch Untersuchungen wie die EL- SID-Studie vor. Im Rahmen der dreijährigen Studie, die am 1. Januar 2006 startete, wurden 2.300 in ein DMP eingeschlossene Patienten mit 8.779 Patienten ohne DMP-Teilnahme beobachtet. Die Gesamtsterblichkeit in der DMP-Gruppe war mit 8,87 % deutlich geringer als in der Nicht-DMP-Gruppe mit 14,99 %. Da es sich um eine beobachtende Untersuchung ohne Zuteilung der Patienten in Behandlungsgruppen handelt, kann ein kausaler Zusammenhang nicht sicher angenommen werden. Ein möglicher Confounder besteht in <?page no="131"?> Disease-Management-Programme (DMP) 131 dem potenziell grundsätzlich unterschiedlichen Gesundheitsverhalten, da allen Patienten die DMP-Teilnahme zum Zeitpunkt des Studienbeginns möglich gewesen wäre und Patientengruppen mit hoher Compliance und Gesundheitsbildung überproportional häufig an DMPs teilgenommen haben könnten. Dennoch sind die Zahlen im Sinn einer Hypothesenbildung für dieses Krankheitsbild ermutigend. Im Qualitätssicherungsbericht der KV Nordrhein wird für die Teilnehmer an DMPs in der gleichen Indikation im Zeitraum 2003-2013 ebenfalls ein deutlicher Rückgang von Folgekomplikationen wie Amputationen, Erblindungen oder Nierenfunktionsausfall mit Notwendigkeit eines Nierenersatzverfahrens (Dialyse) beschrieben. Evaluationen wie die ELSID-Studie und andere Untersuchungen zeigen zudem einen moderaten bis deutlichen Rückgang der Behandlungskosten, im Wesentlichen verursacht durch die Reduktion stationärer Aufnahmen, und eine höhere Rate leitlinienkonformer Behandlungen . Bei aller Kritik an der Art der Einführung dieses Instrumentes, geben die bisherigen Evaluationsdaten somit einen verhaltenen aber positiven Ausblick. Lesetipps ∣ Websites Themenseite des Gemeinsamen Bundesausschusses zu seinen Aufgaben im Rahmen der Erstellung neuer DMPs mit entsprechenden Rechtsgrundlagen und Entscheidungen . Im Internet unter: https: / / www.g-ba.de/ institution/ themenschwerpunkte/ dmp/ Abschlussbericht der ELSID-Studie der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg. Im Internet unter: http: / / www.aok-gesundheitspartner.de/ imperia/ md/ gpp/ bund/ dmp/ evaluation/ elsid/ dmp_elsid_abschlussbericht_2012.pdf Qualitätssicherungsbericht 2013 der KV Nordrhein . Im Internet unter: https: / / www.kvno.de/ downloads/ quali/ qualbe_dmp13.pdf <?page no="132"?> 132 Methoden und Ansätze der Medizin 2.6 Palliativmedizin/ Palliative Care Der Begriff Palliativmedizin leitet sich vom lateinischen Wort pallium (Mantel) bzw. palliare (mit einem Mantel umhüllen) ab und bedeutet in der Medizin eine auf Linderung der Beschwerden ausgerichtete Behandlung lebensbedrohlich erkrankter Patienten. Sie geht dabei über eine reine medizinische Palliation (Linderung der Beschwerden) hinaus, fokussiert ganzheitlich auf die Lebensqualität des Patienten und ist so gemeinsam mit der Palliativpflege und der Hospizarbeit eine tragende Säule des Konzeptes der Palliative Care. Palliative Care nach Definition der WHO aus dem Jahr 1990 ist „die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt.“ Dies wurde im Jahr 2002 von der WHO wie folgt ergänzt: „Palliativmedizin ist auch ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.“ 2.6.1 Die Geschichte der Palliativmedizin Palliativmedizin in Antike und Mittelalter In der antiken Medizin war die Palliativmedizin nicht existent. Die ärztliche Behandlung als unheilbar geltender Patienten wurde auch aufgrund damaliger Rechtsprechung abgelehnt. So legte beispielsweise der Codex Hammurapi drakonische Bestrafungen für Ärzte fest, wenn durch sie ein Patient zu Schaden kam. Im 16. Jahrhundert finden sich mit dem Konzept der Cura palliativa erste Vorläufer der heutigen Palliativmedizin. Aus dieser Zeit stammt die folgende französische Redewendung: <?page no="133"?> Palliativmedizin/ Palliative Care 133 Wissen guerir - quelquefois, soulager - souvent, consoler - toujours (frz.): heilen - manchmal, lindern - oft, trösten - immer. Die Euthanasia medica Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Sterbebegleitung in Form der „Euthanasia medica“. Der Begriff der Euthanasie , abgeleitet aus den griechischen Worten eu (schön, gut) und thanatos (Tod), wurde im deutschen Sprachgebrauch gemäß Eintrag im Brockhaus von 1930 definiert als „Todesbehagen, das Gefühl des Wohlseins beim Sterbenden, das vom Arzt, wenn er den Tod als unvermeidlich erkannt hat, durch Schmerzbetäubung und Anwendung narkotischer Mittel gefördert werden darf. Eine absichtliche Tötung zur Erlösung eines Schwerkranken mit narkotischen Mitteln, auch bei unvermeidlichem Tode, wird bestraft.“ Durch Rassenhygiene und Eugenik zu Zeiten des Nationalsozialismus wurde diese, auch heute im englischen Sprachgebrauch noch übliche Bezeichnung radikal umgedeutet und pervertiert. So findet sich im Brockhaus aus dem Jahr 1934 unter dem Stichwort Euthanasie bereits folgende Definition: „Sterbehilfe, grch. Euthanasie, die Abkürzung lebensunwerten Lebens, entweder im Sinn der Abkürzung von Qualen bei einer unheilbaren langwierigen Krankheit, also zum Wohle des Kranken, oder im Sinn der Tötung z. B. idiotischer Kinder, also zugunsten der Allgemeinheit.“ 3 Durch die Umdeutung zu Zeiten des Nationalsozialismus ist der Begriff der Euthanasie heute im deutschen Sprachraum nicht mehr präsent. Der in → Kapitel 2.6.4 weiter erläuterte Begriff der Sterbehilfe ist hierdurch ebenfalls historisch belastet. Das Konzept der Euthanasia medica geriet nicht nur durch ideologische Zweckentfremdung, sondern auch durch die Erfolge der kurati- 3 Textstellen des Brockhaus zitiert aus Klaus-Peter Drechsel: Beurteilt, Vermessen, Ermordet. Praxis der Euthanasie bis zum Ende des deutschen Faschismus. Dissertation, Duisburg 1993, ISBN 3-927388-37-8 <?page no="134"?> 134 Methoden und Ansätze der Medizin ven Medizin ( → Kapitel 1.2) wieder in den Hintergrund der Bemühungen. Palliative Care nach Cicely Saunders Im Jahr 1967 schuf die britische Krankenschwester, Ärztin und Sozialarbeiterin Cicely Saunders mit dem St. Christopher’s Hospice in London die Keimzelle der heutigen Hospizbewegung. Inspiriert vom St. Christopher’s Hospice wurde in Deutschland im Jahr 1983 am Universitätsklinikum Köln die erste Palliativstation mit fünf Betten eröffnet. Weitere Meilensteine in der Entwicklung der Palliative Care in Deutschland waren die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin im Jahr 1994, die Einrichtung des ersten Stiftungslehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Bonn im Jahr 1999 sowie die Einführung der ärztlichen Zusatzweiterbildung Palliativmedizin im Jahr 2003. Als spezielles, den Grundsätzen der Palliative Care folgendes Behandlungskonzept wurde im Jahr 2007 die Spezialisierte ambulante palliativmedizinische Versorgung (SAPV) nach § 37b SGB V Pflichtleistung im GKV-Leistungskatalog. Im Jahr 2010 wurde die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland verabschiedet. Nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes e. V. hat sich die Zahl der Palliativstationen und Hospize in den letzten 10 Jahren mehr als verdreifacht: Existierten im Jahr 1996 nur 28 Palliativstationen/ -einheiten und 30 Hospize in Deutschland, liegt die Zahl im April 2021 bei 340 Palliativstationen/ -einheiten und 250 Hospizen (davon 18 für Kinder und Jugendliche). Laut Ärztestatistik der Bundesärztekammer hatten bis zum Jahr 2020 insgesamt 13.848 Personen eine abgeschlossene Zusatzbezeichnung Palliativmedizin. 2.6.2 Grundannahmen der Palliative Care Das heutige Konzept der Palliative Care wurde von Cicely Saunders im Jahr 1977 durch folgende 13 Grundsätze , sinngemäß übersetzt, beschrieben: <?page no="135"?> Palliativmedizin/ Palliative Care 135 [1] Die Behandlung des Patienten findet in unterschiedlicher Umgebung (z. B. stationär, zu Hause, im Hospiz oder Pflegeheim) statt. Es gilt der Grundsatz „high person, low technology“. Das Menschliche tritt in den Vordergrund, das technisch Machbare in den Hintergrund. Ziel der Therapie ist die Lebensqualität des Patienten. [2] Das Management erfolgt durch ein erfahrenes, professionelles, multidisziplinäres Team. [3] Die Kontrolle allgemeiner Symptome, insbesondere der Schmerzen, erfolgt durch Spezialisten. [4] Die Pflege erfolgt durch kompetentes, erfahrenes Pflegepersonal. [5] Das Behandlungsteam wird von einem geeigneten Teammitglied geleitet. [6] Die Bedürfnisse des Patienten und seiner Familie vor, während und nach der Behandlung werden als Ganzes betrachtet. [7] Ehrenamtliche Mitarbeiter sind integraler Bestandteil des versorgenden Teams. [8] Es erfolgt auf Wunsch des Patienten eine effektive Behandlung im häuslichen Umfeld des Patienten. [9] Ein zentraler administrativer Ansprechpartner ist ständig erreichbar. [10] Die Behandlung integriert, sofern notwendig, auch eine anschließende Trauerbegleitung. [11] Palliative Care beinhaltet Forschung, Dokumentation und Auswertung der Behandlungsergebnisse. [12] Palliative Care beinhaltet Lehre durch Unterricht und Ausbildung von Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Seelsorgern. [13] Palliative Care erfordert Engagement und Hingabe. Das Begleiten schmerzlicher Umstände erfordert eine gewisse Reife, Mitgefühl und Verständnis. <?page no="136"?> 136 Methoden und Ansätze der Medizin 2.6.3 Schmerztherapie als Säule der Palliativmedizin Wie in den Grundsätzen von Cicely Saunders in → Kapitel 2.6.2 beschrieben, ist die Behandlung der Schmerzen durch Spezialisten integraler Bestandteil der Palliativmedizin. Dies geschieht nach der in → Abbildung 8 dargestellten 3-Stufen-Therapie der WHO, die ursprünglich zur Behandlung von Tumorschmerzen definiert wurde. Abb. 8: Das WHO-Konzept der 3-Stufen-Therapie zur Schmerzbekämpfung Neben Medikamenten in Tablettenform kann ein schmerzlinderndes Medikament ( Analgetikum ) auch über die Vene verabreicht werden. Neben kurzwirksamen Medikamenten gibt es insbesondere für die Therapie chronischer Schmerzen Retardpräparate , die den schmerzlindernden Wirkstoff verzögert und kontinuierlich abgeben, sodass nicht permanente Schmerzmittelgaben erfolgen müssen, beispielsweise über Schmerzpflaster . Die bei einigen Patienten vorhandenen Bedenken durch den Gebrauch von opium-ähnlichen Substanzen abhängig zu werden, ist bei gewissenhaftem Gebrauch der Medikamente nicht zu befürchten, da das Ziel der Medikamente nicht das Erreichen eines Rauschzustandes, sondern das Erreichen der Schmerzfreiheit bzw. eines tolerablen Restschmerzes ist. Ebenso Nicht-Opioidanalgetikum Begleitmedikation schwachwirksames Opioid Nicht-Opioidanalgetikum Begleitmedikation stark-wirksames Opioid Nicht-Opioidanalgetikum Begleitmedikation bei bestehendem Schmerz bei bestehendem Schmerz bei bestehendem Schmerz* *bei bestehendem Schmerz in Stufe 3 ggf. interventionelles Verfahren 1 2 3 <?page no="137"?> Palliativmedizin/ Palliative Care 137 sind Bedenken, durch den Einsatz von stark wirksamen Schmerzmitteln das Leben der Patienten systematisch zu verkürzen, in aller Regel unbegründet. Durch die Anwendung starker Schmerzmittel zur Erreichung von Schmerzfreiheit wird im Gegenteil vielfach die Lebensqualität der Patienten gesteigert und durch den Erhalt des Lebenswillens und der Möglichkeit, ungehindert von Schmerzen zu atmen, das Leben sogar noch verlängert. Sofern die Schmerzmittel nach Stufe 3 der WHO-Stufentherapie nicht ausreichen, kann ein interventionelles Schmerzverfahren, wie beispielsweise ein auch in der Geburtshilfe eingesetzter Peridualkatheter , zur Anwendung kommen, um einzelne schmerzleitende Nerven zu betäuben. Der von vielen Menschen zum Ausdruck gebrachten Angst, am eigenen Lebensende unter stärksten Schmerzen leiden zu müssen, kann durch eine qualitativ hochwertige und in der Breite verfügbare Palliativmedizin wirksam begegnet werden. 2.6.4 Palliativmedizin contra Sterbehilfe? Wie in → Kapitel 2.6.1.3 beschrieben, lehnt das Konzept der Palliative Care als lebensbejahender, den Tod aber akzeptierender Ansatz, lebensverkürzende Maßnahmen bewusst strikt ab. Im Zusammenhang mit dem Begriff Sterbehilfe existieren mehrere Begriffe, die gemäß einigen Umfragen vergangener Jahre auch von einem Teil der Ärzteschaft nicht eindeutig abgegrenzt werden konnten. Es ist zu unterscheiden zwischen: Aktive Sterbehilfe Indirekte Sterbehilfe Passive Sterbehilfe Assistierter Suizid Die Aktive Sterbehilfe beschreibt die gezielte Herbeiführung des Todes durch Handeln aufgrund eines tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsches einer Person, also eine Tötung auf Verlangen. Dies ist in Deutschland gem. § 216 StGB verboten, in anderen europäischen Ländern wie Belgien oder den Niederlanden unter bestimmten Voraussetzungen jedoch erlaubt und straffrei. <?page no="138"?> 138 Methoden und Ansätze der Medizin Im Gegensatz dazu ist die Indirekte Sterbehilfe eine in Kauf genommene Beschleunigung des Todeseintritts als Nebenwirkung einer Medikamentengabe (z. B. in Folge einer Unterdrückung der Atmung durch Schmerzmittelgabe am Lebensende). Da der Todeseintritt nicht das Ziel der Maßnahme ist, ist diese Form der Sterbehilfe im Rahmen palliativmedizinischer Maßnahmen erlaubt. Als Passive Sterbehilfe wird das Unterlassen der Einleitung oder die Reduktion bestehender eventuell lebensverlängernder Behandlungsmaßnahmen angesehen. Hierbei ist zum einen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu berücksichtigen, zum anderen auch die medizinische Prognose. Auch eine von allen Experten im Konsens als medizinisch ausweglos eingeschätzte Situation rechtfertigt eine entsprechende Therapiebegrenzung und ist grundsätzlich erlaubt. Therapieeingrenzungen dieser Art äußern sich beispielsweise in sogenannten DNR-Einträgen in Patientenkurven, wobei die Abkürzung DNR für die englischen Worte „ D o N ot R esucitate“ steht, die sinngemäß übersetzt die Anweisung geben, im Falle eines Herzstillstandes bei dem Patienten keine Wiederbelebungsmaßnahmen mehr durchzuführen. Semantisch korrekt könnte der Begriff der passiven Sterbehilfe auch durch den Begriff des Sterbenlassens ersetzt werden. Der Assistierte Suizid , beispielsweise durch Überlassung eines tödlich wirkenden Medikamentes zur Einnahme durch den Patienten, war bis zum Jahr 2015 in Deutschland nicht eindeutig geregelt. So stellte der Assistierte Suizid durch Mediziner nach Ansicht vieler Juristen zwar keine Aktive Sterbehilfe, aber zumindest eine unterlassene Hilfeleistung und einen Verstoß gegen die ärztliche Berufsordnung dar. Der Bundestag beschloss nach langer, fraktionsübergreifender Diskussion im November 2015, den gewerbsmäßig organisierten Assistierten Suizid gemäß des neu geschaffenen § 217 StGB unter Strafe zu stellen. Hingegen blieben Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen, die nicht geschäftsmäßig handelten, straffrei. Diese in § 217 StGB gefasste Regelung erklärte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 für nichtig und unterstrich das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Derzeit wird eine neue gesetzliche Rege- <?page no="139"?> Palliativmedizin/ Palliative Care 139 lung im Bundestag diskutiert. Der 124. Deutsche Ärztetag beschloss im Mai 2021, das Verbot ärztlicher Suizidbeihilfe aus der Musterberufsordnung zu streichen. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland . Im Internet unter: http: / / www.charta-zur-betreuung-sterbender.de/ Patientenleitlinie Palliativmedizin im Leitlinienprogramm Onkologie der AWMF e. V., der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. und der Stiftung Deutsche Krebshilfe. Im Internet unter: https: / / www.leitlinienprogramm-onkologie.de/ patientenleitlinien/ palliativmedizin/ Stolberg, M. (2013): Die Geschichte der Palliativmedizin . Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute. Frankfurt am Main. Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V. (2021): Zahlen, Daten und Fakten zur Hospiz- und Palliativarbeit. Im Internet unter: https: / / www.dhpv.de/ zahlen_daten_fakten.html Haserück, A./ Richter-Kuhlmann, E. (2021): Suizidbeihilfe: Neuregelungen stehen an. Deutsches Ärzteblatt. 118(17): A-863 / B-719. Im Internet unter: https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 218859 Haserück, A./ Richter-Kuhlmann, E. (2021): Ärztliche Suizidassistenz: Berufsrechtliches Verbot entfällt. Deutsches Ärzteblatt. 118 (19-20): A-969 / B-805. Im Internet unter: https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 219138 <?page no="140"?> 140 Methoden und Ansätze der Medizin 2.7 Alternativmedizin Neben dem bisher beschriebenen Grundkonzept der aktuell mehrheitlich in der westlichen Welt praktizierten Medizin existieren weltweit verschiedene andere Theorien und Grundkonzepte medizinischer Versorgung, die als Alternativmedizin oder Komplementärmedizin bezeichnet werden. Aufgrund des hohen Verbreitungsgrades sollen zum einen die sogenannte Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) in → Kapitel 2.7.1 und der insbesondere in Deutschland populäre Ansatz der Homöopathie in → Kapitel 2.7.2 beschrieben und anschließend in → Kapitel 2.7.3 einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Im Kontext der TCM wird die in Europa mehrheitlich praktizierte und bereits ausführlich beschriebene Medizin häufig als Westliche Medizin, im Vergleich mit der Homöopathie nach den Worten deren Begründers häufig als Schulmedizin bezeichnet. Beide Begriffe werden in den jeweiligen Kapiteln entsprechend zur Abgrenzung verwendet. 2.7.1 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) Als Traditionelle Chinesische Medizin wird eine seit ca. 2000 Jahren praktizierte und weiterentwickelte Heilkunde aus China bezeichnet. Während der Begriff TCM im deutschen Sprachgebrauch etabliert ist, sprechen die Chinesen selbst von Chinesischer Medizin ohne den Zusatz „Traditionell“. Das Konzept des Qi Die ideelle Grundlage der Traditionellen Chinesischen Medizin ist das Qi , ein dem Daoismus entspringender Begriff, der vielfältig übersetzt und interpretiert werden kann: Während Qi einerseits oft mit Energie oder (Lebens-)Kraft übersetzt wird, kann es andererseits auch Atem, Luft, Gas, Dampf, Hauch, Äther, Temperament, Kraft oder Atmosphäre bedeuten. Im Kontext der TCM besteht der menschliche Körper aus einem komplexen System von Qi-Strukturen, die miteinander in Verbindung stehen und bei Gesundheit ein dynamisches Gleichgewicht bilden. Ist dieses Gleichgewicht gestört, resultiert daraus Krankheit. <?page no="141"?> Alternativmedizin 141 Die Rolle des Arztes besteht darin, das Qi wieder in ein Gleichgewicht zu überführen und eine Qi-Schwäche oder einen Qi-Stau zu beseitigen. Da die TCM einen Bezug zu bestimmten Organen des Körpers herstellt, kann beispielsweise auch vom Herz-Qi oder Leber-Qi die Rede sein. Abb. 9: Die Funktionskreise der TCM Die Qi-Dynamik ist in den in → Abbildung 9 dargestellten Kreislauf eingebunden, der nach dem Muster von fünf Jahreszeiten verläuft. Jede Station dieses Kreislaufs, auch Funktionskreis genannt, geht aus einem vorherigen hervor und in den nächsten über. Der menschliche Organismus besteht aus fünf Funktionskreisen, die den „Organen“ Leber, Lunge, Herz, Milz und Nieren, den fünf Jahreszeiten und den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser zugeordnet sind. Der in der TCM verwendete Organbegriff ist nicht deckungs- <?page no="142"?> 142 Methoden und Ansätze der Medizin gleich mit dem Verständnis der benannten Organe in der westlichen Medizin. Das Qi fließt nach dem Konzept der TCM auf Leitbahnen , im deutschen Sprachgebrauch oft als Meridiane bezeichnet, permanent durch den menschlichen Körper. Anamnese und Diagnostik in der TCM Ebenso wie in der westlichen Medizin legt die TCM einen großen Wert auf eine ausführliche Befragung des Patienten und seiner Beschwerden, um auf Erfahrungswissen aufbauend die Ursachen für die Beschwerden zu ergründen. Die Diagnostik der TCM fokussiert neben der Befragung, dem Geruch des Patienten und der akustischen Wahrnehmungen des Arztes im Wesentlichen auf zwei betrachtende Untersuchungen, die Pulsdiagnostik und die Zungendiagnostik: Die Pulsdiagnostik geschieht durch Ertasten des Pulses an verschiedenen Körperstellen, der nach dem Konzept der TCM insgesamt 28 Pulsformen, die jeweils charakteristisch für bestimmte Beschwerden sind. Die Zungendiagnostik geschieht anhand der Größe der Zunge, Farbe des Zungenkörpers, Belag der Zunge und sonstige Besonderheiten. Das Ertasten des Pulses (zur Bestimmung der Herzfrequenz) und die Untersuchung der Zunge (gemeinsam mit der Inspektion des Rachenraumes) ist auch in der westlichen Medizin ein gängiges Untersuchungsverfahren. Die Betonung dieser beiden betrachtenden Untersuchungstechniken oder gar eine Zuordnung pathologischer Pulsformen oder Veränderungen der Zunge zu bestimmten Organen oder Organsystemen scheint nach dem Verständnis der westlichen Medizin jedoch willkürlich. Bisher durchgeführte Studien zeigen keine Validität im Sinne der Evidenzbasierten Medizin für die beiden hier beschriebenen Verfahren. <?page no="143"?> Alternativmedizin 143 Die 5 Säulen der TCM Die Therapie im Rahmen der TCM besteht aus den in → Abbildung 10 dargestellten Säulen. Abb. 10: Die 5 Säulen der Traditionellen Chinesischen Medizin Die TCM kennt über 500 traditionelle Heilmittel, die überwiegend auf pflanzlicher Basis ( Phytotherapeutika ), zu einem gewissen Teil aber auch aus tierischen oder mineralischen Produkten bestehen. Die Arzneimittel der TCM werden nach den Eigenschaften Temperaturverhalten und Geschmack klassifiziert und auf Basis des hieraus gewonnenen Profils der Behandlung verschiedener Krankheitsbilder zugeordnet. Einige der eingesetzten Arzneimittel enthalten hochpotente Substanzen, die, falsch eingenommen, auch nach Ansicht der westlichen Medizin, schwere Schäden verursachen können. Einige Substanzen stehen sogar im Verdacht, auch bei sachgerechter Anwendung Schäden zu verursachen, z. B. schädlich für die Leber zu sein. Ebenso können Verunreinigungen bei der Herstellung der Arzneimittel (z. B. durch Schimmelpilzbildung) unerwünschte Nebenwirkungen verursachen. Insofern sollten an die Therapie mit Arzneimitteln der TCM die gleiche Sorgfalt und die gleichen Qualitätsansprüche wie an die Behandlung mit Arzneimitteln der westlichen Medizin gestellt werden. Die Bewegungsübungen bestehen zum einen aus Qi-Gong , einer aus Kampfkünsten entwickelten chinesischen Bewegungsform zur Harmonisierung und Regulation des Qi-Flusses im Körper. Die Anwen- Arzneimittel Bewegungsübungen (Qi-Gong/ Taijiquan) Akupunktur/ Moxibustion Diätetik Massage (Tuina/ Shiatsu) Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) Befragung Geruch Gehör Betrachtung (Puls und Zunge) <?page no="144"?> 144 Methoden und Ansätze der Medizin dung von Qi-Gong kann in Form von Atem-, Bewegungs-, Konzentrations- und Meditationsübungen erfolgen und wird neben der rein medizinischen Anwendung auch für religiöse Zwecke verwendet. Es existieren hunderte verschiedene Abläufe zur Anwendung des Qi- Gong. Ebenso kann Taijiquan , ursprünglich eine Form der inneren Kampfkunst, angewendet werden, die derzeit als Bewegungslehre in China als Volkssport praktiziert wird. Nach dem Konzept der TCM haben Lebensmittel ebenso wie Arzneimittel bestimmte Wirkprofile, die sie hinsichtlich ihres Temperaturverhaltens, ihrer Geschmacksrichtung, ihrer energetischen Wirktendenz und ihres Bezugs zu Funktionskreisen bzw. Leitbahnen einteilen. Somit werden bestimmten Lebensmitteln je nach Gesundheitszustand unterstützende Wirkungen zugeschrieben. Die chinesische Massageform Tuina , abgeleitet aus den chinesischen Worten „tui“ (schieben/ drücken) und „na“ (greifen/ ziehen) zielt darauf ab, Blockaden der Leitungsbahnen aufzulösen und den Energiefluss zu fördern, um eine Balance des Qi wiederherzustellen. Ebenso zur Anwendung kommt Shiatsu (übersetzt Fingerdruck), eine aus Tuina abgeleitete japanische Form der Massage, die im Wesentlichen mit dem Körpergewicht des Massierenden arbeitet, um eine „energetische Beziehung“ zum Patienten zu entwickeln. Neben den genannten Säulen der TCM hat vor allem das Prinzip der Akupunktur in die westliche Medizin Einzug gehalten und ist für ausgewählte Indikationen bereits Regelleistung für gesetzlich krankenversicherte Patienten. Akupunktur Das Wort Akupunktur leitet sich aus den lateinischen Wörtern acus (Nadel) und punctio (das Stechen) ab. Das Prinzip der Akupunktur basiert auf der Stimulation von Akupunkturpunkten, die auf den Leitbahnen des Qi liegen, wie in → Abbildung 11 dargestellt. Abb. 11: Leitbahnen des menschlichen Körpers nach TCM ( → nächste Seite) <?page no="145"?> Alternativmedizin 145 <?page no="146"?> 146 Methoden und Ansätze der Medizin Es sind ca. 360 Akupunkturpunkte bekannt. Neben dem Einstechen von Akupunkturnadeln beinhaltet diese Säule der TCM auch die Erwärmung dieser Punkte durch Verglimmen von Fasern des Beifußes, was als Moxibustion bezeichnet wird. Das Wort Moxibustion leitet sich aus dem japanischen Wort der getrockneten Fasern des Beifußes (mogusa) und dem lateinischen Wort für Verbrennung (combustio) ab. Durch die Erwärmung bestimmter Punkte auf den Leitbahnen soll das Qi ebenfalls aktiviert werden. Die Akupunktur nach dem Konzept der TCM wird nach Empfehlung der WHO unter anderem bei folgenden Indikationen eingesetzt: Bluthochdruck bei Chemo- oder Strahlentherapie zur Reduzierung der Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen Depressionen rheumatoide Arthritis Schmerzzustände wie Rücken- oder Knieschmerzen Die WHO unterscheidet bei ihren Empfehlungen zwischen Verfahren, die in einzelnen Studien positive Effekte erzielt haben und daher von ihr als wirksam empfohlen werden, und solchen Indikationen, bei denen eine Wirkung möglich, aber noch nicht ausreichend durch wissenschaftliche Überprüfung belegt worden ist. In der Darstellung zahlreicher Anbieter von Akupunkturleistungen erfolgt häufig jedoch eine undifferenzierte Darstellung aller in der Empfehlung der WHO genannten Indikationen. Wie jede medizinische Intervention hat die Akupunktur auch potenziell eintretende Nebenwirkungen und Kontraindikationen, obgleich die Methode unter dem Attribut der sanften Medizin vermarktet häufig als (nahezu) nebenwirkungsfrei beschrieben wird. Nebenwirkungen bei Akupunktur kommen im einstelligen Prozentbereich vor. Zu diesen Nebenwirkungen können zählen: Blutergüsse an der Einstichstelle Entzündungen Schwindelgefühl bis hin zum kurzzeitigen Bewusstseinsverlust Taubheitsgefühl <?page no="147"?> Alternativmedizin 147 Granulome (Ablagerungen von Silikon bei Verwendung entsprechender Nadeln) In einigen Fällen wurde zudem das Kollabieren eines Lungenflügels ( Pneumothorax ) berichtet, das einer medizinischen Überwachung und ggf. Behandlung bedarf. Obgleich die Nebenwirkungen in ihrer Ausprägung meist wenig beeinträchtigend sind, ist eine sachgerechte Anwendung der Technik und die angemessene Vorbereitung und Reaktion auf möglicherweise auftretende Nebenwirkungen zur sicheren Therapie einzufordern. Durch die aktivierende Funktion, die der Akupunktur zugeschrieben wird, soll dieses Verfahren bei verschiedenen Krankheitsbildern nicht angewandt werden ( Kontraindikation ), um diese pathologischen Prozesse nicht zu verstärken. Hierzu zählen unter anderem: die Einnahme blutgerinnungshemmender Medikamente bestimmte Erkrankungen des Nervensystems und dadurch eingeschränkte Schmerzwahrnehmung Epilepsie schwere, ansteckende Krankheiten (z. B. Tuberkulose) bestimmte Krebserkrankungen in Bereichen von Hauterkrankungen, Entzündungen, Knochenbrüchen, frischen Verletzungen Von der Akupunktur von Babys und Kleinkindern wird ebenfalls abgeraten, die Akupunktur von Menschen in reduziertem Allgemeinzustand sollte nur nach besonders sorgfältiger Nutzen-Risiko- Abwägung , evtl. unter erhöhten Überwachungsmaßnahmen, stattfinden. Zum Zeitpunkt der Akupunktur sollten sich zudem keine Substanzen wie Cremes, Salben oder Make-up auf der Haut befinden, da diese durch die Nadeln unter die Haut transportiert werden und dort beispielsweise unerwünschte Reaktionen auslösen können. TCM unter Berücksichtigung der EbM Die Traditionelle Chinesische Medizin wurde in einigen Bereichen bereits intensiv nach den Prinzipien der EbM untersucht, in anderen Bereichen ist dies nicht erfolgt. <?page no="148"?> 148 Methoden und Ansätze der Medizin Die bislang nach anerkannten Standards der westlichen Medizin durchgeführten Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit von TCM finden sich im Bereich der Akupunktur. Exemplarisch seien hier die bislang größten prospektiven randomisierten kontrollierten Studien (siehe → Kapitel 2.3.4) für Akupunktur, die German Acupuncture ( GERAC ) Trials, genannt. An über 3.500 Patienten wurden für verschiedene Indikationen Studien mit drei Behandlungsgruppen (Therapiearmen) durchgeführt. Die erste Gruppe erhielt eine Akupunktur an Akupunkturpunkten nach TCM (VerumGruppe), die zweite Gruppe erhielt eine Akupunktur an Punkten, die nicht der Lehre der TCM entsprechen ( Sham-Gruppe ), die dritte Gruppe erhielt eine konventionelle Therapie ohne Akupunktur. Im Vergleich von Verum-Gruppe und konventioneller Therapie erzielte die Akupunktur bei arthrosebedingten Kniegelenksbeschwerden und chronischem Rückenschmerzen im Lumbosakralbereich deutlich bessere Effektivität als die konventionelle Therapie, bei der Behandlung von Migräne ebenso gute Behandlungsergebnisse wie die medikamentöse Therapie. Die Rate und Intensität der beobachteten Nebenwirkungen in den Akupunkturgruppen war gering. Die Studien wiesen jedoch einige methodische Schwächen auf: So wurde das Studienprotokoll mit Beschreibung der verschiedenen Akupunkturverfahren bereits vor Abschluss der Studie veröffentlicht, was die Verblindung der Patienten zwischen Sham- und Verum-Gruppe in Frage stellt. Ebenso unterschieden sich die Anzahl der Interventionen zwischen Akupunkturgruppen und konventioneller Therapie sowie die Anzahl der Punktionen in beiden Akupunkturgruppen systematisch. Daher wird die Aussagekraft der Studie von einigen Personen angezweifelt. Interessant ist außerdem, dass im direkten Vergleich zwischen Verum- und Sham-Akupunktur für kein Krankheitsbild signifikante Unterschiede festgestellt werden konnten. Die offenbar vorhandene, aber nicht an genaue Akupunkturpunkte gebundene Wirkung des Verfahrens wurde in Studien der Grundlagenforschung untersucht. Obgleich noch kein abschließendes umfassendes Erklärungsmodell vorliegt, kamen mehrere Studien zu der Überzeugung, dass durch Stimulation des Körpers mittels Akupunktur die Ausschüttung von Endorphinen, körpereigenen Opioidpeptiden , gefördert wird und sich diese Endorphine wiederum positiv auf bestimmte Körperfunktio- <?page no="149"?> Alternativmedizin 149 nen, wie beispielsweise das Schmerzempfinden, auswirken. Somit erscheint eine Akupunkturbehandlung nach dem rationalen Grundverständnis der westlichen Medizin durchaus plausibel. Auf Basis der Daten der GERAC-Trials wurde die Akupunktur bei chronischem Kreuzschmerz und Kniegelenksschmerzen im Rahmen einer umfassenden Schmerztherapie nach Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses am 1. Januar 2007 zur Regelleistung für gesetzlich Krankenversicherte. Die Akupunkturbehandlung bei Migräne wurde aufgrund fehlender Überlegenheit zur Standardtherapie nicht in den Regelleistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Ernst, E. (2005): Komplementärmedizinische Diagnoseverfahren . Deutsches Ärzteblatt 102(44): A-3034 / B-2560 / C-2410. Im Internet unter: http: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 48961 Kubny, M. (1995): Qi. Lebenskraftkonzepte in China . Definitionen, Theorien und Grundlagen. Heidelberg. WHO (2002): Acupuncture . review and analysis of reports on controlled clinical trials. Genf. Im Internet unter: http: / / digicollection.org/ hss/ en/ d/ Js4926e/ Website des GERAC-Trials mit zusammenfassender Ergebnisdarstellung und Links zu den wissenschaftlichen Publikationen der Studie. Im Internet unter: http: / / www.gerac.de/ Beschluss des G-BA zur Aufnahme der Akupunktur bei Knie- und Kreuzschmerz in den Regelleistungskatalog der GKV . Im Internet unter: https: / / www.gba.de/ informationen/ beschluesse/ 295/ 2.7.2 Homöopathie Grundprinzipien der Homöopathie Neben dem Konzept der TCM findet in Deutschland unter allen komplementärmedizinischen Maßnahmen vor allem die Homöopa- <?page no="150"?> 150 Methoden und Ansätze der Medizin thie große Beachtung. Das Konzept der Homöopathie wurde 1796 von Samuel Hahnemann erstmals beschrieben und beruht auf dem von ihm begründeten Simile-Prinzip : Wissen Similia similibus curentur (lat.): Ähnliches möge mit Ähnlichem geheilt werden. Dieses Prinzip begründet auch die Namensgebung, die auf den griechischen Worten homoios (gleich, ähnlich) und pathos (Leiden) beruht und somit „ähnliches Leiden“ bedeutet. Somit soll zur Behandlung einer Erkrankung ein homöopathisches Arzneimittel verwendet werden, dass in unverdünnter Form angewendet, bei einem gesunden Patienten die gleichen Symptome hervorrufen kann, die der Erkrankte hat. Zur Ermittlung des geeigneten Arzneimittels erfolgt eine umfangreiche Erhebung der bisherigen Symptome und eine Kategorisierung des Patienten nach bestimmten Charaktermerkmalen durch die behandelnde Person. Die Anwendung dieser teilweise gefährlichen Substanzen erfolgt jedoch nicht in Reinform, sondern nach einer auf bestimmte Art und Weise durchgeführten Verdünnung. Hierzu wird aus der Grundsubstanz eine Urlösung erstellt, die mehrfach im Verhältnis 1: 10 (D-Potenz) oder 1: 100 (C-Potenz) in einer Lösung aus Wasser oder Alkohol verdünnt wird. Dies diente zunächst der Vermeidung unerwünschter Wirkungen der Urlösung. Im Jahr 1798 führte Hahnemann die Vorschrift ein, dass die Vermischung so erfolgen soll, dass nach Einbringen der zu verdünnenden Substanz in die Lösung das Behältnis der Lösung mit mehreren Schlägen gegen einen federnden Widerstand verschüttelt werden soll. Durch diesen Vorgang, der Potenzierung genannt wird, soll laut Hahnemann nicht nur die unerwünschte Wirkung der Substanz minimiert werden. Nach Ansicht Hahnemanns ist das Medikament umso wirksamer, je höher die Verdünnung der Urlösung in Form sogenannter Hochpotenzen ist. Die Wirkung der Hochpotenzen führt Hahnemann darauf zurück, dass durch das Verschütteln eine geistartige Information an das Wasser übertragen wird. Da sich in der 23. Verdünnungsstufe im Dezimalsystem (D23) nachweislich kein <?page no="151"?> Alternativmedizin 151 chemisches Molekül der Ursubstanz mehr befindet, wird diese Erklärung auch heute noch für die mutmaßliche Wirksamkeit homöopathischer Medikamente im Hochpotenzbereich angeführt. Die auf die beschriebene Art verdünnte Lösung wird in der Regel auf kleine Milchzuckerkügelchen, sogenannte Globuli , gespritzt, die dann vom Patienten als homöopathisches Arzneimittel eingenommen werden. Zur Abgrenzung der Homöopathie bezeichnete Hahnemann die bisher praktizierte Medizin als Schulmedizin . Homöopathie aus Sicht der EbM Die Grundannahmen der Homöopathie sind mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Konzept der Evidenzbasierten Medizin nicht vereinbar. So finden sich weder Anhaltspunkte für das Simile- Prinzip noch Beweise für die Steigerung der Wirkung eines homöopathischen Arzneimittels durch Potenzierung noch valide Anhaltspunkte dafür, dass die Anwendung von Homöopathika eine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung hat. Prof. Dr. em. Edzart Ernst, erster Lehrstuhlinhaber für Komplementäre Medizin an der Universität Exeter, bezeichnet die umfassende Anamnese zu Beginn der homöopathischen Behandlung als eine amateurhafte Psychotherapie. Die Medizinische Fakultät der Universität Marburg bezeichnete Homöopathie in der „Marburger Erklärung zur Homöopathie“ im Jahr 1992 als Irrlehre. Es wurden zahlreiche Studien nach Kriterien der EbM zur Wirksamkeit von homöopathischen Arzneimitteln durchgeführt, die wiederum in systematischen Übersichtsarbeiten zusammengefasst wurden. Unter Beachtung des Effektes, dass bei steigender Anzahl an Studien die Wahrscheinlichkeit der Berücksichtigung zufällig statistisch signifikant positiver oder negativer Ergebnisse steigt, lässt sich durch Einsatz von Homöopathie, wie von Shang und Kollegen 2005 in der Zeitschrift The Lancet publiziert, keine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung feststellen. Die vermutete und behauptete Wirksamkeit von Homöopathie basiert nach Ansicht der Vertreter der Schulmedizin zum einen auf Placebo-Effekten, ausgelöst durch die vergleichsweise intensive Zuwendung des Behandelnden zum Patienten in Verbindung mit dessen Erwartungshaltung, zum ande- <?page no="152"?> 152 Methoden und Ansätze der Medizin ren darauf, dass viele homöopathisch behandelte Erkrankungen auch ohne Einsatz von Globuli zum gleichen Zeitpunkt spontan ausgeheilt wären, frei nach der Erkenntnis: »Es ist die Aufgabe des Arztes, den Patienten so lange zu unterhalten, bis die Natur ihn geheilt hat.« François-Marie Arouet (Voltaire), französischer Philosoph der Aufklärung, Historiker und Geschichts-Schriftsteller (1694-1778) Im Gegensatz zum fehlenden Wirksamkeitsnachweis sind durch den Gebrauch von Homöopatika durchaus ernsthafte Nebenwirkungen beschrieben, insbesondere dann, wenn die Substanzen nicht ausreichend verdünnt worden sind. So kann die Einnahme niedriger Zehnerpotenzen von Arsen (Arsenicum), Quecksilber (Mercurius) oder Tollkirsche (Belladonna) zu akuten Vergiftungen führen, die im Einzelfall tödlich verlaufen können. Verbreitung der Homöopathie in Deutschland Unabhängig vom fehlenden Wirksamkeitsnachweis und einem den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechenden Erklärungsansatz für die Wirkung von Homöopathie ist die Anwendung der Homöopathie in Deutschland weit verbreitet. Es existiert in der Weiterbildungsordnung für Ärzte eine Zusatzbezeichnung für Homöopathie, die laut Ärztestatistik 2017 der Bundesärztekammer 6.898 Ärztinnen und Ärzte absolviert haben. Demgegenüber praktizieren nach Angaben des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) aus dem Jahr 2018 ca. 60.000 Ärztinnen und Ärzte Homöopathie. Homöopatika sind in Deutschland apothekenpflichtig, jedoch überwiegend rezeptfrei erhältlich. Hinsichtlich der Produktion homöopathischer Medikamente bezeichnet der BPI Deutschland als europaweiten Marktführer. Der Gesamtumsatz an Homöopathika in Apotheken und Versandhandel beziffert der Bundesverband der Arzneimittel- Hersteller BAH e. V. für das Jahr 2017 mit 629 Millionen Euro Umsatz bei 52 Millionen abgesetzten Packungseinheiten. Sowohl Umsatz als auch Absatz an Homöopathika sind in den letzten Jahren stark gestiegen. <?page no="153"?> Alternativmedizin 153 Lesetipps ∣ Websites Shang, A. et. al. (2005): Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy. The Lancet. Im Internet unter: http: / / www.homeovet.cl/ Libros/ Are%20the%20clinical%20effects %20of%20homoeopathy%20placebo%20effects%20 Comparative%20study%20of%20placebo-controlled%20t.pdf Bundesverband der pharmazeutischen Industrie e. V. (2019): Pharmadaten 2019 . Im Internet unter: https: / / www.bpi.de/ de/ service/ pharma-daten Zahlenmaterial des Bundesverbandes der Arzneimittel- Hersteller BAH e. V. Im Internet unter: https: / / www.bahbonn.de/ presse-und-publikationen/ zahlen-fakten/ 2.7.3 Möglichkeiten und Grenzen der Alternativmedizin Einige Elemente der TCM sind aufgrund ihrer erwiesenen oder vermuteten Nutzen-Risiko-Relation nicht nur in der westlichen Welt weit verbreitet, sondern auch in Teilen in der westlichen Welt anerkannt. Zentrale Ziele der fünf therapeutischen Säulen finden sich in salutogenetischen und primärpräventiven Ansätzen wieder. So ist auch in der westlichen Medizin der Konsum bestimmter Lebensmittel als vorbzw. nachteilhaft anerkannt. Ebenso sind regelmäßige körperliche Aktivität wie im Qi-Gong allgemeine Empfehlung zur Vermeidung zahlreicher Erkrankungen. Pflanzlich wirksame Substanzen (Phytotherapeutika) finden auch im Rahmen der westlichen Medizin Anwendung und die ganzheitliche Betrachtung des Menschen mit seinen körperlichen aber auch psychischen Bedürfnissen ist in der westlichen Medizin ebenfalls als Idealvorstellung verankert. Für viele Interventionen der TCM gibt es jedoch entweder keine wissenschaftlich validen Überprüfungen oder Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen. Ebenso mag das Erklärungsmodell für die Wirkung der TCM vielen Patienten mit den Erkenntnissen der westlichen Medizin, z. B. im Bereich der anatomischen Grundlagen, un- <?page no="154"?> 154 Methoden und Ansätze der Medizin vereinbar sein. Insbesondere aber hinsichtlich der Effektivität bei gravierenden Erkrankungen lassen sich keine Belege dafür finden, dass die TCM der westlichen Medizin vergleichbare Heilungsraten erreicht. Daher wenden sich in China viele Menschen mittlerweile von der TCM ab und der westlichen Medizin zu. Dabei ist durchaus denkbar, dass Elemente der TCM, wie eine bewusste Ernährung oder eine gezielte Bewegungstherapie, in vielen Situationen in Kombination mit Elementen der westlichen Medizin eine sinnvolle Ergänzung bieten. Ebenso scheint es abseits der Lehre des Qi eine wissenschaftlich plausible Wirkung der Akupunktur für ausgewählte Krankheitsbilder zu geben, sodass Akupunktur als unterstützende oder gar alleinige Behandlungsoption in bestimmten Situationen als sinnvoll angesehen werden kann. Homöopathie scheint nach derzeitigen Erkenntnissen keinen über den Placebo-Effekt hinaus nachweisbaren Effekt zu besitzen. Positiv hervorzuheben ist jedoch die intensive Beschäftigung mit dem Patienten, auf die sich die Schulmedizin an vielen Stellen zurückbesinnen sollte. Der Verdienst von Hahnemann war die Etablierung einer Therapie in einer Zeit, in der die Schulmedizin mangels Alternativen zahlreiche nebenwirkungsreiche, hochriskante oder sogar schädliche Therapieverfahren kannte. So wurde die durch bakterielle Infektion verursachte Erkrankung Cholera durch Aderlässe therapiert, was nach heutiger Erkenntnis die Patienten unnötig schwächte und so den Einsatz der Homöopathie als wirkungsvoll erscheinen ließ. Durch Einsatz der Homöopathie in entsprechenden Verdünnungen wurde sich dem Grundsatz des „ primum nil nocere “ zumindest im Ergebnis rückwirkend betrachtet angenähert. Auch heute ist aus ärztlicher Sicht der Einsatz von Globuli bei einem unkomplizierten virusbedingten Effekt der oberen Atemwege weniger schädlich als der Einsatz eines in diesem Fall wirkungslosen und schädlichen Antibiotikums. Die heutige Medizin bietet jedoch für viele Krankheiten wie Cholera hocheffektive Therapiemöglichkeiten. Somit bieten sowohl TCM als auch Homöopathie die Gefahr, dass durch alleiniges Vertrauen auf diese Behandlungsmethoden eine wirksame Therapie unterlassen wird und sich somit das Zeitfenster für eine mögliche Heilung schließt. Im Bereich der Krebstherapie <?page no="155"?> Alternativmedizin 155 beginnen zahlreiche Patienten Therapien mit sogenannter „sanfter“ oder „ganzheitlicher“ Medizin, die vor Nebenwirkungen schulmedizinischer Behandlungen warnt und so Ängste schürt. Mit teils dubiosen bis kriminellen Methoden erleiden Patienten hohe finanzielle Einbußen und werden um die Möglichkeit einer wirksamen Therapie gebracht. Die Vereinigung „Homöopathen ohne Grenzen“ beispielsweise beschreibt Projekte in Afrika, in denen Krankheiten wie HIV oder Malaria mit Homöopathie erfolgreich behandelt werden sollen. Ein Versuch, im Rahmen der Epidemie im Jahr 2014 auch Ebola mit Homöopathie zu behandeln, wurde von den dortigen Behörden unterbunden. Wissen ∣ Steve Jobs und die Alternativmedizin Der in letzter Zeit wohl prominenteste Mensch, der mutmaßlich in Folge einer verzögerten schulmedizinischen Behandlung gestorben ist, war der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Firma Apple Steve Jobs . Anstatt eine im Jahr 2003 diagnostizierte Bauchspeicheldrüsenkrebserkrankung schulmedizinisch behandeln zu lassen, vertraute Jobs zunächst auf alternativmedizinische Behandlungsmethoden und lehnte eine Operation strikt ab. Erst Jahre später willigte Jobs in eine Operation ein, als die Krebserkrankung bereits metastasiert war (Erklärung → Kapitel 3.6). Selbst ein ausgesuchtes Team von Spezialisten, eine Lebertransplantation unter ethisch fragwürdigen Bedingungen und die Entschlüsselung seines Erbgutes zur Anpassung der Medikamente auf seinen Tumor ( → Kapitel 2.8.3) konnten Jobs im Stadium seiner fortgeschrittenen Erkrankung nicht mehr retten. Nach Ansicht vieler Experten wäre diese Form von Bauchspeicheldrüsenkrebs in einem frühen Stadium nach Diagnosestellung durch eine rechtzeitige Operation heilbar gewesen. <?page no="156"?> 156 Methoden und Ansätze der Medizin Um selbst eine Abschätzung treffen zu können, ob es sich um unseriöse Angebote handelt, empfiehlt sich die bereits im Jahr 2003 im arznei telegramm publizierte Liste „Zehn Indizien für Quacksalberei“: Verdacht auf Scharlatanerie bzw. Quacksalberei* wird umso wahrscheinlicher, je mehr der folgenden Beschreibungen zutreffen. Die Methode bzw. ein Produkt wird durch Hinweis auf exotische Herkunft (Regenwald, Himalaya u.a.) interessant gemacht, soll Heilung bringen, wenn Schulmedizin in auswegloser Situation versagt, soll durch umfangreiche Erfahrungen „untermauert“ sein, ohne dass nachvollziehbare Daten aus kontrollierten klinischen Studien zugänglich gemacht werden, soll gegen eine Vielzahl verschiedener Erkrankungen, die nichts miteinander zu tun haben, universell wirksam sein, soll regelmäßig zum Erfolg führen, wobei Misserfolge der Schulmedizin angelastet werden, ist an einzelne Personen beziehungsweise Institutionen gebunden, die die Therapie entwickelt haben und daran verdienen (extrem hohe Preise), soll keine Nebenwirkungen haben oder die Nebenwirkung von Verfahren der Schulmedizin reduzieren oder aufheben, ist kompliziert (strenge Diätvorschriften, komplizierte Anwendungsrichtlinien u.a.), sodass Misserfolge auf Anwendungsfehler zurückgeführt werden, soll schon seit Jahren/ Jahrzehnten verwendet werden, ohne offiziell anerkannt zu sein, ist den Behauptungen zufolge so gut, dass unverständlich bleibt, warum keine Zulassung als Arzneimittel existiert. * Siehe auch im Internet unter Quack-wacht: http: / / web.archive.org/ web/ 20020124192258/ neuropsychiater.org/ quackw.htm Quelle: arznei-telegramm® (2003) <?page no="157"?> Individualisierte Medizin 157 Lesetipps ∣ Websites Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft . Stellungnahme zu außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehenden Methoden der Arzneitherapie, Stand: 03.04.1998. Im Internet unter: https: / / www.aerzteblatt.de/ archiv/ 48961 Shaw, D. M. (2013): Homeopaths Without Borders practice exploitation not humanitarianism . The BMJ. Im Internet unter: http: / / www.bmj.com/ content/ 347/ bmj.f5448/ rr/ 666248 Böck, H.: AIDS heilen mit Homöopathie? Im Internet unter: http: / / www.heise.de/ tp/ artikel/ 37/ 37942/ 1.html Lenzen-Schulte, M. (2013): Alternativheiler für die Krisengebiete? FAZ, 8.10.2013. Im Internet unter: http: / / www.faz.net/ -gwz-7i8gj Hautkapp, D. (2011): Wie Steve Jobs mit allen Mitteln den Krebs besiegen wollte . WAZ, 21.10.2011. Im Internet unter: http: / / www.derwesten.de/ wirtschaft/ digital/ wie-steve-jobs-mitallen-mitteln-den-krebs-besiegen-wollte-id5183238.html arznei-telegramm® (2003): Zehn Indizien für Quacksalberei . Im Internet unter: https: / / www.arzneitelegramm.de/ html/ 2003_10/ 0310095_01.html 2.8 Individualisierte Medizin Der Begriff Individualisierte Medizin, häufig synonym mit der sogenannten Personalisierten Medizin gebraucht, verwirrt auf den ersten Blick, da er suggeriert, die bisher dargestellten Methoden und Ansätze wären weder individuell auf den Einzelfall noch persönlich auf den Patienten ausgerichtet. Tatsächlich handelt es sich bei den beiden genannten Begriffen um den Ansatz, mit Hilfe molekularge- <?page no="158"?> 158 Methoden und Ansätze der Medizin netischer Methoden Therapien, insbesondere im Bereich der Arzneimittelanwendung, unter Berücksichtigung genetischer Strukturen auf den Patienten abzustimmen. Es werden hierbei keinerlei Persönlichkeitsmerkmale erfasst, was den Begriff der Personalisierten Medizin in Frage stellt. Da die beiden genannten Begriffe inhaltlich verwirrend sind, verbreitet sich in der Literatur zunehmend der Begriff der stratifizierten Medizin , als Ausdruck des Konzeptes, bestimmte Behandlungen bestimmten Patientengruppen aufgrund ihrer genetischen Disposition anzubieten bzw. vorzuenthalten. Ebenso könnten hierfür aber auch die Begriffe biomarkerbasierte oder genombasierte Medizin verwendet werden, zumal auch schon vor Entdeckung des Genoms stratifizierte, d. h. auf bestimmte Risikokonstellationen ausgerichtete Therapien, durchgeführt wurden. Trotz der begrifflichen Unschärfe wird der Begriff der Individualisierten Medizin in dem oben beschriebenen Kontext in diesem Kapitel aus Gründen der Übersicht verwendet. 2.8.1 Grundkonzept der Individualisierten Medizin Die Erkenntnis, dass grundlegende Unterschiede in der Inzidenz und Prognose verschiedener Erkrankungen bestehen, ist seit Langem in der Medizin bekannt. Durch die Entdeckung und Erstbeschreibung der zugrundeliegenden molekularen Struktur der Erbinformation in Form der DNA 4 durch James Watson und Francis Crick im Jahr 1953 wurde der Grundstein zur Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes gelegt. Die Struktur der DNA besteht aus einer spiralförmig verlaufenden Struktur zweier parallel verlaufender Stränge (Doppelhelix) von aufeinander abgestimmten Basen (Basenpaare). Das komplette menschliche Erbgut ( Genom ) besteht aus 3,2 Milliarden Basenpaaren. Innerhalb der DNA wurden bestimmte Abschnitte entdeckt, sogenannte Gene, die wichtige Eigenschaften des menschlichen Körpers, aber auch mutmaßlich die Anfälligkeit bzw. Resistenz gegenüber bestimmten Erkrankungen, erklären. Mit der fortschreitenden Entdeckung des menschlichen Erbgutes wuchsen auch die Hoffnungen, Erkrankungen lange vor ihrem Entstehen identifizieren und durch 4 DNA: engl. DesoxyriboNucleic Acid (Desoxyribonukleinsäure) <?page no="159"?> Individualisierte Medizin 159 gezielte Behandlung, möglicherweise durch direkten Eingriff in das Erbgut, zu verhindern. Nachdem zunächst durch wissenschaftliche Forschung die Methoden zur schrittweisen Identifikation des Erbgutes ( Sequenzierung ) entwickelt werden mussten, wurde im Jahr 1985 das Human Genome Project (HGP) gegründet mit dem Ziel, das komplette menschliche Erbgut bis zum Jahr 2010 zu entziffern. Hierzu wurden Teile des Erbgutes von vielen Menschen in einem multinationalen Projekt unter Beteiligung von über 1000 Wissenschaftlern bis zum Jahr 2003 identifiziert. Das Nachfolgeprojekt Encode ( Enc yclopedia O f D NA E lements) des US-amerikanischen National Human Genome Research Institute (NHGRI) hat sich zum Ziel gesetzt, alle funktionalen Elemente des menschlichen Genoms zu identifizieren. Im Jahr 2007 gelang erstmals die Identifikation des kompletten Erbgutes eines einzelnen Menschen. Während die Identifikation des ersten menschlichen Genoms Jahre gedauert hat und damit für Zwecke der Behandlung unbrauchbar war, wurden im Zuge der wissenschaftlichen Forschung Sequenziergeräte entwickelt, die automatisiert menschliches Erbgut binnen weniger Tage komplett identifizieren können. Durch diese technische Errungenschaft rückten verschiedene Optionen der Nutzung molekulargenetischer Methoden in den Fokus, die im Folgenden beschrieben werden sollen. 2.8.2 Diagnostische/ Prognostische Ansätze Durch die Entschlüsselung des individuellen menschlichen Erbgutes können Gene identifiziert werden, die im Verdacht stehen, bei Vorliegen entsprechender Mutationen , Krankheiten zu verursachen. Durch statistische Vergleiche kann so mutmaßlich auf das potenzielle Risiko geschlossen werden, zu einem späteren Zeitpunkt eine entsprechende Erkrankung zu entwickeln. Bei Patienten mit bestimmten Erkrankungen kann beispielsweise das familiäre Umfeld untersucht werden, ob weitere Verwandte dieses Merkmal tragen. So kann bei einzelnen Erkrankungen durch präventive Maßnahmen gehandelt werden. <?page no="160"?> 160 Methoden und Ansätze der Medizin Beispiel ∣ Angelinas Jolies Umgang mit ihrem Krebsrisiko Der Hollywoodstar Angelina Jolie berichtete, dass sie nach dem Krebstod ihrer Mutter auf ein bestimmtes krebsauslösendes Gen hin untersucht wurde. Da sie ebenfalls Trägerin dieses brustkrebsauslösenden Gens ist, entschloss sie sich zu einer radikalen Entfernung beider Brüste, um das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, zu minimieren. Neben dem genannten, drastischen primärpräventiven Beispiel können bei anderen Erkrankungen auch sekundärpräventive Maßnahmen, z. B. durch Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, getroffen werden. Die Idee der frühzeitigen Identifikation genetischer Risiken wurde inzwischen kommerzialisiert, sodass es mittlerweile für jedermann möglich ist, sein Erbgut auf entsprechende Defekte hin zu untersuchen. Meist wird bei dieser Diagnostik nicht das gesamte Erbgut untersucht, sondern aus Kostengründen nur bestimmte Abschnitte des Genoms. Hierzu ist lediglich eine Speichelprobe des Kunden notwendig, die per Paketdienst in das sequenzierende Labor, in aller Regel in die USA, transportiert wird. Die Präsentation der Ergebnisse erfolgt in aller Regel aber nicht durch ein ärztliches Aufklärungsgespräch oder eine Erläuterung der statistischen Aussagekraft dieser Werte, was als bedenklich angesehen werden muss. Ebenso wird vielfach auch auf Erkrankungen hin untersucht, die bislang nicht behandelbar oder nicht günstig beeinflussbar sind. Insbesondere in diesen Fällen ergeben sich ethische Probleme, die in → Kapitel 2.8.4 thematisiert werden. Ein weiteres Anwendungsfeld prognostischer Individualisierter Medizin beschäftigt sich nicht mit dem menschlichen Genom an sich, sondern mit der genetischen Zusammensetzung von Tumoren. So kann je nach genetischer Beschaffenheit des Tumors möglicherweise auf dessen Aggressivität und damit auf die optimale Behandlung geschlossen werden. Ziel dieser Einschätzung ist eine Abstimmung der Tumortherapie hinsichtlich Intensität und Wahl des geeigneten Verfahrens ( → Kapitel 3.6) zur Behandlung der Krebserkrankung, um unnötige Therapien bei wenig aggressiven Tumoren ebenso zu vermeiden, wie eine zu schwach angesetzte Therapie, die den Patien- <?page no="161"?> Individualisierte Medizin 161 ten nicht heilen kann. Ob und für welche Erkrankungen dieses Verfahren mit welchen Analysen zuverlässig angewandt werden kann, ist derzeit Gegenstand vielfältiger medizinischer Studien. 2.8.3 Therapeutische Ansätze Neben der frühzeitigen Erkennung von Krankheiten und der Abschätzung des Therapieerfolges kommen durch den Begriff der Individualisierten Medizin ebenso Hoffnungen auf, dass Patienten aufgrund ihrer genetischen Ausstattung auf sie individuell maßgeschneiderte Medikamente erhalten werden, die ihnen die theoretisch bestmögliche Behandlung garantieren sollen. Von diesem Ansatz ist die Medizin derzeit jedoch weit entfernt. Bisherige Studien zur Individualisierung von Medikamenten befinden sich allenfalls im Stadium der Grundlagenforschung, aufgrund des mit einer solchen Entwicklung verbundenen zeitlichen Aufwands und der nicht abschätzbaren Kosten sind diese Therapieansätze, wenn überhaupt, jemals nur in sehr ferner Zukunft erreichbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass unter der Marke „Personalisierte Medizin“ keine Medikamente im Hochkostenbereich unter Verweis auf besondere Eignung bei bestimmter genetischer Disposition vermarktet werden. Die Jahrestherapiekosten eines solchen Medikamentes übersteigen mitunter die während der gesamten Lebenszeit eingezahlten Krankenversicherungsbeiträge eines Patienten deutlich. Dabei sind diese Medikamente nach bisherigen Studien nicht in der Lage, Patienten mit Krebserkrankungen zu heilen, sondern können die Krankheit allenfalls einige Zeit, manchmal nur wenige Monate, verzögern. Aufgrund der Vielzahl von Krebserkrankungen und der technischen Möglichkeiten stellt sich auch letztlich die Frage der Finanzierbarkeit dieser Medizin. 2.8.4 Ethische Problemfelder Die Individualisierte Medizin wirft hinsichtlich ihres Nutzens, ihrer Folgen für das Individuum, aber auch für die Gesellschaft zahlreiche Fragen auf, die der Deutsche Ethikrat im Jahr 2012 wie folgt formuliert hat: <?page no="162"?> 162 Methoden und Ansätze der Medizin Zitat „Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten Medizin in das Paradies medizinischen Fortschritts gefahren oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen Forschung und der Pharmaindustrie gespannt? Werden einem Patienten durch innovative Arzneimittel nutzlose Therapien mit belastenden Nebenwirkungen - und der Solidargemeinschaft die Kosten dafür - erspart oder wird er möglicherweise aufgrund statistischer Analysen von einer Therapie ausgeschlossen, die mit nur sehr geringer Wahrscheinlichkeit für nützlich gehalten wird, die aber genau bei ihm persönlich zu vielleicht mehreren Jahren Lebensverlängerung führen könnte? Was muss geschehen, damit der Patient tatsächlich Zugang zu einer innovativen Therapie und damit zunächst zu einer zuverlässigen Biomarkerdiagnostik hat […]? Hier sind die bisher üblichen Verfahren und Regelungen zur Kostenübernahme noch unzureichend. Wie wird sich die personalisierte Medizin auf die Gesundheitskompetenz und die Selbstbestimmung des Patienten auswirken: Wird der Patient […] von einem Arzt mit entsprechender fachlicher und kommunikativer Kompetenz so geführt, dass er gut informiert und beraten seine Selbstbestimmung ausüben kann, oder wird er sich im Labyrinth komplizierter Krankheitsinformationen und komplexer Gesundheitsversorgung verirren? Wird Medizin zukünftig überhaupt noch im Rahmen einer Arzt-Patienten-Beziehung stattfinden oder werden zunehmend Internetanbieter, denen man sein Genom in Form einer Speichelprobe zur Entzifferung und Deutung zuschickt, eine genombasierte medizinische Information übernehmen? <?page no="163"?> Individualisierte Medizin 163 Werden die Patienten auf eine forschungsgestützte Versorgung vertrauen dürfen? In der Zeitschrift Nature wurde jüngst […] eine Studie an 100 Brustkrebstumoren publiziert, in denen die Forscher […] Mutationen in mindestens 40 Krebsgenen und 73 verschiedene Kombinationen mutierter Krebsgene fanden. Wie kommt man bei solchen Ausdifferenzierungen von Subgruppen zu statistisch validen Daten über einen Therapieerfolg? […] Und wie stellt man sicher, dass die Diagnostik an nur einer kleinen Tumorprobe nicht zu unvollständigen Befunden und damit einer falschen Therapieentscheidung führt? Wird die Solidargemeinschaft für die personalisierte Behandlung des Patienten einstehen oder wird sie ihn unter Berufung auf zu hohe Kosten für vielleicht nur wenig nützliche Maßnahmen oder mit dem Hinweis, er hätte die Erkrankung durch einen vorbeugenden Lebensstil verhindern können, in die auch finanzielle Eigenverantwortung entlassen? Wird der Patient […] besonders erfolgreich behandelt werden oder führt die personalisierte Medizin durch eine zunehmende Biologisierung des Krankheitsverständnisses schleichend zu einer vereinzelnden, entpersonalisierenden Ausblendung der eigentlich personalen Dimension von Krankheit und Leiden? Summarisch gefragt: Ist der Patient Nutznießer oder Opfer personalisierter Medizin? “ <?page no="164"?> 164 Methoden und Ansätze der Medizin Lesetipps ∣ Literatur und Websites Website des Human Genome Projects (HGP). Im Internet unter: http: / / web.ornl.gov/ sci/ techresources/ Human_Genome/ index.sht ml Website des Encode Projects . Im Internet unter: https: / / www.encodeproject.org/ Hüsing, B.; Hartig, J.; Bührlen, B.; Reiß, T.; Gaisser, S.: Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem . Büro für Technikfolgen-Abschätzung des Bundestages (TAB), Arbeitsbericht Nr. 126. Im Internet unter: http: / / www.tab-beimbundestag.de/ de/ pdf/ publikationen/ berichte/ TAB-Arbeitsberichtab126.pdf Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), Potential und Grenzen von «Individualisierter Medizin» (personalized medicine). Im Internet unter: https: / / www.samw.ch/ dam/ jcr: 7b211388-6d72-4421-b799- 2a50f60f19ea/ positionspapier_samw_individualisierte_medizin.pdf Deutscher Ethikrat (2012): Personalisierte Medizin. Der Patient als Nutznießer oder Opfer? Tagungsdokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2012. Im Internet unter: https: / / www.ethikrat.org/ fileadmin/ Publikationen/ Dokumentati onen/ tagungsdokumentation-personalisierte-medizin.pdf <?page no="165"?> 3 Ausgewählte Krankheitsbilder Die hier dargestellten Krankheitsbilder stellen eine repräsentative Auswahl wichtiger, für das Gesundheitssystem und viele Patienten relevanter Erkrankungen dar. Gleichwohl kann im Rahmen dieses Buches nur ein Bruchteil aller Erkrankungen und im Rahmen der Darstellung der Erkrankung nur eine verkürzte, gängige Differentialdiagnose und Therapien umfassende Darstellung erfolgen. Es obliegt den Behandelnden, ggf. weitere diagnostische oder therapeutische Maßnahmen nach individuellem Krankheitsbild, weiterer Begleitumstände und Präferenzen des Patienten im Sinne der EbM durchzuführen. Zunächst erfolgt die Darstellung des Kontextes der Erkrankung, der wichtigen Meilensteine in Diagnostik und Therapie, des medizinischen und ökonomischen Kontextes der Krankheit sowie deren Ursachen ( Ätiologie ), deren Entstehungsprozess ( Pathogenese ) und deren Symptome. 3.1 Adipositas 3.1.1 Kontext der Erkrankung Adipositas leitet sich vom lateinischen Wort adeps (Fett) ab und bedeutet Fettleibigkeit. Das Übergewicht von Menschen, in vielen Kulturen ein Zeichen von Wohlstand und Reichtum, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer sogenannten Volkskrankheit entwickelt. Definiert wird die Erkrankung durch die 1832 von Adolphe Quételet entwickelte Klassifikation, heute bekannt als Body-Mass-Index (BMI) . Der BMI ist dabei folgendermaßen definiert: BMI = Körpergewicht [kg] (Körpergröße [m]) 2 <?page no="166"?> 166 Ausgewählte Krankheitsbilder Folgende in → Tabelle 9 dargestellten Werte definieren die Erkrankung Adipositas, den anzustrebenden Normalzustand sowie die Unterernährung. Es ist anzumerken, dass im Gegensatz zur Adipositas keine einheitliche Definition für Übergewicht besteht. Adipositas beschreibt sowohl einen körperlichen Zustand als auch eine Erkrankung. BMI [kg/ m²] Zustand <16,00 starkes Untergewicht 16,00-18,49 mäßiges/ leichtes Untergewicht 18,50-24,99 Normalgewicht 25,00-29,99 Übergewicht (Präadipositas) 30,00-34,99 Adipositas Grad I 35,00-39,99 Adipositas Grad II ≥40,00 Adipositas Grad III Tab. 9: Klassifikation der Gewichtszustände nach BMI Die Erkrankung ist aus medizinischer Sicht bedeutend, da sie einen bedeutenden Risikofaktor für eine Vielzahl weiterer Erkrankungen darstellt. Beispielsweise treten Früh- und Spätkomplikationen in Form von Begleiterkrankungen des Bewegungsapparates, des Verdauungssystems, des Herz-Kreislauf-Systems, des Hormonhaushaltes, aber auch psychische Erkrankungen gehäuft bei adipösen Patienten auf, sodass die Adipositas sowohl eine erhöhte Sterblichkeitsrate als auch eine reduzierte Lebensqualität verursacht. Laut DEGS- Studie 2011 leiden mittlerweile rund 24 % aller erwachsenen Männer und Frauen in Deutschland an Adipositas Grad I-III, sodass diese Krankheit neben der hohen Krankheitslast auch gravierende ökonomische Folgen für das Gesundheitssystem hat. Ernährungsbedingte Erkrankungen sind einer der häufigsten Gründe für Arbeitsunfähigkeit und verursachen ca. 30 % der gesamten Gesundheitskosten. Außerdem stellen adipöse Patienten das System der Gesundheitsversorgung vor neue Herausforderungen, da die medizinische Infrastruktur (Patientenbetten, Untersuchungsgeräte und Transportmittel) in der <?page no="167"?> Adipositas 167 Regel nicht auf ein zulässiges Gesamtgewicht über 180 Kilogramm oder einen bestimmten Körperumfang ausgelegt sind, sodass hochgradig adipöse Patienten medizinische Leistungen nur verzögert oder in ausgewählten Einrichtungen in Anspruch nehmen können. Ebenso bedeuten massiv adipöse Patienten einen deutlich erhöhten Personalaufwand, beispielsweise um den Patienten im Bett zu lagern. Die Ätiologie der Adipositas besteht in einem Missverhältnis von zu hoher angebotener Energiemenge und relativ gesehen zu wenig benötigter Energie. Der in früheren Zeiten wichtige Evolutionsvorteil, Nahrungsmittelengpässe durch Anlage von Energiereserven in Form von Fett zu überbrücken, ist in der heutigen Zeit nicht mehr notwendig. Gleichzeitig wächst das Risiko für Adipositas durch bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen. Einerseits werden viele Lebensmittel mit hoher Energiedichte konsumiert, andererseits hat die körperliche Aktivität in den letzten Jahrzehnten zugunsten vieler sitzender Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich abgenommen. Während laut Münsteraner Alltags Aktivitäts Studie aus dem Jahr 2009 die durchschnittliche Gehstrecke im Jahr 1900 bei etwa 20 Kilometern pro Tag lag, werden diese Werte nur noch von wenigen Berufstätigen (Postbote: 13,5 km/ d) erreicht, während andere Berufsgruppen pro Tag weniger als einen Kilometer zurücklegen. Die WHO empfiehlt eine tägliche Wegstrecke von 10.000 Schritten, also von ca. 7 Kilometern. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits bei Kindern ab, da in der Altersgruppe der 3-17-Jährigen bereits 15 % übergewichtig und 6 % adipös sind. Bekannte Risikofaktoren sind neben einer genetischen Disposition insbesondere Schlafmangel und die Zugehörigkeit zu einer sogenannten bildungsfernen und einkommensschwachen Bevölkerungsschicht. 3.1.2 Diagnostik Zur Diagnostik der Adipositas wurden neben dem BMI, der die Erkrankung definiert, zahlreiche Maßzahlen eingeführt, wie der Broca- Index, der Ponderal-Index, das Taille-Hüft-Verhältnis, der Bauchumfang, das Taille-zu-Größe-Verhältnis oder auf Hautwiderstandsmessung oder anderen Techniken beruhende Verfahren zur Bestimmungen des Körperfettanteils. <?page no="168"?> 168 Ausgewählte Krankheitsbilder Differentialdiagnostisch sind einige, teils gut behandelbare Erkrankungen auszuschließen, die mit Adipositas einhergehen. So können psychogene Essstörungen, hormonelle Erkrankungen wie eine Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose) oder Nebenwirkungen von Medikamenten ebenfalls eine Adipositas trotz ausgewogener Ernährung verursachen. In diesem Fall wäre nicht eine Ernährungsumstellung, sondern eine Therapie der Grunderkrankung indiziert. Eine Indikation zur Therapie besteht ab Adipositas Grad I oder bei Präadipositas, sofern Gesundheitsstörungen vorliegen, die durch Übergewicht verursacht wurden oder durch Übergewicht verschlimmert werden. Ebenso kann ein hoher psychosozialer Leidensdruck eine Therapie indizieren. Kontraindikationen für eine gewichtsreduzierende Therapie wären eine konsumierende Erkrankung 5 oder eine Schwangerschaft. 3.1.3 Therapeutische Konzepte Die S3-Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft zur Prävention und Therapie der Adipositas empfiehlt je nach Ausgangssituation folgende Behandlungsansätze: Ernährungstherapie Verhaltensmodifikation Steigerung körperlicher Aktivität Gewichtsreduktionsprogramme gewichtssenkende Medikamente bariatrische Chirurgie (Adipositaschirurgie) Die Ernährungstherapie besteht in einer individuellen Anpassung der eigenen Ernährung. Zur Erreichung eines nachhaltigen Effektes sollte ein tägliches Kaloriendefizit von 500 Kilokalorien (kcal) über einen Zeitraum von 12 bis 24 Wochen angestrebt werden. Die in Boulevardzeitungen angepriesenen Diäten, die binnen Tagen einen Gewichtsverlust versprechen, sind nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht nachhaltig („Jojo-Effekt“) und teilweise gesund- 5 Konsumierende Erkrankungen gehen mit Gewichtsverlust einher, daher sind weitere gewichtsreduzierende Maßnahmen kontraindiziert. <?page no="169"?> Adipositas 169 heitsschädlich. In zahlreichen Metaanalysen konnte ein gewichtsreduzierender Effekt durch Ernährungstherapie von zwei bis sechs Kilogramm nachgewiesen werden. Obgleich die Zusammensetzung der Makronährstoffe (Proteine, Kohlehydrate, Fette) Bibliotheken von Ernährungsratgebern füllt, zeigen bisherige Studien, dass die Gewichtsreduktion völlig unabhängig vom Anteil der jeweiligen Makronährstoffe ist. Da Ernährungsgewohnheiten häufig assoziiert sind mit bestimmten suboptimalen Verhaltensweisen (Frustessen, Essen als Belohnung bei niedrigem Selbstwertgefühl etc.), können, je nach individueller Situation, verschiedene psychotherapeutische Elemente eine vor allem dauerhafte Gewichtsreduktion unterstützen. Die Steigerung der körperlichen Aktivität kann die Gewichtsreduktion unterstützen und anderen aufgrund von Bewegungsmangel auftretenden Erkrankungen vorbeugen. Es werden körperliche Aktivitäten von mehr als 150 Minuten pro Woche bei einem Verbrauchsziel von 1.200 bis 1.800 kcal/ Woche empfohlen. Hierbei sollen bevorzugt große Muskelgruppen mittleren bis hohen, lange andauernden Belastungen ausgesetzt werden. Der Effekt der Steigerung körperlicher Aktivität wird im Gegensatz zum Effekt der Ernährungsumstellung jedoch überschätzt. Eine Cochrane-Übersichtsarbeit mit 3.476 Patienten in 43 randomisiert-kontrollierten Studien, die den Effekt eines einjährigen Ausdauertrainings auf das Körpergewicht untersucht haben, zeigte im Mittel einen Gewichtsverlust von „nur“ zwei Kilogramm, da durch die Steigerung körperlicher Aktivität auch Muskelaufbau betrieben wird, der wiederum eine Gewichtszunahme nach sich zieht. Gewichtsreduktionsprogramme stellen eine Kombination verschiedener gewichtsreduzierender Maßnahmen dar. So werden in bestimmten Programmen beispielsweise Ernährungsumstellung und Gruppensitzungen als verhaltenstherapeutisches Element miteinander kombiniert. Die Studienergebnisse zeigen in allen kommerziellen Programmen eine teilweise deutliche Gewichtsreduktion. Allerdings sind viele Ergebnisse selektiv dargestellt und beinhalten eine Abbruchquote zwischen 15 % und 50 % aller beginnenden Patienten, was den Grad der Empfehlung ebenfalls einschränkt. <?page no="170"?> 170 Ausgewählte Krankheitsbilder Gewichtsreduzierende Medikamente sollten nur in Kombination mit den bisher beschriebenen Basismaßnahmen erfolgen, sofern Risikofaktoren oder Begleiterkrankungen vorliegen oder die Basistherapie bislang frustran verlaufen ist. Bestimmte Arzneimittel wie Amphetamie, Diuretika, Testosteron, Thyroxin können wegen eines inakzeptablen Nutzen-Risiko-Verhältnisses nicht empfohlen werden. Ebenso findet sich für kein vertriebenes Medizinprodukt und kein Nahrungsergänzungsmittel bislang ein Nachweis der Wirksamkeit, sodass gemäß der zitierten S3-Leitlinie auch diese Maßnahmen nicht empfohlen werden können. Die bariatrische Chirurgie kann durch operative Verkleinerung des Magens oder ein um den Mageneingang gelegtes Band ebenfalls als gewichtsreduzierende Maßnahme eingesetzt werden. Die primäre Indikation zur Operation ist jedoch nur gegeben, sofern die konservative Therapie mit allen anderen beschriebenen Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg hat, ein BMI > 50 kg/ m² und schwierige psychosoziale Umstände (z. B. Immobilität, hoher Insulinbedarf) vorliegen oder Begleiterkrankungen keinen Aufschub der Gewichtsreduktion dulden. Darüber hinaus kann sekundär eine OP-Indikation bei anderen Konstellationen gestellt werden. 3.1.4 Primärpräventive Maßnahmen Es wird derzeit kontrovers diskutiert, ob Präadipositas tatsächlich einen Krankheitswert besitzt und daher behandlungsbedürftig ist, da in bestimmten Situationen in Studien die Lebenserwartung sogar höher als bei Normalgewichtigen war. Eine Adipositas ist jedoch in jedem Fall eine behandlungsbedürftige chronische Erkrankung. Die wirksamste Maßnahme besteht in der Primärprävention der Adipositas durch Kost mit niedriger Energiedichte (hoher Wasser-und Ballaststoffgehalt, Vollkornprodukte und bestimmte Obst- und Gemüsesorten), ausreichende körperliche Aktivität und ausreichenden Schlaf. Die Behandlung von Adipositas wird jedoch auch aufgrund global steigender Prävalenz zunehmend eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. So wird in einigen Regionen bereits eine Steuer auf hochkalorische Getränke erhoben (z. B. in Dänemark, Frankreich, Finn- <?page no="171"?> Diabetes mellitus 171 land, Mexiko und Ungarn) und umfangreiche Aufklärungskampagnen versuchen, vor den Gefahren der Adipositas zu warnen. Lesetipps ∣ Literatur und Websites S3-Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft zur Prävention und Therapie der Adipositas . Stand: 2014. Im Internet unter: http: / / www.adipositasgesellschaft.de/ fileadmin/ PDF/ Leitlinien/ 050- 001l_S3_Adipositas_Praevention_Therapie_2014-11.pdf Kurth, B.-M. (2012): Erste Ergebnisse aus der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS). Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 55. S. 980-90. World Health Organization (2000): Obesity - preventing and managing the global epidemic . Report of a WHO Consultation on obesity. Technical Report Series 894. Genf. Im Internet unter: http: / / www.who.int/ nutrition/ publications/ obesity/ WHO_TRS_89 4/ en/ 3.2 Diabetes mellitus 3.2.1 Kontext der Erkrankung Der Begriff Diabetes mellitus ( Zuckerkrankheit ) umschreibt mehrere Erkrankungen, die mit einem erhöhten Blutzuckerspiegel einhergehen. Die Bezeichnung setzt sich aus den griechischen Worten dia (hindurch) und bainein (fließen) sowie dem lateinischen Wort mellitus (honigsüß) zusammen. Die somit entstehende Bezeichnung „ honigsüßer Durchfluss “ wurde gewählt, da Patienten mit hohem Blutzuckerspiegel ab einem gewissen Blutzuckerwert überschüssige Glukose über den Urin ausscheiden, was einerseits zu gesteigerter Urinproduktion, andererseits zum süßlichen Geschmack des Urins führt, einem in der Antike gängigen diagnostischen Kriterium. Ne- <?page no="172"?> 172 Ausgewählte Krankheitsbilder ben Diabetes mellitus existiert auch noch ein Diabetes insipidus (ohne Geschmack), der jedoch völlig anderen Ursprungs ist. Diabetes mellitus (DM) hat sowohl medizinisch als auch ökonomisch eine hohe Relevanz. Es handelt sich um eine chronische Erkrankung mit großem Potenzial für gravierende Langzeitschäden an vielen Organen und einem intersektoralen Behandlungsbedarf, da neben der ambulanten hausärztlichen Therapie bei Entgleisungen des Blutzuckers stationäre Aufnahmen oder sogar notfallmedizinische Behandlungen erforderlich sein können. Aus den möglichen Langzeitkomplikationen (z. B. Erblindung, Amputationen, Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Nierenfunktionsausfall) ergeben sich eine erhöhte Sterblichkeit, eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität und hohe Behandlungskosten für das Gesundheitssystem. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass die Erkrankung lange Zeit ohne nennenswerte Beschwerden verläuft und damit keinen Handlungsdruck erzeugt, die Spätkomplikationen in aller Regel aber nicht mehr umkehrbar sind. Die Prävalenz der Erkrankung beträgt laut DEGS1- Studie in Deutschland 7,2 % und steigt in der Altersgruppe > 70 Jahre auf über 20 % an. Ebenso scheint die Prävalenz bei Patienten mit niedrigem Sozialstatus deutlich erhöht gegenüber Patienten mit hohem Sozialstatus (11,6 % vs. 3,0 %). Diabetes mellitus tritt häufig in Kombination mit Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen auf, was als Metabolisches Syndrom bezeichnet wird. Diabetes mellitus wird allgemein in zwei verschiedene in → Tabelle 10 dargestellte Typen unterschieden, die durch Sonderformen wie beispielsweise Diabetes mellitus in der Schwangerschaft (Gestationsdiabetes) und andere, meist vorübergehende Blutzuckerverwertungsstörungen ergänzt werden. Aus den in → Kapitel 2.5.2.2 genannten Kriterien wurden sowohl für DM Typ 1 als auch DM Typ 2 Disease- Management-Programme entwickelt. Für die Prävention und Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 existieren zudem Nationale Versorgungsleitlinien. Grundlage aller DM-Formen ist eine gestörte Aufnahme von Glukose in die Körperzellen, für die zum einen das in der Bauchspeicheldrüse produzierte Hormon Insulin , zum anderen die in den Körperzellen vorhandenen Insulinrezeptoren vorhanden sein müssen. <?page no="173"?> Diabetes mellitus 173 Diabetes mellitus Typ 1 Typ 2 alternative Bezeichnungen Jugenddiabetes insulinpflichtiger Diabetes (IDDM 6 ) Altersdiabetes nicht insulinpflichtiger Diabetes (NIDDM 7 ) Ätiologie Infektionen, Autoimmunreaktion bzw. ohne erkennbare Ursache (ideopathisch) ausgelöst durch Risikofaktoren Bluthochdruck, Übergewicht, Rauchen/ Alkoholkonsum, Schlaf- und Bewegungsmangel, erhöhte Cholesterinwerte und eine genetische Veranlagung Pathogenese Zerstörung insulinproduzierender Langerhanszellen der Bauchspeicheldrüse mit primärem Insulinmangel Abnahme der Insulinsensibilität in Körperzellen bei gleichzeitig gesteigerter Insulinproduktion (Insulinresistenz) Anteil an allen Diabeteserkrankungen ca. 10 % Erstauftreten vorwiegend im Kindes- und Jugendalter ca. 90 % Erstauftreten mit zunehmendem Alter Primärprävention möglich bisher nicht für zahlreiche Risikofaktoren gut möglich Therapiekonzept Insulinsubstitution Stufentherapie Tab. 10: Unterscheidung von Diabetes mellitus Typ 1 und 2 Die Klassifikation des Diabetes mellitus erfolgt anhand der in → Tabelle 11 dargestellten WHO-Kriterien. Hierzu wird neben einer Messung des venösen Blutzuckers in Nüchternheit auch eine Messung des Blutzuckers zwei Stunden nach oraler Einnahme einer definierten Menge an Glukose als Oraler Glukosetoleranztest (oGTT) 6 IDDM: Insulin Dependant Diabetes Mellitus 7 NIDDM: Non-Insulin Dependant Diabetes Mellitus <?page no="174"?> 174 Ausgewählte Krankheitsbilder durchgeführt, um die Kapazität des Körpers zur Verwertung aufgenommener Zuckermengen zu überprüfen. Einstufung Nüchternblutzucker venös/ plasmareferenziert Blutzucker im oGTT nach zwei Stunden venös normal < 110mg/ dl < 6,1mmol/ l < 140mg/ dl < 7,8mmol/ l abnorme Nüchternglukose (IFG) ≥ 110 - < 126mg/ dl ≥ 6,1 - < 7,0mmol/ l < 140mg/ dl < 7,8mmol/ l gestörte Glukosetoleranz (IGT) < 126mg/ dl < 7,0mmol/ l ≥ 140 - < 200mg/ dl ≥ 7,8 - < 11,1mmol/ l Diabetes mellitus ≥ 126 mg/ dl ≥ 7,0 mmol/ l ≥ 200 mg/ dl ≥ 11,1mmol/ l Tab. 11: WHO-Kriterien zur Definition des Diabetes mellitus 3.2.2 Diagnostik Neben der Erstdiagnostik eines Diabetes mellitus sind in regelmäßigen Abständen Folgeuntersuchungen zur Einschätzung der Wirksamkeit eingeleiteter Maßnahmen, verbunden mit der Risikoabschätzung oder Entdeckung von Folgeschäden, erforderlich. Hierzu sind bei DM Typ 2 folgende Maßnahmen durchzuführen: Anamnese inkl. Familienanamnese inkl. aktueller Beschwerden körperliche Untersuchung, auch auf typische Folgeerkrankungen Bestimmung von Laborwerten, insbes. Blutzucker und HbA 1c technische Untersuchungen, z. B. EKG und Augenuntersuchung Der HbA 1c -Wert beschreibt den Anteil der roten Blutkörperchen (Erythrozyten), deren roter Blutfarbstoff (Hämoglobin) an Glukose gebunden wurde (glykosiliertes Hämoglobin). Aufgrund der Lebenszeit der Erythrozyten von etwa acht Wochen ermöglicht der HbA 1c - Wert eine Aussage über den Verlauf der Blutzuckerwerte der letzten 4 bis 12 Wochen und wird daher auch als Langzeitblutzuckermessung oder Blutzuckergedächtnis bezeichnet. <?page no="175"?> Diabetes mellitus 175 3.2.3 Insulinsubstitution/ Stufentherapie Die Therapie des Diabetes mellitus Typ 1 erfolgt durch künstliche Zufuhr (Substitution) von Insulinen verschiedener Wirkdauer. Dabei kommen kurzwirksame Insuline unmittelbar vor Mahlzeiten und Insuline mit Langzeitwirkung zur kontinuierlichen Senkung des Blutzuckerspiegels zur Anwendung. Insulin kann nicht in Tablettenform aufgenommen werden, sondern muss ins Unterhautfettgewebe gespritzt werden. Die Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 wiederum erfolgt in Form einer Stufentherapie , an deren Anfang individuelle Therapieziele zur Prävention von Folgekomplikationen mit dem Patienten vereinbart werden. Diese unterscheiden sich wie in → Tabelle 12 dargestellt in übergeordnete Lebensziele, funktionsbezogene Ziele und krankheitsbezogene Ziele. Ziel-Kategorien beispielhaft ausgewählte Ziele mögliche ermutigende Fragen übergeordnete Lebensziele „fundamental goals“ Erhalt und Wiederherstellung der Lebensqualität Teilhabe am Leben erhalten Unabhängigkeit erhalten Verhinderung vorzeitiger Mortalität „Wenn Sie an Ihren Diabetes denken, was ist Ihnen dann für Ihr Leben besonders wichtig? “ funktionsbezogene Ziele „functional goals“ Sehkraft erhalten, Auto fahren Tätigkeiten alleine verrichten können (Gehstrecke erhalten) Arbeitsplatz erhalten Minimierung der Belastung und der Nebenwirkungen durch die Therapie Sexualität erhalten „Wenn Sie an mögliche Einschränkungen durch Ihren Diabetes denken, was möchten Sie dann erreichen? “ „Welche Aktivitäten möchten Sie gern weitermachen können? “ <?page no="176"?> 176 Ausgewählte Krankheitsbilder krankheitsbezogene Ziele „disease specific goals“ Schmerzen lindern besser schlafen bessere Stoffwechsel- Kontrolle kein schlechtes Gewissen beim Essen Folgeschäden vermeiden (Nierenfunktion erhalten, Blasenfunktion erhalten, keine Vorlagen benötigen) „Wenn Sie an Ihren Diabetes denken: Welche Beschwerden oder Aspekte Ihrer Erkrankung möchten Sie verändern? “ * Die Tabelle erhebt keinen Anspruch darauf, alle potenziellen Krankheitsziele bei einer komplexen Erkrankung wie Diabetes abzubilden Tab. 12: Ziel-Kategorien und Beispiele aus Sicht des Menschen mit Typ-2-Diabetes Quelle: in Anlehnung an NVL Diabetes mellitus, 2. Auflage, März 2021 Die Behandlung eines DM Typ 2 beginnt mit der sogenannten Basistherapie , bestehend aus Schulung des Patienten, Ernährungstherapie, Steigerung der körperlichen Aktivität, Raucher-Entwöhnung und ggf. weiteren Maßnahmen je nach Begleiterkrankungen. Sofern der vereinbarte Zielwert des HbA 1c -Wertes erreicht wird, muss unter Beibehaltung der Basistherapie auf die jeweils nächsthöhere Therapiestufe eskaliert werden. Die zweite Stufe besteht nach Abschätzung des Risikos für diabetesassoziierte Erkrankungen entweder in der Gabe des blutzuckersendkenden Medikamentes Metformin in Tablettenform (orales Antidiabetikums) oder einer Kombination aus Metformin und SGLT2-Hemmer bzw. GLP-1-RA. Sollte das Therapieziel innerhalb von 3-6 Monaten nicht erreicht werden, soll eine Überprüfung der Therapiestrategie und des Therapieziels in partizipativer Entscheidungsfindung erfolgen. Es besteht dann auch die Möglichkeit, weitere Medikamente hinzuzufügen oder die Therapie zu intensivieren und falls nötig auch Insulin zu spritzen. 3.2.4 Prognose und Perspektiven Wie in → Kapitel 2.5.4 beschrieben, zeichnet sich durch Einführung von DMPs für Diabetes-mellitus-Patienten mit einer leitliniengestützten Therapie sowie Schulungsprogrammen zur Vermeidung von <?page no="177"?> Diabetes mellitus 177 Langzeitschäden einerseits eine Verbesserung der Behandlung ab. Andererseits deuten epidemiologische Untersuchungen auf eine deutliche Zunahme der Prävalenz hin. Dies kann zum einen durch den demographischen Wandel, zum anderen durch die Zunahme eines ungesunden Lebensstils begründet sein, sodass insbesondere der Stärkung primärpräventiver Maßnahmen eine erhöhte Bedeutung zukommen sollte. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Faktenblatt der DEGS1-Studie zur Prävalenz von Diabetes mellitus . Im Internet unter: https: / / www.rki.de/ DE/ Content/ Gesundheitsmonitoring/ Gesund heitsberichterstattung/ GBEDownloadsF/ degs1/ Diabetes_mellitus.pdf Nationale Versorgungsleitlinien für Diabetes mellitus Typ 2 . Im Internet unter: http: / / www.leitlinien.de/ nvl/ diabetes World Health Organization (2006): Definition and Diagnosis of Diabetes Mellitus and Internediate Hyperglycemia . Genf. Im Internet unter: http: / / www.who.int/ diabetes/ publications/ Definition %20and%20diagnosis%20of%20diabetes_new.pdf Deutsche Diabetes-Hilfe (2019): Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2019 . Im Internet unter: https: / / www.diabetesde.org/ system/ files/ documents/ gesundheits bericht_2019.pdf <?page no="178"?> 178 Ausgewählte Krankheitsbilder 3.3 Arterielle Hypertonie Exkurs ∣ das Herz-Kreislauf-System verstehen Das Herz, ein etwa faustgroßes muskuläres Hohlorgan, pumpt über ein autonomes Reizleitungssystem gesteuert kontinuierlich Blut durch den menschlichen Körper, um so alle Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Dazu zieht ein Blutgefäßsystem durch den menschlichen Körper bestehend aus Arterien (Blutgefäße, die vom Herzen wegführen) und Venen (Blutgefäße, die zum Herzen führen). Der Blutkreislauf besteht aus zwei miteinander in Verbindung stehenden Systemen, dem Lungenkreislauf, der Herz und Lunge zwecks Anreicherung des Blutes mit Sauerstoff in der Lunge und Rücktransport zum Herzen verbindet, und dem Körperkreislauf, der sauerstoffreiches Blut in die Organe und Gewebe transportiert und schließlich wieder am Herzen endet. Durch den Herzschlag wird eine Druckwelle ( Puls ) erzeugt, die den Blutfluss im Körper auch gegen die Schwerkraft ermöglicht. Herzfrequenz und Blutdruck sind mit einfachen Mitteln messbar. Während die Herzfrequenzbestimmung durch Pulsmessung beispielsweise am Handgelenk erfolgt, werden bei der Blutdruckmessung mittels einer Blutdruckmanschette zwei Werte, ein oberer Blutdruckwert ( Systole ) und ein unterer Blutdruckwert ( Diastole ), in der Einheit Millimeter Quecksilbersäule (mmHg) bestimmt. Herzfrequenz und Blutdruck sind von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig, ermöglichen bei Anstieg eine höhere körperliche Leistungsfähigkeit, was in der Evolution bei Flucht oder in einer Kampfsituation einen Vorteil ergab. Jedoch müssen diese Funktionen innerhalb gewisser Ober- und Untergrenzen dauerhaft stabil bleiben, um die Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers und insbesondere die Sauerstoffversorgung des Gehirns zu gewährleisten. <?page no="179"?> Arterielle Hypertonie 179 Abb. 12: Schematische Darstellung des Herz-Kreislauf-Systems Quelle: Al-Abtah, Jallal; Ammann, Angelika; Bensch, Sandra; et al. (2015): I care Pflege, Stuttgart <?page no="180"?> 180 Ausgewählte Krankheitsbilder 3.3.1 Kontext der Erkrankung Als Hypertonus bezeichnet man abgeleitet von den lateinischen Begriffen hyper (über) und tonus (Druck) einen zu hohen Druck in einem System. Im medizinischen Kontext ist der Begriff vor allem für die Beschreibung eines Überdrucks im Blutkreislaufsystem gebräuchlich. Hierbei werden die arterielle Hypertonie als Blutdruckerhöhung im Körperkreislauf, die pulmonale Hypertonie im Lungenkreislauf, die portale Hypertonie im Pfortaderbereich sowie vorübergehende Hypertonien durch Erkrankungen, Medikamenteneinnahme oder als Komplikation in ca. 10 % aller Schwangerschaften unterschieden. Die mit Abstand häufigste Erkrankung, auf die im Folgenden fokussiert werden soll, ist die arterielle Hypertonie (aHT) . Die aHT ist aufgrund ihrer hohen Prävalenz von 44 % in der Altersgruppe der über 35-Jährigen und ihrer enormen möglichen Folgeschäden (Herz- Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle, Diabetes mellitus etc.) eine Volkskrankheit mit hohem medizinischen und ökonomischen Handlungsbedarf. So steigt bei Vorliegen einer unbehandelten Hypertonie das Risiko einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems von 1,4 % auf bis zu 40 % an, wobei diese kardiovaskulären Erkrankungen derzeit die häufigste Todesursache in Deutschland darstellen. Etwa 85 % aller aHTs werden als primär bzw. essentiell bezeichnet, was zum Ausdruck bringen soll, dass keine singuläre Ursache identifiziert und somit nicht kausal behandelt werden kann. In 15 % aller Fälle hingegen, den sekundären Hypertonien, ist eine einzelne Ursache erkennbar, die oft auch kausal behandelbar ist. Die WHO teilt die aHT in drei Grade ein: Grad 1 beschreibt eine aHT ohne Schäden an Endorganen, Grad 2 eine aHT mit Schäden an Endorganen und Grad 3 eine aHT mit kardiovaskulären Folgeerkrankungen. <?page no="181"?> Arterielle Hypertonie 181 Kategorie systolisch (mmHg) diastolisch (mmHg) optimaler Blutdruck < 120 < 80 normaler Blutdruck 120-129 80-84 hoch-normaler Blutdruck 130-139 85-89 milde Hypertonie (Grad 1) 140-159 90-99 mittlere Hypertonie (Grad 2) 160-179 100-109 schwere Hypertonie (Grad 3) ≥ 180 ≥110 isolierte systolische Hypertonie ≥ 140 < 90 Tab. 13: AWMF-Klassifikation der Hypertonie Die Klassifikation der Hypertonie erfolgt anhand des gemessenen Blutdrucks wie beispielsweise bei der AWMF-Klassifikation in → Tabelle 13. Als Risikofaktoren für die Entstehung einer aHT gelten: eine genetische Disposition Rauchen Adipositas Bewegungsmangel Stress hoher Kochsalzkonsum hoher Alkoholkonsum Hieraus wird bereits das hohe primärpräventive Potenzial im Rahmen der persönlichen Lebensführung ersichtlich. Ähnlich wie der Diabetes mellitus Typ 2 im frühen Stadium ist sie allerdings kaum durch nennenswerte Symptome gekennzeichnet, weshalb die aHT auch als Silent Killer bezeichnet wird. Gelegentlich treten bei Bluthochdruck eher unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel, Abgeschlagenheit oder Nasenbluten auf. Bluthochdruckkrisen können sich durch Atembeschwerden, Engegefühl in der Brust (Angina pectoris), einem Klopfgefühl im Brustkorb <?page no="182"?> 182 Ausgewählte Krankheitsbilder ( Palpitationen ), Übelkeit, Sehstörungen, Nervosität oder erhöhtem Harndrang bemerkbar machen. 3.3.2 Diagnostik Im Rahmen der Hypertoniediagnostik kommen neben der Anamnese folgende Untersuchungsverfahren zum Einsatz: Ruheblutdruckmessung (Cave: Weißkitteleffekt 8 ) Auskultation (Herz, Halsschlagadern, Bauchraum) Augenhintergrunduntersuchung (Ophthalmoskopie) Bestimmung verschiedener Laborwerte Untersuchung kardiovaskulärer Risikofaktoren (z. B. Cholesterin, Blutzucker) Elektrokardiogramm (EKG) Herzultraschalluntersuchung (Echokardiografie) Differentialdiagnostisch sind Ursachen der sekundären Hypertonie wie Nierenerkrankungen, Störungen im Hormonhaushalt, Gefäßerkrankungen, Tumoren, psychiatrische Erkrankungen und schmerzbedingte Hypertonien zu unterscheiden. 3.3.3 Therapeutische Konzepte Während sekundäre Hypertonien in erster Linie kausal therapiert werden, sollte bei der primären/ essentiellen aHT in Abhängigkeit der Blutdruckhöhe sowie dem Vorhandensein von Risikofaktoren stratifiziert vorgegangen werden. So empfehlen die Leitlinien der European Society of Hypertension (ESH) und European Society of Cardiology (ESC) aus dem Jahr 2013 ab Hypertension Grad 1 oder hochnormalem Blutdruck und vorhandenen Risikofaktoren grundsätzlich je nach vorhandenem Lebensstil Anpassungen desselben. Hierzu zählen: Reduktion der Kochsalzaufnahme (5-6 g/ d) Reduktion des Alkoholkonsums (♂< 30g/ d; ♀< 20 g/ d) 8 Weißkitteleffekt: Eine durch Aufregung erzeugte, nicht-krankhafte Blutdruckerhöhung, die durch die Untersuchung selbst entsteht. <?page no="183"?> Arterielle Hypertonie 183 Verzicht auf Nikotin ausgewogene Ernährung mit Obst, Gemüse und fettarmen Lebensmitteln Reduktion des Körpergewichts (BMI 25 kg/ m²) Reduktion des Körperumfangs ( ♂< 102cm; ♀< 88 cm) moderates körperliches Training (30 min. 5-7 d/ Woche) Sofern diese Änderungen nicht ausreichen, um einen normalen bzw. hoch-normalen Blutdruck zu erreichen, wird eine blutdrucksenkende ( antihypertensive ) Therapie begonnen. Hierbei kommen verschiedene Medikamentengruppen zum Einsatz, die je nach Beschwerden in die Steuerung von Herzfrequenz oder Blutgefäßwiderstand oder die hormonelle Blutdruckregulation eingreifen. Ziel sollte in jedem Fall ein systolischer Blutdruckwert < 140 mmHg und ein diastolischer Wert < 90 mmHg sein. 3.3.4 Prognose Durch adäquate antihypertensive Therapie kann die Inzidenz hypertonieassoziierter Folgeerkrankungen deutlich reduziert werden. So ergab eine Meta-Analyse von 123 randomisierten kontrollierten Studien durch Ettehad und Kollegen aus dem Jahr 2016 eine Senkung der Gesamtsterblichkeit durch antihypertensive Therapie um 13 %. Allerdings erreichen nicht alle Patienten unter leitliniengerechter Therapie normale Blutdruckwerte. Lesetipps ∣ Literatur und Websites ESC Pocket Leitlinien zur Therapie der arteriellen Hypertonie . Im Internet unter: http: / / leitlinien.dgk.org/ files/ 2014_Pocket- Leitlinien_Arterielle_Hypertonie.pdf Ettehad, D. et al. (2016): Blood pressure lowering for prevention of cardiovascular disease and death: a systematic review and meta-analysis . Lancet 2016; 387: 957-67 <?page no="184"?> 184 Ausgewählte Krankheitsbilder 3.4 Akutes Koronarsyndrom 3.4.1 Kontext der Erkrankung Das Herz wird wie alle Muskeln im menschlichen Körper über den Blutkreislauf mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Hierzu entspringen aus der Hauptschlagader ( Aorta ) Blutgefäße, die sich wie ein Kranz um den Herzmuskel verteilen und daher auch als Herzkranzgefäße bezeichnet werden. Kommt es zu einer Verengung oder gar einem Verschluss eines dieser Gefäße ( Infarkt ), wird das dahinterliegende Muskelgewebe durch verminderten Blutfluss nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, was als Ischämie bezeichnet wird. Da es sich bei dem unterversorgten Gewebe um Muskulatur handelt, ist neben dem Begriff Herzinfarkt auch die Bezeichnung Myokardinfarkt geläufig, abgeleitet von den lateinischen Wortbestandteilen myo (Muskel) und kardio (Herz). Hierdurch kann die betroffene Muskulatur sich nicht mehr im erforderlichen Umfang am Zusammenziehen des Herzmuskels (Herzkontraktion) beteiligen. Je größer das betroffene Gebiet ist, desto gravierender ist die Reduktion der Herzleistung. Im schlimmsten Fall kommt es zu einem Herz-Kreislaufstillstand, der zu einer Unterversorgung aller Körperzellen, insbesondere der Nervenzellen im Gehirn führt. Während die Ischämie-Toleranz des Herzmuskelgewebes ca. 15-30 Minuten beträgt, führt ein Herz-Kreislaufstillstand unbehandelt binnen weniger Minuten zur irreparablen Schädigung des Gehirns und schließlich zum Tod des Patienten. Der Herzinfarkt ist somit ein absoluter medizinischer Notfall. Die Prävalenz der Erkrankung in Deutschland beträgt 300/ 100.000 Einwohnern/ Jahr, was einer jährlichen Zahl von etwa 280.000 Herzinfarkten entspricht. Die Sterblichkeitsrate bei Herzinfarkt beträgt ca. 20 %, wobei sie mit zunehmendem Alter des Infarktpatienten steigt. Zusammen mit der Koronaren Herzkrankheit (KHK) ist der Herzinfarkt die häufigste angegebene Todesursache in Deutschland. Die jährlichen Therapiekosten belaufen sich laut Weißbuch Herz 2013 des IGES 9 im deutschen Gesundheitssystem auf ca. 1,84 Milliarden Euro und sind zwischen 2002 9 IGES: Institut für Gesundheits- und Sozialforschung <?page no="185"?> Akutes Koronarsyndrom 185 und 2008 überproportional zu Therapien anderer Erkrankungen um 74 % gestiegen. Die aktuelle Klassifikation des Herzinfarktes erfolgt in Abgrenzung zu vorübergehender Brustenge ( Angina pectoris ), die als pektorale Beschwerden von weniger als 20 Minuten Dauer definiert sind. Beschwerden längerer Dauer gelten als Akutes Koronarsyndrom (ACS 10 ) , das wiederum aufgeteilt wird je nach den in → Abbildung 13 dargestellten EKG-Befunden eingeteilt in: Herzinfarkt mit ST-Streckenhebung (STEMI 11 ) Instabile Angina pectoris Herzinfarkt ohne ST-Streckenhebung (NSTEMI 12 ) Abb. 13: EKG im Normalbefund und bei STEMI Die Risikofaktoren haben einen hohen Deckungsgrad zu den in den → Kapiteln 3.1, → 3.2 und → 3.3 genannten Ursachen. Hierunter fallen: Patientenalter, Rauchen, Hypertonie, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, Adipositas, Bewegungsmangel, Stress und geneti- 10 ACS: engl. Acute Coronary Syndrom 11 STEMI: ST-Elevation Myocardial Infarction 12 NSTEMI: Non- ST-Elevation Myocardial Infarction P-Welle QRS-Komplex ST-Strecke P Q R S T T-Welle ST-Strecke P Q R S T Normalbefund ST-Streckenerhöhung <?page no="186"?> 186 Ausgewählte Krankheitsbilder sche Veranlagung. Männer sind zudem häufiger vom ACS betroffen als Frauen. Durch die genannten Risikofaktoren kommt es im Bereich der Herzkranzgefäße zu einer Verkalkung und damit einhergehenden Verengung der Gefäße. Löst sich ein Teil der Ablagerungen oder gelangt ein Blutgerinnsel (Thrombus) in die Herzkranzgefäße, kann es zum Infarkt kommen. Ebenso verschlimmert ein reflektorisches Zusammenziehen der Herzkranzgefäße (Koronarspasmus) bei Sauerstoffmangel das Geschehen. Symptome des ACS können sein: plötzlich einsetzender Brustschmerz Druckgefühl hinter dem Brustbein (retrosternal) Schmerzausstrahlung in linken Arm, Kiefer oder Rücken möglich Unruhe, Angst Übelkeit Etwa 20 % aller Herzinfarkte verlaufen jedoch „stumm“, ohne charakteristische Symptome. 3.4.2 Diagnostik Die Diagnostik des ACS besteht neben der Anamnese und körperlichen Untersuchung in der Anfertigung eines sogenannten 12- Kanal-EKG s in Ruhe mit ST-Streckenüberwachung - aufgrund moderner Medizintechnik in vielen Regionen bereits im Rettungswagen verfügbar - und der Analyse zahlreicher Laborparameter zur Sicherung bzw. dem Ausschluss einer Myokardischämie bzw. wichtiger Differentialdiagnosen. Aufgrund der räumlichen Beziehung des Herzens zu zahlreichen Organen sind vielfältige Differentialdiagnosen denkbar, die aus Beschwerden des Herzens, der Lunge, des Verdauungsweges, der Gefäße, des Bewegungsapparates, des Gefäßsystems oder gar durch Blutarmut (Anämie) oder Infektionen ausgelöst werden können. Da jedoch nur wenige Differentialdiagnosen annähernd zeitkritisch wie ein ACS sind, werden pektorale Beschwerden bis zum Beweis des Gegenteils als ACS angesehen und dementsprechend überwacht. <?page no="187"?> Akutes Koronarsyndrom 187 3.4.3 Therapeutische Konzepte Je nach Ausprägung des ACS kann neben der rettungsdienstlichen Alarmierung eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durch Laien notwendig sein. Diese einfache aber lebensrettende Maßnahme sollte von jedem Erwachsenen beherrscht werden, da ein entsprechender Notfall jederzeit im Familien- oder Freundeskreis sowie im beruflichen Umfeld auftreten kann. Auch wenn Patienten bei milderen Verläufen noch uneingeschränkt kontaktfähig sind, sollte eine notfallmedizinische Behandlung sofort eingeleitet werden. Die Therapie des ACS sollte bei Myokardinfarkt idealerweise innerhalb der ersten Stunde (golden hour) nach Beginn des Ereignisses beginnen, was wiederum hohe Anforderungen an die präklinische Infrastruktur sowie die Übergabeprozesse an die weiterversorgenden Einrichtungen stellt. Neben der Möglichkeit des Auflösens eines Blutgerinsels kommt insbesondere aufgrund der guten Verfügbarkeit interventioneller Versorgungseinrichtungen eine invasive Wiedereröffnung des Gefäßes mittels Dilatation ( PTCA 13 ) über einen durch die Leistenschlagader eingeführten Katheter mit Ballon und ggf. einer einzusetzenden Gefäßprothese ( Stent ) vielfach als Mittel der Wahl in Betracht. Sollten diese Versuche fehlschlagen, ist eine Eröffnung des Brustkorbes mit einer chirurgischen Intervention durch Einfügen von Umgehungskreisläufen im Bereich der Herzkrankgefäße ( Koronarbypasschirurgie ) indiziert. 3.4.4 Prognose und Präventive Maßnahmen Die Prognose eines Myokardinfarktes galt bis vor ca. 100 Jahren in nahezu allen Fällen als infaust. Mit der Entwicklung blutgerinselauflösender (thrombolytischer) Medikamente und der Ballondilatation, einer Optimierung des prä- und innerklinischen Managements zur Verkürzung der Ischämiezeit, konnte trotz steigender Inzidenz der Erkrankung die Sterblichkeitsrate im letzten Jahrzehnt um ein Drittel reduziert werden. Ein Schwerpunkt weiterer Verbesserungen muss sicher, wie bei Diabetes und Bluthochdruck, im Ausbau der Umsetzung primärpräventiver Maßnahmen liegen. 13 PTCA: Percutaneous Transluminal Coronary Angioplasty <?page no="188"?> 188 Ausgewählte Krankheitsbilder Lesetipps ∣ Literatur und Website Lottmann, K.; Klein, S.; Bleß, H.-H. (2013): Weißbuch Herz . Versorgung des Akuten Koronarsyndroms in Deutschland. Stuttgart. ESC Pocket Leitlinien u.a. zur Therapie des Akuten Koronarsyndroms mit und ohne ST-Streckenhebung . Im Internet unter: https: / / leitlinien.dgk.org/ pocketleitlinie/ 3.5 Schlaganfall 3.5.1 Kontext der Erkrankung Das Gehirn ist das Organ mit der höchsten Durchblutungsrate und dem höchsten Sauerstoff- und Energiebedarf im Verhältnis zur Organmasse. Es wird im Wesentlichen über die Halsschlagadern (Carotis-Arterien) mit Blut versorgt, die sich in ein komplexes System von Blutgefäßen verzweigen, um so die Nervenzellen im Gehirn mit Blut zu versorgen. Kommt es in Folge eines Gefäßverschlusses ( thromboembolisches Ereignis ) oder einer Blutung durch Gefäßverletzung ( Hämorrhagie ) in diesem System zu einer Minderdurchblutung ( Ischämie ) bestimmter Gehirnregionen, wird von einem Schlaganfall bzw. dem englischen Begriff Stroke gesprochen. Der Begriff Schlaganfall leitet sich der von Hippocrates gewählten Bezeichnung Apoplexia ab, die dem griechischen Wort apoplessein (niederschlagen) entspringt. Der Umfang und die Art der Beeinträchtigung bei einem Schlaganfall hängen jeweils vom betroffenen Hirnareal ab. Da Nervenzellen bei Sauerstoffmangel binnen Minuten absterben, kann es bei einem Schlaganfall zu einem massiven, irreparablen, ggf. sogar tödlich verlaufenden Ausfall wichtiger Hirnfunktionen kommen. Zwar verfügt das menschliche Gehirn über etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die durch ca. 100 Billionen Verzweigungen (Synapsen) verbunden sind, aber während eines Schlaganfalls gehen pro Minute <?page no="189"?> Schlaganfall 189 ca. 2 Millionen Nervenzellen zugrunde 14 , durchschnittlich pro Schlaganfall 1,2 Milliarden Neurone. Im Umfeld der unmittelbar betroffenen Neuronen, die in aller Regel nicht zu retten sind, befindet sich minderdurchblutetes Gewebe, das als Penumbra (lat. Halbschatten) bezeichnet wird. Diese Zellen sind ebenfalls vom Absterben bedroht, können aber durch rechtzeitige Therapie gerettet werden. Problematisch ist, dass der betroffene Bereich des Gehirns bei Sauerstoffmangel reflektorisch anschwillt, so umliegendes Gewebe ebenfalls in Mitleidenschaft zieht und ggf. eine hirndrucksenkende Therapie eingeleitet werden muss. Vom Schlaganfall abzugrenzen ist eine vorübergehende (transitorische) Minderdurchblutung, die als Transitorisch Ischämische Attacke (TIA) bezeichnet wird, deren Symptome sich aber innerhalb von 24 Stunden wieder vollständig zurückbilden. In Deutschland sind vom Ischämischen Schlaganfall ca. 180/ 100.000 Menschen jährlich betroffen, wobei ca. 80 % dieser Patienten älter als 60 Jahre sind, während die Inzidenz des hämorrhagischen Schlaganfalls in Deutschland, anders als beispielsweise in Asien mit 20/ 100.000 Menschen jährlich, deutlich geringer als die des Ischämischen Schlaganfalls ist. Insgesamt werden somit ca. 300.000 Patienten mit Schlaganfall und ca. 100.000 Patienten mit TIA behandelt. Da ein Drittel der überlebenden Patienten bleibende Gesundheitsschäden erleidet, zählt der Schlaganfall wie auch das Akute Koronarsyndrom daher zu den absoluten und zeitkritischen medizinischen Notfällen. Die ökonomischen Kosten des Schlaganfalls sind ebenfalls erheblich, da einerseits bei Schlaganfällen junger Patienten lange Zeiten der Arbeitsunfähigkeit entstehen können und andererseits die Folgekosten durch Arbeitsunfähigkeit, medizinisch wie beruflicher Rehabilitation oder dauerhafte Pflegebedürftigkeit der Patienten immens sind. Die Risikofaktoren des Schlaganfalls beinhalten modifizierbare und nicht modifizierbare Risikofaktoren, die einen hohen Deckungsgrad mit denen bereits vorgestellter Krankheitsbilder aufweisen: Zu den nicht modifizierbaren Faktoren zählen genetische Veranlagung, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter. Die modifizierbaren Risikofaktoren sind Hypertonie, Nikotinkonsum, 14 Dies entspricht hintereinander gereiht einer Länge von ca. 7000 Kilometern bzw. der Distanz Berlin-Peking. <?page no="190"?> 190 Ausgewählte Krankheitsbilder ein erhöhter Cholesterinspiegel im Blut, Diabetes mellitus, Adipositas und bestimmte Herzrhythmusstörungen. Typische in der Regel plötzlich auftretende Anzeichen eines Schlaganfalls können je nach betroffener Hirnregion sein: einseitige Lähmung einer Körperseite, Gesichtshälfte (herabhängender Mundwinkel), eines Arms oder Beins einseitiges Taubheitsgefühl in Arm, Bein oder Gesichtsbereich Sehstörungen bis hin zur vorübergehenden Erblindung Sprechstörungen bis hin zum Verlust des Sprachvermögens verminderte Ausdrucksfähigkeit (z. B. sinnlose Äußerungen, Wortfindungsstörungen) Störung des Sprachverständnisses (Anweisungen können nicht umgesetzt werden) Gleichgewichtsstörungen Schwindel Bewusstlosigkeit starke Kopfschmerzen (vor allem bei Hämorrhagischem Schlaganfall) 3.5.2 Diagnostik Die Diagnostik sollte unter dem Leitsatz „ time is brain “ so zügig wie möglich erfolgen. Da die Therapie eines Ischämischen Schlaganfalls (Auflösen des Blutgerinsels, Hemmung der Blutgerinnung) grundsätzlich entgegengesetzt verläuft als bei einem Hämorragischen Schlaganfall (Stoppen der Blutung), muss vor Einleitung der Therapie durch ein bildgebendes Verfahren die Ursache des Schlaganfalls festgestellt werden. Dies kann mittels einer sehr schnell durchzuführenden Computertomographie (CT) oder der noch aussagekräftigeren Magnetresonanztomographie erfolgen, die allerdings deutlich länger dauert als ein CT. Zur weiteren Diagnostik zählen je nach Schwere der Erkrankungen und Befund in der Bildgebung neben der Anamnese die klinischeneurologische Untersuchung, bestimmte Blutwerte, Doppler-/ Duplex- <?page no="191"?> Schlaganfall 191 sonographie, EKG, Echokardiographie, Lumbalpunktion, Angiographie und ggf. Elektroencephalogramm (EEG). Mit Hilfe der Basisdiagnostik können neben der Unterscheidung eines ischämischen und eines hämorrhagischen Schlaganfalls folgende Differentialdiagnosen bestätigt bzw. ausgeschlossen werden: Sinus-/ Venenthrombose, epileptischer Krampfanfall mit sogenannter TODD Parese, Unterzuckerung (Hypoglykämie), hypertensive Krise, komplizierte Migräne, Meningitis/ Enzephalitis sowie psychische Störungen. Aufgrund der zeitkritischen Therapieindikation sollte jeder Verdacht eines Schlaganfalls so schnell wie möglich diagnostiziert und bei Vorliegen eines Schlaganfalls schnellstmöglich therapiert werden. Hierzu wurden in Deutschland besonders ausgestattete Stroke Units etabliert, in denen sowohl Diagnostik als auch Therapie rund um die Uhr, sowohl personell als auch strukturell zeitnah gewährleistet werden. 3.5.3 Therapeutische Konzepte Die Basistherapie des Schlaganfalls besteht in der kontinuierlichen und intensiven Überwachung der Körperfunktionen des Patienten mit dem Ziel, beispielsweise Körpertemperatur und Blutzuckerspiegel im Normbereich zu halten. Eine Vorbeugung vor Blutgerinseln (Thromboseprophylaxe) ist ebenfalls indiziert. Besteht bei einem ischämischen Schlaganfall die Möglichkeit, die Behandlung innerhalb von viereinhalb Stunden nach dem Ereignis (oder der letzten beobachteten normalen Situation) durchzuführen, kann eine blutgerinselauflösende Therapie ( Lyse ) versucht werden, um den verschlossenen Teil des Blutgefäßsystems wieder zu öffnen. Die mechanische Entfernung von Thromben durch das Gefäßsystem wie im Fall der in → Kapitel 3.4.3 beschriebenen PTCA ist mittlerweile bei einer Subpopulation der ischämischen Schlaganfälle ein etabliertes Verfahren, das in Kombination mit der intravenösen Lysetherapie in einem interventionellen neuroradiologischen Zentrum erfolgen sollte. Bei einem hämorrhagischen Schlaganfall hingegen wäre eine Lysetherapie tödlich. Hier stehen neben der konservativen Therapie zur Senkung des Hirndrucks die operative Entlastung der Blutung und <?page no="192"?> 192 Ausgewählte Krankheitsbilder im Verlauf der Verschluss der Blutungsquelle im Vordergrund. Dieser kann bei einer häufig ursächlichen Gefäßaussackung ( Aneurysma ) je nach Lage und Größe durch Setzen eines vom Aussehen einer Wäscheklammer ähnelnden Verschlusses ( Clipping ) oder durch Füllung des Aneurysmas mittels Spiraldrähten aus Platin ( Coiling ) erfolgen. Die allgemeine anschließende Therapie besteht in der Vermeidung sekundärer Komplikationen wie Schluckstörungen, Harnverhalt oder neue Thrombosen durch entsprechende Maßnahmen wie der Anlage einer Magensonde, eines Blasendauerkatheters und der optimalen Einstellung des Blutgerinnungssystems. Ebenso sollte so früh wie möglich mit der medizinischen Rehabilitation des Patienten begonnen werden, um verlorengegangene Körperfunktionen und damit die weitgehende Selbständigkeit des Patienten wiederzuerlangen. 3.5.4 Prognose und Perspektiven Die Prognose eines Schlaganfalls ist stark von Art und Umfang der Minderdurchblutung abhängig. Ausgedehnte Schlaganfälle, insbesondere große Blutungen, können unmittelbar zum Tod des Patienten oder dauerhaftem Koma führen. Die Sterblichkeit innerhalb des ersten Jahres nach Schlaganfall beträgt aufgrund von Folgekomplikationen ca. 20 % und stellt damit die dritthäufigste Todesursache dar. Das Risiko, innerhalb von fünf Jahren einen weiteren Schlaganfall zu erleiden, liegt bei ca. 14-18 %. Von den 80 % der überlebenden Patienten sind zwei Drittel im ersten Jahr auf fremde Hilfe angewiesen, 15 % müssen sogar in eine Pflegeeinrichtung. Die Einrichtung nach definiertem Mindeststandard ausgestatteter Stroke Units führte gemäß einer Systematischen Cochrane- Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2013 gegenüber der bisherigen Behandlung sowohl zu einer Senkung der Sterblichkeit (ARR 6 %, RRR 26 %, NNT 17) als auch zu einer Reduktion der Pflegebedürftigkeit (ARR 10 %, RRR 16 %, NNT 11) 15 . 15 Zur Interpretation der Studienergebnisse siehe → Kapitel 2.3.6.2 <?page no="193"?> Krebserkrankungen 193 Aufgrund der in Europa hohen Prävalenz ischämischer Schlaganfälle wurde in Berlin das Modelprojekt STEMO 16 zur Verkürzung der Zeit bis zur Durchführung der Lysetherapie initiiert. Kern des Projektes ist ein Rettungswagen, der mit einem CT, Lysemedikamenten und entsprechend geschultem Personal ausgestattet ist, um die Therapie bereits präklinisch beginnen zu können und somit die Folgeschäden noch weiter zu reduzieren. Ob diese Art der Versorgung auch außerhalb eines Ballungsraums wie Berlin sinnvoll einsetzbar ist und die vergleichsweise hohen Ressourcen zum Unterhalt des STEMO rechtfertigt, bleibt jedoch abzuwarten. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Leitlinien-Sammlung der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft e. V. Im Internet unter: http: / / www.dsg-info.de/ leitlinien.html Bericht über den Einsatz des STEMO der Berliner Feuerwehr . Im Internet unter: http: / / www.schlaganfallforschung.de Systematische Cochrane Übersichtsarbeit zum Einfluss einer Versorgung von Schlaganfallpatienten auf einer Stroke Unit in Bezug auf Sterblichkeit und Pflegebedürftigkeit: Review Stroke Unit Trialists' Collaboration . Organised inpatient (stroke unit) care for stroke. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 9. Art. No.: CD000197. DOI: 10.1002/ 14651858.CD000197.pub3 3.6 Krebserkrankungen 3.6.1 Kontext der Erkrankung Eine Krebserkrankung wird in der Medizin definiert durch das Vorliegen einer Gewebeneubildung ( Neoplasie ), die gewisse Kriterien der Bösartigkeit ( Malignität ) erfüllt. Die hieraus entstehende Ge- 16 STEMO: St roke E insatz- Mo bil <?page no="194"?> 194 Ausgewählte Krankheitsbilder schwulst wird mit dem lateinischen Begriff Tumor umschrieben. Der Begriff Krebs leitet sich aus dem griechischen Wort Karkinos (Krebs) ab, der bereits in der Antike für diesen Formenkreis der Erkrankungen verwendet wurde. Zu den ca. 100 verschiedenen Formen Krebsarten zählen: Karzinome Tumoren des Deck-und Drüsengewebes (Epithel), Sarkome Tumoren des Bindegewebes (Mesenchyms), Blastome Tumoren des embryonalen Gewebes Hämoblastosen maligne Erkrankungen des blutbildenden Systems (z. B. Leukämien) Von malignen Neoplasien abzugrenzen und in der Fachwelt nicht als Krebserkrankung angesehen sind gutartige (benigne) Tumore, wie beispielsweise Lipome oder Muttermale. Einige der gutartigen Tumoren können jedoch im Lauf der Zeit zu malignen Neoplasien entarten, wie beispielsweise Adenome des Darms. Maligne Tumoren weisen im Gegensatz zu gutartigen Tumoren je nach Art und Stadium der Erkrankung gewisse Merkmale ( Malignitätskriterien ) auf. Hierzu zählen: Einwachsen in anderes Gewebe über Gewebsgrenzen hinweg (infiltrierendes Wachstum) Zerstörung des umliegenden Gewebes (Gewebsdestruktion) Bildung von Tochtergeschwülsten (Metastasen) über den Blutweg (hämatogen), die Lymphbahnen (lymphogen) oder Körperhöhen (kavitär) <?page no="195"?> Krebserkrankungen 195 Primärtumor (T) regionale Lymphknoten (N) T0 kein Anzeichen eines Primärtumors (z. B. nach Chemotherapie) N0 keine Anzeichen für Lymphknotenbefall Tis Tumor ohne Infiltration der Basalmembran N1 1-3 in der Achsel T1 größte Tumorausdehnung < 2cm N2 4-9 in der Achsel N3 ≥ 10 in der Achsel/ claviculär T2 größte Tumorausdehnung > 2cm aber < 5cm Fernmetastasen (M) T3 größte Tumorausdehnung > 5cm M0 keine Anzeichen für Fernmetastasen T4 jeder Tumor mit direkter Ausdehnung auf Brustwand oder Haut M1 Fernmetastasen vorhanden (meist Lunge, Leber, Knochen) Tab. 14: TMN-Klassifikation am Beispiel Brustkrebs. Die Beurteilung des Ausmaßes einer Krebserkrankung erfolgt nach der von Pierre Denoix Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten TNM- Klassifikation , die für jede Krebsart spezifisch definiert ist und am Beispiel des Brustkrebses in → Tabelle 14 dargestellt wird. Ein Tumor der Brust mit einer größten Ausbreitung von drei Zentimetern, zwei befallenen Lymphknoten in der Achsel, aber ohne erkennbare Fernmetastasen würde als T2 N1 M0 klassifiziert. Krebserkrankungen sind die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland. Die Gesamtinzidenz für eine Krebserkrankung liegt pro Jahr für Frauen bei ca. 350/ 100.000, bei Männern bei ca. 450/ 100.000 und bei Kindern bei ca. 15/ 100.000. Jeder 3. Europäer erkrankt im Lauf seines Lebens mindestens einmal an Krebs. Da Krebserkrankungen mit steigendem Alter zunehmen und das mittlere Erkrankungsalter bei Frauen bei 68 und bei Männern bei 69 Jahren liegt, ist durch die steigende Lebenserwartung und den demographischen Wandel mit einer Zunahme der Erkrankungen zu rechnen. Die Erkrankung kann mit hohen Lebensqualitätseinbußen einhergehen (besonders im Kinderalter) und ist durch Frühkomplikationen im Rahmen der Behandlung (z. B. Ne- <?page no="196"?> 196 Ausgewählte Krankheitsbilder benwirkungen von Chemotherapien) und Spätkomplikationen z. B. durch Rezidivierung der Erkrankung geprägt. Risikofaktoren für Krebserkrankungen können je nach Erkrankung folgende Faktoren sein: genetische Vorbelastung ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht Nikotinkonsum Alkoholkonsum physikalische Schädigung (z. B. Ionisierende Strahlung) chemische Schadstoffe (z. B. Benzol, Luftverschmutzung) Infektionen (z. B. Humanes Papillom Virus) Die WHO stellt in ihrem Faktenblatt Nr. 297 aus dem Jahr 2013 fest, dass 30 % aller Krebstode weltweit durch Beeinflussung der oben genannten Risikofaktoren vermeidbar wären. Der wichtigste vermeidbare Risikofaktor ist hierbei der Nikotinkonsum durch Tabakrauch, der für 22 % aller weltweiten Krebstode und 71 % aller Lungenkrebstodesfälle verantwortlich zu machen ist. Im Rahmen der in → Kapitel 2.8.3 skizzierten Ansätze stoßen Gesundheitssysteme weltweit bei immensen Therapiekosten und teilweise marginalen Lebenszeitgewinnen an ihre finanziellen Grenzen. Tito Fojo und Christine Grady haben im Jahr 2009 in der Zeitschrift Journal of the National Cancer Institute hierzu Folgendes sinngemäß ins Deutsche übersetzt formuliert: <?page no="197"?> Krebserkrankungen 197 Wissen ∣ die 440-Milliarden-Dollar-Frage „Wir müssen uns mit den steigenden Preisen der Krebstherapie auseinandersetzen. Wenn eine Lebenszeitverlängerung von 1,2 Monaten 80.000 US-Dollar kosten darf und damit die Verlängerung eines Lebensjahres den Einsatz von 800.000 USD rechtfertigen würde, dann bräuchte es 440 Milliarden USD, also das 100fache des derzeitigen Budgets des National Cancer Institute, um das Leben jedes der 550.000 Amerikaner, die jährlich an Krebs sterben, um ein Jahr zu verlängern. Und keiner dieser Patienten würde dadurch geheilt.“ 3.6.2 Diagnostische und therapeutische Ansätze Je nach Krebsart kommen zu diagnostischen Zwecken Blutuntersuchungen, bildgebende Verfahren und Biopsien in Betracht. Die durch Biopsien gewonnenen Gewebeproben können mikroskopisch, immunhistochemisch und wie in → Kapitel 2.8.2 beschrieben durch Gensequenzierung untersucht werden. Neben der Diagnosestellung ist vor allem die Feststellung des Krankheitsstadiums, das sogenannte Staging , im Sinne der TNM-Klassifikation entscheidend, da je nach Tumorumfang und Metastasierung unterschiedliche Prognosen resultieren und unterschiedliche Therapieansätze. Dies kann mitunter auch darüber entscheiden, ob eine kurative Therapie noch indiziert ist oder eine Palliativtherapie eingeleitet werden sollte. Je nach diagnostischem Befund kommen eine oder mehrere der folgenden Therapieoptionen zur Anwendung: operative Tumorentfernung (Resektion) Strahlentherapie Medikamenteneinsatz (Chemotherapie u. a.) abwartende Beobachtung („watchful waiting“) palliative, symptomatische Therapie Die Festlegung der geeigneten Therapie auf Basis der vorliegenden Befunde erfordert häufig die Kompetenz mehrerer medizinischer Fachgebiete. Daher erfolgen Diagnosestellung und Festlegung der Therapieoptionen häufig in interdisziplinären Teams, die in organspe- <?page no="198"?> 198 Ausgewählte Krankheitsbilder zifischen Krebszentren organisiert, im Rahmen regelmäßiger Tumorkonferenzen gemeinsam alle Befunde eines Patienten analysieren und eine fachlich abgestimmte Therapieentscheidung treffen. 3.6.3 Prognose und Perspektiven Die Heilungschancen einer Krebserkrankung sind abhängig von Erkrankungsart, Entdeckungszeitpunkt, bisheriger Ausbreitung (Metastasierung, Lymphknotenbefall), Aggressivität des Tumors und Begleiterkrankungen. Aus diesem Grund wurden zahlreiche Screeningprogramme zur Krebsfrüherkennung, beispielsweise bei Brust-, Darm- oder Prostatakrebs, initiiert. Einige Krebsfrüherkennungsprogramme haben nach derzeitiger Studienlage jedoch keinen Vorteil hinsichtlich Überleben oder Lebensqualität erbracht. Als prognostische Maßzahl hat sich die sogenannte Fünf-Jahres-Überlebensrate etabliert, die den Anteil der Patienten beschreibt, die fünf Jahre nach Erstdiagnose noch leben. Ungünstige prognostische Faktoren sind eine Metastasierung (90 % aller Todesfälle sind nicht durch den Primärtumor verursacht), die Fähigkeit des Tumors, eigene Blutgefäße zum besseren Wachstum bilden zu können (Angiogenese), die Unempfindlichkeit gegenüber Sauerstoffmangel (Hypoxietoleranz) und die Fähigkeit, sich als körpereigenes Gewebe tarnen zu können (Immune Escape). Viele tödliche Verläufe kommen durch Folgeerscheinungen der Tumorerkrankung wie Gefäßverschlüsse (Thromboembolien), die starke Abmagerung (Kachexie) oder Infektionen mit Sepsis aufgrund des geschwächten Immunsystems zustande. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Fojo, T.; Grady C. (2009): How much is life worth . Cetuximab, non-small cell lung cancer, and the $440 billion question. Im Internet unter: http: / / www.ncbi.nlm.nih.gov/ pmc/ articles/ PMC2724853 / pdf/ djp177.pdf <?page no="199"?> Asthma bronchiale 199 Website des Krebsinformationsdiensts des Deutschen Krebsforschungszetrums (dkfz). Im Internet unter: https: / / www.krebsinformationsdienst.de/ Website der Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland (GEKID) e. V. Im Internet unter: http: / / www.gekid.de/ 3.7 Asthma bronchiale 3.7.1 Kontext der Erkrankung Asthma bronchiale ist eine chronisch entzündliche Erkrankung der Atemwege eine Überempfindlichkeit (Hyperreagibilität) der Bronchien und eines zeitweiligen Verschlusses ( Obstruktion ) der Atemwege. Der Name der Erkrankung leitet sich vom griechischen Wort Asthma (Atemnot) ab, das gleichzeitig die Hauptbeschwerde des Krankheitsbildes darstellt. In Deutschland leiden ca. 5 % aller Erwachsenen und 3-10 % aller Kinder unter Asthma bronchiale. Die Erkrankung stellt damit die häufigste chronische Erkrankung im Kinderalter dar. Neben der hohen Krankheitslast verursachen insbesondere Exazerbationen der Erkrankung durch notfallmedizinische Behandlung und stationäre Aufnahme hohe Kosten. Aus den genannten Gründen wurden sowohl für Erwachsene als auch in diesem Einzelfall für Kinder Disease-Management-Programme initiiert. Für die Behandlung von Asthma bei Erwachsenen und Kindern existiert außerdem jeweils eine Nationale Versorgungsleitlinie. Die Ursachen der Erkrankung können zum einen in einer allergischen Komponente, zum anderen in häufigen Infektionen der Atemwege (Intrinsisches Asthma) oder einer Mischform aus beiden Formen liegen. Durch die chronische Entzündung der Atemwege verengen sich die Bronchien. Dies geschieht durch Schwellung des Bronchialgewebes, vermehrte Bildung zähflüssigen Schleims und die Anspannung der nicht willkürlich beeinflussbaren glatten Muskulatur, die die Bronchien umgibt. Die Verengung der Bronchien kann zur totalen Obstruktion einzelner Lungenabschnitte führen. Gleichzeitig ist <?page no="200"?> 200 Ausgewählte Krankheitsbilder das Bronchialgewebe gegenüber Reizungen wesentlich empfindlicher und die Funktion der Flimmerhärchen in den Bronchien, die Fremdstoffe kopfwärts zur Entfernung aus der Lunge transportieren sollen, ist herabgesetzt oder aufgehoben. Das durch diese Mechanismen entstehende Asthma bronchiale äußert sich vor allem durch folgende Beschwerden ( Leitsymptome ): wiederholtes Auftreten anfallsartiger, oftmals nächtlicher Atemnot (Dyspnoe) Brustenge Husten mit und ohne Auswurf pfeifende Atemgeräusche („Giemen“), insbesondere beim Ausatmen (expiratorischer Stridor) 3.7.2 Diagnostik Die Diagnostik des Asthma bronchiale erfolgt mittels Anamnese der Symptome, körperlicher Untersuchung, Lungenfunktionsdiagnostik und einer allergologischen Diagnostik. Bei der Lungenfunktionsdiagnostik wird identifiziert, ob es sich wie beim Asthma bronchiale um eine Verlegung der Atemwege (obstruktive Störung) oder um eine Verminderung des zur Verfügung stehenden Lungengewebes (restriktive Störung) handelt. Differentialdiagnostisch müssen zahlreiche Erkrankungen der Lunge, aber auch des Herzens und des Magens oder eine psychosomatische Erkrankung in Betracht gezogen werden, die ähnliche Symptome hervorrufen können wie ein Asthma bronchiale. Die Diagnostik der Erkrankung im Kindesalter gestaltet sich durch die nicht mögliche oder eingeschränkte Mitarbeit bei der Lungenfunktionsprüfung oft schwierig, was die schwankenden Angaben zur Prävalenz der Erkrankung erklärt. Gemäß Nationaler Versorgungsleitlinie Asthma bronchiale sind jedoch im Kindesalter vorübergehende Atemwegsstörung kein Rechtfertigungsgrund für die Diagnose Asthma. 3.7.3 Stufentherapie Die Therapie dieser chronischen Erkrankung verläuft gemäß Nationaler Versorgungsleitlinie nach einem Stufenschema in Abhängig- <?page no="201"?> Asthma bronchiale 201 keit der Beschwerdeintensität wie in → Abbildung 14 am Beispiel des Therapiekonzeptes für Erwachsene dargestellt. Basis jeder Therapiestufe sind die folgenden Elemente zur Beeinflussung von Risikofaktoren für eine Verschlechterung der Erkrankung: Patientenschulung inkl. Selbsthilfetechniken bei Atemnot Körperliches Training Atemphysiotherapie Tabakentwöhnung/ Ermöglichung einer rauchfreien Umgebung Berücksichtigung psychosozialer Aspekte Kontrolle des Körpergewichtes, Gewichtsreduktion bei Adipositas Vermeidung allergieauslösender Substanzen (Allergenkarenz) Regulierung des Innenraumklimas Auf dieser Basistherapie bauen zwei weitere therapeutische Ansätze auf, die je nach Beschwerdebild zum Einsatz kommen. Zum einen können bei akuter Atemwegsobstruktion kurzwirksame Beta2- Mimetika (SABA 17 ) durch Entspannung der glatten Muskulatur im Bereich der Bronchien die Atemwege binnen Sekunden erweitern. Zum anderen kann die Entzündungsreaktion durch Corticosteroide eingedämmt werden. Da Corticosteriode ab einer gewissen Dosis im Körper gravierende Nebenwirkungen verursachen, wird, sofern möglich, statt der Einnahme von Tabletten die Verabreichung von Inhalativen Corticosteroiden (ICS) bevorzugt, da sie am Ort der Entzündung wirken und somit wesentlich niedrigere Dosierungen notwendig sind, die weit unter der Schwelle liegen, bei denen gravierende systemische Nebenwirkungen auftreten. Zusätzlich kommen zur Intensivierung der Therapie langwirksame Beta2-Mimetika (LABA 18 ), langwirksame Anticholinergika (LAMA 19 ) und alternativ weitere entzündungshemmende Medikamente zum Einsatz. 17 SABA: engl. short-acting beta-agonist 18 LABA: engl. long-acting beta-agonist 19 LAMA: engl. long-acting muscarinic antagonist <?page no="202"?> 202 Ausgewählte Krankheitsbilder Abb. 14: Stufenschema der Asthmatherapie gem. NVL, 3. Auflage, Version 1, S.35 (stark vereinfachte Darstellung ohne Sonderfälle und Alternativen) Medikamentöses Stufenschema │ Erwachsene Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5 ▶ ICS niedrigdosiert ▶ ICS niedrigdosiert + LABA (bevorzugt) oder ▶ ICS mitteldosiert ▶ ICS mittelbis hochdosiert + LABA (bevorzugt) oder ▶ ICS mittelbis hochdosiert + LABA + LAMA ▶ Vorstellung bei einem in der Behandlung von schwerem Asthma erfahrenen Pneumologen und ▶ Anti-IgE- oder Anti-IL-5-(R)- Antikörper ▶ SABA ▶ SABA oder ▶ Fixkombination aus ICS und Formoterol, wenn diese auch die Langzeittherapie darstellt Asthmaschulung, Allergie-/ Umweltkontrolle, Beachtung von Komorbiditäten B e d a r f s t h e r a p i e L a n g z e i t t h e r a p i e ▶ ICS in Höchstdosis + LABA + LAMA <?page no="203"?> Asthma bronchiale 203 Die Entscheidung zur Intensivierung oder Reduzierung der Therapie kann anhand der Beurteilung der Stabilität der Erkrankung wie in → Tabelle 15 dargestellt erfolgen. Grad der Asthmakontrolle (Erwachsene) gut kontrolliert teilweise kontrolliert unkontrolliert Symptomkontrolle hatte der Patient in den letzten vier Wochen: häufiger als zweimal in der Woche tagsüber Symptome nächtliches Erwachen durch Asthma Gebrauch von Bedarfsmedikation für Symptome (außer vor sportliche Aktivität) häufiger als zweimal pro Woche Aktivitätseinschränkung durch Asthma kein Kriterium erfüllt 1-2 Kriterien erfüllt 3-4 Kriterien erfüllt Beurteilung des Risikos für eine zukünftige Verschlechterung des Asthmas Erhebung von: Lungenfunktion (Vorliegen einer Atemwegsobstruktion) Anzahl stattgehabter Exazerbationen (keine/ 1x im Jahr / in der aktuellen Woche Tab. 15: Therapiekontrolle des Asthma bronchiale für Erwachsene gem. NVL Asthma, 3. Auflage, Version 1, S. 28 3.7.4 Prognose Nach verschiedenen Literaturangaben verschwinden ca. 30-50 % aller Fälle von kindlichem Asthma spontan bis ins Erwachsenenalter, wobei auch eine gewisse Anzahl vorübergehender Atemwegsstörungen zu vermuten ist, die von vornherein nicht als Asthma bronchiale zu bezeichnen waren. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit ca. 230-300 Millionen Menschen an Asthma erkrankt sind. Statistiken der WHO gehen im Jahr 2005 von ca. 380.000 asthmabedingten Todesfällen aus, wobei die Mehrzahl dieser Todesfälle in Ländern mit unzureichender medizinischer Gesundheitsversorgung vorkommt. Die Sterblichkeit in Deutschland wird mit 1-8 Personen <?page no="204"?> 204 Ausgewählte Krankheitsbilder pro 100.000 Einwohner angegeben, wobei Untersuchungen auf Industrienationen zeigen, dass trotz einem generellen Rückgang noch etwa die Hälfte dieser Todesfälle durch angemessene Versorgung und Schulung vermeidbar gewesen wäre. Bei frühzeitiger, angemessener Kontrolle der Erkrankung, sind jedoch sowohl die volle körperliche Leistungsfähigkeit, als auch eine normale Lebenserwartung gegeben. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Nationale Versorgungsleitlinie Asthma . 3. Auflage. Version 1. Im Internet unter: https: / / www.leitlinien.de/ mdb/ downloads/ nvl/ asthma/ asthma- 3aufl-vers1-lang.pdf Weltgesundheitsorganisation (2017): Asthma Fact Sheet . im Internet unter: https: / / www.who.int/ en/ news-room/ factsheets/ detail/ asthma 3.8 Psychische Erkrankungen 3.8.1 Kontext der Erkrankung Psychische Erkrankungen sind krankhafte Veränderungen der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung oder der sozialen Beziehungen. Sie entziehen sich ganz oder teilweise der willentlichen Kontrolle des Patienten. Sowohl die Art als auch der Schweregrad einer psychischen Störung ist sehr unterschiedlich und unterliegt je nach Krankheitsbild mehr oder minder ausgeprägten Schwankungen. Nach ICD-10 20 -Klassifikation werden psychische Störungen in der Klasse F wie in → Tabelle 16 dargestellt eingeteilt: 20 ICD-10: I nternational Statistical C lassification of D iseases and Related Health Problems der WHO, Version 10. Diese Klassifikation ist derzeit in Überarbeitung und wird als ICD-11 mutmaßlich am 01.01.2022 in Kraft gesetzt. Ein konkreter Termin für die Einführung in Deutschland existierte bei Drucklegung noch nicht. <?page no="205"?> Psychische Erkrankungen 205 ICD Krankheitsgruppe Beispielerkrankungen F0x organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen Morbus Alzheimer Demenz (F00.-*) psychische Störungen nach Schlaganfall, Blutungen, Tumoren etc. (F06.-*) F1x psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen akute Alkoholintoxikation (F10.0) Entzugssyndrom durch Opioide: (F11.3) F2x Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen paranoide Schizophrenie (F20.0) wahnhafte Störung (F22.0) F3x affektive Störungen Manie ohne psychotische Sympt. (F30.1) mittelgradige depressive Episode (F32.1) F4x neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen spezifische (isolierte) Phobie (F40.2) Zwangshandlungen (F42.1) Posttraumatische Belastungsst. (F43.1) F5x Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Anorexia nervosa (F50.0) Störung Schlaf-Wach-Rhythmus (F51.2) Gesteigertes sexuelles Verlangen (F52.7) F6x Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen paranoide Persönlichkeitsstörung (F60.0) pathologisches Spielen [F63.0] pathol. Stehlen [Kleptomanie] (F63.2) Pädophilie (F65.4) F7x Intelligenzstörung schwere Intelligenzminderung ohne relevante Verhaltensstörung (F72.0) F8x Entwicklungsstörungen Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) Asperger-Syndrom (F84.5) F9x Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (u.a. ADHS) (F90.0) Tourette-Syndrom (F95.2) Tab. 16: ICD-10-Klassifikation psychischer Erkrankungen <?page no="206"?> 206 Ausgewählte Krankheitsbilder Psychische Störungen sind weit verbreitet. Die 12-Monats-Prävalenz beträgt laut DEGS-Studie ca. 33 %, die Lebenszeitprävalenz wurde von Jacobi 2004 mit 42,5 % angegeben. Während zahlreiche psychische Störungen vorübergehen, wird die Zahl behandlungsbedürftiger Patienten in Deutschland auf ca. 8 Millionen geschätzt. Der Anteil von psychischen Erkrankungen an Arbeitsunfähigkeitstagen hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt und ist gemäß DAK-Psychoreport 2015 der zweithäufigste Grund für Krankschreibung. Dabei ist zu beachten, dass psychische Erkrankungen einen deutlich längeren Arbeitsausfall verursachen (Ø 39,5 Tage) als somatische Erkrankungen (Ø 13,5 Tage). Der Anstieg von Arbeitsausfalltagen ist jedoch nach Meinung von Experten nicht auf eine Zunahme psychischer Erkrankungen, sondern auf verbesserte Behandlungsangebote und eine zunehmende Enttabuisierung psychischer Erkrankungen und einer damit verbundenen Zunahme der Akzeptanz vorhandener Therapien zurückzuführen. Außerdem haben psychische Erkrankung hohe finanzielle Auswirkungen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bezifferte 2011 die direkten jährlichen Krankheitskosten mit 16 Milliarden Euro, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gab die indirekten Krankheitskosten durch Produktionsausfall mit 6 Milliarden Euro pro Jahr an. Der Anteil an Frühverrentungen aufgrund psychischer Leiden stieg laut Deutscher Rentenversicherung im Jahr 2012 binnen 18 Jahren von 14,5 % auf 41,9 % an. Die Ursachen psychischer Erkrankungen sind in aller Regel multifaktoriell. So können z. B. biologische Ursachen wie eine genetische Vorbelastung, psychische Ursachen wie traumatisierende Erlebnisse und soziale Ursachen wie Überforderung oder Mobbing am Arbeitsplatz auslösende Faktoren einer psychischen Erkrankung sein. Als Erklärungsmodelle werden u. a. das Diathese-Stress-Modell oder das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell herangezogen. 3.8.2 Therapeutische Ansätze Als Therapieoptionen kommen allgemein in Betracht: Psychotherapie Soziotherapie Pharmakotherapie <?page no="207"?> Psychische Erkrankungen 207 Die Therapie kann hierbei in verschiedenen Settings erfolgen. Neben einer ambulanten Behandlung kann eine Therapie in Tageskliniken sinnvoll sein, z. B. um eine Strukturierung des Tagesablaufs zu gewährleisten. Stationäre Therapien können auf offenen oder geschlossenen Stationen erfolgen. Aufgrund akuter Eigen- oder Fremdgefährdung können Patienten auch gegen ihren Willen mit einem richterlichen Beschluss behandelt werden. Bei gesetzlich betreuten Patienten kann auch eine Unterbringung zur Heilbehandlung erfolgen, wenn dies dem Wohl des Betreuten erfolgt. Hiervon nochmals abzugrenzen ist die forensische Psychiatrie , in der verurteilte Straftäter behandelt werden, die aufgrund einer psychiatrischen Störung zum Tatzeitpunkt voll- oder vermindert schuldunfähig waren. Die Behandlung erfolgt in einem multiprofessionellen Team, das neben Ärzten, Psychologen und Pflegekräften auch aus Sozialarbeitern, Kunst- und Ergotherapeuten sowie weiteren Spezialtherapeuten (z. B. Musik, Tanz, Bewegung) besteht. 3.8.3 Prognose und Perspektiven Psychische Erkrankungen sind mit zahlreichen Vorurteilen belegt: So werden sie obgleich der oben angegebenen sehr hohen Lebenszeitprävalenz als selten angesehen. Ebenso denken viele, dass psychische Erkrankungen nicht behandelbar oder gar heilbar sind, was nach heutigem Stand für viele Patienten nicht zutrifft. Obgleich es Patienten gibt, die aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Gefährdung darstellen, sind die meisten psychisch Erkrankten nicht für Dritte gefährlich. Ein weiteres Vorurteil besteht darin, dass psychische Erkrankungen ja gar keine richtigen Erkrankungen seien, sich die Patienten „mal zusammenreißen“ sollten. Dass psychische Erkrankungen keinesfalls ungefährlich sind, zeigt die Tatsache, dass in Deutschland 2016 insgesamt 46.258 Todesfälle aufgrund psychischer Erkrankungen verzeichnet wurden, darunter 9.838 Suizide . Dies sind beispielsweise deutlich mehr Todesopfer als durch Verkehrsunfälle (3.206). Im Jahr 2001 konstatierten Jacobi und Wittchen eine deutliche Unterversorgung psychisch Kranker: So erhielten nur 36,4 % der diagnostizierten Patienten mit Behandlungswunsch im Jahr 2000 über- <?page no="208"?> 208 Ausgewählte Krankheitsbilder haupt irgendeine Intervention, wobei ca. 10 % eine annähernd adäquate Therapie erhalten hätten. Von Eintritt der Diagnose bis zur Erstbehandlung seien im Mittel 7,4 Jahre vergangen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass es bei einer Unterversorgung psychischer Erkrankungen im ambulanten Bereich wie bei somatischen chronischen Erkrankungen zu einer Exazerbation der Erkrankung kommen kann und so die Anzahl stationärer Behandlungsfälle zwischen 2005 und 2013 um 37 % gestiegen ist. Gleichzeitig sollte durch Einführung des Fallpauschalensystems PEPP (Pauschaliertes Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychotherapie) die Verweildauer stationär behandelter Patienten durch Vergütungsabschläge bei Überschreiten einer bestimmten Verweildauer reglementiert werden. Die eigentliche, bereits verbindlich geplante Einführung wurde zunächst auf das Jahr 2018 verschoben und bis Ende 2019 als budgetneutrale Umstellung gestaltet. Aufgrund massiver fachlicher Kritik soll nun ab 2020 eine Vergütung weiterhin krankenhausindividuell auf Basis von Personalvorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und nicht über Landesbasisentgelte erfolgen. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Jacherz, N. (2013): Psychische Erkrankungen . Hohes Aufkommen, niedrige Behandlungsrate. Deutsches Ärzteblatt. PP12. 02/ 2013. S. 61. Im Internet unter: http: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=134430 Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2013): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit . Unfallverhütungsbericht 2011. Berlin. Im Internet unter: http: / / www.baua.de/ de/ Publikationen/ Fachbeitraege/ Suga- 2011.html Deutsche Rentenversicherung Bund (2019): Rentenversicherung in Zeitreihen. Im Internet unter: https: / / statistik-rente.de/ drv/ <?page no="209"?> Psychische Erkrankungen 209 Bundesministerium für Bildung und Forschung (2011): Seele aus der Balance . Erforschung psychischer Störungen. Im Internet unter: https: / / www.gesundheitsforschungbmbf.de/ files/ BMBF_Seele_aus_der_Balance_barrierefrei_17082010 .pdf Statistisches Bundesamt (2017): Gestorbene nach Todesursachen . Im Internet unter: https: / / www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/ Be voelkerung/ Sterbefaelle/ Sterbefaelle.html Wittchen, H-U. und Jacobi, F. (2001): Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 44. S. 993- 1000. <?page no="211"?> 4 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin 4.1 Lebensverlängerung vs. Lebensqualität Die Fortschritte der modernen Medizin ermöglichen vielen Patienten ein Leben bzw. Überleben in Situationen, deren Prognose früher als infaust zu betrachten war und auch heute noch in Gegenden eingeschränkter medizinischer Versorgung infaust ist. Gleichzeitig mit der Zunahme technischer, intensivmedizinischer Möglichkeiten stellen sich zunehmend ethische Fragen , die sich vor Erreichen des medizinischen Fortschritts aufgrund natürlicher Grenzen nicht gestellt haben. Ebenso haben große gesellschaftliche Entwicklungen wie der sogenannte demographische Wandel und die Globalisierung bedeutenden Einfluss auf die Medizin der heutigen Zeit und müssen daher berücksichtigt werden. 4.1.1 Demographischer Wandel Die Lebenserwartung eines erwachsenen Menschen betrug um das Jahr 1870 ca. 36 Jahre. Das bedeutet, dass genau die Hälfte der im Jahr 1870 in Deutschland geborenen Menschen 36 Jahre oder älter wurden, was vor allem durch die hohe Säuglingssterblichkeit der damaligen Zeit begründet war. Die Lebenserwartung stieg aufgrund der Einführung zahlreicher Innovationen wie der flächendeckende Zugang zu sauberem Trinkwasser, allgemeine hygienische Maßnahmen, politische Stabilität und damit verbundene persönliche Sicherheit, aber auch medizinische Errungenschaften in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an und steigt derzeit ohne absehbares Ende weiter. Basierend auf den Sterbetafeln 2012/ 2014 gibt das Statistische Bundesamt für in Deutschland geborene Mädchen eine Lebenserwartung von 83 Jahren und einen Monat und für Jungen von 78 Jahren und zwei Monaten an. Gleichzeitig mit dem zunehmenden Alter der Menschen in Deutschland steigt durch den Wandel der Arbeitswelt, familiärer Situationen und anderer Faktoren das Durchschnittsalter der Gebä- <?page no="212"?> 212 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin renden, während die absolute Zahl der Geburten bis 2015 kontinuierlich sank. Dies alles führt zu einer Verschiebung der Bevölkerungszusammensetzung hin zu einer sogenannten Überalterung der Gesellschaft. Da sich durch diese Entwicklung die Zahl der nicht mehr Erwerbstätigen im Verhältnis zu den erwerbstätigen Beitragszahlern der Sozialversicherungssysteme verschiebt, gleichzeitig aber auch die Inzidenz von Erkrankungen im Alter stark zunimmt, geraten Gesundheitssysteme, wie die Deutschlands oder beispielsweise Japans, durch den demographischen Wandel enorm unter Druck und werfen zunehmend Fragen der Verteilungsgerechtigkeit bis hin zu radikalen Forderungen der Leistungsbeschränkung ab bestimmten Altersstufen auf. Durch die Zunahme altersbedingter neurodegenerativer Erkrankungen wie Morbus Alzheimer stellt sich zudem die Frage der Lebensqualität im Altern in einer anderen Dimension. 4.1.2 Wohl des Patienten/ Medizinethik Das mutmaßliche Wohl des Patienten, ausgedrückt durch den verständigen Patienten selbst oder, wie in → Kapitel 4.2.1 beschrieben, definiert durch seine(n) Stellvertreter, wird im Rahmen des medizinischen Fortschritts zunehmend von seinen Wertvorstellungen, also seinen moralischen und ethischen Grundsätzen, bestimmt. Die Beschäftigung und Ermittlung des individuell aber auch gesellschaftlich moralisch und ethisch Gewollten bzw. Gesollten wiederum ist Gegenstand der Medizinethik . Dass die hierbei entstehenden Fragestellungen keinesfalls einfach und eindeutig zu lösen sind, verdeutlicht bereits das in → Abbildung 15 dargestellte Vier-Prinzipien- Modell von Tom Lamar Beauchamp und James F. Childress. Die Prinzipien, jedes für sich nachvollziehbar und wünschenswert, stehen teilweise untereinander in direktem Widerspruch und müssen für den konkreten Einzelfall gewichtet bzw. teilweise ignoriert werden. <?page no="213"?> Lebensverlängerung vs. Lebensqualität 213 Abb. 15: Das Vier-Prinzipien-Modell von Beauchamp und Childress Lesetipps ∣ Literatur und Websites Website des Statistischen Bundesamts: Lebenserwartung in Deutschland . Im Internet unter: https: / / www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/ Be voelkerung/ Sterbefaelle/ Sterbefaelle.html Bundeszentrale für politische Bildung (2012): Dossier Deutsche Verhältnisse . Eine Sozialkunde. Im Internet unter: http: / / www.bpb.de/ politik/ grundfragen/ deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/ 138003/ historischerrueckblick? p=all Beauchamp, T. L.; Childress J. F. (1979): Principals of Biomedical Ethics . New York. medizinische Situation (Dilemma) Respekt vor Autonomie ► der Patient soll selbstbestimmt entscheiden Fürsorge ► aktives Handeln zum Wohl des Patienten Schadensvermeidung ► primum nil nocere Gleichheit/ Gerechtigkeit ► faire Verteilung von Gesundheitsleistungen <?page no="214"?> 214 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 4.2.1 Der Wille des Patienten als oberstes Gesetz Wie in → Kapitel 1.1.2 bereits beschrieben, wurde das Prinzip des Patientenwohles als oberstes Gesetz durch den Begriff des Patientenwillens ergänzt, was in bestimmten Situationen im Widerspruch zueinander steht. So hat der Patient nach juristischer Auffassung gesellschaftlich akzeptiert zwar das Recht auf Selbstbestimmung , im Fall einer akuten Eigen- oder Fremdgefährdung oder im Rahmen eines nicht erfolgreichen Suizidversuches greifen jedoch nach dem in → Kapitel 4.1.2 beschriebenen Prinzip der Fürsorge jedoch auch Rechtsnormen, die eine Behandlung gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten erlauben bzw. sogar einfordern. Problematische Situationen ergeben sich außerdem insbesondere dann, wenn das Recht auf Autonomie noch nicht durch den Patienten selbst ausgeübt werden kann und die juristischen Stellvertreter des Patienten eine Entscheidung treffen, die nach medizinischen Gesichtspunkten gegen das Wohl des Patienten gerichtet ist. Beispiel ∣ Religion und Medizin Ein Kleinkind einer Familie, die der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört, benötigt nach sorgfältiger Abwägung der Vor- und Nachteile aus medizinischer Sicht eine Bluttransfusion. Dies wird von der Familie aus religiösen Gründen abgelehnt, steht aber in offenkundigem Widerspruch zum physischen Wohl des Kindes, das bei Ausbleiben der Transfusion schwere körperliche Schäden erleiden oder sogar sterben kann. Während die Entscheidung eines geschäftsfähigen Erwachsenen zur Verweigerung einer Transfusion bei sich selbst zu akzeptieren ist, bleibt im oben genannten Fall anzuzweifeln, ob die Entscheidung auch dem Willen des Kleinkindes entsprechen würde. Doch selbst in weitaus weniger konfliktbehafteten Situationen ist die Ermittlung des Patientenwillens durchaus problematisch. So hat zwar grundsätzlich, bereits seit über 100 Jahren juristisch eingefordert, vor jeder medizinischen Intervention eine Aufklärung und Ein- <?page no="215"?> Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 215 willigung zu erfolgen, jedoch sind zahlreiche Patienten vorübergehend oder dauerhaft nicht in der Lage, selbst in entsprechende Maßnahmen einzuwilligen. Während bei minderjährigen Kindern die Personensorgeberechtigten , in der Regel beide Eltern, entscheiden dürfen, sind bei erwachsenen Patienten nicht automatisch Ehepartner, Kinder oder Elternteile entscheidungsberechtigt. Es gibt jedoch im Wesentlichen drei Instrumente , mit denen dem mutmaßlichen Willen des Patienten Geltung verschafft werden soll: die Vorsorgevollmacht die Patientenverfügung die gerichtliche Bestellung eines gesetzlichen Betreuers Die Vorsorgevollmacht Für viele Lebensbereiche ist es möglich, anderen Personen eine Vollmacht zur Vornahme bestimmter Handlungen zu erteilen. So ist es auch möglich, dass ein Patient - noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten und im Zustand der Geschäftsfähigkeit - festlegt, welche Person für seine Gesundheitsbelange entscheiden soll, falls er selbst vorübergehend oder dauerhaft nicht dazu in der Lage sein sollte. Bei der Wahl des Bevollmächtigten ist der Patient grundsätzlich autonom und beispielsweise nicht an Verwandtschaftsbeziehungen gebunden. Der Bevollmächtigte muss die entsprechend erteilte Vollmacht selbstverständlich aber auch annehmen wollen. Neben der Entscheidungsbefugnis für medizinische Entscheidungen kann in einer Vorsorgevollmacht auch das Auskunfts- und Einsichtsrecht bezüglich der personenbezogenen Gesundheitsdaten wie der Krankenakte des Patienten geregelt werden. Die Erstellung einer Vorsorgevollmacht für Gesundheitsbelange kann beispielsweise auch anlassbezogen im Vorfeld einer umfangreichen oder risikobehafteten medizinischen Behandlung erfolgen, um notwendige therapeutische Schritte im Zuge der Behandlung durchführen zu können, die zu Beginn der Therapie noch nicht absehbar waren. Ein Beispiel hierfür ist die Frankfurter Gesundheitsvollmacht. <?page no="216"?> 216 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Die Patientenverfügung Im Gegensatz zur Vorsorgevollmacht ermöglicht die Patientenverfügung dem Patienten, bereits im Vorfeld möglicherweise eintretender Krankheitszustände eine Willenserklärung zum Vorgehen in dieser konkreten Situation abzugeben und so seinen Willen zum Ausdruck zu bringen. Hierzu gibt es zahlreiche Vordrucke, die für bestimmte beispielhafte medizinische Situationen abfragen, wie der Patient im konkreten Fall entscheiden würde. Problematisch ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass in vielen Fällen, insbesondere bei jungen bzw. weitgehend gesunden Patienten, die konkret eintretende Situation in der Zukunft nicht durch eine pauschal vorweggenommene Willenserklärung so abgebildet werden kann, sodass zweifelsfrei geklärt ist, wie zu verfahren ist. Auch sind pauschale Aussagen, wie „ich möchte nicht an Schläuchen hängen“ irreführend, da unklar ist, ob der Patient keine aus seiner Sicht unnötigen lebensverlängernden Maßnahmen möchte, oder ob er jedwede Form der Narkose auch für kurzzeitige Eingriffe bei hervorragender Prognose ablehnt, da eine Narkose ohne Beatmungs- und Infusionsschläuche nicht sinnvoll durchführbar ist, auch wenn diese Schläuche ggf. nur kurz mit dem Patienten verbunden sind. Die Erstellung einer Patientenverfügung ist somit wesentlich komplexer als die Abfassung einer Vorsorgevollmacht und bekommt insbesondere bei chronisch bzw. ernsthaft erkrankten Patienten eine höhere Bedeutung, da beispielsweise bei absehbar begrenzter Lebenszeit konkrete Willenserklärungen abgegeben werden können. Eine Sonderform der Patientenverfügung, die auch für junge und gesunde Patienten angedacht werden sollte, ist der Organspendeausweis , in dem, je nach persönlicher Präferenz, die Einwilligung oder die Verweigerung einer Organspende im Fall des irreversiblen Funktionsausfalls des Gehirns (früher als Hirntod bezeichnet) festgehalten wird. Die gerichtliche Bestellung eines gesetzlichen Betreuers Da das Fehlen einer Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung bei medizinischen Interventionen trotzdem eine formale Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten und die Einwilligung eines offiziellen Stellvertreters erfordert, sind im Bürgerlichen Gesetzbuch Regelungen getroffen (§§ 1896 ff.), um einen Betreuer gerichtlich <?page no="217"?> Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 217 zu bestellen , der den mutmaßlichen Willen des Patienten offiziell vertreten soll. Dies kann zum einen eine dem Patienten nahestehende Person, beispielsweise der Ehepartner, ein Kind oder Elternteil, sein, aber auch eine dem Patienten fremde Person, die als Berufsbetreuer arbeitet und für ihre Tätigkeit eine pauschalierte Vergütung erhält. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Frankfurter Gesundheitsvollmacht. Im Internet unter: https: / / www.kgu.de/ fileadmin/ redakteure/ Klinikum/ Klinisches _Ethik-Komitee/ Vollmacht_-_final.pdf Informationsseite des Bundesjustizministeriums zu den Themen Vorsorgevollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung. Im Internet: https: / / www.bmjv.de/ DE/ Themen/ VorsorgeUndPatientenrechte/ Betreuungsrecht/ Betreuungsrecht_node.html 4.2.2 Aspekte der Eigenverantwortung Aus der Selbstbestimmung, verankert in Artikel 2 des Grundgesetzes, erwächst gleichzeitig die Eigenverantwortung, definiert als die Möglichkeit, Fähigkeit, Bereitschaft und Pflicht, für das eigene Handeln, Reden und Unterlassen Verantwortung zu tragen. Wie aus der eben genannten Aufzählung hervorgeht, handelt es sich somit nicht nur um eine Verpflichtung, sondern auch um eine Kompetenz, die es, wie in → Kapitel 4.2.3 dargestellt, zunächst zu erlernen gilt. Dabei haben die im Rahmen der Eigenverantwortung durchgeführten oder unterlassenen Handlungen keineswegs nur Auswirkung auf die eigene Person. So werden drei Ebenen unterschieden, auf denen Eigenverantwortung wirkt: die Mikroebene die Mesoebene die Makroebene <?page no="218"?> 218 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Auf der Mikroebene ist jeder erwachsene, geschäftsfähige Mensch zunächst für seine Handlungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, beispielsweise des daraus resultierenden Gesundheitszustands, verantwortlich. Auf der Mesoebene trägt jeder Mensch jedoch auch Verantwortung durch sein Handeln für sein unmittelbares Umfeld. So schädigen in der gemeinsamen Wohnung rauchende Eltern nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die ihrer passiv rauchenden Kinder. Ebenso wirkt sich das Gesundheitsverhalten einer stillenden Mutter auch auf das gestillte Kind aus. Auf der Makroebene wirkt sich gesundheitsbewusstes Verhalten ebenfalls aus. So verpflichtet beispielsweise § 1 des SGB V die Versicherten zu Folgendem: Zitat „[…] Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden […]“ Durch die gewissenhafte Entnahme von Leistungen aus der Solidargemeinschaft durch eigenverantwortliches Handeln soll so die Gemeinschaft als Ganzes profitieren. 4.2.3 Voraussetzung für eigenverantwortliches Handeln Eigenverantwortliches Handeln ist keinesfalls selbstverständlich, sondern bedarf mehrerer Grundvoraussetzungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Aufseiten der Patienten sind sowohl die Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortung als auch die Fähigkeit , angemessen informiert eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, von zentraler Bedeutung. Aus gesellschaftlicher Sicht ist eine Akzeptanz dieses eigenverantwortlichen Handelns mit den daraus erwachsenden Konsequenzen notwendig. <?page no="219"?> Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 219 Im Kontext der medizinischen Behandlung zeigen sich hinsichtlich der Bereitschaft zum eigenverantwortlichen Handeln durchaus Unterschiede, die am Beispiel der Einwilligung eines Patienten in eine Behandlungsmaßnahme dargestellt werden können. Die in → Tabelle 17 dargestellten Möglichkeiten zur Entscheidungsfindung bezüglich eines medizinischen Vorgehens wurden von Cathy Charles und Kollegen im Jahr 1999 eingeführt. paternalistisches Modell partizipative Entscheidungsfindung Informationsmodell Informationsaustausch Informationsfluss Arzt → Patient Arzt ↔ Patient Arzt → Patient Informationsart medizinisch medizinisch und persönlich medizinisch Ausmaß so viel wie gesetzlich nötig alles entscheidungsrelevante alles entscheidungsrelevante Abwägung Alternativen Arzt alleine Arzt + Patient Patient alleine Treffen der Entscheidung Arzt alleine Arzt + Patient Patient alleine Tab. 17: Entscheidungsfindungsmodelle nach Charles et al. Das in diesem Kontext als ideale Kombination aus Patientenautonomie , Fachexpertise und Vertrauensbeziehung angesehene Modell der Partizipativen Entscheidungsfindung entspricht in Befragungen jedoch nur teilweise dem präferierten Modell der Patienten. So zeigt sich in den von der Bertelsmann Stiftung durchgeführten Umfragen in den Jahren 2001-2012 einerseits, dass ca. 55 % der Befragten eine Entscheidung nach dem Modell der Partizipativen Entscheidungsfindung bevorzugen, während ca. 25 % eine Entscheidung nach dem Paternalistischen Modell und ca. 18 % der Befragten eine Entscheidung gemäß dem Informationsmodell bevorzugen, und andererseits, dass die Präferenz zur Partizipativen Entscheidungsfindung von Faktoren wie dem Alter und dem Schulbildungsgrad abhängt. So tendieren jüngere Menschen und Menschen mit Abitur im Vergleich zu <?page no="220"?> 220 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin älteren Menschen oder Personen mit Hauptschulabschluss häufiger zur Partizipativen Entscheidungsfindung. Eine weitere Voraussetzung und möglicherweise der Grund für den bisher verhaltenen Umgang mit dem Konzept der Partizipativen Entscheidungsfindung ist die Kompetenz, verlässliche Informationen zu recherchieren und hinsichtlich ihres Nutzens angemessen bewerten und anwenden zu können, was auch als critical health literacy bezeichnet wird. Der Patient tritt dann als Prosument 21 und wesentlich am Prozess aktiv Beteiligter auf. Um diese Position einnehmen zu können, ist es wichtig Gesundheitsinformationen verständlich und ausgewogen aufzubereiten, damit informierte Entscheidungen getroffen werden können. Neben den in → Kapitel 2.3. genannten möglichen Fallstricken können beispielsweise bestimmte Maßzahlen wie Überlebenszeiträume bei Screening-Programmen irreführend sein, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Beispiel ∣ Länger Leben durch Screening? Zwei Patienten leiden an einer bestimmten Krebserkrankung. Patient A nimmt nicht am Krebsfrüherkennungsprogramm teil, die Krankheit zeigt Symptome im Alter von 67 Jahren und die Patient A verstirbt im Alter von 70 Jahren. Patient B nimmt am Krebsfrüherkennungsprogramm teil und die Krebserkrankung wird im Alter von 60 Jahren entdeckt. Patient B verstirbt allerdings auch mit 70 Jahren. Ab dem Zeitpunkt der Diagnose lebt A jedoch nur noch 3 Jahre und B noch 10 Jahre. B lebt allerdings absolut gesehen keinen Tag länger als A, er weiß nur länger von seiner Krebserkrankung, wie folgendes Bild veranschaulicht 21 Kunstbegriff aus den Worten Produzent und Konsument <?page no="221"?> Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 221 Abb. 16: Vorlaufzeit-Bias Quelle: in Anlehnung an Schirren, C (2019) Deutsches Ärzteblatt; 116(38): A-1642 / B-1355 / C-1330 Grundvoraussetzung hierfür sind nach Schäfer und Weißbach das Vorhandensein sogenannten „sauberen“ Wissens , also vertrauenswürdige unverfälschte Informationen, ein gesundheitspolitischer Rahmen, der garantiert, dass dieses Wissen auch ankommen kann, beispielsweise eine Publikationspflicht für alle klinischen Studien unabhängig von ihrem für den Auftraggeber günstigen oder ungünstigen Ergebnis, und die persönliche Disposition der Menschen. Ebenso fordern Schäfer und Weißbach aber auch die gesellschaftliche Akzeptanz des eigenverantwortlichen Handelns, das in letzter Konsequenz bei nicht mehr als akzeptabel angesehener Lebensqualität auch den Suizid des Patienten in Kauf nehmen müsste. 60 65 Tod mit 70 Alter 5-Jahres-Überlebensrate = 0 % Diagnose aufgrund von Symptomen im Alter von 67 Jahren ohne Früherkennung Krebs beginnt 60 65 Tod mit 70 Alter 5-Jahres-Überlebensrate = 100 % Diagnose durch Früherkennung im Alter von 60 Jahren mit Früherkennung Krebs beginnt Vorlaufzeit-Bias <?page no="222"?> 222 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Lesetipps ∣ Literatur und Websites Charles, C.; Gafni, A.; Whelan, T. (1999): Decision-making in the physician-patient encounter . Revisiting the shared treatment decision-making model. Social Science & Medicine. 49/ 1999. S. 651-661. Amhof, R.; Böcken, J.; Braun, S.; Schlette, S. (2015): Shared Decision Making . Beteiligung von Patienten an medizinischen Entscheidungen. Gesundheitsmonitor Newsletter. 03/ 2015. Im Internet unter: http: / / gesundheitsmonitor.de/ uploads/ tx_itaoarticles/ 200503NL.pdf Braun, B.; Marstedt, G. (2014): Partizipative Entscheidungsfindung beim Arzt . Anspruch und Wirklichkeit. Im Internet unter: https: / / www.bertelsmann-stiftung.de/ fileadmin/ files/ BSt/ Publikationen/ GrauePublikationen/ VV-PmW-PEF.pdf Schaefer, C.; Weißbach, L. (2012): Das Gesundheitssystem braucht mehr Eigenverantwortung . Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 106(3). S. 199- 204. Nutbeam, D. (2000): Health literacy as a public health goal. A challenge for contemporary health education and communication strategies into the 21st century. Health Promotion International. 15(3). S. 259-67. Im Internet unter: https: / / doi.org/ 10.1093/ heapro/ 15.3.259 Techniker Krankenkasse. Kompetent als Patient, Gut informiert entscheiden . Im Internet: https: / / www.tk.de/ techniker/ gesundheit-undmedizin/ kompetent-als-patient-2025602 Schirren, C.; Lein, I.; Diel, F.; Jenny, M. (2019): Zahlen können Verwirrung stiften. Deutsches Ärzteblatt; 116(38). Im Internet unter: https: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=209920 <?page no="223"?> Selbstbestimmung und Eigenverantwortung 223 4.2.4 Empowerment vs. Anreizprogramme Wie bereits in den → Kapiteln 2.4.2.1 und → 2.5.2.2 beschrieben, stellt die Befähigung von Menschen zu eigenverantwortlichem gesundheitsbewusstem Verhalten einen wesentlichen Erfolgsfaktor sowohl in der Primärprävention von Erkrankungen als auch in der Bewältigung von Erkrankungen dar. Da die Befähigung von Menschen neben einer Informationskomponente in aller Regel auch Aspekte der Motivation betrifft, stellt sich im Rahmen der Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens die Frage nach dem Grad der Beeinflussung von Individuen und deren Umfeld. Hierzu hat das Nuffield Council on Bioethics die in → Abbildung 17 dargestellte Interventionsleiter als Eskalationsmodell für den Eingriff in die Autonomie von Menschen zur Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens vorgeschlagen. Grundsätzlich sollte eine Maßnahme auf einer höheren Stufe der Leiter erst dann ergriffen werden, wenn Maßnahmen auf niedrigeren Stufen keinen Erfolg zeigen bzw. versprechen. Im Zusammenhang mit der Belohnung ( Inzentivierung ) gesundheitsbewussten Verhaltens wurden Anreizprogramme in zahlreichen Studien wissenschaftlich untersucht. So stellten McIntyre und Kollegen in einer Übersichtsarbeit beispielsweise fest, dass die Impfungsraten bei finanziellem Anreiz, beispielsweise in Form der Teilnahme an einem Gewinnspiel für einen Einkaufsgutschein oder Lebensmittelgaben, in Entwicklungsländern im Durchschnitt um 17 % anstiegen. Seal und Kollegen konnten die Impfraten von Obdachlosen gegen Hepatitis B durch Zahlung von monatlich 20 US-Dollar von 23 % auf 69 % verdreifachen. Grundsätzlich zeigt sich, dass finanzielle Anreizprogramme vor allem zur Stimulation einfachen Gesundheitsverhaltens und in Ländern bzw. Bevölkerungsschichten mit niedrigem Einkommen effektiv sind. <?page no="224"?> 224 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Abb. 17: Die Interventionsleiter des Nuffield Council on Bioethics Lesetipps ∣ Literatur und Websites Nuffield Council on Bioethics (2014): Public Health. Ethical Issues . Im Internet unter: http: / / nuffieldbioethics.org/ wpcontent/ uploads/ 2014/ 07/ Public-health-ethical-issues.pdf Spectra 96 (2013): Newsletter Gesundheitsförderung und Prävention . Schweizer Bundesamts für Gesundheit (BAG). 01/ 2013. Im Internet unter: http: / / www.spectraonline.ch/ admin/ data/ files/ issue/ pdf/ 70/ spectra_96_jan_2013_de.pdf? lm=1421406087 Achat, H.; McIntyre, P.; Burgess, M. (1999): Health care incentives in immunisation . Aust N Z J Public Health 06/ 1999. 23(3). S. 285-288. nichts tun/ beobachten informieren gesunde Option ermöglichen gesunde Option zum Standard machen gesunde Optionen belohnen ungesunde Optionen sanktionieren Optionen einschränken Optionen eliminieren Beispiele ► Zwangsisolation hochinfektiöser Patienten ► Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen ► Tabaksteuer, Einschränkung von Autoparkplätzen ► steuerfreie Elektroautos Prämie bei Fahrradnutzung ► Reduktion des Salzgehaltes in Kantinenessen ► Rauchentwöhnungsprogramm anbieten, Fahrradwege bauen ► Informationskampagne zur gesunden Ernährung ► epidemiologische Überwachung von Erkrankungen <?page no="225"?> Ökonomisierung der Medizin 225 Seal, K. H.; Kral, A. H.; Lorvick J.; McNees, A.; Gee, L.; Edlin, B. R. (2003): A randomized controlled trial of monetary incentives vs. outreach to enhance adherence to the hepatitis B vaccine series among injection drug users . Drug Alcohol Depend. 08/ 2003. 71(2). S. 127-131. 4.3 Ökonomisierung der Medizin Der Begriff Ökonomisierung beschreibt die Verbreitung ökonomischer Prinzipien in Lebensbereiche, in denen rein ökonomische Überlegungen, beispielsweise aufgrund solidarischer Finanzierung, nicht die oberste Priorität erfahren haben. Im Kontext medizinischer Versorgung beschreibt dieser Begriff, gelegentlich auch als Kommerzialisierung der Medizin bezeichnet, den Trend, allein auf wirtschaftliche Interessen auch entgegen der Interessen und dem Wohl des Patienten oder der an der Patientenversorgung Beteiligten zu fokussieren. Anders als ein aus ethischer Sicht gebotener sorgsamer, also ökonomischer Umgang mit den vorhandenen Ressourcen, stellt die Ökonomisierung der Medizin die in → Kapitel 1.1 dargestellten Grundprinzipien in Frage. Im Folgenden sollen einige mutmaßliche Ursachen und Erscheinungsformen dieses Trends kurz skizziert werden, um einen ersten Eindruck in den derzeitigen Diskurs bezüglich der ökonomischen Aspekte medizinischer Leistungen zu geben. 4.3.1 Ursachen zunehmender Ökonomisierung Die Ursachen der zunehmenden Ökonomisierung werden je nach Interessenlage der Beteiligten unterschiedlich gesehen. Im Bereich politisch Verantwortlicher werden Entwicklungen wie der demographische Wandel und die Steigerung der Behandlungskosten durch Innovationen als Hauptursache für den zunehmenden Kostendruck angeführt. Ärzte hingegen kritisieren vor allem die mangelhafte Krankenhausplanung, fehlende Investitionsbereitschaft und das pauschalierte Entgeltsystem, dem nur durch immer höhere Fallzahlen und Leistungssteigerung begegnet werden kann, die fehlende Investitionen durch ein positives Geschäftsergebnis quersubventionieren <?page no="226"?> 226 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin sollen. Problematisch wird von Ökonomen wiederum die mangelhafte Auslastung einzelner Gesundheitseinrichtungen sowie der fehlende politische Wille zur Konzentrierung von Leistungen bei gleichzeitiger Schließung einzelner Einrichtungen gesehen, durch die der ruinöse Preiskampf in einem an Festpreisen orientierten Gesundheitssystem (DRG, EBM, GOÄ 22 ) ersetzt werden soll. Typische Effekte dieses ökonomischen Spannungsfeldes sind neben Leistungsverdichtung vor allem der Zusammenschluss kleiner Krankenhäuser zur Verbünden, Outsourcing nicht-medizinischer Dienstleistungen, Konzentration auf besonders profitable Leistungsbereiche („ cherry picking “) und die Privatisierung hochdefizitärer kommunaler Gesundheitsversorger. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland: Hintergrundinformation Ökonomisierung . Im Internet unter: https: / / www.sozialethikonline.de/ download/ Oekonomisierung.pdf Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2014): Medizin und Ökonomie - wie weiter? Positionspapier. Im Internet unter: http: / / www.samw.ch/ de/ Publikationen/ Positionspapiere.html Jens Flintrop (2014): Krankenhäuser zwischen Medizin und Ökonomie . Die Suche nach dem richtigen Maß. Deutsches Ärzteblatt. 111(45). Im Internet unter: http: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=163452 Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2016): Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem, 8 Thesen zur Weiterentwicklung zum Wohle der Patienten und der Gesellschaft . 22 DRG: Diagnosis Related Groups (Fallpauschalen bei stationärer Versorgung), EBM: Einheitlicher Bewertungsmaßstab (Entgeltsystem in der ambulanten Versorgung gesetzlich Krankenversicherter), GOÄ: Gebührenordnung für Ärzte <?page no="227"?> Ökonomisierung der Medizin 227 Im Internet unter: https: / / www.leopoldina.org/ uploads/ tx_leopublication/ Leo_Dis kussion_Medizin_und_Oekonomie_2016.pdf 4.3.2 Gesundheitsökonomische Evaluation Die gesundheitsökonomische Evaluation beschreibt die Betrachtung der durch eine Gesundheitsdienstleistung entstandenen Kosten im Verhältnis zu der dadurch erzielten Wirkung. Dies kann im Rahmen der Kosten-Minimierungs-Analyse durch Betrachtung zweier als gleichwertig angesehener Therapiealternativen geschehen oder im Rahmen der Kosten-Effektivitäts-Analyse durch Vergleich medizinischer Effekte wie der Blutdrucksenkung in mm Hg ( → Kapitel 3.3) pro eingesetzter Geldeinheit. Während die Kosten-Nutzen-Analyse auch das medizinische Ergebnis in monetären Einheiten bewertet, entstanden im Rahmen der Kosten-Nutzwert-Analyse Messgrößen wie die qualitätskorrigierten Lebensjahre ( QALY 23 ), die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. QALYs versuchen, die Lebensqualität zu berücksichtigen, die dem Patienten im Rahmen seiner Restlebenszeit verbleibt, unter der Annahme, dass zwei Restlebensjahre bei vollkommener Lebensqualität (dies entspräche der dimensionslosen Zahl 1) einen höheren Wert haben, als die gleiche Restlebenszeit bei reduzierter Lebensqualität. Die geringste Lebensqualität in dem Konstrukt wäre mit dem Zahlenwert 0 der Tod, obgleich diskutiert wird, ob es bestimmte Gesundheitszustände gibt, die von Patienten noch schlimmer als deren Tod angesehen werden. Die QALYs einer medizinischen Maßnahme errechnen sich aus dem Produkt der durch die Maßnahme zusätzlich gewonnenen Lebensqualität und/ oder Restlebenszeit im Vergleich zum Produkt bisheriger Lebensqualität und Restlebenszeit. Dies ermöglicht zwar rechnerisch den direkten Vergleich verschiedener Therapien, setzt aber zahlreiche Grundannahmen voraus, die Gegenstand deutlicher Kritik sind. So wird angenommen, dass bei rechne- 23 QALY: engl. quality-adjusted life-year <?page no="228"?> 228 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin risch identischen Nutzenwerten keine Präferenzen seitens des Patienten beispielsweise zwischen Lebensqualitätsverbesserung und Lebenszeitverlängerung herrschen ( mutual utility independance ). Ebenso wird die Lebensqualität über den Zeitraum der Erkrankung als konstant angesehen ( constant proportional time trade-off ), was der medizinischen Erfahrung widerspricht, dass Patienten auch mit schwerwiegenden Erkrankungen durch ein Arrangieren mit der Situation Lebensqualitätsgewinne erzielen. Ebenso setzen QALYs den objektiven Utilitarismus voraus, der online ( www.utb-shop.de) anhand eines typischen Dilemmas aus der Entscheidungstheorie praktisch erklärt wird. Durch systematische Benachteiligung von Patienten mit geringer Therapiefähigkeit, begrenzter Restlebenszeit und kurzen aber schweren Krankheitsverläufen werden durch QA- LYs insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Behinderung diskriminiert. Während das Instrument der QALYs im britischen Gesundheitssystem Anwendung findet, ist die Berücksichtigung dieses Instrumentes für Therapieentscheidungen in Deutschland seitens des IQWiG aus methodischen und ethischen Gründen abgelehnt worden, in den USA durch den als „ Obamacare “ bekannten Patient Protection and Affordable Care Act sogar gesetzlich verboten worden. Lesetipp ∣ Literatur Koch, K.; Gerber, A. (2010): QALYs in der Kosten-Nutzen- Bewertung . Rechnen in drei Dimensionen. BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2010. S. 32-48. Im Internet unter: https: / / www.barmer.de/ presse/ infothek/ studien-undreports/ gesundheitswesen-aktuell/ gwa-2010-38808 4.3.3 Optimierung des Lebens Die Geburtshilfe gerät aufgrund sinkender Geburtenzahlen bei steigenden Erwartungen werdender Eltern und der deutlichen Verbesserung vorgeburtlicher Untersuchungen ( Pränataldiagnostik ) zunehmend in ein ethisches Spannungsfeld unter dem Aspekt der Nutzenmaximierung. <?page no="229"?> Ökonomisierung der Medizin 229 Während bis vor einigen Jahren die Untersuchung auf genetische Defekte eingeschränkt möglich und mit Risiken einer Fehlgeburt eines gesunden Kindes behaftet war, ist heutzutage die komplikationslose Untersuchung der DNA des Kindes im mütterlichen Blut oder gar die genetische Untersuchung künstlich befruchteter Eizellen vor Implantation in die Gebärmutter ( Präimplantationsdiagnostik ) möglich. Neben der juristisch akzeptierten Möglichkeit, bei Vorliegen eines genetischen Defektes einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, sind so auch weitgehende Eingriffe in die Planung des Lebens, wie beispielsweise die bewusste Implantation einer Eizelle mit bestimmtem Geschlecht oder bestimmten genetischen Merkmalen, möglich. Zwar ist dies aufgrund gesetzlicher Regelungen bis auf wenige Ausnahmen schwerwiegende Erkrankungen betreffend gesetzlich untersagt, doch schafft aller Erfahrung nach eine bestehende Möglichkeit auch eine entsprechende Nachfrage und damit verbunden ein entsprechendes Angebot, ggf. abseits gesetzlich geregelter Rahmenbedingungen. Somit ist durch die Verbesserung der Pränataldiagnostik nicht nur der Abbruch von Schwangerschaften mit infauster Prognose, sondern auch eine Selektion menschlichen Lebens möglich und im Fall bestimmter genetischer Erkrankungen Realität. Neben der individuellen Entscheidung der werdenden Eltern für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft wächst aber durch verbesserte Pränataldiagnostik gleichzeitig der Druck auf Schwangere, diese Möglichkeiten auch einzusetzen und die aus rein ökonomischer Sicht „einzig richtige“ Entscheidung zu treffen, ein Kind mit mutmaßlicher Behinderung abzutreiben. Spätestens dieser Eingriff in die individuelle Selbstbestimmung überschreitet jedoch das ethische Wertesystem vieler Menschen und bedarf einer intensiven gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Grenzen der Möglichkeiten der Optimierung menschlichen Lebens. <?page no="230"?> 230 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Lesetipp ∣ Website Informationen des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften: Prädiktive genetische Testverfahren und Präimplantationsdiagnostik . Im Internet unter: http: / / www.drze.de/ im-blickpunkt 4.3.4 Optimierung des Sterbens Wie im → Kapitel 2.6.4 erläutert, findet derzeit ein intensiver Diskurs hinsichtlich der Selbstbestimmung am Ende des Lebens, beispielsweise in Form der Sterbehilfe oder des assistierten Suizides, statt. Abseits gesetzlicher Regelungen tangieren die vorhandenen Möglichkeiten ebenso wie die Pränataldiagnostik ein ethisches Spannungsfeld. Während in Ländern, in denen die aktive Sterbehilfe für Erwachsene zugelassen ist, derzeit über die aktive Sterbehilfe für Kinder diskutiert wird, werfen Kritiker der Sterbehilfe den Befürwortern vor, dass ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung, die gleich aus welchem Grund den Eindruck haben, ihren Nachkommen zur Last zu fallen, oder aus Angst vor Unterversorgung, drohender oder eingetretener Altersarmut, sich selbst dazu genötigt fühlen, ein Angebot der Aktiven Sterbehilfe oder des Assistierten Suizids in Anspruch zu nehmen. So ist aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Assistierten Suizid im Jahr 2020 die gesellschaftliche Diskussion zur Optimierung des Sterbens aus individueller aber auch gesellschaftlicher Sicht bei Weitem nicht beendet. Lesetipp ∣ Website Deutsches Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften: Zentrale Diskussionsfelder der Sterbehilfe . Im Internet unter: http: / / www.drze.de/ im-blickpunkt/ sterbehilfe/ zentralediskussionsfelder <?page no="231"?> Ökonomisierung der Medizin 231 4.3.5 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) bezeichnen Leistungen, die nicht der Leistungspflicht gesetzlicher Krankenkassen unterliegen und folglich vom Patienten direkt bezahlt werden müssen. Es werden folgende Leistungen unterschieden: Leistungen, die qua gesetzlicher Forderung nicht „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und das Maß des Notwendigen […] überschreiten“ Leistungen außerhalb des Versorgungsauftrages der Krankenkassen, beispielsweise Tauglichkeitsuntersuchungen für Sportarten oder Beratung und Impfungen vor Urlaubsreisen von Patienten gewünschte Leistungen ohne medizinische Indikation, beispielsweise die Entfernung einer Tätowierung oder andere kosmetische Operationen Während vom Patienten gewünschte Leistungen ohne medizinische Indikation zweifelsfrei nicht im Versorgungsauftrag der Krankenversicherungen liegen und aufgrund ihres fehlenden medizinischen Nutzens einer besonders sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung zu unterziehen sind, haben Leistungen wie reisemedizinische Beratungen durchaus einen klar erkennbaren Nutzen. Hieraus kann sich jedoch kein Anspruch des Einzelnen auf Eintritt der Solidargemeinschaft ableiten. Besonders kritisch hingegen sind Leistungen zu betrachten, für die bislang kein Nutzennachweis erbracht worden ist oder die nach bisheriger Studienlage keinen Nutzen gegenüber Maßnahmen aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen oder gar der Unterlassensalternative haben. Zwar hat der Patient aus juristischer Sicht ein Recht dazu, auch Therapien ohne Nutzennachweis oder einer ungünstigen Nutzen-Risiko-Relation auszuwählen, solange diese nicht „gegen die guten Sitten verstößt“. Jedoch gibt es bereits zahlreiche Fälle, in denen Patienten bei solchen Therapien entweder eine nachgewiesene Wirksamkeit suggeriert wurde, oder in der Patienten mit infauster Prognose, die „sich an jeden Strohhalm klammern“, mit dubiosen Heilversprechen horrende Geldbeträge abverlangt wurden. Der 109. Deutsche Ärztetag hat im Jahr 2006 die <?page no="232"?> 232 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin in → Tabelle 18 aufgelisteten Gebote zum Umgang mit IGeL verabschiedet. Gebote im Umgang mit Individuellen Gesundheitsleistungen 1. Sachliche Information 2. Ausschließliches Angebot zulässiger Leistungen 3. Korrekte und transparente Indikationsstellung 4. Seriöse Beratung 5. Ärztliche Aufklärung inkl. wirtschaftliche Konsequenzen 6. Angemessene Informations- und Bedenkzeit 7. Schriftlicher Behandlungsvertrag 8. Koppelung mit sonstigen Behandlungen (GKV-Leistungen) vermeiden 9. Einhaltung von Gebietsgrenzen und Qualität 10. Liquidation anhand der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) Tab. 18: Die 10 Gebote im Umgang mit IGeL (Beschluss des 109. Deutschen Ärztetages) Trotz dieser bereits 2006 verabschiedeten Regelungen bleibt das Angebot von IGeL sehr kontrovers, da abweichend von den oben genannten Geboten, einige Angebote aggressiv beworben oder mit dem Anschein angeboten werden, dass diese Leistung erwiesenermaßen helfe, die jeweilige Krankenkasse aufgrund von Sparmaßnahmen die Kosten aber nicht erstatten würde. Ebenso werden Leistungen angeboten, die nach Prüfung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses eindeutig nicht empfehlenswert oder gar eindeutig schädlich sind. Obgleich die Initiative für IGeL eigentlich vom Patienten ausgehen sollte, bieten zahlreiche Anbieter regelrechte Verkaufstrainings für Medizinische Fachangestellte an mit dem Ziel, den Praxisumsatz durch IGeL relevant zu erhöhen. Auf der Internetseite www.igel-monitor.de listet der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Kranken- <?page no="233"?> Ökonomisierung der Medizin 233 kassen e. V. für zahlreiche IGeL nach Prüfung der Nutzen-Risiko- Relation Empfehlungen auf. Die Seite www.igel-aerger.de gibt Einblicke in Patientenbeschwerden bezüglich angebotener IGeL, beispielsweise von Patienten, die sich von ihrem behandelnden Arzt unter Druck gesetzt gefühlt haben, IGeL zu kaufen. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V. (2012): Selbst zahlen? - Ein Ratgeber zu Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) für Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte . Im Internet unter: https: / / www.patienten-information.de/ checklisten/ igelcheckliste Beschluss des 109. Ärztetages: Zum Umgang mit individuellen Gesundheitsleistungen . Im Internet unter: http: / / www.bundesaerztekammer.de/ aerztetag/ beschlussprotok olle-ab-1996/ 109-daet-2006/ punkt-vii/ igel/ 1/ IGeL-Monitor . Individuelle Gesundheitsleistungen auf dem Prüfstand, Datenbank zur Nutenbewertung von IGeL, finanziert durch den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS). Im Internet unter: http: / / www.igel-monitor.de/ IGeL-Ärger . Ein Beschwerdeportal der Verbraucherzentralen für Patienten mit negativen Erfahrungen in Bezug auf IGeL. Im Internet unter: http: / / www.igel-aerger.de 4.3.6 Value(s)-based Healthcare - Neuorientierung an Werten statt Einzelleistungen Die derzeitigen Gesundheitssysteme der westlichen Welt sind geprägt von einer inputorientierten Vergütung und den damit einhergehenden Fehlanreizen zur mengenorientierten Leistungserbringung. Dies kann einerseits in bestimmten, besonders profitablen Leistungsbereichen zu einer Überversorgung und damit dem unnötigen Einge- <?page no="234"?> 234 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin hen medizinischer Risiken für den Patienten, zum anderen in weniger bzw. unprofitablen Leistungsbereichen zu einer Unterversorgung der Patienten führen. Der US-amerikanische Ökonom Michael E. Porter und der schottische Arzt Sir J. A. Muir Gray fordern in ihren Konzepten der sogenannten Value-based Healthcare eine Abkehr von dieser Denkweise hin zu einer werteorientierten Sichtweise. Während der Ökonom Porter den Wert lediglich als Verhältnis des Nutzens in Bezug zu monetären Ausgaben sieht, fordert Muir Gray das Prinzip der Triple Value Healthcare ein. Dieses soll zum Ersten, eine optimale Verteilung der Ressourcen auf Patienten bzw. Patientengruppen ermöglichen, zum Zweiten eine optimale Qualität und Sicherheit der angebotenen Leistungen ermöglichen und zum Dritten, die persönlichen Erwartungen des Patienten in Hinblick auf das Behandlungsergebnis berücksichtigen. Was auf den ersten Blick große Parallelen zu der von Sackett in → Kapitel 2.3. beschriebenen Evidenzbasierten Medizin aufweist, berücksichtigt jedoch in beiden Konzepten die realistischerweise vorhandene Endlichkeit, der zur Verfügung stehenden Ressourcen und die damit entstehenden Allokationsprobleme, wie in → Kapitel 2.8.4. bereits angedeutet, die das Konzept der Evidenzbasierten Medizin konsequent ausblendet. Obgleich eine Abkehr von bisherigen Leistungssteuerungssystemen in dem von Selbstverwaltung und Besitzstandsdenken geprägten Gesundheitssystem als hochkomplex und langwierig angesehen werden muss, bietet sich hiermit die Chance, eine ausgewogene und faire Diskussion zwischen Aufwand und Nutzen medizinischer Interventionen zu führen und Fehlanreize der Über- oder Unterversorgung zu eliminieren. Es bleibt somit letztlich nichts anderes übrig, als sich dem in → Kapitel 4.1. dargestellten Dilemma der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Ansprüchen der finanzierenden Beitragszahlenden und der Leistung in Anspruch Nehmenden zu stellen, wobei insbesondere Leistungen für chronisch kranke Menschen und solchen mit seltenen aber kostenintensiven Erkrankungen nicht nur aus ökonomischer, sondern gleichsam auch aus ethischer Perspektive betrachtet werden müssen. Bliebe es bei einer rein ökonomischen Betrachtung, würde die Behandlung älterer und schwerkranker Menschen mit begrenzter Restlebenszeit schlicht aufgrund ihrer ökonomischen Ineffizienz abgelehnt werden, was gegen das elementare <?page no="235"?> Globalisierung in der Medizin 235 medizin-ethische Grundprinzip der Fürsorge verstößt. Es bleibt somit abzuwarten, bis zu welchem Grad sich utilitaristische Prinzipien, wie das in → Kapitel 4.3.2. dargestellte Konzept der QALYs, in dieser Diskussion durchsetzen, und welche moralischen Grundannahmen den Gesundheitssystemen in verschiedenen Ländern künftig zugrunde liegen werden. Eine grundsätzliche und konsequente Orientierung der Allokation medizinischer Ressourcen nach sorgfältig zu definierenden Nutzengesichtspunkten, primär für Patienten und sekundär für das Gesundheitssystem als Ganzes, erscheint jedoch der einzig rationale Weg in dem in diesem Kapitel bislang beschriebenen Spannungsfeld. Lesetipps ∣ Literatur Jani A., Jungmann S., Gray M. (2018): Shifting to triple value healthcare: Reflections from England . Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 130 S. 2-7. Im Internet: https: / / www.sciencedirect.com/ journal/ zeitschriftfur-evidenz-fortbildung-und-qualitat-imgesundheitswesen/ vol/ 130/ suppl/ C Raspe H. (2018): Value based health care (VbHC): woher und wohin? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 130 S. 8-12. Im Internet: https: / / www.sciencedirect.com/ journal/ zeitschrift-fur-evidenzfortbildung-und-qualitat-im-gesundheitswesen/ vol/ 130/ suppl/ C 4.4 Globalisierung in der Medizin Neben dem demographischen Wandel beeinflusst die Globalisierung nahezu alle Lebensbereiche in besonderem Maße. So ergeben sich durch die Globalisierung einerseits Chancen für Patienten und Anbieter von Gesundheitsleistungen, andererseits gehen damit auch Risiken einher. <?page no="236"?> 236 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin 4.4.1 Chancen/ Risiken aus Patientensicht Die wesentlichen Vorteile der Globalisierung aus Sicht der Patienten bestehen zum einen in einem höheren Grad der Interaktionsmöglichkeiten der Anbieter von Gesundheitsleistungen, zum anderen aber auch in der Erweiterung bisheriger Möglichkeiten und der Nutzung von Preisdifferenzen bei Gesundheitsdienstleistungen. Durch eine zunehmende Vernetzung von Gesundheitsanbietern weltweit ergeben sich Möglichkeiten für Patienten, beispielsweise durch Nutzung von Untersuchungsmethoden wie der Gensequenzierung eines Tumors in einem US-amerikanischen Labor wie in → Kapitel 2.8.2 beschrieben oder der Konsultation eines Spezialisten in einem beliebigen Land der Erde bei Auftreten einer hierzulande unbekannten Erkrankung. Ebenso sind bereits durch die erhöhte Vernetzung, beispielsweise in Form von Telemedizin, Verbesserungen in der Patientenbehandlung, beispielsweise in der Diagnostik und Therapie eines Schlaganfalls, möglich. Durch den Zugang in andere Gesundheitssysteme eröffnen sich für Patienten ebenfalls neue Behandlungsmöglichkeiten: So kann der Patient entweder einen Innovationsvorsprung , beispielsweise bei einer neuartigen Methode, die nur an einem Zentrum außerhalb seines Landes angeboten wird, in Anspruch nehmen oder aber abweichende gesetzliche Regelungen in Anspruch nehmen. Während Paaren mit Kinderwunsch beispielsweise in Deutschland nach derzeitiger Rechtslage eine Eizellspende verwehrt werden muss, ist dieses Verfahren in anderen europäischen Ländern wie Spanien oder Tschechien rechtlich möglich. Ein weiterer Effekt, der mit dem Begriff Medizintourismus bezeichnet wird, ist die Möglichkeit, Gesundheitsleistungen im Ausland zu deutlich günstigeren Konditionen zu erwerben. So haben sich im Bereich des Zahnersatzes oder der Fehlsichtigkeitskorrektur mittels Laser (Augenlasern) zahlreiche Angebote im Ausland etabliert, die neben der medizinischen Leistung auch die notwendigen Rahmenbedingungen wie Flug und Hotelunterbringungen realisieren und dennoch aufgrund niedrigerer Lohnkosten und anderer Einspareffekte Leistungen deutlich günstiger anbieten als im hiesigen Gesundheitssystem. <?page no="237"?> Globalisierung in der Medizin 237 Mit dem Bezug von Leistungen im Ausland sind jedoch auch Risiken verbunden. So unterliegen die Gesundheitsanbieter im Ausland anderen gesetzlich-behördlichen Auflagen, die teilweise erheblich vom hiesigen Standard abweichen können. Im Fall einer Komplikation, beispielsweise bei Zahnersatz, wird eine erneute mit Kosten verbundene Behandlung im Ausland erforderlich, und aufgrund von Sprachbarrieren kann es zu folgenschweren Missverständnissen zwischen dem Behandelnden und dem Patienten kommen. Im Fall einer Rechtsstreitigkeit sind zudem die Gerichte im Land des Behandelnden zuständig, was in vielen Fällen die Geltendmachung von Ansprüchen wie Schadenersatz erschwert oder nahezu unmöglich macht. 4.4.2 Chancen/ Risiken aus Anbietersicht Nicht nur für Patienten, sondern auch für Anbieter von Gesundheitsleistungen im hiesigen System bieten sich Chancen und Risiken. Wesentliche Chancen liegen zum einen in der Möglichkeit der Rekrutierung weiterer Patienten aus dem Ausland, zum anderen auch in der Kooperation mit ausländischen Partnern, beispielsweise zum günstigeren Bezug von Sachleistungen. Bei der Behandlung ausländischer Patienten haben sich zahlreiche Gesundheitseinrichtungen auf die Versorgung zahlungskräftiger Patientengruppen aus dem außereuropäischen Ausland spezialisiert. Neben der medizinischen Leistung offerieren diese Anbieter auch umfangreiche Serviceleistungen, beispielsweise bei der Organisation von Visa, Flughafentransfer oder Hotelleistungen für begleitende Familienangehörige. Bei der Rekrutierung ausländischer Patienten treten jedoch oft auch sogenannte Patientenvermittler auf, die Patienten mit teilweise unrealistischen Versprechungen unter Einbehalt teilweise immenser Provisionen an Gesundheitseinrichtungen vermitteln. Der Bezug von Sachleistungen lohnt sich für inländische Anbieter vor allem insofern, wenn aufgrund von Mengeneffekten oder hohen Produktionskosten im Inland deutliche Preisunterschiede zu realisieren sind. Beispielsweise können Zahntechniker nach digitaler Übermittlung von Daten oder Versand eines Zahnabdruckes per Logistik- <?page no="238"?> 238 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin dienstleister in Fernost Zahnimplantate bei deutlich niedrigeren Lohnkosten herstellen. Durch die zunehmende Globalisierung der Arbeitswelt ist es zudem möglich, Personaldefizite im Gesundheitswesen durch Rekrutierung ausländischer Fachkräfte zu decken, ein Vorgehen, das bereits seit Jahrzehnten beispielsweise im Pflegebereich praktiziert wird. Wesentliche Risiken der oben genannten Optionen bestehen im potenziellen Zahlungsausfall des selbstzahlenden Patienten bei unvorhersehbaren Komplikationen oder gar frustranem Verlauf, ohne dass eine Behandlung abgebrochen werden kann. Ebenso können bei Bezug von Sachleistungen aus dem Ausland Qualitätsmängel auftreten. Insbesondere bei hohen Gewinnmargen, wie beim Bezug hochpreisiger Medikamente aus dem Ausland, steigt zudem das Risiko für Produktfälschungen. Aus der Tatsache der gestiegenen Mobilität von Arbeitnehmern erwächst zudem das Risiko, dass qualifiziertes Fachpersonal durch höhere Löhne und/ oder bessere Arbeitsbedingungen in andere Länder auswandert bzw. abgeworben wird. Somit verstärkt die Globalisierung auch bestehende Personaldefizite, die aufgrund des demographischen Wandels und des damit einhergehenden erhöhten Bedarfs noch wachsen werden. Zwar kann ein Teil dieses Defizits durch Rekrutierung ausländischen Personals kompensiert werden, jedoch ist die Rekrutierung ausländischen Personals einerseits mit hohen Kosten verbunden und stellt andererseits aufgrund von Sprachbarrieren aber auch aufgrund von einem anderen kulturellen Verständnis von Krankheit und Gesundheit eine enorme Herausforderung mit einhergehenden Risiken für die Patientenversorgung dar. Lesetipps ∣ Literatur und Websites Frädrich, A. (2013): Medizintourismus. Patienten weltweit „auf Achse“ . Deutsches Ärzteblatt. 2013/ 110. S. 35-36. Im Internet unter: http: / / www.aerzteblatt.de/ pdf.asp? id=145389 <?page no="239"?> Globalisierung in der Medizin 239 Nagel, L.-M., Neller; M. (2013): Medizintourismus. Das Geschäft der dubiosen Patientenvermittler . Die Welt. 15.12.2013. Im Internet unter: http: / / www.welt.de/ 122934103 4.4.3 Multiresistente Keime und Pandemien Der zunehmende weltweite Personenverkehr stellt die Gesundheitsversorgung vor deutliche Herausforderungen. So können dank intensiven Flugverkehrs Patienten mit hochansteckenden Krankheiten Krankheitserreger binnen weniger Tage weltweit verbreiten. Gleichzeitig entstehen durch die Evolution von Bakterien, aber auch unterstützt durch den immensen Einsatz von Antibiotika in der Tiermast und dem unsachgemäßen Gebrauch von Antibiotika beispielsweise bei viralen Infektionskrankheiten, zunehmend Bakterien, die gegen bisher entwickelte Antibiotika weitgehend oder gar vollkommen resistent sind. Auch diese Erreger, die teilweise gehäuft in bestimmten Regionen der Welt vorkommen, können durch Reisebewegungen das hiesige Gesundheitssystem und damit die hiesigen Patienten betreffen. Die Bekämpfung multiresistenter Keime und die Vermeidung von Pandemien ist somit nicht mehr nationale Aufgabe, sondern eine vielmehr internationale oder gar globale Herausforderung , was am Beispiel der in Hongkong ausgebrochenen Atemwegserkrankung SARS, der in Westafrika entstandenen Ebola-Epidemie oder der Bekämpfung des Zika-Virus in Südamerika deutlich wird. Die Schutzmaßnahmen bei Infektionskrankheiten sind je nach Erreger individuell zu treffen und je nach Entwicklung einer Epidemie oder Pandemie kurzfristig zu ändern. Sie bestehen aber im Wesentlichen aus drei Komponenten, die je nach Lage fließend ineinander übergehen können: Eindämmungsstrategie (containment) Solange die Anzahl der Erkrankten gering genug ist und die Infektionswege nachvollziehbar sind, wird versucht durch Quarantäne- Maßnahmen bei Erkrankten und deren Kontaktpersonen die Verbreitung der Erkrankung einzudämmen, verbunden mit dem Ziel, dass nach überstandener Krankheit aller in Quarantäne Befindlichen die <?page no="240"?> 240 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Übertragung des Virus aufhört, die Infektionskette somit unterbrochen und das Virus dadurch eliminiert wird. Ziel dieser Strategie bei schon hohen Krankheitszahlen kann auch sein, Zeit zu gewinnen für die Vorbereitung von Gesundheitseinrichtungen und die Entwicklung neuer Medikamente oder Impfstoffe. Schutzstrategie (protection) Sollte es zunehmend zu nicht mehr nachvollziehbaren Infektionsketten kommen und die Eindämmungsstrategie damit wirkungslos werden, steht nun der Schutz besonders gefährdeter (vulnerabler) Patientengruppen im Vordergrund, zum Beispiel durch sogenannte Schutzisolation dieser Personen vor möglicherweise infizierten Menschen. Folgenminderungsstrategie (mitigation) Wenn der individuelle Schutz besonders gefährdeter Patientengruppen aufgrund der hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit und der hohen Anzahl Infizierter nicht mehr möglich ist, verschiebt sich die Priorität der Infektionsschutzmaßnahmen auf die Minderung der negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft und das soziale Leben, zum Beispiel durch Verlangsamung der Infektionsraten, um das Gesundheitssystem leistungsfähig zu erhalten wie in → Abbildung 18 am Beispiel der Corona-Pandemie dargestellt. Wissen ∣ Das SARS-CoV-2-Virus Am 31. Dezember 2019 wurde nach anfänglich unterdrückter Berichterstattung bekannt, dass in Wuhan/ China ein Virus zu schweren Lungenerkrankungen bei Menschen geführt hat und vermutlich von Mensch zu Mensch übertragbar ist, was sich am 20. Januar 2020 bestätigte. Die Symptome der Erkrankung erinnern an das SARS-Virus aus dem Jahr 2003, weswegen das am 7. Januar 2020 identifizierte Corona-Virus später den Namen SARS-CoV-2 erhielt. <?page no="241"?> Globalisierung in der Medizin 241 Die verursachte Erkrankung erhielt von der Weltgesundheitsorganisation WHO den Namen „Corona virus disease 2019“, kurz Covid-19 . Binnen weniger Wochen breitete sich das Virus global aus. Am 31. Januar 2020 rief die WHO deswegen den Internationalen Gesundheitsnotstand, am 11. März 2020 stufte die WHO die Erkrankung als Pandemie ein. Während für jüngere Menschen ohne Begleiterkrankungen meist eher milde oder sogar symptomlose Krankheitsverläufe beschrieben wurden, ereigneten sich insbesondere bei älteren und vorerkrankten Patienten schwere Krankheitsverläufe mit einer vergleichsweisen hohen Sterblichkeitsrate. Stand: 24.05.2021, 17: 52 Uhr führte das Virus bereits zur Infektion von über 162 Millionen Menschen bei hoher Dunkelziffer aufgrund vieler milder oder symptomloser Verläufe und zu über 3,4 Millionen Covid-19 bedingten Todesfällen. Nach einer anfänglichen Containment-Strategie der Isolierung von Infizierten und Kontaktpersonen wurden mit nur einigen Tagen Unterschied in ganz Europa Krisenpläne zur Folgenminderung (mitigation) umgesetzt: Universitäten, Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Restaurants, Sport- und Kulturstätten wurden geschlossen, Reisewarnungen bis hin zu Ein- und Ausreiseverboten und sogar nächtliche Ausgangssperren ausgesprochen, Krankenhausbetten für erwartete Covid-19 Patienten gesperrt und Versammlungsverbote erlassen. Ziel dieser Maßnahmen war nicht mehr, das Virus zu eliminieren, sondern durch eine verlangsamte Ausbreitung des Virus die Zahl der Neuerkrankungen pro Tag zur reduzieren, um so das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, wie → Abbildung 18 verdeutlicht. Fehlende medizinische Betreuungskapazitäten inkl. fehlender intensivmedizinischer Krankenhausbetten waren in verschiedenen Regionen der Welt nach Aussage von Fachexperten der Grund für eine überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit der Erkrankung. <?page no="242"?> 242 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Nach erfolgreicher Bewältigung der vergleichsweise kurzen 1. Infektionswelle in Deutschland wurden Vorbereitungen auf die 2. Infektionswelle im Winter 2020/ 21 an vielen Stellen leider vernachlässigt, obgleich historische Daten der Grippepandemie aus den Jahren 1916/ 18 diese Entwicklung nahelegten. Nach Entwicklung verschiedener wirksamer Impfstoffe in Rekordzeit bleibt nun abzuwarten, ob eine Herdenimmunität hergestellt werden kann, insbesondere vor dem Hintergrund von Virusmutationen, dem globalen Bedarf an Impfstoffen und einer wahrscheinlich zeitlich begrenzten Immunität nach der Impfung. Abb. 18: Folgenminderungsstrategie zur Entlastung des Gesundheitssystems (flatten the curve) Anzahl der aktiv Erkranten Kapazität des Gesundheitssystems Verlauf ohne Schutzmaßnahmen Verlauf mit Schutzmaßnahmen zeitlicher Verlauf seit Beginn der Pandemie <?page no="243"?> Digitalisierung in der Medizin 243 Lesetipps ∣ Literatur und Websites Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Informationsprotal Infektionsschutz.de . Im Internet unter: http: / / www.infektionsschutz.de/ Honigsbaum, M.: How Pandemics spread . TED Ed Lesson. Im Internet unter: http: / / ed.ted.com/ lessons/ how-pandemics-spread Robert Koch-Institut (RKI): Nationaler Pandemieplan . Im Internet unter: https: / / www.rki.de/ DE/ Content/ InfAZ/ I/ Influenza/ Pandemieplan ung/ Pandemieplanung.html 4.5 Digitalisierung in der Medizin Die Digitale Transformation , in der Umgangssprache als Digitalisierung bezeichnet, verändert derzeit alle Lebensbereiche gravierend und wird hinsichtlich der erwarteten gesellschaftlichen und beruflichen Umwälzungen mit der Industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts verglichen. Die medizinische Versorgung erlebt Digitalisierung derzeit auf vielfältige Weise. So werden Krankenakten zunehmend digital statt papierbasiert geführt, analoge Röntgenbilder weichen digital verfügbaren Bildern, Gesundheits-Apps wollen Patienten informieren oder ihre Diagnostik bzw. Behandlung unterstützen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz für die Diagnosefindung, die Auswertung von Big Data zur Erkennung neuer Therapieansätze oder die weltweite Vernetzung medizinischer Akteure bis hin zur Fernbehandlung von Patienten, sind nur einige Aspekte dieses globalen Megatrends. Zwar lassen sich alle Folgen der Digitalen Transformation - ebenso wenig wie vor der Industriellen Revolution - mit Sicherheit voraussagen, die Prognosen Einzelner gehen jedoch bis hin zur Prophezeiung des Austauschs aller medizinischen Fachberufe durch Roboter und Künstliche Intelligenz. <?page no="244"?> 244 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin DREI-AUGEN-PRINZIP Vorteile eines Menschen hohe Intelligenz im Vergleich zu IT-Anwenungen (selbst verglichen mit künstlicher Intelligenz) sehr gute Fähigkeit, aus vielen Informationen, die wirklich relevanten herauszufiltern hohe Flexibilität, dynamische Entscheidungen zu treffen Vorteile eines Computers sehr hohes Informationsverarbeitungspotenzial sehr hohe Arbeitsgeschwindigkeit sehr hohe Belastbarkeit (keine Übermüdung/ Konzentrationsfehler) sehr gute Merkfähigkeit (Basierend auf World Health Orgainsation (WHO 2012): Patient Safety. Why applying human factors is important for patient safety. Course Handout) Abb. 19: Das Drei-Augen-Prinzip. Quelle: Strametz, R. (2018): Patientensicherheit 4.0. Heilberufe/ Das Pflegemagazin 70(12): 24-26 Beim Vergleich menschlicher Leistungen mit den Vorteilen eines IT- Systems wird jedoch, wie in → Abbildung 19 dargestellt, schnell deutlich, dass sowohl Mensch als auch Maschine Vorteile für die Medizin bieten und eine sinnvolle Kombination der Vorteile beider Seiten im Sinn des sogenannten Drei-Augen-Prinzips den mutmaßlich größten Nutzen bieten würden. Wie bei allen gravierenden Umbrüchen erwachsen aus der Digitalisierung enorme Chancen für die Verbesserung der Patientenversorgung, andererseits sind diese Innovationen auch immer mit neuen, ggf. teilweise unbekannten Risiken verbunden. Wie bei allen gravierenden Umbrüchen erwachsen aus der Digitalisierung enorme Chancen für die Verbesserung der Patientenversorgung, andererseits sind diese Innovationen auch immer mit neuen, ggf. teilweise unbekannten Risiken verbunden. <?page no="245"?> Digitalisierung in der Medizin 245 Beispiel ∣ Chancen und Risiken digitaler Röntgenbilder Durch die Digitalisierung von Röntgenbildern konnte in der Vergangenheit das Risiko eines verloren gegangenen Originalbildes eliminiert werden, da das digitale Bild sogar gleichzeitig an nahezu beliebig vielen Stellen ohne Transportverzögerung vorhanden ist. Die Befundung des Bildes durch einen Radiologen im Bereitschaftsdienst am heimischen Computer ist beispielsweise längst Realität. Die Zeit bis zur Stellung einer fachärztlichen Diagnose kann so deutlich verkürzt werden und ermöglicht auch jederzeit eine schnelle Befundung in Gesundheitseinrichtungen, in denen kein Radiologe anwesend ist. Sollte jedoch durch einen Hackerangriff oder einen simplen Stromausfall das IT-System der Gesundheitseinrichtung ausfallen, so sind davon nicht nur der aktuell zu untersuchende Patient und sein Röntgenbild, sondern alle Röntgenbilder der Abteilung betroffen. Ebenso wäre es technisch viel einfacher, große Mengen vorhandener Daten unbefugt zu entwenden, da in einer analogen Welt wohl kaum unbemerkt und mit vertretbaren Kosten das gesamte Bildarchiv hätte kopiert werden können. Zu den durch Innovation entstandenen Chancen kommen somit auch immer neue Risiken hinzu: Die auf diese Weise erbeuteten Daten könnten, insbesondere bei sensiblen Informationen wie psychischen Erkrankungen, einer HIV-Infektion oder genetischer Defekte, für Erpressungszwecke genutzt werden. Aufgrund der hohen Sensibilität der Daten, dem damit verbundenen Leidensdruck aller Beteiligten und der im Vergleich zu anderen Branchen gering ausgeprägten Infrastruktur zum Schutz dieser Daten, sind Gesundheitseinrichtungen weltweit in den Fokus von Cyberkriminellen geraten. Neben Hacker-Angriffen sind aber auch rein technisch bedingte Ausfälle oder Fehlprogrammierungen mit enormen Risiken für die Patientensicherheit verbunden. <?page no="246"?> 246 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Beispiel ∣ Fehlerhafte Gesundheits-Apps In den App-Stores aller wesentlichen Plattformen für Smartphones finden sich unzählige Gesundheits-Apps, angefangen von Terminerinnerungen für Arztbesuche, Leitlinien-Datenbanken bis hin zu Diagnose Apps zur Erkennung von Hautkrebs (Maligne Melanome) oder Rechenprogrammen für die Dosierung von Insulin für Diabetiker. Studien von Hautärzten und Diabetologen haben jedoch gezeigt, dass diese Apps teilweise nicht zuverlässig funktionieren und grob falsche Diagnosen oder Therapievorschläge liefern. So könnte ein Patient mit unerkanntem Hautkrebs durch den Gebrauch einer App und einen falsch-negativen Befund ( → Kapitel 2.3.5.2.), in falscher Sicherheit gewogen, einen Hautarztbesuch zur Früherkennung unterlassen oder ein Diabetiker sich eine viel zu hohe Menge Insulin verabreichen. Beides kann im schlimmsten Fall tödlich enden. Wie die vorliegenden Beispiele zeigen, kann nur der gewissenhafte Umgang mit digitalen Angeboten in der Medizin eine Anwendung mit akzeptablem Sicherheitsniveau zum Wohl der Patienten und zur Verbesserung ihrer Behandlung ermöglichen. Es war und ist aufgrund der möglichen Auswirkungen daher Aufgabe aller im medizinischen Bereich Handelnden, die Chancen der Medizin (auch der ihrer Innovationen) immer in einem ausgewogenen Verhältnis zu den damit einhergehenden Risiken zu betrachten. Ein verantwortungsbewusster, proaktiver und kompetenter Umgang mit digitalen Innovationen im Gesundheitswesen setzt somit einerseits eine digitale Gesundheitskompetenz (digital health literacy) von Patienten und Behandelnden, andererseits eine sorgfältige Nutzen-Risiko- Abwägung und entsprechende Schutzmaßnahmen im Vorfeld voraus. Auch wenn die Medizin in der Vergangenheit viele Gesundheitsrisiken für die Menschheit eliminiert oder zumindest reduziert hat und künftig höchst wahrscheinlich weiter reduzieren wird, so ist und bleibt die Medizin definitiv ein Hochrisikobereich . Dieser Problematik widmet sich nun das letzte Kapitel dieses Buches. <?page no="247"?> Medizin als Hochrisikobereich 247 Lesetipps ∣ Literatur und Websites Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (2018): Digitalisierung und Patientensicherheit - Handlungsempfehlung für das Risikomanagement in der Patientenversorgung. Berlin. Im Internet unter: https: / / www.aps-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 05/ 2018_APS- HE_Digit_RM.pdf Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (2018): Digitalisierung und Patientensicherheit - Checkliste für die Nutzung von Gesundheits-Apps . Berlin. Im Internet unter: https: / / www.aps-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 05/ 2018_APS- Checkliste_GesundheitsApps.pdf Experteninterviews der Bertelsmann-Stiftung zur Frage, wie die Digitalisierung unser Gesundheitssystem verändert . Im Internet: https: / / www.bertelsmann-stiftung.de/ de/ unsere-projekte/ weisseliste/ projektthemen/ digitalisierung/ 4.6 Medizin als Hochrisikobereich Dieses Buch begann und schließt mit dem medizinischen Grundprinzip „primum nil nocere“. Durch die in diesem Buch dargelegten Errungenschaften und weitere Rahmenbedingungen ist die moderne Medizin einerseits in den meisten Fällen sehr segensreich, sieht sich aber insgesamt zunehmend in einem Spannungsfeld von vier teilweise bereits andiskutierten, zunehmend kritischen Einflüssen wie in → Abbildung 20 dargestellt. <?page no="248"?> 248 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Abb. 20: Patientensicherheit im Spannungsfeld moderner Medizin Durch zunehmendes Wissen, Differenzierung, Spezialisierung und Akademisierung der Gesundheitsfachberufe ist an die Stelle des omnikompetenten Allroundmediziners eine große Gruppe verschiedener Akteure in der Behandlung des Patienten getreten. Gleichzeitig verkürzt sich die Halbwertszeit medizinischen Wissens zunehmend. All dies führt zwangsläufig zu einer Zunahme der Komplexität in der Medizin. Durch spektakuläre Erfolge der Medizin und die teils selektive und subjektive mediale Berichterstattung sind die Erwartungen von Patienten und Angehörigen zudem in enormem Maß gestiegen. Wie in anderen Lebensbereichen ist auch hier zu beobachten, dass unerwünschte Ergebnisse immer seltener als schicksalhaft akzeptiert werden und insbesondere aufgrund der medialen Skandalisierung von Fehlern in der Patientenversorgung viel häufiger ein Versagen der Handelnden als eine naturgemäß auch potenziell ungünstig verlaufende Erkrankung angenommen wird. Der technische Fortschritt erhöht zum einen die Komplexität, sorgt aber auch dafür, dass immer größere Risiken eingegangen werden können für Patienten, deren Prognose noch vor einiger Zeit schlicht als infaust galt. Dies alles geschieht derzeit unter den Rahmenbedingungen zunehmenden Gesundheitseinrichtung zunehmende Komplexität gestiegene Erwartungen technischer Fortschritt intensiver Wettbewerb <?page no="249"?> Medizin als Hochrisikobereich 249 Wettbewerbsdrucks, der wiederum seinerseits durch Leistungsverdichtung und Sparzwänge Risiken in der Patientenversorgung verstärken kann. Dass das Gesundheitswesen als eines der komplexesten Systeme in einer Gesellschaft auch eine relevante Anzahl von Patienten unbeabsichtigt schädigt, stellte im Jahr 1999 die Publikation „ To err is human “ des Institute of Medicine (IOM) in den USA unter Beweis. So schätzte das IOM basierend auf Untersuchungen alleine die Zahl der Patienten, die jährlich durch vermeidbare Fehler in der stationären Versorgung ums Leben kamen, auf 44.000-98.000. Vermeidbare medizinische Fehler wurden somit als die achthäufigste Todesursache in den USA im Jahr 1999 geführt. Dass diese Zahl vielleicht sogar viel zu niedrig angesetzt wurde, da mutmaßlich eine hohe Dunkelziffer solcher Fälle existiert, unterstellten die Autoren um Martin Makary im Jahr 2016 im British Medical Journal, da sie basierend auf neueren Untersuchungen davon ausgehen, dass jedes Jahr sogar ca. 251.000 US-Amerikaner an Folgen vermeidbarerer Fehler versterben und medizinische Fehler somit die dritthäufigste Todesursache in den USA wären. Neben den fatalen medizinischen Folgen schätzt die OECD in der 2017 veröffentlichten Publikation „The Economics of Patient Safety“, dass ca. 15 % der Gesamtausgaben im stationären Bereich ausschließlich der Kompensation medizinischer Fehler dienen und eine Vermeidung dieser Fehler somit nicht nur Patienten schützen, sondern auch das Gesundheitssystem massiv entlasten kann. Zahlreiche Untersuchungen von Schadensfällen in der Medizin und in anderen Branchen wie der Luftfahrt zeigen, dass zwar bei den meisten Ereignissen menschliche Fehler eine Rolle gespielt haben, dass es sich aber mitnichten um rein „menschliches Versagen“ handelt, sondern menschliche Fehler durch systemische Komponenten, beispielsweise durch eine suboptimale Gestaltung der Arbeitsumgebung oder eine mangelhafte Kommunikation in Behandlungsteams, gefördert bzw. provoziert werden. James Reason, einer der bekanntesten Arbeitspsychologen auf diesem Gebiet, bemerkte hier trefflich: <?page no="250"?> 250 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Zitat „We cannot change the human condition, but we can change the conditions under which humans work. “ James Reason BMJ 2000; 320: 768-70 Dementsprechend ist eine individuelle Bestrafung des mutmaßlichen „Verursachers“ in der Regel nicht zielführend, sondern kann weiteren Schaden anrichten: Nicht nur Patienten und deren Angehörige, sondern auch Behandelnde selbst können durch vermeidbare Patientenschäden traumatisiert werden. Der amerikanische Arzt Albert Wu prägte im Jahr 2000 dafür den Begriff des second victim, also des zweiten Opfers. Studien aus den USA und eigene Forschungsergebnisse belegen, dass ein Großteil der Ärztinnen und Ärzte bereits während ihrer Facharztweiterbildung mindestens ein Mal selbst zweites Opfer ist. Dies kann zu Schuldgefühlen aber auch einer gesteigerten Angst vor erneuten Fehlern führen, und so auch künftige Patienten schädigen. Aber in bis zu 2/ 3 aller Fälle führen diese Traumatisierungen zu pathologischen Verarbeitungsmechanismen, wie Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch, Depressionen/ Burnout bis hin zur Berufsaufgabe oder gar Suizid. Helfen können vor allem kollegiale Unterstützung und die systematische Aufarbeitung des Falles. So kann das Erlebte verarbeitet werden und die second victims können, besonders sensibilisiert für Patientensicherheit, auch künftig in der Gesundheitsversorgung tätig sein. Ein gerechter Umgang mit Fehlern ist somit unerlässlich: Fahrlässigkeit oder bewusst geplante Patientenschädigungen dürfen keinesfalls toleriert werden und bedürfen mitunter sogar der Strafverfolgung. Second victims aber, die unbeabsichtigt einen vermeidbaren Schaden erzeugt haben, benötigen statt Bestrafung selbst Hilfe. Aus den Erkenntnissen der Patientensicherheitsforschung hat die Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) in den USA insgesamt fünf Eigenschaften formuliert, die besondere sichere Gesundheitseinrichtungen, sogenannte High-Reliability Organizations (HROs) kennzeichnen: <?page no="251"?> Medizin als Hochrisikobereich 251 [1] Sensibilität für die Betriebstätigkeit (also das Bewusstsein, in einem Hochrisikobereich zu arbeiten) [2] Abneigung gegenüber Vereinfachung (also die Vermeidung zu einfacher Erklärungen für komplexe Probleme) [3] Auseinandersetzung mit Fehlern (also die systematischen Aufarbeitung von Ereignissen zur Verbesserung des Systems) [4] Respekt vor Fachwissen (also die Berücksichtigung von Expertise der tatsächlich in der Versorgung Beteiligten) [5] Widerstandsfähigkeit (also die systematische Vorbereitung, um auf Fehler angemessen zu reagieren) Im Jahr 2021 wurden insgesamt 54 Lernziele im Zusammenhang mit systematischer Ausbildung in Patientensicherheit in den Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog (NKLM) aufgenommen, sodass künftig Studierende der Humanmedizin verbindlich systematisch in Patientensicherheit ausgebildet werden müssen. Da diese Konzepte bislang nicht Standard der medizinischen Ausbildung waren, müssen bestehende Strukturen der Gesundheitsversorgung derzeit an diese Erkenntnisse angepasst und Personal der Gesundheitsversorgung intensiver als bislang geschehen für diese Thematik sensibilisiert werden. Neben einer Reihe gesetzlicher Regelungen, die in allen Gesundheitssystemen der Welt derzeit Einzug halten oder bereits implementiert sind, gibt es insbesondere Experten-Empfehlungen, welche Gesundheitseinrichtungen befähigen sollen, mit dieser Thematik angemessen umzugehen. Mittels eines strukturierten klinischen Risikomanagements können so auf dem Fundament einer wachsenden Sicherheitskultur die wesentlichen Risiken für die Patientensicherheit identifiziert, deren Ursachen analysiert, diese hinsichtlich ihrer Relevanz bewertet und durch angemessene Präventionsmaßnahmen bewältigt werden. Das in Deutschland im Bereich Patientensicherheit maßgebliche Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) definiert die Begriffe Klinisches Risikomanagement und Sicherheitskultur für den stationären Versorgungsbereich in diesem Zusammenhang wie folgt: <?page no="252"?> 252 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Definition ∣ Klinisches Risikomanagement und Sicherheitskultur Klinisches Risikomanagement in Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken umfasst die Gesamtheit der Strategien, Strukturen, Prozesse, Methoden, Instrumente und Aktivitäten in Prävention, Diagnostik, Therapie und Pflege, die die Mitarbeitenden aller Ebenen, Funktionen und Berufsgruppen unterstützen, Risiken bei der Patientenversorgung zu erkennen, zu analysieren, zu beurteilen und zu bewältigen, um damit die Sicherheit der Patienten, der an deren Versorgung Beteiligten und der Organisation zu erhöhen. Sicherheitskultur im Kontext des Klinischen Risikomanagements von Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken beschreibt die Art und Weise, wie Sicherheit im Rahmen der Patientenversorgung organisiert wird, und spiegelt damit die Einstellungen, Überzeugungen, Wahrnehmungen, Werte und Verhaltensweisen der Führungskräfte und Mitarbeitenden in Bezug auf die Sicherheit von Patienten, Mitarbeitenden und der Organisation wider. Sicherheitskultur ist entwickelbar und unterliegt einem ständigen Lernprozess. Die zur Umsetzung notwendigen Anforderungen lassen sich grafisch im APS-Modell des Klinischen Risikomanagements in → Abbildung 21 veranschaulichen: <?page no="253"?> Medizin als Hochrisikobereich 253 Abb. 21: Das APS-Modell des Klinischen Risikomanagements Quelle: Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. Der Schutz der Patienten vor vermeidbaren Schäden durch ihre Behandlung bleibt somit auch 2000 Jahre nach der Formulierung der Erkenntnis „primum nil nocere“ eine der zentralen Aufgaben der Medizin. <?page no="254"?> 254 Ausgewählte Spannungsfelder in der Medizin Lesetipps ∣ Literatur und Websites Institute of Medicine (US) Committee on Quality of Health Care in America (1999): To Err is Human. Building a Safer Health System. Washington (DC): National Academies Press (US), Im Internet unter: https: / / www.ncbi.nlm.nih.gov/ books/ NBK225182/ Makary, Martin A et al. (2016): Medical error—the third leading cause of death in the US . BMJ 2016; 353: i2139 Slawomirski, Luke et al./ OECD (2017): The Economics of Patient Safety. Strengthening a value-based approach to reducing patient harm at national level. Im Internet unter: https: / / www.bundesgesundheitsministerium.de/ fileadmin/ Date ien/ 3_Downloads/ P/ Patientensicherheit/ The_Economics_of_patient _safety_Web.pdf Reason, James (2000). Human error: models and management . BMJ 2000; 320: 768-70, Im Internet unter: https: / / www.ncbi.nlm.nih.gov/ pmc/ articles/ PMC1117770/ pdf/ 768 .pdf Agency for Healthcare Research and Quality AHRQ (2008): Becoming a High Reliability Organization: Operational Advice for Hospital Leaders , AHRQ Publication No. 08-0022. Rockville, MD, Im Internet unter: https: / / archive.ahrq.gov/ professionals/ quality-patientsafety/ quality-resources/ tools/ hroadvice/ hroadvice.pdf Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (2016): Handlungsempfehlung Anforderungen an klinische Risikomanagementsysteme im Krankenhaus , Im Internet unter: www.aps-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2016/ 08/ HE_Risikomanagement-1.pdf <?page no="255"?> Glossar Akupunktur ∣ Verfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin, bei dem durch Einbringen von Nadeln an bestimmten Stellen des Körpers (Akupunkturpunkte) positive Wirkungen erzielt werden sollen Anamnese ∣ Erhebung der Krankheitsgeschichte eines Patienten zur Formulierung einer Verdachtsdiagnose und Planung des weiteren Vorgehens Ätiologie ∣ Lehre der Ursache von Krankheiten Compliance ∣ Bereitschaft des Patienten zur Mitwirkung im Rahmen der Behandlung, gelegentlich auch unter Verwendung des Begriffs Adherence Confounder ∣ Unbekannte Störgröße, die eine fehlerhafte Schlussfolgerung hinsichtlich einer Ursache-Wirkungs- Beziehung verursachen kann Diagnose ∣ Erkenntnis aufgrund einer oder mehrerer Untersuchungsverfahren ( → Diagnostik), welche Erkrankung/ Verletzung vorliegt Diagnostik ∣ Maßnahmen, die während oder nach Anamnese durchgeführt werden, um aus den möglichen → Differentialdiagnosen die → Diagnose stellen zu können Differentialdiagnose ∣ Aufgrund der → Symptome mögliche → Diagnose, die im Lauf der Diagnostik bis zu ihrem Ausschluss mitberücksichtigt werden muss Epidemie ∣ Stark gehäuftes, aber örtlich und zeitlich begrenztes Auftreten einer Erkrankung, insbesondere bei Infektionskrankheiten zu beobachten Evidenzbasierte Medizin ∣ Individualmedizinisches Konzept, dass die bestverfügbaren Forschungsergebnisse mit dem eigenen klinischen Wissen und den Wünschen des Pati- <?page no="256"?> 256 Glossar enten zu einer abgestimmte optimalen Behandlung integriert Exazerbation ∣ Unkontrollierter Ausbruch bzw. Verschlimmerung einer Erkrankung Homöopathie ∣ Kontrovers diskutierte, vor allem in Deutschland verbreitete Lehre, nach der, basierend auf dem Simile- Prinzip, hochverdünnte Wirkstoffe, die unverdünnt ähnliche Krankheitssymptome zur Behandlung von Beschwerden enthalten, eingesetzt werden. Ein Nutzennachweis nach den Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin existiert hierbei nicht, sodass Kritiker keine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung unterstellen Impfung ∣ Verfahren der → Prävention, bei dem das Immunsystem durch abgeschwächte Krankheitserreger zur Bildung eigener Antikörper stimuliert wird (aktive Impfung) oder Antikörper zugeführt werden (passive Impfung) und so eine Immunität gegen eine Erkrankung erzeugt wird, sodass sich Infektionskrankheiten nicht mehr ausbreiten können und so auch (noch) nicht impfbare Personen geschützt sind Indikation ∣ Legitimation einer → Therapie durch individuelle Abwägung des Nutzen- Risiko-Verhältnisses einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme Inzidenz ∣ Rate der Neuerkrankungen an einer bestimmten Krankheit in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in einem bestimmten Zeitraum Kontraindikation ∣ Vorhandensein einer Situation, die die Durchführung einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme aufgrund eines ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses ausschließt Meta-Analyse ∣ Epidemiologisches Verfahren, bei dem im Rahmen einer Systematischen Übersichtsarbeit Studienergebnisse verschiedener Einzelstudien mathematisch zu einem Gesamtergebnis zusammengefasst werden Palliativmedizin ∣ Aktive, ganzheitliche Behandlung von <?page no="257"?> Glossar 257 Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung, bei der die Beherrschung von Schmerzen, anderer Krankheitsbeschwerden, psychologischer, sozialer und spiritueller Probleme höchste Priorität besitzt Pandemie ∣ Im Gegensatz zur → Epidemie ein nicht örtlich begrenztes weltweites Auftreten einer Erkrankung, insbesondere bei Infektionskrankheiten wie Influenza, HIV oder Tuberkulose verwendet Pathogenese ∣ Beschreibung der Entstehung bzw. Entwicklung einer Krankheit Placeboeffekt ∣ Positiver Effekt, bei dem nicht ein biochemisch aktiver Wirkstoff, sondern die Handlung an sich (beispielsweise durch Einnahme einer wirkstofflosen Tablette) eine Besserung von → Symptomen hervorruft Prävalenz ∣ Rate an einer bestimmten Erkrankung in einer bestimmten Population zu einem bestimmten Stichtag bzw. innerhalb eines bestimmten Zeitraums erkrankter Personen Prävention ∣ Maßnahmen der Vorbeugung (primär), Früherkennung (sekundär) oder Nachbehandlung (tertiär) von Krankheiten bzw. die Verhinderung unnötiger → Diagnostik/ Therapie (quartär) Prognose ∣ Individuelle Abschätzung des weiteren Krankheitsverlaufes bzw. der Heilungschancen aufgrund eigener Erfahrung und/ oder externer Vergleichsdaten Rehabilitation ∣ Maßnahmen zur bzw. Zustand der Wiederherstellung einer bestimmten Situation, im Kontext medizinischer Versorgung der Wiedererlangung eines Gesundheitszustandes (medizinische Rehabilitation) oder der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt (berufliche Rehabilitation) Rezidiv ∣ Wiederauftreten („Rückfall“) einer Erkrankung oder deren → Symptomen nach deren mutmaßlichem Abklingen <?page no="258"?> 258 Glossar Symptom ∣ Zeichen, dass auf das Vorliegen einer bestimmten Krankheit hinweist Therapie ∣ Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen auf der Basis einer gestellten → Diagnose <?page no="259"?> Index 5 5R-Regel 65 A ABDA 61 Abkürzungen 50 Absolute Risk Increase (ARI) 104 Reduction (ARR) 103 Abstrich 34 Aderlass 154 Adherence 38 Adipositas 165, 181 Body Mass Index (BMI) 165 -chirurgie 168 Diagnostik 167 Primärprävention 170 therap. Konzepte 168 Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) 250 AGREE II 111 AIDS 48 Akronym 46, 47 Aktion Saubere Hände 24 Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) 251 Aktive Sterbehilfe 138 Akupunktur 144 GERAC-Trial 148 Indikationen 146 Kontraindikation 147 Nebenwirkungen 146 Akutes Koronarsyndrom 184, 185 Diagnostik 186 NSTEMI 185 Prognose 187 PTCA 187 Risikofaktoren 185 STEMI 185 Symptome 186 Therapie 187 Akutversorgung 125 Alkoholkonsum 181, 196 Alternativmedizin 140 Grenzen 153 Altersarmut 230 Alzheimer, Alois 47 American Board of Internal Medicine (ABIM) 116 Amputationen 172 Analgetikum 136 Anämie 186 Anamnese 30, 174 Eigenanamnese 31 Familienanamnese 32, 174 Fremdanamnese 31 Medikamentenanamnese 32 psychische 31 somatische 31 Sozialanamnese 31 Anästhesie 27, 67 Anatomie 43 Aneurysma 192 <?page no="260"?> 260 Index Angina pectoris 181, 185 Angiogenese 198 Angiographie 191 Anorexia nervosa 205 Anreizprogramme 223 Antibiotika 29, 239 Antonowsky, Aaron 118 Antonym 47, 50 Aorta 184 APS 251 Arbeits- und Gesundheitsschutz 121 Arbeitsplatzbegehung 122 Arbeitsunfähigkeitstage 206 Arbeitsunfälle 121 Arterie 35, 50, 178 Arterielle Hypertonie 178, 180 Ärztelatein 53 Beispiele 53 Dechiffrierung 55 Arzt-Patienten-Beziehung 21, 54 aseptische Bedingungen 28 Asperger-Syndrom 205 Asthma bronchiale 129, 199 Diagnostik 200 ICS 201 RABA 201 Stufentherapie 200 Ätiologie 165 Aufmerksamkeits-Defizits- Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) 37, 205 Auskultation 182 Autonomie 214, 223 AWMF 109, 110 B Bandscheibenvorfall 36 bariatrische Chirurgie 168, 170 Beauchamp, Tom Lamar 212 Begleiterkrankungen 38 Begleitintervention 98 benigne 50 Bertelsmann Stiftung 219 Berufskrankheiten 121 Betäubungsmittel 64 Betriebliche Gesundheitsförderung 116, 117, 121, 122, 123 Luxemburger Erklärung 122 Betriebliches Eingliederungsmanagement 123 Betrieblicher Gesundheitsschutz 121 Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) 123 Betriebsmedizinischer Dienst 122 Bewegungsmangel 181 Bias 81, 85, 86, 108 Big Data 243 Bindeform 43 biomarkerbasierte Medizin 158 Biopsie 34, 197 Blastom 194 Block, Jack 120 Blutdruck Diastole 178 Systole 178 <?page no="261"?> Index 261 Bluthochdruck 146 Blutkreislauf 178 Blutzucker 182 Body Mass Index (BMI) 166, 167 Brustkrebs 128 -früherkennung 93 Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. (ABDA) 61 Bundesversicherungsamt 127 C C2 54 Caplan, Gerald 113 caput piger 54 cave 52 Chain, Ernst B. 29 Chefarztvisite 58 Chemotherapie 40, 146, 196, 197 Childress, James F. 212 Chirurgie 66 Chlorkalklösung 24 Cholera 154 Cholesterin 182 choosing wisely 116 Chronische Herzinsuffizienz 129 Cicero 21 Clipping 192 Cochrane 109 Codex Hammurapi 132 Coiling 192 Compliance 38, 55, 131 Computertomographie (CT) 34, 190 concealment of allocation 85 Confounder 85, 86, 97, 130 CONSORT-Statement 96 containment 239 Contergan-Skandal 62 Control Event Rate (CER) 103 COPD 129 Corona-Pandemie 240 Corpus Hippocraticum 19 Crick, Francis 158 critical health literacy 220 Cura palliativa 132 D DEGS Studie 166, 206 DEGS1 Studie 172 Demographischer Wandel 123, 195, 211 Denoix, Pierre 195 Depressionen 146 Desinfektion 28 Deutsche Adipositas Gesellschaft 168 Deutsche Rentenversicherung 206 Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) 116 Deutscher Ethikrat 161 Diabetes insipidus 172 Diabetes mellitus 171, 180 Basistherapie 176 Diagnostik 174 Langzeitschäden 172 Therapie 175 <?page no="262"?> 262 Index Typ 1 129 Typ 2 129, 181 Unterscheidung Typ 1/ 2 173 WHO-Kriterien 174 Diagnose 35 Arbeitsdiagnose 36 Ausschlussdiagnose 36 Differentialdiagnose 36 Fehldiagnose 36 Gefälligkeitsdiagnose 36 Modediagnose 37 Verdachtsdiagnose 32, 36 Verlegenheitsdiagnose 36 Diagnostik 32 Auskultation 33 Bildgebende Verfahren 33 Blut/ Körperflüssigkeiten 35 Elektrische Felder des Körpers 34 Funktionsuntersuchungen 33 Inspektion 33 IPPAF-Schema 33 Körperliche Untersuchung 33 Palpation 33 Perkussion 33 Zellen/ Gewebeteilen 34 Diathese-Stress-Modell 206 Differentialdiagnose 186 digital health literacy 246 digitale Gesundheitskompetenz 246 Digitale Transformation 243 Digitalisierung 124 Dignität 53 DIMDI 48, 111 Diphterie 26 Disease Management Programm (DMP) 125, 172 Asthma 199 Voraussetzungen 126 Disposition 32 DNA 34, 158, 229 Doppelhelix 158 Drei-Augen-Prinzip 244 Durchbrüche 22 Dyspnoe 200 E Ebert, Vince 75, 78 Ebola 155 -fieber 47 Echokardiografie 182 Effektunterschied 98 Eigenverantwortung 214, 217 Makroebene 218 Mesoebene 218 Mikroebene 218 Ein- und Ausschlusskriterien 94, 105 Eindämmungsstrategie (containment) 239 Einheitlicher Bewertungsmaßstab 51 Elektroencephalogramm (EEG) 34, 191 Elektrokardiogramm (EKG) 34, 174, 182, 191 12-Kanal-EKG 186 STEMI 185 ELSID-Studie 130, 131 <?page no="263"?> Index 263 EMA 62 Empowerment 118, 125, 126, 128, 223 Encode 159 Endpunkt 103 Entscheidungsfindungsmodelle 219 Epididymitis 52 Epilepsie 147 Eponym 42, 46, 47 Erblindung 172 Ernst, Edzart 151 Escherich, Theodor 47 Ether Day 27 Eugenik 133 European Society of Cardiology (ESC) 182 European Society of Hypertension (ESH) 182 Euthanasia medica 133 Euthanasie 133 Evidence-based Medicine 51, 71, 147 5 Schritte nach Sackett 73 PICO-Frage 73 evidenzbasierte Medizin 71 Exazerbation 125, 199, 208 Experimental Event Rate (EER) 103 Experimentalgruppe 103 expiratorischer Stridor 200 Exposition 83, 84 extra muros 53 F Fachkraft für Arbeitssicherheit 122 Fachkräftemangel 123 Fallbericht 82 Fall-Kontroll-Studie 83 Fallserie 82 Falsifikation 79, 80 Farmerlunge 31 FDA 62 Fehlbelastung 117 Fehlzeitenmanagement 123 Fernbehandlung 243 Flatus transversus 54 Flemming, Alexander 28 Florey, Howard W. 29 Flussmethapher 119 Fojo, Tito 196 Folgenminderungsstrategie (mitigation) 240 Folsäure 113 forensische Psychiatrie 207 Fünf-Jahres-Überlebensrate 198 Fußpilz 90 G Gallenblase 68 Gefährdungsbeurteilung 122 Gefäßerkrankungen 182 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) 111, 128 Generika 64 genetische Disposition 181 Genom 158, 160 <?page no="264"?> 264 Index genombasierte Medizin 158 GERAC-Trial 149 Geschäftsfähigkeit 215 Gesetzliche Krankenkassen 149, 231 Gesetzliche Krankenversicherung 111, 126 Gesetzlicher Betreuer 216 Gestationsdiabetes 172 Gesundheitsämter 121 gesundheitsfördernde Strukturen 121 Gesundheitsförderung 112, 117 Gewichtsreduktionsprogramme 169 Gewichtsreduzierende Medikamente 170 Giemen 200 Globalisierung 123, 124, 211, 235 Glukose 172 golden hour 187 Goldstandard 88, 89, 92 Grady, Christine 196 Granulome 147 Guidelines International Network (G-I-N) 111 H Hacker-Angriffe 245 Haem. Influenza B 26 Hahnemann, Samuel 150 Halswirbelimmobilisation 51 Hämoblastose 194 Hämoglobin 174 Händedesinfektion 113 Harnwegsinfektion 51 Hauterkrankungen 147 HbA 1c 174, 176 Health Technology Assessment (HTA) 111 Heatley, Norman 29 Heilkunst 56 Herd 50 Herdenimmunität 242 Herrschaftswissen 53 Herzinfarkt 36, 90 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 172, 180 Herz-Kreislaufstillstand 184 Herz-Kreislaufsystem 178 Herz-Lungen-Wiederbelebung 39, 187 High-Reliability Organizations (HROs) 250 Hinterwandinfarkt 51 Hippokratischer Eid 27 Hirntod 216 HIV 155 -Test 90 Homöopathie 140, 149 Globuli 151 Simile-Prinzip 150 Urlösung 150 Verschütteln 150 Homöopatika 152 Hormonhaushaltstörung 182 Human Genome Project (HGP) 159 Humanes Papillom Virus 196 Hyperreagibilität 199 <?page no="265"?> Index 265 Hypertonie AWMF-Klassifikation 181 Diagnostik 182 Risikofaktoren 181 Therapie 182 Hypoglykämie 191 Hypothesen 79 Hypothesenbildung 79 Hypothyreose 168 Hypoxietoleranz 198 I ICD-10 204 IGeL 48 IGES 184 Immune Escape 198 Impfnebenwirkungen 26 Impfungen 27, 28, 113 Indikationen 146 Individualisierte Medizin 157, 161 ethische Problemfelder 161 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) 231 10 Gebote 232 Infarkt 184 infaust 187 Infektionskrankheiten 28 Infektionsschutzmaßnahmen 240 Infektionswellen 242 inferior 50 Informationsmodell 219 Institute of Medicine (IOM) 249 insuffizient 50 Insulin 172, 175 Intention-To-Treat 99 Interessenkonflikte 102 Interventionsbias 99 Interventionsleiter 223 Intraoperative Phase 67 Intrinsisches Asthma 199 Inzentivierung 223 Inzidenz 85 IQWiG 48, 111, 228 Ischämie 184, 188 -zeit 187 J Jenner, Edward 25, 26, 27 Jobs, Steve 155 Jojo-Effekt 168 Jolie, Angelina 160 K Kachexie 198 Kapillaren 35 Karbolsäure 28 Karzinom 194 Kassenärztliche Vereinigungen 127 KISS 48 Kleptomanie 205 klinische Epidemiologie 79 klinisches Risikomanagement 251 Knieschmerzen 146 Knochenbrüche 147 Kochsalzkonsum 181 Kohärenzgefühl 119 <?page no="266"?> 266 Index Kohortenstudie 84 Kolletschka, Jakob 23 Kommerzialisierung 225 Konsil 32 gastroenterologisches 54 Kontrollgruppe 103 Konversion 99 Koronarbypasschirurgie 187 Koronare Herzkrankheit (KHK) 129, 184 Koronarspasmus 186 Körperkreislauf 178 Krebserkrankungen 34, 40, 147, 193 Diagnostik/ Therapie 197 Prognose 198 Risikofaktoren 196 Krebsfrüherkennung 114, 198 Krebsfrüherkennungsprogram m 220 Krebsfrüherkennungsuntersuc hungen 160 Krebsvorsorge 114 Krisenpläne 241 Kritischer Empirismus 80 Kuhpocken 25 künstliche Intelligenz 243 L Langzeitversorgung 126 Laparoskopie 68 LASA 65 LASER 47 Lebenserwartung 211 Lebensqualität 211 Lebensverlängerung 211 Lebenswelten-Ansatz 120 lege artis 56 Leistungskatalog 111, 134, 231 Leistungsverdichtung 226 Leitlinien 109 Definition 109 Nationale Versorgungsleitlinien 110 Stufen 110 Lepra 49 Leukämie 194 Lind, James 78 Liquor 35 Lister, Joseph 28, 47 Lumbalpunktion 191 Lungenembolie 36 Lungenfunktionsdiagnostik 200 Lungenkreislauf 178 Lyse 191 M Magnetresonanztomographie (MRT) 34, 190 Makary, Martin 249 Malaria 155 maligne 50 Malignität 193 Kriterien 194 Mammographie-Screening 93 Masern 26, 27 Medikamentenzulassung 102 Medium 50 Medizinethik 212 Vier-Prinzipien-Modell 212 <?page no="267"?> Index 267 Medizinische Fachsprache Aussprache 51 Fallstricke 50 Medizinische Fachsprache/ Terminologie 41 Medizinische Grundprinzipien Primum nil nocere 19 Salus aegroti suprima lex 20 Medizinischer Behandlunsgablauf Grafische Übersicht 30 Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen 233 Medizintourismus 236 Meilensteine der Medizin 22 Anästhesie 27 Aseptisches Arbeiten 27 Händedesinfektion 23 Impfungen 24 Penicillin 28 Merkmalsträgern 84 Meta-Analyse 108 Metabolisches Syndrom 172 Metamizol 72 Metastasen 194 Metastasierung 197, 198 mitigation 240 Morbus 47 Alzheimer 205, 212 Bahlsen 54 Morton, William 27 Muir Gray, J. A. 234 Mukoviszidose 49 Multiple Sklerose (MS) 49 Multiresistente Keime 239 Mumps 26 Mutationen 159 Myokardinfarkt 184 N Nachbeobachtung 100 Narkose 35 National Cancer Institute 196 Health Service (NHS) 115 Screening Committees (NSC) 115 Negativer prädiktiver Wert (NPW) 92 Neoplasie 53, 193 Nierenerkrankungen 182 Nierenfunktionsausfall 172 Nightingale, Florence 20 Nikotinkonsum 196 Nobelpreis Medizin 29 Nocebo-Effekt 57 Nomenklatur 42 Nomina Anatomica 42 Nuffield Council on Bioethics 223 Number Needed to Harm (NNH) 105 to Treat (NNT) 104 Nutzen-/ Risiko -Abwägung 147 -Bewertung 106 O Obamacare 228 Obstruktion 199 OECD 249 <?page no="268"?> 268 Index Ökonomisierung 225 cherry picking 226 QALY 227 Ursachen 225 Operation 66 Ophthalmoskopie 182 Opioidpeptide 148 OP-Roboter 71 Oraler Glukosetoleranztest (oGTT) 173 Organspendeausweis 216 OSCE 48 Osteoporose 129 Ottawa-Charta 118, 120 Handlungsfelder 118 Handlungsstrategien 118 Outcome 83, 84 Out-Sourcing 226 P Palliation 132 Palliative Care 132 Grundsätze 134 Palliativmedizin 132, 137 Palpitationen 182 Pandemien 239 Paracetamol 72 Partizipative Entscheidungsfindung 219, 220 Passivrauchen 116 Pasteur, Loius 28 Paternalistisches Modell 219 Pathogenese 118, 165 Pathologe 35 Patientenautonomie 219 patientenrelevanter Endpunkt 101 Patientensicherheit 251 Patientenverfügung 216 Penicillin 29 Penicillium notatum 29 Penumbra 189 Peridualkatheter 137 Per-Protocol-Analyse 99 Personal- und Unternehmensentwicklung 121, 123 Personalisierte Medizin 157, 161 Personensorgeberechtigte 215 Pertussis 26 Pest 29 Pfeiffer-Drüsenfieber 49 Pharmakodanamik 62 Pharmakodynamik 62 Pharmakokinetik 62 Pharmakologie 62 Pharmakons 61 Pharmakotherapie 206 Phenylketonurie (PKU) 114 Phobie 205 Phytotherapeutika 61, 153 Placebo 100, 106 -Chirurgie 101 -Effekt 57, 100, 151, 154 Pneumothorax 147 Pocken 25 Impfpflicht 26 Polio 26 Popper, Karl R. 80 portale Hypertonie 180 Porter, Michael E. 234 <?page no="269"?> Index 269 Positiver prädiktiver Wert (PPW) 92 postoperative Phase 68 Prädiktive Werte 92 Präfix 43, 44, 45 Assimilation 45 Elision 45 Präimplantationsdiagnostik 229 Pränataldiagnostik 228, 230 Präoperative Phase 67 Prävalenz 91, 92, 94 Prävention 112 Arten 112 Präventionsparadox 27 Primärprävention 113 Primordialprävention 113, 116 primum nil nocere 37, 95, 116, 154, 247 PRISMA 109 Privatisierung 226 Prognose 37 infauste 38 Prostata Spezifisches Antigen (PSA) 89 Prosument 220 protection 240 Psychische Erkrankungen 204 ICD-10 205 Lebenszeitprävalenz 206 PEPP 208 Therapie 206 Psychogene Essstörung 168 Psychosomatische Erkrankung 31 psychosozialer Leidensdruck 168 Psychotherapie 206 PTCA 191 PubMed 74 Puls 178 Q QALY 48 Constant Proportional Time Trade-Off 228 Mutual Utility Independance 228 QALYs 235 Quarantäne 239 Quartärprävention 113, 116 Quételet, Adolphe 165 R Randomisation 85, 97, 98, 99 Randomisierte kontrollierte Studie 85, 105, 148 Rassenhygiene 133 Rauchen 181 Entwöhnungsprogramme 116 Verbot 116 Reason, James 249 Regelleistungskatalog 149 Rehabilitation 115 berufliche 115 medizinische 115 soziale 115 Rekonvaleszenz 69 Relative Risk Reduction (RRR) 104 Reminder 126 Resektion 197 <?page no="270"?> 270 Index Resilienz 120 Retardpräparate 136 Rezidiv 37 Rheumatoide Arthritis 129, 146 Risikomanagement 251 Risikostrukturausgleich (RSA) 126 Roboter 243 Röntgen-Strahlung 22 Röteln 26 -embryopathie 26 Rückenschmerz 129 Rückenschmerzen 146 S SABA 201 Sackett, David 71 Salutogenese 118 Sarkom 194 SARS 48, 239 -CoV2-Virus 240 Sauerstoff 178 Saunders, Cicely 134, 136 Schizophrenie 205 Schlaganfall 180, 188 Diagnostik 190 Differentialdiagnosen 191 hämorrhagischer 188 ischämischer 188 Prognose 192 Risikofaktoren 189 Symptome 190 Therapie 191 TIA 189 Schleimhaut 34 Schmerzpflaster 136 Schmerztherapie 136 3-Stufen-Therapie 136 Schnellschnitt 35 Schutzstrategie (protection) 240 Schwangerschaft 39 Screening 114, 220 -programme 198 Scribonius Largus 19 second victim 250 Sekundärprävention 113, 114 Selbstbestimmung 21, 214 Selbstbestimmungsrecht 138 Selbsthilfeorganisationen 121 Semmelweis, Ignaz 23, 78 Sensitivität 91 Sepsis 20, 40 Sequenzierung 159 Setting -Ansatz 120, 121 -Konzepte 121 Sicherheitskultur 251 Sicherheitsunterweisungen 116 silent killer 181 Situs 67 Skorbut 78 Smith, Ruth 120 Sonographie 33 Soziotherapie 206 Spezialisierte ambulante palliativmedizinische Versorgung (SAPV) 134 Spezifität 91 Sprechende Medizin 56 Sputum 35 <?page no="271"?> Index 271 St. Christopherʼs Hospice 134 Staging 197 STARD-Checkliste 88 STEMI 48 STEMO 193 Stent 187 Sterbehilfe 133, 137, 230 aktive 230 Aktive 137 Assistierter Suizid 138, 230 DNR 138 Indirekte 138 Passive 138 Strahlentherapie 146, 197 Stratifikation 85 Stratifizierte Medizin 158 Stress 181 Stroke 188 Unit 191 Studienabbrecher 100 Studienarten 81 Studiendesign Beobachtungsstudie 81 Interventionsstudie 81 prospektiv 80 retrospektiv 80 Stufentherapie 175 Suffix 43, 44, 45 suffizient 50 Suizid 207 superior 50 Surrogatparameter 102, 106 Symptome 30 Synonym 42, 47, 49 Systematische Übersichtsarbeit 107 Durchführung 108 T Tagesklinik 207 Terminologie 42 Tertiärprävention 113, 115 Testergebnis falsch-negativ 90 falsch-positiv 90 Testgütekriterien 91 Tetanus 26 Thalidomid 62 Therapie 38 dringliche 39 elektive 39 frustrane 40 Indikation 39 kalkulierte 40 kausale 39 Kontraindikation 39 kurative 39 palliative 39, 197 supportive 40 symptomatische 39 Thromboembolie 198 Thromboembolisches Ereignis 188 Thromboseprophylaxe 191 Thrombus 186 TNM-Klassifikation 195, 197 Tourette-Syndrom 205 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) 140, 147 5 Säulen der TCM 143 Akupunktur 144 Funktionskreise 141 Leitbahnen 142, 144 Moxibustion 146 <?page no="272"?> 272 Index Phytotherapeutika 143 Pulsdiagnostik 142 Qi 140 Qi-Gong 143 Shiatsu 144 Taijiquan 144 Tuina 144 Zungendiagnostik 142 Triple Value Healthcare 234 Trokar 68 Tuberkulose 147 Tumor 160, 182, 194 benigne 194 -konferenz 198 -schmerzen 136 U Überalterung 212 Unterlassene Hilfeleistung 138 Unterlassensalternative 106, 231 Unterversorgung 207 Ursache-Wirkungs- Beziehungen 22 V Vaccination 25 Validität 86 externe/ interne 86, 87 Value-based Healthcare 234 Varizella-Zoster-Virus 49 Vene 50, 178 Verblindung 101, 148 Doppelblindstudie 101 dreifache 101 einfache 101 Verhaltensprävention 113, 116, 121 Verhältnisprävention 113, 116, 121 Verteilungsgerechtigkeit 212 Verursacher 250 Vierfeldertafel 89, 92 von Üexkull, Jakob 79 Vorsorgevollmacht 215 Vortestwahrscheinlichkeit 91 Vulnerabilitäts-Stress- Bewältigungsmodell 206 W watchful waiting 197 Watson, James 158 Weißkitteleffekt 182 Werner, Emmy 120 WHO 24, 26, 27, 66, 118, 121, 132, 136, 146, 173, 196 Widerstandsressourcen 119 Willenserklärung 216 Wöchnerinnen-Sterblichkeit 24 Work-Life-Balance 124 Wortstamm 43, 45 Y Yersinia Pestis 29 Z Zeugen Jehovas 214 Zuckerkrankheit 171 Zusatznutzen 106, 107 zystische Fibrose 49 <?page no="273"?> Für die Rechtsmedizin reicht es nicht aus, medizinisches Wissen zu besitzen. Kenntnisse in den Naturwissenschaften und der Kriminalistik sowie in den verschiedenen technischen Verfahren, die dabei zum Einsatz kommen, sind ebenso nötig. Diese zahlreichen Bereiche führt Michael Bohnert in seinem Buch zusammen. Leicht verständlich erklärt er die Elemente der Untersuchung von Todesfällen und der Begutachtung lebender Gewaltopfer. Ausführlich beschreibt er die verschiedenen Verletzungsarten und ihre Merkmale. Daneben geht er auch auf den Bereich der forensischen Pathologie sowie auf die Verkehrsmedizin ein. Ein Kapitel zu den forensischen Wissenschaften rundet diese Einführung ab. Ideal für Medizinstudierende, die sich mit diesem integrativen Fach beschäftigen wollen, wie auch für Juristen, Kriminalisten und interessierte Laien. Prof. Dr. Michael Bohnert (Jahrgang 1963) ist Vorstand des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Würzburg. Seine Hauptforschungsgebiete sind die medizinische Kriminalistik, die forensische Traumatologie und Todesfälle durch Hitzeeinwirkung. BEMERKENSWERT! UNSERE NEUERSCHEINUNG Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissen \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kultu \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kultu \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ 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Politikwissenschaft k \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwiss ik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwiss ik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwiss \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ ktrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Sprach ektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Sprach ktrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Sprach Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ osophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissen osophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissen osophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissen Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphi orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphi orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphi Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Li t \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germani t \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germani t \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germani teraturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik urwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ 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Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Tel. + 49 (0)7071 97 97 0 \ Fax + 49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Datum, Unterschrift: Name: Adresse: eMail: gültig bis: Kartennr.: Bezahlmethode: per Rechnung per Kreditkarte: Mastercard Visa BESTELLSCHEIN Stand: 2021/ 9 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! Michael Bohnert Grundwissen Rechtsmedizin Medizinische Kriminalistik und forensische Wissenschaften 1. Auflage 2021, 284 Seiten, ISBN 978-3-8252-5539-8 €[D] 24,90 € NEU <?page no="274"?> ,! 7ID8C5-cfhhed! ISBN 978-3-8252-5774-3 Ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die sich mit dem Gesundheitssystem und der Medizin beschäftigen. Reinhard Strametz stellt medizinisches Grundwissen fundiert und leicht verständlich vor und führt kundig in Fachtermini ein. In den Mittelpunkt stellt er u.a. den Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses von der Anamnese bis zur Therapie sowie wichtige Methoden und Ansätze der Medizin, etwa die Evidenzbasierte Medizin und die Prävention. Auf Krankheitsbilder wie etwa Adipositas, Diabetes mellitus, Schlaganfall und Krebs geht er ebenso ein wie auf Pandemien und das Coronavirus SARS-CoV-2 (Covid-19). Auch Spannungsfelder der Medizin, die sich aus der Ökonomisierung und Digitalisierung ergeben, finden Beachtung. Die 5. Auflage wurde überarbeitet und in den Bereichen Diabetes, Covid-19 und Regelungen zum assistierten Suizid überarbeitet und erweitert. Gesundheits-, Pflege-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel
