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Neue Politische Ökonomie

0101
2004
978-3-8385-8272-6
UTB 
Guy Kirsch

Dies ist nicht nur ein Buch über Politik, sondern auch ein politisches Buch. Anhand der wichtigsten theoretischen Ansätze der Neuen Politischen Ökonomie erörtert es die Gefahren für die Freiheit des Einzelnen, die heute von der privaten Gewalt und der staatlichen Herrschaft ausgehen. Die Neuauflage trägt den neueren theoretischen Entwicklungen und den realen Herausforderungen der Gegenwart Rechnung, indem sie unter anderem Verbrechen und Verbrechensbekämpfung, Angst, Medien, Bürgergesellschaft und zwischenmenschliche Vertrauensbeziehungen miteinbezieht. Das Buch wendet sich an Studierende der Wirtschaftswissenschaften und der politischen Wissenschaft sowie an alle, die als Bürger die Logik des politischen Handelns verstehen und nutzen wollen.

<?page no="1"?> UTB XXXX Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Verlag Recht und Wirtschaft Heidelberg VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden WUV Facultas Wien <?page no="3"?> Guy Kirsch Neue Politische Ökonomie 5. überarbeitete und erweiterte Auflage Lucius & Lucius · Stuttgart <?page no="4"?> Adresse des Autors: Professor Dr. Guy Kirsch 29 Rue de Lausanne CH-1700 Fribourg Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http: / / dnb.ddb.de abrufbar © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH · Stuttgart · 2004 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart · www.luciusverlag.com ISBN 3-8282-0270-5 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Sibylle Egger, Stuttgart Druck und Einband: Printed in Germany UTB-Bestellnummer: ISBN 3-8252-8272-4 <?page no="5"?> Si l’Etat est fort, il nous écrase. S’il est faible, nous périssons. Paul Valéry <?page no="6"?> Vorwort zur fünften Auflage Die vorliegende Neuauflage ist in allen Teilen überarbeitet, in vielen ergänzt worden. Auch werden einzelne Themen, die in den vorhergehenden Auflagen nicht angesprochen worden sind, hier diskutiert. Dies wurde möglich, weil in der Zwischenzeit beachtenswerte Beiträge zu ihrem Verständnis vorliegen; es wurde aber auch nötig, weil sie in der gesellschaftspolitischen Diskussion an Bedeutung gewonnen haben. Zu nennen sind insbesondere die Ausführungen über den privaten und den öffentlichen Raum, den Dritten Sektor, die Ökonomie des Verbrechens und der Verbrechensbekämpfung, die Rolle von „trust relationships“, Volks-, Milieu-, Gesinnungs- und Ein- Themaparteien, Angst und Furcht, die Nationalstaaten zwischen Regionalismus und Supranationalität, die Medien. Trotz dieser Änderungen und Erweiterungen ist auch diese Auflage dem Engagement der früheren Auflagen verpflichtet. Ihr Ziel und Zweck bestehen nicht darin, einen mehr oder weniger zusammenhanglosen „Digest“ einzelner Theoriefragmente zu bieten. Vielmehr geht es darum, dem Leser ein begriffliches Schema an die Hand zu geben, das ihm nicht nur gestattet, sich selbständig seinen Weg in die Disziplin der Neue Politischen Ökonomie zu erschließen, sondern ihm auch hilft, das, was er in Politik und Wirtschaft erlebt, analytisch zu begreifen und illusionslos, aber nicht ohne Ideale und ohne Aussicht auf Erfolg mitzugestalten. Das Buch versteht sich demnach ausdrücklich nicht nur als ein Buch über die Politik, sondern auch als ein politisches Buch. Genauer: Der individualistische Liberalismus ist auch in dieser Auflage der methodologische Ausgangspunkt und der normative Bezugspunkt des Diskurses. Allerdings: Im Vergleich zu den früheren Auflagen erweist sich hier die liberal-individualistische Theorie der Politik nicht nur als ein Analyse- und Rechtfertigungsinstrument, sondern auch als ein Instrument der Kritik an real existierenden Verhältnissen. Es reicht eben nicht, die Freiheit des Menschen und die Gewaltfreiheit des Umgangs der Menschen untereinander zu beschwören; auch ist die real gelebte politische Ordnung an jenen Werten der Freiheit und der Gewaltfreiheit zu messen, auf die sie sich selbst beruft. Zum Schluss, aber keineswegs nur nebenbei möchte ich all jenen danken, die in Diskussionen und Zuschriften Kritik und Anregungen beigesteuert haben. Eigens erwähnen möchte ich hier die Doktoranden und Studenten, die, insbesondere in den Morlon-Seminaren, kritische und konstruktive Gesprächspartner waren und sind.Von den Gesprächen mit vielen Kollegen habe ich sehr profitiert. Meine Assistenten Reto Neuhaus, M.A. und Tassilo von Schönberg, M.A. haben mich sachkundig und tatkräftig unterstützt. Frau Suzanne Fontana hat mit der ihr eigenen Umsicht und Geduld das Buch in eine lesbare Form gebracht. Ihnen allen bin ich nicht nur sehr zu Dank verpflichtet, ich entlaste sie auch von jeder Verantwortung für verbleibende Mängel. Fribourg, im Frühjahr 2004 Guy Kirsch VII <?page no="7"?> Vorwort zur vierten Auflage Die vorliegende Auflage ist nicht nur in allen Teilen überarbeitet worden; auch erwies es sich als zweckmässig und als möglich, einige Fragenkomplexe eingehender zu erörtern bzw. neu in die Darstellung einzubeziehen. Insbesondere wurde dem Verhältnis von interindividuellen, also gesellschaftlichen Beziehungen und intraindividuellen, also psychologischen Abläufen eine verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet.Auch wurde dem Entstehen, Bestehen und Vergehen von Institutionen, ihrer Evolution durch kontinuierlichen Wandel oder aber durch revolutionäre Umbrüche ein eigenes Kapitel gewidmet. Unverändert geblieben sind die Ausrichtung am methodologischen Individualismus und das Bekenntnis zum normativen Individualismus.Allerdings hat sich das Verständnis des Individualismus als Norm insofern angereichert, als nun der Akzent nicht mehr einseitig auf der Eigenständigkeit des einzelnen liegt, sondern auch die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen betont wird. Gleichgeblieben ist schliesslich das didaktische Engagement: Nach dem Durcharbeiten des Buches sollte sich der Leser nicht nur in den wichtigeren Theorien des Public Choice zurechtfinden; er sollte auch etwas selbständiger und bewußter seinen Weg in der Welt finden und gehen können. Jenen Kollegen, Assistenten und Studenten, die mit Kritik und Anregungen auf die dritte Auflage reagiert haben, bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Meine Mitarbeiter, lic.rer.pol. Kurt Annen und Dr. Gerhard Lohmann haben durch ihre sachlich-distanzierte Unterstützung und durch ihren menschlich-konvivialen Umgang das Zustandekommen dieser Neuauflage gefördert; Frau Suzanne Delessert hat - hilfsbereit und geduldig wie bei den vorhergehenden Auflagen - mein Manuskript auch für Uneingeweihte lesbar gemacht.Auch ihnen danke ich sehr. Fribourg (Schweiz) im Sommer 1997 Guy Kirsch VIII <?page no="8"?> Vorwort zur dritten Auflage Seit der Veröffentlichung der zweiten Auflage haben sich die politischen Verhältnisse und das politische Klima verändert.Auch hat sich die Neue Politische Ökonomie weiterentwickelt. Diese Auflage versucht, dem doppelten Wandel Rechnung zu tragen. Entsprechend unterscheidet sie sich in wesentlichen Punkten von ihrer Vorgängerin. So werden - neu - gesellschaftliche Normen, das individuelle Gewissen, die Diktatur, außerparlamentarische Formen der politischen Partizipation, Umweltmoral und Umweltverhalten, das Entstehen von Kollektivbedürfnissen, der Wertewandel u. a. als Forschungsgegenstände der Neuen Politischen Ökonomie eingehend erörtert. Das Buch ist primär dem Rational Choice-Ansatz verpflichtet. Alternative Analysemethoden wie der systemtheoretische und der psychoanalytische Ansatz werden als Ergänzungen und als Herausforderungen der Neuen Politischen Ökonomie kurz dargestellt. Der Leser sei ausdrücklich auf die entsprechenden Exkurse hingewiesen. Unsere Darstellung der Neuen Politischen Ökonomie zielt darauf ab, dem Studenten ein begrifflich-analytisches Instrumentarium zu vermitteln, das ihm erlaubt, eigenständig weiterzudenken. Dabei ging das Bemühen dahin, die einzelnen Kapitel so zu schreiben, daß sie als eigenständige Aufsätze gelesen und verstanden werden können. Das Buch eignet sich deshalb nicht als Lexikon, in dem man „schnell mal eben“ etwas nachschlägt. Ich schulde Herrn lic.rer.pol. Jens Schadendorf und Herrn lic. rer. pol. Gerhard Lohmann meinen aufrichtigen Dank für ihre konstruktive Kritik und ihre aktive Unterstützung. Frau Suzanne Delessert, die bei der Reinschrift auch dieser Ausgabe ihre Geduld nicht verloren hat, danke ich sehr für ihre Mitarbeit. Inhaltliche Fehler und formale Mängel gehen allein zu meinen Lasten. Fribourg (Schweiz), im Sommer 1993 Guy Kirsch IX <?page no="9"?> Vorwort zur zweiten Auflage Hieß die erste Auflage „Ökonomische Theorie der Politik“, so trägt die zweite den Titel „Neue Politische Ökonomie“. Diese Änderung spiegelt eine Akzentverlagerung wider: In der ersten Auflage stand eher das Instrumentarium der Wirtschaftstheorie, mit dem das Phänomen der Politik erfaßt werden soll, im Vordergrund; in dieser Auflage ist es das Phänomen selbst. Wohl ist auch hier der Ausgangspunkt der Darstellung ein wirtschaftstheoretischer, nur werden die Überlegungen entschiedener bis an die Grenzen und - nach Möglichkeit - über die Grenzen der Wirtschaftswissenschaft hinaus geführt. Angesichts des Vorliegens hervorragender Lehrbücher zur rein Ökonomischen Theorie der Politik, scheint dies nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten. Insofern stellt sich diese Auflage - wenigstens vom Leitbild her - in die Tradition der Politischen Ökonomie; dies auch deshalb, weil hier mit größerer Eindeutigkeit als in ihrer Vorgängerin das liberal-individualistische Engagement des Autors eingeflossen ist: Die folgenden Seiten stehen im Spannungsfeld zwischen dem Freiheitsanspruch des einzelnen, einzigartigen Individuums und der Tatsache, daß jedes Kollektiv mit Notwendigkeit ein Herrschafts- und Zwangsinstrument ist. Diese Akzentverlagerung und die inzwischen zum Thema in der Literatur vorliegenden Forschungsergebnisse haben es mit sich gebracht, daß diese Auflage zum größten Teil neu geschrieben werden mußte und konnte. Der Verfasser dankt Herrn lic.oec. Hugo Fasel für hilfreiche Unterstützung bei der Endredaktion und Frau Suzanne Delessert für die Geduld, mit der sie die einzelnen Fassungen dieses Textes ins Reine geschrieben hat. Fribourg (Schweiz), im Sommer 1983 Guy Kirsch X <?page no="10"?> Vorwort zur ersten Auflage Diese Darstellung der Ökonomischen Theorie der Politik wendet sich an Studenten der mittleren und höheren Semester. Ihr Ziel besteht ausdrücklich nicht darin, ein vollständiger Führer durch die inzwischen reiche Galerie jener Autoren zu sein, die einen Beitrag zu diesem Wissensgebiet geleistet haben. Schon gar nicht beabsichtigt sie, den „Student’s Digest“ einer möglichst großen Zahl von Büchern zu liefern. Vielmehr stellt sie den Versuch dar, die Grundlagen eines Denkansatzes offenzulegen, dessen Entwicklungsfähigkeit selbst heute - trotz schöner Anfangserfolge - noch nicht problemlos ist. Dem Studenten, der sich die Grundlagen der Ökonomischen Theorie der Politik angeeignet hat, wird es leichter fallen, Ausführungen zu diesem Gebiet kritisch zu rezipieren, und gegebenenfalls schöpferisch weiterzudenken, als seinem Nachbarn, der kompilatorisch einen Autor - und sei es den allerneuesten - an einen andern Autor - und sei es den neuesten - reiht. Der Geschlossenheit der Darstellung und der Begrenztheit des Umfanges fiel allerdings ein Problemkomplex zum Opfer, dessen Fehlen in diesem Band einer weiteren Rechtfertigung bedarf: die einzelnen Wahlverfahren. Es fehlen also die Namen Arrow, Black, Sen, um nur diese zu nennen. Neben den schon genannten Gründen spricht für diese Aussparung, daß diesem Thema - seiner insbesondere theoretischen Bedeutung wegen - eine eigene Abhandlung zu widmen ist oder aber, daß es in einem ohnehin fälligen Heft über die Theorie der öffentlichen Güter erörtert wird. Ich danke meinen Mitarbeitern lic. oec. D. R.Vogt und stud. oec. J. Theiler sowie lic. oec. U. Siegenthaler für kritische Anmerkungen. Mein Dank geht auch an Frau Hauser, die das Manuskript in eine lesbare Form gebracht hat. CH-1700 Fribourg/ Schweiz, im Sommer 1974 Guy Kirsch Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften Universität XI <?page no="12"?> Inhaltsverzeichnis Einleitung Neue Politische Ökonomie - was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 Die Neue Politische Ökonomie - eine, nicht die Theorie der Politik . . . . . 1 2 Vom Rational Choice zum Public Choice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Exkurs: Rational Choice und Public Choice im dogmenhistorischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3 Die Neue Politische Ökonomie ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3.1 ... als logische Analyse kollektiver Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . 11 3.2 ... als empirische Untersuchung kollektiver Entscheidungen . . . . . . 11 3.3 ... als normative Begründung bzw. Kritik kollektiver Entscheidungen 12 4 Die Neue Politische Ökonomie und der historische Augenblick . . . . . . . . 12 Literatur zur Einleitung und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Kontrollfragen zur Einleitung und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Kapitel I Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv 19 1 Der Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Der Individualismus als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2 Der Individualismus als Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.3 Der Individualismus und das Externalitätenproblem . . . . . . . . . . . . . 29 2 Die Verhinderung bzw. Internalisierung externer Effekte . . . . . . . . . . . . . 31 2.1 Das Verbot der Produktion externer Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2 Die Internalisierung externer Effekte: Die Beteiligten werden zu den Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3 Die Verhinderung externer Effekte: Die Betroffenen werden zu den Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3 Der Markt und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4 Jenseits der Grenzen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5 Privater Raum und öffentlicher Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Literatur zu Kapitel I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen . . . . . . 45 A Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 46 B Die funktionale Zergliederung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Literatur zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Kontrollfragen zu Kapitel I und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Kapitel II Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch . . . . . . 55 1 Kollektive als Zwangsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 XIII <?page no="13"?> 2 Zwang, Abwanderung und Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.1 Abwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.2 Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.3 Abwanderung und Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3 Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.1 Ein Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.2 Erweiterung des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.3 Kritik des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Literatur zu Kapitel II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Kontrollfragen zu Kapitel II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Kapitel III Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1 Jenseits von Markt und freiwilligen Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2 Soziale Normen und staatliche Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.1 Von sozialen Normen... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.1.1 Entstehung der Nachfrage nach Normen . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.1.2 Entstehen und Bestehen von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.2 ... zu staatlichen Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.3 „Law Making“, „Law Breaking“ and „Reactions to Law Breaking“ . . . 94 3 Ökonomische Theorie der Prinzipien und des individuellen Gewissens . . 97 3.1 Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.1.1 Prinzipien wären im Rahmen des Rational Choice überflüssig ... 98 3.1.2 ... wenn es nicht die Versuchung des Augenblicks gäbe: das „matching law“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.2 Das individuelle Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4 Amoral, Moral, Unmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5 Vertrauen: Trust Relationships . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Exkurs: Individualismus und Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Literatur zu Kapitel III und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Kontrollfragen zu Kapitel III und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Kapitel IV Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1 Legitimation durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2 Individuelle Verfassungskalküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.1 Konsensfindungskosten + wahrscheinliche externe Kosten = Interdependenzkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.1.1 Konsensfindungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.1.2 Wahrscheinliche externe Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2.1.3 Interdependenzkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 XIV · Inhaltsverzeichnis <?page no="14"?> 2.2 Optimalität und Dringlichkeit individueller Verfassungsentscheide . . 144 2.3 Determinanten der Kostenverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3 Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung . . . . . . . 151 3.1 Individualistisch nicht akzeptable Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.2 Individualistisch akzeptable Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.2.1 Der „veil of ignorance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.2.2 „Cross-cutting cleavages“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Literatur zu Kapitel IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Kontrollfragen zu Kapitel IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Kapitel V Die Logik des kollektiven Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2 Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe . . . . . . . . . 170 2.1 Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2.1.1 Kleine Gruppen - große Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2.1.2 Die Ausbeutung der Großen durch die Kleinen . . . . . . . . . . . 172 2.1.3 Mittelgroße Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Exkurs: TIT FOR TAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2.2 Positive und negative selektive Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2.2.1 Positive selektive Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2.2.2 Negative selektive Anreize: Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.3 Hingabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Exkurs: Die Dynamik des Kollektivzusammenhalts . . . . . . . . . . . . . 186 A Von der Hingabe an ein Charisma zu selektiven Anreizen . . . . . . . . . . . 186 B Von selektiven Anreizen zur Hingabe an ein Charisma . . . . . . . . . . . . . 188 C Lebensphasen von Kollektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3 Die optimale Kollektivgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.1 Theorie der Clubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.2 Wer hat wie über die Clubgröße zu entscheiden? . . . . . . . . . . . . . . . 196 Literatur zu Kapitel V und zu den Exkursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Kontrollfragen zu Kapitel V und zu den Exkursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Kapitel VI Die indirekte Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1 Prinzipielles Verständnis .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1.1 Von der direkten zur indirekten Demokratie ... . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1.2 ... und zurück? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1.3 Von der Realisierung des „volonté générale“ zur „Legitimation durch Verfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Literatur zu Kapitel VI.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2 ... und praktische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2.1 Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie . . . . . . . . . . 211 Inhaltsverzeichnis · XV <?page no="15"?> 2.1.1 Das Entstehen von Bedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.1.1.1 Behagen und Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.1.1.2 Unbehagen + Instrumentalwissen = Bedürfnis . . . . 214 2.1.1.3 Der Erwerb von Bedürfnissen - ein Gegenstand des Rationalkalküls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2.1.1.4 Der Erwerb von Instrumentalwissen . . . . . . . . . . . . 222 2.1.2 Das Entstehen von Kollektivbedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2.1.2.1 Eigene reale Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2.1.2.2 Fremde reale Erfahrungen von Zeitgenossen . . . . . . 228 2.1.2.3 Fremde reale Erfahrungen aus der Vergangenheit . . 229 2.1.2.4 Fiktive Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2.1.2.5 Die indirekte Demokratie - eine Lern- und Lehrveranstaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literatur zu Kapitel VI.2.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2.2 Die Informationsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2.2.1 Warum sich Bürger gemeinhin nicht informieren . . . . . . . . . . 238 2.2.2 Warum sich die Bürger doch informieren . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2.2.2.1 Senkung der Informationskosten . . . . . . . . . . . . . . . 241 2.2.2.2 Abwälzung der Informationskosten . . . . . . . . . . . . . 243 2.2.2.3 Investiver und konsumtiver Wert der Information . . 244 2.3 Die Partizipationsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2.3.1 Wahlbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2.3.2 Die außerparlamentarische Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2.3.3 Private Wahrheiten - öffentliche Lügen . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Literatur zu Kapitel VI.2.2 und VI.2.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2.4 Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme . . . . . . . 256 2.4.1 Der politische Wettbewerb als Analogie zum Markt für Privatgüter 256 2.4.2 Ein ökonomisches Modell der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . 258 2.4.2.1 Die Prämissen des Downsschen Modells der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2.4.2.2 Die Dynamik des politischen Wettbewerbs . . . . . . . 260 2.5 Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Dimensionen . . . . . 274 2.5.1 Das Interesse an einer Neudimensionierung . . . . . . . . . . . . . . 274 2.5.2 Die Neudimensionierung - ein Kollektivgut . . . . . . . . . . . . . . 276 2.5.3 Die Dynamik des Wettbewerbs der politischen Dimensionen 280 2.6 Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der politischen Tabus . . 285 2.7 Volksparteien, Milieuparteien, Gesinnungsparteien, Ein-Themaparteien, Personenparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge . . . . . . . . . . . . . . 295 A Der innerlich freie und der neurotisch gebundene Mensch . . . . . 296 B ... im privaten Umgang mit anderen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 C ... und als Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literatur zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 XVI · Inhaltsverzeichnis <?page no="16"?> 2.8 Angst und Furcht in Wirtschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 2.9 Von einer Wahl zu vielen Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2.9.1 Wahlfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2.9.1.1 Auf Wahlen folgen Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2.9.1.2 Wahlen folgen auf Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2.9.2 Zirkuläre Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2.9.3 Parallele Wahlzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2.9.3.1 Von intraindividuellen Zielkonflikten ... . . . . . . . . . . 324 2.9.3.2 ... zu interkollektiven Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . 324 2.9.3.3 ... und zu intrakollektiven Konflikten . . . . . . . . . . . . 326 2.9.3.4 Parallele Wahlzüge - eine Entlastung des Staates? . . 326 Literatur zu Kapitel VI.2.4 bis VI.2.9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 2.10 Die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2.10.1 Ein Staat ohne Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2.10.2 Warum eine Verwaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2.10.3 Administrative Handlungsfreiheiten trotz staatlicher Kontrollrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2.10.4 Regierung und Verwaltung: ein affines Verhältnis? . . . . . . . . . 352 2.10.5 Politik und Verwaltung: ein Austauschverhältnis . . . . . . . . . . . 353 2.10.6 Das Verhältnis der Verwaltung zur Legislative und zur Lobby . 355 2.11 Die Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 2.11.1 Der horizontale Kommunikationsaustausch . . . . . . . . . . . . . . 359 2.11.2 Der vertikale Kommunikationsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . 360 2.11.3 Medien und Kommerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 2.11.4 Neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 2.12 Nationalstaaten zwischen Regionalismus und Supranationalität . . . . 367 Literatur zu Kapitel VI.2.10 bis VI.2.12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Kontrollfragen zu Kapitel VI und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Kapitel VII Die Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 1 Die Diktatur - ein Gegenstand der Neuen Politischen Ökonomie? . . . . . . 377 2 Diktatur und Demokratie im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 3 Der Diktator und die vielen Ungefährlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4 Der Diktator und die wenigen Gefährlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 5 Schutztruppen: umsturzfähig und umsturzwillig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 5.1 Die unteren Chargen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 5.2 Die oberen Chargen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 5.3 Die mittleren Chargen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 6 Die Rolle der Ideologie: Die Herrschaft über die Metapräferenzen . . . . . . 389 7 Die Dynamik des Umsturzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 8 Noch einmal: Diktatur und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Inhaltsverzeichnis · XVII <?page no="17"?> Literatur zu Kapitel VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Kontrollfragen zu Kapitel VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Kapitel VIII Entstehen, Bestehen und Vergehen von Institutionen . . . . . . . . . 397 1 Institutionen zwischen Konstitution und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 2 Evolution ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 2.1 ... als kontinuierlicher Wandel ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 2.2 ... oder durch revolutionäre Umbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Literatur zu Kapitel VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Kontrollfrage zu Kapitel VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Antworten zu den Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Zur Einleitung und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Zu Kapitel I und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Zu Kapitel II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Zu Kapitel III und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Zu Kapitel IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Zu Kapitel V und zu den Exkursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Zu Kapitel VI und zum Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Zu Kapitel VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Zu Kapitel VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 XVIII · Inhaltsverzeichnis <?page no="18"?> Einleitung Neue Politische Ökonomie - was ist das? 1 Die Neue Politische Ökonomie - eine, nicht die Theorie der Politik Seit es die Polis, also das organisierte Gemeinwesen gibt, ist die Politik ein Gegenstand der gedanklichen Auseinandersetzung. Diese Reflexion war anfangs eingebettet, gleichsam verkörpert in den magischen Praktiken der Gemeinschaft, in den Riten und Mythen der Religion, in den Traditionen und Legenden des Brauchtums. Sie war eingemeißelt in die Gesetzestafeln des Hammurabi und des Moses. Sie fand ihren Ausdruck in den Sinnsprüchen der Propheten. Allmählich verselbstständigte sich die Reflexion: Sie wurde ihrer selbst gewahr. So stehen Plato und Aristoteles für ein Nachdenken über die Politik, das über die logische Verkettung von Argument und Gegenargument im Kopf des Einzelnen und durch den Austausch von Rede und Widerrede zwischen den Menschen stattfindet. In dem Maße wie sich Nachdenken und Erkenntnissuche in einzelne wissenschaftliche Disziplinen ausdifferenzierten, befassten sich immer neue Wissenschaften mit dem Phänomen der Politik. Nach der Philosophie, der Theologie, der Rechtswissenschaft und der Geschichtsschreibung machten sich die Soziologie, die Psychologie, die Psychoanalyse, die Ethnologie, die Anthropologie, die Sozialpsychologie, die Linguistik u. a. daran, die Politik bzw. einzelne ihrer Erscheinungen zu untersuchen. Dabei legten sie mal mehr, mal weniger den Akzent auf die empirisch-positive Untersuchung von Tatbeständen und Sachzusammenhängen bzw. auf die Erörterung normativ-wertender Urteile. Mochten anfangs Sachaussagen und Werturteile in oft undurchschaubarer Vermengung vorkommen, so bemühte man sich später - trotz aller Zweifel, ob es im Letzten denn möglich sei - um eine klare Trennung von beiden. Seit einigen Jahrzehnten befasst sich nun auch die Wirtschaftswissenschaft mit dem Phänomen der Politik. Sie steht damit in einer Jahrhunderte, nein: Jahrtausende alten Reihe von Denkrichtungen, die bemerkenswerte Erkenntnisse und Einblicke erarbeitet haben und auch heute noch fruchtbar sind. In dieser Lage muss sich die Wirtschaftswissenschaft Anfragen gefallen lassen. So muss sie sich der Frage stellen, wodurch sich ihr Zugang von den Ansätzen anderer Disziplinen unterscheidet. Insbesondere muss sie deutlich machen, welche Erkenntnisse sie und nur sie ermöglicht.Auch ist sie gut beraten, wenn sie sich und andere nicht über jene Grenzen hinwegtäuscht, die ihren Möglichkeiten gesetzt sind.Wohl soll die Wirtschaftswissenschaft mit Entschiedenheit auf jenes Wissen über die Politik hinweisen, das sie, nur sie, nicht aber andere Wissenschaften, erarbeitet hat. Sie muss aber auch 1 <?page no="19"?> mit Bescheidenheit jene Leistungen anerkennen und nutzen, die andere, nur andere, nicht aber sie, erbracht haben. Da dies nur am einzelnen Ergebnis aufgezeigt werden kann, ist eine Auflistung der konkreten Erfolge der einen und der anderen hier nicht möglich. Möglich und nötig sind an dieser Stelle hingegen einige grundsätzliche Anmerkungen über die Eigenart, das Leistungsvermögen und die Grenzen der Analyse der Politik mit dem Instrumentarium der Wirtschaftstheorie. Auf den ersten Blick muss überraschen, dass der einfache, ja simplistische Kategorienrahmen der ökonomischen Theorie der Komplexität des Phänomens der Politik auch nur annähernd gerecht werden soll. Es ist in diesem Zusammenhang ohne Abstriche festzustellen: Die Wirtschaftstheorie wird der Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes nicht gerecht. Nur wird dies - einerseits - auch nicht behauptet. Allerdings wird - andererseits - die Theorie keiner Wissenschaft der Komplexität irgendeines Gegenstandes, also auch nicht der Politik, gerecht. Wissenschaftliche Theorien kann man mit Fangnetzen vergleichen. So wie das, was man aus dem Meer an Land zieht, nicht nur von dem abhängt, was im Wasser schwimmt, sondern auch von der Beschaffenheit des Netzes, so hängt das Wissen über die Wirklichkeit auch von der Art der Theorie ab, die man angewandt hat.Wer ein grobmaschiges Netz benutzt, wird keine kleinen Fische fangen, und es wäre unklug zu behaupten, es gäbe nur große.Wer eine bestimmte Theorie benutzt, wird nur bestimmte Aspekte der Realität erfassen; er kann nicht sagen, andere Aspekte existierten nicht. Wer möglichst umfassend über die im Meer lebenden Tiere informiert sein will, muss vielfältige Netze auswerfen.Wollte also die Neue Politische Ökonomie von sich behaupten, sie sei nicht eine, sondern die Theorie der Politik, so wäre dies dumm-anmaßend.Wollten aber ihre Kritiker behaupten, sie sei nicht eine, sondern keine Theorie der Politik, so wäre dies dumm-herablassend. Die Neue Politische Ökonomie redet nicht über etwas Neues, sondern sie redet auf neue Art über etwas, über das auch schon andere etwas gesagt haben. Aber: Indem die Neue Politische Ökonomie neu über Altes redet, sagt sie auch etwas Neues. Nach der Euphorie der ersten Erfolge ist auf seiten der Vertreter der Neuen Politischen Ökonomie inzwischen weitgehend jene Nüchternheit eingezogen, die ihnen erlaubt, auch die Erfolge jenseits der Grenzen ihres Ansatzes zu erkennen und anzuerkennen. Und bei den Kritikern der Neuen Politischen Ökonomie ist nach den ersten Irritationen die Bereitschaft gewachsen, die Nützlichkeit dieses Ansatzes zu sehen und einzusehen. Manche Analysemuster und Forschungsergebnisse der Neuen Politischen Ökonomie sind inzwischen so sehr zum Allgemeingut des modernen Wissens, zu Versatzstücken des modernen Diskurses geworden, dass sie kaum noch jemand mit ihrer Herkunft, eben der Neuen Politischen Ökonomie, in Beziehung setzt.Auch ist die Ausweitung der wirtschaftstheoretischen Analyse auf das Phänomen der Politik von der „Republic of Science“ akzeptiert und honoriert worden, wie die Nobelpreise an Hayek, Arrow, Becker, Coase und Buchanan zeigen. Schließlich scheinen einige Nachbardisziplinen von den Erfolgen der Anwendung der Wirtschaftstheorie so beeindruckt zu sein, dass sie wirtschaftstheoretische Kategorien und Denkmodelle für sich selbst nutzbar machen. John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, Robert Nozicks Staatsphilosophie und James S. Colemans Gesellschaftstheorie sind hierfür ebenso Beispiele, wie die sich im Anschluss an Alchian und Demsetz entwickelnde Ökonomische Theorie 2 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="20"?> des Rechts und die - etwa mit dem Namen von Fogel verbundene - als „cliometrics“ bekannte Anwendung der Wirtschaftstheorie auf die Geschichtsschreibung. Zu nennen ist auch David Gauthiers Versuch, die Moral, ihre Entstehung und Geltung in ökonomischen Kategorien zu fassen. 2 Von Rational Choice zu Public Choice Man kann sich fragen, was eigentlich die Wirtschaftstheorie befähigt, solche auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Bereiche zu analysieren bzw. recht verschiedene Disziplinen zu bereichern. Offenkundig kann dies der Wirtschaftswissenschaft nur gelingen, wenn in all jenen Bereichen und Problemen, wo sie angewandt werden soll bzw. wo sie schon mit Erfolg angewandt worden ist, ein und derselbe Punkt eine zentrale Rolle spielt. Es muss also einen Punkt geben, von dem aus ein Zugang zur Analyse von Politik, Verbrechen, Partnerschaft u.a. erfolgversprechend ist, und dieser Punkt muss für alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche, die mittels der Wirtschaftstheorie analysiert werden sollen, der gleiche sein. Die Frage, ob es einen solchen Ausgangspunkt gibt, ist positiv zu beantworten. Er besteht in der Annahme, dass in allen diesen Lebens- und Gesellschaftsbereichen von einzelnen Individuen Wahlhandlungen vorgenommen werden. In jedem dieser Bereiche stehen Einzelne in Entscheidungssituationen, in denen sie zwischen zwei oder mehreren Alternativen wählen können und müssen. (Wählen sie nicht, so ist auch dies eine Entscheidung, und zwar zwischen dem Wählen und dem Nichtwählen und damit für die Hinnahme dessen, was ohne eigenen aktiven Wahlentscheid eintritt.) Spricht man von Wahlhandlungen, so denkt man - wenigstens als Ökonom - sofort an seine Konsum- und Sparentscheidung, an seine Entscheidung, dieses, nicht aber jenes Produkt nachzufragen, an seinen Entschluss, zwei, nicht aber drei Wochen in Ferien zu fahren. Auch denkt man an Kauf- und Verkaufsentscheidungen an der Börse und an Investitionsentscheidungen von Unternehmern. Neben diesen offenkundig wirtschaftlichen Entscheidungen gibt es andere. So entscheidet sich der Einzelne als Bürger für diese und gegen jene Partei. Als Politiker zieht er mit diesem, nicht aber mit jenem Programm in den Wahlkampf. Der Einzelne entscheidet, ob er überhaupt zur Wahl gehen soll oder nicht, ob er sich als Kandidat um ein Mandat bewerben soll oder nicht. Der Einzelne steht vor der Wahl, ein „single“ zu bleiben oder zu heiraten. Er heiratet Lotte und verzichtet (in den meisten Fällen) auf die doch so liebreizende Lena. Er entschließt sich zur Scheidung oder auch nicht. Der Einzelne entscheidet, ob er Steuern hinterziehen soll oder nicht; er entscheidet, ob er eine Bank überfallen soll und, wenn ja, welche.Wenn ihn jemand erpresst, so steht er vor der Wahl, zur Polizei zu gehen oder den Erpresser zu ermorden. Wenn die Mafia Schutzgelder verlangt, kann er zahlen oder auch nicht. Der Einzelne entscheidet, ob er Anglistik oder Physik studieren soll, ob er an Gott glaubt oder nicht, ob er sich an dem erstbesten Baum aufknüpfen oder aber die erste, die beste Flasche Bordeaux trinken soll. Vom Rational Choice zum Public Choice · 3 <?page no="21"?> Die hier angeführten Beispiele plausibilisieren die Annahme, dass Wahlhandlungen in den unterschiedlichsten Lebens- und Gesellschaftsbereichen vorkommen. Sie zeigen aber auch, dass diese Wahlhandlungen selbst sehr verschieden sein können. So bestehen wohl Unterschiede zwischen dem kalt-nüchternen Kalkül des Investors und der Heiratsentscheidung des Liebesblinden oder der Entscheidung des Verzweifelten, aus dem Leben zu gehen. Allerdings: Mögen diese Differenzen bestehen - und wir werden weiter unten darauf zurückkommen -, so handelt es sich doch in allen diesen Fällen um Entscheidungen zwischen zwei oder mehreren Alternativen, die ihre jeweils unterschiedlichen Vorteile und Nachteile, ihre jeweils unterschiedlichen Kosten und Nutzen haben. Nun ist der Hauptgegenstand der wirtschaftlichen Mikrotheorie die Analyse von Wahlhandlungen zwischen solchen durch ihre jeweiligen Kosten und Nutzen charakterisierten Alternativen. Die Mikrotheorie der Ökonomie ist eine Theorie der individuellen Wahlhandlung, ist eine Theorie des Rational Choice. Nachdem nun diese Theorie in ihrer Anwendung auf wirtschaftliche Wahlhandlungen recht erfolgreich war, lag es nahe, sie auch bei der Analyse von solchen Wahlhandlungen einzusetzen, die nichts mit Konsum und Sparen, Investieren und Anlegen zu tun haben. Die Neue Politische Ökonomie nutzt demnach die Wirtschafts-, insbesondere die Mikrotheorie zur Erforschung der Politik, weil sie eine Theorie der Wahlhandlungen, eine Theorie des Rational Choice ist. Dabei ist es eher nebensächlich, dass diese Theorie von Wirtschaftswissenschaftlern entwickelt worden ist. Die Neue Politische Ökonomie geht also nicht - ausdrücklich oder stillschweigend - davon aus, dass „im Letzten“ etwa die Entscheidung für eine Partei unter „ökonomischen“ Gesichtspunkten getroffen wird. Anders formuliert: In der Neuen Politischen Ökonomie reden Wirtschaftswissenschaftler, nicht aber Wirtschaftssubjekte über die Politik. Dies ist dann auch der Unterschied zwischen der Neuen Politischen Ökonomie, wie sie der Gegenstand dieser Darstellung ist, und der marxistisch ausgerichteten Politökonomie, wie sie bis vor dem Kollaps der kommunistischen Diktaturen doziert wurde. In der Neuen Politischen Ökonomie wird das Instrumentarium der von der Wirtschaftswissenschaft erarbeiteten Theorie der Wahlakte auf die Politik angewandt. In der Politökonomie hingegen wurde als Tatsache unterstellt, dass die Politik ein Teil jenes Überbaus ist, der auf dem durch die Produktions- und Eigentumsverhältnisse bestimmten Unterbau ruht. An dieser Stelle mag man versucht sein, einen Einwand vorzubringen: Die Theorie der individuellen Wahlhandlungen gehe davon aus, dass die Vor- und Nachteile der einzelnen Alternativen in einer Entscheidungssituation monetär bewertet werden müssen. Doch habe man es in der Wirtschaftswissenschaft, nicht aber anderswo, mit in Geldeinheiten ausgedrückten Kosten und Nutzen zu tun. Dieser Einwand greift deshalb nicht, weil er in seiner implizierten Sachaussage schlicht falsch ist. Wohl ist richtig, dass in einer Marktwirtschaft die Anbieter und Nachfrager in Geldgrößen kalkulieren, wenn sie verschiedene Alternativen miteinander vergleichen. Doch trifft es selbst bei Wirtschaftssubjekten nicht zu, dass sie dann, wenn sie über Konsum, Sparen, Investieren usw. entscheiden, immer in monetären Einheiten rechnen. Wer in der Weinhandlung vor der Wahl steht, einen billigen Rotwein für EUR 3,99 oder aber einen Bordeaux für EUR 237 zu kaufen, vergleicht zwar vordergründig Geldsummen miteinan- 4 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="22"?> der. In Tat und Wirklichkeit jedoch vergleicht er zwei Wohlfahrtszustände: „Wie gut wird es mir gehen, wenn ich mich mit dem billigen Wein begnüge und so Ressourcen übrighabe, mit denen ich z. B. drei Lehrbücher kaufen kann? “ Und: „Wie werde ich mich fühlen, wenn ich mir den Bordeaux leiste, mich dafür aber mit einer Vorlesungsmitschrift begnüge? “ Wenn nun richtig ist, dass sich auch die Wirtschaftswissenschaft nur vordergründig mit in Geldeinheiten ausgedrückten Kosten und Nutzen befasst, im Letzten aber den Vergleich von Wohlfahrtsniveaus analysiert, dann steht ihrer Anwendung auf andere Lebens- und Gesellschaftsbereiche nichts im Wege. Denn auch hier vergleicht der Einzelne Wohlfahrtsniveaus. Gleichgültig, ob er sich für diesen oder jenen (Lebens-)Partner, für diesen oder jenen Politiker, für dieses oder jenes Forschungsprojekt entscheidet, gleichgültig, ob er sich für ein Leben innerhalb oder aber außerhalb der Legalität entscheidet, gleichgültig, ob er zwischen dem Schreiben eines Gedichtes und dem Ausfüllen eines Lotto-Scheins wählt, der Einzelne vergleicht Wohlfahrtsniveaus miteinander. Er löst das Problem, ob dieses zu tun besser sei als jenes, indem er die Frage beantwortet, ob es ihm besser gehen wird, wenn er dieses oder jenes tut. Wenn aber die Theorie der Wahlhandlungen - in ihrer Anwendung auf welche Lebens- und Gesellschaftsbereiche auch immer, also auch in ihrer Anwendung bei der Analyse der Politik - darin gründet, dass Einzelne bei der Wahl zwischen zwei oder mehreren Alternativen sich für jene entscheiden, die ihrer Wohlfahrt am förderlichsten ist, dann können wir für die Neue Politische Ökonomie folgende zwei Charakteristika festhalten: Erstens: Sie ist im Ansatz individualistisch, geht sie doch davon aus, dass der Zugang zum Verständnis der Politik auf der Ebene des Individuellen gesucht werden muss. In der Gesellschaft, im Staat, in Parteien usw. geschieht demnach etwas, weil sich die individuellen Mitglieder der Gesellschaft, des Staates, der Parteien usw. für dieses oder jenes entschieden haben. Das schließt nicht aus, dass jenes, was etwa in einer Partei geschehen ist, z. B. die Verabschiedung eines Parteiprogramms, für die zukünftigen Wahlakte Einzelner ein wichtiger Teil des Prämissenrahmens ist. Die Analogie zu wirtschaftlichen Vorgängen ist offenkundig. So ist die konjunkturelle Lage das Ergebnis einer Vielzahl individueller Entscheidungen; und: Individuelle Entscheidungen werden in einem bestimmten konjunkturellen Kontext getroffen. Auf der Makroebene geschieht, was auf der Mikroebene gemacht wird; und: Für die auf der Mikroebene zu treffenden Entscheidungen ist die Makroebene ein Teil des Prämissenrahmens. Weiter unten werden wir den Individualismus als Methode und als Norm eingehender behandeln. Zweitens: Wenn der Einzelne zwischen zwei oder mehreren Alternativen wählt, so tut er es, indem er sie miteinander vergleicht. Der gemeinsame Nenner, auf den die Vor- und Nachteile der zu vergleichenden Alternativen gebracht werden, ist die Wohlfahrt dieses Einzelnen. Nach dem Gesagten muss nicht eigens hervorgehoben werden, dass mit Wohlfahrt nicht monetäre Werte gemeint sind. Jedoch ist an dieser Stelle Vom Rational Choice zum Public Choice · 5 <?page no="23"?> zu betonen, dass die Ausrichtung des individuellen Handelns an der eigenen Wohlfahrt nicht mit der Vernachlässigung der Wohlfahrt anderer einhergehen muss. Es ist durchaus möglich, dass der Einzelne die Wohlfahrt eines anderen fördert, weil er nur so erwarten kann, dass dessen Verhalten für ihn wohlfahrtsfördernd ist. Auch ist es möglich, dass dem Einzelnen die Wohlfahrt seines Nächsten so sehr am Herzen liegt, dass es ihm selbst nur gut geht, wenn sich dieser gut fühlt. Wer nach einer TV-Sendung über den Hunger in der Welt zum Scheckbuch greift, tut dies im Zweifel, weil er darunter leidet, dass die Menschen in Afrika leiden. Dieses Beispiel ist klar von dem Fall zu unterscheiden, in dem ein Einzelner einen bestimmten Betrag für Afrika spendet, damit die hungernden Massen in Afrika ihn nicht demnächst leiden lassen - etwa indem sie als Wirtschaftsflüchtlinge nach Europa wandern. In dem letztgenannten Beispiel geht das Verhalten der Hungernden, nicht aber deren Wohlfahrt unmittelbar in die Wohlfahrtsfunktion und damit in das Entscheidungskalkül des Geldgebers ein. In dem erstgenannten Beispiel geht die Wohlfahrt des anderen, nicht aber dessen Verhalten in die Wohlfahrtsfunktion und damit in die Entscheidungsfunktion des Spenders ein. Obschon diese Unterschiede für die moralische Bewertung des individuellen Handelns von Bedeutung sein mögen, haben sie gemeinsam, dass der Einzelne die zur Wahl stehenden Handlungsalternativen im Hinblick auf seine Wohlfahrt prüft. Obwohl er in beiden Fällen unter Bezug auf seine Wohlfahrt entscheidet, ist die Wohlfahrt anderer nicht vernachlässigt worden. Selbstverständlich schließt dies nicht aus, dass in die Wohlfahrtsfunktion eines Einzelnen weder die Wohlfahrt noch das Verhalten anderer eingehen können. Indem die Neue Politische Ökonomie die von der Wirtschaftswissenschaft entwickelte Theorie der Wahlhandlungen nutzt, übernimmt sie auch die ihr eigene Prämisse der Rationalität menschlicher Entscheidungen. Über diesen Punkt ist wie über kaum einen anderen debattiert worden, und der Streit geht auch heute noch weiter. Diese Auseinandersetzung kann und muss hier nicht in all ihren Phasen und Argumenten nachgezeichnet werden. Es reichen einige Klarstellungen. Die Grundannahme des Rational Choice besteht darin, dass ein Mensch, wenn er zwischen zwei oder mehr Alternativen zu wählen hat, sich für jene entscheidet, die ihm am meisten zusagt. Damit ist weder ausdrücklich gesagt noch stillschweigend impliziert, dass seine Entscheidung wirklich jene ist, die er getroffen hätte, wenn er gewusst hätte, „was wirklich gut für ihn ist“. Es wäre für einen Studenten möglicherweise „wirklich“ gut, ein Lehrbuch durchzuarbeiten, anstatt zum Segeln zu fahren. Doch das ist irrelevant. Aus der Perspektive des Rational Choice kommt es nicht darauf an, was aus der Sicht von Eltern, Professoren und anderen wohlmeinenden, erfahrenen und weisen Autoritäten für den 6 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="24"?> Studenten „wirklich“ gut ist. Es kommt nur und ausschließlich darauf an, was der Student „für sich als gut“ erkannt hat.Wenn im Einzelfall der Student gegen den Rat der Altvorderen zum Segeln fährt, so, weil er gleich zwei Entscheidungen getroffen hat. Die erste: Es ist gut für ihn, die Ratschläge der Älteren - nie, nicht immer, selten bzw. in diesem Fall - nicht zu respektieren. Die zweite: Es ist gut für ihn, zum Segeln zu fahren. Der Rational-Choice Ansatz impliziert auch nicht, dass der Einzelne umfassend informiert ist. Der Student fährt vielleicht zum Segeln, weil er eine objektiv falsche Vorstellung von den Anforderungen hat, die im Examen gestellt werden. Auch in diesem Fall gilt, dass er jene Alternative wählt, die er - bei dem gegebenen Stand seiner Information - als die bessere ansieht. Dass er nicht besser informiert ist, hat selbstverständlich seine Gründe. So mag der Student vorgängig entschieden haben, dass es für ihn besser ist, sich über die Segelroute für die nächsten Ferien zu informieren, als über die Anforderungen, die im Examen gestellt werden. Auch ist in Rechnung zu setzen, dass es im Einzelfall mehr oder weniger kostspielig ist, sich zu informieren. Entsprechend wird der Einzelne sich rationalerweise für ein gewisses Maß an Informiertheit und damit für ein gewisses Maß an Uninformiertheit entscheiden. Der Einzelne mag auch - aus welchen Ängsten und Verdrängungen heraus auch immer - nicht in der Lage gewesen sein, an das Examen und damit an die Anforderungen auch nur zu denken, geschweige denn sich zu informieren. Es kommt nicht darauf an, wie er sich informiert und - entsprechend - wie er entschieden hätte, wenn er ein Anderer gewesen wäre als er ist, sondern darauf, wie er, so wie er ist, sich tatsächlich informiert und entscheidet. Rationalität impliziert also nicht, dass in die Entscheidungen des Einzelnen keine Gefühle und Affekte einfließen. Der Rational-Choice Ansatz geht lediglich davon aus, dass der Einzelne, so wie er ist, jene Alternative wählt, die ihm als die Beste erscheint. Selbst die Tatsache, dass der Student - nachdem er im Examen durchgefallen ist - einsieht, dass es für ihn besser gewesen wäre, nicht zum Segeln zu fahren, sondern zu lernen, ist für den Rational-Choice Ansatz ohne Belang. Dieser besagt nur, dass der Einzelne jene Alternative wählte, die er im Augenblick der Entscheidung als die Beste ansah. Nicht aber besagt er, dass der Einzelne nur dann rational handelt, wenn er im Augenblick der Entscheidung die Wahl trifft, die er treffen würde, wenn er sich - nach Eintreten der Konsequenzen - noch einmal entscheiden könnte. Dies schließt allerdings nicht aus, dass der Student, nachdem er im Bachelor- Examen einmal durchgefallen ist, nun über die Information verfügt, dass es vorteilhaft ist, vor dem Examen nicht zum Segeln zu fahren, sondern sich vorzubereiten. Entsprechend wird seine Entscheidung vor den Master-Prüfungen eine andere sein als vor dem Bachelor-Examen. Vom Rational Choice zum Public Choice · 7 <?page no="25"?> Auch impliziert der Rational-Choice Ansatz nicht, dass der Einzelne alle überhaupt möglichen Alternativen kennt. Es wird lediglich unterstellt, dass er zwischen den ihm bekannten Alternativen die Beste wählt.Wenn es andere gibt und er diese nicht kennt, so bedeutet dies lediglich, dass der Einzelne in der Vergangenheit ausdrücklich oder implizit entschieden hat, dass es für ihn das Beste ist, nicht nach weiteren Alternativen zu suchen. Schließlich setzt der Rational-Choice Ansatz nicht voraus, dass der Wahl einer Alternative ein bewusstes und mehr oder weniger explizites Entscheidungskalkül vorangegangen sein muss. Auch ein Spontankauf ist in dem Sinne ein rationaler Wahlakt, dass der Einzelne - diesmal eben ohne (langes) Nachdenken - das tut, was er für das Beste hält. Im Sinne des Rational Choice ist ein siebzigjähriger Emeritus keineswegs irrational, wenn er sich spontan fünf farbige Luftballons und einen Plüschbären kauft. Dies auch dann nicht, wenn sich der Emeritus nachher seines Kaufs schämt und meint, „es habe wohl an der Hitze gelegen“. Es ist richtig: Ein Rationalitätsbegriff, der so weit ausgreift, wie hier skizziert worden ist, rückt in die Nähe der Leerformel. Wir werden weiter unten auf diesen Punkt zurückkommen. An dieser Stelle ist jedoch folgende Bemerkung angezeigt: Auch wenn der so verstandene Rationalitätsbegriff weitgehend leer bzw. zirkulär ist - der Einzelne wählt die beste Alternative; und: Die beste Alternative ist jene, die er wählt -, so ist es doch hilfreich, mit diesem Begriff zu arbeiten. Dies zeigt sich allerdings erst an den mit seiner Hilfe erarbeiteten Ergebnissen, also erst, nachdem man sich seiner bedient hat. Der Leser ist also gebeten, sich mit seinem Urteil über die Zweckmäßigkeit eines derart „leeren“ Rationalitätsbegriffs etwas zurückzuhalten. Wir können zusammenfassen: Die Theorie des Rational Choice geht davon aus, dass das wirtschaftliche Geschehen darauf zurückzuführen ist, dass viele Einzelne in vielfältigen Bedingungskonstellationen die Frage beantworten: „Was ist von all dem, was ich in dieser Situation tun kann, das aus meiner gegenwärtigen Sicht Beste? “, und dass sie der Antwort entsprechend handeln. Die Rational-Choice Theorie ist von der Wirtschaftswissenschaft mit Blick auf die Analyse individueller Entscheidungen über das Angebot und die Nachfrage von Privatgütern entwickelt worden. Nun, da sie zur Analyse der Politik herangezogen wird, soll sie der Untersuchung kollektiver Entscheidungen über die Erstellung von - in der Hauptsache - Kollektivgütern dienen. Es ist hinzuzufügen: Mochte in einer ersten Phase der Rational Choice im Kontext der Privatwirtschaft angewandt worden sein, und mag er in einer zweiten Phase als Public Choice Entscheidungen im Bereich der Politik untersuchen, so findet er nun auch als Public Choice bei der Analyse der Privatwirtschaft Anwendung. Es kann nämlich nicht länger übersehen werden, dass die Nachfrage nach und das Angebot von Privatgütern nicht nur auf Einzelentscheidungen basieren, sondern recht häufig auch das Ergebnis von Kollektiventscheidungen sind. Es werden immer weniger Produkte von Unternehmen angeboten bzw. nachgefragt, in denen ein Eigentümer-Unternehmer ohne fremde 8 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="26"?> Angestellte tätig ist. Auch Privatunternehmen sind häufig Kollektive und die in ihnen getroffenen Entscheidungen - wie in der Politik - Kollektiventscheidungen. So ist es nur natürlich, dass die in der Betriebswirtschaftslehre als Rational Choice entstandene Theorie der Wahlakte nach einem Umweg über die Politikanalyse etwa als Institutionenökonomik wieder in die Betriebswirtschaftslehre zurückkehrt. Dass einzelne Autoren, wie etwa Ronald H. Coase, nicht in dieses simple zeitliche Schema passen, spricht für deren Genialität, nicht aber gegen das Schema. Exkurs: Rational Choice und Public Choice im dogmenhistorischen Kontext Der Ansatz des Rational und des Public Choice wird in seiner spezifischen Eigenart und in seinen Grenzen besonders deutlich, wenn man ihn als Teil eines schon lange geführten dogmenhistorischen Diskurses sieht, an dessen Beginn das Streben nach der „bona vita“ stand. Dieses „gute Leben“ wurde als Einklang des Menschen mit sich, mit den Mitmenschen, mit den Dingen und mit Gott verstanden. Dabei wurde - im Naturrecht begründet und in der mittelalterlichen Scholastik christianisiert - dieser Einklang als dem individuellen Wollen als Auftrag vorgegeben verstanden: Das „gute Leben“ war ein Leben, wie es innerhalb eines überindividuell vorgegebenen Wert- und Weltordo gelebt werden sollte. Nach dem Zerfall des mittelalterlichen Wert- und Weltgebäudes, also zu Beginn der Neuzeit entfiel die überindividuelle Begründung des guten Lebens. Der Mensch erfuhr sich als Individuum, das allein bzw. in interindividuellen Interaktionen ein Leben führen konnte und wollte, das seinen Maßstäben entsprach. An die Stelle des Strebens nach dem „guten Leben“ trat die Suche nach dem Glück: „the pursuit of happiness“. Weil nun aber das Glück ein schillernder Begriff ist, konnte nicht ausbleiben, dass an seine Stelle der - wenigstens auf den ersten Blick - sehr viel konkretere Begriff des Nutzens und im Weiteren der Begriff der Wohlfahrt trat. Die Erörterung über das „gute Leben“ wurde nunmehr als Wohlfahrtsökonomik weitergeführt. Es war nicht mehr die Rede vom Einklang des Menschen mit sich, den Mitmenschen, den Dingen und mit Gott, sondern von Kosten und Nutzen, die per saldo die Wohlfahrt des Einzelnen, gar die Wohlfahrt (in) einer Gesellschaft ausmachen.War es früher um das „Interesse“ des Menschen, d. h. um sein Sein inmitten eines ihn übersteigenden Welt- und Wertgebäudes gegangen, so ging es nunmehr um seine Interessen gegenüber einer im Prinzip nutzbaren Welt. An die Stelle des leidenschaftlichen Seins trat das Interesse am Haben. Das „self-interest“, nicht aber das „interest in his own self“ galt nunmehr als Triebkraft des Menschen. In der Fortentwicklung dieses Ansatzes kam es im Weiteren dazu, dass zunehmend das Wohlfahrtsstreben als Wohlstandsmaximierung thematisiert und ausgelebt wurde (und wird). In der Tat: Da der Nutzen kardinal nicht messbar und die Wohlfahrt ein wenig operationaler Begriff ist, lag (und liegt) es nahe, die Wohlfahrt als Ziel individuellen und kollektiven Entscheidens durch den Wohlstand, also die Verfügung über zähl- und messbare Güter und Dienstleistungen, gar über monetäre Werte zu ersetzen. Und so Exkurs: Rational Choice und Public Choice im dogmenhistorischen Kontext · 9 <?page no="27"?> wird denn auch nicht selten nicht nur im wirtschaftstheoretischen, sondern auch im politischen Diskurs der Gegenwart die gesellschaftliche Wohlfahrt durch das Streben nach Wirtschaftswachstum ersetzt; und: Wer ehedem ein „gutes Leben“ führen oder auch nur glücklich sein wollte, strebt nun nach einem hohen Einkommen und einem großen Vermögen. Allerdings: Es gab schon immer und es gibt heute auch und vermehrt Kräfte, die dagegen opponieren, sich in der Logik des Wohlstandsdenkens einfangen zu lassen, und die nicht bereit sind, das private Einkommen bzw. das Bruttoinlandsprodukt als gültigen Ausdruck des Glücks oder gar des guten Lebens zu akzeptieren. Mag auch der „mainstream“ der Wirtschaftswissenschaft in Geld-, Einkommens- und Wohlstandskategorien gedacht haben und noch denken, so gab und gibt es in Theorie und Praxis Gegenströmungen. Diese verlaufen verständlicherweise am Rande des „mainstream“; entsprechend sind sie vergleichsweise wenig sichtbar (gewesen); doch sind sie nicht ohne Einfluss (gewesen). So wurde versucht, durch die Einführung einer Vielzahl nichtmonetärer Indikatoren etwa über Umweltqualität, Mortalität, Pressefreiheit usw. den Nachteilen und Verzerrungen eines Diskurses zu entgehen, der sich nur auf Wohlstand, auf Wirtschaftswachstum und Einkommenssteigerung konzentriert. Im Übrigen ist festzustellen, dass gerade in jüngster Zeit auch dem „mainstream“ angehörige Ökonomen das Glück als Gegenstand der theoretischen Reflexion und der empirischen Forschung (wieder) entdecken. Auch findet zunehmend, neben seinem „self-interest“, das „interest in his own self“ des Menschen als Handlungsmotiv im „mainstream“ Beachtung. 3 Die Neue Politische Ökonomie ... Im Folgenden geht es um die Anwendung des Rational-Choice Ansatzes auf die Politik. Isolierte Einzelentscheidungen sind nicht Gegenstand unserer Darstellung; es geht um Entscheidungen im Kollektiv. Und bei diesen geht es nur um solche, die im Bereich der Politik getroffen werden. Der Public-Choice Ansatz in seiner Anwendung auf die Untersuchung von Kollektiventscheidungen etwa in Aktiengesellschaften bleibt außen vor. Angesichts der politischen Bedeutung von Großunternehmen ist dies sehr bedauerlich, in Anbetracht der begrenzten Seitenzahl aber nicht zu vermeiden. Der Leser sei hier ausdrücklich auf Williamson: „The Economic Institutions of Capitalism“ und auf die sich auf dieses Werk beziehende Literatur verwiesen. Die Neue Politische Ökonomie hat sich im Laufe der Zeit entwickelt. Nicht nur, dass sie inzwischen durchaus bemerkenswerte Ergebnisse aufzuweisen hat. Sie hat sich auch in dem Sinn entwickelt, dass sich weitgehend eigenständige und spezialisierte Forschungsrichtungen innerhalb der Neuen Politischen Ökonomie herausgebildet haben. Drei verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden: • die logische Analyse kollektiver Entscheidungen; • die empirische Erforschung kollektiver Entscheidungen; • die normative Begründung bzw. Kritik kollektiver Entscheidungen. 10 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="28"?> Ehe wir kurz darstellen, was die Fragestellung (und damit die Ergebnisse) dieser drei Richtungen auszeichnet, ist darauf hinzuweisen, dass in praxi zwischen ihnen insofern ein Zusammenhang besteht, als die Ergebnisse der einen als Input in die Bemühungen der anderen eingehen (können). Gleichwohl lassen sich die drei Richtungen voneinander abgrenzen. 3.1 ... als logische Analyse kollektiver Entscheidungen Diese mit dem Namen von Kenneth Arrow verbundene Richtung geht etwa der Frage nach, wie sich kollektive Entscheidungen auf die Widerspruchslosigkeit der Präferenzordnung auswirken. Unter welchen Bedingungen ist es also möglich, dass Individuen als Einzelne eine Anzahl Alternativen ihren Präferenzen entsprechend widerspruchslos ordnen können, aber dann, wenn sie im Kollektiv entscheiden, zu Ergebnissen kommen, die in sich widersprüchlich sind? Oder - andere Frage - ist ein bestimmtes Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung strategieanfällig? Diese und andere Fragen lassen sich nun - und dies ist das entscheidende Merkmal dieser Forschungsrichtung - durch Nachdenken bzw. durch mathematische Ableitungen beantworten. Gleichfalls lassen sich die Antworten auf diese Fragen durch den ausschließlichen Rückgriff auf logische Argumente kritisieren (und verteidigen). Da diese Richtung nicht danach fragt, wie die Wirklichkeit aussieht, stellt sie auch keine empirisch überprüfbaren Hypothesen auf. Entsprechend können ihre Ergebnisse auch nicht durch die Wirklichkeit widerlegt, also falsifiziert werden. Gleichfalls wird hier nicht nach der normativen Begründung dieses oder jenes Verfahrens, dieses oder jenes Ergebnisses der Politik gefragt. Die Ergebnisse dieses Ansatzes können also auch nicht unter Berufung auf dieses oder jenes Werturteil kritisiert werden. So wie die Logik nicht von empirischen Fakten falsifiziert werden kann, kann ihr nicht mit normativen Bekenntnissen begegnet werden. Allerdings: Mag die logische Analyse auch keine normative Begründung von kollektiven Entscheidungsverfahren zu liefern imstande sein, so kann sie doch Aussagen über deren Zweckmäßigkeit bzw. Unzweckmäßigkeit machen. Darüber hinaus mag sie helfen, Hypothesen zu generieren und zu strukturieren. 3.2 ... als empirische Untersuchung kollektiver Entscheidungen Diese etwa mit dem Namen von Downs verknüpfte Forschungsrichtung geht der Frage nach, wie politische Entscheidungsprozesse in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ablaufen. Sie stellt überprüfbare Hypothesen auf und bemüht sich um ihre empirische Überprüfung. Die Qualität dieser Forschung hängt vom Informationsgehalt ihrer Hypothesen ab, d. h. von der Anzahl der Zustände und Beziehungen, die mit dem Aussagegehalt der Hypothesen nicht vereinbar sind. (Eine Hypothese, die besagt, dass etwas so oder anders oder noch anders ist, ist inhaltsärmer als eine Hypothese, die sagt, dass es so und nicht anders ist.) Darüber hinaus hängt die Qualität dieser Forschung auch von der Überprüfbarkeit ihrer Hypothesen ab. Dabei ist zu beachten, dass morgen (vielleicht) überprüfbar sein wird, was heute (noch) nicht überprüfbar ist. Auch spekulative, also gehaltvolle, aber (noch) nicht oder (erst) wenig überprüfbare Hypothesen haben ihre Nützlichkeit. Einerseits fordern sie zu Anstrengungen auf, die Die Neue Politische Ökonomie · 11 <?page no="29"?> Methoden der Überprüfung zu entwickeln. Andererseits ist das praktische Handeln nicht selten auch dort auf Erkenntnisse angewiesen, wo es (noch) keine überprüfbaren und überprüften, sondern lediglich spekulativ-plausible Hypothesen gibt. Dass diese irreführend und gefährlich sein können, ist kein Grund, auf diese Art von Hypothesen zu verzichten. Allerdings sollte man sie als solche ausweisen und vorsichtig mit ihnen umgehen. Kurz: Während die Ergebnisse der logischen Analyse kollektiver Entscheidungen mittels logischer Argumente gestützt bzw. gestürzt werden können, fragt die empirische Erforschung der Kollektiventscheidungen nur, ob die Wirklichkeit ihre Hypothesen stützt oder stürzt. Mit einiger Vereinfachung kann man sagen: In der logischen Analyse diskutiert ein denkendes Hirn mit sich selbst oder mit anderen denkenden Hirnen. In der empirischen Forschung trifft ein fragendes Hirn auf eine antwortende Wirklichkeit. 3.3 ... als normative Begründung bzw. Kritik kollektiver Entscheidungen Hier geht es um die Frage, wie Ergebnisse und Verfahren von Kollektiventscheidungen sein sollen. Diese Frage lässt sich nur auf der Grundlage von Werturteilen stellen und beantworten. So fragen etwa Buchanan und Tullock danach, wie eine Regel der kollektiven Willensbildung aussehen muss, damit kollektiver Zwang mit der als Wert gesetzten Freiheit des Individuums vereinbar ist. Diese Forschungsrichtung hat zwei Seiten. Einerseits begründet sie unter Bezug auf dieses oder jenes Werturteil dieses oder jenes Ergebnis, dieses oder jenes Verfahren.Andererseits kritisiert sie dieses oder jenes Verfahren (Ergebnis) als mit diesem oder jenem Werturteil nicht vereinbar. Sie dient also einerseits als Argumentationshilfe beim Legitimitätsnachweis bestimmter Verfahren (Ergebnisse) von Kollektiventscheidungen. Andererseits dient sie auch als Instrument der Gesellschaftskritik und der Gesellschaftsreform. Die Aussagen dieser Forschungsrichtung können nicht - gemessen an empirischen Befunden - als richtig oder falsch bezeichnet werden. Hingegen können sie - unter Bezugnahme auf bestimmte Werturteile - als begründbar angenommen oder als unbegründbar abgelehnt werden. Weiter oben wurde schon darauf hingewiesen, dass diese drei Forschungsrichtungen sich analytisch voneinander abheben, dass sie aber praktisch in enger Verbindung stehen.Wohl ist richtig, dass der eine oder andere Wissenschaftler sein Interesse und das Hauptgewicht seiner Forschung prioritär in die eine oder andere dieser Richtungen lenkt. Doch auch er wird - von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen - die Fragestellungen und Antworten der anderen, oft stillschweigend und am Rande, aber immerhin doch berücksichtigen. 4 Die Neue Politische Ökonomie und der historische Augenblick Diese Vermischung von logischer Analyse, empirischer Forschung und normativem Diskurs tritt in der Begegnung der Neuen Politischen Ökonomie mit den Anfragen 12 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="30"?> und Anforderungen der praktischen Politik recht häufig auf. Das führt oft zu einer nicht unbedenklichen Konfusion in der Diskussion, ist aber doch wohl auch verständlich. Es ist dies der Preis, der für die wünschenswerte Nutzung der Ergebnisse der Neuen Politischen Ökonomie in der Praxis gezahlt werden muss. Da in der Praxis analytische, empirische und normative Probleme in der Regel nicht scharf getrennt, sondern gleichsam in Gemengelage vorkommen, ist dieser Preis nur begrenzt reduzier- und vermeidbar. Die Beziehungen der Neuen Politischen Ökonomie zur gesellschaftlichen Wirklichkeit des historischen Augenblicks sind aber nicht in dem Sinne einseitig, dass nur die Ergebnisse jener in diese eingespeist werden. Die Beziehungen zwischen beiden bestehen auch darin, dass sich die Neue Politische Ökonomie durch die Probleme und Fragestellungen, durch die Spannungen und Turbulenzen jener gesellschaftlichen Realität anregen lässt, von welcher sie ein Teil ist. Bezüglich dieses Punktes hat im Laufe der letzten Jahrzehnte eine interessante Akzentverschiebung stattgefunden: In dem Maße wie sich die praktischen Probleme in und mit der Politik verschoben haben, haben sich auch die Akzente in der Forschungsausrichtung der Neuen Politischen Ökonomie verlagert. Drei Phasen können unterschieden werden: Erstens: Es war eine lange geübte und auch heute noch nicht überall völlig überwundene Praxis, in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu untersuchen, welche Instrumente im Rahmen welcher Bedingungen zum Erreichen welcher Ziele zweckmäßigerweise eingesetzt werden. Es wurde nicht danach gefragt, ob bzw. unter welchen Umständen damit gerechnet werden kann, dass die zu einem bestimmten Instrumenteneinsatz notwendigen politischen Entscheidungen getroffen werden. Ein Beispiel: Die „fiscal policy“ lehrte, dass der Staat im konjunkturellen Abschwung mehr ausgeben als einnehmen, im Aufschwung mehr einnehmen als ausgeben, und so über die Zeit sein Budget ausgleichen soll. Das Rezept versagte in der Praxis mit unschöner Regelmäßigkeit. Abgesehen von der etwas einfachen, ihm zugrundeliegenden Konjunkturtheorie, war ein wesentlicher Grund auch darin zu suchen, dass die politische Willensbildung mehr Leichtigkeit im „deficit spending“ als im Abtragen der Staatsschuld hat. Das Rezept erwies sich als unbrauchbar, weil nicht danach gefragt worden war, ob die Politik zu jenen Entscheidungen überhaupt fähig ist, die nötig sind, damit es angewandt werden kann. Zwar hatte man gesucht, teilweise auch gefunden, was man tun soll. Doch hatte man unterlassen zu fragen, ob die Politik tun kann, was sie laut Lehrbuch tun soll. Zweitens: Darüber hinaus: Mit der Entstehung der Neuen Politischen Ökonomie nahm eine zweite Phase der Entwicklung ihren Anfang. Es erwies sich zunehmend als nötig und möglich, nicht nur zu ergründen, welche wirtschaftspolitischen Instrumente im Rahmen bestimmter Bedingungen im Hinblick auf welche Ziele eingesetzt werden können und sollen. Viel- Die Neue Politische Ökonomie und der historische Augenblick · 13 <?page no="31"?> mehr wurde nun erforscht, ob, unter welchen Bedingungen, wie und in welchem Umfang das Lehrbuchwissen über wirtschaftliche Zusammenhänge Eingang in den politischen Entscheidungsprozess findet und dieses dann entsprechende Ergebnisse hervorbringt. Drittens: In einer dritten Phase beachtet man, wie in der eben skizzierten zweiten Periode, neben den Politikinhalten auch das Zustandekommen der Politik. Nur unterscheidet sich diese dritte Stufe von der zweiten dadurch, dass sie nicht nur - wie diese - die Inhalte der Politik in Abhängigkeit von ihrem Zustandekommen sieht, sondern dass sie auch die Strukturen und Prozesse der politischen Willensbildung in Abhängigkeit von den Politikinhalten sieht. In der Sprache von Douglass C. North: Institutionen beeinflussen die Ergebnisse gesellschaftlichen Handelns; und: Institutionen sind - in ihrem Bestand und in ihrem Wandel - das Ergebnis gesellschaftlichen Handelns. Zusammenfassend: In der ersten Phase wurden die Eigenheiten der politischen Willensbildung als von der Wirtschaftswissenschaft nicht analysierbare und vernachlässigbare Variablen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik angesehen. Sie wurden in den Euckenschen Datenkranz der gesamtwirtschaftlichen Daten verwiesen. In der zweiten Phase galten die politische Willensbildung, ihre Institutionen und Verfahren als von der Wirtschaftstheorie analysierbare unabhängige Variablen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik: Die politische Willensbildung beeinflusst die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik; nicht aber sind die politische Willensbildung, ihre Verfahren und Institutionen ein Gegenstand der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Die dritte Phase schließlich betrachtet den Inhalt und die Form der Politik, die Entscheidungsgegenstände und -abläufe in ihrem wechselseitigen Bezug. Die Formen, Regeln und Institutionen des Zustandekommens politischer Entscheidungen sind in der Perzeption der Neuen Politischen Ökonomie zu von der Politik abhängigen Variablen geworden. Auch diese dritte Phase ist vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sehen. Die letzten Jahre des ausgehenden zwanzigsten und die ersten Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts unterscheiden sich von den vorhergehenden Jahrzehnten durch das Infragestellen, die Erschütterung, den Zusammenbruch alter und das Aufkommen neuer Institutionen und Regeln. Wohl hat es auch früher den institutionellen Wandel gegeben, doch war dieser über Jahrzehnte hinweg so langsam, dass man ihn übersehen konnte und wohl auch gemeinhin übersehen hat. Dies hat sich im Laufe der letzten Jahre geändert. Politik kann zunehmend weniger im Rahmen bestehender Institutionen gemacht werden. Und es ist immer nötiger, im Rahmen werdender und vergehender Institutionen politisch zu handeln. Je länger, desto notwendiger ist es zudem, im Rahmen werdender und vergehender Institutionen eine Politik zu machen, welche auch die Schaffung und Abschaffung von Institutionen zum Inhalt hat. Allerdings: Erst allmählich wendet sich die Neue Politische Ökonomie diesem Thema zu. So gesehen hat diese dritte Phase, in welcher politische Entscheidungsformen und -inhalte in ihrem wechselseitigen Bezug analysiert werden, Anteil an dem allgemeinen Bemühen, sich in einer Welt, in der alles zur Disposition steht, doch noch zurechtzufinden. 14 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="32"?> Literatur zur Einleitung und zum Exkurs Albert, H.: Kritischer Rationalismus,Tübingen 2000. Alt, J. E., Chrystal, K.A.: Political Economics, Brighton 1983. Alt, J. E. et al. (Hrsg.): Perspectives on Political Economy, New York 1990. Argyle, M.: The Psychology of Happiness, London 1987. Arrow, K. J.: Social Choice and Individual Values, New York 1963 (1951). Bandura, A.: The Self and Mechanisms of Agency, in: Psychological Perspectives in the Self 1, 1982. Barry, B. M.: Neue Politische Ökonomie: Ökonomische und soziologische Demokratietheorie, Frankfurt 1975. Becker, G. S. et al. (Hrsg.): Essays in the Economics of Crime and Punishment, New York 1974. 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Literatur · 17 <?page no="35"?> Kontrollfragen zur Einleitung und zum Exkurs 1. Skizzieren Sie das Selbstverständnis der Neuen Politischen Ökonomie. 2. Grenzen Sie „Rational Choice“ und „Public Choice“ voneinander ab. 3. Schildern Sie den dogmenhistorischen Ablauf der Versuche in einer Welt der knappen Mittel mit sich und anderen Menschen umzugehen. 4. Skizzieren Sie das logische Element in der Neuen Politischen Ökonomie. 5. Stellen Sie das empirische Element in der Neuen Politischen Ökonomie heraus. 6. Inwieweit ist die Neue Politische Ökonomie normativ? 7. Was zeichnet die Neue Politische Ökonomie gegenüber der „traditionellen“ Finanzwissenschaft aus? 18 · Einleitung: Neue Politische Ökonomie - was ist das? <?page no="36"?> Kapitel I Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv Bislang wurde von politischen Entscheidungsprozessen gesprochen, ohne dass geklärt worden wäre, was darunter zu verstehen ist, genauer: was die ökonomische Theorie darunter versteht. Dies soll jetzt nachgeholt werden. Dabei wollen wir auf die Theorie der Kollektivgüter zurückgreifen, wie sie in der Nachfolge von R.A. Musgrave im Zentrum der finanztheoretischen Diskussion steht. Dieses Vorgehen erleichtert einerseits den Zugang zur ökonomischen Interpretation der politischen Prozesse, andererseits folgt es jenem Argumentationsmuster, das im Laufe der letzten Jahrzehnte die Finanzwissenschaft von der Analyse der Kollektivgüter über die Erörterung von Entscheidungskollektiven zu der Erforschung von Kollektiventscheidungen geführt hat. 1 Der Individualismus 1.1 Der Individualismus als Methode Oben hieß es, dass das Zentrum und der Ausgangspunkt der liberal-ökonomischen Argumentation das Individuum ist, das seine eigenen Bedürfnisse kennt und anerkennt, seine Ziele setzt und seine Entscheidungen und Handlungen an der Befriedigung dieser Bedürfnisse, an der Realisierung dieser Ziele ausrichtet. Das heißt, in ihrer Methode ist die Ökonomische Theorie der Politik - wie übrigens die gesamte Wirtschaftstheorie - individualistisch; man spricht vom methodologischen Individualismus. Gemeint ist, dass das Problem des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen von den einzelnen Individuen, nicht aber von der Gesellschaft als Ganzem her aufgerollt wird. Was in einer Gesellschaft geschieht, passiert deshalb, weil einzelne Individuen in ihr fühlen, denken, reden, handeln. Nicht aber wird von der Gesellschaft her verstanden, was und wie die Einzelnen fühlen, denken, reden und handeln. Dies bedeutet nicht, wie häufig unterstellt wird, dass der methodologische Individualismus außer Acht lässt, dass der einzelne Mensch auch gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt ist. Der Individualismus als Methode ist sehr wohl vereinbar mit der Beeinflussbarkeit und Formbarkeit des Menschen durch soziale Einflüsse. Im Gegensatz zu dem Organizismus als Methode geht er allerdings von der Vorstellung aus, dass es zweckdienlich ist, diese gesellschaftlichen Einflüsse nicht als Einflüsse der Gesellschaft zu interpretieren, sondern als Einflüsse von Individuen auf Individuen in der Gesellschaft. Der methodologische Individualismus ist sehr wohl vereinbar mit der weiter unten zu diskutierenden These, dass der einzelne Mensch bis zu einem bestimmten Grad in der Gesellschaft geformt wird. Entscheidend ist: In der Perspektive des methodologischen Individualismus wird der Mensch nicht durch die Gesell- 19 <?page no="37"?> schaft, sondern in der Gesellschaft geformt. Der einzelne Mensch begegnet nicht der Gesellschaft, sondern anderen Gesellschaftsmitgliedern. An einem konkreten Beispiel lässt sich dies illustrieren: Der methodologische Individualismus analysiert Gewerkschaften, indem er auf die Aktionen und Interaktionen von einzelnen Gewerkschaftsmitgliedern abstellt. Er analysiert nicht das Verhalten einzelner Gewerkschaftsmitglieder, indem er auf die Gewerkschaft als Ganzes abstellt. Wenn das Verhalten der Einzelnen als Gewerkschaftsmitglieder analysiert werden soll, so geschieht dies durch die Analyse der Aktionen und Interaktionen Einzelner in der Gewerkschaft. Das Verhalten eines Gewerkschaftspräsidenten hängt in dieser Optik nicht von der Gewerkschaft ab, sondern vom Verhalten der Gewerkschaftsmitglieder. Und das Verhalten der Gewerkschaftsmitglieder hängt nicht von der Gewerkschaft ab, sondern vom Verhalten u. a. des Vorsitzenden. Dass der Individualismus, nicht aber der Organizismus die methodologische Basis der Neuen Politischen Ökonomie ist, lässt sich im Wesentlichen aus Gründen der Zweckmäßigkeit rechtfertigen. Die Erfahrung hat gezeigt, genauer: die Forschungserfolge belegen, dass der methodologische Individualismus, im Vergleich zum methodologischen Organizismus, eher in der Lage ist, - eine Theorie zu erstellen, die mit wenigen, aber vergleichsweise klaren Begriffen auskommt; - eine Theorie zu erstellen, die komplexe Zusammenhänge in eher einfachen Modellen abbilden kann; - eine Theorie zu erstellen, die in dem Sinne ideologiekritisch ist, dass sie Wert- und Vorurteile von alternativen Analyseentwürfen zu enttarnen vermag und ihre eigenen Wert- und Vorurteile recht offen und schutzlos zur Schau stellt. 1.2 Der Individualismus als Norm Die Neue Politische Ökonomie ist aber nicht nur ihrer Methode nach individualistisch, sie ist es auch in ihrem normativen Engagement. Insofern entsprechen sich die Erkenntnismethode und das Wertbekenntnis der ökonomischen Theorie, also auch der Neuen Politischen Ökonomie. Für die Erkenntnismethode ist das Individuum der Ausgangspunkt, für das Wertbekenntnis ist es der Bezugspunkt. Der Individualismus als Norm geht von dem Bekenntnis aus, dass der einzelne Mensch - nicht der Mensch als solcher, schon gar nicht die Menschheit - jene Autorität ist, an deren Wollen,Wünschen und Bedürfnissen alles, also auch das politische Handeln auszurichten und zu messen ist. Damit setzt sich die Neue Politische Ökonomie in ihrem Wertengagement von jenen Denk- und Glaubensrichtungen ab, die (hegelianisch) im Staat, (marxistisch) in der Klasse, (à la Chamberlain) in der Rasse jene überindividuelle Instanz erblicken, die Sinn stiftet sowie Autorität und Richtmaß ist. Gleichfalls setzt sich die Ökonomische Theorie der Politik von der Ansicht ab, dass ein aus dem Naturrecht ableitbares, also überindividuell begründbares Gemeinwohl Richtmaß und Legitimitätsgrund auch des politischen Handelns ist. 20 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="38"?> Aus der Optik der Ökonomischen Theorie der Politik betrachtet ist also der einzelne Mensch in seiner Einzigartigkeit, ist jedes Individuum eine Autorität, die allein oder im Zusammenspiel mit anderen entscheidet, was wünschenswert bzw. nicht wünschenswert ist, was gut bzw. schlecht, richtig bzw. falsch, schön bzw. hässlich ist. Mehr noch: Die Ökonomische Theorie der Politik geht von der Wertsetzung aus, dass der einzelne und einzigartige Mensch frei sein muss, das für ihn Wünschenswerte nicht nur festzulegen, sondern es auch anzustreben. Das bedeutet, dass die Neue Politische Ökonomie als Erbin der Klassiker nicht nur individualistisch, sondern auch liberal ausgerichtet ist: Der Einzelne soll seinen eigenen Lebensentwurf konzipieren und nach eigenen Kräften realisieren können. Er soll entscheiden, was seine Wohlfahrt ausmacht, und auch frei sein, diese Wohlfahrt anzustreben. Der Einzelne soll nicht nur in Freiheit entscheiden, was für ihn „happiness“ bedeutet, sondern er soll auch frei in seiner „pursuit of happiness“ sein. Dabei soll er, so die Ausgangsforderung, nicht von anderen gehindert werden.Wir werden sehen, dass ein Großteil des Arguments der Ökonomischen Theorie der Politik in der Diskussion über die Frage besteht, warum, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen in Kollektiven gegen dieses Postulat verstoßen wird, werden muss und darf. So gesehen strebt die Neue Politische Ökonomie eine liberale Theorie der Kollektive an. Der Akzent liegt also auf dem einzelnen einzigartigen Individuum, auf jedem einzelnen einzigartigen Individuum. Die Folge ist, dass es keine überindividuell gültige Begründung dafür gibt, das eine Individuum einem anderen unterzuordnen. Dies bedeutet auch, dass es keine überindividuell gültige Begründung für das Recht des einen gibt, den anderen zum Instrument im Dienste der eigenen Bedürfnisbefriedigung zu machen. Und es heißt auch, dass es keine überindividuelle Begründung für den Anspruch des Einen gibt, vom Anderen in seiner Wohlfahrtssuche unterstützt zu werden. Das Beiwort „überindividuell“ ist besonders zu beachten. Denn es stellt auf die Tatsache ab, dass der Einzelne sehr wohl für ihn, also individuell gültige Gründe und Motive haben kann, sich in den Dienst anderer zu stellen und dass diese individuell gültige Gründe haben können, dieses Hilfsangebot anzunehmen oder abzulehnen. Es stellt auch auf die Tatsache ab, dass der Einzelne wohl der Ansicht sein mag, er habe gute Gründe, warum andere ihm zu Diensten sein sollten oder müssten. Nur werden diese Gründe so lange nicht greifen, wie sie sich nicht mit der Überzeugung dieser anderen treffen, sie sollten wirklich helfen. Es ist hinzuzufügen: Der normative Individualismus als gesellschaftliches Ordnungsprinzip schließt nicht aus, im Gegenteil: ermöglicht erst, dass sich der Einzelne supraindividuellen Autoritäten unterwirft. Ohne normativen Individualismus gibt es keine in Freiheit verantwortete Hingabe an supraindividuelle Autoritäten. Ohne normativen Individualismus gibt es allenfalls ein Ausgeliefertsein an Autoritäten, die sich supraindividuell bezeichnen, in der Regel aber nichts anderes als individuelle Machthaber sind. Anders ausgedrückt: Der normative Individualismus lehnt im Gesellschaftlichen supraindividuelle Autoritäten auch deshalb ab, damit sie in Freiheit bejaht werden können, nicht aber in Unfreiheit erduldet werden müssen. Der Individualismus · 21 <?page no="39"?> Es empfiehlt sich, an dieser Stelle einen Augenblick innezuhalten und zu überlegen, was die Ökonomische Theorie der Politik unter dem überaus schillernd-vieldeutigen Begriff der Freiheit verstehen soll.Wie auch anderweitig, so geht es auch hier nicht um die richtige, sondern um eine mit Blick auf das Forschungsvorhaben zweckmäßige Definition. Und zweckmäßig scheint folgende zu sein: Frei ist ein Akteur dann, wenn er in seinem Verhalten für sich und/ oder für andere mehr oder weniger unvorhersehbar ist. In dieser Optik ist demnach die Unvorhersehbarkeit ein Ausdruck der Freiheit.Wer unvorhersehbar ist, ist frei; und: Unfrei ist, wer vorhersehbar ist. Diese Definition der Freiheit klingt in ihrer Kürze trivial, hat aber eine Vielzahl von Implikationen, die für die wirtschaftstheoretische Analyse der Politik von Bedeutung sind: - Die Freiheit ist ein relationaler Begriff, d. h. man ist frei im Verhältnis zu jemandem. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil der so definierte Begriff der Freiheit von der Notwendigkeit entbindet, sich der Frage nach der Willensfreiheit des Menschen, wie sie seit alters her die Philosophie und neuerdings die Neurophysiologie thematisiert, zu stellen. Es geht also nicht darum, ob der Mensch einen freien Willen hat, er also nicht etwa in seinem Wollen durch neurophysiologische Vorgänge in seinem Hirn bestimmt ist; es geht darum, ob er im Verhältnis zu jemandem, gleichsam in der Sicht von jemandem ein freier Mensch ist. - Dieser jemand kann der Einzelne selbst sein; es können aber auch andere sein. Ist der Einzelnen für sich selbst in seinem Verhalten unvorhersehbar, kann er sich also selbst überraschen, so sprechen wir von innerer Freiheit, von persönlicher Souveränität. Und man kann, a contrario, dann von persönlicher Unfreiheit sprechen, wenn jemand heute schon voraussehen kann, dass er etwa morgen, übermorgen, usw., sei es etwa aus Gewohnheit oder aus neurotischer Zwanghaftigkeit, vor dem Zubettgehen noch ein Betthupferl isst. Ist der Einzelne für andere unvorhersehbar, so ist er diesen gegenüber frei. Wenn also Peter voraussehen kann, dass Paul jeden Dienstag Abend ins Kino geht, so ist Paul im Verhältnis zu Peter nicht frei. - Da das Verhalten von jemandem für ihn und/ oder andere mehr oder weniger (un)vorhersehbar sein kann, so ist der Einzelne auch im Verhältnis zu sich selbst und/ oder zu anderen mehr oder weniger (un)frei. - Das Verhalten von Peter mag für Paul vorhersehbar, für Klaus und Werner aber nicht. Ist dies der Fall, so ist Peter im Verhältnis zu Paul unfrei, im Verhältnis zu Klaus und Werner aber frei. - Wenn das Verhalten von A für jemand unvorhersehbar ist, so kann dieses Verhalten für diesen jemand wohlfahrtsrelevante Folgen haben oder auch nicht. Hat das Verhalten wohlfahrtsrelevante Konsequenzen, so mögen diese positiv oder aber negativ sein. Sind sie positiv, so haben wir es sozusagen mit freudigen Überraschungen zu tun; sind sie negativ, so haben wir es mit ärgerlichen Überraschungen zu tun. - Wenn das Verhalten von Peter und Paul wechselseitig völlig vorhersehbar wäre, beide also im Verhältnis zueinander total unfrei wären, so würde sich ihr Umgang 22 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="40"?> im Vollzug des Bekannten erschöpfen; ihre Beziehung wäre steril und beide würden sich vermutlich über kurz oder lang gegenseitig anöden: Einen Gesprächspartner, von dem man immer von vorneherein weiß, was er sagen wird, wird man schnell müde; der Umgang mit ihm bringt nichts Neues und ist langweilig. - Wenn das Verhalten von Peter und Paul wechselseitig völlig unvorhersehbar wäre, beide im Verhältnis zueinander also völlig frei wären, so würden sich beide nicht zu gemeinsamem Handeln treffen können.Wenn Peter und Paul nicht vorhersehen könnten, wo sich der jeweils andere wann aufhält, würden sie - wenn nicht durch Zufall - nie zusammen ein Bier trinken. Hinzukommt, dass der Einzelne nur mit einem bestimmten Ausmaß an Unvorhersehbarkeit seiner Umwelt, also auch des Verhaltens seiner Mitmenschen, umgehen kann. Und weil dem so ist, ist die Grenze der wechselseitig verkraftbaren Unvorhersehbarkeit schon vor dem Punkt der völligen Unvorhersehbarkeit erreicht. So mag es wohl - siehe oben - richtig sein, dass Peter und Paul sich dann wechselseitig anöden würden, wenn sie füreinander völlig vorhersehbar wären; doch gilt auch: Peter und Paul dürfen im Verhältnis zueinander ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit nicht überschreiten, wenn jenes Maß an wechselseitiger Verlässlichkeit gegeben sein soll, ohne die Menschen sich in der Welt, also auch in ihrer sozialen Umwelt nicht zurechtfinden. - Im unmittelbar Vorhergehenden war von Unvorhersehbarkeit schlechthin die Rede; nur beiläufig ist unterschieden worden zwischen den positiven und negativen, also wohlfahrtssteigernden und wohlfahrtsschädlichen Überraschungen des einen für den andern. Dazu zwei Punkte: Erstens: Man mag versucht sein zu sagen, dass dann, wenn das Verhalten von Peter und Paul wechselseitig nur wohlfahrtssteigernde Konsequenzen hätte, das Problem der zu großen Freiheit nicht existieren würde. Dem ist nicht so; denn auch dann, wenn es nur positive Überraschungen geben würde, wären Peter und Paul mit einiger Wahrscheinlichkeit überfordert: es würde „des Guten zu viel werden“. Die Fülle an, als einzelne wohlfahrtsfördernden, Überraschungen würde insgesamt als wohlfahrtsmindernd erlebt werden. Zweitens: Es ist nicht davon auszugehen, dass immer und unter allen Umständen das Verhalten des einen für den/ die anderen nur wohlfahrtsfördernde Überraschungen zeitigen wird; vielmehr ist auch mit wohlfahrtsmindernden Konsequenzen zu rechnen. Dies bedeutet, dass vorerst die Freiheit des einen für die/ den andern (auch) eine Gefahr und eine Bedrohung darstellt. - Wenn es aber richtig ist, dass sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an wechselseitiger Unvorhersehbarkeit vermieden werden soll, wenn auch zutrifft, dass es wünschenswert ist, dass der eine den/ die anderen nicht beliebig negativ, sondern positiv überrascht, dann ist zu fragen, wie dies erreicht werden kann. Auf den folgenden Seiten wird sich zeigen, dass eine, wenn nicht die wichtigste Aufgabe der wirtschaftlichen, staatlichen und politischen Ordnung darin besteht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Man kann es auch so sagen: Wieviel Freiheit erträgt der Mensch? Wieviel eigene und wieviel fremde Freiheit ist dem Menschen zumutbar Der Individualismus · 23 <?page no="41"?> und für ihn wünschenswert? Provozierender formuliert: Wieviel Begrenzung der menschlichen Freiheit ist anzustreben? Selbstredend können die Menschen nur dann wechselseitig in ihrem Verhalten unvorhersehbar sein, wenn sie als eigenständige Akteure auftreten können, also nicht in eine ihnen vorgegebene Ordnung, die ihnen das Recht und die Möglichkeit zu individuell freiem Verhalten versagt, eingebunden sind. Mit anderen Worten: Erst dann, wenn der Individualismus als Norm in Theorie und Praxis von Bedeutung ist, stellt sich das Problem der wechselseitigen Unvorhersehbarkeit, also der individuellen Freiheit. Nun ist aber der normative Individualismus als gesellschaftspolitisches Prinzip relativ neuen Datums. Es ist deshalb zweckmäßig, an dieser Stelle einen Blick in die Geschichte zu werfen. Dabei zeigt sich, dass der normative Individualismus - sobald er ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip geworden war - auch ein gesellschaftliches Problem wurde. Dazu Folgendes: Mag es schon sehr lange Menschen geben, so gibt es - die Vereinfachung sei hier erlaubt - erst seit rund einem halben Jahrtausend Individuen. Der antike und auch der mittelalterliche Mensch lebte in Verbänden, Familien, Clans, Sippen, Korporationen, Ständen. Von dort leitete sich nicht nur seine persönliche Identität, sondern auch seine gesellschaftliche Stellung her. Diese Kollektive bestanden nicht, weil einzelne Individuen Mitglieder waren. Vielmehr existierten die Menschen in ihren und in fremden Augen, weil und sofern sie Mitglieder waren.Wer aus diesen Kollektiven austrat oder verjagt wurde, war „vogelfrei“ und damit potenziell ein toter Mann. Der Mensch sagte „wir“, aber nicht „ich“; er war nicht „ich, der Peter Müller“, sondern „einer derer von Falkenstein“. Die Selbst- und Fremddefinition des Menschen als Teil von Kollektiven, seine Einbindung in diese Kollektive und die Legitimierung der Kollektive durch die Berufung auf eine supraindividuell begründete Ordnung führten dazu, - dass die Rechte und die Pflichten der Kollektivmitglieder unabhängig von individuellen Wünschen und Vorstellungen festgelegt waren; - dass Verstöße gegen diese Rechts- und Pflichtenzuweisungen nicht Verletzungen der Rechte anderer Individuen, sondern Verstöße gegen eine überindividuelle Autorität waren; - dass es keine legitimen Interessengegensätze und Verteilungskonflikte geben konnte, sondern lediglich aufrührerische und sündhafte Anmaßung; - dass durch Belehrung und Bestrafung der Menschen die Harmonie der Welt- und Wertordnung gesichert, nicht aber eine Ordnung für den Konflikt zwischen den Menschen gesucht werden musste. Anders ausgedrückt: In dieser Situation verhält sich - wenigstens im Prinzip - jeder so, wie es ihm von der überindividuellen Ordnung vorgegeben ist; wechselseitige Überraschungen sind selten, und wenn es sie denn doch gibt, so als Verstöße gegen die, nicht aber im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Der Zerfall der mittelalterlichen Welt- und Wertordnung zu Beginn der Neuzeit bedeutete, dass 24 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="42"?> - der Mensch in der Feudal- und Ständeordnung nicht mehr aufgehoben und eingebunden war; - nach der Entthronung einer göttlichen Autorität im Jenseits der Mensch im Diesseits zur letztverbindlichen Autorität wurde. In diesem geschichtlichen Augenblick, vor ungefähr einem halben Jahrtausend, kroch der Mensch als Individuum unter den Trümmern der alten Welt- und Wertordnung hervor. Mit dem Zusammenbruch der alten Gesellschaftsordnung entstand das individualistische (Selbst-) Verständnis des Menschen: das Individuum als letztverbindliche, quasi göttliche Instanz. Zeitgleich mit der Entgötterung der Welt erfolgte die Vergöttlichung des Menschen. So sehr wir heute auch geneigt sind, diesen historischen Augenblick nur als die glückliche Geburtsstunde der Neuzeit, des Humanismus und der Freiheit zu feiern, so sehr wurde er von den Zeitgenossen über weite Strecken auch als grauenhafte Katastrophe erlebt. Indem das Individuum, jeder einzelne einzigartige Mensch als letztverbindliche, durch nichts beschränkte Autorität auftrat, mussten sich die Menschen in einer begrenzten Welt in die Quere kommen. Indem jeder - getrieben von einem unbegrenzten Glücksstreben - hemmungs- und grenzenlos Ansprüche an die begrenzten Ressourcen der Welt anmeldete und durchzusetzen versuchte, musste er mit den gleichfalls unbegrenzten Ansprüchen anderer, eines jeden anderen, in Konflikt geraten. Damit war eine Situation entstanden, in welcher jeder vorerst damit rechnen muss, dass sich die individuelle Freiheit des/ der anderen sich für seine Wohlfahrt negativ auswirkt. Die Entscheidungsfolgen der Einzelnen sind in dieser Situation gleichzeitig vorhersehbar und unvorhersehbar: Jeder kann vorhersehen, dass das Verhalten des/ der anderen für ihn wohlfahrtsschädigend ist; und: im Zweifel kann niemand voraussehen, auf welche Weise die Konsequenzen des Handelns der/ des anderen für ihn wohlfahrtsmindernd sind. Jeder muss Negatives erwarten, niemand aber kann wissen, was ihn an Schlimmem erwartet. Man kann noch nicht einmal sagen, dass in dieser Situation die Menschen einander nur deshalb nicht trauen können, weil sie sich alles zutrauen müssen. Vielmehr trifft zu, dass sich die Menschen, weil sie sich das Schlimmste zutrauen müssen, sich auch feindselig begegnen müssen. Thomas Hobbes spricht denn auch folgerichtig vom „Krieg aller gegen alle“. Weil jeder nur haben kann, was der andere nicht hat, weil auch jeder nicht haben kann, was ein anderer hat, muss jeder danach trachten, andere mit Gewalt zu berauben. Es muss auch jeder darauf gefasst sein, dass andere danach trachten, ihn mit Gewalt zu berauben. Der Hobbessche Naturzustand des Krieges aller gegen alle, in dem der Mensch des Menschen Wolf ist, besteht darin, dass das unbegrenzte Glücksstreben jedes einzelnen Individuums in einer begrenzten Welt dazu führt, dass jeder auf das Unglück der anderen hinarbeiten muss, weil diese auf sein Unglück hinarbeiten. In der Sprache der Spieltheorie: Es handelt sich im günstigsten Fall um ein Nullsummen-Spiel, in dem der eine nur dann und das gewinnen kann, wenn bzw. was andere verlieren. Dies bedeutet: Die knappen Ressourcen, die der Einzelne im Dienste des eigenen Glücks nutzen möchte, müssen zum Zwecke des gegenseitigen Unglücks eingesetzt werden. Der Individualismus · 25 <?page no="43"?> Allokationspolitisch bedeutet dies, dass die effiziente Ressourcennutzung durchgehend unmöglich wird; der Hobbessche Naturzustand ist ein Zustand extremer Ressourcenverschwendung. Niemand ist veranlasst, an der Erstellung von Werten zu arbeiten; jeder ist gezwungen, sich auf den Raub von Werten einzustellen. Hobbes sagt denn auch mit großer Deutlichkeit, dass es in dieser Situation weder Gewerbe noch Handel, weder Kunst noch Wissenschaft, weder Häfen noch Straßen, weder Handwerk noch Lagerhäuser gibt. Nur eines gibt es: Offensiv- und Defensivwaffen im Dienste des Verteilungskampfes. Im Ergebnis entartet die Gesellschaft zu einem Negativsummen- Spiel, in dem alle verlieren. Man streitet sich nicht mehr um die Verteilung des Glücks, sondern um die Verteilung des Unglücks. Distributionspolitisch läuft der Hobbessche Naturzustand darauf hinaus, dass das Recht des Stärkeren gilt. Der Stärkere schlägt und beraubt den Schwächeren und muss erwarten, dass ihn ein noch Stärkerer schlägt und beraubt. Im Ergebnis läuft das Gesetz des Stärkeren darauf hinaus, dass der Starke den Schwachen instrumentalisiert. Der Schwache wird in den Dienst ihm fremder Zwecke gezwungen: Eine Ungeheuerlichkeit, wenn man bedenkt, dass der Mensch, dass jeder einzelne einzigartige Mensch eine letztverbindliche Autorität sein soll. In dieser Situation ist - in der Diktion des Thomas Hobbes - das Leben des Menschen einsam, arm, kümmerlich, roh und kurz. Kurzum: Das vergöttlichte Individuum erwies sich gleich bei seinem ersten Auftreten - es ist die Zeit des Dreißigjährigen Krieges - als Raubtier. Es zeigte sich wenigstens vorerst, dass die individuelle Freiheit nur zu leicht zu interindividueller Gewalt entartet. Die Freiheit der Individuen und der Friede in der Gesellschaft schienen vorerst nicht gleichzeitig realisierbar. Thomas Hobbes entschied sich - wohl auch unter dem Eindruck der Schrecken seiner Zeit - für den gesellschaftlichen Frieden und gegen die individuelle Freiheit. Das zunächst als Gott angetretene Individuum, das dann zum sich und andere gefährdenden Raubtier geworden war, sollte seine Freiheit an den zum sterblichen Gott verklärten Leviathan, an den absoluten Staat verlieren. Damit die individuelle Freiheit des Schwachen nicht das Opfer der privaten Gewalt des Stärkeren werde, opferte Hobbes die individuelle Freiheit aller der politischen Herrschaft des Staates. Richtiger: Voll Entsetzen über das, was die zu Wölfen entarteten Menschen sich und anderen an Gewalt antun, entblößen sie sich in einem Akt wechselseitiger Entmündigung ihrer Freiheit und unterwerfen sich dem Zwang des Leviathan. Aus Angst vor ihrer und ihresgleichen Freiheit verpflichten sie sich per Vertrag wechselseitig zur Unfreiheit. Mit anderen Worten: Um die durchgehend negativen Überraschungen zu vermeiden, die sich aus dem Verhalten der Einzelnen für andere ergeben, soll jede Unvorhersehbarkeit des/ der Einzelnen, also jede individuelle Freiheit, abgeschafft werden. Es ist symptomatisch, dass Hobbes gleichzeitig der erste Theoretiker des Individualismus und des absoluten Staates der Neuzeit ist.Auch ist beachtenswert, dass das Individuum gleich bei seinem ersten Auftreten als letztverbindliche Autorität und als höchste Gefahr für sich und andere erscheint. Daran hat sich bis heute nichts geändert. So kreist ein Großteil der gesellschaftspolitischen Diskussion im Allgemeinen und in der Neuen Politischen Ökonomie im Besonderen um die Frage, wie der Mensch als freies Individuum mit anderen freien Individuen gewaltfrei verkehren kann. Nach wie vor 26 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="44"?> lautet eine der Kernfragen auch der Neuen Politischen Ökonomie: Wie lassen sich individuelle Freiheit und gesellschaftlicher Friede gleichzeitig realisieren? Hobbes hat das Problem nicht gelöst, sondern sich für den Frieden und gegen die Freiheit entschieden. Nur ahnte er schon, was andere später artikulieren werden: Eine individualistische Begründung der totalen Unfreiheit verrennt sich in innere Widersprüche. Was Wunder, dass etwa hundert Jahre später - auch unter dem Eindruck der Mängel des absolutistischen Ancien Régime - das Problem neu gestellt und nach einer befriedigenderen Lösung gesucht wurde. Diese Lösung fanden die Klassiker des Liberalismus. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde es im Prinzip und - weitgehend - in der Praxis möglich, die individuelle Freiheit und den gesellschaftlichen Frieden gleichzeitig zu realisieren, also weder die Freiheit dem Frieden, noch den Frieden der Freiheit zu opfern. Diese nicht hoch genug einzuschätzende Leistung des menschlichen Geistes wurde möglich, weil und indem es gelang, die als Nullsummen-Spiel funktionierende Gesellschaft in ein Positivsummen-Spiel zu transformieren: Der eine soll gewinnen, wenn und weil andere gewinnen, die Wohlfahrtserhöhung des einen braucht nicht mit den Wohlfahrtseinbußen anderer erkauft zu werden. Der Einzelne macht sein Glück nicht, indem er andere ins Unglück stürzt, sondern indem er zum Glück anderer beiträgt. Es soll also die individuelle Freiheit, die Unvorhersehbarkeit des einen für den/ die anderen nicht nur erträglich, sondern erstrebenswert sein, weil sie nur positive, d. h. wohlfahrtsfördernde Folgen für die von ihr Betroffenen zeitigt. Man möchte versucht sein, hier das Programm einer auf dem Geschenk, der schenkenden Hingabe, der Nächstenliebe aufbauenden Gesellschaftsordnung zu sehen. Man möchte versucht sein, hier eine Ordnung zu sehen, in der des einen Lust des anderen Lust, in der des einen Leid des anderen Leid ist. Auch wenn es hier so nicht gemeint ist, so ist es doch verständlich und plausibel, dass bei dem Leser die Assoziationen an Geschenk und Empathie entstehen. Schließlich hatte Adam Smith in seiner „Theory of Moral Sentiments“ (1759) die Bedingungen analysiert, unter denen des einen Lust bzw. Leid des anderen Lust bzw. Leid sind. Diese Bedingungen erwiesen sich aber als so eng und als schon unter den damaligen Verhältnissen derart unrealistisch, dass Smith in seinem „Wealth of Nations“ (1776) eine andere Lösung verschlug: den Tausch zwischen eigeninteressierten Individuen auf dem Markt. Auch hierbei handelt es sich um ein Positivsummen-Spiel. Der Einzelne soll nur dadurch seine eigene Wohlfahrt erhöhen können, dass er einen Beitrag zur Wohlfahrt anderer erbringt. Er soll sich nur etwas leisten können, wenn er etwas geleistet hat. Und was als Leistung gilt, bestimmen andere nach Maßgabe seiner Bedeutung für ihre Wohlfahrt. Konkret: Der Bäcker soll einen Gewinn, also sein Glück, nur dadurch machen können, dass er mit seinen Brötchen einen Beitrag zum Frühstücksglück anderer leistet. Auf diese Weise wird im Prinzip Folgendes angestrebt und in der Praxis auch weitgehend erreicht: - Allokationspolitisch werden die knappen Ressourcen nicht in destruktiver Weise zur Wohlfahrtsminderung anderer eingesetzt, sondern in konstruktiver Weise zur Der Individualismus · 27 <?page no="45"?> Wohlfahrtssteigerung der Anbieter und der Nachfrager genutzt. Der Wettbewerb auf dem Markt tritt an die Stelle des Krieges aller gegen alle. - Distributionspolitisch gilt nicht das Gesetz der Stärke, sondern das Gesetz der Leistung. Der Markt, wie ihn die Klassiker des Liberalismus konzipiert haben, ist eine Ordnung - in welcher trotz individueller Freiheit der gewaltfreie Umgang der Menschen untereinander von der Konstruktionsidee her angestrebt und in der Praxis weitgehend erreicht wird; - in welcher trotz gewaltfreien Umgangs die Freiheit des Einzelnen existieren kann; - in welcher der Eine seine Wohlfahrt erhöht, indem und weil er einen Beitrag zur Wohlfahrt Anderer leistet; - in welcher der Einzelne Leistungen im Dienste der Wohlfahrt von Menschen erbringt, die ihm gleichgültig sind, gegenüber denen er also zur schenkenden Hingabe - wenigstens in der Regel - keinen Anlass sieht. Der liberale Individualismus verlässt sich also auf den Tausch, weil er die Gewalt des Einen gegenüber dem Anderen unter allen Umständen vermeiden will, und weil die Umstände, unter denen das Geschenk des Einen an den Anderen die Regel wäre, eher selten sind.Wenn man so will: Aus liberal-individualistischer Sicht ist die Gewalt nicht zulässig; und: Das Geschenk ist in den seltensten Fällen wahrscheinlich. So bleibt als Alternative nur der Tausch. Wir werden weiter unten die Voraussetzungen und Grenzen des Markttausches als Form des friedfertigen Umgangs freier Individuen näher betrachten. An dieser Stelle mag es nicht ohne Interesse sein, gleichsam als Exkurs auf einige Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Tausch und Geschenk hinzuweisen: - Das Geben und Nehmen von Geschenken ist mit dem Geben und Nehmen von Gegengeschenken verbunden; Geschenk und Gegengeschenk bedingen sich gegenseitig. Es werden in der Geschenkbeziehung - wie beim Tausch - Dinge wechselseitig gegeben und angenommen. - Doch unterscheidet sich der Austausch von Geschenken und Gegengeschenken vom Warentausch dadurch, dass beim (Gegen-)geschenk der gebende und der nehmende Mensch im Mittelpunkt stehen, beim Tausch aber die Waren. In der Tat: Beim Geben und Annehmen von Geschenken stehen die Dinge nicht für sich selbst, sondern für die Person, die sie hergibt. Der Schenkende gibt nicht eine Sache, sondern sich selbst. Entsprechend nimmt der Beschenkte nur nach außen hin eine Sache in Empfang, in Wirklichkeit öffnet er sich der Hingabe des Anderen. Entsprechend kann auf das Geschenk nicht mit einer Bezahlung reagiert werden.Vielmehr hat der Beschenkte, wenn er das Geschenk auch in seiner tieferen, d. h. zwischenmenschlichen Bedeutung verstanden und angenommen hat, im passenden Moment ein Gegengeschenk zu machen, das eine ähnlich hohe emotionale Qualität hat wie das Geschenk. Er hat also durch das Geben einer Sache zu symbolisieren, dass er auf die Hingabe des Anderen mit der Hingabe seiner selbst antwortet. Wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, symbolisieren Geschenke und Gegenge- 28 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="46"?> schenke Hingabebeziehungen von unterschiedlich hoher emotionaler Intensität. So haben die Weinkisten, die sich Geschäftspartner zu Weihnachten schenken, eine andere affektive Qualität als die Rose, die der Liebende der Geliebten schenkt. Kein Wunder, sind die Beziehungen in beiden Fällen doch sehr unterschiedlich. Stehen beim Austausch von Geschenk und Gegengeschenk die schenkende und die beschenkte Person im Mittelpunkt, so ist dies beim Tausch nicht der Fall. Hier geht es den Tauschpartnern um die Ware bzw. um das Geld, das sie hergeben bzw. das sie sich einhandeln. Deren Bedeutung für die individuelle Wohlfahrt ist entscheidend, nicht aber die Qualität des Partners hinter bzw. vor dem Ladentisch. Im Extrem - etwa an der Börse - sehen sich die Tauschpartner nicht einmal. Sie wollen und brauchen dies auch nicht. Beim Tausch von Waren ist lediglich interessant, was der Andere hat, und unter welchen Umständen er bereit ist, es herzugeben. Beim Geschenketausch ist interessant, wer der Andere ist, und ob er bereit ist, als solcher in eine Beziehung einzutreten und sein Gegenüber als den, der dieser ist, anzunehmen. - Dies bedeutet allerdings auch, dass der Tausch auf die Existenz interindividuell gültiger, weil beidseitig akzeptierter, den einzelnen Tauschakt übersteigender Regeln angewiesen ist. Der Austausch von Geschenken hingegen kommt ohne solche Regeln aus, da die ihm zugrundeliegenden Beziehungen nur dann eingegangen und aufrechterhalten werden, wenn sie von den Beteiligten im Einzelnen beherrschbar sind. Es ist also nicht überraschend, dass dort, wo interindividuell gültige Regeln fehlen, etwa zwischen primitiven Völkerschaften, nicht der Tausch, sondern das Geschenk, wenn nicht gar der Raub die Regel ist. Die ethnologischen Befunde scheinen zu belegen, dass der indirekte Austausch von (Gegen-) geschenken jene Beziehungen schafft, die später den Tausch ermöglichen, nicht aber umgekehrt. 1.3 Der Individualismus und das Externalitätenproblem Die hier unter dem Stichwort des Individualismus vorgestellte Ausrichtung der Wirtschaftstheorie begegnet uns als Problem der externen Effekte.Wir verstehen unter externen Effekten Entscheidungskonsequenzen, die andere als derjenige, der die Entscheidung getroffen hat bzw. an ihrem Zustandekommen beteiligt war, in deren Bedürfnisbefriedigung positiv oder negativ berühren. Entsprechend lassen sich negative und positive Externalitäten unterscheiden. Die externen Kosten und die externen Nutzen sind unter zwei Gesichtspunkten problematisch: - Einmal führen sie - vorerst - zu fehlerhaften Entscheidungen bei der Allokation der Ressourcen. Da die externen Effekte in der Regel nicht in das Kosten-Nutzen- Kalkül des die Entscheidung treffenden Individuums eingehen, werden die extern tangierten Bedürfnisse vernachlässigt. Dies hat zur Folge, dass von einzelnen Gütern und Dienstleistungen zu viel, von anderen zu wenig hergestellt wird. Das Ergebnis ist eine Verschwendung knapper Produktionsfaktoren. Wir werden sehen, dass dies nicht gilt, wenn keine Transaktionskosten bestehen, an sämtlichen wohlfahrtsrelevanten Handlungsalternativen private Eigentumsrechte existieren und ein vollkommener Markt besteht, auf dem diese gehandelt werden können. Der Individualismus · 29 <?page no="47"?> - Zum anderen widerspricht das Vorliegen von negativen externen Effekten dem Ideal, das verlangt, dass • jedes Individuum alle Folgen seiner Entscheidungen trägt; • jedes Individuum die Folgen nur seiner Handlungen trägt. Auch die distributionspolitischen Folgen von externen Kosten sind also unerwünscht. Sie widersprechen der als Ideal bejahten Selbstverantwortlichkeit des Individuums. Externe Kosten bedeuten, dass der Eine den Anderen instrumentalisiert. Jener, den ein Anderer durch seine Entscheidungen in der Wohlfahrt beeinträchtigt, wird in den Dienst ihm fremder Zwecke gezwungen.Wir sahen oben, dass dies dem normativen Individualismus zuwiderläuft. Problematisch ist dies allerdings nur dann, wenn die ursprüngliche Verteilung der Ressourcen entweder vorbehaltlos bejaht oder als bedeutungslos ausgeklammert wird. Gilt die Ausgangsverteilung nämlich als unannehmbar, verfügt etwa A über Ressourcen, die nicht ihm, sondern B zustehen, so korrigieren externe Kosten, die B bei A verursacht, diesen Missstand ganz oder teilweise. Dies jedenfalls solange, wie die externen Kosten nicht so hoch sind, dass sie selbst zu einer als unannehmbar geltenden Verteilung führen. Während externe Kosten und externe Nutzen allokationspolitisch problematisch sind, ist dies unter distributionspolitischen Aspekten nur bei externen Kosten der Fall. Diese Asymmetrie erklärt sich aus der Tatsache, dass bei externen Kosten jemand gegen seinen Willen zu Wohlfahrtsminderungen gezwungen wird, ihm aber bei externen Nutzen Handlungsalternativen unentgeltlich eröffnet werden, die er zwecks Wohlfahrtserhöhung freiwillig nutzen kann, aber nicht muss. Im Falle der externen Kosten haben wir es mit der Verletzung der individuellen Freiheit durch einen Stärkeren zu tun, im Falle der externen Nutzen mit der frei bejahten Wahrnehmung unentgeltlich durch die Entscheidung eines Anderen eröffneter wohlfahrtsrelevanter Handlungsmöglichkeiten. Diese Asymmetrie findet sich in jenem für die liberale Gesellschaftspolitik charakteristischen Merkmal wieder, dass unter Umständen die Produktion von externen Kosten verboten, aber höchst selten die Produktion von externen Nutzen geboten ist. In der Tat haben liberale Gesellschaften weit mehr Verbote als Gebote. Sie haben weit mehr Proskriptionen als Präskriptionen, im Gegensatz zu nichtliberalen Gesellschaften, in denen sich Verbote und Gebote annähernd die Waage halten. (Darüber hinaus: Die Verbote und - soweit es sie gibt - die Gebote existieren in liberalen Gesellschaften punktuell, während sie in nichtliberalen Gesellschaften eher „flächendeckend“ sind: Was nicht verboten ist, ist geboten. Und: Was nicht geboten ist, ist verboten.) 30 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="48"?> 2 Die Verhinderung bzw. Internalisierung externer Effekte Sollen die distributions- und allokationspolitisch unerwünschten Konsequenzen von Externalitäten vermieden werden, so bieten sich verschiedene Möglichkeiten an: - Handlungen, die externe Effekte zur Folge haben, werden verboten. - Handlungen, die externe Effekte zur Folge haben, werden durch Entschädigungszahlungen internalisiert: Die Verursacher von negativen Externalitäten werden gezwungen, den Betroffenen eine Entschädigung zu bezahlen bzw. die Nutznießer von positiven Externalitäten werden gezwungen, den Verursachern eine Kompensation zu bezahlen. Es werden diejenigen, die an einer Entscheidung beteiligt waren, in die Lage versetzt, von jenen eine Entlohnung einzutreiben, die positiv betroffen sind. Es werden also die vorerst externen Kosten und Nutzen bei jenen internalisiert, die sie verursacht haben. Anders formuliert: Die Beteiligten werden zu den allein Betroffenen gemacht, mit der Folge, dass alle positiven und negativen Effekte in das Entscheidungskalkül jener eingehen, die die Entscheidung treffen. Der Status quo ante wird für die Nichtbeteiligten wiederhergestellt. Das Stichwort lautet: Verursacherprinzip. - Es werden diejenigen, die positive oder negative Folgen einer Entscheidung zu tragen hätten, an dem Zustandekommen dieser Entscheidung beteiligt. Die Betroffenen werden zu den Beteiligten gemacht. Definitionsgemäß fallen damit keine externen Effekte an, nicht, weil sie bei ihren Urhebern internalisiert würden, sondern weil die Entscheidungsfolgen als externe gar nicht erst entstehen. 2.1 Das Verbot der Produktion externer Effekte Das Verbot bestimmter Handlungen zielt darauf ab, die Entstehung externer Entscheidungskonsequenzen zu verhindern. Das Strafgesetz kann daher als Auflistung jener Handlungen verstanden werden, die - wegen ihrer externen Kosten - verboten bzw. durch den Zuschlag in Form einer Strafe für ihren Urheber verteuert werden. Ein Hinweis darauf, dass dieses Verständnis des Strafgesetzes verbreitet und tief ist, kann in den Schwierigkeiten einer systematisch sauberen strafgesetzlichen Erfassung der „crimes without a victim“, d. h. der Verbrechen ohne externe Kosten, gesehen werden. Auf den ersten Blick mag das schlichte Verbot all jener Handlungen, die externe Kosten verursachen, die ideale Lösung darstellen. Dies trifft aber aus folgenden Gründen nicht zu: - Mit dem Verbot dieser Art von Handlungen werden nicht nur externe Effekte in ihrer Entstehung verhindert, sondern auch jene positiven internen Entscheidungsfolgen unmöglich gemacht, die mit dem Entstehen von Externalitäten unlösbar verbunden sind. Die Folge ist, dass die durchaus mögliche und erwünschte Befriedigung bestimmter Bedürfnisse unterbleibt. - Würde man jede Handlung, die vorerst externe Effekte zeitigt, untersagen, so liefe dies auf die Rückführung jedes einzelnen Individuums in eine Robinson-Situation hinaus; jegliche interindividuellen, also gesellschaftlichen Beziehungen würden unmöglich ge- Die Verhinderung bzw. Internalisierung externer Effekte · 31 <?page no="49"?> macht werden. Zwischenmenschliche Beziehungen bestehen in der Produktion und im Betroffenwerden von externen Effekten. Ohne diese gibt es keine Gesellschaft, sondern nur in eisiger Einsamkeit vor sich hin und für sich lebende Individuen. Mögen externe Effekte unter verschiedenen Aspekten problematisch sein, so sind sie doch die Voraussetzung für die, ja, ein Ausdruck der Vergesellschaftung. Ein Verbot von externen Kosten und Nutzen ist demnach selbst nicht ohne Nachteile. Dieser Nachteile wegen sind Verbote dann auch selten und in jeder zivilen Gesellschaft die Ausnahme. Dass diese Ausnahme überhaupt gemacht wird, hat seinen Grund darin, dass die beiden übrigen Auswegmöglichkeiten selbst nicht ohne möglicherweise prohibitiven Preis sind.Wir werden später bei der Diskussion von Gesetzen und gesellschaftlichen Normen auf dieses Thema zurückkommen. Diese beiden Möglichkeiten stellen - im Gegensatz zur ersten - darauf ab, das Problem der Externalitäten dadurch in den Griff zu bekommen, dass die sozialen Beziehungen zwischen den einzelnen Individuen auf eine bestimmte Art gestaltet, nicht aber, dass sie gekappt werden. 2.2 Die Internalisierung externer Effekte: Die Beteiligten werden zu den Betroffenen Die Internalisierung schon entstandener Externalitäten bei ihrem Urheber kann auf zwei verschiedene Arten erfolgen: - Nachdem Externalitäten, insbesondere solche mit negativem Vorzeichen, entstanden sind bzw. ehe welche zu entstehen drohen, wird nach bestimmten Regeln auf einer übergeordneten, etwa der politischen Ebene von Fall zu Fall entschieden, dass und in welcher Höhe Entschädigungen (bzw. Entlohnungen) an den (bzw. von dem) Träger der externen Effekte zu zahlen sind. Es ist dies die interventionistische Lösung; das Stichwort lautet: Pigou-Steuer. - Eine zweite Variante setzt auf eine solche Gestaltung und Regelung der gesellschaftlichen Beziehungen, dass sich - ohne den Eingriff einer weiteren Instanz - der Schädiger der Zahlung einer Entschädigung und der Begünstigte der Entrichtung einer Entlohnung nicht entziehen können. Die Internalisierung der vorerst externen Kosten und Nutzen erfolgt also „automatisch“ über den wettbewerblich organisierten Markt. Dem Externalitätenproblem wird hier ordnungspolitisch, nicht aber interventionistisch begegnet; das Stichwort lautet etwa: Umweltzertifikate. 2.3 Die Verhinderung externer Effekte: Die Betroffenen werden zu den Beteiligten Diese beiden Varianten, die Beteiligten zu den Betroffenen zu machen, sind - wie wir noch sehen werden - nicht ohne Grenzen und Kosten. Damit stellt sich die Frage, was geschehen kann, wenn die Entstehung externer Effekte nicht durch das Verbot bestimmter Handlungen angestrebt und/ oder erreicht werden kann und die Betroffenheit der Beteiligten nicht oder doch nur teilweise zu bewerkstelligen ist. Einen Ausweg bietet folgende Möglichkeit: 32 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="50"?> Die von den Folgen einer Entscheidung in ihrer Zielrealisierung erwartungsgemäß Betroffenen werden am Zustandekommen dieser Entscheidung beteiligt, d. h. es wird ein Entscheidungskollektiv der durch einzelne Entscheidungen Betroffenen gebildet: Indem diese selbst Entscheidungen treffen, kann definitionsgemäß nicht mehr von externen Effekten gesprochen werden. Während die beiden zuerst erwähnten Möglichkeiten auf Individualentscheidungen gründen, haben wir es hier mit Kollektiventscheidungen zu tun. In den beiden erstgenannten Varianten versucht man, das Problem der Externalitäten durch die interventionistisch oder ordnungspolitisch geregelte Erstellung von Privatgütern in den Griff zu bekommen. Die dritte Möglichkeit versucht, das Externalitätenproblem durch die Bildung eines neuen Kollektivs zu bewältigen. Man kann sich diese drei Möglichkeiten im Umgang mit Externalitäten an einem einfachen Beispiel klarmachen. Ein Zementwerk mag das Recht zur Umweltbelastung durch den Kauf von Umweltzertifikaten erwerben; es kann durch die Belastung mittels Pigou-Steuern die Mittel zur Entschädigung jener bereitstellen, deren Wohlfahrt es beeinträchtigt; schließlich mögen jene, die im Streubereich der negativen Externalitäten leben, das Recht haben, in der Geschäftsleitung des Werkes über Art und Umfang der Umweltbelastung mitzuentscheiden. Die Neue Politische Ökonomie interessiert sich insofern für alle drei Möglichkeiten, als diese Kollektiventscheidungen voraussetzen: So interessiert die Pigou-Steuer, weil über sie im Kollektiv entschieden wird. Zertifikatlösungen sind von Interesse, weil über die zulässige Gesamtbelastung ein Kollektiventscheid gefällt werden muss. Die Mitbestimmung durch die Betroffenen ist schließlich von Interesse, weil sie eine Entscheidung im Kollektiv impliziert. 3 Der Markt und seine Grenzen Vorerst wollen wir aber einen kurzen Blick auf den Markt werfen; aus folgenden Gründen ist die Betrachtung des Marktes von Nutzen: - Der soziale Mechanismus des Marktes hat - wie noch zu begründen sein wird - gegenüber politischen Koordinationsmechanismen aus liberal-individualistischer Sicht Vorrang. Die Beweislast für die Einrichtung kollektiver Willensbildungsmechanismen liegt bei denen, die sie fordern, nicht aber bei jenen, die den Markt als Koordinationsmechanismus erhalten wollen. - Die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Marktes werden durch die gleichen Tatbestände und Zusammenhänge bestimmt, welche Kollektive nützlich erscheinen lassen. - Jene Punkte, die die Leistungsfähigkeit des Marktes begrenzen bzw. ganz aufheben, sind z. T. mit jenen identisch, die das Entstehen und das Funktionieren von Kollektiven wohl notwendig und wünschenswert sein lassen, aber unter Umständen auch das Entstehen und Bestehen von Kollektiven behindern oder gar verhindern. Würde der Wettbewerb auf dem Markt die ihm zugedachte Internalisierungsfunktion voll und ganz erfüllen, so wäre für die extern Geschädigten und - bei analogen Über- Der Markt und seine Grenzen · 33 <?page no="51"?> legungen - für die extern Begünstigten der Status quo ante wiederhergestellt, und die Nutzen und die Kosten würden endgültig bei den Verursachern angefallen sein. Der Markt ist demnach eine Möglichkeit, soziale Interdependenzen mit der Vermeidung endgültiger Externalitäten zu verbinden. In Bezug zu der oben angesprochenen (Un)vorhersehbarkeit, also (Un)freiheit der individuellen Akteure kann man auch sagen: Der Markt ist ein gesellschaftliches Regelwerk, innerhalb dessen die Einzelnen sich wechselseitig überraschen können und sollen. Sie können sich überraschen, wenn und weil jeder von ihnen sicher sein kann, dass vorher festgelegte Grenzen eingehalten werden, er also vor bestimmten negativen Überraschungen durch andere geschützt ist: So mag Peter als Straßenmusikant frei sein, Paul in der Öffentlichkeit durch seinen Gesang positiv oder negativ zu überraschen; er kann allerdings nicht in Pauls Wohnzimmer eindringen und dort sein Programm abspulen. Das private Eigentum legt fest, wo Peter den Paul so oder anders überraschen darf und wo nicht. Und sollte Peters Darbietung auf der Straße den Paul in seinem Wohnzimmer stören, so kann dieser - etwa mit dem Hinweis auf nächtliche Ruhestörung - dem Peter das Singen verbieten lassen; denkbar wäre gar, dass er ihn auf Schadenersatz für den entgangenen Schlaf verklagt. Sollte sich Paul aber in seinem Wohnzimmer eigens durch Peters neuen Song anregen lassen wollen, so kann und muss er ihn gemeinhin für seinen Auftritt bezahlen. Und Peter seinerseits wird ein Interesse daran haben, möglichst solche Überraschungen hervorzubringen, die Paul veranlassen können, ihn - Peter - dafür zu entlohnen. Erlaubt ist daher die These: Der Markt ist ein soziales Regelwerk, das erlaubt, dass Peter seine Freiheit nutzen kann, soweit Paul nicht in seiner Wohlfahrt beeinträchtigt wird; mehr noch: Der Markt stellt sicher, dass Peter seine Freiheit so nutzen will, dass Pauls Wohlfahrt erhöht wird. Allerdings sind der Leistungsfähigkeit des Marktes Grenzen gesetzt. Es ist wichtig festzuhalten, warum der Marktmechanismus nicht in der Lage ist, alle Entscheidungskonsequenzen bei jenem zu internalisieren, der sie verursacht hat; anders ausgedrückt: Es ist zu fragen, unter welchen Bedingungen der Markt sicherstellen kann, dass die individuelle Freiheit, also die wechselseitige Unvorhersehbarkeit sich nicht destruktiv auswirkt, sondern konstruktiv genutzt werden kann. Die Ursachen für die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Marktes sind folgende: - die Unvollkommenheit des Wettbewerbs; - die Nichtgeltung des Ausschlussprinzips; - der nichtrivalisierende Konsum; - die nichtmonetisierbaren Werte. Dazu im Einzelnen: Es mag ein Markt bestehen, über den Allokationsentscheidungen grundsätzlich getroffen werden können, der aber wegen monopolistischer und oligopolistischer Machtpositionen unvollkommen ist. Diese Machtpositionen erlauben es einzelnen Marktteilnehmern, nicht für negative Effekte aufzukommen, die sie Dritten durch ihre Entscheidungen aufgezwungen haben. 34 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="52"?> Auch erlauben diese Machtpositionen es einzelnen Marktteilnehmern, sich von Dritten für positive externe Effekte entlohnen zu lassen, die entweder gar nicht, nicht in dieser Höhe oder nicht als Folge der Entscheidung des Monopolisten angefallen sind. Marktmacht bedeutet im Endergebnis, dass der Mächtige auf Kosten des Schwachen seine Wohlfahrt erhöhen kann. Distributionspolitisch gilt das Recht des Stärkeren; allokationspolitisch wird die Effizienz des Ressourceneinsatzes verfehlt. Die Verwandtschaft zum Hobbesschen Naturzustand ist unverkennbar. Durch die Weiterentwicklungen der Markt- und Wettbewerbstheorie wurde dieses negative Urteil allerdings etwas abgeschwächt. Wie auch immer: Marktmacht behindert oder verhindert die Internalisierung der positiven bzw. der negativen Effekte bei jenen, die sie verursacht haben.Welcher Vollkommenheitsgrad des Wettbewerbs als befriedigend bzw. als wünschenswert angesehen wird, hängt vom Anspruchsniveau derer ab, die den Markt eingerichtet haben. Bei einem Absinken des Perfektionsgrades unter das jeweilige Anspruchsniveau haben sie die Möglichkeit, nichts zu unternehmen, aktive Wettbewerbspolitik zu betreiben oder die anstehenden Allokationsentscheidungen nicht über den unvollkommenen Markt, sondern über einen anderen, etwa den staatlich-politischen Willensbildungsprozess, treffen zu lassen.Was sie tun, hängt von den mit den jeweiligen Politikalternativen verbundenen Kosten ab. Die im Anschluss an Coase von Williamson, North u. a. entwickelte Institutionenökonomik hat zu diesem Thema wesentliche Erkenntnisse geliefert. Es mag aber auch der Fall vorliegen, dass die zur Entscheidung anstehende Mittelallokation prinzipiell nicht über den Markt erfolgen kann. Damit ein Markt existieren kann, ist es nämlich notwendig, dass private Eigentumsrechte an den als Folge einer Entscheidung entstandenen Zielverwirklichungen angemeldet und geltend gemacht werden können. Nur wenn private, übertragbare und durchsetzbare Eigentumsrechte definiert werden können, ist es möglich, über den Markt die Beteiligten zu den Betroffenen zu machen. Ohne solche Rechte können die externen Kosten bzw. Nutzen über den Markt bei ihren Verursachern nicht internalisiert werden. Dies bedeutet, dass, selbst wenn ein vollkommener Markt bestünde, dieser bestenfalls zur Internalisierung jener Entscheidungsfolgen beitragen könnte, für die private Eigentumsrechte angemeldet und durchgesetzt werden können. Musgrave hat diesen Sachverhalt unter der Bezeichnung der Geltung oder der Nichtgeltung des Ausschlussprinzips („exclusion principle“) in den Mittelpunkt der finanztheoretischen Diskussion gerückt. Wir können also festhalten: Wenn positive oder negative externe Entscheidungskonsequenzen anfallen, für welche das Ausschlussprinzip nicht gilt, versagt der Markt trotz aller anderweitigen Perfektion der Konkurrenz. Entsprechende Kosten und Nutzen können über den Markt nicht internalisiert werden. Sollen „goods“ und „bads“ Gegenstand des Rationalitätskalküls sein, also allokationspolitisch effizient erstellt bzw. vermieden werden, sollen darüber hinaus die „bads“ nicht nach dem distributionspolitisch unannehmbaren Recht des Stärkeren auf den Schwachen abgeschoben werden, dann müssen sie mangels individueller Eigentumsrechte zu „collective goods“ bzw. „collective bads“ gemacht werden. An die Stelle des nichtexistierenden Marktes muss das Kollektiv treten. Der Markt und seine Grenzen · 35 <?page no="53"?> Es ist darauf hinzuweisen, dass die Geltung des Ausschlussprinzips nicht immer eine Frage des Ja oder Nein, sondern häufig des Teuer oder Billig ist. Je nach Gut und Technik mag es kostspielig sein - das Stichwort lautet: Transaktionskosten -, das Ausschlussprinzip zur Geltung zu bringen oder nicht. So kann man ein Autobahnnetz als öffentliches Gut zur Verfügung stellen oder aber durch die - mehr oder weniger kostspielige - Einrichtung von Mautstellen zum privaten Gut machen. Ob das Ausschlussprinzip für ein bestimmtes Gut gilt, folgt demnach nicht aus dem „Wesen“ dieses Gutes, sondern es ist das Ergebnis einer Entscheidung, die Voraussetzungen für seine Privatisierung zu schaffen oder nicht. Im Übrigen: Was heute ein öffentliches Gut ist, mag morgen ein privates Gut sein. Ein weiterer Grund, der die Bereitstellung eines Gutes im Kollektiv wohl nicht notwendig, aber zweckmäßig sein lässt, ist dann gegeben, wenn die Inanspruchnahme dieses Gutes durch ein Individuum nicht zu einer Reduzierung des Nutzens führt, den ein anderes Individuum aus diesem Gut zu ziehen vermag. In der Sprache der Ökonomie: Die Nutzung dieses Gutes durch einen zusätzlichen Konsumenten führt nicht zu erhöhten Kosten, d. h., die Grenzkosten sind gleich Null. Nun verlangt aber eine effiziente Ressourcenallokation, dass der Preis, zu dem ein Gut angeboten wird, seinen Grenzkosten entspricht. Da diese aber im Falle des nichtrivalisierenden Konsums Null sind, soll auch der Preis Null sein. Das bedeutet, dass es hier, selbst wenn das Ausschlussprinzip Anwendung finden könnte, nicht angewendet werden soll. Da aber Güter, selbst wenn sie zweckmäßigerweise unter Aussetzung des Ausschlussprinzips - also gratis - angeboten werden, irgendwie finanziert werden müssen, bleibt nur, sie als Kollektivgüter zu erstellen und zu finanzieren. Außerdem: Der Markt vermag nur Werte zu erkennen, die in Geldeinheiten ausdrückbar sind. Mit anderen Worten: Die Kommunikationskanäle des Marktes sind insofern sehr selektiv, als sie jene Werte, die keinen Preis haben, aussondern bzw. nicht weiterleiten. Dies wäre dann unwichtig, wenn durch die individuellen Handlungen nur solche Externalitäten produziert würden, die in Geld ausdrückbare Werte berühren. Offenkundig ist dies aber nicht der Fall. Zur Internalisierung von externen Kosten und Nutzen ist ein individueller Austausch der Individuen darüber nötig, wer bei wem welche Effekte in welcher Höhe verursacht hat. Eine einseitige Fixierung auf den Markt als Internalisierungsinstrument hätte zur Folge, dass die externen Effekte, welche Werte ohne Preis berühren, bestehen blieben. Die hieraus resultierenden Konsequenzen für die Ressourcenallokation und die Distribution sind oben erörtert worden. Denn mögen bestimmte Werte auch keinen Preis haben (können), so ist ihre Bereitstellung in einer Welt der knappen Mittel doch eine Frage der Allokation, andernfalls sie keine Werte wären. Entsprechend ist auch die Distribution dieser Werte eine wichtige Frage des menschlichen Zusammenlebens. In diesem Zusammenhang mag der Hinweis interessant sein, dass - wie Albert O. Hirschman nachgewiesen hat - die wettbewerblich organisierte Marktwirtschaft vor rund 250 Jahren als der zentrale Mechanismus einer liberal-individualistisch ausgestalteten gesellschaftlichen Ordnungspolitik konzipiert werden konnte, weil vorher die menschlichen Leidenschaften in ökonomische Interessen uminterpretiert oder richtiger: zurückgeschnitten worden waren. Das Problem der gesellschaftlichen 36 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="54"?> Ordnung konnte zu dem Problem der Wirtschaftsordnung simplifiziert werden, weil die Fiktion eingeführt wurde, der Mensch sei lediglich an monetisierbaren Werten, nicht aber auch an Werten ohne Preis interessiert. Nun ist nicht völlig auszuschließen, dass die so begründete Gesellschafts-, d. h. vornehmlich Wirtschaftsordnung über die Zeit einen Menschen hervorgebracht hat, der seine Leidenschaften wenigstens z. T. als ökonomische Interessen auslebt, also die Marktordnung im Ergebnis jenen Menschen produziert, den ihre Theorie als Prämisse postuliert hat. So ist es heute nicht unbedingt selten, dass jemand auf die Frage, wer er sei, antwortet, er sei ein 200.000 Euro-Mann. Er sagt also, für wieviel Geld er sich mit Erfolg auf dem Markt anbietet; anderes, was an ihm und für ihn wertvoll ist, erwähnt er nicht: Wahrheitssinn, Liebes- und Freundschaftsfähigkeit, Sensibilität für die Schönheit einer Rose u. a. Die Marxsche These von der Entfremdung des Menschen und die Klage von Marcuse, der Mensch sei eindimensional geworden, sind in diesem Zusammenhang bedenkenswert. Doch selbst dann, wenn an der These von der Ökonomisierung des Menschen durch die Wirtschaftsordnung etwas Wahres ist, bleibt, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. In dem Maße wie Werte ohne Preis nach wie vor für den Menschen von Bedeutung sind, stößt die Funktionstüchtigkeit des Marktes an Grenzen. 4 Jenseits der Grenzen des Marktes Es ist davon auszugehen: Das liberal-individualistische Engagement für das selbstverantwortliche Individuum, also für die Vermeidung oder die Internalisierung von Externalitäten, sieht den Wert des Marktmechanismus darin, dass er die Internalisierung externer Effekte durch den verantwortlichen Akteur automatisch erzwingt. Wir sahen, dass jenseits bestimmter Grenzen der Markt versagt. Für den weiteren Diskurs ist nun von besonderer Bedeutung, dass die Internalisierung von Externalitäten über den Markt scheitern kann, weil das Ausschlussprinzip nicht gilt oder weil die Kommunikationskanäle des Marktes zur Übermittlung der notwendigen Informationen nicht oder nur z. T. geeignet sind. Das Erste ist eine Frage der Entscheidungsstruktur: Wenn und weil auf der Ebene der einzelnen Individuen das Ausschlussprinzip nicht gilt (nicht unter vertretbaren Kosten zur Geltung gebracht werden kann bzw. wegen des nichtrivalisierenden Konsums nicht zur Geltung gebracht werden soll), muss auf einer höheren Ebene als der der einzelnen Individuen, also in einem Kollektiv, entschieden werden. Das Zweite ist eine Frage der Informationsstruktur: Weil das Entscheidungssystem des Marktes die nötigen Kommunikationskanäle nicht bereithält, ist es nötig, die Entscheidungen in einem Interaktionssystem zu treffen, das Informationen verarbeiten kann, die nicht in Geldeinheiten formuliert sind. Wir können uns dieses Resümee in einem Schaubild vor Augen führen: Jenseits der Grenzen des Marktes · 37 <?page no="55"?> a) Gilt das Ausschlussprinzip und lassen sich die vorerst externen Kosten und Nutzen in Geldeinheiten ausdrücken, so ist der Markt nach Maßgabe der Wettbewerbsintensität in der Lage, die Beteiligten zu den Betroffenen zu machen. Beispiel: Das Ziel „Maximierung des persönlichen Einkommens“ ist durch die Geltung des Ausschlussprinzips und die Formulierbarkeit in monetären Größen gekennzeichnet. b) Gilt das Ausschlussprinzip, lassen sich aber die durch die Entscheidungen anderer tangierten Ziele eines Individuums nicht in Geldgrößen ausdrücken, scheidet der Markt als Internalisierungsmechanismus aus. Er muss durch einen Allokationsmechanismus ersetzt werden, der die erforderlichen Kommunikationskanäle bereitstellt. Dieser soziale Mechanismus kann allerdings - wegen der Geltung des Ausschlussprinzips, also der Begründbarkeit und der Durchsetzbarkeit von privaten Eigentumsrechten - auf dem Prinzip des individuellen Wettbewerbs aufgebaut sein. Beispiel: Das Ziel „Erreichung wissenschaftlich wertvoller Forschungsergebnisse“ ist durch die Geltung des Ausschlussprinzips und die Nichtformulierbarkeit in Geldbeträgen charakterisiert. Entsprechend funktioniert im „Social System of Science“ zwischen den einzelnen Forschern ein - je nach seiner Vollkommenheit - mehr oder weniger intensiver Wettbewerb, der dem des Marktes analog, nicht aber mit ihm identisch ist. Die Wissenschaftsrepublik kann in der Tat als ein Interaktionssystem gesehen werden, in dem einzelne Forscher unter Mühen und Anstrengungen Forschungsergebnisse produzieren, deren Wert darin begründet ist, dass diese Ergebnisse von anderen Mitgliedern dieser Republik als wertvoll und nützlich angesehen werden. Wir haben hier eine Analogie zum Markt. Denn dort ist der Wert eines Produktes ebenfalls weder in den Kosten begründet, die sein Urheber auf sich genommen hat, noch in der Wertschätzung, die er selbst dem Produkt seiner Arbeit entgegenbringt. Vielmehr bemisst sich der Wert nach dem Beitrag, den dieses Produkt zur Wohlfahrtssteigerung anderer Marktteilnehmer in deren Augen zu leisten vermag. Darüber hinaus stellt der Wissenschaftler sein Forschungsergebnis - auch hierin dem Unternehmer auf dem Markt vergleichbar - nicht gratis zur Verfügung. Er will für die Nut- 38 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv externe Kosten und Nutzen lassen sich in Geldeinheiten formulieren nicht formulieren a) b) gilt marktlicher nichtmarktlicher Ausschluss- Wettbewerb Wettbewerb prinzip c) d) gilt nicht Entscheidungen Entscheidungen im Kollektiv im Kollektiv Abbildung 1 <?page no="56"?> zung dessen entlohnt werden, was sein (geistiges) Eigentum ist und bleibt. Im Gegensatz zum Unternehmer wird aber der Wissenschaftler als Mitglied der Wissenschaftsrepublik nicht in Geld, sondern in Prestige und Renommee entlohnt. „Zahlungsmittel“ sind hierbei Ehrendoktorwürden, Zitiertwerden u. Ä. Wenn Wissenschaftler auf solche Dinge einigen Wert legen, und etwa Prioritäts- und Plagiatsstreitereien unter ihnen nicht gerade selten sind, so nicht, weil sie eitler und kindischer sind als andere Menschen, sondern weil dies das einzige Mittel ist, mittels dessen sie als Bürger der Wissenschaftsrepublik für die von ihnen geschaffenen Werte honoriert werden können. (Dass Wissenschaftler, etwa Professoren, auch ein Gehalt beziehen, steht dem nicht entgegen. Dieses Gehalt beziehen sie nämlich nach Maßgabe ihres Wertes auf dem Arbeitsmarkt, nicht aber nach Maßgabe ihrer wissenschaftlichen Bedeutung.Auch dann, wenn beides - der wirtschaftliche Wert und die wissenschaftliche Bedeutung eines Forschers - im Einzelfall schon mal soweit harmonieren können, dass sein Gehalt seinem wissenschaftlichen Ruf entspricht, so rechtfertigt dies doch nicht, die begriffliche Unterscheidung zwischen beiden aufzugeben.) Weiter unten wird sich zeigen, dass in der Optik der Neuen Politischen Ökonomie auch die Demokratie als ein soziales System verstanden werden kann, das auf der Grundlage der Geltung des Ausschlussprinzips und des Wettbewerbes funktioniert, und dies obschon es auch hier nicht um monetäre Werte geht. c) Das Ziel „Erhöhung des Sozialproduktes“ ist in Geldeinheiten formulierbar, aber es liegt außerhalb des Geltungsbereiches des Ausschlussprinzips. Obwohl dieses Ziel über das Spiel der Marktkräfte erreicht werden kann, ist eine explizite ex ante-Entscheidung über das Anstreben dieses Zieles innerhalb des Marktes nicht möglich. Entsprechend können auch positive oder negative Entscheidungskonsequenzen für dieses Ziel nicht über den Markt internalisiert werden. Mag der Schuster um die Ecke durch seine Arbeit auch zum wirtschaftlichen Wachstum beitragen, so strebt er dieses doch nicht eigens an. Der Schuster strengt sich an, um sein privates Einkommen, nicht aber um das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Entsprechend kann Wirtschaftswachstum nicht als privates Gut erstellt werden, sondern nur als Kollektivgut vom Staat angestrebt werden. d) Für das Ziel „äußere Sicherheit“ gilt weder das Ausschlussprinzip, noch ist es in Geldeinheiten formulierbar; Vollbeschäftigung, Umweltschutz und Rechtssicherheit sind weitere Beispiele aus einer beliebig verlängerbaren Liste. Auch hier versagt der Markt. Wegen der Nichtgeltung des Ausschlussprinzips auf der Ebene der einzelnen Individuen ist es unumgänglich, für die Fälle c und d eine Lösung des Externalitätenproblems auf der Ebene von Kollektiven zu suchen, von denen der Staat ein wichtiges, aber nicht das einzige ist. Die beiden Sektoren c und d bilden die Problemfelder der Ökonomischen Theorie der Politik, des Public Choice, während das Feld a das gut bestellte Feld der Mikrotheorie und von Teilen der Makrotheorie ist. Es lässt sich also sagen, dass die Neue Politische Ökonomie in dem Versuch besteht, jene Methoden und Kategorien, die bei der Untersuchung des Feldes a gute Dienste geleistet haben, für die Analyse der Felder c und d zu nutzen. Ergänzend sollte hinzugefügt werden, dass das Feld b seit langem von einzelnen Bereichssoziologien (Wis- Jenseits der Grenzen des Marktes · 39 <?page no="57"?> senschaftssoziologie, Religionssoziologie, Familiensoziologie usw.) bearbeitet wird. Neuerdings dringt aber auch die ökonomisch ausgerichtete Rational-Choice Theorie in diese Gebiete vor. 5 Privater Raum und öffentlicher Raum Im Vorhergehenden sind der Staat und die Politik unter Rückgriff auf die Theorie der Kollektivgüter und in ihrem Verhältnis zu anderen sozialen Interaktionssystemen - etwa jenem der Wirtschaft oder jenem der Wissenschaft - thematisiert worden. Es ist - auch mit Blick auf die gesellschaftspolitische Aktualität - zweckmäßig, den Staat und die Politik noch in einem zweiten Zusammenhang zu sehen. Und hier ist auf die Begriffe von privatem und öffentlichem Raum zurückzugreifen. Diese Unterscheidung findet sich schon in der griechischen Gesellschaftsphilosophie: Im öffentlichen Raum betätigt und bestätigt sich der Einzelne dadurch als Bürger der Polis, also des Gemeinwesens, dass er sich am Leben und Funktionieren dieses Gemeinwesens beteiligt. Im privaten Raum, dem Oikos, sorgt der Einzelne für sein und der Seinen materielles Dasein. Dabei gilt, dass der Einzelne erst als aktiver Teilnehmer am öffentlichen Leben zum vollwertigen Menschen wird. (Entsprechend wurden Sklaven, Fremde, Frauen und Kinder in der griechischen Antike nicht als vollwertige Menschen angesehen.) Die hier und im Folgenden geltende Sprachregelung macht eine andere Unterscheidung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum: Der private Raum ist hier durch jene Beziehungen definiert, die zwischen Menschen bestehen, die füreinander nicht (oder doch nur begrenzt) substituierbar sind, und dies nicht, weil der eine etwas hat, was der andere haben will, sondern weil der eine jemand ist, der für den anderen von Bedeutung ist. So pflegt im privaten Raum der Sohn seinen alten Vater nicht, weil dieser ihm Geld gibt, sondern weil der Vater als Vater dem Sohn etwas bedeutet. So geht - anderes Beispiel - Peter mit Paul in die Berge wandern, weil ihm Paul als Freund von Bedeutung ist. Nicht aber geht Peter mit Paul wandern, weil er mit jemand wandern gehen will, der so stark ist, dass er auch seinen, Peters, Rucksack trägt. So wie der Vater für den Sohn nicht durch irgendjemand ersetzbar ist, so kann Paul für Peter nicht durch irgendjemand substituiert werden. Sehr schön hat seinerzeit La Boétie dies ausgedrückt, als er auf die Frage, warum er mit Montaigne befreundet sei, zur Antwort gab: „Parce que c’est lui et parce que c’est moi.“ („Weil er er ist und weil ich ich bin.“) Das Zitat von La Boétie mag zu zwei Missverständnissen führen; vor diesen ist eigens zu warnen. Erstens: Es ist zwar nicht ausgeschlossen, aber keineswegs immer der Fall, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen im privaten Raum emotional aufgeheizt, also etwa - positiv - durch Liebe, Freundschaft, Zuneigung bzw. - negativ - durch Abneigung, Feindschaft bestimmt sind. Es ist also durchaus möglich, dass diese Beziehungen emotional eher kühl sind. So mögen etwa Sippen- oder Clanmitglieder sich gegenseitig 40 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="58"?> beistehen, weil sie Mitglieder der gleichen Sippe bzw. des gleichen Clans sind, und dies obschon sie im Einzelfall keine gefühlsmäßigen Beziehungen untereinander haben mögen. Zweitens: Zwischenmenschliche Beziehungen, die im privaten Raum bestehen, können durchaus mehr oder weniger auch deshalb von beiden Seiten unterhalten werden, weil der eine etwas hat, von dem der andere profitieren kann. Peter mag also mit Paul wandern gehen, weil Paul sein Freund ist und weil Paul Bärenkräfte hat. Hier gilt: Was sich begrifflich scharf auseinanderhalten lässt, kann in der Wirklichkeit sehr vermischt sein: Die Übergänge vom Freund über den Geschäftsfreund hin zum Geschäftspartner mögen im Einzelfall fließend sein. Im Gegensatz zum privaten Raum zeichnet sich der öffentliche Raum dadurch aus, dass in ihm Beziehungen zwischen Menschen bestehen, die füreinander als Personen substituierbar sind und die sich füreinander nur insoweit interessieren, als das, was sie an Fähigkeiten, Eigenschaften, Ressourcen haben, wechselseitig ihre Interessen berührt. Im privaten Raum will Peter mit Paul wandern gehen, weil Paul sein Freund und als solcher unersetzbar ist. Im öffentlichen Raum gilt für den Bäcker Peter, dass dann, wenn Paul seine Brötchen nicht kauft, Klaus eben welche kauft; und für Paul gilt, dass dann, wenn Peter seinen Laden schließt, er eben bei Walter Brötchen kauft. Und Peter gibt jenem Bundestagskandidaten - ob Paul oder Walter - seine Stimme, dessen Programm ihm an meisten zusagt. Für Peter sind Paul und Walter austauschbar, wenn und weil keiner der beiden ihm als unverwechselbare Person etwas bedeutet. Weiter unten werden diese Beispiele zu relativieren sein. An dieser Stelle aber veranschaulichen sie selbst in ihrer simplen Form den begrifflichen Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum. Darüber hinaus illustrieren sie die These, dass der öffentliche Raum selbst nicht ein einheitlicher homogener Raum ist, sondern vorerst wenigstens in zwei Sub-Räume unterteilt ist: den Raum des wettbewerblichen Marktes und den Raum des demokratischen Staates. Man kann also von einer merkantilen und von einer staatlichen Öffentlichkeit sprechen. In der merkantilen Öffentlichkeit verkehren die Menschen im Rahmen einer Privateigentums-Ordnung zwecks Austauschs von Geld und/ oder monetären Werten. In der staatlichen Öffentlichkeit verkehren die Menschen im Rahmen einer Verfassung zwecks Austauschs von zeitlich und sachlich begrenzten Machtbefugnissen (via Wahlzettel) gegen die Realisierung bestimmter politischer Programme. Da dieser Punkt uns weiter unten noch ausführlich beschäftigen wird, mag hier dieser Hinweis genügen. Die eben genannten Beispiele, aber auch die gesellschaftspolitische Diskussion der Gegenwart können nun zu der Annahme verleiten, dass es im öffentlichen Raum nur den merkantilen und den staatlichen Sektor gibt; in der Tat reduziert sich die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Diskussion recht häufig auf die Konfrontation jener, die mehr Staat und weniger Markt, und jener, die mehr Markt und weniger Staat fordern. So gängig auch dieser Diskurs ist, so sehr vernachlässigt er einen wichtigen Tatbestand: die Existenz eines Dritten Sektors. Unter diesem Dritten Sektor ist jener gesellschaftliche Raum zu verstehen, der weder merkantil noch staatlich, aber sehr wohl öffentlich ist. Konkrete Beispiele: Privater Raum und öffentlicher Raum · 41 <?page no="59"?> Non-Profit-Organisations, Non-Government-Organisations, soziale Netzwerke, Selbsthilfegruppen, Clubs,Vereine. Öffentlich, also nicht privat, ist der Raum des Dritten Sektors deshalb, weil auch hier die Menschen ihre Interaktionspartner wechselseitig als substituierbar ansehen, sie also nicht miteinander Beziehungen pflegen, „weil er er ist und weil ich ich bin“. Nichtstaatlich ist dieser Teil der Öffentlichkeit deshalb, weil selbst dort, wo in den Organisationen des Dritten Sektors in kollektiven Entscheidungsprozessen Kollektivgüter erstellt werden, dies legitimerweise ohne Anwendung von Zwang gegenüber den Mitgliedern bzw. den Nichtmitgliedern zu geschehen hat. Nichtmerkantil ist die Öffentlichkeit des Dritten Sektors, weil in den entsprechenden Organisationen die Mitglieder nicht mit dem Ziel der Mehrung von Geld bzw. von geldwerten Leistungen miteinander Beziehungen pflegen. So ist Greenpeace als NGO eine Organisation des Dritten Sektors, weil in ihr Menschen ein Kollektivgut (Schutz der Umwelt) erstellen wollen, und dies in der Interaktion mit Menschen, die ihnen als Einzelne gleichgültig, also auswechselbar sind. Und in einem Sportverein interagieren Menschen, die sich nur deshalb und soweit füreinander interessieren, wie sie gute Sportler sind; auch ist ein Sportverein dann und soweit eine NPO, wie das Machen von Gewinnen keine oder doch allenfalls eine marginale Rolle spielt. Spielen hingegen Einzelne etwa Fußball, weil sie Freunde sind, so haben wir es nicht mit einem Fußballverein, sondern mit einem fußballspielenden Freundeskreis zu tun. Und dieser gehört, im Gegensatz zum Fußballverein, nicht in den öffentlichen, sondern in den privaten Sektor. Und ein Sportverein, dessen Ziel und Zweck es ist, Gewinne zu erzielen, ist ein Wirtschaftsunternehmen, nicht aber eine Organisation des Dritten Sektors. Es ist nicht unwichtig, dem Dritten Sektor - neben dem Ersten Sektor des Staates und dem Zweiten des Marktes - einige Aufmerksamkeit zu widmen. Dies deshalb, weil so die ideologische Frontstellung von Etatisten und Marktliberalen vermieden werden kann, also der Diskurs über das Zusammenleben der Menschen im Gemeinwesen nicht im Spannungsfeld von Markt und Staat geführt werden muss. Gerade jenem, dem es um die individuelle Freiheit in einer geordneten Gesellschaft zu tun ist, hat ein besonderes Interesse daran, sich nicht mit der Gegenüberstellung von Staat und Markt zu begnügen. Schon vor rund 150 Jahren hat der nach wie vor aktuelle Gesellschaftsanalytiker Alexis de Tocqueville festgehalten, wie wichtig es für den Bestand einer liberalen Ordnung ist, dass es eine lebendige nichtstaatliche und nichtmerkantile Öffentlichkeit gibt. Auch stellte de Tocqueville mit Bewunderung fest, wie aktiv der Dritte Sektor in den damals noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika im Vergleich zu Europa war. Auch ist es geboten, den Dritten Sektor nicht zu vernachlässigen, denn auch in den Ländern Europas spielt er - wenn auch in je unterschiedlichem Ausmaß - im gesellschaftlichen Leben eine beträchtliche Rolle. Ihn zugunsten von Staat und Markt vollends zu übersehen und zu übergehen, wäre also zumindest fahrlässig. 42 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="60"?> Literatur zu Kapitel I Andreoni, J.: Impure Altruism and Donations to Public Goods: A Theory of Warm-Glow Giving, Economic Journal 100, 1990 Arnold, V.: Theorie der Kollektivgüter, München 1992. Arrow, K. J.: Gifts and Exchanges, in: Phelps, E. S. (Hrsg.): Altruism, Morality, and Economic Theory, New York 1975. Bator, F. M.: The Anatomy of Market Failure, Quarterly Journal of Economics 72, 1958. 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In dieser Optik sind Kollektiventscheidungen nicht die Entscheidungen von Kollektiven, sondern die Entscheidungen von Individuen in Kollektiven. Dabei wird Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen · 45 <?page no="63"?> unterstellt, dass die Individuen in dem Sinne rational entscheiden und handeln, dass sie die aus ihrer Sicht beste der ihnen jeweils zugänglichen Alternativen wählen. Die auf dem Individualismus als Norm und als Methode aufbauende Neue Politische Ökonomie hat beachtliche Forschungserfolge aufzuweisen. Gleichwohl gibt es alternative, ja auch in erklärter Gegnerschaft zur Rational-Choice Theorie stehende Ansätze. Auch für jenen, dessen Interesse primär der individualistisch ausgerichteten Neuen Politischen Ökonomie gilt, ist es von Nutzen, diese Ansätze wenigstens in ihren Grundzügen zur Kenntnis zu nehmen. Einerseits kann erwartet werden, dass vor dem Hintergrund dieser Ansätze die spezifische Eigenart der Neuen Politischen Ökonomie deutlicher hervortritt.Andererseits kann man hoffen, dass auf diese Weise einiges von dem sichtbar wird, was jenseits der Reichweite des analytischen Instrumentariums der Neuen Politischen Ökonomie liegt. Einer dieser Ansätze ist mit dem Namen Niklas Luhmann verbunden. Die Eigenart dieses Ansatzes wird besonders deutlich, wenn wir uns noch einmal Folgendes ins Gedächtnis zurückrufen: Der Ausgangsgedanke des Rational-Choice Ansatzes zur normativen Begründung und zur positiven Analyse der Politik ist die gleichermaßen einfache und einleuchtende Hypothese, dass jedesmal dann, wenn der Einzelne mehrere Alternativen zur Auswahl hat, er sich für jene entscheidet, die ihm als die Beste erscheint. Eigentlich reduziert sich der Rational-Choice Ansatz auf einen kleinen, aber - wenigstens vorerst - harten Kern: Der Einzelne versucht, trotz der Grenzen, die ihm in der Welt gesetzt sind, sich in der Welt so gut wie es eben geht einzurichten bzw. die Welt, soweit es ihm möglich ist, an seinem Geschmack auszurichten. Demgegenüber führt die Lektüre von Luhmann zu der These, dass der analytische Ausgangs- und normative Bezugspunkt der Rational-Choice Theorie, nämlich der einzelne Mensch, uns, sich und seinesgleichen abhanden gekommen ist.Wer - wie wir - das Individuum zum Ausgangspunkt einer positiven Theorie und als Bezugspunkt einer normativen Theorie der Politik erklärt hat, muss diese These als Herausforderung, gar Bedrohung empfinden. Es ist in der Tat eine irritierende und beängstigende Vorstellung, dass - sieht man genau hin - der einzelne Mensch verschwunden sein soll. Man wird demnach kaum so ohne Weiteres hinnehmen und annehmen, dass gerade dann, wenn man nach konkreten Menschen in konkreten Entscheidungssituationen Ausschau hält, sich diese Menschen als Fata Morgana, als optische Täuschung erweisen sollen. Schließlich werden - so mag man einwenden - in kollektiven Entscheidungsprozessen ganz bestimmte, lebendige, mit Namen benennbare einzelne Menschen als Wähler und Gewählte, als Regierungsmitglieder und Oppositionspolitiker usw. mitwirken und die Entscheidungsergebnisse an ihren Vorstellungen ausrichten wollen. A Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft Oben hieß es, der Rational-Choice Ansatz postuliere, dass sich der einzelne Mensch zwischen zwei oder mehr Alternativen für die jeweils Beste entscheidet, er also nicht willentlich und wissentlich unter den ihm bekannten und verfügbaren Möglichkeiten für eine minderwertige Alternative optiert. Dies ist dann keine inhaltsleere Aussage, wenn feststeht, in welcher Dimension, unter welchem Aspekt etwas gut, besser, am bes- 46 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="64"?> ten bzw. schlecht, schlechter, am schlechtesten ist. Sollen positive Deskriptionen oder normative Präskriptionen des menschlichen Entscheidungsverhaltens nicht in der Leerformelhaftigkeit verharren, so ist es unumgänglich, dass operational feststeht, im Hinblick auf was das Entscheidungskalkül durchgeführt wird. Diese Einsicht ist keineswegs neu, ist es doch seit langem das Ziel der Wohlfahrtstheorie, mit dem Rückgriff auf die individuellen Nutzenvorstellungen ein über die Leerformel hinausführendes Richtmaß zu finden. Anfangs mochten diese Bemühungen erfolgversprechend scheinen. Dies deshalb, weil man noch davon ausging - mal offen ausgewiesen, mal stillschweigend -, dass sich der individuelle Nutzen in dem tradierten und keineswegs tautologisch-leeren Begriff vom guten Leben, von der „bona vita“ konkretisiert. Und weil diese „bona vita“, verstanden als Einklang des Menschen mit sich, Gott, den Menschen und den Dingen, zu Recht oder zu Unrecht als operationaler Zielpunkt allen Bemühens verstanden wurde, war das „gute Leben“ und damit die mit ihr gleichgesetzte Wohlfahrt des Menschen eine handliche und verbindliche Messlatte, an dem die Alternativen gemessen und angenommen bzw. verworfen werden konnten und mussten. Als aber dieser über aller Individualität leuchtende Leitstern verblasste - und dies geschah sehr früh -, war es ins Belieben des einzelnen, jedes einzelnen Menschen gestellt, das gute Leben und damit seine Wohlfahrt inhaltlich so zu definieren, wie er es verstand. Es fand also der Individualismus als Norm gleichsam zu sich selbst. Ehedem kam es wohl darauf an, dass der Einzelne im Einklang mit sich, Gott und der Welt stand. Doch nun sollte es auch dem Einzelnen freistehen zu entscheiden, welchen Akkord er als harmonisch empfinden und bezeichnen wollte. Das Streben nach dem jeder Individualität vorgegebenen Ideal der „bona vita“ wurde durch das in jeder Beziehung individuelle Wohlfahrtsstreben ersetzt. Von ihrer Herkunft her ist die Wohlfahrtsökonomie der individualistische Nachfahre der alten supraindividuell begründeten „ars vivendi“. Die Operationalität des Entscheidungskalküls, seine Ausrichtung an einem inhaltlich definierten „guten Leben“, bleibt auch jetzt solange ungefährdet, wie der einzelne Mensch das, was als Einklang mit sich, den Menschen und den Dingen zu gelten hat, festlegt. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung hierfür ist, dass er zu solcher Festlegung überhaupt in der Lage ist, was seinerseits nur möglich ist, wenn er als Mensch - man erschrecke nicht ob der Selbstverständlichkeit - sich selbst als Menschen, den anderen als Menschen und den Dingen in ihrer Vieldimensionalität begegnen kann. Wenn die individuelle Wohlfahrt mit dem „guten Leben“ identisch sein soll, dann ist es nötig, dass der Mensch in seinem Entscheiden und Handeln als ganzer Mensch gleichfalls ganzen Menschen und den Dingen in ihrem vielfältigen Reichtum begegnet. Und weil das menschliche Leben, ja das Menschsein überhaupt nur in der Gesellschaft möglich ist, wird zudem postuliert, dass die gesellschaftlichen Interaktionen dem menschlichen Reichtum der involvierten Personen und allen Seiten und Schichten, allen Dimensionen und Aspekten der Dinge gerecht werden. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so sind individuelle Wahlentscheidungen im Sinne der Rational-Choice Theorie wohl noch möglich; allerdings sind sie es nicht mehr in dem Sinn, dass sie eine mit dem „guten Leben“ deckungsgleiche Wohlfahrt anstreben. Allenfalls kann Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen · 47 <?page no="65"?> dann mit solchen Wahlentscheidungen gerechnet werden, in denen individuelle Akteure Teile ihrer selbst mit Teilen anderer Menschen und/ oder Teilen von Dingen so oder anders in Einklang bringen. Mit anderen Worten: Es kann dann nur noch damit gerechnet werden, dass Wirtschaftssubjekte rationale Wahlhandlungen im Hinblick auf den wirtschaftlichen Erfolg, politische Akteure rationale Wahlhandlungen im Hinblick auf den politischen Erfolg usw. treffen. Es ist nun nicht zu übersehen, dass die Voraussetzungen für am „guten Leben“ ausgerichtete Wahlakte gegenwärtig nur sehr bedingt, wenn überhaupt (noch) gegeben sind. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass - wie andere vormoderne Gesellschaften noch heute - die mittelalterliche Ordnung wenigstens annäherungsweise die Bedingungen aufwies, in der in einer alle und alles umfassenden Gemeinschaft Wirtschaft und Gottesdienst, Erkenntnissuche und Schönheitskult, Herrschaft und Gefühlsbeziehung in eins fielen. Entsprechend erkannte sich der Einzelne nicht einerseits etwa als Ebenbild Gottes und andererseits als Politiker; er war - wenigstens der Tendenz nach - ununterschieden und ununterscheidbar beides. Politik war Gottesdienst und Gottesdienst war Politik. Und beide - Politik und Gottesdienst - rechtfertigten sich, fanden auch nur statt in dem jede Individualität übersteigenden Welt- und Wertordo der Scholastik. Nun ist aber offenkundig, dass mit dem Ende des Mittelalters diese überindividuelle Ordnung zerbrochen ist. Auch bedarf es keines aufwendigen Beweises, vielmehr genügt ein Hinweis, um darzutun, dass hier und heute die einzelnen Lebens- und Gesellschaftsbereiche sich nicht (mehr) bis zur Ununterscheidbarkeit durchdringen: Wirtschaften und Herrschen, Gotteserfahrung und wissenschaftliches Experimentieren, ästhetische Erfahrung und Gefühlsaustausch streben jeweils aus einer alles übergreifenden gesellschaftlichen Gemengelage heraus und bilden - jedes für sich - von anderen mehr oder weniger abgeschirmte Erfahrungs- und Interaktionsbereiche. Es ist eine wohl noch zulässige Übertreibung, wenn man sagt, dass von der Gesellschaft nicht mehr gesprochen werden kann, dass die Gesellschaft ersetzt worden ist durch ihre Zerfallsprodukte, nämlich durch eine Vielzahl voneinander abgesetzter sozialer Interaktionssysteme: das wirtschaftliche, das politische Interaktionssystem, das Wissenschaftssystem, das ästhetische System, das religiöse System, das „family system“ usw. Man spricht von der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Diese systemische Verselbstständigung einzelner Gesellschaftsbereiche, wie sie sich im Laufe der letzten Jahrhunderte - mal schneller, mal langsamer - vollzogen hat, hat - gemessen an den jeweils systemeigenen Kriterien - zu einer Beschleunigung des Fortschritts geführt. Es ist kein Zufall, dass die Beschleunigung etwa des wissenschaftlichen Fortschritts und des wirtschaftlichen Wachstums zeitgleich mit der systemischen Verselbstständigung von Wissenschaft und Wirtschaft einsetzten. Es ist von entscheidender Bedeutung, den Satzteil „gemessen an den jeweils systemeigenen Kriterien“ nicht zu übersehen und zu überlesen: Die Systeme sind selbstreferenziell. In den einzelnen Interaktionssystemen wird also nur zur Kenntnis genommen, was sich in den je eigenen Kategorien der einzelnen Systeme erfassen lässt: Was man nicht „haben“ kann und was sich nicht in Geldeinheiten ausdrücken lässt, existiert für das wirtschaftliche Interaktionssystem schlechterdings nicht.Was sich nicht 48 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="66"?> in den Kategorien der Macht erfassen lässt, liegt außerhalb des Wahrnehmungsfeldes der Politik, ist für sie nicht real. Gleichfalls impliziert die These von der Selbstständigkeit und der Selbstreferentialität der einzelnen Interaktionssysteme, dass sie die von ihnen, also die in ihren Kategorien wahrgenommene Wirklichkeit nur nach den ihnen eigenen Kriterien als Wert und Unwert beurteilen: Für das Wirtschaftssystem etwa ist eine Entscheidung richtig und wert, weil sie Gewinn bringt, nicht aber, weil sie etwa moralisch gut, ästhetisch schön, politisch opportun oder dem wissenschaftlichen Fortschritt förderlich ist. Dabei ist es nicht so, dass die einzelnen Systeme die ganze Welt auf den Nenner ihrer je eigenen Kategorien bringen. Es ist vielmehr so, dass jenes, was sich in den Kategorien eines Systems begreifen und mit seinen Kriterien bewerten lässt, für dieses System die ganze Welt ist. Nach Maßgabe ihrer Selbstständigkeit können diese Systeme - wie Luhmann sagt - nur durch jene Tatbestände in Schwingung versetzt werden, die in den ihnen eigenen Kategorien erfassbar und in den eigenen Kriterien bewertbar sind. Die Tatsache, dass die Luhmannschen Systeme selbstreferenziell sind, bedeutet nicht, dass diese geschlossen, also für Impulse aus ihrer jeweiligen Umwelt nicht empfänglich sind: Die Systeme sind wohl autonom, nicht aber autark. Entscheidend ist allerdings, dass die Kategorien der einzelnen Systeme - Luhmann spricht von je systemspezifischen „Codes“ und „Programmen“ - erlauben, diese Impulse als solche wahrzunehmen und zu verarbeiten. B Die funktionale Zergliederung des Menschen Wenn nun zutrifft, dass die ehedem funktional wenig ausdifferenzierte Gesellschaft in vielzählige und vielfältige, weitgehend selbstständige und selbstreferenzielle Interaktionssysteme zerfallen ist, dann ist zu fragen, was dies für den einzelnen Menschen im Umgang mit sich, den Menschen und den Dingen bedeutet. Dazu Folgendes: Oben hieß es, dass der Individualismus als Norm und als Methode die Grundlage der Rational- Choice Theorie ist. Er ist auch die Basis unseres heutigen und hiesigen Menschen- und Gesellschaftsverständnisses. Es ist nun eine mehr als plausible Hypothese, dass eine Gesellschaft freier Individuen nur als systemisch gegliederte Gesellschaft geordnet werden kann. Für diese Hypothese spricht, dass der Zerfall der einen Gesellschaft in eine Vielzahl unterschiedlicher Interaktionssysteme zeitgleich mit der Heraufkunft des Individualismus als Norm zu beobachten war. Für diese Hypothese spricht auch, dass es keine individualistisch-liberale Gesellschaft zu geben scheint, die nicht funktional ausdifferenziert ist. Umgekehrt zeichnen sich - so weit man sehen kann - alle funktional nichtausdifferenzierten Gesellschaften durch ihre nichtliberale, kollektivistisch-organizistische Ausrichtung aus. Ist diese Hypothese aber richtig, sind also individualistischer Liberalismus und funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft notwendigerweise miteinander verbunden, dann gewinnt die Frage, wie in einer systemisch gegliederten Gesellschaft der einzelne Mensch mit sich, den Menschen und den Dingen umgeht, eine erhöhte Bedeutung. Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen · 49 <?page no="67"?> Die Antwort auf diese Frage besteht aus mehreren Elementen: Erstens: Weil und in dem Maße wie es die Gesellschaft nicht mehr gibt, ist der Mensch kein Gesellschaftsmitglied mehr. Weil und in dem Maße wie es nur noch selbstreferenzielle Interaktionssysteme gibt, ist der Mensch gezwungen, wenn er denn überhaupt am zwischenmenschlichen Verkehr teilhaben will, in einzelnen dieser Systeme zu interagieren. Der Mensch ist nicht mehr einfach ein Gesellschaftsmitglied, sondern ein Wirtschaftssubjekt, ein „family man“, ein Bürger der „republic of science“, ein homo religiosus, ein Staatsbürger usw. Der Mensch des Mittelalters musste ein Mitglied der Gesellschaft sein, er durfte also nicht vogelfrei sein, wenn er denn u. a. am wirtschaftlichen, religiösen, politischen Leben teilhaben sollte. In der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft der Gegenwart hingegen muss der Mensch im Wirtschafts-, im religiösen, im politischen System funktionieren, wenn er denn überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilhaben soll. Zweitens: Wenn und in dem Maße wie die einzelnen Interaktionssysteme, in denen der Einzelne teilnimmt, selektiv in ihrer Wahrnehmung und eng in ihrer Wertung sind, ist der Einzelne als Teilnehmer an einem bestimmten System gleichfalls selektiv in der Rezeption der Wirklichkeit und borniert in deren Bewertung. Als homo oeconomicus etwa sieht und beurteilt er sich und die Welt sub specie oeconomiae: Er ist, als was er sich - etwa als Programmierer - für Geld zu Markte trägt. Und er ist umso mehr, je teurer er sich verkaufen kann. Als Wirtschaftssubjekt hat er keine Freunde, bestenfalls hat er „Geschäftsfreunde“. Er vermag den Duft von keiner Blume zu riechen, hat aber eine gute Nase für den Preis jeder Blume. Als „homo politicus“ sieht er alles unter dem Aspekt der Macht, des Machterhalts, des Machtgewinns, des Machtverlustes. Wirtschaftliche Zweckmäßigkeit, moralische Anständigkeit, ästhetischer Geschmack, menschlicher Anstand sind für ihn als Teilnehmer des politischen Systems unmittelbar und als solche keine Kategorien. Erst wenn wirtschaftliche Ineffizienz, moralische Verkommenheit, unästhetische Widerlichkeit zu Machteinbußen führen oder führen könnten, bekommen sie in seiner Optik eine - allerdings mittelbare, rein instrumentelle - Bedeutung. Drittens: Die eben in ihrer extremen Ausprägung geschilderte Festlegung des Einzelnen auf die den jeweiligen Systemen eigenen Kategorien und Kriterien ist nur dann zwingend, wenn keine die Systemgrenzen überschreitenden Transaktionen stattfinden, also nicht etwa Regierungsämter für Geld zu haben sind, wirtschaftliche Gewinne als Folge politischer Beziehungen gemacht werden oder Lehrstühle aufgrund parteipolitischer Kumpanei besetzt werden. Die genannten Beispiele illustrieren die These, dass Interaktionen, welche die Systemgrenzen überschreiten, sich auf die einzelnen Systeme als 50 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="68"?> disfunktional auswirken, also - gemessen an den systemeneigenen Kriterien - zu Effizienzverlusten führen.Womit sich mit logischer Notwendigkeit der Schluss ergibt, dass die einzelnen Systemteilnehmer nur dann der Selektivität der Wahrnehmung und der Enge der Wertung entgehen können, wenn systemspezifische Effizienzverluste in Kauf genommen werden. Mit anderen Worten: Selbst eine teilweise Entdifferenzierung der Gesellschaft muss mit Effizienzverlusten erkauft werden. Viertens: Die einzelnen Interaktionssysteme verfügen über weite Strecken über Selbstreinigungskräfte, welche jene Teilnehmer, die sich an anderen als den systemeigenen Kategorien und Kriterien ausrichten (wollen), in die Disziplin des Systems zurückzwingen oder aber ausscheiden. So wird etwa - ein funktionierendes Wirtschaftssystem vorausgesetzt - ein Unternehmer, der den wirtschaftlichen Standpunkt vernachlässigt und die Schönheit des Ambiente, die Konvivialität in seinem Unternehmen, die Anforderungen des moralischen Anstandes um ihrer selbst willen berücksichtigt, Gewinneinbußen hinzunehmen haben, im Zweifel gar aus dem Geschäft ausscheiden müssen. Wer das Wirtschaftssystem stört, läuft Gefahr, vom Wirtschaftssystem zerstört zu werden. Ähnliches gilt für einen Wissenschaftler, der Gefälligkeitsgutachten schreibt. Er verliert sein Renommee, wird an den Rand, möglicherweise über die Grenzen der Wissenschaftsrepublik gedrängt. Ähnliches gilt schließlich - wir werden noch darauf zurückkommen - für die Politik: Ein Politiker, der etwa seinen moralischen Überzeugungen folgt und darüber den Wettbewerb um die Wählerstimmen aus dem Auge verliert, scheidet über kurz oder lang aus dem Rennen aus. Fünftens: Wenn richtig ist, dass der Einzelne auf die Analysekategorien und Wertkriterien der Systeme, an denen er teilnimmt, festgelegt wird, wenn auch richtig ist, dass diese Systeme selbstständig und selbstreferenziell sind, dann führt die Aufgliederung der Gesellschaft in einzelne Systeme dazu, dass die Einheit der menschlichen Person verlorengeht, und der Mensch zu einem mehr oder weniger losen Bündel von Systemfunktionen wird. Die systemische Aufgliederung der Gesellschaft führt zu einer Zergliederung des Menschen. Mag in systemisch nicht oder wenig differenzierten Gesellschaften die Gefahr bestanden haben, dass der Mensch unter dem Druck der einen Gesellschaft implodiert, so besteht nun die Gefahr, dass er in den systemisch ausdifferenzierten gesellschaftlichen Raum hinaus explodiert. Die Freisetzung des Menschen als Individuum in der liberalen, also funktional ausdifferenzierten Gesellschaft hat eine Kehrseite: die Zersetzung des Menschen. Sechstens: Die Hoffnung, dass die den einzelnen Systemen eigenen selektiven Kategorien und begrenzten Kriterien zu einem umfassenderen Analyse- und Beurteilungsraster zusammengefügt werden könnten, wäre dann berechtigt, wenn es einen funktional nichtausdifferenzierten sozialen Raum gäbe; ihn gibt es nicht mehr. Also kann auch die Einheit der Person dort nicht mehr wiedergefunden werden. Da diese Einheit auch Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen · 51 <?page no="69"?> nicht in der Asozialität gefunden und bewahrt werden kann, da andererseits soziale Beziehungen nur als systemisch begrenzte Interaktionen erfahren werden, fehlt endgültig jener gesellschaftliche Raum, in welchem die abgespaltenen Personenteile (wieder) zu einem Ganzen integriert werden könnten. Im Rückblick ergibt sich damit das paradoxe Ergebnis, dass - einerseits die systemische Aufgliederung der Gesellschaft mit dem individualistischen Liberalismus verbunden ist, beide sich also gegenseitig bedingen; - andererseits in einer systemisch differenzierten Gesellschaft der individuelle, ganze Mensch insofern an Bedeutung verliert, als er in Teile zerfällt. Einerseits fordert und fördert der Individualismus wohl die selbstreferenzielle Verselbstständigung einzelner sozialer Interaktionssysteme. Andererseits aber sinken in den einzelnen Interaktionssystemen die Bedeutung und das Gewicht des einzelnen einzigartigen, ganzen Menschen; sie tendieren im Zweifel gar gegen Null. Zwar handeln und entscheiden in den einzelnen Systemen individuelle Akteure, doch entscheiden und handeln sie als Funktionen der einzelnen Systeme. Verkürzt kann man demnach sagen: Was in den einzelnen Systemen abläuft, geschieht durch Individuen. Doch entscheiden und handeln diese Individuen nicht als autonome Wesen, sondern als Funktionen der Systeme. Wohl mag ein Einzelner sich dagegen wehren und so das System stören; doch wird sich dann das System wehren, indem es ihn im Zweifel zerstört. Die Systeme erweisen sich in dieser Optik nicht als das Ergebnis menschlichen Handelns, vielmehr erweisen sich die individuellen Akteure als Funktionen der gesellschaftlichen Systeme. Die Individuen erscheinen so als die - untereinander beliebig austauschbaren - Elemente, über die geschieht, was in den Systemen abläuft. Nicht aber erscheinen die Systeme als jener gedachte Zusammenhang, in welchem geschieht, was die Individuen machen. Es sind nicht große Unternehmer, deren Verhalten darüber entscheidet, was im Wirtschaftssystem geschieht. Es ist das Wirtschaftssystem, das darüber entscheidet, wer ein großer Unternehmer ist. Es ist nicht der Kanzler, der die Politik macht, sondern es ist die Politik, die den Kanzler macht. Folgt man unserer individualtheoretischen Lektüre der Luhmannschen Systemtheorie, so ergibt sich, dass mit der Reduzierung des einzelnen Menschen zur Funktion gesellschaftlicher Interaktionssysteme der Mensch auch als Richtmaß der Politik ausscheidet. Denn der Wert und die Bedeutung des Einzelnen, ja seine Existenz in den einzelnen Systemen beschränken sich auf den Grad seines Funktionierens in den jeweiligen Systemen. Desgleichen muss man befürchten, dass dieser Ansatz im Ergebnis dazu führt, dass - in der Gesellschaft der Einzelne sich jeder persönlichen Verantwortung ledig wähnt; an die Stelle des verantworteten Handelns tritt das reibungslose Funktionieren; - in der Gesellschaft der Einzelne in seiner personalen Eigenwertigkeit verkannt wird, bestenfalls in seiner funktionalen Eignung anerkannt wird. 52 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="70"?> Die immerhin möglichen Zweifel an der Tragfähigkeit des systemischen Denkansatzes sollten nicht über seine Bedeutung hinwegtäuschen. Er stellt eine nützliche Ergänzung zum Ansatz des methodologischen Individualismus dar. Dieser stellt auf die Tatsache ab, dass jedes einzelne Individuum seine Rationalkalküle anstellt und Wahlentscheidungen trifft. Der systemtheoretische Ansatz betont hingegen, dass eben diese Kalküle und Entscheidungen in ausdifferenzierten Systemen nach selektiven Kriterien erfolgen, dass diese Systeme und Kriterien den individuellen Kalkülen vorgegeben sind und dass ein Individuum auf die Dauer dann am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, wenn es den systemspezifischen Kriterien genügt. So wird ein Unternehmer mit Blick auf seinen wirtschaftlichen Erfolg Kalküle anstellen und Entscheidungen treffen. Nur wird er dies auf die Dauer nur unter der Bedingung tun können, dass er den Kriterien genügt, an denen im Wirtschaftssystem sein Funktionieren bewertet wird. Gleichfalls wird ein Politiker mit Blick auf seinen Erfolg kalkulieren und entscheiden. Auf die Dauer wird er dies jedoch nur soweit tun können, wie er fähig und willens ist, nach den im Interaktionssystem der Politik eigenen Kriterien zu kalkulieren, zu entscheiden und zu handeln. Die individualistische Theorie der Wahlhandlungen stellt also auf die Rationalität der Entscheidungen und des Verhaltens der einzelnen Individuen ab. Die Systemtheorie hingegen hebt hervor, dass diese Rationalität sich inhaltlich an den jeweils systemeneigenen Kriterien ausrichtet. Für die Systemtheorie ist das Verhältnis von System und Nichtsystem der Ausgangspunkt der positiven Analyse; eine eigene normative Position bezieht diese Theorie - wenigstens explizit - nicht. Literatur zum Exkurs Annen, K.: Der Arme in der Gesellschaft: Eine verhaltenstheoretische Analyse im Rahmen eines erweiterten „Rational Choice“, Baden-Baden 1998. Kirsch, G.: Das freie Individuum und der dividierte Mensch: Der Individualismus - Von der Norm zum Problem, Baden-Baden 1990. Kirsch, G.: Forschungsfreiheit - Chance und/ oder Risiko für den Fortschritt? , in: Holzey, H. et al. (Hrsg.): Forschungsfreiheit: Ein ethisches und modernes Problem der modernen Wissenschaft, Zürich 1991. Kirsch, G.: Die Aufgliederung der Gesellschaft, die Zergliederung des Menschen und der Zerfall des Rational Choice-Ansatzes, in: Göhler, G. (Hrsg.): Normative Demokratietheorie: Philosophische Begründungen der Demokratie heute, Baden-Baden 1993. Kirsch, G.: Vom Individualismus zum Dividualismus oder warum der Mensch nicht implodiert, sondern explodiert, in: Kreyer, V. J. et al. (Hrsg.): Gesellschaft im Übergang, Baden-Baden 1995. Krawietz, W. K. et al. (Hrsg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1992. Luhmann, N.: Ökologische Kommunikation, Opladen 1986. Luhmann, N.: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1994. Luhmann, N.: Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2002. Exkurs: Individuen - Systemfunktionen, nicht aber Menschen · 53 <?page no="71"?> Kontrollfragen zu Kapitel I und zum Exkurs 1. Was versteht man unter „methodologischem Individualismus“? 2. Was verbindet individualistische Norm und liberales Engagement der Neuen Politischen Ökonomie? 3. Grenzen Sie die allokationspolitischen und distributionspolitischen Wirkungen des Hobbesschen Naturzustandes von denen des liberalen Marktkonzeptes ab. 4. Was sind externe Effekte, und welche Folgen haben sie für Allokation und Distribution? 5. Welche Probleme ergeben sich beim Verbot der Produktion externer Effekte? 6. Auf welche drei Arten können schon entstandene externe Effekte bei ihrem Urheber internalisiert werden? 7. Aus welchen vier Gründen sind der Leistungsfähigkeit des Marktes Grenzen gesetzt? 8. Was versteht man mit Bezug auf die Systemtheorie Luhmanns unter der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und was für Folgen hat diese für den Einzelnen? 9. Was verstand man in der altgriechischen Polis unter dem öffentlichen Raum? 10. Wie unterscheidet man heute zweckmäßiger Weise den öffentlichen vom privaten Raum? 11. Was versteht man unter dem Dritten Sektor? 54 · Kapitel I: Von Individualentscheidungen zu Entscheidungen im Kollektiv <?page no="72"?> Kapitel II Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch Der positive Ausgangspunkt und der normative Bezugspunkt ist - siehe oben - das Individuum, ist jeder einzelne einzigartige Mensch. Das Engagement für den individuellen Menschen impliziert notwendigerweise das Engagement für die individuelle Freiheit. Zugleich impliziert es die Abwehr, jedenfalls die Skepsis gegen jegliche Art von Zwang: Zwang in Form der individuellen Gewalt des Starken gegenüber den Schwachen und Zwang in Gestalt der kollektiven Herrschaft. Wir haben gesehen, dass der Marktmechanismus, wie ihn die liberalen Klassiker erdacht haben, seiner Idee nach - und über weite Strecken auch in der Realität - eine institutionelle Vorkehrung ist, die zweierlei bewirkt: Sie trägt dazu bei, - die private Gewalt des Stärkeren über den Schwachen, wie sie für den Hobbesschen Naturzustand charakteristisch ist, zu vermeiden; - dem Zwang kollektiver Herrschaft durch den Staat trotzdem mehr oder weniger weit zu entgehen. 1 Kollektive als Zwangsinstrumente Allerdings wissen wir auch, dass das Funktionieren des Marktmechanismus an bestimmte Bedingungen gebunden ist.Wo die aus dem menschlichen Zusammenleben in einer Welt der knappen Ressourcen resultierenden Allokations- und Distributionsprobleme nicht über die Erstellung von Privatgütern gelöst werden können, muss auf Kollektivgüter zurückgegriffen werden. Sagt man nun aber Kollektivgüter, so denkt man geradezu unausweichlich an Kollektive, an Kollektiventscheide und damit an kollektiven Zwang. Denn jede Kollektiventscheidung impliziert kollektiven Zwang. Dies jedenfalls dann, wenn die Kollektiventscheidungen nicht einstimmig getroffen werden und/ oder wenn die Präferenzen der Beteiligten in allokations- und distributionspolitischer Hinsicht nicht gleich sind. Man darf sich nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass auch der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ein Herrschaftsinstrument ist, also Zwang ausübt.Wer davon nicht überzeugt ist, dem sei geraten, seine Steuern offen nicht zu bezahlen, dem Einberufungsbescheid zum Wehrdienst nicht zu folgen oder auch nur bei Rot über die Straße zu gehen. Damit aber scheint es jenseits der Grenzen der Funktionstüchtigkeit des Marktmechanismus einen Bereich zu geben, in dem wir nur die Wahl zwischen zwei gleichermaßen unliebsamen Möglichkeiten haben: - Entweder wir verzichten auf den mit der Bereitstellung von Kollektivgütern verbundenen kollektiven Zwang. Dann aber bleibt die kollektiv nicht gesteuerte und über den Markt nicht regelbare Allokation und Distribution überhaupt ungeregelt. 55 <?page no="73"?> Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass hier die grauenhafte Logik des Hobbesschen Naturzustandes zum Zuge kommt: Die Allokationseffizienz wird nachhaltig verfehlt, und die Distribution erfolgt nach dem Gesetz der Stärke. Aus Angst vor dem kollektiven Zwang hat man dann im Ergebnis den Menschen der individuellen Gewalt ausgeliefert. Weil wir den Menschen nicht der Stärke des Gesetzes unterstellen wollen, liefern wir ihn so letztlich dem Gesetz der Stärke aus. - Oder wir akzeptieren mit Blick auf die Schrecken des Hobbesschen Naturzustandes Kollektiventscheidungen. Hier müssen wir jedoch erkennen, dass die private Gewalt gegen den kollektiven Zwang eingetauscht wird. Die Tatsache, dass es sich bei letzterem im günstigen Fall um eine demokratisch legitimierte Herrschaft handelt, ist gewiss nicht ohne Belang.Vorerst handelt es sich aber auch hier um die Instrumentalisierung Einzelner im Dienste ihnen im Zweifel fremder Zwecke. Wer entgegen seinen Vorstellungen über die Nutzung seiner Lebenszeit ein Jahr in einer Kaserne zu verbringen gezwungen ist, weiß ohne weiteres, von was hier die Rede ist. Damit scheint es unausweichlich zu sein, entweder um der individuellen Freiheit willen auf die Produktion von Kollektivgütern zu verzichten oder aber um der Kollektivgüter willen das Engagement für die Freiheit des Einzelnen wenigstens teilweise zu verraten. Es scheint nur die Wahl zu bestehen zwischen dem utopischen Ideal der Herrschaftslosigkeit, der Anarchie, und dem resignierten Sichabfinden mit dem Freiheitsverlust in einer auch durch kollektiven Zwang geordneten Gesellschaft. Wenn wir uns also Kollektive als Zwangsinstrumente vorstellen, werden sie zu höchst problematischen Gebilden in den Augen eines jeden, dem das individualistisch-liberale Engagement etwas bedeutet. Es ist demnach kein Wunder, dass ein Großteil der (liberalindividualistisch ausgerichteten) Neuen Politischen Ökonomie sich um gerade diesen Punkt dreht. Die Spannung zwischen individualistisch-liberalem Engagement und kollektivem Zwang liefert den Hintergrund für die alte, jüngst auch vermehrt öffentlich diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten. 2 Zwang, Abwanderung und Widerspruch Es ist zweckmäßig, näher zu untersuchen, was mit Zwang gemeint ist. Dabei ist hier nicht der Ort, die mehr als zweitausendjährige Debatte über Macht und Zwang, Gewalt und Herrschaft nachzuzeichnen. Einige sparsame, für unsere Problemstellung wichtige Anmerkungen müssen genügen. Wenn sich A entscheidet, zum Frühstück Schwarzbrot zu essen, so zwingt dies B in keiner Weise, auch Schwarzbrot zu essen.Anders ist es im Falle der als Kollektivgut bereitgestellten äußeren Sicherheit. Wenn hier A und B unterschiedliche Ansichten haben, A etwa meint, diese Sicherheit sei am ehesten durch absoluten Pazifismus zu erreichen, B aber die allgemeine Wehrpflicht für nötig hält, so kommt es darauf an, wer sich durchsetzt. Ist es B, so wird auch A zum Wehrdienst herangezogen werden und in Form von Steuern seinen Beitrag zur Anschaffung von allerlei Kriegsgerät leisten müssen. Dies selbst dann, wenn diese Politik seiner Meinung nach nicht nur nichts nützt, sondern im Gegenteil den Frieden unsicherer macht. Umgekehrt wird B, falls sich A 56 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch <?page no="74"?> durchgesetzt hat, in einem seiner Meinung nach jeder äußeren Bedrohung ausgesetzten Land wohnen und darüber hinaus zwangsweise einen Beitrag für die Verschrottung der seiner Meinung nach so notwendigen Waffensysteme leisten müssen. Mehr noch: Selbst wenn A und B darin übereinstimmen, dass ein allgemeiner Wehrdienst sinnvoll ist, aber über seine Dauer, die Höhe und Zusammensetzung des Wehretats anderer Ansicht sind, handelt es sich um Zwang. Denn jener, dessen Ansichten sich nicht durchgesetzt haben, wird gezwungen sein, eine seinen Vorstellungen zuwiderlaufende Kollektiventscheidung mitzutragen. 2.1 Abwanderung Man wird an dieser Stelle nicht ohne Grund darauf hinweisen, dass dieser Zwang je nach den Charakteristika des Kollektivs unterschiedlich erlebt wird und verschieden einzuschätzen ist. Es ist zu unterscheiden zwischen jenen Kollektiven, in denen man freiwillig Mitglied ist, aus denen man also austreten kann, und jenen, die die Zwangsmitgliedschaft kennen. Ein Bridgeclub ist ein Beispiel für jene, ein Staat ein Beispiel für diese, wobei sogar noch hier die - allerdings verhältnismäßig teure - Möglichkeit der Auswanderung und Ausbürgerung besteht. Die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft ist also nur an den Extrempunkten eine Frage des Ja oder Nein, ansonsten eher eine solche der im Einzelfall mit dem Austritt verbundenen Kosten. So wie die Auswanderung aus einem Staat relativ billig sein kann, so mag der Austritt aus einem Bridgeclub - trotz formaler Einfachheit - für den Austrittswilligen mit derart hohen gesellschaftlichen Nachteilen verbunden sein, dass er ihn sich nicht leisten kann. Berücksichtigt man dies, so ist ohne weiteres ersichtlich, dass, je höher die Kosten der Abwanderung sind, desto größer der Zwang in einem Kollektiv sein kann. Besteht nämlich für den Einzelnen die kostengünstige Möglichkeit, ihm unliebsamen Konsequenzen von Kollektiventscheidungen durch Abwanderung auszuweichen, so erlebt er nach Maßgabe dieser Möglichkeit auch die Politik dieses Zusammenschlusses nicht als ihm aufgezwungen. Sind die Kosten der Abwanderung gleich Null und die Kosten des Wechsels in einen Zusammenschluss, der ein seinem Geschmack entsprechendes Kollektivgüterangebot hat, auch Null, so ist er nicht gezwungen, etwas hinzunehmen, was er nicht frei gewählt hat. So kann man die Kunden eines Restaurants als Mitglieder eines Kollektivs ansehen, die aus der Inanspruchnahme von Menüs bestimmter Qualität einen Nutzen ziehen wollen. Gibt es nur ein Restaurant und hat niemand zu Hause eine Küche, so sind die Kunden auf dieses eine Lokal angewiesen. Entsprechend müssen sie heute, auch wenn ihnen dies nicht zusagt, schon wieder „Schnitzel mit Pommes-frites“ essen: Zwang.Wohnen sie aber in einer Stadt, in der viele Restaurants unterschiedliche Menüs anbieten, werden sie nach Lust und Laune aussuchen können: Wahlfreiheit durch Ab- und Hinwanderung. Das erste Restaurant wird nicht durch die Abwanderung der Kunden veranlasst werden, die ungeliebten Schnitzel vom Speisezettel zu streichen. Die anderen im Wettbewerb zueinander stehenden Gasthäuser müssen sehr wohl auf das Kommen oder Ausbleiben der Kunden achten. Diese Kunden, da sie das Restaurant ihrer Wahl besuchen können, sind nicht gezwungen zu essen, was sie nicht mögen. Zwang, Abwanderung und Widerspruch · 57 <?page no="75"?> Am anderen Ende der Skala stehen jene Staaten, die ihren Bürgern die Auswanderung verbieten, d.h. die Kosten der Abwanderung prohibitiv hoch ansetzen. Sie können nicht - wenigstens nicht durch das Weglaufen ihrer Bürger - dazu veranlasst werden, auf deren Wünsche Rücksicht zu nehmen. Diese Bürger werden mit gutem Grund mehr als anderswo das Gefühl des Zwanges haben. So gesehen ist also die Aussage, Kollektive seien mit Zwang verbunden, dahingehend zu spezifizieren, dass dieser Zwang eine Funktion der mit Ab- und Hinwanderung verbundenen Kosten ist. Weiter ist dieser Zwang eine Funktion der Vielfalt der von verschiedenen Kollektiven angebotenen Güterbündel. Was nützt es nämlich dem Einzelnen, wenn er kostenlos zwischen verschiedenen Zusammenschlüssen hin- und herwandern kann, diese Kollektive aber alle das Gleiche anbieten? Er wird dann überall Entscheidungen in ihren Konsequenzen mittragen müssen, die ihm gleichermaßen zuwider sind. Damit Kollektive von ihren Mitgliedern nicht als Zwangsinstrumente empfunden werden, ist es also nötig, dass - die Wanderungen zwischen einzelnen Zusammenschlüssen für sie kostenlos sind; - unter den existierenden Zusammenschlüssen wenigstens einer ist, der in seinem Angebot mit den jeweiligen Präferenzen der einzelnen Individuen übereinstimmt. Niemand muss die Kulturpolitik von Fulda erleiden, wenn er die Möglichkeit hat, kostenlos nach Berlin auszuwandern, und dort jene Kulturpolitik findet, die seinen Präferenzen entspricht. Diese Bedingungen sind so weitreichend, dass sie wohl selten voll und ganz erfüllt sind. Entsprechend kann vom Zwang als Charakteristikum der Kollektive gesprochen werden. Der Einzelne wird allerdings diesem Zwang nur insofern unterworfen sein, als diese Bedingungen nicht gegeben sind. Man kann es auch so sagen: Für den Einzelnen muss die Möglichkeit des „voting with feet“ bestehen. Der föderalistische Aufbau von Staaten und die Freizügigkeit zwischen Staaten sind Mittel der Minimierung des kollektiven Zwangs. 2.2 Widerspruch Neben der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft wird man bei der Spezifizierung des Zwangscharakters von Kollektiven darauf abstellen, ob die einzelnen Kollektivmitglieder auf die Kollektiventscheidungen Einfluss nehmen können, diese also an ihren eigenen Präferenzvorstellungen ausrichten können; mit den Worten Hirschmans, dem wir hier weitgehend folgen: ob sie die Möglichkeit zum erfolgreichen Widerspruch haben. Auch hier geht es nicht um Ja oder Nein, sondern um mehr oder weniger, so oder anders. Da das Thema weiter unten ausführlich behandelt wird, können wir uns hier kurz fassen. So ist zu fragen, ob der besagte Widerspruch, d. h. der Versuch der Einflussnahme auf das Kollektivgüterangebot, für das Kollektivmitglied mit hohen oder mit niedrigen Kosten verbunden ist. Es ist schon ein Unterschied, ob die geringste Kritik an den herrschenden Zuständen mit Gefängnis, Karriereschwierigkeiten u. Ä. geahndet 58 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch <?page no="76"?> wird oder ob dies nicht der Fall ist. Doch sollte man bei den Kosten des Widerspruchs nicht nur an die Unannehmlichkeiten denken, die totalitäre Staaten ihren Dissidenten bereiten.Wie sich noch zeigen wird, ist auch in der Demokratie die Beteiligung an der kollektiven Willensbildung nicht kostenlos. In dem Maße wie sie es nicht ist, wird man also auch hier vom Zwangscharakter von Zusammenschlüssen sprechen müssen. Doch sind es nicht nur die mit dem Widerspruch verbundenen Kosten, die diesen Zwangscharakter begründen. Daneben ist zu berücksichtigen, wie groß die Aussicht des Erfolges von Versuchen der Einflussnahme auf die Kollektiventscheide ist. Selbst wenn die Kosten des Widerspruchs gleich Null sind, der Erfolg aber auch vernachlässigenswert ist, wird der Einzelne die Entscheidungsfolgen als ihm fremde, aufgezwungene erleben. Zwar mag in beschränktem Ausmaß und kurzfristig selbst der erfolglose, weil folgenlose Widerspruch als (psychische) Entlastung empfunden werden - dies wohl einer der Gründe, warum selbst totalitäre Staaten ein gewisses Maß an öffentlicher Kritik zulassen -, doch wird auf die Dauer der Zwangscharakter des Kollektivs so kaum verschleiert werden können. Wenn also richtig ist, dass - die Höhe der Widerspruchskosten und - die Erfolgsaussichten des Widerspruchs für den Zwangscharakter des Zusammenschlusses von Bedeutung sind, wenn man weiter beachtet, dass die Kosten selten Null und die Erfolgsaussichten selten hundertprozentig sind, dann wird man auch unter diesem Aspekt selbst demokratisch geordneten Kollektiven, etwa Staaten, den Charakter von Zwangsinstrumenten nicht absprechen können. 2.3 Abwanderung und Widerspruch Es ist hinzuzufügen, dass die Abwanderung einerseits und der Widerspruch andererseits nicht vereinzelt betrachtet werden sollten. In der Praxis kommen sie häufig - in je unterschiedlicher Ausprägung - zusammen vor. Dies lässt sich an einem einprägsamen Schema darstellen: Zwang, Abwanderung und Widerspruch · 59 Organisationen, deren Mitglieder stark reagieren Abwanderung durch Ja Nein Vereine, konkurrierende Familien, Stamm, Nation politische Parteien und Kirche, Parteien in nicht- Ja manche Firmen, z. B. jene, totalitären Einparteiendie an eine kleine Zahl von systemen Kunden verkaufen Widerspruch Parteien in totalitären Nein Konkurrierende Kunden Einparteiensystemen, gegenüber Terroristengruppen, konkurrierenden Firmen Verbrecherbanden Abbildung 2 <?page no="77"?> Je nach Wanderungskosten und Auswahlmöglichkeiten, je nach Kosten und Erfolgsaussichten des Widerspruchs werden die Mitglieder mehr oder weniger durch Abwanderung und/ oder durch Widerspruch auf ihnen nichtgenehme Kollektiventscheidungen reagieren. Dabei werden sie - dies eine plausible Vermutung - von den Möglichkeiten Gebrauch machen, die ihnen die wenigstens teilweise Substituierbarkeit von Widerspruch und Abwanderung bietet. Ein Blick auf die von Hirschman gegebenen Beispiele belegt die These, dass dann, wenn weder Widerspruch noch Abwanderung in Frage kommen, der Zwangscharakter am ausgeprägtesten und so das Kollektiv am repressivsten gegenüber seinen Mitgliedern ist.Wo also Abwanderung als Desertion und Widerspruch als Rebellion gelten, ist der Zwang die Regel. Wäre hingegen der Widerspruch kostenlos und völlig erfolgversprechend, würde auch ohne Abwanderung das Kollektiv von den Mitgliedern nicht als Zwangsinstrument empfunden werden. Gleichfalls gilt: Wenn die Abwanderung kostenlos wäre und zum Ziel führen würde, bedürfte es keines Widerspruchs. Die Abbildung 3 gibt den Sachverhalt schematisch wieder. Wären der Widerspruch bzw. die Abwanderung völlig kostenlos und völlig aussichtsreich, so würde das Individuum sich an den Punkten Q bzw. S befinden. Der Widerspruch und die Abwanderung mögen sich aber auch so ergänzen, dass beide - obwohl nicht kostenlos - am Zwang Null ergeben: die Kurve QS. Beide mögen aber auch so kostspielig sein, dass sie selbst in der Kombination den Zwang auf der Kurve TR ergeben: Die Bandbreite der Wahlmöglichkeiten zwischen Widerspruch und Abwanderung ist enger geworden, und der erlebte Zwang ist gestiegen. Sind Abwanderung und Widerspruch prohibitiv teuer und/ oder völlig ohne Aussicht, dann schrumpfen die Möglichkeiten des Mitgliedes auf Null und der Zwang erreicht sein Maximum Z. Ob dieses Maximum Z hoch oder niedrig liegt, hängt unter anderem von der Zusammensetzung des in Frage stehenden Kollektivs ab. So wird ein Einzelner, selbst dann, wenn er keine Widerspruchs- oder Abwanderungsmöglichkeiten hat, sich dann keinem Zwang ausgeliefert sehen, wenn alle übrigen Mitglieder des Zusammenschlusses Zielvorstellungen haben, die den seinen völlig gleich sind. 60 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch Abbildung 3 <?page no="78"?> Zusammenfassend: Nur dann, wenn das Individuum sich auf der Isoquante QS bewegen kann, ist die Mitgliedschaft in einem Kollektiv nicht mit Zwang verbunden.Wenn aber dies - wegen fehlender Voraussetzungen - nicht der Fall ist, stellt sich das Problem, dass Individuen zu Objekten des Zwanges in Kollektiven werden. Für das Funktionieren des Kollektivs selbst ist die Leichtigkeit von Abwanderung und Widerspruch nicht ohne Probleme. Ist nämlich die Abwanderung mit sehr geringen Kosten verbunden, so führen selbst geringfügige, vielleicht durch Zufall bedingte Beeinträchtigungen des Kollektivgüterangebots zum massiven Abzug von Mitgliedern und damit von Ressourcen. Es gilt aber auch, dass eine sehr teure Abwanderung den kollektivinternen Widerspruch, also die kollektivinternen Konflikte verstärkt. In diesem Zusammenhang ist die Loyalität von Bedeutung. Sie bewirkt, dass trotz niedriger Wanderungskosten und hoher Erfolgsaussichten, also niedrigen Zwanges, die Wanderungsbewegungen wenigstens vorübergehend gebremst werden. Die Loyalität bewirkt ebenfalls, dass trotz der kostengünstigen Möglichkeit des Widerspruchs und verhältnismäßig hoher Erfolgsaussichten, dieser wenigstens vorübergehend im Zaum gehalten wird. Darüber hinaus schiebt die Loyalität die Abwanderung hinaus, ist aber in ihrer Existenz und Stärke an die Möglichkeit der Abwanderung gebunden: Von jenem, der dem Zwang unterworfen ist, kann man kaum erwarten, dass er loyal ist; und: Gegenüber jenem der loyal ist, muss weniger Zwang ausgeübt werden. Allerdings können die Erfolgsmöglichkeiten des Widerspruchs mit den Erfolgsmöglichkeiten der Abwanderung wachsen. Zwischen Abwanderung und Widerspruch bestehen also nicht nur die in Abbildung 3 erfassten Substitutionsbeziehungen. Man muss also nicht nur davon ausgehen, dass der Zwang eine Funktion von Exit und Voice ist, dass Exit und Voice wechselseitig substituierbar sind und dass Exit und Voice sich unabhängig voneinander verändern bzw. verändert werden können.Vielmehr ist nicht ausgeschlossen, dass in bestimmten Situationen Exit eine Funktion von Voice und/ oder Voice eine Funktion von Exit ist. So konnte man etwa beobachten, dass in der ehemaligen DDR der Widerspruch („Montagsdemonstrationen“) heftiger und aussichtsreicher wurde, als die Möglichkeiten der Abwanderung („Botschaftsflüchtlinge“, „Öffnung der Mauer“) größer geworden waren. Und nachdem der Widerspruch heftiger geworden war, konnte die Abwanderung immer weniger verhindert und behindert werden. Noch einmal: Man wird sich in den selteneren Fällen auf der Linie QS bewegen. Entsprechend wird man in den häufigsten Fällen mit den Problemen des Zwanges in Kollektiven konfrontiert sein. Und dies trotz der Bemühungen liberaler Ordnungspolitik. So zielt die Wettbewerbspolitik etwa über weite Strecken darauf ab, die Kosten der Abwanderung zu senken und ihre Erfolgsaussichten zu erhöhen. Gleiches gilt für den föderalen Aufbau des Staates in unterschiedliche Kollektive (Länder, Kantone, Staaten), zwischen denen die Bürger wandern und so dem Zwang ausweichen können. Unter dem Blickwinkel der Reduzierung des Zwanges ist auch die Förderung der Freizügigkeit zwischen den Ländern der Europäischen Union positiv zu werten. Allerdings sind unter dem gleichen Blickwinkel die Zentralisierungs- und Uniformisierungstendenzen der EU kritisch zu beurteilen. Zwang, Abwanderung und Widerspruch · 61 <?page no="79"?> Die liberale Politik zielt auch auf eine Senkung der Kosten des Widerspruchs und eine Erhöhung seiner Erfolgsaussichten. So haben die politischen Partizipationsrechte zum Ziel, dem Einzelnen die Möglichkeiten zu erhalten und zu erweitern, die politischen Entscheidungen in seinem Sinn zu beeinflussen, also kostengünstig und mit Aussicht auf Erfolg Widerspruch anzumelden. Es ist eine wenigstens plausible Vermutung, dass die in den westlichen Demokratien festzustellende Politikverdrossenheit zu einem großen Teil darauf zurückzuführen ist, dass es unter den Bedingungen der Gegenwart nur bedingt gelungen ist, auf diesem Weg den Zwang zu reduzieren: „Die in Berlin machen ja doch, was sie wollen.“ 3 Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang Nach diesen Ausführungen über den mit kollektiven Entscheidungen verbundenen Zwang und über seine Abhängigkeit von Abwanderung und Widerspruch, kehren wir zu unserem Hauptthema zurück, dem Spannungsverhältnis zwischen normativem Individualismus und kollektivem Zwang. Es scheint also, als ob man zwischen der mit dem Verzicht auf Kollektivgüter erkauften individuellen Freiheit und der mit dem Verzicht auf individuelle Freiheit bezahlten Bereitstellung von Kollektivgütern wählen müsse. Beide Optionen sind gleichermaßen unerfreulich. Kein Wunder also, dass einige Autoren, die einerseits dem Ideal der individuellen Freiheit zutiefst verpflichtet sind und die andererseits über genügend Realitätssinn verfügen, um das Ideal der Anarchisten als vielleicht liebenswerten, aber wirklichkeitsfremden Traum zu erkennen, nach einem Ausweg aus diesem Dilemma gesucht haben. 3.1 Ein Modell Einer dieser Autoren ist James M. Buchanan. Sein Bemühen geht dahin zu zeigen, dass es - wenigstens von der Idee her - möglich ist, Kollektivgüter zu haben, ohne dass - in Kollektiven über Art und Menge dieser Güter entschieden werden muss; - in Kollektiven über die Verteilung der mit der Erstellung dieser Güter verbundenen Finanzierungslasten entschieden werden muss. Buchanan will also die Möglichkeit aufzeigen, ohne kollektiven Zwang über die Bereitstellung von Kollektivgütern zu entscheiden, ohne sich im Traum der Anarchie zu verlieren und im Grauen des Hobbesschen Naturzustandes zu landen. Nach Buchanans Vorstellung soll dies dadurch erreicht werden, dass sich die Gesellschaftsmitglieder - ein jeder mit jedem - in allseits freiwilligen Vereinbarungen auf die Bereitstellung und auf die Finanzierung von Kollektivgütern einigen. Der Grundgedanke hierbei ist, dass - wenn und weil alle den Vereinbarungen freiwillig zugestimmt haben werden - niemand im Dienste ihm fremder Zwecke instrumentalisiert, also Zwang unterworfen wird. Es verschwindet - so die These - der Zwang sowohl in Form staatlicher Herrschaft als auch in Form privater Gewalt. Buchanan führt sein Argument mit Hilfe eines einfachen Modells vor, das den folgenden Ausführungen zugrundeliegt. Dazu Abbildung 4: 62 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch <?page no="80"?> Im Modell stehen die Individuen A und B für viele Gesellschaftsmitglieder. Die beiden Individuen haben je unterschiedliche Präferenzen für Kollektivgüter. Diese Präferenzen drücken sich in entsprechenden Grenznutzen-, also Nachfragekurven N A und N B aus. Die Herstellung dieser Kollektivgüter X ist mit Kosten verbunden. Es wird angenommen, dass die Grenzkosten und die Durchschnittskosten gleich und konstant sind. Die horizontale Kurve k=k’ gibt diesen Tatbestand und demnach den Stückpreis für Kollektivgüter wieder, ist also eine Angebotskurve für Kollektivgüter: k=k’=p. Wenn man annimmt, dass - beide Individuen wissen, dass ihre optimale Menge bei der Güterproduktion dort liegt, wo ihre Grenznutzen, also ihre Nachfragekurve die Grenzkostenkurve schneidet, und - beide Individuen nicht berücksichtigen, dass es sich bei X um Kollektivgüter handelt, sie also gratis von Gütern profitieren können, die der jeweils andere hergestellt hat, dann wird A die Menge L, B aber die Menge M herstellen. Insgesamt wird demnach die Menge L+M erstellt. Da es sich bei X um ein Kollektivgut handelt, gilt das Ausschlussprinzip nicht.Also kann A nicht nur über die von ihm selbst hergestellte Menge L, sondern auch über die von B hergestellte Menge M verfügen. Gleichfalls kann so auch B die von A produzierte Menge unentgeltlich nutzen. Beide verfügen demnach wegen der Nichtgeltung des Ausschlussprinzips und wegen der Nichtrivalität des Konsums über der Menge L+M. Für beide liegt diese Menge jenseits ihres Optimums, also jenseits der Menge, an der ihre jeweiligen Grenznutzen den Grenzkosten gleich sind. In einem weiteren Schritt wollen wir nun die Ausgangsprämissen etwas ändern. - Wohl sollen auch jetzt beide Individuen wissen, dass ihre optimale Gütermenge dort liegt, wo ihre Grenzkosten gleich den Grenznutzen sind, - doch soll jetzt nur A die Logik der Kollektivgüter durchschaut haben bzw. diese Logik seinem Handeln zugrunde legen. Nur A soll also in seinem Handeln berücksichtigen, dass dann, wenn B das Kollektivgut X herstellt, er - A - von dieser Menge unentgeltlich profitieren kann. B hingegen soll nach wie vor übersehen oder wis- Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang · 63 Abbildung 4 <?page no="81"?> sentlich übergehen, dass für das Gut X das Ausschlussprinzip nicht gilt. (Wir werden weiter unten im Zusammenhang mit der Olsonschen Theorie des kollektiven Handelns sehen, unter welchen Voraussetzungen letzteres zu erwarten ist.) Die Ausgangslage ist ansonsten gleich wie in Abbildung 4. Abbildung 5 gibt die veränderte Situation wieder. Da das Individuum A in seinem Handeln die Logik der Kollektivgüter berücksichtigt, offenbart es seine Präferenzen nicht. Dies in der Hoffnung, von dem durch B bereitgestellten Kollektivgut gratis zu profitieren. B wartet nicht und produziert seinem Optimierungskalkül entsprechend die Menge M. Diese Menge steht nun also auch dem A zur Verfügung, und zwar zum Nulltarif. Zum Preise Null aber würde A - wie seine Nachfragekurve N A zeigt - eine größere Menge, nämlich S wünschen. Es liegt also nahe, dass A an B mit dem Ansinnen herantritt, mehr als die Menge M zu produzieren. B wird - unseren Prämissen entsprechend - dieses Ansinnen mit dem Argument zurückweisen, dass die Menge M sein Optimum darstellt, denn dort gilt: Grenzkosten gleich Grenznutzen. Wiederum unseren Prämissen entsprechend leuchtet Individuum A dieses Argument ein. Doch kalkuliert es darüber hinaus wie folgt: Wenn B nicht produziert, weil jenseits des Punktes M seine Grenznutzen unter die Grenzkosten fallen, so könnte B dadurch veranlasst werden, eine größere Menge als M zu produzieren, wenn ihm A die Differenz zwischen Grenzkosten und Grenznutzen bezahlen würde. Nach Erhalt dieser Zahlungen wären nämlich für B die Grenzkosten wieder gleich den Grenznutzen, und damit wäre für ihn das Optimum gewährleistet. Bleibt für A noch zu klären, ob es sich für ihn lohnt, einen entsprechenden Vorschlag zu machen. Danach hätte er, der A, die Differenz der Grenzkosten und Grenznutzen aus der eigenen Tasche auszugleichen und könnte so in den Genuss einer Kollektivgütermenge kommen, die größer ist als die ihm ohnehin zur Verfügung stehende Menge M. Zwar kann A die Menge M gratis haben, doch muss er - will er mehr - zahlen. Die Ausgleichszahlungen des A an B sind also gewissermaßen der Preis, den der A für diese zusätzliche Menge an Kollektivgütern entrichten muss. 64 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch Abbildung 5 <?page no="82"?> Für A wird es letztlich nur dann interessant sein, den Akteur B zu einer über die Menge M hinausgehenden Produktion zu veranlassen, wenn die hierzu nötigen Ausgleichszahlungen, also der hierfür zu zahlende Preis niedriger ist als der Preis k=k’=p, den er - A - aufbringen müsste, wenn er selbst das Gut X produzieren würde. Die nächste Frage: Welches ist die Höhe der von A an B zu zahlenden marginalen Ausgleichszahlungen? Wir sagten, dass sie der Differenz zwischen den Grenzkosten und Grenznutzen des B jenseits der Menge M entsprechen. Ein Blick in Abbildung 5 zeigt uns, dass jenseits von M die Distanz zwischen den Kurven N B und k=k’=p mit steigender Produktionsmenge wächst.Also steigen mit wachsender Menge auch die von A an B zu entrichtenden marginalen Ausgleichszahlungen. Entscheidend dabei ist, dass wir es mit Marginalgrößen zu tun haben. Damit aber können wir sagen, dass für A die Grenzkosten (in Form von Ausgleichszahlungen an B) mit wachsender Menge des Kollektivgutes jenseits M ansteigen.Wir tragen diese Grenzkosten des A (bzw. diese Grenzausgleichszahlungen des A an B) als Kurve MT ab.Aus dem eben Gesagten ergibt sich, dass hierbei - bei umgekehrtem Vorzeichen - der Neigungswinkel α von N B und der Neigungswinkel ß von MT gleich sind. Da die Kurve MT unterhalb der Kurve k=k’=p liegt, ist es für A sinnvoll, B durch Ausgleichszahlungen zum Weiterproduzieren zu veranlassen und nicht selbst das Kollektivgut herzustellen.A macht also B ein entsprechendes Angebot. B lässt sich darauf ein, da - wie wir gesehen haben - auf diese Weise sein Optimum, in dem Grenzkosten gleich Grenznutzen sind, gewahrt bleibt. Es stellt sich nun die Frage, bis zu welcher Menge A bereit ist, an B Ausgleichszahlungen zu entrichten, und bis zu welcher Menge B willens ist, gegen Ausgleichszahlungen über sein ursprüngliches Optimum M hinaus Kollektivgüter herzustellen. Anders ausgedrückt: Auf welche Menge und auf welche Höhe von Kompensationen werden sich A und B einigen? Welches wird also der Inhalt der beidseitig freiwilligen Vereinbarung sein? Die Antwort auf diese Frage lautet: Da die marginalen Kompensationszahlungen MT von A an B für A Grenzkosten darstellen, wird A bereit sein, bis zu jenem Punkt zu zahlen, an dem diese seinem Grenznutzen gleich sind. In unserer Abbildung: A und B werden sich dort einigen, wo die Kurve MT die Kurve N A schneidet. Die Vereinbarung zwischen beiden wird also erstens festhalten, dass B die Menge MR zusätzlich erstellt. Zum anderen wird die Vereinbarung festhalten, dass A pro zusätzlicher Einheit eine Kompensation von V entrichtet, also insgesamt an B jene Summe zahlt, die durch die Fläche MRHV abgebildet ist. Dies jedenfalls dann, wenn es B gelingt, gegenüber A durchzusetzen, dass für die zusätzliche Menge MR für jede Einheit die gleiche Entschädigung RV bezahlt werden muss. Dies ist deshalb zu erwarten, weil A (B) für viele Nachfrager (Anbieter) stehen, also die Strecke RV als Marktpreis bei vollständiger Konkurrenz zu interpretieren ist. Aus der Sicht des A bedeutet dies, dass er nun über die Menge R verfügt. Diese liegt wohl niedriger als die Menge S, die er sich zum Nulltarif gewünscht hätte, liegt aber höher als die Menge L, die er produziert hätte, wenn er zum (relativ hohen) Preis von k=k’=p das Gut selbst hergestellt hätte. Auch aus der Sicht von B lohnt sich das Geschäft. Denn er kann jetzt über eine höhere Menge des Kollektivgutes, nämlich R > M, verfügen. Und dies ist für ihn interessant, Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang · 65 <?page no="83"?> wenn und weil A für jede zusätzliche Einheit die Kompensation V entrichtet, also an B den in der Fläche MRHV dargestellten Betrag zahlt. Und diese Fläche ist größer als die Fläche MRV, welche die gesamte Einbuße an Nettonutzen darstellt, die B dadurch entstanden ist, dass er mehr als sein ursprüngliches Optimum M produziert. Es ist sinnvoll, an dieser Stelle noch einmal an unser Ausgangsproblem zu erinnern. Es ging darum, Kollektivgüter zu erstellen und ihre Finanzierung zu sichern, ohne dass Einzelne zum Opfer von Zwang werden, sei es in Form von privater Gewalt oder von kollektiver Herrschaft. Dies ist hier erreicht.Wohl werden im Modell Kollektivgüter bereitgestellt, doch gibt es keine Kollektiventscheide, also gibt es auch keinen kollektiven Zwang.Auch sind alle im Modell vorkommenden Handlungen - sei es von A oder von B - nicht abhängig von der Gewaltausübung des Einen über den Anderen. Es werden demnach Kollektivgüter unter allseitiger Wahrung der individuellen Freiheit erstellt und finanziert. 3.2 Erweiterung des Modells Das Modell von Buchanan scheint also zu einigem Optimismus zu berechtigen. Wir werden gleich sehen, dass wir gut beraten sind, diesen Optimismus nicht überborden zu lassen. Denn es sind Einschränkungen zu machen. Auf eine erste Spur zu solchen Einschränkungen führt uns die nunmehr vorzunehmende Erweiterung des Modells. Die Prämissenänderung, die wir vornehmen, ist geringfügig und sieht auf Anhieb recht harmlos aus. Es wird sich aber zeigen, dass sie in ihren Folgerungen keineswegs bedeutungslos ist. Die Erweiterung besteht darin, dass eines der beiden Gesellschaftsmitglieder - in Abbildung 6 das Individuum A - bezüglich des Kollektivgutes nicht nur einen abnehmenden Grenznutzen hat, sondern jenseits eines bestimmten Sättigungspunktes - in unserer Abbildung L - einen steigenden negativen Grenznutzen, ein steigendes Grenzleid erfährt. 66 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch Abbildung 6 <?page no="84"?> Entscheidet sich nun wiederum B, seinem Optimierungskalkül entsprechend, im Alleingang soviel von dem Kollektivgut zu erstellen, dass seine Grenzkosten gleich seinem Grenznutzen sind, so wird die Menge M produziert.Wegen der Nichtgeltung des Ausschlussprinzips steht auch diesmal diese Menge nicht nur dem Individuum B, sondern auch dem Individuum A zur Verfügung; nur dass jetzt diese Menge für A keinen Segen, sondern einen Fluch darstellt. Sie trägt marginal nicht zu seiner Wohlfahrt bei, sondern bewirkt eine marginale Wohlfahrtseinbuße in Höhe von V. Ein Beispiel: Bei dem Kollektivgut handle es sich um die Begrünung einer für alle Gesellschaftsmitglieder unentgeltlich zugänglichen Anlage. Beide - A und B - sind an einer solchen Begrünung interessiert, jedoch B etwas mehr als A.Wenn die Bepflanzung ein gewisses Maß L überschreitet, leidet A zudem an einem mit zunehmender Begrünung immer lästiger werdenden Heuschnupfen. So sind bei der von B bereitgestellten Begrünung M die Augen von A rot angelaufen, die Nase trieft, auch leidet A an akuter Atemnot. Es ist nicht zu erwarten, dass A in dieser Situation ein Interesse daran hat, dass B über den Punkt M hinaus das Kollektivgut produziert, also die Grünanlage weiter ausschmückt. Im Gegenteil hat A ein Interesse daran, dass seine Leiden verschwinden, jedenfalls gemindert werden. Was aber konkret heißt, dass die Menge des bereitgestellten Kollektivgutes gesenkt werden muss, also B weniger als die Menge M produziert. Nun entspricht diese Menge aber dessen Optimum. Es ist also nicht zu erwarten, dass B ohne weiteres hierzu bereit ist. Durch das Unterschreiten der Menge M würde ihm ein Wohlfahrtsverlust, ein Schaden entstehen. Analog zu oben stellen sich hier zwei Fragen: - Welches ist die Höhe dieses Schadens, also auch: Welche Höhe müssten jene Kompensationszahlungen haben, die B zur Reduktion seiner Produktionsmenge veranlassen könnten? - Ist A bereit, Entschädigungszahlungen an B zu entrichten, damit dieser die Produktion des Kollektivgutes reduziert? Wenn ja, in welcher Höhe? Zur ersten Frage: Produziert B weniger als die Menge M, so übersteigt sein Grenznutzen die Grenzkosten. Bei jeder kleineren Menge als M entgeht B also der die Kosten übersteigende Nutzen. Je weiter die produzierte Menge unter die Optimalmenge M sinkt, desto größer wird marginal die Differenz zwischen Kosten und Nutzen.Wenn B sich also auch bei einer kleineren Produktionsmenge als M in einem Optimum befinden soll, so muss ihm der so entstandene Nutzenentgang ersetzt werden. Dies kann in unserem Modell nur durch Kompensationszahlungen von A an B in Höhe des (mit kleineren Mengen marginal steigenden) Nettonutzenentgangs geschehen. Die von A an B zu zahlenden Kompensationszahlungen stellen für A Kosten, genauer: Grenzkosten dar. Er wird dann und solange bereit sein, diese Kosten zu tragen, wie sie das Grenzleid, d.h. den negativen Grenznutzen nicht übersteigen, der ihm ab Menge L aus dem Kollektivgut erwächst. In unserer Abbildung 6 lohnt es sich für A demnach bis zum Punkt R, durch Kompensationszahlungen den B zur Reduzierung der Kollektivgutproduktion zu veranlassen. Es braucht keines eigenen Nachweises, dass die hier vorgestellte Argumentation auch dann gilt, wenn der negative Grenznutzen des A Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang · 67 <?page no="85"?> nicht erst ab Punkt L, sondern schon ab Punkt O einsetzt, also schon die erste Einheit des Kollektivgutes bei A ein Grenzleid verursacht. Auf den ersten Blick mag es nun scheinen, dass wir auch hier - wie in dem eingangs genannten Beispiel, in dem die beiden Gesellschaftsmitglieder nur positive Grenznutzen aus dem Kollektivgut ziehen - eine problemlos gute Lösung haben. Schließlich gibt es in dem Modell explizit weder privaten noch kollektiven Zwang, sondern nur allseitige Freiwilligkeit. Und doch: (Hoffentlich) hat hier der Leser ein ungutes Gefühl. Ist dies der Fall, so lässt sich der Grund für dieses Unbehagen leicht identifizieren. Und zwar so: B trifft eine Produktionsentscheidung und beeinträchtigt die Wohlfahrt des A. B verursacht also externe Kosten, wobei B der Schädiger und A der Geschädigte ist. Unser Argument läuft nun darauf hinaus, dass der Geschädigte den Schädiger dafür bezahlt, dass er ihn hinfort nicht mehr gar so arg schädigt. Das ungute Gefühl ist demnach darauf zurückzuführen, dass das Verursacherprinzip verletzt wird. Wir werden weiter unten sehen, dass dieses ungute Gefühl seinen Grund zwar in der Verletzung des Verursacherprinzips hat und trotzdem nicht begründet sein muss. Dies deshalb, weil die Anwendung des Verursacherprinzips selbst nicht immer begründet ist; doch davon später.Vorerst wollen wir an einem der politischen Aktualität entnommenen Beispiel zeigen, dass es durchaus praktische Vorschläge gibt, die dem in Abbildung 6 dargestellten Problem und der dort aufgezeigten Lösung entsprechen. Auch wollen wir uns vor Augen führen, wie eine dem Verursacherprinzip entsprechende Lösung des Problems negativer Externalitäten aussieht. Unser Beispiel, das der in Abbildung 6 dargestellten Situation entspricht, ist der von einem bundesrepublikanischen Ministerpräsidenten in die Diskussion eingebrachte „Wasserpfennig“. Das Ausgangsproblem ist Folgendes: Die Bauern (B) düngen zwecks hoher Ernteerträge und hoher Einkommen ihre Felder. Die Düngemittel geraten ins Grundwasser und von dort in die zu den Haushalten führenden Wasserleitungen. Die durch die Düngung in das Wasser gelangten Nitrate werden von den Wasserkonsumenten (A) aufgenommen und verwandeln sich in deren Organismus zu dem wahrscheinlich krebsverursachenden Nitrit. In dürren Worten: Das Wohlfahrtsstreben der Bauern führt - unter der wohl plausiblen Voraussetzung, dass das gestiegene Risiko des Krebstodes wohlfahrtsmindernd ist - zu einer Wohlfahrtseinbuße der Wasserkonsumenten. Der Vorschlag des Wasserpfennigs geht nun dahin, dass die Landwirte veranlasst werden, weniger zu düngen. Die ihnen dadurch entstehenden Ernteausfälle und Einkommensverluste sollen durch Entschädigungen ausgeglichen werden. Die Mittel für diese Kompensationen sollen dadurch aufgebracht werden, dass der Preis für das (nunmehr qualitativ bessere) Wasser erhöht wird. Der Staat soll bei dieser Transaktion lediglich als Vermittlungsstelle auftreten. Im Idealfall soll dabei den Landwirten gerade der ihnen entstehende Nettonutzenentgang ersetzt werden. Die Wassertrinker sollen dabei nur soviel durch einen höheren Wasserpreis belastet werden, wie ihnen dies mit Blick auf das verminderte Krebsrisiko wert ist. In Abbildung 6: Es soll Punkt R erreicht werden. Das Verursacherprinzip wird hier also auf das Gröbste verletzt. Denn jene, die an Leib und Leben gefährdet werden, sollen jene, die sie tödlich bedrohen, bezahlen. Unwillkürlich denkt man an Schutzgelder, wie sie die Mafia eintreibt.Wir werden sehen, 68 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch <?page no="86"?> dass diese Gedankenassoziation durchaus berechtigt sein kann, aber keineswegs berechtigt sein muss. Vorerst aber wollen wir sehen, wie eine dem Verursacherprinzip entsprechende Verhandlungslösung zwischen A und B aussieht. Die Ausgangslage, die wir in Abbildung 7 wiedergeben, entspricht jener, die unserer Abbildung 6 zugrunde lag. Auch hier verursacht B durch seine Entscheidung, die Menge M zu produzieren, bei A negative Grenznutzen in Höhe von V. Nur soll diesmal nicht A den B durch Kompensationszahlungen veranlassen, weniger zu produzieren. Vielmehr soll B nach Maßgabe des bei A verursachten Schadens an diesen Entschädigungen zahlen. Er soll also nur dann das Recht haben, die externe Kosten verursachende Produktion zu betreiben, wenn sich A mit Blick auf die Entschädigung damit einverstanden erklärt hat. Es ist demnach als Erstes nach dem Schaden zu fragen. Die Abbildung 7 zeigt, dass bis L dem A kein Grenzleid erwächst, dass aber darüber hinaus ein mit steigender Produktionsmenge gleichfalls wachsender negativer Grenznutzen entsteht. Wenn B diesen durch Zahlungen ausgleichen soll, so entstehen B mit steigender Menge anwachsende Grenzkosten. Diese durch Kompensationszahlungen entstehenden Grenzkosten erhöhen demnach die marginalen Produktionskosten k’. Die Kurve WT gibt die aus den marginalen Produktionskosten und den marginalen Entschädigungskosten zusammengesetzten gesamten Grenzkosten des B wieder. Da so für ihn die Grenzkosten im Vergleich zur Ausgangssituation höher sind, ist es für ihn sinnvoll, die Produktion von M auf R zurückzufahren. Wir haben hier also gleichfalls eine Verhandlungslösung. In diesem Fall jedoch zahlt im Ergebnis nicht der Geschädigte an den Schädiger, damit dieser die Produktion, also auch die Verursachung externer Kosten senkt. Im Gegenteil zahlt hier der Schädiger an den Geschädigten nach Maßgabe der negativen Externalitäten, die er diesem verursacht. Es gilt das Verursacherprinzip. Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang · 69 Abbildung 7 <?page no="87"?> Im Vergleich zeigen die beiden Lösungen nun etwas Überraschendes: Ob A an B oder ob B an A Zahlungen leistet, das Allokationsergebnis ist das gleiche. Im Ergebnis einigen sich die beiden auf die gleiche Produktionsmenge R. Bezüglich der Allokationseffizienz ist es demnach in einem ersten Ansatz gleichgültig, ob das Verursacherprinzip respektiert oder verletzt wird. Entscheidend ist nur, dass eine Verhandlungslösung zustandekommt und dass die hierfür nötigen Verhandlungen nicht durch Transaktionskosten behindert oder gar verhindert werden.Wir begegnen hier dem Coase-Theorem. Allerdings: Mag auch das Allokationsergebnis das gleiche sein, so ist es unter distributionspolitischem Gesichtspunkt doch keineswegs gleichgültig, ob als Ergebnis der Vereinbarung A an B oder B an A zahlt. Das Pro und Contra des Verursacherprinzips ist demnach primär ein distributionspolitischer Streit, nicht aber ein allokationspolitisches Problem. Wer also bei der Verletzung des Verursacherprinzips ein schlechtes Gefühl hat und belegen will, dass dies berechtigt ist, der muss zeigen, dass die Anwendung des Verursacherprinzips distributionspolitisch geboten ist. Nun sagten wir oben, dass ein solcher Nachweis durchaus möglich sein kann, aber keineswegs möglich sein muss. Die Frage ist also, wovon dies abhängt. Konkret: Wann kann im Zusammenhang mit dem Wasserpfennig von mafiosem Verhalten der Landwirte gesprochen werden? Die Antwort ist verblüffend einfach: Sie hängt von der Verteilung der Eigentums- und Handlungsrechte ab.Wenn nämlich diese Rechte bei B liegen, so tut dieser - indem er das Kollektivgut seinen Optimalvorstellungen entsprechend produziert - lediglich das, wozu er berechtigt ist.Wohl beeinträchtigt er auch jetzt die Wohlfahrt des A. Doch nimmt er dem A nur weg, auf was dieser keinen berechtigten Anspruch hat. Ist dem aber so, dann gibt es auch keinen Grund, warum B den A nach Maßgabe von externen Kosten entschädigen soll. Hingegen kann und muss dann von A erwartet werden, dass er B entschädigt, wenn dieser ein Tun unterlassen soll, zu dem er berechtigt ist.Wenn also das Grundwasser den Landwirten, nicht aber den Wassertrinkern „gehört“, dann müssen diese jene dafür entschädigen, wenn und damit das Grundwasser nicht als Vorfluter für Düngemittel benutzt werden soll. Umgekehrt ist es, wenn die Eigentums- und Handlungsrechte beim Geschädigten A liegen. In diesem Fall wird A durch das Handeln von B nicht nur in seiner Wohlfahrt beeinträchtigt, sondern er wird in einer Wohlfahrt beeinträchtigt, auf die er ein Anrecht hat. Jetzt muss der Schädiger den Geschädigten kompensieren. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Anwendung des Verursacherprinzips berechtigt und notwendig ist, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: - Es müssen negative Externalitäten vorliegen. - Diese negativen Externalitäten müssen Eigentums- und Handlungsrechte des Geschädigten tangieren. Wenn unter diesen beiden Bedingungen das Verursacherprinzip nicht angewandt wird, sondern der Geschädigte an den Schädiger zahlen soll, kann man mit Fug und Recht von mafiosen Machenschaften reden. In der Tat: Es ist geradezu das Charakteristikum mafioser Umtriebe, dass die Täter von den Opfern „Schutzgelder“ verlangen für das Unterlassen von die Opfer schädigenden Handlungen, zu denen die Täter kein Recht haben. 70 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch <?page no="88"?> Nun mag aber der Fall vorliegen, dass sich A und B, der Geschädigte und der Schädiger, über die Zuordnung der Eigentums- und Handlungsrechte entweder nicht im Klaren und/ oder uneins sind: Wer hat nun wem gegenüber welche Rechte? Wenn eine eigentumsrechtliche Ordnung existiert, so besteht die Möglichkeit, von den zuständigen Instanzen die Frage klären und den Streitpunkt entscheiden zu lassen. Es ist aber auch der Fall denkbar, dass keine eigentumsrechtliche Ordnung existiert, d.h. die Eigentums- und Handlungsrechte nicht definiert und/ oder nicht zugewiesen und/ oder nicht durchsetzbar sind. In dieser Situation kann weder A noch B, weder der Geschädigte noch der Schädiger Eigentums- und Handlungsrechte geltend machen. Entsprechend kann die Bezugnahme auf eine gesetzliche Absicherung solcher Rechte nicht dazu herangezogen werden, die Anwendung des Verursacherprinzips oder seines Gegenteils zu begründen. Es bleibt dann nur die Hoffnung, dass sich A und B - ehe sie denn in irgendwelche Verhandlungen über die Entrichtung von Kompensationszahlungen eintreten - über eine Eigentumsordnung verständigen. Sie einigen sich dabei über die Definition und die Zuteilung von Eigentums- und Handlungsrechten sowie über die Einrichtung von Instanzen zur Verteidigung der so definierten und zugewiesenen Rechte. Es bleibt also nur die Hoffnung, dass sie den Sachdissens bis zu dem Zeitpunkt zurückdrängen, an dem sie zu einem Ordnungskonsens gefunden haben. Diese Hoffnung geht nur dann in Erfüllung, wenn es den beiden - A und B - gelingt, trotz des Konfliktes, den sie wegen der Zuteilung der Eigentumsrechte haben, eine Kooperationsbeziehung mit dem Ziel der Schaffung einer Eigentumsordnung aufzubauen. Dies ist zugegebenermaßen ein paradoxes Unterfangen; doch ist es nicht a priori aussichtslos. Mit der Unterstützung eines Mediators kann es unter bestimmten Bedingungen durchaus gelingen, durch Kooperation den Verteilungskonflikt auf eine Art auszutragen, die für beide Konfliktparteien wohlfahrtsfördernd bzw. weniger wohlfahrtsschädlich ist, als dies ohne die Vermittlung eines Mediators möglich gewesen wäre. Wenn aber diese Bedingungen nicht gegeben sind, also die Gesellschaftsmitglieder nicht in der Lage sind, sich auf eine von allen akzeptierte Zuteilung der Eigentumsrechte zu einigen, wenn darüber hinaus von außen eine solche Ordnung nicht der Gesellschaft (mehr oder weniger) aufgezwungen wird - Stichwort: Besatzungs- und Kolonialrecht -, dann muss erwartet werden: Die Frage, ob der Schädiger an den Geschädigten oder aber der Geschädigte an den Schädiger zahlen muss, wird nur nach Maßgabe der Machtverhältnisse möglicherweise in einer gewalttätigen Konfrontation entschieden. Wo nicht die Stärke des Gesetzes gilt, gilt das Gesetz der Stärke. Wo die Majestät des Gesetzes fehlt, triumphiert die Brutalität der Gewalt. 3.3 Kritik des Modells Spätestens an dieser Stelle wird der Leser auf folgenden Kritikpunkt aufmerksam machen wollen. Die obigen Ausführungen sind von sehr einfachen Prämissen ausgegangen: Insbesondere wurde unterstellt, dass die Gesellschaft aus nur zwei Mitgliedern besteht. Da dies eine wirklichkeitsferne Annahme ist, muss man sie fallenlassen. Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang · 71 <?page no="89"?> Nun kann es für lediglich zwei Akteure relativ leicht und einfach sein, miteinander in Verhandlungen zu treten. Schwieriger wird es, wenn die Zahl jener Individuen wächst, von denen - laut Modell - jeder mit jedem verhandeln soll. Mit steigender Zahl der Gesellschaftsmitglieder steigen die Transaktionskosten rapide an. Sie erreichen wohl schon bei einer relativ niedrigen Zahl von Gesellschaftsmitgliedern eine prohibitive Höhe. Es wird also zu teuer, wenn jedes Gesellschaftsmitglied mit jedem Gesellschaftsmitglied solange verhandelt, bis sich alle in einer allseits freiwilligen Vereinbarung über die Menge der zu produzierenden Kollektivgüter und die Verteilung der Kosten geeinigt haben. Ist dies aber der Fall, dann mag man der Logik des Buchananschen Modells zwar zustimmen können, doch wird man trotzdem seine Relevanz für die Praxis in Abrede stellen wollen. Die Logik des Modells ist demnach zwar stimmig, jedoch verhindern realistische Annahmen in Gestalt größerer Mitgliederzahlen mit im Zweifel daraus resultierenden prohibitiv hohen Transaktionskosten, dass diese Logik in der Praxis zur Anwendung kommen kann. Man mag also argumentieren, dass das Buchanansche Modell trotz seiner theoretischen Richtigkeit für die Praxis unwichtig ist, da man also von ihm in der konkreten Situation keinen Beitrag zur Reduzierung des kollektiven Zwanges bei der Bereitstellung von Kollektivgütern erwarten kann. Der Tatbestand, auf den dieser Einwand abstellt, ist richtig. Denn bei einer größeren Anzahl von Gesellschaftsmitgliedern erreichen die mit den Verhandlungen in praxi verbundenen Transaktionskosten schnell prohibitive Höhen.Trotzdem ist die kritische Folgerung, nämlich dass das Buchanansche Modell ohne Relevanz für die Praxis sei, zu weitreichend.Wir wollen sehen, warum das so ist. In den bisherigen Ausführungen standen A und B für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder, also für Individualakteure. Von diesen gibt es in der Tat in der Gesellschaft eine große Anzahl. Nun kann man sich aber nicht nur vorstellen, man kann auch in der Wirklichkeit beobachten, dass sich diese Individualakteure in Verbänden zur Verteidigung ihrer Interessen zusammenschließen. Sie bilden „pressure groups“, deren Zweck es u.a. ist, Einfluss auf die Politik zu nehmen, d.h., die Art und Menge der zu produzierenden Kollektivgüter und die Verteilung der Finanzierungslasten im Sinne ihrer Mitglieder zu beeinflussen. Mögen diese Interessenverbände im Innern auch aus Individualakteuren bestehen, so treten sie nach außen doch als Kollektivakteure auf. Weil und wenn die Zahl der für die staatliche Politik bedeutsamen Kollektivakteure gering ist, können diese untereinander entsprechend der Buchananschen Logik interagieren, jeder mit jedem verhandeln und so zu derart ausbalancierten Ergebnissen gelangen, dass jeder der Kollektivakteure den entsprechenden Vereinbarungen freiwillig zustimmen kann. Es trifft gewiss zu, dass das Gewicht der Verbände in der Politikgestaltung der einzelnen Staaten unterschiedlich groß ist. So mögen einzelne Staaten mehr als andere Verbändedemokratien sein. Jene Staaten allerdings, in denen der Einfluss der Verbände im Vergleich zur Bedeutung der Stimmabgabe durch die Wähler groß ist, folgen eher der Buchananschen Logik. So ist die Politik in Staaten wie etwa der Schweiz, Österreich und Luxemburg mehr als in der Bundesrepublik dadurch gekennzeichnet, dass sie in ihren Entscheiden das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Kollektivakteuren, also 72 · Kapitel II: Kollektiver Zwang und individueller Freiheitsanspruch <?page no="90"?> Interessengruppen, Verbänden, Gewerkschaften usw. ist. Es ist dann wohl auch kein Zufall, dass gerade in diesen Staaten der - man muss es schon so ausdrücken - Kult des „guten Einvernehmens“, die Konfliktscheu im öffentlichen Gebaren besonders ausgeprägt sind. Sie sind der Reflex der weitgehenden Freiwilligkeit der Vereinbarungen zwischen den Kollektivakteuren.Auch und besonders wenn dieser Eindruck stimmt, ist eine einschränkende Präzisierung angebracht. Das „gute Einvernehmen“, von dem die Rede ist, besteht vorerst zwischen den Kollektivakteuren. Es ist damit noch nicht gesagt, und es steht auch nicht a priori fest, dass diese Harmonie, dieses Fehlen von Zwang auch zwischen den Individualakteuren festzustellen ist. Es ist nämlich durchaus möglich, dass trotz der freiwilligen Vereinbarungen zwischen den Kollektivakteuren innerhalb dieser Kollektive Entscheidungen getroffen werden, bei denen eine mehr oder weniger große Anzahl von Verbandsmitgliedern überstimmt werden und damit - wenigstens, solange sie Mitglieder sind und bleiben - im Dienste ihnen fremder Zwecke instrumentalisiert, also Zwang unterworfen werden. Ist dies der Fall, dann bedeutet die Verlagerung der politischen Willensbildung aus den Wahlkabinen für Individualakteure in die Konferenzräume für Kollektivakteure, dass das Problem des Zwangs weitgehend aus der politischen Arena des Staates in die Verbände selbst verlagert wird. Was ein staatspolitisches Problem war, wird - wenigstens zum Teil - ein Problem innerverbandlicher Demokratie. Es ist denn auch typisch für diese Verbände, dass ihr Management häufig alle Mühe hat, die Mitglieder „bei der Stange zu halten“, wenn es darum geht, die in den Verhandlungen zwischen den Kollektivakteuren ausgehandelten Vereinbarungen in die Tat umzusetzen. Doch selbst wenn man annehmen wollte, was man nicht sollte, nämlich dass mit dem Auftreten von Kollektivakteuren der Zwang gegenüber den Individuen nicht nur verlagert, sondern zum Verschwinden gebracht wird, bleibt ein weiteres Problem und damit ein weiteres Gegenargument. Auch wenn die Kollektivakteure allseits freiwillige Vereinbarungen treffen, so sind am Zustandekommen dieser Vereinbarungen doch nur jene Kollektivakteure beteiligt, die überhaupt existieren. Dies ist eine Selbstverständlichkeit, aber doch insofern von Bedeutung, als es individuelle Interessen und Bedürfnisse in der Gesellschaft gibt, zu deren Verteidigung und Durchsetzung keine Verbände, keine „pressure groups“ existieren. In der Tat gibt es - wie wir im Zusammenhang mit Olsons Theorie des kollektiven Handelns noch sehen werden - Interessen, die schwer, vielleicht überhaupt nicht organisierbar, also auch nicht organisiert sind. Die Folge ist, dass diese Interessen und Bedürfnisse in den Buchananschen Verhandlungen unberücksichtigt bleiben. Die Gefahr ist groß, dass jene in Verbänden organisierten Interessen dadurch zu einem Ausgleich kommen, dass wenigstens ein Teil der mit den Vereinbarungen verbundenen Kosten auf die nicht organisierten Interessen abgeschoben wird. So mögen sich die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, vertreten durch ihre jeweiligen Organisationen, auf Kosten der wenig oder überhaupt nicht in Verbänden organisierten Konsumenten und Steuerzahler einigen. Da nun aber die Individualakteure, die einzelnen Gesellschaftsmitglieder, nicht aber die Kollektivakteure der normative Bezugspunkt der staatlichen Politik sind, läuft die schwergewichtige oder gar alleinige Berücksichtigung der organisierten Interessen darauf hinaus, dass die Individualakteure, soweit sie unorganisierte Bedürfnisse haben, der schieren Verbandsmacht zum Opfer fallen. Das bedeutet, Freiwillige Vereinbarungen statt Zwang · 73 <?page no="91"?> dass auch bei formaler Geltung der Stärke des Gesetzes faktisch das Gesetz der Stärke gilt. Dies besonders dann, wenn und in dem Ausmaß, wie die Gesetze des Staates ein Reflex der Verbandsmacht sind. Man möge sich an dieser Stelle an die Hobbessche Darstellung des Naturzustandes erinnern, in dem der Starke über den Schwachen herfällt und befürchten muss, dass ein Stärkerer ihn schlägt, und in dem der Mensch des Menschen Wolf ist. Im Verbändestaat gilt über weite Strecken auch das Gesetz der Stärke, nur dass hier die Wölfe nicht mehr als Einzelne jagen und sich anfallen. Hier jagen die Wölfe in Rudeln, greifen sich untereinander auch schon mal in Rudeln an, jagen und reißen aber wohl auch in Rudeln einzelne Tiere. Weiter unten werden wir das Thema der Interessenorganisation und ihre Bedeutung für die staatliche Willensbildung noch einmal aufgreifen.Wir können es deshalb hier mit diesen Hinweisen genug sein lassen. Vorerst begnügen wir uns mit der Feststellung, dass das Modell Buchanans über freiwillige Vereinbarungen, über den „voluntary exchange“, eine wohl theoretisch elegante, aber in ihrer praktischen Relevanz durchaus begrenzte Lösung für das Problem ist, wie Kollektivgüter ohne kollektiven Zwang erstellt und finanziert werden können. Die Frage ist, ob jenseits der Grenzen dieses Modells schon mit Notwendigkeit das Reich des staatlichen Zwangs anfängt. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass dem nicht so ist, es also weitere Möglichkeiten gibt, Kollektivgüter zu erstellen, ohne die individuelle Freiheit dem staatlichen Zwang zu opfern. Literatur zu Kapitel II Aivazian, V. A., Callen, J. L.: The Coase-Theorem and Transaction Costs: The Core Revisted, Mimeo, University of Toronto 2000. Alchian, A. A., Demsetz, H.: Production, Information Costs, and Economic Organization, American Economic Review 62, 1972. Andreoni, J.: Cooperation in Public Goods Experiments: Kindness or Confusion? ,American Economic Review 85, 1995. Bernholz, P. O.: Property Rights, Contracts, Cyclical Social Preferences, and the Coase Theorem: A Synthesis, European Journal of Political Economy 13, 1997. Buchanan, J. M.: Liberty, Market, and State, New York 1986. Buchanan, J.M.: Explorations into Constitutional Economics, College Station 1989. Coase, R. H.: The Nature of the Firm, Economica 4, 1937. Coase, R. 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Schaltegger, Ch., Küttel, D.: Exit, Voice and Mimicking Behavior: Evidence from Swiss Cantons, Public Choice 113, 2002. Sinn, H. W., Schmoltzi, U.: Eigentumsrechte, Kompensationsregeln und Marktmacht, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 196, 1981. Sugden, R.: Reciprocity: The Supply of Goods Through Voluntary Contributions, Economic Journal 94, 1984. Kontrollfragen zu Kapitel II 1. Kennzeichnen Sie das Spannungsverhältnis zwischen individualistisch-liberalem Engagement und kollektivem Zwang. 2. Erläutern Sie kurz die Aussagen des Modells von Hirschman (Abwanderung und Widerspruch). 3. Nennen Sie je ein Beispiel für jede Kombination von hohen und niedrigen Widerspruchs- und Abwanderungskosten. 4. Erklären Sie die Annahmen, die Analyse und die Aussagen des Modells von Buchanan (Abbildung 5). 5. Wie hoch ist die gesamte an B gezahlte Kompensation? 6. Wie kann man sich eine freiwillige Vereinbarung vorstellen, wenn der Grenznutzen des A ab einer bestimmten Menge (L) negativ wird? (Abbildung 6). 7. Erläutern Sie, warum die in Abbildung 6 vorgestellte Lösung dem Verursacherprinzip widerspricht, und geben Sie ein aktuelles Beispiel. 8. Wie sähe eine dem Verursacherprinzip gerechte Lösung aus? (Abbildung 7). 9. Formulieren sie in kurzen Worten das Coase-Theorem. 10. Diskutieren Sie den distributionspolitischen Aspekt der Zuteilung von Handlungsrechten (Eigentumsrechten). 11. Diskutieren Sie die Gültigkeit des Modells von Buchanan. Kontrollfragen · 75 <?page no="93"?> Kapitel III Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen 1 Jenseits von Markt und freiwilligen Vereinbarungen Wir haben gesehen, dass positive und negative Externalitäten die Voraussetzung jeder Geselligkeit, aber auch die Ursache aller Probleme des gesellschaftlichen Lebens sind. Wir haben auch gesehen, dass die Frage nach den Regeln des Umgangs der Menschen untereinander in einer Welt der knappen Ressourcen im Wesentlichen darin besteht, jene Bedingungen zu identifizieren und jene institutionell-organisatorischen Formen zu finden, unter denen das Externalitätenproblem gelöst werden kann. Es hat sich zudem gezeigt, dass der Markt mit seinem Angebot an und seiner Nachfrage nach privaten Gütern innerhalb der Grenzen seiner Funktionstüchtigkeit hierbei von großer Wichtigkeit ist. Gleichfalls wurde dargelegt, dass der dem Marktmodell für private Güter nachgebildete „voluntary exchange“ über die Bereitstellung und die Finanzierung von Kollektivgütern im Rahmen der Grenzen seiner Funktionstüchtigkeit einen Beitrag zur Bewältigung des Externalitätenproblems leistet. Beide - das Modell des Marktes und jenes der freiwilligen Vereinbarung - genießen die besondere Aufmerksamkeit und die besondere Sympathie der liberal-individualistischen Gesellschaftstheoretiker. Mit gutem Grund, denn beiden ist - trotz aller sonstigen Unterschiede - gemeinsam, dass das einzelne Individuum die alleinige Kontrolle darüber behält, wie es über seine Ressourcen verfügt bzw. welche seiner Bedürfnisse es in welchem Umfang befriedigt. Es ist und bleibt dem Einzelnen vorbehalten zu entscheiden, ob und zu welchen Bedingungen er mit einem anderen Vereinbarungen über den Kauf oder den Verkauf von privaten Gütern abschließt oder nicht. Es bleibt dem Einzelnen ebenfalls überlassen, ob und zu welchen Bedingungen er sich mit einem Anderen darüber einigt, dass privateigentumsrechtlich nicht appropriierbare, also „collective goods“ hergestellt werden bzw. „collective bads“ unterlassen werden. In beiden Modellen bleibt die individuelle Freiheit unangetastet, der Einzelne wird nicht im Dienste ihm fremder Zwecke instrumentalisiert. Der Einzelne ist und bleibt hier der Herr jeder einzelnen seiner Handlungen und Unterlassungen; er entscheidet, ob, gegenüber wem und zu welchen Bedingungen er Verpflichtungen eingeht. Auch ist es ihm überlassen, ob und mit welchem Nachdruck er darüber wacht, dass sein Vertragspartner seinen Verpflichtungen ihm gegenüber nachkommt. Es wäre aus liberal-individualistischer Perspektive bequem und beruhigend, wenn damit das Problem der Externalitäten in seiner Bedeutung für den Umgang der Menschen mit den knappen Ressourcen und für ihren Verkehr untereinander vollumfänglich gelöst wäre. Dies ist nicht der Fall, denn der Funktionstüchtigkeit des Marktes und des „voluntary exchange“ sind Grenzen gesetzt. 76 <?page no="94"?> Die Grenzen des Marktes sind anderweitig hinlänglich erörtert worden, so dass sich an dieser Stelle weitere Darlegungen zu diesem Punkt erübrigen. Was den „voluntary exchange“ betrifft, wie wir ihn mit Buchanan kennengelernt haben, sind einige weiterführende Überlegungen notwendig. Dabei wollen wir nicht in erster Linie auf die Tatsache abstellen, dass freiwillige Vereinbarungen, selbst wenn sie allokationseffiziente Ergebnisse bewirken, problematisch sein können, weil sie die Ausgangsverteilung der Kontrollrechte als gerecht oder auch nur als gegeben unterstellen. Hier geht es vielmehr um den Tatbestand, dass mit der Zahl der in freiwilligen Vereinbarungen zusammenzuführenden Akteure die Transaktionskosten rapide steigen. Dies mit der Folge, dass so die ansonsten wünschenswerten Übereinkünfte über die Bereitstellung von „collective goods“ bzw. über die Unterlassung von „collective bads“ und die Verteilung der dadurch anfallenden Kosten unterbleiben. Fragt man, warum die große Zahl der Akteure im Fall des „voluntary exchange“, nicht aber im Fall des Marktes zu Problemen führen, so stößt man auf die simple Tatsache, dass es sich dort um Kollektivgüter, hier aber um Privatgüter handelt.Auf dem wettbewerblich organisierten Markt betrifft nämlich eine Übereinkunft zwischen einem einzelnen Anbieter und einem einzelnen Nachfrager fühlbar nur diese beiden, nicht aber auch andere. Außerdem ist das individuelle Verhalten dieser anderen für den Ausgang des Geschäftes zwischen Anbieter und Nachfrager für diese ohne fühlbare Folgen. Entsprechend müssen diese anderen als Einzelne in der Übereinkunft zwischen Anbieter und Nachfrager auch nicht berücksichtigt werden, insbesondere müssen sie in diese Übereinkunft nicht einbezogen und eingebunden werden. Anders ist es im Fall des „voluntary exchange“. Hier handelt es sich um die Bereitstellung (Vermeidung) von „collective goods“ („collective bads“) und die Verteilung der dabei anfallenden Kosten. Dies aber heißt, dass dann, wenn zwei Akteure eine diesbezügliche Vereinbarung getroffen haben, andere Gesellschaftsmitglieder von dieser Vereinbarung profitieren können, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Das Ausschlussprinzip gilt nicht; entsprechend ist mit Trittbrettfahrerverhalten zu rechnen. Für die beiden Vertragspartner bedeutet dies, dass sie - in dieser oder jener Aufteilung - die gesamten Kosten der Vereinbarung zu tragen haben, jedoch ein Teil der daraus resultierenden Nutzen als positive Externalitäten vorerst bei Dritten anfällt. Sind diese Externalitäten im Vergleich zu den bei den beiden Vertragspartnern anfallenden Nutzen sehr klein, so mögen die beiden sie vernachlässigen und trotz des parasitären Verhaltens Dritter einen Abschluss tätigen. Hingegen wird es dann nicht zu einer Vereinbarung zwischen zwei Akteuren kommen, wenn die bei ihnen anfallenden Nutzen geringer sind als die von ihnen zu tragenden Kosten; und/ oder wenn einer oder beide Akteure hoffen, dass der jeweils andere mit dem vormals abseitsstehenden Dritten eine Vereinbarung schließt und er nun selbst die Rolle des lachenden Dritten übernehmen kann. So mögen drei Akteure A, B und C an der Bereitstellung eines Kollektivgutes bzw. an der Vermeidung eines „collective bad“ interessiert sein. Doch werden im Zweifel weder A noch B noch C bereit und fähig sein, jeweils im Alleingang das Gut herzustellen. Auch mag sich weder A mit B einigen, wenn und weil sich C als free-rider verhält, noch mögen B und C mit Blick auf das Trittbrettfahrerverhalten von A einen Vertrag Jenseits von Markt und freiwilligen Vereinbarungen · 77 <?page no="95"?> schließen, noch mögen A und C wegen des lachenden Dritten B eine freiwillige Übereinkunft treffen. Sollen sich demnach zwei Akteure in freiwilligen Vereinbarungen über die Bereitstellung und die Finanzierung von Kollektivgütern einigen, so ist es nötig zu verhindern, dass ein anderer als lachender Dritter von der Vereinbarung gratis profitiert, und dass einer der beiden erstgenannten Akteure selbst der Versuchung erliegt, die Rolle des lachenden Dritten zu übernehmen. Konkret heißt dies: A und B werden sich nur einigen, wenn sichergestellt ist, dass B und C sowie A und C sich einigen, was ihrerseits nur zu erwarten ist, wenn sich A und B verständigen. Die mit dem Auf- und Ausbau eines solchen Systems beidseitiger Vereinbarungen verbundenen Transaktionskosten mögen bei einer kleinen Zahl von Akteuren noch keine prohibitiven Höhen erreichen. So ist es wahrscheinlich, dass in kleinen informellen Gruppen die „Gruppenleistung“ die Resultante eines solchen Systems simultaner wechselseitiger Übereinkünfte zwischen je zwei Mitgliedern ist. Es ist aber offenkundig, dass dann, wenn die Zahl der Mitglieder steigt, die Transaktionskosten den Aufbau eines solchen Systems zweiseitiger Übereinkünfte und damit die Bereitstellung und Finanzierung von Kollektivgütern behindern oder gar verhindern. Mit anderen Worten: Mit steigender Zahl der potenziellen Trittbrettfahrer wird es für den Einzelnen aufwendig zu prüfen und zu entscheiden, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen er eine Vereinbarung über die Produktion und die Finanzierung eines Kollektivgutes trifft. Auch wird es für ihn mit steigender Zahl der Vertragspartner teuer, deren Vertragstreue zu kontrollieren und notfalls zu erzwingen. Dabei ist es entscheidend, dass ein Einzelner im Fall von Kollektivgütern nur dann mit einem anderen einen Vertrag schließen kann, wenn er im Prinzip mit allen potenziellen Trittbrettfahrern auch einen Vertrag aushandelt und schließt, wenn er darüber hinaus die Einhaltung im Prinzip aller so geschlossenen Verträge kontrolliert und durchsetzt. Die Frage ist: Was kann und soll in dieser Situation geschehen? Man macht sich das Problem zweckmäßigerweise an einem einfachen Beispiel klar. Es geht um die Instandhaltung einer kleinen Grünfläche zwischen den drei Einfamilienhäusern von A, B und C. Man kann erwarten, dass auch ohne Kollektiventscheidung, d.h. allein auf der Grundlage von zweiseitigen Übereinkünften zwischen A und B, B und C sowie A und C das Gärtchen in Ordnung gehalten wird. So mag A sich mit B einigen, weil dieser - wie er sagt - „schon mit C gesprochen hat“, und C mag sich mit B eingelassen haben, weil dieser „noch mit A sprechen wird“ usw. Dies entspricht offenkundig der eben angesprochenen kleinen Gruppe mit den geringen Transaktionskosten. Anders verhält es sich mit der Sauberkeit des Alexanderplatzes in der Großstadt Berlin. Auch wenn man davon ausgeht, dass jeder Passant ein Interesse an der Sauberkeit des Platzes hat, muss man annehmen, dass kein Einzelner im Alleingang den Platz sauber hält. Gleichfalls ist angesichts der Vielzahl der Passanten nicht damit zu rechnen, dass sich zwei Passanten wechselseitig zur Sauberhaltung des Platzes und einer Verteilung der dabei anfallenden Kosten verpflichten. Schließlich ist auch nicht zu erwarten, dass alle Passanten untereinander in Verhandlungen darüber eintreten, wieviel sie als Einzelne jeweils zu zahlen bereit sind, wenn sie das Bonbonpapier, die Zigarettenschachtel bzw. das Papiertaschentuch, das sie gerade in der Hand halten, nicht auf den Boden werfen. 78 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="96"?> Also: Was kann und was soll geschehen? Anders formuliert: Wie kommt es, dass nicht alle Plätze dieser Welt völlig verschmutzt sind? Es gibt eine mehrfache Antwort auf diese Frage: - Wer Abfall auf den Boden wirft, riskiert, von einem Polizisten gestellt und bestraft zu werden. So hat jemand, der in Singapur auf die Straße spuckt - Chinesen tun dies gern und viel -, eine sehr hohe Geldstrafe zu zahlen. Das Gesetz sagt: „Das ist verboten! “ - Wer Abfall auf den Boden wirft, läuft Gefahr, von einem gerade vorbeikommenden Passanten auf eine für ihn selbst unangenehme Art zur Ordnung gerufen zu werden. So sind einzelne Länder - zu Recht oder zu Unrecht - dafür bekannt und berüchtigt, dass ihre Einwohner sich gegenseitig überwachen und „erziehen“, während für andere Länder als charakteristisch gilt, dass ihre Bewohner in einem Verhältnis des Leben und Lebenlassens zueinander stehen. So mag man fragen: Liegt es nur an der kommunalen Straßenreinigung, dass die Straßen in der Schweiz gemeinhin sauberer sind als jene in Italien? Oder liegt es vielleicht daran, dass die Schweizer sich gegenseitig ermahnen: „Das tut man nicht! “ Liegt es daran, dass in der Schweiz die soziale Kontrolle gut funktioniert? - Wer Abfall auf den Boden wirft, läuft Gefahr, mit sich selbst in Konflikt zu geraten: • Entweder hört er eine innere Stimme, die ihm vorwirft: „Du hast schlecht gehandelt.“ Er hat Gewissensbisse. • Oder er muss sich selbst sagen: „Das tue ich nicht! “ Er hat gegen eigene Prinzipien verstoßen. Die gesetzliche Überwachung, die soziale Kontrolle und die intraindividuelle Kontrolle sind auf den ersten Blick sehr verschieden voneinander. Bei näherem Zusehen zeigt sich aber, dass sie trotz aller Unterschiedlichkeit einiges gemeinsam haben. Von Letzterem soll als Nächstes die Rede sein. Ihnen ist gemeinsam, dass bezüglich einer bestimmten Art von Handlung - in unserem Beispiel: des Verhaltens auf Straßen und Plätzen - der Einzelne nicht frei ist, sondern mehr oder weniger einer Weisungs- und Kontrollbefugnis auf der Basis von Regeln unterworfen ist. Wie sich noch zeigen wird, unterscheiden sich diese Möglichkeiten dadurch, dass im Fall der sozialen Kontrolle und der gesetzlichen Überwachung die Respektierung dieser Regeln durch eine externe Instanz überwacht und durchgesetzt wird; im Fall der intraindividuellen Kontrolle hingegen erfolgt die Ausrichtung des Handelns durch eine interne Instanz. Haben wir es mit Gesetzen zu tun, so ist die Kontrolle und die Durchsetzung in der Regel eigens dazu ermächtigten und eigens hierfür honorierten Instanzen - Polizisten, Staatsanwälten, Richtern, Strafvollzugsbeamten - übertragen; zur wechselseitigen sozialen Kontrolle ist hingegen ein jeder ermächtigt und aufgerufen. Die Gesetze und die der sozialen Kontrolle zugrundeliegenden Normen sollen das Verhalten der Menschen untereinander regeln. Entsprechend gilt: Jener, der diese Kontroll- und Weisungsbefugnis anderer über einen Teil seiner Handlungen in Frage stellen wollte, isoliert sich gesellschaftlich. Er selbst gerät in die Rolle des Asozialen. In der Tat, Jenseits von Markt und freiwilligen Vereinbarungen · 79 <?page no="97"?> mag auch jener, der gegen Normen und Gesetze verstößt, bestraft werden, so wird er doch als Mitglied der Gesellschaft bestraft. Wer hingegen Gesetze und Normen in ihrer Geltung in Frage stellt, wird über den Rand der Gesellschaft hinausgedrängt. Darüber hinaus gilt: Der Protest dessen, der die Geltung von Normen und Gesetzen in Frage stellt, bleibt ohne soziale Resonanz. Dies heißt nicht, dass jemand nicht auf die Änderung von Gesetzen hinarbeiten darf. Es heißt lediglich, dass solange Normen und Gesetze gelten, diese in ihrer Geltung zu akzeptieren sind Dies kann, muss aber nicht für die intraindividuelle Kontrolle zutreffen. Diese mag wohl auf der Grundlage internalisierter sozialer Normen erfolgen, also dazu dienen, den interindividuellen Umgang in einer Gesellschaft zu regeln; sie mag aber auch dazu dienen, den Umgang einzelner Akteure mit sich selbst zu regeln. Unter den Stichworten des Gewissens und der Prinzipien wird dieser Punkt weiter unten aufgegriffen.Vorerst geht es um die externe Kontrolle, also um soziale Normen und staatliche Gesetze. 2 Soziale Normen und staatliche Gesetze Die soziale Kontrolle und die gesetzliche Überwachung können darauf hinwirken, dass ein ansonsten unterlassenes Verhalten an den Tag gelegt wird, oder aber, dass ein ansonsten praktiziertes Verhalten unterbleibt. Beide können also entweder proskriptiv (d. h. verbietend) oder präskriptiv (d. h. gebietend) sein. Beide können auch mehr oder weniger umfassend; sie können auch mehr oder weniger detailliert bzw. mehr oder weniger allgemein sein. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es zwischen beiden aber auch Unterschiede. Folgende sind aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie von besonderer Bedeutung: - Während die Kriterien, an denen sich die soziale Kontrolle ausrichtet, in einem informellen Interaktionsprozess entstehen, richtet sich die gesetzliche Kontrolle an Vorgaben aus, die in einem formellen Verfahren festgelegt worden sind. Entsprechend kann man davon ausgehen, dass sich die Normen der sozialen Kontrolle allmählich entwickeln und verändern, während gesetzlich fixierte Verbote und Gebote über mehr oder weniger lange Zeitabstände konstant bleiben, dann aber im Zweifel mehr oder weniger weitgehend geändert werden (können). So mag die Steuergesetzgebung oder die Straßenverkehrsordnung von einem Tag zum andern viel oder wenig geändert werden. Man wird aber nicht sagen können, dass von einem Tag zum andern in einer Gesellschaft gilt, dass „man“ kein Bonbonpapier auf die Straße wirft. Dies sollte allerdings nicht übersehen lassen, dass nicht alle Rechtssysteme in formellen Entscheidungsgängen schlagartig geändert werden, sondern durchaus - wie etwa das englische „Common Law“ - einem allmählichen Wandel unterworfen sein können. Es sollte auch nicht übersehen werden, dass soziale Normen sich etwa unter dem Eindruck abrupter Änderungen der Lebensumstände und/ oder unter dem Einfluss gesellschaftlicher Meinungsführer recht unvermittelt wandeln können. Allerdings entwerten diese in der Realität eher als Ausnahmen anzutreffenden 80 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="98"?> Zwischenpositionen nicht die Nützlichkeit der begrifflichen Unterscheidung von zwei Extrempositionen, an deren einem Ende die Gesetze, an deren anderem die gesetzlichen Normen festgemacht sind. - Während die Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und die Bestrafung der Gesetzesverstöße (und gegebenenfalls die Belohnung des Gehorsams gegenüber den Gesetzen) in der Regel eigens hiermit beauftragten Organen, Personen und Institutionen übertragen sind, gilt dies nicht für die Normen der sozialen Kontrolle. Im Extrem sind alle Mitglieder der Gesellschaft nicht nur befugt, sondern auch aufgerufen, über die Einhaltung dieser Normen zu wachen, ihre Verletzung zu ahnden und ihre Respektierung zu belohnen. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen Normen und Gesetzen soll nicht übersehen lassen, dass auch hier Zwischenpositionen möglich sind. So ist jeder Bürger angehalten, eine Straftat anzuzeigen und, wie man aus so manchem Western und Krimi weiß, hat jeder Bürger das Recht, einen in flagranti ertappten Verbrecher festzusetzen. Allerdings ist er - symptomatischerweise - verpflichtet, ihn möglichst schnell den zuständigen Institutionen und Personen zu übergeben.Trotz dieser Zwischenpositionen behält die Feststellung, dass Gesetze im Gegensatz zu Normen der Obhut von „Spezialisten“ anvertraut sind, für analytische Zwecke ihre Nützlichkeit. Mögen Beispiele auch nichts beweisen, so können sie doch einiges illustrieren: Der Einzelne wird es in London vermutlich völlig normal finden, wenn ihn ein Unbekannter darauf hinweist, dass man sich an Bushaltestellen in die Warteschlange einzuordnen hat. Er wäre überrascht, wenn man einen Polizisten herbeirufen würde, damit dieser Ordnung schafft. Umgekehrt findet es wohl jeder normal, dass ein Totschlag von der Polizei verfolgt wird, nicht aber, dass jeder zufällig vorbeikommende Passant aufgerufen und berechtigt ist, dafür zu sorgen, dass „man“ so etwas nicht tut. Die angeführten Beispiele verdeutlichen zum einen, was gesellschaftliche Normen und Gesetze gemeinsam haben und was beide voneinander unterscheidet. Zum anderen verweisen diese Beispiele auch auf die Tatsache, - dass von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Land zu Land verschieden sein kann, was durch Normen und was durch Gesetze geregelt, verboten bzw. geboten ist. In Kontinentaleuropa sorgen gesellschaftliche Normen dafür, dass „man“ gemeinhin nicht um drei Uhr nachmittags in die Dorfkneipe geht. In Großbritannien müssen die Lokale von Gesetzes wegen bis abends geschlossen bleiben. - dass was in einer gegebenen Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt durch Normen (Gesetze) geregelt wurde, zu einem späteren Zeitpunkt durch Gesetze (Normen) geregelt werden kann.Wenn man alten Berichten glauben darf, so begannen und endeten Kneipenraufereien ehedem im Regelrahmen sozialer Normen. Heute greift der Geschäftsführer gemeinhin sofort zum Telefon und ruft die Polizei. Ein Bub, der ehedem in des Nachbars Garten Äpfel klaute, bekam - der sozialen Norm entsprechend - eine hinters Ohr. Ein Junge, der heute im Supermarkt einen Kaugummi mitgehen lässt, riskiert, auf der Polizeiwache zu landen. - dass die Normen und Gesetze in dem Sinne deckungsgleich sein können, dass sie die gleichen Handlungen gebieten bzw. verbieten können. Sie mögen aber auch in Soziale Normen und staatliche Gesetze · 81 <?page no="99"?> dem Sinn divergieren, dass die einen verbieten bzw. gebieten, was die anderen tolerieren oder gar gebieten bzw. verbieten. So mag ehedem gegolten haben, dass der Drogenkonsum gesetzlich verboten und sozial geächtet war, während in jüngerer Vergangenheit das gesetzliche Verbot weitgehend geblieben ist, aber die gesellschaftliche Ächtung des Konsums wenigstens von weichen Drogen an Strenge verloren hat, ja in manchen Kreisen dieser Konsum sozial geboten ist. Die Diskussion um das Problem ging lange auch darum, ob und wieweit das Gesetz der nachsichtigeren Norm folgen bzw. ob und wieweit das Gesetz die Norm wieder „normieren“ solle. Ein anderes Beispiel: Das Gesetz verbietet allenthalben die Steuerhinterziehung; jedoch legt die steuerpsychologische Forschung die Vermutung nahe, dass in manchen Gesellschaften die soziale Norm die Steuerhinterziehung geradezu gebietet. - dass zwischen Normen und Gesetzen ein vielschichtiges Verhältnis besteht: • Sind Normen und Gesetze im oben erwähnten Sinne deckungsgleich, so muss nicht durch Gesetze geregelt werden, was durch Normen schon geregelt ist. • Bleiben die Gesetze hinter den Normen zurück, so sind die Gesetze zumindest auf ihre Existenzberechtigung hin zu überprüfen. • Es ist eine plausible Hypothese, dass Gesetze, die in Inhalt und Richtung sehr weit über die sozial geltenden Normen hinausragen, nicht angewandt werden können. • Es ist wahrscheinlich, dass Gesetze, die nicht angewandt werden können, wenigstens vorübergehend zu einer Erosion der gesellschaftlichen Norm beitragen. • Es ist eine plausible Annahme, dass Gesetze, die wohl, aber nicht sehr über die gesellschaftlichen Normen hinausgehen, aufgrund der so möglichen sozialen Akzeptanz eine gute Chance haben, tatsächlich angewandt zu werden. • Man kann auch damit rechnen, dass Gesetze, die von den Normen nicht zu weit entfernt sind und durchgesetzt werden, ihrerseits zur Stärkung dieser Normen beitragen. Dies deshalb, weil so dem Einzelnen auf feierlich-formelle Weise signalisiert wird, dass wenigstens die Mehrheit der Stimmberechtigten ein bestimmtes Verhalten so sehr wünscht, dass sie bereit ist, es gegebenenfalls bei sich und anderen durch den Einsatz staatlicher Gewalt zu erzwingen. Es ist an dieser Stelle noch einmal daran zu erinnern, dass unsere Frage lautete, wie in einer Gesellschaft ein Gut hergestellt und seine Finanzierung sichergestellt werden kann, wenn sowohl der Tausch zwischen Anbietern und Nachfragern auf dem Markt als auch der Austausch zwischen den Vertragspartnern des „voluntary exchange“ nicht möglich sind. Wir sagten, in dieser Situation müsse, wenn das Gut erstellt und finanziert werden soll, der Einzelne die Kontrolle über einen Teil seiner Handlungen an andere abtreten: gesellschaftliche Normen und Gesetze. Normen und Gesetze stellen damit eine Antwort auf zentrale Probleme des gesellschaftlichen Lebens dar, die anderweitig ohne Antwort bleiben müssten. Konkreter: Allokations- und Distributionsprobleme, die nicht über den Markt oder über freiwillige Vereinbarungen gelöst werden können, würden ohne Normen und Gesetze der grauenhaften Logik des Hobbesschen Naturzustandes anheimfallen. 82 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="100"?> 2.1 Von sozialen Normen... Es ist - wegen der verwandtschaftlichen Nähe von Normen und Gesetzen - nun einigermaßen überraschend, dass wohl die Gesetze, weniger aber die Normen als Gegenstand der Neuen Politischen Ökonomie gelten. Genauer: Gesetze gelten gemeinhin als erklärungsbedürftige und erklärungsfähige Variablen der Neuen Politischen Ökonomie, nicht aber die Normen. Diese werden nicht selten nach wie vor als Daten eher am Rande erwähnt. Doch ist dies weder nötig noch nützlich. Entsprechend sind im Folgenden unter Rückgriff auf anderweitige Arbeiten einige Elemente zusammengestellt, die es erlauben, die Entstehung, Akzeptanz und Geltung auch von Normen als Forschungsgegenstand der Neuen Politischen Ökonomie auszuweisen und die oben skizzierten Bezüge zwischen Normen und Gesetzen nachvollziehbar zu machen. Wenn man Normen nicht als exogene Daten, sondern als endogene Variablen der Neuen Politischen Ökonomie betrachtet, so bedeutet dies Folgendes: Nicht nur ist zu analysieren, wie auf der Mikroebene die individuellen Entscheidungen durch die gesellschaftlichen Normen beeinflusst werden. Vielmehr ist auch zu analysieren, wie die auf der Makroebene der Gesellschaft angesiedelten Normen als Ergebnis individueller Aktionen und Interaktionen entstehen und zur Geltung gebracht werden. Dabei ist es zweckmäßig, mit James S. Coleman zwischen den Fragen zu unterscheiden, - warum und wie eine individuelle Nachfrage nach gesellschaftlichen Normen entsteht und besteht; - warum und wie diese individuelle Nachfrage nach gesellschaftlichen Normen befriedigt wird. 2.1.1 Entstehung der Nachfrage nach Normen Was die individuelle Nachfrage nach sozialen Normen betrifft, so können wir uns nach dem Gesagten recht kurz fassen: Soll bei dem Einzelnen - in der Terminologie Colemans - eine Nachfrage nach sozialen Normen bestehen, so muss er ein Interesse daran haben, dass das individuelle Verhalten eines jeden in der Gesellschaft über mehr oder weniger weite Strecken sich nicht an dessen unmittelbaren Vorstellungen, sondern an gesellschaftlich gültigen Standards ausrichtet und im Prinzip jedes Gesellschaftsmitglied gegenüber jedem anderen die Respektierung dieser Standards durch positive bzw. negative Sanktionen sicherstellen soll, kann und wird. Aus der Sicht eines Einzelnen bedeutet dies Folgendes: - Er kann und soll bei anderen Gesellschaftsmitgliedern auf die Einhaltung der gesellschaftlichen Normen dringen; und dies auch dann, wenn er selbst unmittelbar durch die Verletzung dieser Normen nicht in seiner Wohlfahrt beeinträchtigt ist. So kann und soll er etwa einen Wanderer, den er im Wald eine Limo-Dose wegwerfen sieht, auch dann zurechtweisen, wenn er selbst nie mehr über diesen Waldweg spazieren wird. - Er muss erwarten und hat hinzunehmen, dass ihm selbst seine eigenen Normenverstöße auch von jenen Gesellschaftsmitgliedern vorgehalten werden, die durch sein Verhalten in ihrer Wohlfahrt nicht unmittelbar beeinträchtigt worden sind. Soziale Normen und staatliche Gesetze · 83 <?page no="101"?> - Er kann davon ausgehen, dass Normenverstöße, unter denen er unmittelbar leidet, auch dann geahndet werden, wenn er nicht willens und/ oder nicht in der Lage ist, sie selbst zu ahnden. Er kann auch davon ausgehen, dass Normenkonformität, von welcher er unmittelbar profitiert, auch dann belohnt und stabilisiert wird, wenn er selbst bei anderen nicht auf die Normenkonformität drängt. Konkret: Der Einzelne wird von der Sauberkeit des Waldes auch dann profitieren, wenn er selbst nicht jeden, der ihm eine Alu-Dose in den Weg wirft, zurechtweisen kann und/ oder will. Dieser letzte Punkt ist von entscheidender Bedeutung. Während auf dem Markt und im „voluntary exchange“ jeder Einzelne unmittelbar selbst durch Belohnung (und gegebenenfalls durch Bestrafung) den anderen zu einem seiner Wohlfahrt förderlichen oder wenigstens nicht abträglichen Verhalten anhält, soll dies hier auch durch andere geschehen. Ein Interesse an einer solchen Regelung, d. h. eine Nachfrage nach sozialen Normen, besteht für den Einzelnen dann, wenn - siehe oben - die Transaktionskosten verbieten, dass er selbst mit jedem, dessen Verhalten seine Wohlfahrt berührt,Verhandlungen führt. So können die Einzelnen ihr Interesse an einem nicht durch Alu-Dosen verunzierten Waldweg nicht dadurch befriedigen, dass sie sich wechselseitig die Bereitschaft abkaufen, keine Dosen wegzuwerfen. In einer solchen Situation ist es für den Einzelnen von Interesse, - dass Handlungen von Gesellschaftsmitgliedern, die seine Wohlfahrt berühren, von anderen als ihm selbst auch dann kontrolliert werden, wenn diese anderen nicht unmittelbar betroffen sind. - dass ein Teil seiner Handlungen auch von jenen Gesellschaftsmitgliedern kontrolliert wird, die in ihrer Wohlfahrt durch sein Handeln unmittelbar nicht berührt worden sind. Der Einzelne begibt sich also der Kontrolle über einen Teil seiner eigenen Handlungen, damit er nicht selbst bei anderen alle jene Handlungen kontrollieren muss, die seine Wohlfahrt berühren. Im Gegenzug erwirbt er das Recht und erwächst ihm die Verpflichtung, das Verhalten anderer zu kontrollieren. So paradox es klingen mag, so ist doch richtig: Der Einzelne nimmt es hin, dass zufällige Passanten ihn zur Ordnung rufen, wenn er auf dem Alexanderplatz Papiertaschentücher wegwerfen will, damit andere den Platz nicht verschmutzen. 2.1.2 Entstehen und Bestehen von Normen Wir haben bislang gezeigt, dass eine Nachfrage nach gesellschaftlichen Normen besteht, dass also die einzelnen Gesellschaftsmitglieder ein Interesse am Bestehen und Einhalten von sozialen Normen haben. Es ist aber noch völlig offen, ob und in welchem Umfang diese einzelnen Gesellschaftsmitglieder bereit sind, - ihr eigenes Verhalten an diesen Normen auszurichten und - durch eigene Kontrollen dazu beizutragen, dass andere sich normenkonform verhalten. 84 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="102"?> Beides aber ist nötig, wenn nicht nur ein allgemeines Interesse an sozialen Normen bestehen soll, sondern diese Normen auch durchgesetzt werden sollen. Was nun die Bereitschaft betrifft, das eigene Verhalten an gesellschaftlichen Normen auszurichten, so ist festzustellen: Auch jener, der ein Interesse an allgemein gültigen Normen hat, hat - von hier vernachlässigbaren Ausnahmen abgesehen - ein persönliches Interesse daran, gegen sie zu verstoßen.Auch wer überzeugt ist, dass „man“ keine Alu-Dosen in den Wald werfen soll, wird im konkreten Einzelfall ein Interesse daran haben, dass er seine Dose hinter den nächsten Busch schleudert und nicht im Rucksack nach Hause schleppt.Auch wer allgemein für Spielregeln ist, mag im Einzelfall dagegen verstoßen wollen. Mogeln lohnt sich für den Einzelnen besonders dann, ist überhaupt erst möglich, wenn Spielregeln bestehen und diese möglichst allgemein eingehalten werden. Es ist demnach vorerst davon auszugehen, dass jeder Einzelne bereit ist, gegen die Normen zu verstoßen. Wir treffen hier wiederum auf die Tatsache, dass die Existenz und die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen Kollektivgutcharakter haben. Denn verhalten sich alle Gesellschaftsmitglieder außer ihm normenkonform, so kann der Einzelne daraus seinen Nutzen ziehen. Konkret: Obwohl er Alu-Dosen zurücklässt, liegt vor ihm ein sauberer Wald. Verhalten sich alle außer ihm nicht normenkonform, so schleppt er wohl die leeren Dosen nach Hause und muss trotzdem in verunzierten Wäldern wandern. In dem einen Fall ist - aus seiner Sicht - seine Normenkonformität überflüssig, in dem anderen ist sie nutzlos. Der Leser wird an dieser Stelle mit gutem Grund einwenden, dass die sozialen Normen definitionsgemäß - siehe oben - bedeuten, dass der Einzelne - im Austausch gegen das Recht, das Verhalten jedes anderen zu kontrollieren - im Prinzip jedem anderen das Recht zugestanden hat, seine Handlungen zu kontrollieren.Also - so der Einwand - sei der Einzelne, sei jeder Einzelne nicht mehr frei, seinen unmittelbaren Interessen folgend, gegen die Normen zu verstoßen. Dieser Einwand ist wenigstens vorerst nicht stichhaltig, weil er die oben gestellte Frage offenlässt, ob und in welchem Umfang die Einzelnen bereit sind, die Einhaltung der Normen durch andere zu überwachen und durchzusetzen. Auf den ersten Blick sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein. Ein zweiter Blick zeigt aber, dass dem nicht so ist. Es stellt sich nämlich hier - wie Coleman sagt - ein Kollektivgutproblem zweiter Ordnung; dies deshalb, weil die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen, also die Kontrolle ihrer Einhaltung selbst Kollektivgüter sind. Dies aber bedeutet: Wer gegenüber einem anderen auf die Einhaltung gesellschaftlicher Normen dringt, handelt sich dafür im Zweifel einige Unannehmlichkeiten ein („Opa, kümmere Dich um Deine Sachen! “) und hat, falls er denn erfolgreich war, ein Verhalten sichergestellt, aus dem andere, die nichts unternommen haben, ihren Nutzen ziehen können. Wer in der U-Bahn einen jungen Mann auffordert, einer alten Dame seinen Platz anzubieten, riskiert einiges und trägt zur Geltung der Norm bei, dass „man“ für alte Damen seinen Sitzplatz freigibt. Nur profitieren von der so in ihrer Geltung gestärkten Norm auch jene, die selbst tatenlos zugesehen haben. Entsprechend ist zu erwarten, dass im Regelfall alle zusehen, dass also auch jene, die an der allgemeinen Durchsetzung gesellschaftlicher Normen interessiert sind, zu ihrer Durchsetzung nichts unternehmen. Mit der Soziale Normen und staatliche Gesetze · 85 <?page no="103"?> Folge, dass die Durchsetzung der Normen, an deren Geltung im Extrem alle ein allgemein bekundetes Interesse haben, am aktiven Desinteresse aller im Einzelnen scheitert. Selbst die oberflächliche Beobachtung legt nun aber die Vermutung nahe, dass dies, wenn schon nicht falsch, so doch nicht die ganze Wahrheit ist. Denn es kommt ja durchaus vor, dass auch unmittelbar völlig Unbeteiligte auf die Einhaltung gesellschaftlicher Normen drängen; die soziale Kontrolle funktioniert eben doch in vielen Bereichen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass sie immer funktioniert. Es ist deshalb nach den Voraussetzungen zu fragen, unter denen dies der Fall ist bzw. unter denen dies nicht zutrifft. Wir sagten oben, dass es nicht im Interesse des Einzelnen liegt, sich für die Respektierung der sozialen Normen einzusetzen, weil auch jener, der für die Respektierung der Normen nichts eingebracht hat, von den Wohltaten einer durch soziale Normen geordneten Gesellschaft profitieren kann. Das Stichwort lautet: Nichtgeltung des Ausschlussprinzips. Doch mag es durchaus im Interesse des Einzelnen liegen, durch sein Kontrollverhalten einen Beitrag zum Kollektivgut „Allgemeine Respektierung der sozialen Normen“ zu leisten, wenn ihm hierfür eine eigene Belohnung in Aussicht gestellt wird bzw. wenn ihm - falls er nichts tut - eine eigene Bestrafung ins Haus steht. (In der Darstellung von Olsons Theorie des kollektiven Handelns werden wir dieser Art von Belohnung und Bestrafung unter dem Stichwort der „selektiven Anreize“ wieder begegnen.) Es ist zweckmäßig, dieses abstrakte Argument durch ein Beispiel zu illustrieren: In einer kleinen, von jeder Polizeistation entfernten Siedlung wohnen in drei Häusern die drei Individuen A, B und C. Sie kommen insgesamt ganz gut miteinander aus, allerdings bis auf einen Punkt: Jeder unterliegt gar zu leicht der Versuchung, wenn der oder die anderen in Ferien ist bzw. sind, im Nachbargarten das Gemüse zu stehlen. Nun ist aber jeder daran interessiert, bei seiner Rückkehr keinen kahlgefressenen Garten vorzufinden. Was kann geschehen? In dem hier angesprochenen Problemkontext hätte jeder der drei ein Interesse daran, eine Norm zu haben, nach welcher „man“ so etwas nicht tut. Das Problem ist nur, dass niemand sich darauf verlassen kann, dass die beiden andern sich an die Norm halten. Und so wird jeder, werden alle drei weiter stehlen. Nun mag aber Folgendes eintreten: A ist in Ferien, und wir schließen aus, dass B und C sich zum gemeinsamen Diebstahl zusammenfinden; vielmehr dringt B allein in den Garten des A ein. C beobachtet ihn und denkt an die Wünschbarkeit einer gesellschaftlichen Norm. Soll er hingehen und B zurechtweisen und am Stehlen hindern? Ein solches Tun ist klar mit Risiko und Gefahr, schlicht: mit Kosten verbunden. Und: Warum soll A gratis als Trittbrettfahrer von der Durchsetzung der Norm profitieren? Also tut er nichts; oder vielleicht doch? - Die Frage kann positiv beantwortet werden. Denn C mag sich überlegen, dass dann, wenn er interveniert, er dies dem A nach dessen Rückkehr mitteilen und erwarten kann, dass demnächst - wenn er selbst abwesend ist - sein Garten durch A beaufsichtigt wird. Der Nutzen des Eingreifens von C fällt also jetzt nicht nur als externer Nutzen bei A an, sondern - wenigstens zum Teil - als interner Nutzen bei C. Und genau hierauf kommt es an. Die Frage ist nur, wann mit einer solchen Internalisierung zu rechnen ist. James S. Coleman gibt hier die Antwort: Damit eine solche Internalisierung möglich ist, müssen jene, die von der Einhaltung einer Norm profitieren 86 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="104"?> - hier: „Man erntet nicht in des Nachbars Garten“! -, untereinander in gesellschaftlichen Beziehungen stehen. Nur dann, wenn A mit B in Kontakt steht, kann er ihm mitteilen, dass er seinen Garten bewacht hat; nur wenn B mit A in Kontakt steht, kann er ihn für seine Wachdienste belohnen. Bestehen solche Kontakte zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, gibt es also zwischen A, B und C Beziehungen, so wird A den Garten des B gegen C, B den Garten des C gegen A und C den Garten des A gegen B verteidigen. Allerdings: Auch wenn man die Logik dieses Arguments akzeptiert, wird man einwenden, dass in Gesellschaften mit vielen Mitgliedern der Einzelne keineswegs sicher sein kann, dass sein Eingreifen zugunsten von jemandem diesen veranlasst, im Notfall zu seinen Gunsten einzugreifen. So kann jener, der in einer Großstadt dafür gesorgt hat, dass in der U-Bahn ein junger Mann für eine alte Dame seinen Sitzplatz geräumt hat, nicht davon ausgehen, dass die alte Dame, der er zu Hilfe gekommen ist, demnächst ihm beistehen wird. Dieser Einwand ist berechtigt; es kann ihm allerdings mit folgendem Hinweis begegnet werden. Damit jemand einen Beitrag zur sozialen Kontrolle, d. h. zur Verteidigung der gesellschaftlichen Normen leistet, ist es weder nötig, dass ihm „in gleicher Münze“ zurückgezahlt wird, noch dass er von jenem bezahlt wird, der von seinem Eingreifen unmittelbar profitiert hat. Entscheidend ist nur, dass er von irgendjemandem in irgendeiner Form für seinen Eingriff belohnt wird, bzw. dass er von irgendjemandem in irgendeiner Form für sein Nichteingreifen bestraft wird. Entscheidend ist, dass sich das Eingreifen bzw. das Nichteingreifen für ihn „rechnet“. So mag es durchaus sein, dass der Einzelne - nachdem er den jungen Mann ermahnt hat - seine Belohnung darin findet, dass er nach Hause geht und dort der staunend-bewundernden Familie von seiner Tat berichten kann: „Dem hab’ ich’s aber gezeigt! “ Es mag auch sein, dass die Umstehenden ihm applaudieren: „Sie waren ja so mutig! “ In diesem Fall besteht der internalisierte Nutzen darin, für einen kurzen Augenblick als Held gefeiert zu werden. Dabei ist die Feststellung von Bedeutung, dass jeder der Umstehenden, indem er Beifall klatscht, selbst einen kleinen Beitrag zur Durchsetzung der gesellschaftlichen Norm leistet. Der Applaus des Einzelnen ist zwar nur ein geringfügiger Beitrag, doch addiert sich der Applaus der vielen zu einem Nutzen, der den „Helden“ für die Risiken, Gefahren und Kosten seines Eingreifens entschädigt. Die Umstehenden ihrerseits sind zu dem individuell kleinen Beitrag zur Durchsetzung der sozialen Norm bereit, weil sie ihrerseits daraus unmittelbar ihren Nutzen ziehen. Dieser mag etwa darin bestehen, dass sie mittels der geringen Leistung ihres Klatschens an der eben vollbrachten Heldentat teilhaben können, dass sie also auf diese Weise das erhebende Gefühl haben, „dabei“ gewesen zu sein: „...und dann haben wir alle geklatscht! “ Wir können demnach festhalten: Eine notwendige Bedingung für die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen ist die Existenz gesellschaftlicher Beziehungen zwischen jenen, die von der Geltung und Durchsetzung dieser Normen profitieren. Coleman hat in dieser Optik durchaus Recht, wenn er etwa auf die Bedeutung von Klatsch und Tratsch für die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen hinweist. Wenn aber richtig ist, dass gesellschaftliche Beziehungen eine notwendige Bedingung für die soziale Kontrolle sind, dann ist damit zu rechnen, dass es an der Durchsetzung von Normen fehlen wird, wenn diese Beziehungen spärlich oder gar inexistent sind. Soziale Normen und staatliche Gesetze · 87 <?page no="105"?> Und genau dies ist in der Wirklichkeit festzustellen: Jene Gesellschaften, die - wie Dorfgemeinschaften oder Fakultäten - sich durch ein enges Netz sozialer Beziehungen auszeichnen, sind auch solche, in denen die Durchsetzung der für diese Gesellschaften je spezifischen Normen besonders gut funktioniert. Anders in jenen Gesellschaften, in denen, wenn überhaupt, nur flüchtige, sporadische und oberflächliche Beziehungen zwischen Unbekannten bestehen; hier ist die Durchsetzung und Kontrolle sozialer Normen kaum, wenn überhaupt zu erwarten. In dieser Perspektive zeigt sich: Nicht allein der Normenverlust erklärt den Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhangs, nicht das Defizit gemeinschaftlicher Normen erklärt die Vereinzelung des Menschen in der Gesellschaft, wie dies eine gängige Kultur- und Gesellschaftskritik beklagt.Vielmehr ist es auch und vor allem so: Der Zerfall des gesellschaftlichen Beziehungsgeflechtes ist ursächlich dafür, dass gesellschaftliche Normen immer weniger durchgesetzt werden, dass die soziale Kontrolle immer weniger funktioniert. Wenn auf dem Kurfürstendamm, nicht aber auf einer Dorfstraße, jemand zusammengeschlagen werden kann, ohne dass die Passanten eingreifen, so nicht, weil die Dörfler „bessere“ Menschen sind als die Großstadtbewohner, sondern weil diese beziehungsloser sind als jene. Dabei ist die Feststellung wichtig, dass sich diese Beziehungslosigkeit nicht so sehr auf das Verhältnis zum Opfer bezieht; auch ein Unbekannter kann auf der Dorfstraße damit rechnen, dass ihm jemand zu Hilfe kommt.Wenn die Berliner dem Opfer nicht helfen, so nicht nur, weil sie keine Beziehung zu diesem, sondern auch und vor allem, weil sie keine Beziehung untereinander haben. Diese Überlegungen gelten auch dann, wenn der Kreis jener, die von der Durchsetzung gesellschaftlicher Normen profitieren, nicht deckungsgleich mit dem Kreis jener ist, die überwacht werden sollen, damit und ob sie sich normenkonform verhalten. In der Tat sind wir bislang stillschweigend davon ausgegangen, dass sich der Kreis der Kontrolleure und der Kreis der Kontrollierten überlagern. Dies muss nicht der Fall sein. So ist es durchaus möglich, dass diese beiden Kreise sich sehr, wenig oder gar nicht überschneiden. Dazu Abbildung 8: 88 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen Es bestehen soziale Beziehungen zwischen den Kontrolleuren ja nein Kontrollierten ja 3 2 nein 1 4 Abbildung 8 <?page no="106"?> - Feld 1: Es bestehen soziale Beziehungen zwischen den Kontrolleuren, nicht aber zwischen den Kontrollierten. In dieser Situation haben die Kontrolleure die Möglichkeit, jene Normen, die in ihrem Interesse liegen, in der Gesellschaft durchzusetzen. - Feld 2: Es bestehen soziale Beziehungen zwischen den Kontrollierten, nicht aber zwischen den Kontrolleuren. In dieser Situation haben jene, die kontrollieren wollen, nicht nur nicht die Möglichkeit dies zu tun. Vielmehr haben auch jene, die kontrolliert werden sollen, die Möglichkeit, an ihren Interessen ausgerichtete gesellschaftliche Normen zu definieren und durchzusetzen. Es findet gleichsam ein Rollentausch statt: Aus „Would-be-Kontrolleuren“ werden Kontrollierte, und aus „Should-be-Kontrollierten“ werden Kontrolleure, womit man aus Feld 2 in Feld 1 hinüberwechselt. - Feld 3: Sowohl zwischen Kontrolleuren als auch zwischen Kontrollierten bestehen soziale Beziehungen. Hier ist mit einem Konflikt um die Vorherrschaft konkurrierender Normen zu rechnen. Hier mag es gelingen, gleichsam in einer den Konflikt übersteigenden Synthese, den Kreis der Kontrolleure und Kontrollierten deckungsgleich werden zu lassen, indem Normen gefunden werden, von denen alle jene, die ihnen unterworfen sind, einen Nutzen ziehen. Gelingt dies nicht, so ist zu erwarten, dass nach Maßgabe der sozialen Beziehungsdichte der Konflikt zugunsten der einen oder der anderen ausgeht. Die Folge ist, dass sich die Situation aus dem Feld 3 in das Feld 1 verlagert. - Feld 4: Es gibt weder auf Seiten jener, die kontrollieren wollen, noch auf Seiten jener, die kontrolliert werden sollen, gesellschaftliche Beziehungen. In diesem Fall mag es eine Nachfrage nach gesellschaftlichen Normen geben. Jedoch werden keine Normen zur Geltung gebracht. Und zwar gilt dies sowohl für Normen, deren Beachtung allen Gesellschaftsmitgliedern nutzen würde, als auch für Normen, deren Durchsetzung nur für die Mitglieder einer Gruppe von Nutzen wäre. Ein Beispiel: Wenn in einer Schule die Lehrer enge Kontakte pflegen (Lehrerzimmer), die Schüler aber nicht (Fahrschüler), wenn wir uns also in Feld 1 befinden, so ist zu erwarten, dass es in dieser Schule Dinge gibt, die „man“ tut, und solche, die „man“ nicht tut. Es ist weiter zu erwarten, dass das, was (un-)schicklich ist, belohnt (bestraft) wird. Und es ist zu erwarten, dass das, was „man“ tut, bzw. das, was „man“ nicht tut, jenes ist, was den Lehrern passt bzw. nicht passt. Die in der Schule geltenden und durchgesetzten Normen entsprechen und dienen den Ziel- und Wunschvorstellungen der Lehrer, nicht aber jenen der Schüler. Wenn aus irgendeinem Grund der gesellschaftliche Zusammenhalt der Lehrer nachlässt und sich etwa als Folge der Eröffnung eines Schülerclubs die sozialen Beziehungen zwischen den Schülern intensivieren, so ist mit einer Umkehrung der Situation zu rechnen. Die ehedem Kontrollierten werden zu Kontrolleuren, und die Kontrolleure von einst werden zu Kontrollierten.Wohl wird auch jetzt in der Schule der soziale Umgang mehr oder weniger durch Normen geregelt, doch entsprechen diese eher den Wunsch- und Zielvorstellungen der Schüler, nicht aber jenen der Lehrer. Wir kehren zu der Feststellung zurück, dass die Existenz gesellschaftlicher Beziehungen eine notwendige Voraussetzung für die effektive Durchsetzung sozialer Normen Soziale Normen und staatliche Gesetze · 89 <?page no="107"?> ist. Es muss also ein mehr oder weniger enges Beziehungsgeflecht zwischen den Gesellschaftsmitgliedern - Coleman spricht von „closure“ - bestehen, wenn damit gerechnet werden soll, dass in einer Gesellschaft im Prinzip jeder jeden so kontrolliert, damit alle sich so verhalten, wie es - informeller Übereinkunft folgend - im mittelbaren Interesse eines jeden ist. 2.2 ... zu staatlichen Gesetzen Was aber geschieht, wenn - wie dies hier und heute vielfach der Fall ist - dieses gesellschaftliche Beziehungsgeflecht (stellenweise) zerreißt? Was geschieht, wenn in Großstädten mit vielen beziehungslosen Anonymi, in mobilen Gesellschaften mit allenfalls flüchtigen Bekanntschaften die Bedingungen für die Durchsetzung von sozialen Normen nicht (mehr) gegeben sind? Was geschieht - konkretes Beispiel -, wenn die Voraussetzungen nicht (mehr) dafür gegeben sind, dass die soziale Kontrolle sicherstellt, dass die Straßen der Stadt nicht verschmutzt werden oder dass die Ozonschicht nicht zerstört wird? Die Antwort haben wir oben schon gegeben: Wo über gesellschaftliche Normen und deren Einhaltung die Bereitstellung von Kollektivgütern nicht gewährleistet werden kann, muss auf Gesetze zurückgegriffen werden. Es ist denn auch kein Zufall, dass, zeitgleich mit dem Bedeutungsverlust der sozialen Normen als Regulativ des Umgangs der Menschen untereinander, die Gesetze an Wichtigkeit zugenommen haben. Die Verrechtlichung der interindividuellen Beziehungen hat hier eine ihrer Ursachen. Und es ist eine zumindest prüfenswerte Hypothese, dass die insbesondere in modernen Gesellschaften festzustellende Verrechtlichung des gesellschaftlichen Umgangs und die dort zu beobachtende Prozesshäufigkeit auch etwas mit der Mobilität und - entsprechend - dem „closure“-Defizit zu tun haben. Selbstverständlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass dort, wo eine Regelungslücke durch Normen besteht, auch die dann nötigen Gesetze fehlen. Ist dies der Fall, so befinden wir uns in den weder durch Normen noch durch Gesetze geordneten Lebensbereichen in einem regellosen Raum, einem Raum also, der dem Hobbesschen Naturzustand entspricht. Wir finden dann in diesem Lebens- und Gesellschaftsraum die für diesen Zustand typischen Allokationsineffizienzen und die gleichfalls charakteristische Distribution nach dem Gesetz der Stärke. Es ist dem Leser überlassen, sich diese Überlegungen am Beispiel der Umweltverschmutzung im Einzelnen klarzumachen. Hier nur einige Stichworte: Infolge der technischen Entwicklung haben die Auswirkungen des menschlichen Handelns eine beträchtliche Vergrößerung ihres räumlichen und zeitlichen Streubereichs erfahren. Die Zahl der in diesem Streubereich angesiedelten Menschen hat derart drastisch zugenommen, dass zwischen den auf diese Weise von Externalitäten Betroffenen in der Regel keine engen gesellschaftlichen Beziehungen bestehen. Die Folge ist, dass eine notwendige Voraussetzung für die Regelung des umweltrelevanten Verhaltens der Einzelnen durch die Anwendung sozialer Normen nicht gegeben ist.Andererseits ist festzustellen, dass die Gesetze, welche die fehlenden Normen ersetzen könnten, mit einiger Verzögerung und erst unzulänglich zustandekommen. Der miserable Zustand der Umwelt ist darauf zurückzuführen, dass die Voraussetzungen für eine Regelung durch 90 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="108"?> soziale Normen nicht (mehr) im notwendigen Umfang gegeben und die Gesetze (noch) nicht vorhanden sind. Wir können demnach vorerst festhalten, dass das Fehlen sozialer Normen die Notwendigkeit gesetzlicher Ordnung begründet. Es ist aber zu fragen, ob nicht noch andere Gründe als die fehlenden sozialen Beziehungen zwischen den Nutznießern der Durchsetzung gesellschaftlicher Normen eine Regelung durch Gesetze zweckmäßig sein lassen. Solche Gründe gibt es; ihnen wenden wir uns im Folgenden zu. Wir haben oben gesehen, dass die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen mit Kosten für jenen verbunden ist, der sich dieser Aufgabe annimmt. Sind diese Kosten hoch, so ist es weniger wahrscheinlich, dass die Normen durchgesetzt werden, als wenn die Kosten niedrig sind. Nun mag es Situationen geben, in denen die Durchsetzung von Normen eine Vielzahl kleiner, also wenig kostspieliger Kontrollinitiativen verlangt. Hier kann eher damit gerechnet werden, dass die zur wechselseitigen sozialen Kontrolle notwendigen wechselseitigen Zurechtweisungen und Anerkennungserweise erbracht werden. Man kann sich aber auch Situationen ausmalen, in denen das normengerechte Verhalten verlangt, dass geradezu heroische, d. h. risikoreiche, gefahrenvolle, also kostspielige Initiativen entwickelt werden. Hier ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass die einzelnen Gesellschaftsmitglieder die zur wechselseitigen Kontrolle nötigen Aktivitäten entfalten. Ein Beispiel: Es ist wahrscheinlich, dass in einem Dorf der nachbarliche Klatsch und die nachbarliche Kontrolle sicherstellen, dass jeder die Norm „Am Samstag fegt jeder die Straße vor seinem Haus! “ befolgt. Der missbilligende Blick und die spitze Bemerkung kosten den, der sie von sich gibt, nicht viel; also dringt jeder gegenüber jedem darauf, dass jeder sich der Norm entsprechend verhält. Die Bereitstellung und Finanzierung des Kollektivguts „Straßensäuberung“ erfolgt über die Aufstellung und Durchsetzung einer sozialen Norm. Hingegen ist es wenig wahrscheinlich, dass das Kollektivgut „Sicherheit von Leib und Leben“ so ohne weiteres auf diese Weise erstellt wird. In der Tat: Damit dies der Fall wäre, müsste jeder bereit sein, gegen jeden anzutreten, der jemanden umbringen will oder gar schon umgebracht hat. Nun ist es aber im Zweifel recht gefährlich, einen Mörder an seinem Vorhaben zu hindern bzw. ihn für seine Untat in dieser oder jener Weise zu bestrafen. Also wird sich im Zweifel niemand für die Durchsetzung der Norm „Du sollst nicht töten! “ einsetzen. In dieser Situation können nur Gesetze helfen.Wir sagten oben, dass sich Gesetze von Normen u. a. dadurch unterscheiden, dass die Durchsetzung jener, nicht aber dieser, zum Aufgaben- und Kompetenzbereich von eigens dazu bestimmten Mitgliedern der Gesellschaft gehört. Grob vereinfacht heißt dies, dass für die Durchsetzung der Gesetze die Polizei und die Gerichte zuständig sind.Wohl ist jeder Bürger zur Einhaltung der Gesetze verpflichtet, nur erwartet man gemeinhin nicht von ihm, dass er sich für die Einhaltung der Gesetze durch andere einsetzt. Ausnahmen wie die Pflicht zur Hilfeleistung gegenüber einem Opfer und zur Verhinderung von Straftaten sind eher selten und gemeinhin eng definiert; sie betonen also in ihrer Exzeptionalität die allgemeine Regel. Außerdem sind diese Ausnahmen selbst Gegenstände der gesetzlichen Regelung, also keine Normen, deren Überwachung in die Obhut jedes einzelnen Gesellschaftsmitgliedes gestellt ist. Soziale Normen und staatliche Gesetze · 91 <?page no="109"?> Wir können demnach festhalten: Die Durchsetzung der Gesetze, die Kontrolle ihrer Anwendung sind Gesellschaftsmitgliedern anvertraut, die dies als Aufgabe und Beruf haben, d. h. die damit ihr Geld machen und/ oder ihr soziales Prestige sichern. Dies aber bedeutet, dass auf diese Weise wenigstens angestrebt wird, dass es sich für sie lohnt, die mit der Durchsetzung der Gesetze verbundenen Risiken, Gefahren, also Kosten auf sich zu nehmen. Die Hoffnung und Absicht ist, dass sie sich - weil sie eigens dafür bezahlt werden - für die Durchsetzung der Gesetze engagieren. Ob dies dann immer und überall geschieht, kann man bezweifeln. Einerseits deuten die Rekrutierungs- und Motivationsschwierigkeiten etwa bei der Polizei in diese Richtung; andererseits kann nicht ausgeschlossen werden, dass jene, die in einer Gesellschaft über die zur Durchsetzung nötigen Machtmittel verfügen, diese für andere als die intendierten Zwecke einsetzen: das typische Principal-Agent Problem! Trotz dieser Einschränkungen und Differenzierungen können wir vorerst festhalten, dass man dann von Normen zu Gesetzen hinüberwechseln muss, wenn im Einzelfall die Überwachung des individuellen Verhaltens für den einzelnen Kontrolleur mit sehr hohen Kosten verbunden ist, also besondere Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit jenen „Spezialisten“, deren Beruf die Überwachung ist, entsprechende Nutzen in Aussicht gestellt werden können. Ein weiterer Punkt muss im Zusammenhang mit dem Übergang von der Regelung des menschlichen Umgangs durch Normen zur Ordnung durch Gesetze beachtet werden. Wenn jedes einzelne Gesellschaftsmitglied das Kontrollrecht über einen Teil des Handelns jedes anderen Gesellschaftsmitgliedes nicht nur haben, sondern auch sinnvoll (sprich: sachkundig) ausüben soll, ist es nötig, dass jeder Einzelne die wohlfahrtsrelevanten Auswirkungen des Handelns der anderen einschätzen kann. Dies ist in einfachen und stabilen, also schon vertraut-bekannten Verhältnissen gemeinhin der Fall. Entsprechend können hier sowohl die Aufstellung als auch die Durchsetzung der Normen im Kompetenzbereich jedes einzelnen Gesellschaftsmitgliedes liegen. Anders liegen die Dinge in komplexen und/ oder in sich schnell wandelnden, also gemeinhin unvertraut-unbekannten Situationen. Hier ist der Einzelne leicht überfordert, wenn er im konkreten Fall entscheiden soll, ob ein bestimmtes Verhalten eines bestimmten Gesellschaftsmitgliedes jene Art von negativen Externalitäten verursacht, die ihn berechtigen und verpflichten zu intervenieren. Es fehlt ihm schlicht der hierzu nötige Sachverstand; auch ist nicht notwendigerweise davon auszugehen, dass es sich für ihn lohnt, sich ihn anzueignen. Unter diesen Umständen liegt es nahe, die Kontrolle über einen Teil des Verhaltens der Gesellschaftsmitglieder „Spezialisten“ anzuvertrauen.Auch hier gehen die Absicht und die Hoffnung dahin, dass diese das notwendige Sachwissen haben. Ob im Einzelfall diese Hoffnung berechtigt ist und der Zweck erreicht wird, ist eine Tatfrage. Im ungünstigen Fall werden auch Gesetze, mit deren Durchsetzung ausgewählte Gesellschaftsmitglieder, etwa Richter und Polizisten, betraut sind, ihren Zweck verfehlen. Wir wollen einen letzten Punkt erwähnen, warum es zweckmäßig sein kann, von Normen zu Gesetzen überzugehen. Beide, Normen und Gesetze, haben den Zweck, dem Einzelnen die Kontrollrechte über mehr oder weniger große Teile seines Handelns zu entziehen und sie anderen Gesellschaftsmitgliedern zu übertragen.Auf diese Weise soll 92 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="110"?> erreicht werden, dass bestimmte negative Externalitäten nicht entstehen bzw. bestimmte positive Externalitäten verursacht werden. Nun mag der Fall vorliegen, dass negative Externalitäten beim Verursacher mit derart großem internen Nutzen verbunden sind, dass sie nur vermieden werden können, wenn sie durch entsprechende hohe Strafen geahndet werden. Gleichfalls mögen die positiven Externalitäten bei dem, der sie verursachen soll, mit derart hohen internen Kosten verbunden sein, dass sie nur produziert werden, wenn sie durch entsprechend hohe Belohnungen honoriert werden. Richten wir unser Augenmerk an dieser Stelle auf die Vermeidung jener externen Kosten, die für deren Verursacher mit hohen internen Nutzen verbunden sind, und auf die hierzu nötigen entsprechend hohen Strafen. Würden diese Strafen im Rahmen der sozialen Kontrolle, also der Durchsetzung von gesellschaftlichen Normen verhängt, so liefe dies darauf hinaus, dass jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied das Recht zugestanden und die Pflicht aufgebürdet würde, gegenüber anderen Gesellschaftsmitgliedern ein beträchtliches Maß an Gewalt auszuüben. Mit gutem Grund beansprucht daher der Staat das Gewaltmonopol: Gewalt, die ein gewisses Maß überschreitet, darf nicht jeder Einzelne gegenüber jedem Einzelnen zum Zwecke der Normendurchsetzung anwenden.Vielmehr ist es so, dass Gewalt gegenüber Einzelnen - jenseits enger, wohl auch immer problematischer Grenzen - nur angewandt werden darf, wenn die Bedingungen ihrer Anwendung in einem formellen Verfahren festgelegt und legitimiert worden sind und wenn im Einzelfall ihre Anwendung durch eigens damit Beauftragte und dazu Berechtigte in einer kontrollierbaren Form erfolgt. Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass Gewalt, die ein bestimmtes Maß übersteigt, nur im Rahmen von Gesetzen angewandt werden darf. So mag etwa die Norm „Du sollst älteren Menschen im Bus Deinen Sitzplatz anbieten! “ durch „strafende“ Blicke beliebiger Einzelner gegenüber rücksichtslosen Mitreisenden durchgesetzt werden. Hingegen hat nicht jeder Einzelne gegenüber jedem einzelnen Schwarzfahrer das Recht, ein Strafgeld in Höhe von EUR 100,- zu kassieren. Gleichfalls haben auch in Gesellschaften, in denen man glaubt, nicht auf die Todesstrafe verzichten zu können, nur eigens dazu bestellte Personen das Recht und die Pflicht, jemanden vom Leben zum Tode zu befördern. Nicht aber hat ein jeder gegenüber jedem im Rahmen der Normendurchsetzung diese Befugnis und diese Verpflichtung. Hier liegt der Unterschied zwischen Justiz und Lynchjustiz. Die Westernfans unter den Lesern werden wissen, dass eine große Anzahl dieser Filme ihre Dynamik aus Situationen herleitet, in denen jene, die zur Durchsetzung des Gesetzes berechtigt und verpflichtet sind, nicht tun wollen oder können, was sie sollen, und in denen jene, die können und wollen, das tun, was sie nicht sollen, nämlich Normen durchsetzen mit einer Gewalt, zu der sie nicht berechtigt sind. Wir können demnach festhalten, dass dann, wenn die Vermeidung bestimmter externer Kosten nur durch die Anwendung hoher Strafen möglich ist, dies nicht durch die Durchsetzung von Normen, sondern von Gesetzen geschehen kann. Dabei ist allerdings zu beachten: Es ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden, ab welcher Strafhöhe Normen nicht mehr als die geeigneten Instrumente zur Regelung des Umgangs der Menschen untereinander gelten.Worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind, ist eine Frage, der hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann. Als Hin- Soziale Normen und staatliche Gesetze · 93 <?page no="111"?> weis auf die Richtung, in der Antworten gesucht werden können, dienen folgende zumindest plausible Hypothesen: - Gesellschaften, in denen vielfältige und enge Beziehungen zwischen jenen bestehen, die von der Durchsetzung einer Norm profitieren, werden sich mehr auf Normen verlassen können bzw. weniger auf Gesetze verlassen müssen als Gesellschaften, in denen wenige solcher Beziehungen existieren. Dies nicht nur, weil sich hier die Einzelnen eher für die Durchsetzung der Normen einsetzen, sondern auch, weil hier die strafenden Reaktionen der Einzelnen in höherem Maße gesellschaftlich kontrolliert, also entsprechend weniger der Ausdruck individueller Willkür sind. - Gesellschaften, in denen die Bedingungen für die Aufstellung, Legitimierung und ordnungsgemäße Durchsetzung von Gesetzen noch nicht bzw. nicht mehr gegeben sind, tendieren nur dann dazu, auf die Regelung durch Normen zu rekurrieren, wenn noch bzw. schon entsprechend enge soziale Beziehungen bestehen. Ist dies nicht der Fall, dann ist der Rückfall in den regellosen Zustand, wie ihn Hobbes beschrieben hat, zu erwarten. So ist die Lage in manchem Land der Dritten Welt dadurch gekennzeichnet, dass über weite Strecken die Voraussetzungen für die Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens etwa durch Stammesnormen nicht mehr gegeben sind, die Bedingungen für die Regelung durch staatliche Gesetze aber noch nicht existieren. Und in dem einen oder anderen Nachfolgestaat der Sowjetunion gilt: Die Voraussetzungen für die Regelung durch Gesetze sind nicht mehr gegeben und die Bedingungen für die Ausbildung und Durchsetzung gesellschaftlicher Normen weitgehend inexistent. Im Übrigen ist an dieser Stelle an die oben skizzierten Hypothesen über das Verhältnis von Normen und Gesetzen zu erinnern. Nach unseren Ausführungen über das Wesen und die Voraussetzungen von Normen und Gesetzen sollten sie einiges an Plausibilität gewonnen haben. 2.3 „Law Making“, „Law Breaking“ and „Reactions to Law Breaking“ Die bisherigen Überlegungen über das Verhältnis von Normen und Gesetzen zeigen: Beide - die sozialen Normen und die Gesetze - haben gemeinsam, dass sie die Freiheit von Menschen, also deren wechselseitige Unvorhersehbarkeit, soweit einschränken sollen, dass der eine nicht zu Lasten von anderen seine Wohlfahrt erhöhen kann.Auch sollen dank sozialer Normen und staatlicher Gesetze die Transaktionskosten gesenkt und auf diese Weise gegenseitig wohlfahrtsfördernde Beziehungen zwischen Einzelnen ermöglicht werden. Aus den obigen Darlegungen geht aber auch hervor, dass als Folge der mit der sog. Globalisierung zu beobachtenden Mobilität und Anonymisierung in vielen Gesellschaftsbereichen die Dichte des sozialen Geflechts abnimmt, also eine wichtige Voraussetzung für die Geltung und Durchsetzung von sozialen Normen gefährdet bzw. geschwächt wird. Es ist demnach keineswegs überraschend, dass eine zunehmende Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen zu beobachten ist. Was ehedem der gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen war, soll nun durch Gesetze 94 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="112"?> geregelt werden. Als Folge und als Begleiterscheinung der Erosion sozialer Normen erleben wir eine Intensivierung des „Law Making“. Dies ist eine nicht unproblematische Entwicklung. Wenn nämlich richtig ist, dass das Verbrechen in der Übertretung von geltenden Gesetzen besteht, dann führt eine Verstärkung des „Law Making“, also eine zunehmende Verrechtlichung der gesellschaftlichen Beziehungen dazu, dass es für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder immer mehr Möglichkeiten gibt, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Schon der alt-chinesische Philosoph Dschuang Tse hat vor rund zweitausend Jahren argumentiert, dass erst das Gesetz das Verbrechen schafft; und im 18. Jahrhundert hat der große Strafrechtsreformer Beccaria aus genau diesem Grunde vor einem Zuviel an Verrechtlichung gewarnt: Als Folge von steigendem „Law Making“ sei mit wachsendem „Law Breaking“ zu rechnen; die Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen führe im Ergebnis zur Kriminalisierung von vielen; und dies sei durchaus unerwünscht. Nun macht Beccarias These von einem „Zuviel“ an Verrechtlichung für einen Ökonomen nur dann einen Sinn, wenn ein Optimum an Verrechtlichung wenigstens konzeptionell definiert, nach Möglichkeit aber auch konkret-praktisch festgestellt werden kann. Nur in Bezug auf dieses Optimum kann nämlich von einem „Zuviel“ bzw. von einem „Zuwenig“ die Rede sein. Fragt man aber nach einem Optimum, so ist nach den Kosten und Nutzen der Verrechtlichung zu fragen. Bezüglich des Nutzens ist auf die oben erwähnte Senkung der Transaktionskosten und die Vermeidung wechselseitig wohlfahrtsschädlichen Verhaltens hinzuweisen. Bezüglich der Kosten ist folgende Überlegung anzustellen: Wenn es zutrifft, dass mit der Dichte der Juridifizierung die Gelegenheiten und damit auch die Wahrscheinlichkeit von Gesetzesverstößen ansteigen, dann ist zu bedenken, dass der Staat, nachdem er die Gesetze gemacht hat, zunehmend herausgefordert, also auch gefordert ist, auf die Gesetzesverletzungen so oder anders zu reagieren. Dies zum einen deshalb, weil Gesetze, deren Einhaltung nicht durchgesetzt wird, die Autorität der staatlichen Organe in Frage stellen; zum anderen aber auch, weil als Folge von Gesetzesverstößen die Ziele, um deren Erreichung willen überhaupt Gesetze in Kraft gesetzt werden, nicht oder doch nur in beschränktem Umfang erreicht werden. Entscheidend ist nun, dass es für den Staat mit Kosten verbunden ist, drohende Gesetzesverletzungen zu verhindern bzw. schon stattgefundene Gesetzesverstöße zu ahnden; die Polizei, die Justiz, der Strafvollzug, die Sozialarbeiter, die „street workers“ nehmen knappe Ressourcen in Anspruch. Dies aber bedeutet, dass es nicht darum gehen kann, ein Maximum an Verrechtlichung und ein Maximum an Verbrechensverhinderung und Verbrechensbekämpfung anzustreben. Vielmehr ist unter Berücksichtigung der Kosten und der Nutzen nach einem Optimum zu trachten. Diese harmlos klingende Formulierung impliziert die ihrerseits keineswegs harmlose Feststellung, dass unter Berücksichtigung der Kosten auch dort gesetzliche Regelungen zu unterbleiben haben, wo sie durchaus nützlich wären; und: dass unter Berücksichtigung der Kosten ein optimales Maß an Kriminalität in der Gesellschaft nicht nur hinzunehmen, sondern gezielt anzustreben ist.Wären die „Reactions to Law Soziale Normen und staatliche Gesetze · 95 <?page no="113"?> Breaking“ kostenlos, so könnte das „Law Breaking“ optimalerweise auf Null reduziert werden; und wäre dies der Fall, so entfiele auch der entsprechende Grund für die Begrenzung des „Law Making“. Da dem aber nicht so ist, gibt es ein optimales Ausmaß an Gesetzlosigkeit und an Gesetzesverstößen. Mehr noch: Wenn man - wohl realistischerweise - davon ausgeht, dass in unterschiedlichen Lebens- und Gesellschaftsbereichen das „Law-Making“ zu einem qualitativ und quantitativ unterschiedlichen „Law Breaking“ führt und in den diversen Lebens- und Gesellschaftsbereichen die „Reactions to Law Breaking“ verschieden erfolgreich und kostenintensiv sind, dann ist nicht nur ein optimales Ausmaß an Gesetzlosigkeit im Allgemeinen anzustreben; vielmehr muss dann die „criminal policy“ gleichsam ein optimales „porto-folio“, d. h. einen optimalen Mix an verschiedenen Gesetzesverstößen zum Ziel haben: etwa relativ viele Einbrüche und weniger Steuerhinterziehung oder aber - unter anderen Bedingungen - viel Steuerhinterziehung und weniger Einbrüche. Die „criminal policy“ steht also, wie alle anderen Bereiche der staatlichen Politik, vor einem Optimierungsproblem. Und die Lösung dieses Problems kann nur dann mit einiger Aussicht auf Erfolg angegangen werden, wenn der Staat berücksichtigt, wie jene auf seine Maßnahmen zur Verbrechensverhinderung und Verbrechensahndung reagieren, deren Verhalten er per Gesetz regeln will. Es ist also - durchaus im Sinne der Neue Politischen Ökonomie - nach jenem Kalkül zu fragen, das die Einzelnen anstellen, wenn sie entscheiden, ob sie sich an die Gesetze halten werden oder nicht. Man kann nun - dem Rational Choice entsprechend - unterstellen, dass die Einzelnen die Auszahlungsmatrizen eines legalen mit den Matrizen eines gesetzwidrigen Verhaltens vergleichen. Sie werden sich dann, so eine plausible Annahme, für ein gesetzwidriges Verhalten entscheiden, wenn hierbei der Nettonutzen für sie größer ist als bei einem gesetzestreuen Verhalten. Die Reaktionen des Staates auf drohende bzw. schon eingetretene Gesetzwidrigkeiten bestehen nun darin, die Auszahlungsmatrizen der Bürger zugunsten eines legalen und/ oder zuungunsten eines kriminellen Verhaltens zu verändern. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Einerseits kann der Staat durch Strafen versuchen, die Attraktivität von Straftaten für mögliche Täter dadurch zu senken, dass er entweder die Höhe der Strafen und/ oder das Risiko des Bestraftwerdens erhöht. Dabei wird zu beachten sein, dass unterschiedliche Personengruppen eher auf eine Verschärfung des Strafmaßes oder aber eher auf eine Erhöhung des Risikos mit einer Abkehr von illegalen Tätigkeiten reagieren. Der Zweck des Strafens besteht also nicht nur darin, schon geschehene Straftaten beim Täter zu ahnden, sondern jene, die zu Tätern werden könnten, vor Straftaten abzuschrecken. Dabei hängt, ob letzteres überhaupt und wenn ja, in welchem Umfang erreicht wird, davon ab, ob und wie die potenziellen Täter auf Veränderungen der Strafhöhe bzw. des Strafrisikos reagieren. Ein vieldiskutiertes Problem ist die Frage, ob vorzugsweise auf für den Staat kostenintensive Gefängnisstrafen zurückgegriffen werden soll oder aber eher Geldstrafen bzw. die Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit zum Zuge kommen sollen. Gleichfalls unter dem Stichwort einer staatlich verfügten Veränderung der Auszahlungsmatrizen zuungunsten von gesetzwidrigem Verhalten ist zu erwähnen, dass für 96 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="114"?> potenzielle Täter der Zugang zu den Möglichkeiten des illegalen Verhalten entweder völlig verbaut oder doch wenigstens verteuert werden kann.Als Beispiel kann hier die Sicherheitsverwahrung erwähnt werden.Auch ist an Aufenthaltsauflagen zu denken, die den potenziellen Täter von Orten und sozialen Milieus fernhalten sollen, in welchen er leicht (wieder) straffällig werden kann. Die Politik des Staates kann aber auch darauf abstellen, die Attraktivität der Wohlfahrtssuche auf legalen Wegen dadurch zu steigern, dass die Auszahlungsmatrix für gesetzestreue Handlungsalternativen im Vergleich zu jener von illegalen Optionen verbessert wird. So mag versucht werden, durch das Angebot von Ausbildungschancen für noch nicht straffällig gewordene, aber gefährdete Jugendliche diesen den Weg der Legalität attraktiver werden zu lassen als jenen der Illegalität.Auch mögen Resozialisierungsmaßnahmen und Fortbildungsangebote für schon straffällig gewordene Gesellschaftsmitglieder für diese den Zugang zu legalen Handlungsalternativen eröffnen, erleichtern, verbilligen und damit im Vergleich zu kriminellen Karrieren attraktiv werden lassen. Diese Maßnahmen mögen allerdings (über)kompensiert werden, durch gesellschaftliche Vorurteile, die straffällig Gewordenen den Weg in die Legalität erschweren, etwa indem ehemalige Strafgefangene Schwierigkeiten bei der Wohnungs- oder der Arbeitsplatzsuche haben. Ein Blick zurück zeigt nicht nur, dass das „Law Making“, das „Law Breaking“ und die „Reactions to Law Breaking“ miteinander in Verbindung stehen, also eine Diskussion etwa über die Bekämpfung der Kriminalität sie im Zusammenhang sehen muss. Auch zeigt ein Blick zurück, dass die Entscheidungen bezüglich des „Law Making“, des „Law Breaking“ und der „Reactions to Law Breaking“ auf der Grundlage von je eigenen Kosten- und Nutzenkalkülen getroffen werden und dass diese Kalküle von jenen angestellt werden, die Gesetze machen (oder auch nicht), die Gesetze verletzen (oder auch nicht) und die so oder anders auf Gesetzesverstöße reagieren (oder auch nicht). Diese im Kern dem ökonomischen Denken verpflichtete Analyse von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung kann sich auf Adam Smith berufen, hat in Beccaria einen illustren Vorläufer, hat aber erst im letzten Jahrhundert dank Gary S. Beckers Aufsatz eine breite Resonanz gefunden. Inzwischen existiert zu diesem Thema eine reichhaltige Literatur, die einerseits das theoretische Instrumentarium weiterentwickeln und andererseits die empirische Untermauerung des theoretischen Ansatzes liefern soll. Wenn auch hierbei durchaus beachtliche Ergebnisse erarbeitet worden sind, so vermitteln doch insbesondere die empirischen Studien in ihrer häufigen Widersprüchlichkeit ein eher irritierendes Bild. 3 Ökonomische Theorie der Prinzipien und des individuellen Gewissens Oben ist darauf hingewiesen worden, dass das Verhalten der Menschen nicht nur durch soziale Normen und gesetzlichen Zwang, also von außen kontrolliert werden kann. Es könne auch, so hatten wir ausgeführt, durch eine innere Instanz in diese oder jene Ökonomische Theorie der Prinzipien und des individuellen Gewissens · 97 <?page no="115"?> Richtung gelenkt werden. So war die Rede von individuellem Gewissen und von Prinzipien, an denen sich das Handeln ausrichtet. Dabei hatten wir angemerkt, dass die Prinzipien als Regeln anzusehen sind, die der Einzelne bezüglich des Umgangs mit sich selbst aufstellt und durchsetzt. Im Gegensatz dazu stellt das Gewissen eine innere Regelinstanz dar, die den Umgang des Einzelnen mit anderen ordnet bzw. ordnen soll. Beide - die Prinzipien und das Gewissen - regeln den Umgang des Menschen mit sich selbst bzw. mit anderen, indem sie ihn in konkreten Situationen davon abhalten, etwas zu tun, was in dieser Situation für ihn wohlfahrtsfördernd wäre, oder aber indem sie ihn dazu anhalten, etwas zu tun, was in dieser Situation für ihn wohlfahrtsmindernd ist. Im Folgenden wenden wir uns zuerst - gleichsam als Hinführung zur inneren Verhaltensregelung des Einzelnen gegenüber anderen - der Analyse der Prinzipien als Gegenstand der ökonomischen Theorie zu. Im Anschluss daran soll das individuelle Gewissen ebenfalls als Gegenstand der ökonomischen Theorie erörtert werden. 3.1 Prinzipien Hier geht es um Überlegungen, die Robert Nozick im Zusammenhang mit der Frage angestellt hat, ob und warum Menschen, die rational und an der eigenen Wohlfahrt interessiert sind, in Einzelsituationen aus Prinzip auf wohlfahrtsförderliche Handlungen verzichten. Es geht also um die Frage, ob es rational und der eigenen Wohlfahrt dienlich ist, auch dann Prinzipien zu haben und zu befolgen, wenn dies in der konkreten Situation die eigene Wohlfahrt nicht erhöht, sondern sie sogar beeinträchtigt. Konkret: Handelt jemand, der im Moment gerne rauchen möchte, rational und wohlfahrtsmaximierend, wenn er aus Prinzip die ihm angebotene und - als einzelne - harmlose Zigarette ablehnt? 3.1.1 Prinzipien wären im Rahmen des Rational Choice überflüssig ... Auf den ersten Blick will es scheinen, dass dem nicht so ist: Dem Einzelnen mag klar sein, dass das Rauchen vieler Zigaretten lebensgefährdend ist, doch wird er wissen, dass das Rauchen einer Zigarette harmlos ist. Also wird er diese eine Zigarette doch wohl annehmen können. Nur: Wenn diese eine Zigarette nicht todbringend ist, so wird es die nächste als Einzelne auch nicht sein, die übernächste auch nicht, usw. Die Folge ist, dass als einzelne harmlose, in ihrer Gesamtheit aber lebensgefährdende Zigaretten geraucht werden. Die einzelne Entscheidung, eine Zigarette zu rauchen, mag wohlfahrtssteigernd sein, die Summe der einzelnen Entscheidungen aber, je eine Zigarette zu rauchen, ist wohlfahrstmindernd, weil lebensgefährdend. Nun mag man einwenden, dass der Einzelne diesen Zusammenhang leicht durchschauen und in Rechnung setzen kann. Er könne also entscheiden, jene Menge an Zigaretten zu rauchen, die - unter Berücksichtigung seines auf die Gegenwart diskontierten wahrscheinlich frühzeitigen Krebstodes und seiner Lust am Rauchen - seine Wohlfahrt maximiert. Dies ist richtig; nur ist diese Entscheidung eine völlig andere als jene, aus Prinzip nicht einmal eine harmlose Zigarette zu rauchen. 98 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="116"?> 3.1.2 ... wenn es nicht die Versuchung des Augenblicks gäbe: das „matching law“. Es scheint also, als gäbe es für das Aufstellen und Befolgen von Prinzipien keine rationale Begründung. Dem steht nun aber ein auch empirisch nachgewiesenes, offensichtlich entwicklungsgeschichtlich bedingtes Merkmal der menschlichen Psyche entgegen: Die Attraktivität einer in der Zukunft erwarteten wohlfahrtssteigernden Handlungskonsequenz sinkt überproportional zu der Zeit, die bis zu ihrem Eintritt verstreicht. Dies gilt mit umgekehrtem Vorzeichen auch für wohlfahrtsmindernde Entscheidungskonsequenzen. Ein einfaches Beispiel mag diesen - vielleicht nicht auf Anhieb verständlichen - Tatbestand verdeutlichen (vgl. Abbildung 9). Jemand soll am 1. Januar wählen: Entweder werden ihm 100 EUR am 28. Januar ausbezahlt, oder aber er bekommt 120 EUR am 31. Januar. Es vergehen also bis zur Auszahlung 28 bzw. 31 Tage.Am 1. Januar wird die Attraktivität der am 31. Januar auszubezahlenden 120 EUR die Höhe von A haben; die am 28. Januar auszubezahlenden 100 EUR werden die Attraktivität B haben. Es ist also am 1. Januar attraktiver, am 31. Januar 120 EUR zu bekommen als am 28. Januar 100 EUR. In unserem Beispiel ändert sich hieran nichts bis zum 26. Januar. Fragt man am 26. Januar nach der Attraktivität der am 31. Januar auszuzahlenden 120 EUR bzw. der für den 28. Januar zu erwartenden 100 EUR, so ist unser Individuum indifferent (Punkt C). Fragt man ihn am 28. Januar, ob er sofort 100 EUR haben will oder doch lieber auf die 120 EUR nach drei Tagen warten will, so wird er sich für die sofortige Auszahlung von 100 EUR entscheiden. Die Attraktivität der relativ geringen, sofort ausbezahlten Summe ist größer (Punkt D) als jene des höheren, aber erst in drei Tagen fälligen Betrages (Punkt E). Ökonomische Theorie der Prinzipien und des individuellen Gewissens · 99 Abbildung 9 <?page no="117"?> Dieser als „matching law“ bekannte Tatbestand ist ausdrücklich nicht mit der Tatsache zu verwechseln, dass zukünftige wohlfahrtsrelevante Entscheidungsfolgen entsprechend der individuellen Zeitpräferenz auf ihren Gegenwartswert diskontiert werden müssen. Wenn nun die positiven Folgen einer Entscheidung eher als die negativen anfallen, so besteht die Gefahr, dass zeitweilig - unabhängig von jeder Zeitpräferenz - selbst geringfügige Wohlfahrtsgewinne im Entscheidungskalkül des Einzelnen ein größeres Gewicht haben als beträchtliche Wohlfahrtseinbußen.Wir haben es dann mit dem Phänomen zu tun, dass den Verlockungen des Augenblicks nicht widerstanden werden kann. Man kann es auch so sagen: Auf der Ebene der momentanen Entscheidungssituation ist es rational, der Versuchung zu erliegen, auf der Metaebene des gesamten Entscheidungs- und Konsequenzenzusammenhangs, also unter Berücksichtigung des „matching law“, ist es rational, der Versuchung zu widerstehen. Mit anderen Worten: Solange der Mensch als rationaler Wohlfahrtsmaximierer im Rahmen der einzelnen Entscheidungssituation kalkuliert, wird er der Versuchung erliegen. Erst wenn er - gleichsam von außen - sich selbst als Opfer des „matching law“ erkennt, wird er einsehen, dass es rational ist, der Versuchung zu widerstehen. Es ist nun nicht nur eine theoretische Spekulation, sondern auch eine empirisch belegte Tatsache, dass der Mensch in der Lage ist, sich - wenn auch nicht unbedingt simultan - auf beiden Ebenen zu bewegen. Konkret: Der Mensch ist in der Lage zu erkennen, dass er angesichts von Versuchungen des Augenblicks Gefahr läuft, insgesamt wohlfahrtsmindernde Entscheidungen zu treffen. Er erkennt, dass er sich in bestimmten Situationen im Zweifel selbst schädigen wird. Dass der Einzelne zur Bedrohung für die eigene Wohlfahrt wird, kann demnach zwei analytisch unterschiedliche, häufig gleichzeitig vorliegende Gründe haben: - Er vergleicht die Kosten und Nutzen von isolierten Einzelentscheidungen und kommt zu dem Schluss, dass sie wohlfahrtssteigernd sind. Dabei übersieht er, dass viele solcher Einzelentscheidungen in ihrer Gesamtheit wohlfahrtsmindernd sein können. - Er lässt sich durch die vergleichsweise größere Attraktivität zeitlich naher Entscheidungskonsequenzen täuschen, gibt also momentanen Versuchungen nach und opfert so seine Wohlfahrt den Verlockungen des Augenblicks. Mag nun auch der Mensch in der einzelnen Entscheidungssituation oft nicht in der Lage sein, diesen Zusammenhang zu durchschauen und die entsprechende Gefahr zu erkennen, so ist er doch wenigstens bis zu einem bestimmten Punkt außerhalb konkreter Entscheidungssituationen in der Lage, Abstand von sich selbst zu nehmen, sich selbst kritisch und misstrauisch zu betrachten. Hat er sich selbst aber erst einmal als mögliche Gefahr für die eigene Wohlfahrt erkannt, so liegt es nahe, Maßnahmen gegen sich selbst zu ergreifen, sich also vor sich selbst zu schützen. Viele Möglichkeiten sind hier denkbar, viele Vorkehrungen werden auch in praxi von wahrscheinlich jedem von uns in diesem Sinn getroffen. Diese Möglichkeiten und Vorkehrungen laufen oft darauf hinaus, dass wir es uns ex ante künstlich erschweren, der Versuchung nachzugeben und als Einzelne harmlose, in ihrer Gesamtheit aber gefährli- 100 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="118"?> che Entscheidungen zu treffen. So nehmen wir zur Party keine eigenen Zigaretten mit und müssen - peinlicherweise - jedesmal andere Gäste anbetteln. So entscheiden wir uns „ein für allemal“, überhaupt keine Zigaretten, also „aus Prinzip“ nicht zu rauchen. Prinzipien erweisen sich in dieser Optik als Instrumente rationaler Wohlfahrtsmaximierung. Sie sollen helfen, der Beschränktheit der eigenen Rationalität in konkreten Entscheidungssituationen zu begegnen. Prinzipien sind ein Ausdruck des Misstrauens rationaler Menschen gegen die Trübungsanfälligkeit der eigenen Rationalität. Gilt nämlich für jemanden das Prinzip, nicht zu rauchen, so wiegt für ihn das Rauchen einer Zigarette genau so schwer, wie das Rauchen vieler Zigaretten.Trifft dies aber zu, dann gehen auch in das Entscheidungskalkül konkreter Einzelsituationen die Kosten des Rauchens vieler Zigaretten ein. Allerdings geschieht dies indirekt: Wer gegen ein gültiges Prinzip verstößt, hat mehr oder weniger starke Gefühle des Versagens, und dies i.d.R. unmittelbar nach dem Fehlverhalten. Das „matching law“ kommt also hier nicht (mehr) zum Zuge. Rückblickend ist festzuhalten: Nicht obschon, sondern weil er ein rationales wohlfahrtsmaximierendes Wesen ist und weil er in der Lage ist zu erkennen und vorwegzunehmen, dass in konkreten Entscheidungssituationen sein Rationalvermögen begrenzt ist, ist es für den Menschen zweckmäßig und sinnvoll, Prinzipien zu folgen. Prinzipien sind in dieser Optik nicht Fremdkörper, sondern Elemente des Rational Choice. 3.2 Das individuelle Gewissen Prinzipien erscheinen demnach geeignet, den Umgang des Einzelnen mit sich selbst so zu regeln, dass er - trotz seiner Rationalitätsdefizite - nicht zur Gefahr für die eigene Wohlfahrt, möglicherweise für die eigene Existenz wird. Demgegenüber lässt sich das individuelle Gewissen aus der Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie als ein Organ auffassen, dessen Funktion darin besteht, den Umgang des Einzelnen mit anderen so zu regeln, dass er nicht zur Bedrohung für deren Wohlfahrt und Existenz wird. Das Gewissen kann demnach als ein Organ angesehen werden, das den Einzelnen als Teilnehmer am gesellschaftlichen Umgang mit anderen weniger gefährlich, möglicherweise harmlos, vielleicht sogar hoch willkommen macht. Mag das individuelle Gewissen auch ein Organ des Menschen sein, so ist es doch kein angeborenes, gleichsam natürliches Organ.Vielmehr ist es ein in dem Sinn künstliches Organ, als es erworben, oder soll man sagen: implantiert werden muss. Dies wiederum kann nur im Umgang des Einzelnen mit anderen Menschen geschehen. Der einzelne Mensch kann nur dann und soweit ein Gewissen haben, wie er ein gesellschaftliches Wesen ist. Die Unterscheidung von Gut und Böse lernt der Mensch im Verkehr mit den Menschen, nicht im Umgang mit den Dingen. Der isolierte Mensch wäre notwendigerweise amoralisch. Der gesellschaftlich isolierte Mensch weiß allenfalls - und auch dies nur in engen Grenzen - was nützlich ist; nicht aber weiß er, was gut ist. Dies bedeutet, dass das Gewissen nicht nur ein Organ ist, das die Gesellschaftsfähigkeit des Einzelnen fördert, vielleicht überhaupt erst ermöglicht; es ist auch ein Organ, das sich beim Einzelnen im gesellschaftlichen Umgang mit anderen entwickelt. Ökonomische Theorie der Prinzipien und des individuellen Gewissens · 101 <?page no="119"?> Der gesellschaftliche Prozess, in dem der Einzelne lernt, welches Verhalten vor dem Gewissen als gut und welches als schlecht zu gelten hat, setzt zweierlei voraus: Der Einzelne muss daran interessiert sein, ein Gewissen zu haben und zum Leitfaden seines Handelns zu machen; und: Andere müssen ein Interesse daran haben, dass der Einzelne ein Gewissen hat, und sie müssen ihm zu einem solchen verhelfen. Wir setzen vorerst beim letztgenannten Punkt an, nämlich bei der Frage, warum jemand Interesse daran hat, dass andere ein Gewissen haben. Der Einzelne hat ein Interesse an einem Gewissen anderer, weil so sichergestellt werden kann, dass diese jenes Verhalten unterlassen, das externe Kosten verursacht, und sie sich jenes Verhaltens befleißigen, das externen Nutzen nach sich zieht. Da darüber hinaus die Durchsetzung von Gesetzen und Normen für den Einzelnen mit Risiken, Gefahren und Kosten verbunden ist, hat der Einzelne ein Interesse daran, dass die anderen „von sich aus“, also „von innen“ heraus (aus Gewissensantrieb) die besagten negativen Externalitäten unterlassen bzw. die positiven Externalitäten verursachen. Vorerst möchte demnach jeder sagen, dass es besser, weil billiger ist, wenn jeder „von sich aus“ keinen Schmutz auf die Straße wirft. So könne man sich die Kosten der Polizei und die Unannehmlichkeiten, sich wechselseitig zur Ordnung zu rufen, sparen. Man sollte also meinen, dass damit die allseitige Bereitschaft gesichert ist, das Gewissen des jeweils anderen zu formen. Dieser Schluss ist deshalb voreilig, weil die Bildung des Gewissens bei anderen für den, der sich dieser Aufgabe widmet, mit Kosten verbunden ist. Man wird demnach nur dann erwarten können, dass jemand bereit ist, jemand anderem beizubringen, welches Verhalten „gut“ und welches „schlecht“ ist, wenn dies für ihn selbst vorteilhafter ist als jeweils im konkreten Einzelfall durch Bestrafung bzw. Belohnung auf die Einhaltung von gesellschaftlichen Normen hinzuwirken. Konkret: Eltern werden nur dann in das Gewissen ihres Kindes investieren und auf die Internalisierung der Norm „Du sollst Vater und Mutter ehren! “ hinarbeiten, wenn dies für sie vorteilhafter ist als bei jeder einzelnen Begegnung mit ihrem Kind durch positive bzw. negative Anreize die gesellschaftliche Norm des respektvollen Verhaltens gegenüber den Eltern sicherzustellen. Gerade dies aber ist nicht ohne weiteres der Fall. Zum einen hat die Ausbildung eines individuellen Gewissens insofern Kollektivgutcharakter, als auch jene vom gewissenhaften Verhalten des Einzelnen profitieren, die zur Ausbildung dieses Gewissens nicht beigetragen haben. Zum anderen lohnen sich Investitionen gemeinhin umso weniger, je kürzer die Zeit ist, in der man von ihnen profitieren kann.Wenn - im eben genannten Beispiel - das Kind nicht erst mit 27, sondern schon mit 16 aus dem Elternhaus auszieht, so lohnt es sich für die Eltern im Zweifel nicht, in das Gewissen des Kindes zu investieren. Vielmehr mag es für sie vorteilhafter sein, in konkreten Einzelsituationen das Wohlverhalten des Kindes durch Strafen und Belohnungen zu erwirken. Warum sollten die Eltern dem Kind gleichsam zur zweiten Natur werden lassen, nicht zu lügen, wenn es ohnehin demnächst kaum noch mit ihnen redet? Und warum sollten Eltern ihren Kindern ein Arbeitsethos, etwa die Gewissensverpflichtung zum ernsten Studieren vermitteln, wenn diese Kinder sich ohnehin in Kürze aus dem Lebenskreis der Eltern entfernen werden; es mag unter diesen Umständen für die Eltern rationaler sein, in einigen ihnen wichtigen Einzelsituationen ein bestimmtes Verhalten zu 102 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="120"?> erkaufen: „Wenn Du Dein Breichen isst, darfst Du länger fernsehen.“ „Wenn Du Dein Abitur machst, bekommst Du ein Auto.“ „Wenn Du Deinen Master machst, zahlen wir Dir eine Weltreise.“ Zugegebenermaßen sind dies - vielleicht auch nicht? - bis zur Karikatur übertriebene Beispiele, doch illustrieren sie die Logik eines Räsonnements, als dessen Ergebnis es für den Einzelnen nicht sinnvoll sein kann, jemand anderem die Unterscheidung zwischen Gut und Böse beizubringen, an der Ausformung des Gewissens von jemand anderem mitzuwirken, ihn zu einer moralischen Persönlichkeit heranzubilden. Es wird dem Leser nicht schwerfallen, unter Zuhilfenahme dieser Logik die Colemansche These zu reflektieren, dass die Flüchtigkeit der menschlichen Beziehungen in einer mobilen Gesellschaft eine der Ursachen für die relativ geringe Internalisierung gesellschaftlicher Normen ist. Auch wer der Anwendung des Rational-Choice Ansatzes auf das Gewissen skeptisch gegenübersteht, wird die Augen nicht vor der Tatsache verschließen können, dass jemand bei anderen in der Regel nur dann in die Internalisierung gesellschaftlicher Normen investiert, wenn er mit diesen anderen in länger dauernden Beziehungen stehen wird. Dies schließt zwar nicht völlig aus, dass auch bei einmalig-flüchtigen Begegnungen Einzelne auf die Internalisierung von Normen, also auf die Ausbildung eines Gewissens bei anderen hinarbeiten mögen. Doch wird dies nur dann zu erwarten sein, wenn entweder ihr eigenes Gewissen ihnen dies zur Pflicht macht oder die soziale Kontrolle ihnen dies nahelegt oder aber wenn sie per Gesetz, etwa als Erzieher, dazu gezwungen sind. Es zeigt sich demnach, dass - damit der Einzelne ein Gewissen habe - es nötig ist, dass andere ein Interesse daran haben, dass er auch ohne äußere Kontrolle bestimmte Regeln im Umgang mit anderen respektiert. Mit anderen Worten: Der Einzelne hat ein Gewissen, wenn und soweit andere - mittelbar oder unmittelbar - ein Interesse an seiner Gesellschaftsfähigkeit haben und von sich aus bereit oder aber durch soziale Kontrollen und Gesetze gezwungen sind, in diese seine Gesellschaftsfähigkeit zu investieren. Als gesellschaftsfähig gilt dabei in diesem Zusammenhang ein Mensch, der auch ohne äußere Kontrolle und ohne äußeren Zwang, also von sich aus, bei anderen bestimmte externe Kosten vermeidet und bestimmte externe Nutzen generiert. Nun sagten wir oben auch, dass es zur Internalisierung gesellschaftlicher Normen kommt, wenn beim Einzelnen ein Interesse an dieser Internalisierung besteht. Es reicht also nicht, dass A daran arbeitet, dass B ein Gewissen hat. Es muss auch B ein Gewissen haben wollen. Warum aber sollte es im Interesse von B sein, sich in einen Zustand versetzen zu lassen, in dem er Gewissensbisse hat, in dem er sich also selbst bestraft, wenn er - weil dies im Interesse anderer liegt - unterlässt, was im Augenblick seine eigene Wohlfahrt fördert? Warum sollte er daran interessiert sein, dass eine innere Ordnungsinstanz ihn dazu anhält zu tun, was wohl andere wollen, was im Augenblick aber seine eigene Wohlfahrt schmälert? Man möchte eher erwarten, dass der Einzelne ein Interesse daran hat, sich jenes Gewissen, das man ihm wie auch immer anerzogen haben mag, wie eine lästige Neurose wegtherapieren zu lassen. Schließlich hindern ihn beide - das Gewissen und die Neurose - daran zu tun, was unter den Bedingungen des jeweiligen Augenblicks seiner eigenen Wohlfahrt am meisten förderlich ist. Ökonomische Theorie der Prinzipien und des individuellen Gewissens · 103 <?page no="121"?> Warum also soll sich der Einzelne eine äußere Kontrolle seines Handelns in sein Inneres einpflanzen lassen wollen? Es ist symptomatisch, dass Coleman, der sonst mit Mut und Phantasie den Rational- Choice Ansatz auf die Analyse verschiedenartigster gesellschaftlicher Erscheinungen anwendet, diese Frage nicht einmal stellt, geschweige denn eine Antwort zu geben versucht. Es ist in der Tat eine für die Rational-Choice Theorie abenteuerliche Vorstellung, dass der Einzelne ein Interesse daran haben kann, sich von außen so programmieren zu lassen, dass er sich selbst bestraft - Stichwort: Gewissensbisse -, wenn er tut, was ihm zusagt, anderen aber nicht gefällt. Es ist eine für den Rational-Choice Ansatz schockierende Vorstellung, dass der Einzelne ein Interesse daran haben kann, sich in einen Zustand versetzen zu lassen, in dem er nicht anders kann, als sich selbst mit Strafe und Belohnung auch dann zur Einhaltung sozialer Normen zu motivieren, wenn dies im Einzelfall seinen eigenen Trieben, Wünschen, Bedürfnissen und Zielen zuwiderläuft. Nach wie vor ist für viele die Frage abwegig, die Robert H. Frank als Titel über einen seiner Aufsätze geschrieben hat: „If Homo Economicus Could Choose His Own Utility Function Would He Want One with a Conscience? “ Man kann sich fragen, ob diese Vorstellung wirklich so schockierend und abenteuerlich ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Einige mögliche Erklärungsmomente, die den Rahmen des Rational-Choice Ansatzes nicht sprengen, werden im Folgenden skizziert. Erstens: Noch recht oberflächlich, aber nicht notwendigerweise falsch ist die Überlegung, dass der Einzelne es als Entlastung empfinden mag, wenn einige Handlungsalternativen für ihn verboten bzw. geboten sind, und zwar auch dann, wenn niemand anders ihn von außen einschränkt bzw. anspornt. Die Informations- und Entscheidungskosten mögen für den Einzelnen in der Tat geringer sein, wenn er einen Teil der Handlungsmöglichkeiten deshalb nicht prüfen muss, weil sie für ihn „ohnehin nicht in Frage kommen“ bzw. weil sie nicht wahrzunehmen für ihn „außer Frage“ steht. Das Leben ist einfacher für den, dessen Gewissen den Totschlag verbietet, als für jenen, der jeden Morgen an einem einsamen Zeitungskiosk prüfen muss, ob er die Zeitung zahlen oder doch lieber den Verkäufer meucheln soll. Zweitens: Weniger oberflächlich ist folgender Gedanke: Der Mensch hat nicht nur ein Interesse an der Befriedigung seiner Bedürfnisse, sondern auch an der Existenz des eigenen selbstbewussten Ichs. Er ist nicht nur „selfinterested“, sondern auch „interested in his own self“. Was aber ist ein Selbst? - Hilfreich ist in diesem Kontext folgende Antwort: Ein Selbst ist jemand, der eine Geschichte erzählt, die in der Gegenwart erzählt wird, über die Vergangenheit berichtet und in die Zukunft hineinprojiziert wird. In jedem Augenblick muss jener, der die Geschichte erzählt, sich mit dem Hauptdarsteller in der Vergangenheit und in den phantasierten Kapiteln der Zukunft identifizieren können. Dies aber kann der Einzelne nur, wenn das, was der Hauptdarsteller in der Vergangenheit getan hat, vom Erzähler in der Gegenwart verarbeitet 104 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="122"?> und integriert werden kann. Er vermag es auch nur, wenn das, was vom Hauptdarsteller in der Zukunft zu erwarten ist, vom Erzähler heute schon integriert werden kann. Nur so ist es möglich, die Identität von Erzähler und Hauptdarsteller zu erhalten. So möge der Leser versuchen sich vorzustellen, dass jener Hauptdarsteller in seiner Lebensgeschichte, der heute sein Ich ist, morgen möglicherweise grausige Morde begehen wird. Es ist zu vermuten und zu hoffen, dass der Leser hierbei einige Schwierigkeiten haben wird. Es fällt ihm wohl schwer, in jenem, der morgen möglicherweise morden wird, sich selbst, sein Ich zu erkennen.Wenn dies aber richtig ist, dann bedeutet es, dass der Einzelne um der Kontinuität seines Ichs in der Zeit willen ein Interesse daran hat, dass er einige Dinge in Zukunft mit einiger Sicherheit unterlassen bzw. mit einiger Sicherheit tun wird. Man kann es auch so sagen: Es ist für die Kontinuität des Ichs in der Zeit (also hier: in die Zukunft hinein) wichtig, wenn der Hauptdarsteller jener Geschichte, die das Ich erzählt, in seinem Handeln wenigstens soweit voraussehbar ist, dass sein Tun und Lassen jene Grenzen nicht überschreitet, jenseits derer der Erzähler sich nicht mehr erkennen kann, jenseits derer der Hauptdarsteller sich selbst so unähnlich wird, dass die Geschichte auseinanderfällt, ihren inneren Zusammenhang und in den Augen des Erzählers ihren Sinn verliert. Das Gewissen nun wirkt in Richtung auf eine erhöhte Vorhersehbarkeit des eigenen Verhaltens. Indem es - auch dann, wenn externe Kontrollen und Sanktionen fehlen - durch innere Strafen bzw. innere Belohnungen das eigene Verhalten in eine bestimmte Richtung lenkt, zum einen von bestimmten Handlungen durch die Androhung von Gewissensbissen abschreckt, zum anderen durch die Aussicht auf ein gutes Gewissen motiviert, engt es den Rahmen des in Zukunft zu erwartenden Verhaltens ein; es gewährleistet also auf diese Weise die Kontinuität des eigenen Ichs. (Allerdings: Indem das Gewissen für den Menschen die Vorhersehbarkeit des eigenen Verhaltens erhöht, begrenzt es auch - siehe oben - seine Freiheit. Dies ist dann problematisch, wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hatte bzw. hat, in der Interaktion mit anderen sein Gewissen zu bilden bzw. weiterzuentwickeln. Man spricht denn auch in diesem Fall nicht ohne Grund von einem zwanghaften Gewissen.) Drittens: Auch dann, wenn man die These akzeptiert, dass der Einzelne - um der Kontinuität des eigenen Ichs willen - ein Interesse an der Ausbildung eines Gewissens hat, bleibt die Frage offen, warum der Einzelne soziale Normen internalisiert. Es bleibt also die Frage offen, warum er nicht autonom einen Lebensentwurf entwickelt, in dem er sich bestimmte Handlungen verbietet, andere aber gebietet. Warum besteht das Gewissen nicht schlicht in inneren Regeln, sondern in internalisierten sozialen Normen? Mit anderen Worten: Warum hat der Einzelne nicht nur ein Interesse daran, Normen zu haben; warum hat er auch ein Interesse daran, ein an sozialen Normen ausgerichtetes Gewissen zu haben? Ökonomische Theorie der Prinzipien und des individuellen Gewissens · 105 <?page no="123"?> Es gibt zu dieser Frage eine umfangreiche psychologische, psychoanalytische, pädagogische, soziologische und moraltheologische Literatur. Es läuft nicht auf eine Geringschätzung dieser Arbeiten hinaus, wenn an dieser Stelle nur im Kontext der Neuen Politischen Ökonomie eine Antwort skizziert wird. Dass diese Antwort einfach, ja simplistisch ist, ist der Preis dafür, dass das Gewissen als Untersuchungsgegenstand in dieser Disziplin überhaupt wahr- und ernstgenommen wird. Wir sagten eben, dass der Mensch nicht nur „self-interested“, sondern auch „interested in his own self“ ist. Dieses Selbst entwickelt und bewahrt der Mensch nicht in beziehungsloser Einsamkeit, sondern im Verhältnis zu anderen. Der Mensch ist ein soziales Wesen nicht nur um der Befriedigung seiner Bedürfnisse, sondern auch um des Erhalts seines Selbst willen. Der gesellschaftliche Umgang der Menschen aber setzt voraus, dass ihr Verhalten in dem Sinne wechselseitig vorhersehbar ist, dass einiges mit großer Wahrscheinlichkeit getan bzw. nicht getan wird. Im Bild: Das Verhalten der Einzelnen muss sich innerhalb eines Rahmens abspielen, dessen Grenzen für die anderen vorhersehbar und gegebenenfalls für alle gleich sind. Was Folgendes bedeutet: Entwickelt und bewahrt der Einzelne sein eigenes Selbst im Verkehr mit anderen, ist dieser Verkehr aber nur möglich im Rahmen der für alle Gesellschaftsmitglieder bekannten und gegebenenfalls gültigen Normen, so begründet das Interesse des Einzelnen am eigenen Selbst sein Interesse an der Internalisierung sozialer Normen. Anders ausgedrückt: Da der Einzelne nur im gesellschaftlichen Umgang mit anderen jenes Selbst entwickeln und bewahren kann, an dem er ein Interesse hat, da dieser Umgang aber erleichtert, vielleicht gar erst ermöglicht wird, wenn das Verhalten des Einzelnen in mehr oder weniger engen Bahnen verläuft, die jedenfalls wenigstens teilweise für alle die gleichen sind, hat jeder Einzelne ein Interesse an einem individuellen Gewissen. Er hat ein Interesse daran, dass sein individuelles Gewissen aus sozialen, d. h. auch von den anderen akzeptierten Normen besteht. Viertens: Dass die Genese des Gewissens, d. h. die Heranbildung zur moralischen, also gesellschaftsfähigen Person vornehmlich in den Jahren der Kindheit stattfindet, soll nicht übersehen lassen, dass die Entwicklung des individuellen Gewissens weitergeht, jedenfalls weitergehen kann. Die keineswegs seltene Tatsache, dass erwachsene, gar ältere Menschen sich an die in ihren frühen Jahren internalisierten Normen klammern, deutet allerdings darauf hin, dass dieser Entwicklung mehr oder weniger große Hindernisse entgegenstehen mögen: Nicht nur ist es nötig, dass neue soziale Normen internalisiert, d. h. wahrgenommen, verstanden, akzeptiert und integriert werden; darüber hinaus müssen im Zweifel soziale Normen, die in der Vergangenheit galten, als nunmehr entwertet erkannt, anerkannt und aufgegeben werden. Dies mag aber für den Einzelnen die zeitliche Kontinuität des eigenen Selbst so sehr bedrohen, dass er nicht oder kaum zu dieser (Selbst-) Verleugnung fähig und bereit ist: Um sich selbst 106 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="124"?> treu zu bleiben, entfremdet sich der Einzelne im Zweifel von den andern; dies wiederum mit den entsprechenden bedenklichen Konsequenzen für eben jenes Selbst, das durch die Treue zu den ehedem erworbenen sozialen Normen bewahrt werden sollte. Es dürfte eine Erfahrung nicht weniger älterer Menschen sein, dass sie vor der Wahl stehen, ihr eigenes Selbst wenigstens teilweise zu verleugnen, indem sie ehedem gültige soziale Normen aufgeben, oder - um des eigenen Selbst, um der Kontinuität des eigenen Selbst willen - an diesen Normen festzuhalten. Dies dann allerdings um den Preis, als Sonderling mit antiquierten Moralvorstellungen gesellschaftlich isoliert zu werden. Diese schon tragisch zu nennende Situation kann in der kühlen Sprache des Rational Choice so formuliert werden: In einer Gesellschaft, in welcher sich die Normen, die man als Einzelner internalisieren muss, wenn man denn an ihr partizipieren soll, (schnell) wandeln, steht der Einzelne - und je älter er ist, desto mehr - vor der Notwendigkeit, die Kosten einer Selbstverleugnung mit den Nutzen der gesellschaftlichen Integration zu vergleichen. Es muss wohl nicht eigens darauf hingewiesen werden, dass diese Überlegungen nicht nur für ältere Menschen gelten, die dieses Optimierungskalkül unter den sich wandelnden Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung anstellen müssen.Vielmehr gelten sie für all jene, die sich in einem für sie neuen Kontext von sozialen Normen zurechtzufinden und einzurichten haben. Dieser Kontext mag neu sein, weil er sich in der Zeit verändert hat; er mag aber auch deshalb für den Einzelnen neu sein, weil dieser - etwa als Emigrant oder Exilant - sich und sein Selbst in einer für ihn bislang unvertrauten sozialen Umgebung verorten muss. 4 Amoral, Moral, Unmoral Wir wollen im Folgenden unsere Ausführungen über Gesetze, Normen und Gewissen unter einem etwas anderen Blickwinkel ergänzen. Dabei wollen wir auf das konkrete Beispiel des Umweltschutzes zurückgreifen. Die Logik der Kollektivgüter legt den Schluss nahe, dass Individuen, die willens und fähig sind, ihr Handeln an den eigenen Interessen auszurichten, eben jene Güter, die dem Ausschlussprinzip nicht unterworfen sind, nicht bereitstellen werden. Am Beispiel: Obschon jeder am Erhalt der Ozonschicht ein wortwörtlich vitales Interesse hat, trägt - so die Kollektivgütertheorie - jeder durch sein Verhalten zur Zerstörung der Ozonschicht bei. Der Fluss, an dessen Fischreichtum jeder Fischer interessiert ist, wird von jedem im Zweifel bis auf den letzten Gründling abgefischt. Es ist die Tragik der Allmende, auch und gerade von jenen, die auf ihre Existenz angewiesen sind, zerstört zu werden. Die Optimisten unter den Zeitgenossen verweisen nun gerne darauf, dass dies so schlimm nicht sei. Insbesondere betonen sie, dass sich das Umweltbewusstsein allmählich wandle und so mit einem zunehmend umweltfreundlichen Verhalten zu rechnen sei. Die Pessimisten ihrerseits argumentieren, dass der Mensch ein egoistisch- Amoral, Moral, Unmoral · 107 <?page no="125"?> rechnendes Wesen sei und - der Logik der Kollektivgüter folgend - auf die Umwelt wenig (wenn überhaupt), und dann nur unter engen Bedingungen Rücksicht nehme. Die Frage ist also: Muss man, wenn man von Umweltbewusstsein reden will, die ansonsten doch so nützliche Hypothese des am Eigennutz interessierten und ausgerichteten Individuums aufgeben und unterstellen, dass die Menschen als Einzelne sich selbst und ihr Interesse aus den Augen verlieren und/ oder aufhören, sich über die Folgen ihres Tuns Gedanken zu machen? Die Antworten auf diese Fragen kommen aus verschiedenen Lagern: - Auf der einen Seite stehen jene, die sagen, der Mensch sei eben nicht nur ein auf sich selbst bezogenes und abwägend-rechnendes Wesen. Er sei vielmehr zu selbstloser Hingabe fähig, auch verliere er schon mal den Kopf. Neben dem egoistischen Eigeninteresse gebe es die schenkende Hingabe, und neben dem Verstand gebe es Gefühle, Instinkte,Triebe, Leidenschaften. - Auf der anderen Seite stehen jene, die behaupten, dass der Mensch in seinem Handeln durchaus als rationales und eigeninteressiertes Wesen gesehen werden könne: Nächstenliebe sei eine Form der Selbstliebe. So werde das Almosen nur vordergründig um des Bettlers willen gegeben; in Tat und Wahrheit werde es gegeben, damit man selbst in den Genuss des guten Gewissens komme oder vor den Zuschauern gut dastehe.Auch sei, was von außen betrachtet irrational erscheine, für den Handelnden selbst, also von innen betrachtet, verständig und vernünftig. An dieser Stelle könnten wir es uns jetzt leicht und bequem machen und uns vorbehaltlos und ohne weitere Überlegung auf die eine oder auf die andere Seite schlagen. Beides - sowohl die einfache Übernahme der gängigen Rational-Choice Argumentation als auch die schnelle Wendung gegen die Hypothese des rational-eigeninteressierten Individuums - wäre, wenn auch auf unterschiedliche Weise, an dieser Stelle unbefriedigend.Wir wollen also wenigstens vorerst keinen dieser Wege beschreiten.Wir wollen vielmehr einen Augenblick innehalten und prüfen, ob nicht die Existenz von zwei Ansätzen, die sich gegenseitig ausschließen wollen, aber beide in ihrer Wertigkeit begründbar sind, es erlaubt, über beide hinauszugehen.Wir wollen also zusehen, ob nicht gerade von der Unvereinbarkeit der beiden Positionen, wie sie sich hier gegenüberstehen, zu neuen Fragestellungen und Antwortversuchen vorgestoßen werden kann. Dabei wollen wir behutsam vorgehen. Damit die Darstellung nicht zu abstrakt ist, beginnen wir mit zwei Beispielen.Anschließend wollen wir anhand dieser Beispiele die theoretische Argumentation wieder aufnehmen. Das erste Beispiel: In einer menschenleeren Straße sitzt ein blinder, tauber und lahmer Bettler.Vor ihm liegt eine Mütze, und in dieser Mütze liegt ein Euro-Schein. Nach einer Weile kommt ein Mann vorbei. Frage: Wird er den Euro-Schein aus dem Hut nehmen, also den Bettler bestehlen? Der Leser mag nun in selbstgerechter Entrüstung von sich auf den Mann schließen und die Frage mit Nein beantworten.Allerdings ist dann zu fragen, wieso er es eigentlich nicht tut: Der Bettler sieht und hört nichts, und selbst wenn er den Diebstahl bemerken würde, könnte er, lahm wie er ist, den Dieb nicht verfolgen. Der Mann würde von daher also nichts riskieren. Da die Straße leer und - wie er weiß - um diese Tageszeit immer leer ist, läuft er auch nicht Gefahr, von anderen als Dieb gestellt und bestraft zu werden. Man sollte also vorerst anneh- 108 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="126"?> men, dass der Mann, zu dessen Wohlfahrt die zehn Euro einen Beitrag liefern könnten, das Geld stehlen wird. Dies wenigstens dann, wenn er an seiner eigenen Wohlfahrt interessiert sowie bereit und fähig ist, sein Handeln an der eigenen Wohlfahrt auszurichten. Es kann nun gewiss nicht ausgeschlossen werden, dass der Mann das Geld tatsächlich nimmt. Allerdings kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass er es nicht nimmt. Also: Der Mann kann wohl, muss aber den Bettler nicht bestehlen. Wovon aber hängt nun sein Verhalten ab? Eine übliche und nicht notwendigerweise falsche Antwort ist - erstens - diese: Der Mann ist über den Anblick des Bettlers so erschüttert, das Bild des Elends bringt ihn so durcheinander, dass er zu rationalen Überlegungen nicht mehr fähig ist, vielleicht den Geldschein nicht einmal mehr sieht, jedenfalls zu der simplen Überlegung, dass der Geldschein ihm von Nutzen sein könnte, nicht mehr in der Lage ist. Ein Mensch, der den Kopf verloren hat, ist schwerlich ein rationales Individuum. Er würde vielleicht noch an sich denken wollen, nur denkt er in dieser Situation überhaupt nicht mehr. Der Mann mag sich - zweitens - dem Bettler so sehr verbunden fühlen, mag in ihm so sehr den Mitmenschen sehen, dass er dessen Wohlfahrtseinbuße als eigenes Leid erfährt, und dieses Leid den Wohlfahrtsgewinn, den er aus den zehn Euro ziehen könnte, übersteigt. Adam Smith hat in seiner „Theory of Moral Sentiments“ jene Bedingungen untersucht, unter denen der eine des anderen Lust zu seiner Lust, und des anderen Leid zu seinem Leid macht. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass diese (hier nicht näher zu erläuternden) Bedingungen sehr restriktiv sind. Es muss hier der Hinweis genügen, dass sie hier und heute wohl weitgehend nicht (mehr) gegeben sind. Allerdings kann festgehalten werden, dass dann, wenn diese Bedingungen vorliegen, auch der rational kalkulierende und auf das eigene Wohlergehen ausgerichtete Mann den Bettler nicht bestehlen wird. Auch mag man - drittens - annehmen, dass der Mann im Bettler so sehr den Nächsten liebt, dass er darüber wohl sein eigenes Wohl völlig vergisst, dass er dieses Wohl hinter das Wohl des Bettlers stellt. Rational abwägend hat er also nur das Glück des Bettlers im Auge. Zwar ist er ein rationales Wesen, aber doch ist er ein nur auf den Nächsten ausgerichtetes Wesen. Der Mann handelt rational im Dienste der Wohlfahrt des anderen. Diese in ihrer heroischen Heiligkeit gewiss ehrenwerte Einstellung dürfte allerdings, wenn überhaupt, eher selten anzutreffen sein. Dies deshalb, weil diese Art von selbstlosem Verhalten eine Selbstlosigkeit, eine Loslösung vom eigenen Selbst voraussetzt, zu der nur wenige bereit und fähig sind. Schließlich mag man - viertens - wie folgt argumentieren: Der Mann nimmt die zehn Euro nicht, weil er das Verbot des Diebstahls dergestalt internalisiert hat, dass jeder Verstoß gegen dieses Gebot mit Gewissensbissen verbunden ist, die für ihn eine größere Wohlfahrtseinbuße bedeuten als der aus den zehn Euro ableitbare Wohlfahrtsgewinn. Hier haben wir es demnach mit einem rational kalkulierenden, auf seinen Eigennutz ausgerichteten Individuum zu tun. Zusammenfassend lässt sich demnach vorerst festhalten, dass der rational auf den Eigennutz ausgerichtete Mann den Bettler bestehlen kann. Der Mann kann den Bettler aber auch nicht bestehlen, und zwar Amoral, Moral, Unmoral · 109 <?page no="127"?> - weil er weder rational noch eigennützig ist. - obschon bzw. weil er rational und eigennützig ist. - obschon bzw. weil er rational, aber nicht eigennützig ist. Dies ist nun eine derart allgemeine, (fast) nichts ausschließende Aussage, dass sie (fast) völlig inhaltsleer ist. Sie ist also unbefriedigend; wir müssen über sie hinausgehen. Ehe wir das aber tun, möge der Leser die Geduld aufbringen, sich noch das zweite Beispiel anzusehen. Im Gegensatz zum ersten, das auf das unmittelbare Zusammentreffen von zwei Individuen, dem Bettler und dem Passanten, abstellt, illustriert dieses den uns mehr interessierenden Fall der individuellen Beiträge zur Bereitstellung von Kollektivgütern. Das erste Beispiel diente gleichsam als Hinführung zum zweiten. Wir werden sehen, dass wir die Argumentationsfiguren, die wir in jenem gefunden haben, auch im zweiten antreffen. Entsprechend können wir uns nun kurz fassen. Ein Mann steht in seinem Badezimmer und will sich rasieren. Er verfügt nur über zwei Möglichkeiten: Er kann Pinsel und Seife oder aber FCKW-getriebenen Rasierschaum benützen. Die erste Methode ist zwar umweltfreundlich, aber recht unbequem; die zweite Methode ist zwar bequem, aber umweltfeindlich. Der Mann weiß dies. Auch entspricht es keineswegs seinen Präferenzen, als Folge einer zerstörten Ozonschicht erst zu erblinden und dann an Hautkrebs zu sterben. Frage: Wie wird er sich rasieren? In einem ersten Ansatz legt die Kollektivgütertheorie die Vermutung nahe, dass er zur Spraydose greifen wird. Unterlässt er dies im Gegensatz zu allen anderen, so rettet er im Alleingang die Ozonschicht nicht.Tut er es - im Gegensatz zu allen anderen - wohl, so zerstört er im Alleingang die Ozonschicht nicht. Also: Entweder ist sein Verzicht auf Bequemlichkeit nutzlos, oder aber er ist überflüssig. So oder so gebietet die am Eigennutz orientierte Rationalität, nur an die eigene Bequemlichkeit zu denken und in der Konsequenz die Ozonschicht zu zerstören. Nun kann man aber bei sich und anderen feststellen, dass trotzdem einige (viele) zu Rasierseife und Pinsel greifen, und dies, obschon sie nach wie vor die Spraydose als die bequemere Methode ansehen.Warum? Nach dem oben Gesagten bieten sich die möglichen Antworten geradezu von selbst an: - Der Mann fürchtet die Vorwürfe seiner Kinder, wenn er zur FCKW-Dose greift; und dass sie ihm Vorwürfe machen werden, ist recht wahrscheinlich. Da ihre Lebenserwartung größer ist als die seine, sind die Umweltrisiken für sie größer, auch leiden sie nicht an der Unbequemlichkeit, wenn er Rücksicht auf die Umwelt nimmt. Wir haben es hier mit selektiven Anreizen zu tun: Der Mann wird rational-eigeninteressiert umweltfreundlich handeln, um sich den Ärger mit seinen Kindern zu ersparen. Dies aber kann er nur, wenn er seinen Beitrag zum Kollektivgut Umweltschutz leistet; diesen Beitrag leistet er aber gleichsam nur als Nebenprodukt des dem Ausschlussprinzip unterworfenen Gutes „Kein Ärger beim Frühstück“. Der Mann wird, nur an sich denkend und rational handelnd, zu Pinsel und Seife greifen. - Man kann sich aber auch vorstellen, dass der Mann in seinem Badezimmer derart heftig von Umweltangst gepackt wird, dass er „den Kopf verliert“, wohl noch an sich und seine Interessen denkt, aber nicht mehr zu nüchternem Kalkül fähig ist. Er 110 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="128"?> weiß nur noch, dass FCKW die Ozonschicht zerstört und dies für ihn bedrohlich ist. Dass sein individueller Beitrag zum Schutz dieser Schicht entweder überflüssig oder nutzlos ist, kommt ihm nicht mehr in den Sinn: Sehr wohl eigennützig, aber nur begrenzt denkfähig, rasiert er sich mit Pinsel und Seife. - Er mag sich auch in seinem Badezimmer so intensiv die Bedrohung der besonders gefährdeten Bewohner der südlichen Hemisphäre vorstellen, dass er sich und seine Bequemlichkeit vollständig vergisst und er in wortwörtlich selbstloser Nächstenliebe auf die Spraydose verzichtet. Sein Handeln ist nicht am Eigennutz interessiert, wohl aber rational: Da die bei ihm in Form von Unbequemlichkeit anfallenden Kosten überhaupt nicht ins Gewicht fallen, gibt selbst der infinitesimal kleine Beitrag, den er mit seinem Verhalten zum Schutz der Ozonschicht und damit der Bewohner Australiens und Neuseelands leistet, den Ausschlag. - Nur auf den ersten Blick mit der eben geschilderten heiligmäßig-heroischen Nächstenliebe ist der Fall verwandt, in dem der Mann sich so sehr mit den Australiern und Neuseeländern identifiziert, dass er an deren Krebsleiden leidet und ihre Gesundheit ein Teil seiner Wohlfahrt ist. In der Tat: Da hier der Mann sich nicht selbst vergisst, fällt seine Unbequemlichkeit wieder ins Gewicht, und damit muss er - wenn er denn rational kalkuliert - einsehen, dass es entweder überflüssig oder nutzlos ist, sie für seine und der anderen Gesundheit auf sich zu nehmen. (Der Leser möge sich an das erste Beispiel erinnern: Hier hatte es sich für den Passanten vielleicht gelohnt, dem Bettler, dessen Leid und Lust er empathisch teilte, die zehn Euro nicht wegzunehmen; im zweiten Beispiel ist es für den einzelnen sicher nicht rational, auf jene Australier, deren Krebs ihm zu schaffen macht, Rücksicht zu nehmen. Während im zweiten Beispiel die Logik der Kollektivgüter gilt, ist dies im ersten Beispiel nicht der Fall.) - Ein Letztes: Der Mann mag ein Umweltgewissen haben. Er muss also befürchten, dass er dann, wenn er seiner Bequemlichkeit folgt und den Rasierschaum benutzt, an Gewissensbissen leiden wird. Beeinträchtigen diese seine Wohlfahrt mehr als die Unbequemlichkeit einer Rasur mit Pinsel und Seife, so wird er - rational seinem Eigennutz folgend - auf die Spraydose verzichten. Wir treffen also auch in diesem zweiten Beispiel auf verschiedene Möglichkeiten, nach denen Eigennutz und Rationalität die Rücksichtnahme auf die Umwelt, also einen individuellen Beitrag zur Bereitstellung eines Kollektivgutes nahelegen - oder auch nicht. Im Folgenden wollen wir nun das Vorliegen von selektiven Anreizen vorerst ausklammern. Auch wollen wir nicht unterstellen, dass die Menschen - wie unser Mann im Badezimmer - den Kopf verlieren und - ohne zu bedenken, dass es überflüssig oder nutzlos ist - ihren Beitrag liefern. Gleichfalls wollen wir als wenig wahrscheinlich außer Betracht lassen, dass die Menschen in selbstloser Nächstenliebe einen Beitrag im Dienste von anderen leisten. Damit bleibt jetzt nur noch übrig, was in unseren beiden Beispielen als Gewissen angesprochen worden ist. Nun haben wir gesehen, dass dies eine Kategorie ist, die in der Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, also auch im Public Choice wenn überhaupt, eine marginale Rolle spielt. Die Vernachlässigung des Gewissens durch die Neue Politische Ökonomie ließe sich aber nur unter zwei Voraussetzungen rechtfertigen: Amoral, Moral, Unmoral · 111 <?page no="129"?> - Das individuelle Gewissen kann nur als Datum der gesellschaftlichen Interaktion angesehen werden, muss also nicht als abhängige Variable der gesellschaftlichen Interaktion betrachtet werden: Wie man eine Leber hat, so hat man eben auch ein Gewissen. - Die Analyse des Gewissens kann, wenn es denn eine abhängige Variable des gesellschaftlichen Prozesses, also auch des Handelns in Kollektiven ist, mit dem analytischen Instrumentarium der Neuen Politischen Ökonomie nicht erfasst werden. Weder ist es möglich, in den Kategorien des Public Choice in geordnet-nachvollziehbarer Weise zu diesem Thema Fragen zu stellen, noch ist es möglich, in diesen Kategorien wenigstens plausible, besser noch: empirische, überprüfbare Hypothesen zu formulieren. Beide Bedingungen sind - wie wir gesehen haben - nicht gegeben. Damit ist es sowohl nötig als auch möglich, das individuelle Gewissen als Gegenstand der Neuen Politischen Ökonomie zu behandeln. An dieser Stelle ist es nun zweckmäßig, einen Punkt aufzugreifen, der oben eher beiläufig erwähnt worden, der aber - wie die Arbeiten von Nozick und Taylor zeigen - gerade mit Blick auf unseren Problemzusammenhang eine größere Aufmerksamkeit verdient: Es war darauf hingewiesen worden, dass der Mensch nicht nur „self-interests“, sondern auch ein „interest in his own self“ hat. Der Mensch wolle nicht nur etwas haben, er wolle auch jemand sein. Dabei hatten wir gesagt, dass das Gewissen, also das Set internalisierter sozialer Normen dem Einzelnen erlaubt, ein Selbst zu haben, also sich selbst, ein Jemand unter anderen Menschen zu sein. Dies bedeutet: Der Mensch erfährt sich als er selbst unter Rückgriff auf Verhaltensregeln, die er - wie andere Menschen auch - dergestalt internalisiert hat, dass er sie - jenseits aller unmittelbaren Nützlichkeitsüberlegungen - für befolgenswert hält; es ist - in seinen Augen - gut, diese Regeln zu befolgen; es ist schlecht, sie zu verletzen. Diese Verhaltensregeln zu befolgen ist nicht deshalb angebracht, weil es etwas bringt, sondern weil es erlaubt, dass der Handelnde jemand ist. Die Regeln des Gewissens haben eine moralische Qualität. Dabei ist entscheidend, dass diese moralische Qualität daraus resultiert, dass die entsprechenden sozialen Normen internalisiert worden sind, nicht aber ist es zu dieser Internalisierung gekommen, weil die entsprechenden Regeln eine anderweitig begründete moralische Qualität haben. Die Internalisierung begründet die Moral, nicht aber begründet die Moral die Internalisierung. In dieser Optik können demnach in verschiedenen Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten völlig konträre Verhaltensregeln eine moralische Würde und Verbindlichkeit haben. Vorerst können wir also festhalten, dass das Selbst des Einzelnen sich unter Rückgriff auf Verhaltensregeln definiert, die von ihm und (den) anderen Gesellschaftsmitgliedern als gut bzw. als schlecht bezeichnet werden: Wer nicht lügt und stiehlt, ist ein ehrlicher Mensch; andernfalls ist er ein Lügner und ein Dieb. Wer Jute-Taschen benützt, ist ein Umweltfreund; wer Plastiktaschen benützt, ist ein Umweltzerstörer. Wer Soldat wird, ist ein guter Deutscher; wer den Wehrdienst verweigert, ist kein guter Deutscher...; die Liste der Beispiele lässt sich beliebig verlängern. Sie illustrieren, dass der Mensch durch sein Verhalten jemand ist; und er ist ein bestimmter Jemand, wenn und in dem Maße wie sein Verhalten den Regeln entspricht, die er und andere 112 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="130"?> internalisiert haben. Wir können also sagen, dass der Mensch sein Selbst in einem Raum definiert, dessen Dimensionen das als gut bzw. als schlecht beurteilte Verhalten sind; Charles Taylor spricht von einem „moral space“; in diesem und nur in diesem moralischen Raum kann der Mensch jemand sein; hier, nur hier kann er sich als individuelles Selbst erleben und von anderen als individuelles Selbst erlebt werden. Dieser „moral space“ hat verschiedene Charakteristika. Zwei sind für unsere Überlegungen von besonderer Bedeutung: - Er kann eine mehr oder weniger große Anzahl von Dimensionen aufweisen, je nachdem, ob der Einzelne sein Selbst mit mehr oder weniger zahlreichen moralisch qualifizierenden Eigenschaften in Bezug setzt. So mag der „moral space“, innerhalb dessen der Einzelne seine Identität definiert, die Dimensionen des Deutschseins/ Nicht-Deutschseins, der Keuschheit/ Unkeuschheit, der Ehrlichkeit/ Unehrlichkeit, der Treue/ Treulosigkeit gegenüber Freunden, der Verlässlichkeit/ Unzuverlässigkeit gegenüber Geschäftspartnern, der Umweltfreundlichkeit/ Umweltfeindlichkeit u. a. aufweisen. - Die Zahl und die Art der einen „moral space“ konstituierenden Dimensionen können von „space“ zu „space“ verschieden sein.Auch müssen Art und Zahl der Dimension für einen „moral space“ über die Zeit nicht konstant bleiben. Was gestern, etwa im Viktorianischen Zeitalter, eine hochbedeutsame Dimension des moralischen Raumes war, nämlich die sexuelle Zurückhaltung, kann heute sehr an Bedeutung für die Definition individueller Identität verloren haben. Umgekehrt: Die Umweltfreundlichkeit, die heute dabei ist, sich zu einer wichtigen Dimension des „moral space“ zu entwickeln, spielte ehedem - wenn überhaupt - eine sehr kleine Rolle bei der Definition des individuellen Selbst.Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen. - Wohl ist es das individuelle Selbst des Einzelnen, das sich im „moral space“ definiert, doch ist der „moral space“ selbst ein gesellschaftliches Phänomen. Der Einzelne definiert seine individuelle Identität in Bezug zu den Dimensionen des moralischen Raumes, in dem er lebt. Es ist also nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt, für sich allein einen moralischen Raum nach eigenem Geschmack einzurichten; den moralischen Raum teilt er als gesellschaftliches Wesen notwendigerweise mit anderen Menschen. Wer dennoch versucht, einen in Art und Anzahl der Dimensionen nur ihm eigenen „moral space“ zu schaffen, fällt notwendigerweise in die Asozialität; er fällt aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang heraus. So isoliert sich in einer Gesellschaft, deren „moral space“ auch die Dimension des Verhältnisses zur Umwelt hat, gesellschaftlich jener, der diese Dimension als moralisch nicht relevant abtut. Wohl kann sich jemand im Zweifel umweltfeindlich verhalten, doch darf er - bei Strafe der sozialen Isolierung, gar des gesellschaftlichen Ausschlusses - das Verhalten gegenüber der Umwelt nicht als moralisch indifferent abtun. Man kann es auch so sagen: Im Zweifel mag er sich unmoralisch verhalten, nur darf er nicht amoralisch sein. Wer die ökologische Dimension als unrelevant abtut, gilt als - wenigstens teilweise - amoralisch; und als amoralisches Wesen wird er - weil teilweise gesellschaftsunfähig - in die Asozialität gedrängt.Wer hingegen die ökologische Dimension als wichtig bejaht, wird - falls er gegen die Regeln verstößt - wohl als Umweltsünder, d. h. als unmoralischer Mensch angesehen und Amoral, Moral, Unmoral · 113 <?page no="131"?> gegebenenfalls behandelt, nur wird er nicht als gesellschaftsunfähig in die Asozialität gedrängt; vielmehr wird er als unmoralisch, als gesellschaftsunwillig, als antisoziales Wesen behandelt. Anders ausgedrückt: Ein notorischer Umweltsünder gilt in seinen und in den Augen anderer dann und solange als Bewohner des „moral space“, also auch als Mitglied der Gesellschaft, wie er jene umweltrelevanten Verhaltensregeln als gut oder schlecht ansieht, gegen die er verstößt. Jener aber, der im Gegensatz zu den übrigen Gesellschaftsmitgliedern das eigene und das fremde Verhalten gegenüber der natürlichen Umwelt als moralisch unrelevant, also weder als gut noch als schlecht, allenfalls als zweckmäßig oder nicht ansieht, gilt im besten Fall als Gesellschaftsmitglied minderen Ranges. Dies auch dann, wenn er bislang nicht in nennenswertem Ausmaß gegen die Regeln verstoßen hat. Völlig zu Recht gehen die übrigen Gesellschaftsmitglieder davon aus, dass er sich bislang nicht an der Umwelt vergangen hat, weil dies bislang noch nicht in seinem Interesse lag. Sie können und müssen aber davon ausgehen, dass er - sobald sich dies ändert - von sich aus keinerlei Hemmungen haben wird, die Umwelt zu schädigen, also in seinem Verhalten von sich aus auf andere keine Rücksicht zu nehmen. Schließlich ist zu beachten: Ob, wann und mit welchem Gewicht etwa die Umweltfreundlichkeit/ Umweltfeindlichkeit als Dimension in den „moral space“ aufgenommen wird, ist das Ergebnis des gesellschaftlichen Interaktionsprozesses, in welchen Individuen normative Urteile und positive Erkenntnisse, partikulare Interessen und allgemeine Wohlfahrtsvorstellungen einspeisen. Entscheidend für unsere Überlegungen ist nun, - und damit kommen wir auf den Ausgangspunkt zurück - dass die Teilnahme am gesellschaftlichen „moral space“ für die Definition der individuellen Identität von größter Wichtigkeit ist.Was auch heißt: - Jener, der eine oder mehrere der diesen „moral space“ konstituierenden Dimensionen nicht ernst nimmt, macht sich als gesellschaftliches Wesen mehr oder weniger unmöglich. - Jener, der die Dimensionen des „moral space“ wohl ernst nimmt, aber sich gegen eine oder mehrere dieser Dimensionen versündigt, definiert seine eigene individuelle Identität negativ; er wird zu einem „schlechten“ Menschen. Kehren wir nun zu unseren oben skizzierten Beispielen zurück. Es ging um die Fragen, warum der Passant den Bettler nicht bestiehlt und warum der Mann sich nicht mit FCKW-getriebenem Schaum rasiert. Es war unter anderem gesagt worden, dass selbst dann, wenn sie nichts anderes daran hindert, das Gewissen sie im Zweifel von ihrem Tun abhalten wird. Wir können an dieser Stelle eine andere, gleichfalls hilfreiche Formulierung für den angesprochenen Sachverhalt anbieten: - Bekennt sich der Einzelne nicht zu der Dimension der Ehrlichkeit/ Unehrlichkeit bzw. der Umweltfreundlichkeit/ Umweltfeindlichkeit als Bestand des „moral space“, so ist er - wenigstens soweit - ein asoziales Wesen. Es muss - falls nichts anderes ihn davon abhält - damit gerechnet werden, dass er den Bettler bestiehlt bzw. das FCKW-Spray benutzt: Asozialität und Amoral bedingen sich. - Bekennt sich der Einzelne zu der Dimension der Ehrlichkeit/ Unehrlichkeit bzw. der Umweltfreundlichkeit/ Umweltfeindlichkeit und verhält er sich trotzdem unmora- 114 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="132"?> lisch, d. h., nimmt er die zehn Euro, bzw. schädigt er die Umwelt, so beschädigt er sein Selbst. Er verletzt seine eigene Identität. Wohl hat er jetzt mehr Geld, doch ist er weniger; wohl hat er sein „self-interest“ befriedigt, doch hat er insofern sein self beeinträchtigt, als es ein negatives Selbst geworden ist: Nun hat er wohl zehn Euro, ist aber dafür ein Dieb. Damit aber sind wir einen entscheidenden Schritt über den flüchtigen Hinweis auf das Gewissen hinausgegangen. Es zeigt sich nämlich jetzt, dass es dem Menschen nicht nur darum geht, als Gesellschaftsmitglied seine Bedürfnisse zu befriedigen, sondern dass er auch ein Interesse daran hat, als Gesellschaftsmitglied jemand zu sein. Er hat nicht nur Selbstinteressen, er hat auch ein Interesse an seinem eigenen Selbst. Beide Arten von Interessen können sich im Wege stehen. Die Neue Politische Ökonomie hat diese Aspekte über weite Strecken ausgeklammert. Für sie agieren und interagieren Individuen, die ihres Selbst, ihrer Identität sicher sind. Sie berücksichtigt nicht, dass Individuen sich in ihren Aktionen und Interaktionen auch ihres sozialen Bezuges und ihres individuellen Selbst versichern wollen. Dieses doppelte Defizit mag einer der Gründe dafür sein, dass - von Ausnahmen abgesehen - die Neue Politische Ökonomie bislang verhältnismäßig wenig zur Analyse der inzwischen auch unmittelbar erlebbaren Erscheinungen gesellschaftlicher Auflösung und individuellen Identitätsverlustes beigetragen hat. Allerdings: Die bisherige Zurückhaltung der Neuen Politischen Ökonomie ist, wenn auch bedauerlich, doch verständlich. Es ist in der Tat schon schwierig genug, die Dynamik von gesellschaftlichen Prozessen, den Wandel von Institutionen in den Griff zu bekommen, wenn man wenigstens die Akteure als individuelle Identitäten und gesellschaftliche Wesen zu problemlosen Daten erklärt. Die Frage ist, wie schnell eine Theorie überfordert ist, die nicht nur die Befriedigung der Selbstinteressen, sondern auch die Befriedigung des Interesses am Selbst berücksichtigt. Wir werden sehen, dass ein solcher Versuch nicht schon bei den ersten Schritten scheitern muss. Bei der folgenden Darstellung greifen wir auf das zweite der obigen Beispiele zurück, also auf die Frage nach der Bereitschaft des Mannes, aus Rücksicht auf die Umwelt keine FCKW-Sprays zu verwenden. Dazu Abbildung 10. Wir gehen davon aus, dass die Umweltfreundlichkeit/ Umweltfeindlichkeit eine Dimension des „moral space“ ist, in dem der Mensch seine Identität, sein Selbst definiert. Diese Dimension bilden wir auf der Abszisse ab.Auf dieser Abszisse trennt ein Punkt 0, über dessen Lokalisierung weiter unten zu reden sein wird, jenen Bereich des Verhaltens, der schon umweltfeindlich ist, von jenem, der noch umweltfreundlich ist. Wir wollen nun annehmen, dass unser Akteur - bezogen auf die Umwelt - nicht amoralisch ist, er sich also selbst in bezug zu dieser Abszisse verortet. Wir nehmen auch an, dass er - sobald ihn privat die Rücksichtnahme auf die Umwelt auch nur das Geringste kostet - zu unmoralischem Verhalten bereit ist, d. h. sich umweltfeindlich verhält. Und umgekehrt: Sobald ihm die Rücksichtnahme auf die Umwelt auch nur den geringsten privaten Wohlfahrtsgewinn bringt, verhält er sich moralisch, d. h. er nimmt Rücksicht auf die Umwelt. Die mit der Rücksichtnahme auf die Umwelt verbundenen Kosten für den Akteur tragen wir als K auf der Ordinate ab. Die mit der Rücksicht- Amoral, Moral, Unmoral · 115 <?page no="133"?> nahme auf die Umwelt verbundenen Wohlfahrtsgewinne tragen wir als -K ab. Reagiert der Einzelne elastisch auf Kosten bzw. Wohlfahrtsgewinne, so führen selbst geringe Kostenerhöhungen zu stark zunehmender Umweltfeindlichkeit des Verhaltens. Und: Selbst geringe Wohlfahrtsgewinne führen dann zu stark steigender Umweltfreundlichkeit des Verhaltens. Die Kurve C0D gibt den Sachverhalt wieder; die Kurve A0B bildet eine unelastischere Verhaltenskurve ab. Der gleiche Sachverhalt lässt sich auch anderes ausdrücken: Für den Einzelnen, dessen Verhalten in den Kurven A0B bzw. C0D abgebildet ist, gilt die Umweltfreundlichkeit/ Umweltfeindlichkeit wohl als moralisch wichtige Frage, doch ist er bereit, sich selbst um des geringsten Vorteils - auf die Umwelt bezogen - unmoralisch zu verhalten. Allerdings reicht auch der geringste Vorteil, um ihn zu umweltfreundlichem, also moralischem Verhalten zu bewegen. Wohl hat er ein Umweltbewusstsein, doch ist es weder positiv noch negativ, sein Verhalten ist - je nach Anreiz - schnell umweltfeindlich bzw. umweltfreundlich. Er ist bereit, den Selbstinteressen die Interessen an seinem Selbst mehr oder weniger zu opfern, wenn ihm auch nur die geringsten Kosten aus der Rücksichtnahme auf die Umwelt erwachsen. Anders ist es, wenn seine Verhaltenskurve den Verlauf EF hat. Jetzt ist er bereit, dann auf ein umweltfeindliches Verhalten zu verzichten, also nicht unmoralisch zu handeln, wenn die ihm dadurch entstehenden Kosten 0G nicht übersteigen. Sind sie geringer als 0G, verhält er sich umweltfreundlich. Noch umweltfreundlicher wird sein Verhalten, wenn ihm aus der Rücksichtnahme auf die Umwelt partikulare Wohlfahrtsgewinne -K entstehen. Der Mann ist bereit, um seines Selbst willen auf Eigeninteressen mehr oder weniger zu verzichten. Während das Individuum mit der Verhaltenskurve C0D ein Umweltbewusstsein hat, das weder positiv noch negativ ist, hat das Individuum mit der Verhaltenskurve EF ein 116 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen Abbildung 10 <?page no="134"?> positives Umweltbewusstsein. Der Leser wird sich leicht selbst klarmachen, dass dieses positive Umweltbewusstsein je ausgeprägter ist, desto weiter rechts von Punkt 0 die Verhaltenskurve die Abszisse schneidet, in Abbildung 10 etwa JK. Nach dem Gesagten erübrigen sich längere Ausführungen, um zu zeigen, dass Verhaltenskurven, die links vom Punkt 0 die Abszisse schneiden, für Individuen mit einem negativen Umweltbewusstsein charakteristisch sind. Selbst bei positiven selektiven Anreizen -K sind sie bis zu einem bestimmten Punkt nicht bereit, auf umweltfeindliches Verhalten zu verzichten: Ein Individuum mit der Verhaltenskurve LM ist erst bei selektiven Anreizen, die höher als N sind, bereit, auf die Umwelt Rücksicht zu nehmen. Ein noch negativeres Umweltbewusstsein hat ein Individuum mit der Verhaltenskurve PQ. Es lohnt, sich klar zu machen, welche Ungeheuerlichkeit in den Kurven LM und PQ abgebildet sein kann. Sie mögen nichts weniger als Folgendes bedeuten: Wenn - was allerdings nicht notwendigerweise der Fall ist und was wir weiter unten noch erörtern werden - die entsprechenden Individuen den Punkt 0 als den Punkt akzeptieren, der das umweltfreundliche vom umweltfeindlichen Verhalten trennt, dann bewegen sich die beiden wohl in einem „moral space“, das (auch) die Umweltdimension hat. Doch definieren sie ihr Selbst in destruktiv-nekrophiler Manier aus der Zerstörung der Umwelt. Dies ist - wie gesagt - eine abschreckende Vorstellung.Wir werden bei der Diskussion der Lokalisierung des Punktes 0 sehen, dass die Kurven LM und PQ nicht notwendigerweise eine solche Perversität abbilden. Doch ist - auch angesichts vielfältiger Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit - nicht a priori auszuschließen, dass es diese Perversität gibt. Eine Theorie tut gut daran, auch auf individuelle Ausfälle und gesellschaftliche Bruchstellen aufmerksam zu machen. (Man muss nur Umweltfeindlichkeit durch Ausländerfeindlichkeit ersetzen, um zu ermessen, dass dies nicht nur von akademischer Unverbindlichkeit ist.) Demnach haben wir drei Kategorien von Individuen vor uns: - jene mit einem positiven Umweltbewusstsein: JK, EF; - jene mit einem negativen Umweltbewusstsein: LM, PQ; - jene ohne positiv oder negativ ausgerichtetes Umweltbewusstsein: A0B, C0D. Eine gängige Meinung geht in der öffentlichen Diskussion dahin, dass es reicht, bei den Gesellschaftsmitgliedern ein positives Umweltbewusstsein (bzw. ein ausländerfreundliches Bewusstsein) zu schaffen, um auch schon ein umweltfreundliches (ausländerfreundliches) Verhalten zu bewirken. Die Abbildung 10 zeigt, dass und warum dies nicht notwendigerweise der Fall ist. Auch Individuen mit einem positiven Umweltbewusstsein können sich umweltfeindlich verhalten, so wie Individuen mit einem negativen Umweltbewusstsein ein umweltfreundliches Verhalten an den Tag legen können. So verhält sich die gesamte durch die Kurven in Abbildung 10 abgebildete Population, also auch jener Teil mit einem positiven Umweltbewusstsein, umweltfeindlich, wenn die mit der Rücksichtnahme auf die Umwelt verbundenen Kosten 0R übersteigen. Umgekehrt verhalten sich alle, also auch die zur Umwelt negativ eingestellten Individuen umweltfreundlich, wenn die mit der Rücksichtnahme verbundenen Wohlfahrtsgewinne 0S übersteigen. Amoral, Moral, Unmoral · 117 <?page no="135"?> Wir beziehen unsere bisherigen Ausführungen nun wieder auf unsere Ausgangsfrage, warum und bis zu welchem Grad die Individuen bereit sind, freiwillig zur Bereitstellung eines Kollektivgutes, hier des Umweltschutzes, beizutragen. Es zeigt sich, dass das Interesse am eigenen Selbst, an der Sicherung der eigenen Identität, die Einzelnen - wenn auch in unterschiedlichen Ausmaß - zu freiwilligen Leistungen motiviert. In Abbildung 10 heißt das: Wenn der Punkt 0 das umweltfreundliche vom umweltfeindlichen Verhalten trennt, so ist das Individuum mit der Verhaltenskurve JK auch dann noch bis zum Punkt H umweltfreundlich, wenn ihm dadurch Nachteile in Höhe von 0T entstehen. Die Individuen mit den Kurven C0D und LM - weil sie weniger umweltfreundlich eingestellt sind - werden die gleiche Leistung nur erbringen, wenn selektive Anreize in Höhe von 0U bzw. 0V sie belohnen. Das Individuum JK opfert Eigeninteressen im Interesse des eigenen Selbst, während die Individuen LM und C0D hierzu nicht bereit sind. Das Individuum JK ist es selbst nur als aktiver Umweltschützer. Das Individuum C0D ist es selbst nur, wenn es der Umwelt nicht eigens schadet. Das Individuum LM ist es selbst nur, wenn es der Umwelt innerhalb bestimmter Grenzen schadet. Wir sagten oben, dass über die Lokalisierung des Punktes 0 noch zu reden sei. Dies soll hier geschehen.Wir haben in unserer Darstellung diesen Punkt willkürlich lokalisiert.Wir hätten ihn auch weiter links oder weiter rechts einzeichnen können. Hätten wir ihn weiter links, etwa in 0’ angesiedelt, wäre manches Verhalten, das bei Punkt 0 als umweltfeindlich gegolten hat, als umweltfreundlich akzeptiert worden. Umgekehrt würde eine Rechtsverschiebung bedeuten, dass ein bis dahin umweltfreundliches Verhalten nun als umweltfeindlich gilt. Darüber hinaus bedeutet eine Linksverschiebung (Rechtsverschiebung) des Punktes 0 nach 0’ (0“), dass wir mehr (weniger) Individuen mit einem positiven Umweltbewusstsein und weniger (mehr) Individuen mit einem negativen Umweltbewusstsein vor uns haben. Es zeigt sich also, dass die Lokalisierung des Nullpunktes nicht belanglos ist. Entsprechend können wir uns nicht damit begnügen, ihn „irgendwo“, also beliebig festzulegen. Vielmehr ist zu fragen, wie und warum er an einem bestimmten Ort plaziert ist bzw. wie und warum er sich gegebenenfalls nach links oder nach rechts verschiebt. In die Festlegung des Punktes 0 gehen im Wesentlichen zwei Elemente ein: Wertvorstellungen und positives Wissen. Beide werden von Individuen in den umweltmoralischen Diskurs eingebracht. Die Dynamik dieses Diskurses, als dessen Resultante die gesellschaftlich verbindliche Festlegung des Punktes 0 erfolgt, ist unter dem Stichwort Wertewandel schon seit langem Gegenstand der Soziologie und der Sozialpsychologie. Erst zögernd wird er - siehe James S. Coleman - zum Gegenstand der Neuen Politischen Ökonomie.Wir werden später im Zusammenhang mit dem politischen Wettbewerb auf das Thema zurückkommen. Hier aber schon Folgendes: Es gilt inzwischen als gesicherte Erkenntnis, dass Wertvorstellungen und positives Wissen in einem dynamischen Wechselverhältnis stehen.Wir begnügen uns mit einigen eher illustrierenden als explizierenden Bemerkungen: - Wertvorstellungen: Es ist eine begründete Vermutung, dass in Gesellschaften, in denen der Natur, in denen allen Kreaturen ein Eigenwert zuerkannt wird, der Punkt 0 weiter rechts liegt als in jenen Gesellschaften, in denen der Natur ein lediglich 118 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="136"?> instrumentaler Wert zugesprochen wird. In der Tat: Wer in der Natur ein beseeltes Wesen sieht, in ihr den Leib Gottes verehrt, wird eher der Ansicht sein, dass ihre Verletzung unmoralisch ist; er wird also auch eher der Ansicht sein, dass jener zum „Sünder“, also in seinem eigenen Selbst verletzt wird, der sie stört oder gar zerstört. Hingegen wird jener, der in der Natur lediglich ein Reservoir nutzbarer Ressourcen sieht, es eher nicht als unmoralisch ansehen, wenn er sie solange gebraucht, wie dies seinem self-interest dient. Hier liegt Punkt 0 eher links. - Positives Wissen: Ob ein bestimmtes Verhalten als umweltfreundlich oder als umweltfeindlich zu gelten hat, hängt auch von dem ab, was wir über die Umweltauswirkungen dieses Verhaltens wissen. So mussten wir erst lernen, dass FCKW die Ozonschicht zerstört, um entscheiden zu können, dass der Griff zur Spray-Dose eine umweltfeindliche Handlung ist. Ehe wir dies wussten, war diese Handlung wenn schon nicht umweltfreundlich, so doch wenigstens umweltneutral. Ein anderes Beispiel: Man mag sich erinnern, dass vor Jahrzehnten die Atomenergie als saubere, umweltfreundliche Energie angepriesen wurde. Erst mit der Einsicht, mit dem Wissen um die dieser Energie inhärenten Risiken und Gefahren wird sie - wenigstens von Teilen der Gesellschaft - als umweltfeindlich angesehen. Als positives Wissen werden auch die Informationen über den jeweiligen Zustand der Umwelt in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht. In dem Maße wie sich dieser Zustand ändert und dies als positives Wissen Berücksichtigung findet, mag ein ehedem als umweltfreundlich oder umweltneutral geltendes Verhalten als umweltfeindlich eingestuft werden.Auch hier mag man sich daran erinnern, dass früher das Düngen als umweltfreundlicher Akt galt - man gibt der Natur, was sie braucht -, dass aber als Folge des vielen Düngens jetzt die Einsicht wächst, dass man des Guten zuviel getan hat und noch tut: Düngen als Umweltzerstörung. Es ist wichtig, bei der Erörterung des Punktes 0 und seiner (möglichen) Verschiebung nicht zu übersehen, dass dieser Punkt eine gesellschaftlich definierte Trennmarke zwischen umweltfreundlichem und umweltfeindlichem Verhalten ist. So kann ein Teil der umweltpolitischen Diskussion als Auseinandersetzung darüber verstanden werden, wo der gesellschaftsweit gültige Punkt 0 anzusiedeln ist. Da treffen jene Öko-Fundamentalisten, die der Natur geradezu eine eigene Seele zuerkennen, auf jene Realos, die sie als ausbeutbares Ressourcenlager ansehen. Da versuchen Industrien über Anzeigenkampagnen ein Wissen an den Mann zu bringen, das beweist oder jedenfalls beweisen soll, dass ihre Tätigkeit nicht nur nicht umweltfeindlich, sondern geradezu umweltfreundlich ist. Eine Einschränkung ist allerdings an dieser Stelle angebracht: Die Feststellung, dass die Lokalisierung des Punktes 0 ein gesellschaftliches Phänomen ist, bedeutet nicht, dass es in einer Gesellschaft keine nach Alter, Bildung, Beruf usw. verschiedenen Subgesellschaften mit je eigenen Punkten 0 gibt. Diese Punkte mögen dann mehr oder weniger weit auseinander liegen. So mag in Abbildung 10 für Teile der Jugendszene der Punkt 0“ gelten, während für viele Mitglieder der älteren Generation der Punkt 0’ als verbindlich angesehen werden mag. Die Folge ist, dass ein älterer Mensch mit der Verhaltenskurve A0B in den Augen seiner Altersgenossen und in der eigenen Einschätzung ein durchaus positives Umweltbewusstsein hat und sein Verhalten als umweltfreundlich gilt. In den Augen seiner Enkel und deren Freunde aber fehlt es ihm an posi- Amoral, Moral, Unmoral · 119 <?page no="137"?> tivem Umweltbewusstsein; hier gilt sein Verhalten als alles andere als umweltfreundlich. Während er der Ansicht ist, dass er einen freiwilligen Beitrag zum Umweltschutz leistet, werfen ihm seine Enkel vor, dass er Umweltschmutz produziert. Die Tatsache, dass verschiedene Subgesellschaften je unterschiedliche Nullpunkte festlegen, bedeutet in der Folge, dass die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern dieser Subgesellschaften erschwert wird.Auch wenn alle - wie dies hier und heute weitgehend der Fall ist - die Überzeugung teilen, dass die Umweltfreundlichkeit/ Umweltfeindlichkeit eine Dimension des „moral space“ ist, treffen hier Menschen aufeinander, die sich nicht nur wechselseitig vorwerfen, in ihrem Verhalten Trittbrettfahrer zu sein. Hier treffen auch Menschen aufeinander, von denen die Jüngeren unter Berufung auf ihre Moralstandards den Älteren unmoralisches Verhalten vorwerfen. Die Älteren ihrerseits sind von der eigenen Moralität überzeugt und werfen den Jüngeren eifernde Naivität vor. Dies sind - wie man in theoria erwarten kann und in praxi feststellen muss - denkbar schlechte Voraussetzungen für einen gesellschaftsweiten umweltpolitischen Konsens. Jene, die in Fragen der Umweltpolitik ihre Hoffnung auf die strengere Umweltmoral der Jüngeren, also auf den Punkt 0“ setzen, gehen offensichtlich davon aus, dass in dieser Auseinandersetzung die Älteren auf die Dauer unterliegen werden: Der Punkt 0’ verschwindet auf biologische Art und Weise; die Alten sterben aus. Zu fragen ist allerdings, ob die Jungen von heute mit zunehmendem Alter morgen nicht ihrerseits von 0“ nach 0’ rücken werden. Ein letzter Punkt verdient Beachtung: Obwohl der Punkt 0 (bzw. 0’ oder 0 ‘‘ ) eine gesellschaftliche Erscheinung ist, mögen einzelne Gesellschaftsmitglieder davon abweichende Punkte haben, an denen sich ihrer individuellen Ansicht nach das umweltfreundliche vom umweltfeindlichen Verhalten scheidet. Man muss dies sogar erwarten, da sonst kaum erklärt werden könnte, wie sich als Folge gesellschaftlicher Übereinkunft der sozial akzeptierte Punkt 0 nach rechts oder nach links verschiebt. Damit morgen die gesellschaftliche Übereinkunft von heute durch einen anders lautenden Konsens ersetzt wird, ist es nötig, dass Einzelne zu der Übereinkunft von heute auf Distanz gehen. Allerdings: So sehr dies auch richtig ist, so sehr trifft auch zu, dass diese Distanz nicht zu groß sein darf. Aus folgendem Grund: Entfernt sich ein Einzelner mit seinem Punkt 0 zu sehr von den gesellschaftlichen Vorstellungen über Umweltfreundlichkeit und Umweltfeindlichkeit, so läuft er Gefahr, sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs auszuschließen; er wird nicht mehr ernstgenommen. So gilt jemand, dessen Punkt 0 sehr weit rechts vom gesellschaftlichen Nullpunkt angesiedelt ist, schnell als ein Umweltfreak, ein Öko-Fundamentalist oder Schwärmer. Die negative Konsonanz dieser Bezeichnungen ist der Ausdruck der Unwilligkeit der übrigen Gesellschaftsmitglieder, ihm noch zuzuhören, auf seine Argumente einzugehen, seine Überlegungen in Rechnung zu setzen. Umgekehrt dürfte es jemand schwer haben, sich Gehör zu verschaffen, dessen Nullpunkt sehr weit links liegt. Er gilt als unverbesserlicher Umweltverbrecher. Hier wie anderweitig gilt, dass man nur ändern kann, zu was man (noch) Kontakt hat. Dies dürfte nach dem bislang Gesagten den Leser nicht überraschen. Hat nämlich ein Einzelner im Vergleich zu den übrigen Gesellschaftsmitgliedern sehr strenge Umwelt- 120 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="138"?> standards, so wird er von diesen die Akzeptierung, Internalisierung und Einhaltung einer Norm verlangen, die diese nicht als gültig ansehen und nicht zu der ihren machen wollen. Darüber hinaus werden sie weder bereit sein zu akzeptieren, dass andere ihnen gegenüber auf der Gültigkeit dieser strengen Norm bestehen, noch werden sie jene belohnen, die sich für die Geltung dieser Norm anderen gegenüber einsetzen. Mit dieser letzten Bemerkung wird die Verbindung dieser Ausführungen - trotz ihrer unterschiedlichen Akzentuierung und Diktion - mit dem vorherigen Kapitel besonders deutlich: Die Einführung der Umweltdimension in den „moral space“ ist gleichzusetzen mit der Nachfrage nach sozialen Umweltnormen; die Fixierung des 0-Punktes entspricht der Festlegung bestimmter sozialer Normen. Die Lage der einzelnen Reaktionskurven im Verhältnis zum gesellschaftlich gültigen 0-Punkt entspricht dem Grad der Internalisierung der Umweltnormen, dem Umweltgewissen, dem Umweltbewusstsein. Die Neigung der Reaktionskurven entspricht der Bereitschaft der Einzelnen, dem eigenen Gewissen zu folgen oder aber die internalisierten Normen zu verletzen. Die Neigung der Reaktionskurven zeigt aber auch das Ausmaß an, in welchem gesellschaftliche Sanktionen, wirtschaftliche Anreize und/ oder gesetzlicher Zwang nötig sind, wenn das Verhalten der Einzelnen den gesellschaftlich geltenden Standards entsprechen soll. Man kann den hier erörterten Zusammenhang auf die Formel bringen, dass es dem Einzelnen darum geht, seine Wohlfahrt zu maximieren, indem er die Befriedigung seines „self-interests“ und die Befriedigung seines „interest in his own self“ optimiert. Welches im Einzelfall das Ergebnis des Optimierungskalküls sein wird, hängt von drei Faktoren ab: - der relativen Intensität des „self-interest“ und des „interest in one’s own self“; - der mit der Befriedigung der beiden Arten von Interessen verbundenen Kosten; - der - komplementären bzw. substitutiven - Beziehung zwischen beiden Interessen. Der erste Punkt ist auf den vorhergehenden Seiten erörtert worden: Wer mehr für Bio- Gemüse zahlt, weil er ein umweltfreundlicher Mensch sein will, kann im Zweifel nur weniger Gemüse auf seinem Teller haben.Wer ein ehrlicher Mensch sein will, muss im Zweifel auf diesen oder jenen einträglichen „deal“ verzichten; er hat entsprechend weniger Einkommen. Ist dies der Fall, stehen also die beiden Arten von Interessen in einer substitutiven Beziehung; so mag es für den Einzelnen um der eigenen Wohlfahrtsmaximierung willen höchst rational sein, sich auf den besagten „deal“ nicht einzulassen, bzw. teures Bio-Gemüse zu kaufen. Ob in einer konkreten Entscheidungssituation jemand auf ein günstiges Geschäft verzichtet, hängt u. a. davon ab, mit welcher Intensität er jemand sein bzw. etwas haben will. Die Relation der jeweiligen Bedürfnisintensitäten ist, wie man annehmen kann, nicht für alle Menschen gleich.Auch ist davon auszugehen, dass die relativen Bedürfnisintensitäten für den Einzelnen im Zeitablauf und je nach den Umständen nicht immer gleich bleiben, so dass es für ihn mit Blick auf seine Wohlfahrtsmaximierung rational sein kann, mal der Befriedigung des einen oder aber des anderen Interesses mehr Aufmerksamkeit zu widmen. „Not kennt kein Gebot“: Auch jener, der unter normalen Umständen ein ehrlicher Mensch ist, mag - wenn er Hunger, aber kein Brot hat - stehlen. Amoral, Moral, Unmoral · 121 <?page no="139"?> Neben dem relativen Gewicht der Bedürfnisintensitäten gehen die Kosten in das Entscheidungskalkül des Einzelnen ein. So wird der Einzelne dann, wenn es für ihn verhältnismäßig kostspielig ist, etwas zu haben, rationalerweise versuchen, seine Wohlfahrt dadurch zu erhöhen, dass er versucht, auf relativ weniger kostspielige Art jemand zu sein. Hier zeichnet sich eine Erklärungshypothese für das häufig zu beobachtende Phänomen ab, dass jene, deren ökonomische Erfolgsaussichten gering, gar Null sind, am ehesten dazu neigen, sich jenen Bewegungen, Gruppen, Gangs, Sekten, usw. anzuschließen, die ihnen in Aussicht stellen „jemand“ zu sein. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass sich rassistisch-nationalistische Gruppen in Europa besonders aus jenem Personenkreis rekrutieren, dessen wirtschaftlichen Chancen gering sind: Kann man schon kein Auto haben, so will man wenigstens ein Weißer, ein Deutscher oder ein Franzose sein. In dieser Analyse erweisen sich Fundamentalismus und Extremismus nicht unbedingt als die Folgen finsterer Bösartigkeit bzw. dumpfer Irrationalität; sie erweisen sich vielmehr möglicherweise als der Ausdruck des Wohlfahrtsstrebens rationaler Menschen, die sich in einer bestimmten Situation befinden. Es ist zuzugeben, dass diese Analyse den Fundamentalismus und den Extremismus nicht in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen vermag. In dem Maße allerdings wie sie wenigstens einen Teil dieser Komplexität zu begreifen erlaubt, sollte auch im Interesse praktischer Politik nicht darauf verzichtet werden, die Theorie des Rational Choice als Analyseinstrument zu nutzen. Diese Theorie ist auch bei der Erforschung jener Situationen von Nutzen, in denen es vergleichsweise kostenträchtig ist, jemand zu sein als etwas zu haben. Hier wird der Einzelne seine Wohlfahrt eher dadurch zu steigern suchen, dass er sein Einkommen und Vermögen steigert, als dadurch, dass er persönliche Eigenschaften kultiviert. Die oft beklagte Gier nach materiellem Erfolg und die gleichfalls oft beklagten Identitätsdefizite vieler Mitglieder unserer Gesellschaft dürften hier eine wenigstens teilweise Erklärung finden. Für diesen Ansatz spricht etwa die Beobachtung, dass man in Polen solange größten Wert darauf legte, Katholik und Nichtkommunist zu sein, wie es schwierig war, Autos, Auslandsreisen, Kühltruhen, usw. zu haben. In dem Augenblick, wo das Haben dieser Dinge zur realen oder auch nur zur eingebildeten Möglichkeit wurde, verlor das Katholiksein an Bedeutung. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beispielsweise auch in vielen ostasiatischen Ländern beobachten. Auf den ersten Blick weniger einleuchtend, doch bei näherem Hinschauen gleich plausibel sind Überlegungen über die komplementäre Beziehung der Befriedigung von „self-interests“ und des „interest in one’s own self“. Es ist in der Tat anzunehmen, dass ein Mensch, der mit sich selbst, richtiger: mit seinem Selbst Schwierigkeiten hat, nur begrenzt Dinge sein eigen nennen kann. Wie sollte auch ein Mensch, der nicht „ich selbst“ sagen und fühlen kann, in der Lage sein, von Dingen zu sagen: „Sie sind mein.“ Umgekehrt spricht einiges dafür, dass jener, der nichts hat, auch nicht die Möglichkeit hat, jemand zu sein. Unterhalb einer bestimmten Schwelle scheint die materielle Not identitätszerstörend zu sein. Es kommt ein weiterer Punkt hinzu, auf den Robert H. Frank hingewiesen hat: Ein Einzelner mag, weil er jemand mit besonderen sich in seinem Verhalten niederschlagen- 122 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="140"?> den Eigenschaften ist, erfolgreicher bei dem Streben nach Haben sein als er ohne diese Eigenschaften wäre. Laut Frank kann es demnach für den rationalen Wohlfahrtsmaximierer mit Blick auf sein „self-interest“ nützlich sein, sich auch von seinem Gewissen - aber auch von Leidenschaften und Gefühlen - leiten zu lassen. Warum diese Antwort nur paradox, nicht aber widersprüchlich ist, mag sich der Leser an folgendem sehr einfach-abstrakten Beispiel klarmachen: Ein Individuum A erleidet durch B einen Schaden von EUR 1000.-. Wenn A klagt, kann er mit Sicherheit davon ausgehen, dass ihm das Gericht eine Entschädigung durch B in Höhe von EUR 1000.- zuspricht. Allerdings weiß A auch, dass die mit der Klage verbundenen Kosten die Höhe von EUR 1500.- erreichen werden. Ist A ein völlig beherrschtes, in jeder Einzelsituation die Kosten und Nutzen seiner Handlung abwägendes, also rationales Wesen, so wird er nicht klagen und den Schaden hinnehmen: Für B hat sich der Übergriff gelohnt. Ist A aber ein leidenschaftlicher Mensch, der in seinem Zorn über den erlittenen Schaden einen Prozess - „koste es, was es wolle“ - anstrengt, so verstößt er gegen die Regel rationaler Wohlfahrtsmaximierung: Er zahlt EUR 500.- drauf.Wenn nun B weiß, dass A ein derart leidenschaftlicher Mensch ist, so muss er davon ausgehen, dass ihm von seinem Fehlverhalten gegenüber A nicht nur nichts übrigbleibt, sondern dass er zusätzlich den Ärger und die Kosten eines Gerichtsverfahrens hat. Es lohnt sich also für ihn, A nicht zu schädigen. Das Ergebnis ist, dass A eine Wohlfahrtseinbuße erspart bleibt, weil er bereit ist - und andere dies wissen -, in Einzelsituationen leidenschaftlich, also nicht rational-wohlfahrtsmaximierend zu entscheiden. Das eben skizzierte Beispiel stellt darauf ab, dass das Individuum A, weil es auch leidenschaftlich ist, seine Wohlfahrt sichert, indem ihm eine anderweitig unvermeidbare Wohlfahrtseinbuße erspart bleibt. Ein zweites Beispiel illustriert den Fall, dass das Individuum, weil es geleitet durch sein Gewissen, nicht in jeder einzelnen Situation den gerade möglichen Wohlfahrtsgewinn wahrnimmt: Zwei Individuen A und B wollen gemeinsam ein Geschäft betreiben. Wohl können beide einen Vertrag über die Aufgaben- und Ergebnisaufteilung abschließen, doch muss jeder davon ausgehen, dass er die Einhaltung des Vertrages durch den jeweils anderen weder vollumfänglich noch ohne Kosten kontrollieren und durchsetzen kann. Nun ist bekannt, dass Transaktionskosten bewirken, dass ansonsten allseits wohlfahrtssteigernde Geschäfte unterbleiben. Dies würde im Zweifel auch zwischen A und B der Fall sein, wenn beide nicht von der Ehrlichkeit des jeweils anderen überzeugt wären und überzeugt sein könnten. Weil sie aber diese Überzeugung haben und haben können, entfällt (wenigstens zum Teil) die Notwendigkeit gegenseitiger Kontrollen; die Transaktionskosten können (wenigstens teilweise) vermieden werden. Die Folge ist, dass ein Geschäft, das ansonsten unterblieben wäre, zwischen A und B zum Wohl beider zustandekommt. Die Leidenschaften bzw. das Gewissen, von denen in diesen Beispielen die Rede ist, spielen für den einzelnen jene Rolle, die wir oben im Zusammenhang mit den Prinzipien erörtert haben: Sie erlauben dem Einzelnen, über die Versuchungen des Augenblicks hinwegzukommen.Weil A - im Bestreben ein ehrlicher Mensch zu sein - der Attraktivität des kurzfristig anfallenden Gewinns aus dem Betrug nicht erliegt, und weil B dies weiß, wird eine für beide vorteilhafte Kooperation möglich. Hier mag man nun einwenden, dass es für A nicht so sehr darauf ankommt, ein gewissenhafter Mensch zu sein, als in den Augen von B als ein solcher zu gelten: Wäre er Amoral, Moral, Unmoral · 123 <?page no="141"?> kein ehrlicher Mensch und würde er lediglich den Eindruck, er wäre ein solcher, erwecken, so hätte er einen doppelten Vorteil: Die Kooperation käme zustande und er könnte B um so leichter betrügen, als dieser nicht einmal Kontrollen für nötig halten würde. Nun gibt es sicher Fälle, in denen solche Art von Betrug gelingt. Doch sind diese - wie die Erfahrung lehrt - nicht so zahlreich, wie man vielleicht annehmen könnte. Dies deshalb, weil es für A nicht reicht, zu sagen, er sei ein ehrlicher Mensch, vielmehr muss er auch glaubhaft sein. Dies kann dadurch erreicht werden, dass B in der Vergangenheit beobachten konnte, wie A risikolose Betrugsmöglichkeiten nicht genutzt hat. Es kann auch und vor allem dadurch geschehen, dass B nichtverbale Signale bei A wahrnimmt und entschlüsselt, die erfahrungsgemäß Auskunft über dessen Ehrlichkeit und Gefühle geben. So wird er kaum jemandem Ehrlichkeitsbeteuerungen abnehmen, der kalt und unbeteiligt oder aber aufgeregt-stotternd mit flackerndem Blick sagt, er sei ein ehrlicher Mann. Entscheidend ist hierbei, dass das Hervorbringen dieser Signale nicht oder kaum dem Willen des Einzelnen unterliegt und bei Bedarf produziert oder unterdrückt werden kann. Der Einzelne darf das Stottern, das Augenzucken, das Erröten, das Händezittern, die Stimmlage nicht oder nur begrenzt so steuern können, dass sie das Bild etwa der Ehrlichkeit vermitteln. Diese Bedingung ist, wohl evolutionsbedingt, in vielen Fällen gegeben: A kann die Signale nicht (völlig) nach Belieben steuern, und B ist in der Lage, diese Signale (mehr oder weniger) zu interpretieren. Hinzu kommt, dass A - will er nicht, dass B das Schlimmste von ihm annimmt - gezwungen ist, überhaupt Signale auszusenden. Konkret: Wer nicht durch äußere Regungen Aufschluss über sich selbst gibt, dem traut man gemeinhin überhaupt nicht, weil man ihm alles zutraut. Sendet A aber Signale aus, die er nicht zu seinen Gunsten manipulieren kann, so entlarvt er sich selbst als der, der er ist, nämlich als ein vielleicht nicht völlig unehrlicher, aber eben als ein lediglich mehr oder weniger ehrlicher und vertrauenswürdiger Mensch. Zusammenfassend: Die Bereitstellung von Kollektivgütern kann dadurch sichergestellt werden, dass das Verhalten der Einzelnen durch äußere oder innere Kontrollen gelenkt wird. Äußere Kontrollen können in Gesetzen oder aber in sozialen Normen bestehen. Die interne Verhaltenskontrolle erfolgt über das Gewissen, die Prinzipien und die Leidenschaften. 5 Vertrauen: Trust Relationships Aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie ist die Hauptfunktion von Gesetzen, sozialen Normen und dem Gewissen, das Verhalten der Individuen wechselseitig vorhersehbarer zu machen. Indem die Bandbreite des zu erwartenden Verhaltens auf erwünschte Handlungen reduziert wird, sollen die Transaktionskosten gesenkt und damit wechselseitig vorteilhafte Interaktionen möglich werden. Eng verbunden, wenn auch nicht deckungsgleich mit der Erörterung von Gesetzen, Normen und Gewissen als Instrumenten im Dienste der Senkung der Transaktionskos- 124 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="142"?> ten ist die gleichfalls für die Neue Politische Ökonomie wichtige Thematisierung des zwischenmenschlichen Vertrauens: Trust. Angesichts der Vieldeutigkeit des Begriffs ist es notwendig, sich darauf zu verständigen, was unter Vertrauen verstanden werden soll: Es gelte: Vertrauen besteht dann zwischen einzelnen Menschen, wenn diese davon ausgehen wollen, dass sie einander nicht betrügen werden, aber nicht sicher sein können, ob sie es nicht trotzdem tun. Jemandem, von dem man sicher weiß, dass er einen nicht betrügt, braucht man nicht zu vertrauen; (was allerdings nicht bedeutet, dass man jemandem, von dem man sicher weiß, dass er einen betrügen wird, vertraut.) Das Vertrauen ist demnach angesiedelt im Spannungsfeld zwischen der Erwartung, nicht betrogen zu werden, und der Möglichkeit, doch betrogen zu werden. (Vom Vertrauen zu unterscheiden ist das Zutrauen, das ein Individuum in ein anderes hat. Man vertraut jemandem, wenn man davon ausgeht, dass dieser einen nicht betrügen will, obschon nicht völlig ausgeschlossen werden kann, dass er es trotzdem tut. Man hat Zutrauen zu jemandem, wenn man davon ausgeht, dass er zuverlässig sein kann, wenn er es denn will. So vertraut Peter dem Automechaniker Paul, wenn er davon ausgeht, dass dieser nur die tatsächlich angefallenen Arbeitsstunden in Rechnung setzen wird; Peter hat aber Zutrauen zu Paul, wenn er davon ausgeht, dass Paul etwas von Autos versteht, er also eine gute Reparaturleistung erbringen kann, wenn er denn will.) Man kann nun Spekulationen darüber anstellen, wovon es abhängt, ob Individuen Vertrauen zueinander haben. So mag man mit Sigmund Freud der Ansicht sein, dass in frühkindlichen Erfahrungen die Grundlage für ein Urvertrauen gelegt wird, das den Einzelnen befähigt, sich auf die Tragfähigkeit der Welt und der Zuverlässigkeit der Menschen einzulassen, und dies, ohne sich Illusionen über die Brüchigkeit der menschlichen Existenz und die mögliche Unzuverlässigkeit der Menschen zu machen. So interessant und wichtig dieser Ansatz auch sein mag, so müssen wir uns hier damit begnügen, auf ihn hingewiesen zu haben.Wir können dies auch, weil wir das Vertrauen im Rahmen der Neuen Politischen Ökonomie nicht auf den so oder anders herangebildeten vertrauensseligen Charakter von Einzelnen zurückführen, also als intraindividuelles Datum postulieren wollen.Vielmehr soll das Vertrauen als interindividuelles Phänomen begriffen werden. Dies drängt nun unmittelbar die Frage auf, warum die Menschen einander vertrauen. Schließlich vertrauen die Menschen einander nicht ins Blinde hinein; zu dem einen haben sie Vertrauen, zu dem anderen haben sie keines; dem einen vertrauen sie viel, einem anderen weniger.Warum ist das so? Einer Antwort auf diese Frage kommt man am nächsten, wenn man dann - nur scheinbar weit ausholend - davon ausgeht, dass die Menschen die Entscheidungen über ihr Verhalten jeweils in einem für sie jeweils typischen Kontext, in einem bestimmten „frame“ treffen. Zu diesem „frame“ gehören u.a. ihre Weltsicht und ihre Wertungen, ihre soziale Rolle, ihr Selbstbild, ihre Wahrnehmung der sozialen Kontrolle, ihre Einstellung zu Recht und Gesetz, ihre Fixierung auf Routinen und Gewohnheiten, ihre jeweilige Lebenssituation usw. Vertrauen: Trust Relationships · 125 <?page no="143"?> Trotz aller sonstigen Unterschiede zwischen den diesen „frame“ ausmachenden Elementen haben diese eines gemeinsam: Sie schränken den Fächer der Handlungsalternativen ein und machen so die Einzelnen wechselseitig mehr oder weniger vorhersehbar. Wenn also Individuum A den „frame“ kennt, innerhalb dessen B entscheidet und handelt, so kann A zwar nicht mit letzter Sicherheit wissen, wie B in einer konkreten Situation entscheiden und handeln wird, doch kann er unter Berücksichtigung des ihm bekannten „frame“ des B entscheiden, ob er sich mit B einlässt oder nicht, ob er also B vertraut oder nicht. In einem mehr oder weniger bewusst ablaufenden Prozess schätzt also A ab, wie die einzelnen Elemente des „frame“ von B dessen Fächer der Handlungsalternativen begrenzen, und entscheidet dann, wiederum mehr oder weniger bewusst, ob er B vertrauen will oder nicht. Es ist also festzuhalten, dass der „frame“, also der Entscheidungskontext des B für das Vertrauen bzw. das Nichtvertrauen des A in B von Bedeutung ist. Je mehr A den „frame“ des B kennt, je mehr er davon ausgehen kann, dass dieser „frame“ den Fächer der Verhaltensalternativen des B in seinen, des A’s Erwartungen einschränkt, und je mehr er unterstellen kann, dass dieser Entscheidungskontext Bestand hat, desto mehr wird er B Vertrauen entgegenbringen. Der „frame“ des B kann nun ein Handlungsrahmen sein, der für B spezifisch ist, der also - nach Einschätzung des A - den Alternativenfächer des B, nicht aber den von anderen begrenzt. Es ist aber auch der Fall möglich, dass der „frame“ nicht nur für das Entscheiden und Verhalten eines Einzelnen, in unserem Beispiel von B, sondern für das Entscheiden und Verhalten von vielen von Bedeutung ist. Geht A davon aus, dass B innerhalb eines nur für ihn gültigen „frame“ entscheidet und handelt, und ist A der Ansicht, dass dieser „frame“ die Zuversicht rechtfertigt, dass B ihn nicht enttäuschen wird, so haben wir es mit einem Vertrauen zu tun, das A dem B und sonst niemandem entgegenbringt. Es besteht ein „specific trust relationship“, ein spezifisches Vertrauen. Geht aber A davon aus, dass B innerhalb eines „frame“ entscheidet und handelt, den er mit vielen, etwa mit A, C, D, E, F, ... teilt, dann haben wir es mit einem „system of general trust“ zu tun. In diesem Fall vertraut A nicht nur dem B, sondern auch dem C, D, E, F,... (Es sei denn zwischen A und etwa F besteht zusätzlich eine „specific distrust relationship“, die in den Augen des A den F aus dem „general trust“ ausschließt.) Diese etwas abstrakten Ausführungen werden verständlicher, wenn man sie anhand von Beispielen illustriert. Aus didaktischen Gründen beginnen wir mit dem „general trust“: In einem Studentenverein, in einem Rotary Club bzw. in einer Fakultät kann ein Mitglied mit mehr oder weniger großer Gewissheit davon ausgehen, dass die übrigen Mitglieder, weil sie Mitglieder dieses Vereins, dieses Clubs bzw. dieser Fakultät sind, sich (ihm gegenüber) auf eine bestimmte Weise verhalten werden; dies deshalb, weil zu erwarten ist, dass alle innerhalb des für das entsprechende Kollektiv typischen „frame“ entscheiden. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das ehedem Korpsgeist genannt wurde und in jüngerer Zeit unter der Bezeichnung „corporate identity“ bzw. „corporate culture“ wieder in den Vordergrund des Interesses gerückt ist. Konkret heißt dies: Das einzelne Vereins-, Clubbzw. Fakultätsmitglied geht davon aus, dass ein anderes Mitglied, das er in seiner individuellen Eigenart im Zwei- 126 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="144"?> fel nicht einmal kennt, ihn deshalb nicht enttäuschen wird, weil beide Vereins-, Club- oder Fakultätsmitglieder sind: „So etwas macht man unter Vereinskameraden, Clubmitgliedern bzw. Fakultätsangehörigen nicht! “ Mit einer „specific trust relationship“ haben wir es hingegen dann zu tun, wenn ein Einzelner einem Anderen vertraut, weil er den „frame“ kennt, der diesem Anderen und nur diesem eigen ist. Beide - der „specific trust“ und der „general trust“ - haben demnach gemeinsam, dass sie die Transaktionskosten zwischen den einzelnen Individuen senken. Allerdings ist der „general trust“ insofern gegenüber dem „specific trust“ im Vorteil, als er dem Einzelnen erlaubt, zu einer mehr oder weniger großen Anzahl von Individuen Vertrauen zu haben, ohne zu jedem von ihnen unter Kosten eine je eigene Vertrauensbeziehung aufbauen und aufrechterhalten zu müssen. Obschon also spezifische und allgemeine Vertrauensbeziehungen die Transaktionskosten senken, sind beide nicht gleichwertig. Es ist für den Einzelnen kostspieliger, zu vielen einzelnen Individuen spezifische Vertrauensbeziehungen zu haben, als allen in einem System allgemeinen Vertrauens verbunden zu sein. Allerdings steht dem entgegen, dass das Vertrauen, das etwa die Freunde Karl und Klaus miteinander verbindet, beiden eine wechselseitige Vorhersehbarkeit ermöglicht, die gesicherter sein und im Zweifel einen weiteren Lebensbereich umfassen mag, als jene, die durchwegs zwischen vielen Vereinskameraden und Clubmitgliedern möglich ist. Es ist - anderes Beispiel - schon ein Unterschied, ob man den Ärzten, weil sie Ärzte sind, vertraut oder ob man zu seinem langjährigen Hausarzt Vertrauen hat. Es ist demnach wünschenswert, dass beide Arten von Vertrauensbeziehungen bestehen: - spezifische Vertrauensbeziehungen, die wohl kostspielig im Aufbau und in der Pflege sein mögen, aber eine solide und weite Lebensbereiche umfassende Basis für einen transaktionskostenarmen zwischenmenschlichen Umgang ermöglichen; - allgemeine Vertrauensbeziehungen, die zu unterhalten für den Einzelnen vergleichsweise billig sind; es verlangt vom Einzelnen weniger, ein „guter“ Vereinskamerad als ein „guter“ Freund zu sein.Allerdings kann er sich auf Vereinskameraden durchwegs auch in geringerem Maß und in weniger Angelegenheiten als etwa auf seinen Freund verlassen. Die beiden Arten von Vertrauensbeziehungen unterscheiden sich aber nicht nur in dem, was sie dem Einzelnen abverlangen und was sie ihm bringen; sie unterscheiden sich auch in den Bedingungen, die zu ihrem Entstehen und Bestehen gegeben sein müssen. Damit es nämlich zwischen A und B zu einer spezifischen Vertrauensbeziehung kommt, müssen beide die Gelegenheit haben, sich solange nahezukommen und nahe zu sein, dass sie wechselseitig ihren je eigenen „frame“ kennenlernen, möglicherweise sogar einen „frame“ entwickeln können, der ihnen gemeinsam ist. Dies erklärt, warum dann, wenn ein Verein, ein Club oder ein Unternehmen eine große Mitgliederrotation aufweist, in diesem Verein, Club oder Unternehmen kaum ein „Korpsgeist“, eine „corporate identity“ entstehen und bestehen kann. Wenn nun aber etwa ein Unternehmen darauf angewiesen ist, das eine große Anzahl von Mitarbeitern transaktionskostenarm zusammenarbeiten, dann wäre gerade ein solches „system of Vertrauen: Trust Relationships · 127 <?page no="145"?> general trust“ wünschenswert. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass gerade jetzt, wo sich im Zeichen der Mobilität und der Flexibilität in Unternehmen, aber auch in Vereinen, Clubs usw. die Bedingungen für ein System allgemeinen Vertrauens verschlechtert haben, die „corporate culture“, die „corporate identity“ in ihrer Bedeutung für die Senkung von Transaktionskosten neuentdeckt wird. Nun ist es eines, die Bedeutung eines Systems allgemeinen Vertrauens neuzuentdecken; es ist ein anderes, etwa in einem Unternehmen, einer Fakultät, einem Club oder einem Verein dieses System (neu) zu etablieren, wenn es nicht (mehr) besteht. Dies wird deutlich, wenn man den „general trust“ mit dem „specific trust“ vergleicht. Das spezifische Vertrauen zwischen zwei Individuen ist für beide insofern ein Privatgut, als jeder von ihnen auf die Dauer nur das Vertrauen des anderen genießt, wenn er dieses Vertrauen nicht missbraucht, ja gar das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird, dadurch honoriert, dass er jenem, der ihm vertraut, selbst vertraut: Dem Misstrauischen vertraut man nicht so leicht.Anders ausgedrückt: Für den „specific trust“ gilt das Ausschlussprinzip; d. h. jener, der seinen Beitrag zum Entstehen und zum Bestand einer spezifischen Vertrauensbeziehung nicht leistet, kommt nicht in den Genuss einer solchen Beziehung. Anders ist es im Fall des „general trust“: Hier kann ein Einzelner als Vereinskamerad, als Clubmitglied,Team-Mitarbeiter oder als Fakultätsangehöriger auch dann von der „corporate identity“ profitieren, wenn er das Vertrauen, das andere ihm als Korpsmitglied entgegenbringen, enttäuscht. Dies ist deshalb über eine lange Zeit hin möglich, weil in einem „system of general trust“ A auch dann (noch) auf die Korrektheit von B setzen kann, wenn er selbst das Vertrauen von C, D usw. missbraucht bzw. schon missbraucht hat. Weil das Ausschlussprinzip nicht gilt, ist der „general trust“ ein Gut, für welches die Logik des kollektiven Handelns gilt. Entsprechend können hier die Ansätze, wie sie - siehe weiter unten - in der Nachfolge von Olson und Axelrodt entwickelt worden sind, gute Dienste bei der theoretischen Analyse des Entstehens von Vertrauensbeziehungen leisten. Dabei sollte auch deutlich werden, was die Erfahrung als Hypothese nahelegt: Formelle Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs, Gesetze,Vereinsstatuten u. a. können dem Entstehen und dem Bestehen von allgemeinen Vertrauensbeziehungen abträglich sein. Es besteht die Tendenz zu einem „crowding out“ der allgemeinen Vertrauensbeziehungen durch formelle Regeln. Die Ursache für diese Art von „crowding out“ ist darin zu sehen, dass diese Regeln definitionsgemäß institutionell geronnenes Misstrauen sind und als solche sehr oft dem Entstehen und dem Bestand von Vertrauensbeziehungen entgegenstehen. Dort, wo in formellen Regeln das Misstrauen des Einen gegenüber dem/ den Anderen institutionell verfestigt ist, können die Menschen nur schwer, wenn überhaupt Vertrauen zueinander haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche formellen Regeln durchgehend überflüssig oder gar schädlich sind. Im Gegenteil: Sie geben über weite Strecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich überhaupt erst Vertrauensbeziehungen entwickeln können. Formelle Regeln tendieren dann allerdings dazu, bestenfalls überflüssig, oft aber schädlich zu sein, wenn sie jene Vertrauensbeziehungen, die innerhalb dieses Rahmens entstehen und bestehen könnten, ersetzen sollen. 128 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="146"?> Exkurs: Individualismus und Individualität Der Leser mag sich erinnern, dass gleich am Anfang dieses Buches jenes Thema angeschlagen worden ist, das dann auf den folgenden Seiten immer wieder angeklungen ist: Der Individualismus als Methode und als Norm. Doch wird es der Aufmerksamkeit des Lesers nicht entgangen sein, dass das Thema nicht nur immer wieder wiederholt, sondern auch variiert worden ist; der Charakter des Themas hat sich allmählich gewandelt: Eingangs stand unter dem Stichwort des Individualismus der Gedanke im Vordergrund, dass der Einzelne die Folgen seiner Handlungen, nur die Folgen seiner Handlungen, aber alle Folgen seiner Handlungen tragen, dass er insbesondere nicht im Dienste ihm fremder Zwecke instrumentalisiert werden soll. Der Einzelne soll - unbehindert durch andere und ohne andere zu behindern - seine Wohlfahrt anstreben können. Mit anderen Worten: Unter dem Begriff des normativen Individualismus wurde die Eigenständigkeit des einzelnen Menschen betont. Nun aber, am Ende dieses Kapitels, liegt der Akzent weniger auf der Eigenständigkeit des Einzelnen, sondern auf seiner Einzigartigkeit. Der Einzelne soll in der Gesellschaft und im Austausch mit anderen zu jenem Menschen werden und jener Mensch sein, den es so nicht ein zweites Mal gibt, den es so noch nie gab und so nie geben wird. Hier geht es also weniger um Individualismus im Sinne von Eigenständigkeit denn um Individualität im Sinne von Einzigartigkeit. Ein nachlässiger Sprachgebrauch legt es nahe, Individualismus und Individualität, Eigenständigkeit und Einzigartigkeit als Synonyme zu gebrauchen. Ein solcher Sprachgebrauch liegt dann nahe, wenn die Eigenständigkeit und die Einzigartigkeit des Einzelnen in wechselseitigem Bezug stehen (können). So mag man postulieren, dass der Einzelne als eigenständiger Akteur jene Wohlfahrtsinhalte anstreben kann, die er in seiner Einzigartigkeit für sich definiert hat. Es ist denn auch einer der wesentlichen Verheißungen einer liberalen Ordnung, dass jeder Einzelne möglichst ungehindert durch äußere Zwänge, also eigenständig, sein Leben so leben kann, wie er es sich vorstellt, also wie es seiner Einzigartigkeit entspricht und förderlich ist. Doch auch dann, wenn die Eigenständigkeit und die Einzigartigkeit des Einzelnen in wechselseitigem Bezug gesehen, gar als in sich konsistentes Programm angestrebt und (vielleicht) mehr oder weniger verwirklicht werden, sollte man der Versuchung, sie als Synonyme zu gebrauchen, widerstehen. Dies nicht nur deshalb, weil sie begrifflich unterscheidbar sind, sondern auch weil die wohl nicht nur theoretische Möglichkeit besteht, dass die Eigenständigkeit ohne die Einzigartigkeit oder aber die Einzigartigkeit ohne die Eigenständigkeit des Einzelnen angestrebt und/ oder realisiert wird. So ist daran zu erinnern, dass das scholastisch-feudale Ordnungskonzept des Mittelalters gewiss nicht individualistisch in dem Sinn gewesen ist, dass es die Eigenständigkeit des Einzelnen betont hätte; doch ist nicht zu leugnen, dass es insofern dem Prinzip der Individualität verpflichtet gewesen ist, dass es die Einzigartigkeit jedes Einzelnen in den Augen Gottes hervorhob und in der Folge in den Augen der anderen Menschen einforderte. Auch ist darauf hinzuweisen, dass heute ein Großteil der Gesellschaftskritik mit dem Argument operiert, wohl sei die liberale Ordnung individualistisch, indem sie wohl Exkurs: Individualismus und Individualität · 129 <?page no="147"?> jeden zwinge, nur für sich selbst Sorge zu tragen, dass sie jedoch kaum jemandem erlaube, seine Individualität, also seine Einzigartigkeit im Unterschied, gar im Gegensatz zur schablonenhaften Uniformität der anderen Gesellschaftsmitglieder auszubilden und auszuleben. An dieser Stelle ist es nicht möglich, auf das komplexe Verhältnis von Individualismus und Individualität einzugehen. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass beide in verschiedenen Gesellschaften auch heute eine mehr oder weniger große Rolle spielen können. So ist es eine zumindest bedenkenswerte Hypothese, dass die US-amerikanische Gesellschaft eher dem Individualismus als der Individualität verpflichtet ist, während die europäischen Gesellschaften eher die Einzigartigkeit, weniger aber die Eigenständigkeit des Einzelnen als Wert hochhalten. Es ist demnach festzuhalten, dass es durchaus sinnvoll ist, zwischen Individualismus und Individualität als Norm zu unterscheiden. Nun konnte der Leser insbesondere dieses Kapitels konstatieren, dass die Einzigartigkeit des Einzelnen sich um so mehr in den Vordergrund geschoben hat, je weiter sich die Darstellung von dem engen Kanon der orthodoxen ökonomischen Theorie der Politik entfernt hat. Genauer: Der Aspekt der Einzigartigkeit gewann um so deutlichere Konturen, je mehr betont wurde, dass der Einzelne nicht nur „self-interests“ hat, also etwas haben will, sondern auch ein „interest in his own self“ hat, er also jemand sein will. Dies ist deshalb nicht verwunderlich, weil dann, wenn das Streben nach einem individuellen Selbst in die Analyse aufgenommen wird, auch die Frage gestellt werden muss, wie der Einzelne „er selbst“ im Unterschied zu anderen sein kann. So ist zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen die Einzelnen untereinander soviel gemeinsam haben können, dass ein Vergleich zwischen ihnen überhaupt möglich ist, ob und unter welchen Bedingungen sie sich aber auch so sehr unähnlich sein können, dass Differenzen zwischen ihnen überhaupt ausgemacht werden können. Es sind dies Fragen, die bislang, wenn überhaupt, allenfalls am Rande von der ökonomischen Theorie im Allgemeinen, der ökonomischen Theorie der Politik im Besonderen gestellt worden sind. Indem die Wirtschaftstheorie davon ausgeht, dass der Einzelne als problemloses Datum in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft anzusehen ist, verbietet sie sich selbst den Zugang zu der Frage, wie der Mensch in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft ein in dauerndem Werden begriffenes Selbst ist. Erst allmählich nimmt die ökonomische Theorie der Politik zur Kenntnis, dass der Einzelne kein problemloses Selbst hat, sondern günstigenfalls in einem offenen Prozess zum Selbst wird. Die Seiten dieses Buches, die sich - weiter unten - etwa mit der Dynamik der Bedürfnisentstehung, mit der Politik als therapeutischer Veranstaltung oder auch mit der Dimensionierung des moralischen und politischen Raumes befassen, deuten in die Richtung, in der eine Einbeziehung dieser Fragen in den Analysebereich der Neuen Politischen Ökonomie möglich scheint. 130 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="148"?> Literatur zu Kapitel III und zum Exkurs Aaken, A. von: Rational-Choice in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2003. Ainslie, G.: Beyond Microeconomics: Conflict among Interests in a Multiple Self as a Determinant of Value, in: Elster, J. (Hrsg.): The Multiple Self, Cambridge 1986. Akerlof, G.A., Kranton, R. E.: Economics and Identity, Quarterly Journal of Economics 115, 2000. Andreoni, J.: The Carrot or the Stick: Rewards, Punishment, and Cooperation, American Economic Review 93, 2003. 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Wo liegt die Begründung dafür, dass kollektive Beziehungen einmal über sozialen und ein anderes Mal über staatlichen Zwang organisiert werden? 7. Aus welchem Grund beansprucht der Staat das Gewaltmonopol? 8. Sollte man möglichst viele zwischenmenschliche Beziehungen in der Gesellschaft durch Gesetze regeln? 9. Warum ist es für den Einzelnen rational, Prinzipien zu haben? 10. Skizzieren Sie eine Begründung für die Internalisierung von Normen (Gewissen), die dem Denken des Rational Choice entspricht. 11. Definieren Sie den Begriff des „moral space“. 12. Erklären Sie kurz Annahmen, Analyse und Aussagen des Modells über Umweltmoral (Abbildung 10). 13. Von welchen Faktoren hängt die Lage des Nullpunktes im Modell (Abbildung 10) ab? 14. Was versteht man unter Vertrauen? 15. Was versteht man unter „specific“, was unter „general trust“? 16. Sind Vertrauensbeziehungen ökonomisch wertvoll? 134 · Kapitel III: Gesellschaftliche Normen, staatliche Gesetze und individuelles Gewissen <?page no="152"?> Kapitel IV Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang Bislang haben wir gesehen, dass ein Kernproblem jeder individualistisch ausgerichteten Gesellschaftswissenschaft, also auch der Neuen Politischen Ökonomie, in der Frage besteht, wie freie Individuen in einer Welt der knappen Ressourcen in Frieden, d. h. ohne sich wechselseitig Gewalt anzutun, miteinander umgehen können. Dabei sollen die knappen Ressourcen nicht vergeudet, vielmehr allokationseffizient genutzt werden.Auch soll niemand im Dienst ihm fremder Zwecke instrumentalisiert werden: der Distributionsaspekt. Wir haben verschiedene Lösungsansätze für dieses Kernproblem kennengelernt. Sie sollen über den Hobbesschen Naturzustand hinausführen, in welchem jeder die knappen Mittel nicht zur eigenen Wohlfahrtserhöhung einsetzen kann, sondern zur Wohlfahrtsminderung der anderen nutzen muss, in dem auch das Recht des Stärkeren gilt. Diese Lösungsansätze waren • der Markt, • freiwillige Vereinbarungen, • gesellschaftliche Normen • Prinzipien und individuelles Gewissen. • Trust relationships Bei der Erörterung dieser Ansätze hat sich gezeigt, dass sie im Rahmen bestimmter Bedingungen, also innerhalb bestimmter Grenzen, einen Beitrag zur Lösung des Kernproblems des gesellschaftlichen Zusammenlebens leisten können. Jenseits dieser Grenzen muss der zwischenmenschliche Umgang mit anderen Mitteln geregelt werden, wenn denn die Schrecken der Hobbesschen Ordnungslosigkeit verhindert werden sollen. Diese anderen Mittel haben wir unter dem Stichwort der • Gesetze in den obigen Darlegungen angesprochen. Mit ihnen werden wir uns im Folgenden eingehender beschäftigen. 1 Legitimation durch Verfahren Oben haben wir ausgeführt, dass zwei Charakteristika die Gesetze auszeichnen. Einerseits werden sie in einem formellen Verfahren eingeführt bzw. abgeschafft. Andererseits sind mit ihrer Durchsetzung und Anwendung eigens dafür bestellte, eigens qualifizierte und eigens kontrollierte Institutionen und Personen betraut. 135 <?page no="153"?> Beides - die formelle, geregelte Verabschiedung von Gesetzen und die Verpflichtung und Berechtigung von Spezialisten zu ihrer Durchsetzung - sind im Zusammenhang mit der Tatsache zu sehen, dass zur Durchsetzung von Gesetzen notfalls ein beträchtliches Maß an kollektivem Zwang angewendet wird. Gesetze sind geradezu der Ausdruck staatlicher Herrschaft. Wenn und in dem Maße wie demnach die Bereitstellung von Kollektivgütern nicht im Rahmen freiwilliger Vereinbarungen, nicht durch gesellschaftliche Normen, nicht über das Gewissen oder die Prinzipien der Einzelnen und nicht auf der Basis von Vertrauensbeziehungen ermöglicht wird, können diese Kollektivgüter nur durch die Anwendung von kollektivem Zwang erstellt werden. Wenn nun aber richtig ist, dass Kollektiventscheidungen - wenn denn nicht alle das gleiche Ergebnis anstreben - mit Zwang verbunden sind, dann sieht es so aus, als müssten wir zwischen zwei Alternativen wählen, die gleichermaßen, wenn auch in verschiedener Hinsicht, unliebsam sind: - Wir könnten mit Blick auf die individuelle Freiheit den kollektiven Zwang ablehnen. Dies aber würde bedeuten, dass wir auf die Kollektive, die Kollektiventscheidungen und damit die entsprechenden Kollektivgüter verzichten müssten. Wir haben schon oben gesehen, dass wir damit jene Bereichen des zwischenmenschlichen Umgangs, die nicht über den Markt, freiwillige Vereinbarungen, gesellschaftliche Normen, individuelles Gewissen und Vertrauensbeziehungen geregelt werden können, der Unordnung des Hobbesschen Naturzustandes überantworten würden. In dem Maße wie die erstgenannten Lösungsansätze nur im Rahmen einer Ordnung möglich sind, die selbst das Ergebnis von Kollektiventscheidungen ist, würden darüber hinaus selbst diese Lösungsansätze hinfällig werden. - Wir könnten auch, mit Blick auf die Wünschbarkeit, gar die Notwendigkeit von Kollektivgütern, von Kollektiventscheidungen und von kollektivem Zwang, die Freiheit der Individuen dem Zwang der staatlichen Herrschaft opfern. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass eine dritte Möglichkeit nicht besteht. Da nun so ziemlich jede Ordnung der Unordnung vorzuziehen ist, wird die erste der beiden Alternativen allgemein als unannehmbar verworfen. Es bleibt die zweite Alternative. Auch sie ist unliebsam. Denn man sollte sich keiner Täuschung hingeben: Aus liberal-individualistischer Sicht ist auch ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat ein wohl notwendiger, doch höchst problematischer Notbehelf. Da er als Herrschaftsverband und Zwangsinstrument problematisch ist, kann und muss man - so man sich dem liberal-individualistischen Engagement verpflichtet fühlt - versuchen, - den durch Gesetze, d. h. mittels kollektiven Zwangs geregelten Bereich des gesellschaftlichen Umgangs der Individuen möglichst klein zu halten. Die Beweislast muss deshalb im Einzelnen bei jenen liegen, die das gesellschaftliche Zusammenleben mittels gesetzlichen Zwanges regeln wollen; - innerhalb des Bereichs der Kollektiventscheidungen den kollektiven Zwang für den Einzelnen möglichst klein zu halten. Unter Rückgriff auf Hirschman - siehe oben - kann dies dadurch geschehen, dass 136 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="154"?> • die Kosten und Erfolgschancen des „Exit“ gesenkt bzw. erhöht werden. Der föderale Aufbau von Staaten, die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und die Erleichterung der Freizügigkeit in der Europäischen Union sind Wege, auf welchen dies angestrebt werden kann. • die Kosten und Erfolgschancen des „Voice“ gesenkt bzw. erhöht werden. Die Erhöhung der Partizipationsmöglichkeiten und der Transparenz in der Politik sind als Versuche in diese Richtung zu nennen. Allerdings: Auch hier sind keine Illusionen erlaubt. Trotz aller, auch erfolgreichen Bemühungen bleibt ein mehr oder weniger großer Rest an kollektivem Zwang, an staatlicher Gewalt, an Instrumentalisierung des Individuums im Dienste ihm fremder Zwecke. Der Pazifist wird im Zweifel zum Wehrdienst herangezogen, trägt jedenfalls mit seinen Steuern zur Finanzierung der Militärmaschine bei. Der Autobahngegner trägt zur Finanzierung der Autobahnen bei. Der EU-Gegner ist plötzlich EU-Bürger. Und es wird im Zweifel auch im Namen dessen hingerichtet, der gegen die Todesstrafe ist. Wir müssen uns demnach damit abfinden, dass trotz aller Bemühungen in Kollektiven für den Einzelnen nicht jeder Zwang verschwindet. Die Frage ist, ob damit vom normativen Individualismus endgültig Abschied genommen werden muss oder ob nicht auch jetzt noch die Hoffnung besteht, den kollektiven Zwang mit der Norm der individuellen Freiheit kompatibel zu machen. Trügt solche Hoffnung nicht, dann bedeutet dies, dass man wohl realistischerweise die Existenz von kollektivem Zwang anerkennen kann, aber das individualistische Engagement nicht verraten muss. Es ist kein Zufall, dass zwei wirklichkeitsverhaftete und engagiert-liberale Gesellschaftstheoretiker diese Frage aufgegriffen haben: James M. Buchanan und Gordon Tullock. Der Grundgedanke, der ihrem Antwortversuch zugrundeliegt, ist folgender: - Der Widerspruch von kollektivem Zwang und individueller Freiheit lässt sich auf der Ebene des Entscheidungsergebnisses nicht völlig auflösen. - Es ist möglich, den Widerspruch zwischen kollektivem Zwang und individueller Freiheit auf der Ebene des Entscheidungsverfahrens aufzulösen. - Wenn der Widerspruch zwischen kollektivem Zwang und individueller Freiheit auf der Ebene des Entscheidungsverfahrens aufgelöst ist, hat er auf der Ebene des Entscheidungsergebnisses seine Bedeutung verloren. In etwas weniger trockener Diktion: In Kollektiven führen Entscheidungen nicht selten dazu, dass die allgemein verbindlichen Ergebnisse dem einen oder anderen nicht passen. So wird nach der Einführung des Wehrdienstes auch der Pazifist Soldat werden müssen. Anders wäre es nur, wenn - siehe oben - alle das Gleiche wollten und/ oder einstimmig entschieden. Aus Gründen, die schon K.Wicksell diskutiert hat und auf die wir gleich noch eingehen werden, ist die Einstimmigkeitsregel in den wenigsten Fällen zweckmäßig. Hingegen ist es schon eher möglich und nützlich, dass alle Kollektivmitglieder sich einstimmig auf ein Entscheidungsverfahren, auf eine Verfassung einigen. Gelingt es aber, die Bedingungen für einen solchen einstimmigen Verfassungskonsens zu schaffen, d. h. einigen sich die Kollektivmitglieder einstimmig auf ein Entscheidungsverfahren, dann mögen zwar noch die über dieses Verfahren später getroffe- Legitimation durch Verfahren · 137 <?page no="155"?> nen Kollektiventscheidungen die Präferenzen Einzelner verletzen. Doch selbst wenn dies der Fall ist, werden jene, deren Zielvorstellungen verletzt werden, dann nicht mit der Verletzung ihrer individuellen Freiheit argumentieren können, wenn sie dem Verfahren, über das die entsprechenden Entscheidungen getroffen worden sind, vorher zugestimmt haben. Der Pazifist, der zum Wehrdienst gezwungen ist, kann sich dann jedenfalls nicht unter Berufung auf seine individuelle Freiheit dagegen auflehnen, wenn er sich vorher mit dem Entscheidungsverfahren, das zu diesem Entschluss geführt hat, einverstanden erklärt hat. Noch einmal: Es werden dann im Zweifel seine individuellen Zielvorstellungen, nicht aber seine individuelle Freiheit verletzt. Die Verlagerung des Problems von der Ergebnisauf die Verfahrensebene, wie sie Buchanan und Tullock vorschlagen, zielt also darauf, individuelle Ziele verletzen zu können, ohne das Individuum als letzte Autorität in Frage stellen zu müssen. Damit dies allerdings vollumfänglich gelingt, ist es nötig, dass der Konsens über das Entscheidungsverfahren, der „constitutional consent, einstimmig ist. Da kein Individuum als letzte Autorität in Frage gestellt werden soll, da aber im Prinzip jedes einzelne Kollektivmitglied auf der Ebene der Entscheidungsergebnisse das Opfer kollektiven Zwangs werden kann, müssen alle dem Verfahren zugestimmt haben, wenn denn der Widerspruch von Zwang und Individualismus aufgelöst werden soll. Aus diesem Ansatz ergibt sich geradezu zwangsläufig, dass die Argumentation in zwei Etappen erfolgen muss: - Es ist zu klären, welches Kalkül jedes einzelne Individuum anstellt, wenn es sich für bzw. gegen diese oder jene Verfassung entscheiden soll. Mit anderen Worten: Es ist zu klären, auf Grund welcher Überlegungen der Einzelne jene Entscheidungsregel bestimmt, die in seinen Augen optimal ist. Und dies trotz, ja wegen der Aussicht, dass das schließlich gültige, weil auch von ihm akzeptierte Verfahren zu Ergebnissen führen wird, die seinen Präferenzen widersprechen. - Da nicht ausgeschlossen werden kann, vielmehr erwartet werden muss, dass diese individuellen Kalküle zu unterschiedlichen Resultaten führen, ist zu fragen, wie man von einer Vielzahl im Zweifel unterschiedlicher individueller Optimalvorstellungen zu einer Verfassung kommt. Dabei wird es entscheidend und erschwerend sein, dass Individuen, die sehr unterschiedliche Vorstellungen über die wünschenswerte Verfassung haben, sich einstimmig auf eine Verfassung einigen müssen. Die Frage wird sein, ob und wie dies möglich ist. Wir beginnen mit der ersten Frage: Wie sieht das Verfassungskalkül eines Einzelnen aus? Welches sind die Gesichtspunkte, unter denen er abwägt, welchem Entscheidungsverfahren er den Vorzug gibt? Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu beachten, dass es nicht um ein „durchschnittliches“, „typisches“ o. ä. Individuum geht. Es geht um das Kalkül eines bestimmten Individuums, etwa des Herrn Müller. Wir werden - wie gesagt - später die Tatsache in die Überlegungen einbeziehen, dass es neben dem Herrn Müller einen Herrn Schmidt, eine Frau Meyer usw., also viele Individuen in der Gesellschaft gibt, und dass diese Individuen - jedes für sich - ein solches Kalkül anstellen (sollen), und die Resultate dieser Kalküle mit einiger Wahrscheinlichkeit sehr unterschiedlich sein werden. 138 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="156"?> Es gibt also im Prinzip so viele Kalküle über die individuell wünschenswerten kollektiven Entscheidungsverfahren wie es Gesellschaftsmitglieder gibt. Noch etwas ist zu beachten: Im Folgenden werden einige Graphiken benutzt. Diese Graphiken dienen lediglich der Veranschaulichung von abwägenden Überlegungen. Sie sind nicht so zu verstehen, als würde die Messbarkeit der abgebildeten Werte unterstellt.Auch wenn im Folgenden von bestimmten Kostenarten die Rede ist, soll dies nicht die Vorstellung hervorrufen, als sei hier von monetisierbaren Größen die Rede. Mit dem Ausdruck der Kosten ist lediglich eine Beeinträchtigung der individuellen Wohlfahrtslage aus der Perspektive des einzelnen Individuums gemeint. Es wird im Folgenden also lediglich unterstellt, dass der Einzelne sich selbst, also intrasubjektiv über diese Beeinträchtigung Rechenschaft ablegt, nicht aber, dass er intersubjektiv eindeutig mitteilen kann, wie groß diese Beeinträchtigung ist. Da es sich um Überlegungen von Individuen handelt, die lediglich von ihnen selbst nachvollzogen werden müssen, ist eine intersubjektive Mitteilbarkeit auch nicht notwendig. Wir wenden uns nun dem Kalkül selbst zu. Das Individuum geht von der Tatsache - genauer: von der Befürchtung - aus, dass die Mitgliedschaft in Kollektiven mit Zwang verbunden ist. Es geht aber auch von der Tatsache - genauer: von der Hoffnung - aus, dass es ihm über die Mitgliedschaft in Kollektiven möglich ist, anderweitig nicht befriedigbare Bedürfnisse zu befriedigen. Für das Individuum bedeutet dies, dass es einerseits damit rechnen muss, im Kollektiv Entscheidungskonsequenzen mittragen zu müssen, die ihm außerhalb des Kollektivs erspart bleiben würden. Andererseits kann es aber auch hoffen, dass es im Kollektiv eigene Bedürfnisse befriedigen kann, die außerhalb des Kollektivs unbefriedigt geblieben wären. Das Streben des Individuums geht nun dahin, dass möglichst viele von seinen Bedürfnissen im Kollektiv befriedigt und möglichst wenige Entscheidungen getroffen werden, die seinen Bedürfnissen zuwiderlaufen. Nun ist das einzelne Individuum nicht das einzige Kollektivmitglied. Es gibt andere, und diese anderen haben die gleiche Absicht. Dies bedeutet, dass das einzelne Individuum versuchen muss, seine Bedürfnisse gegen den Widerstand anderer Kollektivmitglieder, also unter Anstrengungen und Kosten in den Kollektiventscheid einzubringen. Auch muss es gewärtig sein, dass ihm dies mehr oder weniger häufig nicht gelingt, vielmehr andere in der Durchsetzung ihrer Zielvorstellungen erfolgreich sind. Kollektiventscheidungen bringen es demnach mit sich, dass - das einzelne Kollektivmitglied für die Durchsetzung seiner Zielvorstellungen kämpfen und für sie werben muss. Dies bedeutet, dass der Einzelne mehr oder weniger hohe Kosten und Mühen auf sich nehmen muss, damit seinen Vorstellungen entsprechende Kollektiventscheidungen zustandekommen; - das einzelne Kollektivmitglied mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, dass es mehr oder weniger weitreichende Entscheidungsfolgen mittragen muss, die ihm mehr oder weniger unlieb sind, also seinen Präferenzen mehr oder weniger stark zuwiderlaufen. Da es dem Einzelnen darum geht, die aus seiner Sicht optimale Entscheidungsregel zu finden, wird er prüfen, wie unterschiedliche Verfahren unter diesen beiden Aspekten Legitimation durch Verfahren · 139 <?page no="157"?> zu beurteilen sind. Er wird demnach prüfen, welchen Einfluss das Entscheidungsverfahren auf die Mühe hat, die er aufbringen muss, um Kollektiventscheidungen auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse auszurichten.Auch wird er prüfen, wie das Entscheidungsverfahren die Höhe jener Wohlfahrtseinbußen beeinflusst, die ihm dadurch entstehen (können), dass andere ihre Zielvorstellungen durchsetzen. Da nun das hier beschriebene Verfassungsproblem auf die Frage verkürzt ist, welche Zahl an Ja-Stimmen in einem Kollektiv erforderlich ist, um gültige Entscheidungen zu treffen, reduziert sich für den Einzelnen das Problem auf die Suche nach der aus seiner Sicht optimalen Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen. In einem ersten Anlauf möchte man nun meinen, dass der Einzelne daran interessiert ist, im Entscheidungsprozess ein möglichst großes Gewicht zu haben. Dann könnte er ohne oder nur mit geringen Kosten im Kollektiv seine Zielvorstellungen verbindlich machen und müsste nicht oder doch nur wenig befürchten, dass andere ihm ihren Willen aufzwingen. Dieses Gewicht wäre selbstredend dann am größten, wenn ein einzelnes Individuum gleichsam als unumschränkter Diktator allein auch für alle übrigen Kollektivmitglieder bindende Entscheide treffen könnte. Allerdings: Aus der Perspektive eines einzelnen Individuums mag es wünschenswert sein, die Geschicke eines Kollektivs allein gestalten zu können, ohne seine Pläne mit denen anderer Mitglieder absprechen und abstimmen zu müssen. Doch würde eine solche Regelung jenem individualistischen Wertempfinden widersprechen, das allen Mitgliedern ein gleiches Gewicht in der kollektiven Willensbildung zubilligen möchte. Demnach müssen wir im Folgenden davon ausgehen, dass Entscheidungsmöglichkeiten, die einem Mitglied in einem Kollektiv offenstehen, allen Mitgliedern zugänglich sind. Der Einzelne muss in seiner Suche nach der für ihn optimalen Verfassung davon ausgehen, dass auch die anderen Kollektivmitglieder im Willensbildungsprozess jenes Gewicht haben, das die Verfassung ihm gibt. Nur auf diese Weise wird dem liberal-individualistischen Wertengagement Rechnung getragen. 2 Individuelle Verfassungskalküle 2.1 Konsensfindungskosten + wahrscheinliche externe Kosten = Interdependenzkosten 2.1.1 Konsensfindungskosten Fragen wir uns, wann die Möglichkeit eines Individuums, seine eigenen Vorstellungen zur Grundlage des kollektiven Handelns zu erklären, am größten ist. Dies ist dann der Fall, wenn dieses Individuum ohne Rücksprache mit anderen Mitgliedern eine für alle verbindliche Entscheidung treffen kann. (Unserem Prinzip der gleichen Möglichkeiten aller einzelnen Mitglieder folgend gilt dann allerdings diese Regelung für alle einzelnen Individuen, d. h., jedes einzelne Mitglied kann für alle verbindliche Entschlüsse fassen: „every man rule“). Wenn jedes einzelne Individuum in einem 100 Mitglieder umfassenden Zusammenschluss allein für alle entscheiden kann, dann entstehen ihm aus der Tatsache, dass diese Entscheidungen in einem Kollektiv getroffen werden, 140 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="158"?> keine Kosten dadurch, dass es sich darum bemühen muss, andere Mitglieder auf seine Linie einzuschwören. Buchanan und Tullock sprechen davon, dass die „decision making costs“ (Konsensfindungskosten) D in diesem Fall Null sind. Dies ändert sich, wenn nicht mehr mit einer Stimme für alle 100 Mitglieder verbindliche Entscheidungen getroffen werden können, sondern zwei Ja-Stimmen erforderlich sind. Zwar mögen die Vorstellungen von zwei Individuen sich so sehr ähneln, dass einer den anderen nicht erst zu überzeugen und auf seine Seite zu ziehen braucht. Ist dies der Fall, dann sind für den Einzelnen die Konsensfindungskosten nach wie vor Null. Jedoch kann nicht a priori ausgeschlossen werden, dass die Konsensfindungskosten größer als Null sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Zielvorstellungen jenes zweiten Individuums, dessen Ja-Stimme zur Beschlussfassung nötig ist, von den Vorstellungen jenes Individuums abweichen, welches das Verfassungskalkül erstellt. Jetzt kostet es dieses Individuum Zeit, Nerven und Zugeständnisse, um den Zweiten zur Ja-Stimme zu motivieren. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die Konsensfindungskosten umso höher sein werden, je größer die Anzahl der erforderlichen Ja-Voten ist. Nicht nur muss der Einzelne mehr Kollektivmitglieder dazu bewegen, in seinem Sinne ihre Stimme abzugeben. Er ist auch - siehe unten - auf Kollektivmitglieder angewiesen, deren Zielvorstellungen von den seinen zunehmend verschieden sind. Die Konsensfindungskosten erreichen ihr Maximum dann, wenn alle 100 Mitglieder für ein Projekt stimmen müssen, also Entscheidungen in dem betreffenden Kollektiv nur einstimmig gefasst werden können. Die Kurve der Konsensfindungskosten hat einen Verlauf, wie er in Abbildung 11 dargestellt ist. Der ansteigende Verlauf der D-Kurve besagt demnach, dass es mit wachsender Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen für das einzelne Mitglied immer schwieriger und kostspieliger wird, die im Kollektiv zu treffenden Entscheidungen an seinen Zielvorstellungen auszurichten. Es sieht also vorerst so aus, als ob es aus der Perspektive des einzel- Individuelle Verfassungskalküle · 141 Abbildung 11 <?page no="159"?> nen Mitgliedes von Vorteil ist, wenn mit einer Stimme für alle Mitglieder verbindliche Entscheidungen getroffen werden könnten. 2.1.2 Wahrscheinliche externe Kosten Der Einzelne beachtet aber nicht nur die Konsensfindungskosten.Wenn nämlich jeder Einzelne für alle Mitglieder verbindliche Entschlüsse treffen kann, so ist es für unser Individuum wohl sehr leicht, seine eigenen Vorstellungen im Kollektiv durchzusetzen, doch gilt dies auch für alle übrigen. Die Folge ist, dass unser Individuum sich der mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit gegenübersieht, dass es auch die Folgen fremder Entscheidungen hinnehmen muss, die seinen Präferenzen entgegengesetzt sind. So wird der Einzelne davon ausgehen müssen, dass dann, wenn mit nur einer Stimme kollektiv verbindliche Entscheidungen getroffen werden können, die Wahrscheinlichkeit, dass ihm unliebsame Entscheidungen zustandekommen, sehr hoch ist. Darüber hinaus wird er annehmen müssen, dass Entscheidungen zustandekommen, die ihm umso unliebsamer sind, je geringer die Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen ist. In der Tat: Je weniger Ja-Stimmen nötig sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die eine bestimmte Entscheidung herbeiführen können, Vorstellungen haben, die von den Ansichten des Individuums, welches das Verfassungskalkül anstellt, verschieden sind. So wird dann, wenn 99 von 100 Stimmen nötig sind, unser Individuum wohl davon ausgehen müssen, dass man im Zweifel gegen sein Votum entscheiden wird. Doch wird es auch davon ausgehen können, dass die Entscheidung von seinen Vorstellungen nicht weit entfernt sein wird, da jene, die ihm nahestehen, zustimmen müssen. Sind aber nur 25 Ja-Stimmen erforderlich, so können 25 Mitglieder, die aus der Sicht unseres Individuums abartige Vorstellungen haben, verbindlich entscheiden, ohne dass unser Individuum und das ihm nahestehende 99. Mitglied, das ihm etwas weniger nahestehende 98. Mitglied bis hin zum 26. Mitglied dies verhindern können. Die negativen Folgen, die einem Individuum aus der Tatsache des kollektiven Entscheidens wahrscheinlich entstehen werden, nennen Buchanan und Tullock „wahrscheinliche externe Kosten“ („expected external costs“): C. Die wahrscheinlichen externen Kosten erreichen ihr absolutes Minimum an jenem Punkt, an dem alle Mitglieder einer Entscheidung in einem Kollektiv zustimmen müssen. Hier hat jedes Individuum, also auch jenes, von dessen Standpunkt aus wir diese Überlegungen anstellen, die Möglichkeit, ihm unangenehme Folgewirkungen einer Entscheidung durch sein Veto zu blockieren. Jedes Individuum ist so in der Lage, Wohlfahrtseinbußen als Folge der Realisierung ihm nicht genehmer fremder Zielvorstellungen zu vermeiden, indem es sich gegen die Verwirklichung dieser Ziele stellt. Wir haben also einen Verlauf der Kurve der wahrscheinlichen externen Kosten, wie er in Abbildung 12 wiedergegeben ist. Würde man nur den Verlauf der Kurve der wahrscheinlichen externen Kosten in dem Kalkül berücksichtigen, so wäre es ohne weiteres gerechtfertigt, die Einstimmigkeitsregel als optimale Entscheidungsregel zu bezeichnen. Sie stellt sicher, dass nur solche Entscheidungen für alle verbindlich getroffen werden können, die wenigstens ein Individuum besser stellen, ohne auch nur eines zu benachteiligen. Die Einstimmigkeits- 142 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="160"?> regel, wie sie auch K.Wicksell diskutiert hat, ist - sieht man von Kompensationszahlungen ab - die institutionelle Vorkehrung, um ein Pareto-Optimum zu gewährleisten. 2.1.3 Interdependenzkosten Allerdings: Die Entscheidungsfindung ist unter Einstimmigkeit sehr zeitraubend, schwerfällig und kostspielig. Denn aus der Perspektive eines einzelnen Mitgliedes erreichen die Konsensfindungskosten gerade bei Einstimmigkeit ihr Maximum. Das ist nicht verwunderlich: Da eine bestimmte Regel - unserer Annahme entsprechend - für alle Kollektivmitglieder gültig ist, ist die gleiche Regel, die einen Einzelnen vor ihm unangenehmen Folgen der Zielvorstellungen seiner Kollektivgenossen schützt, die Ursache für die Schwierigkeiten, denen dieser Einzelne begegnet, wenn er seine Vorstellungen innerhalb des Kollektivs durchsetzen will. Da es dem einzelnen Individuum nicht nur darum geht, dass ihm innerhalb eines Kollektivs einiges erspart bleibt, sondern auch darum, dass es dort etwas durchsetzen kann, kann es nicht die Konsensfindungskosten oder die wahrscheinlichen externen Kosten minimieren. Da beide Kostenarten sich in Abhängigkeit von den erforderlichen Ja-Stimmen gegenläufig verhalten, steht das Individuum nicht vor zwei untereinander nicht verbundenen Minimierungsproblemen, sondern vor einem Optimierungsproblem. Abbildung 13 gibt diesen Zusammenhang wieder. Das Individuum wird solange bereitwillig steigende Konsensfindungskosten in Kauf nehmen, wie ihr Anwachsen schwächer ist als das Absinken der wahrscheinlichen externen Kosten. Die Berücksichtigung der Konsensfindungskosten und der wahrscheinlichen externen Kosten lässt sich graphisch dadurch abbilden, dass die beiden Kurven C und D vertikal zur Interdependenzkostenkurve I addiert werden. Die Interdependenzkostenkurve gibt - in Abhängigkeit von der Verfassung - jene Kosten Individuelle Verfassungskalküle · 143 Abbildung 12 <?page no="161"?> wieder, die dem Einzelnen dadurch entstehen, dass über die Befriedigung seiner Bedürfnisse im Kollektiv entschieden werden soll. An dieser Stelle ist eigens auf ein mögliches Missverständnis hinzuweisen: Die Interdependenzkosten sind jene Kosten, die dem Einzelnen aus der Tatsache des kollektiven Entscheidens entstehen; sie sind nicht jene Kosten, die mit der Realisierung eines bestimmten Kollektiventscheids verbunden sind. Am Beispiel: Die Interdependenzkosten sind jene Kosten, die dem Einzelnen daraus erwachsen, dass über den Bau und die Finanzierung etwa der Verkehrsinfrastruktur kollektiv, nicht aber privat entschieden wird. Es handelt sich bei den Interdependenzkosten aber nicht um jene Kosten, die dadurch anfallen, dass der im Kollektiv entschiedene Bau eines bestimmten Autobahnteilstücks Milliarden kostet. Es braucht keine näheren Ausführungen, um darzulegen, dass am Punkt X, wo die so verstandenen Interdependenzkosten ihr Minimum haben, aus der Sicht des Einzelnen die optimale Zahl der Ja-Stimmen, also die optimale Verfassung liegt. Es zeigt sich, dass die Mehrheitsregel nichts Sakrales an sich hat und auch nicht kraft obskurer Zahlenmagie die Richtigkeit von Entschlüssen gewährleistet. Sie ist eine Konvention, über deren Zweckmäßigkeit sich die einzelnen Individuen sehr wohl Gedanken machen können. Wenn wir häufig „spontan“ die einfache Mehrheit als die Entscheidungsregel ansehen, so weil wir - siehe unten: oft mit gutem Grund - stillschweigend annehmen, dass die Bedingungen so sind, dass diese Regel aus unserer Sicht optimal ist. 2.2 Optimalität und Dringlichkeit individueller Verfassungsentscheide Ehe wir uns weiteren Aspekten der Verfassung von Kollektiven zuwenden, ist es nützlich, noch drei Details in Abbildung 13 auf ihren Aussagegehalt hin zu befragen: 144 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang Abbildung 13 <?page no="162"?> - die relative Lage von X, - die Strecke XM, - der Krümmungsgrad der I-Kurve. Die relative Lage von X gibt die Zahl der von einem Individuum als optimal angesehenen erforderlichen Ja-Voten an. Je weiter rechts (links) X liegt, desto größer (kleiner) ist diese Zahl. X liegt umso weiter rechts (links), je steiler der Anstieg der wahrscheinlichen externen Kosten (Konsensfindungskosten) im Vergleich zum Anstieg der Konsensfindungskosten (wahrscheinlichen externen Kosten) ist. Konkret bedeutet dies: Je wichtiger ein Individuum die wahrscheinlichen externen Kosten (Konsensfindungskosten) ansieht, um so eher will es sich vor diesen schützen. Es zieht eine möglichst hohe (niedrige) Zahl der erforderlichen Ja-Voten vor. Ihm ist es in diesem Fall wichtiger, dass ihm Nichtgenehmes im Kollektiv unterbleibt (seine eigenen Vorstellungen realisiert werden), als dass seine eigenen Vorstellungen realisiert werden (ihm Nichtgenehmes unterbleibt). In den Augen eines einzelnen Kollektivmitgliedes ist die Einstimmigkeit der Entscheidung nur dann optimal, wenn aus seiner Perspektive die Konsensfindungskosten überhaupt keine Rolle spielen, also die D- Kurve auf der Abszisse entlang kriecht. Entsprechendes gilt für jenen, der mit einer Stimme alle verbindlichen Entscheidungen treffen lassen will. Für ihn sind die wahrscheinlichen externen Kosten ohne Belang; die C-Kurve liegt auf der Abszisse. Ein Beispiel: Traditionelle afrikanische Stammesgesellschaften dürften aus Menschen bestehen, für die die Konsensfindungskosten keine oder eine nur geringe Bedeutung haben. Auch scheint es ungemein wichtig zu sein, dass nach Möglichkeit bei keinem Stammesmitglied das Gefühl entsteht, ein Opfer des Gruppenzwanges zu werden, also wahrscheinliche externe Kosten tragen zu müssen. Die Institution des Palavers, die schier endlose Diskussion vor Kollektiventscheidungen, an deren Ende der Stammesälteste nicht seine Entscheidung verkündet, sondern den im Prinzip einstimmigen Stammeskonsens artikuliert, findet hier eine zumindest plausible Erklärung und „individualistische“ Rechtfertigung. Die Zeit spielt keine Rolle; und: es ist für jeden Einzelnen und für den Stamm insgesamt von höchster Wichtigkeit, dass der Stammeszusammenhalt gewahrt bleibt. Bezüglich der relativen Lage von X ist anzumerken, dass dann, wenn die Zahl der erforderlichen Ja-Voten gering ist, mit einer schnellen Folge möglicherweise entgegengesetzter Kollektiventscheidungen gerechnet werden muss. Die Strecke XM gibt jene Kosten an, die ein Individuum selbst im günstigsten Fall zu tragen hat und die ihre Ursache in der Tatsache haben, dass eine Entscheidung in einem Kollektiv getroffen wird. Sie sind umso höher, je steiler die wahrscheinlichen externen Kosten und/ oder Konsensfindungskosten ansteigen. Jedes Abweichen von X nach rechts oder nach links bedeutet das Abgehen von einer in den Augen dieses Individuums optimalen Verfassung: Die kollektive Entscheidungsfindung verschlingt mehr Mittel, als sie im Optimalfall verschlingen würde. Die Krümmung der Interdependenzkostenkurve gibt die Bedeutung wieder, welche die Frage der Entscheidungsregel in den Augen unseres Kollektivmitgliedes hat. Je flacher diese Kurve verläuft, umso indifferenter ist dieses Individuum gegenüber der Individuelle Verfassungskalküle · 145 <?page no="163"?> Verfassungsfrage. Ist sie völlig horizontal, so ist es dem Einzelnen gleichgültig, ob mit einer Stimme, mit 25, 50, 75 oder 100 Stimmen verbindliche Entscheidungen getroffen werden können.Verläuft sie sehr gekrümmt, so führt selbst ein kleines Überbzw. Unterschreiten des Optimalpunktes X zu einer beträchtlichen Erhöhung der Interdependenzkosten. Weiter unten wird sich zeigen, dass gerade der Krümmungsgrad der Interdependenzkostenkurve, also die Dringlichkeit des Verfassungsproblems in den Augen der Einzelnen von entscheidender Bedeutung ist bei der Suche nach einer Verfassung, der alle Kollektivmitglieder zustimmen. 2.3 Determinanten der Kostenverläufe Nun sind sowohl die Bestimmung der optimalen Zahl der zur Beschlussfassung notwendigen Ja-Stimmen, die mit der kollektiven Entscheidungsfindung verbundenen Kosten und die Dringlichkeit des Verfassungsproblems bedeutende Faktoren. Es lohnt sich also zu fragen, wovon sie abhängen. Nach dem Gesagten ist die Antwort offenkundig: Es ist der Verlauf der Kurve der wahrscheinlichen externen Kosten und der Kurve der Konsensfindungskosten, die darüber entscheiden, - welche Anzahl von Ja-Voten optimal erscheint; - wie groß die Strecke XM ist, also die mit der kollektiven Entscheidungsfindung verbundenen Kosten sind; - ob die Verfassungsfrage als dringlich und wichtig angesehen wird oder nicht. Die Maxima der Cbzw. der D-Kurve können hoch sein, weil bei gegebener Mitgliederzahl die Steigung der Kurven hoch ist, oder aber weil bei gegebener Steigung die Mitgliederzahl hoch ist. Beide Gründe schließen sich nicht gegenseitig aus, können also gleichzeitig vorliegen. Es wäre nicht nötig, die beiden Gründe eigens auseinanderzuhalten, wenn nicht auf einen entscheidenden Unterschied in dem, was sie bewirken, hingewiesen werden müsste. Die lediglich als Folge einer hohen Mitgliederzahl nach oben geschobenen Maxima der C- und der D-Kurve führen nur dazu, dass die Interdependenzkosten am Optimalpunkt höher sind. Ist aber das Steigungsmaß der C- und D-Kurve die Ursache für ihre erhöhten Maxima, dann bewirkt dies nicht nur eine Erhöhung der minimalen Interdependenzkosten, sondern auch eine Verschärfung des Verfassungsproblems aus der Sicht des kalkulierenden Individuums: Die Kurve der Interdependenzkosten verschiebt sich nicht nur nach oben, sondern es verstärkt sich auch der Grad ihrer Krümmung. Wenn aber die Verschärfung der Verfassungsfrage als Folge eines steileren Verlaufs der C- und der D-Kurve zu erwarten ist, dann drängt sich die weitere Frage auf, von welchen Faktoren dieser Verlauf jeweils abhängt. Beginnen wir mit den wahrscheinlichen externen Kosten. Der Begriff umfasst zwei Elemente: - die Höhe der zu erwartenden externen Kosten und - die Wahrscheinlichkeit ihres Anfallens. Steigen beide oder steigt nur eines, während das andere gleichbleibt, so nimmt die Kurve der wahrscheinlichen externen Kosten einen steileren Verlauf. 146 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="164"?> Es lässt sich nun weiter fragen, wovon die Höhe der Kosten und wovon die Wahrscheinlichkeit ihres Anfallens abhängen. Definieren wir die Kosten als Nutzenverzichte, so können wir sagen, dass die wahrscheinlichen Kosten in ihrer Höhe abhängen - von der Intensität der Bedürfnisse, deren Befriedigung wahrscheinlich beeinträchtigt wird und - von dem Ausmaß, in dem auf deren Befriedigung verzichtet werden muss. Mit anderen Worten: Je ranghöher die tangierten Bedürfnisse in der Präferenzskala des einzelnen Individuums, je weitreichender auch die negativen Folgen für die Befriedigung dieser Bedürfnisse, desto höher sind die wahrscheinlichen externen Kosten. Entsprechend steigt - bei gleichbleibender Wahrscheinlichkeit ihres Anfallens - die Kurve der wahrscheinlichen externen Effekte steiler an. Neben der Höhe der wahrscheinlichen externen Kosten ist die Wahrscheinlichkeit ihres Anfallens eigens zu beachten. Diese Wahrscheinlichkeit hängt ab von der relativen Stellung des kalkulierenden Individuums zu den übrigen Kollektivmitgliedern, genauer: von der Stellung seiner Präferenzen zu den Präferenzen der übrigen. Dazu Abbildung 14: Haben alle Kollektivmitglieder, einschließlich des Individuums A, von dessen Standpunkt aus das graphisch abgebildete Kalkül angestellt wird, die gleichen Zielvorstellungen, so muss A - welches auch immer die Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen ist - nicht damit rechnen, dass es Entscheidungsfolgen mittragen muss, die ihm nicht genehm sind. Die wahrscheinlichen externen Kosten sind über den ganzen Verfahrensbereich gleich Null. C 1 gibt den Sachverhalt wieder. Sind hingegen die Zielvorstellungen der übrigen Kollektivmitglieder von den Präferenzen des A verschieden, so steigt die C-Kurve um so steiler - C 2 oder C 3 - je weiter entfernt die Vorstellungen der Einzelnen auseinander liegen, d. h. je heterogener das Kollektiv ist. Individuum A selbst ist ein Teil dieses mehr oder weniger heterogenen Zu- Individuelle Verfassungskalküle · 147 Abbildung 14 <?page no="165"?> sammenschlusses, ohne dass es sich von den anderen mehr unterscheidet als diese untereinander. C 4 ist die Wiedergabe einer Situation, in der A Mitglied eines in sich sehr heterogenen Kollektivsegmentes ist, das unmittelbar neben einem völlig homogenen Kollektivsegment liegt. C 5 und C 6 zeigen die Kurven der wahrscheinlichen externen Kosten des A, der sich in einer polarisierten Gesellschaft befindet. Hier sind sich die Mitglieder dieses Zusammenschlusses in ihren Zielvorstellungen nicht nur unähnlich. Vielmehr gibt es in diesem Kollektiv zwei intern relativ heterogene Gruppen, die durch eine Art politisches Niemandsland voneinander getrennt sind. Der Sprung der Kurven C 5 und C 6 bildet dieses Niemandsland ab. Je größer das Niemandsland zwischen den zwei Gruppen, desto größer ist auch der Sprung; was auch heißt, dass der Sprung in der C-Kurve eine Abbildung des Polarisierungsgrades der Gesellschaft ist. Die Kurven C 5 und C 6 unterscheiden sich dadurch voneinander, dass C 5 die Situation von A als Mitglied eines minoritären Gesellschaftssegmentes wiedergibt, C 6 aber A als Mitglied einer gesellschaftlichen Mehrheit zeigt. Sehen wir uns nun kurz die Konsensfindungskosten D in Abbildung 15 an: Sie hängen in ihrem Verlauf von den gleichen Faktoren ab, die wir vorhin bezüglich der wahrscheinlichen externen Kosten kennengelernt haben. Entsprechend können wir uns kurz fassen: - Der als Konsensfindungskosten bezeichnete Aufwand an Zeit und Zugeständnissen hat im Wohlfahrtshaushalt des kalkulierenden Individuums A ein umso größeres Ge- 148 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang Abbildung 15 <?page no="166"?> wicht, je höher die durch ihn in ihrer Befriedigung beeinträchtigten Bedürfnisse in der Präferenzskala des A angesiedelt sind. - Darüber hinaus hängen die Konsensfindungskosten, also der Verlauf der D-Kurve, von der Stellung der Zielvorstellungen des A im Verhältnis zu den Zielvorstellungen der übrigen Kollektivmitglieder ab. Zur Abbildung 15 im Einzelnen: D 1 zeigt eine Situation, in der das Individuum A in einem völlig homogenen Zusammenschluss lebt, in dem zwischen allen Mitgliedern gilt: „Was Du willst, das will auch ich.“ Entsprechend sind - was auch immer die Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen sein mag - die Konsensfindungskosten gleich Null. Bei D 2 bzw. D 3 ist A Mitglied eines Kollektivs, dessen Mitglieder in ihren Zielvorstellungen gleichmäßig voneinander entfernt sind. Dabei sind in der Situation 2 die Abstände zwischen den Zielvorstellungen der Kollektivmitglieder größer als in der Situation 3. D 4 stellt eine Situation dar, in der A Mitglied eines heterogenen Kollektivsegmentes ist, welches einem völlig homogenen Kollektivsegment unmittelbar benachbart ist. Praktisch kann man sich dies so vorstellen, dass - ist erst einmal das erste Mitglied einer Gruppe gewonnen - die übrigen diesem ohne weiteres folgen. In D 5 und D 6 schließlich ist das Kollektiv in zwei durch ein Niemandsland voneinander getrennte, ungleich große Segmente geteilt. D 5 gibt die Konsensfindungskosten des A wieder, wenn er ein Mitglied des kleineren Segmentes ist, D 6 , wenn er ein Mitglied des größeren der beiden Segmente ist. Die Liste der Einflussfaktoren ist demnach für beide Kostenarten die gleiche. Bedeutet dies, dass sich der Neigungsgrad der einen Kostenkurve in dem gleichen Ausmaß verändert, wie sich der andere vergrößert oder verkleinert? Die Antwort lautet: Nein. Begründung: Die mit der kollektiven Entscheidungsfindung verbundenen und die durch die kollektive Willensbildung tangierten Bedürfnisse sind möglicherweise verschieden. So mag für jemanden die Zeit außerordentlich knapp sein; entsprechend werden die Konsensfindungskosten für ihn mit steigender Zahl der erforderlichen Ja-Voten sehr schnell steigen; und dies, ohne dass deshalb die wahrscheinlich externen Kosten auch rapide ansteigen müssen. Demnach ist nicht auszuschließen, dass die wahrscheinlichen externen Kosten und die Konsensfindungskosten Bedürfnisse von unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlichem Ausmaß berühren. Die Folge ist eine nicht notwendigerweise gleiche Veränderung des jeweiligen Kurvenverlaufs, wenn sich ein Einflussfaktor - etwa die Homogenität der übrigen Mitgliederschaft - ändert. Die Kurven der Konsensfindungs- und der wahrscheinlichen externen Kosten müssen also nicht spiegelbildlich verlaufen. Wenn im Folgenden spiegelbildliche Verläufe unterstellt werden, so nur aus Gründen einer einfachen Darstellung. Fassen wir die Konsensfindungs- und die wahrscheinlichen externen Kosten durch vertikale Addition zu den Interdependenzkosten zusammen, so ergibt sich für die sechs oben unterschiedenen Fälle das in den Abbildungen 16 und 17 dargestellte Bild. Hierzu einige Erläuterungen: I 1 bildet das Kalkül eines Individuums ab, das - da in dem Zusammenschluss alle das Gleiche wollen - gegenüber Verfassungsfragen, wie alle übrigen Kollektivteilnehmer auch, völlig indifferent ist. Auch entstehen ihm aus der Individuelle Verfassungskalküle · 149 <?page no="167"?> Tatsache des kollektiven Entscheidens keinerlei Kosten. Am ehesten könnte man in einem engen Freundeskreis ein praktisches Beispiel für dieses Bild finden. I 2 und I 3 zeigen in etwa die gängig als „normal“ und „natürlich“ angesehene Entscheidung mit einfacher Mehrheit. Sie zeigen aber auch, dass die einfache Mehrheitsregel 150 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang Abbildung 16 Abbildung 17 <?page no="168"?> von dem Einzelnen nur dann als optimal angesehen wird, wenn dieser Einzelne Mitglied in einem Kollektiv mit einer bestimmen Art der Zusammensetzung ist. I 5 zeigt das Kalkül eines Mitgliedes der gesellschaftlichen Minderheit. Bemerkenswert an dieser Kurve ist, dass - sie nicht ein, sondern drei Minima aufweist; - die beiden Minima an den Extrempunkten nicht sehr differieren; - das Minimum Minimorum nicht - wie in I 2 bzw. I 3 - bei der „natürlichen“ einfachen Mehrheit liegt, sondern an den Extrempunkten; d. h., das kalkulierende Individuum sieht gleichzeitig eine sehr hohe Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen und eine sehr niedrige Zahl als optimal an; Letzteres, wenn die beiden Minima die gleiche Höhe haben. Eine Entsprechung in der Wirklichkeit für I 5 zeigt die Beobachtung jener gesellschaftskritischen Gruppen, deren Mitglieder in der Ablehnung der einfachen Mehrheitsregel übereinstimmen und zudem schwanken zwischen Verfahren, die eine möglichst hohe Stimmenzahl, im Extrem Einstimmigkeit, vorsehen, und solchen, die im Extrem jedem Einzelnen die Möglichkeit geben, für alle verbindlich zu entscheiden. Diese auf den ersten Blick überraschende Unentschiedenheit gegenüber zwei sehr unterschiedlichen Verfassungen lässt sich auf den minoritären Status dieser Gruppe zurückführen. In I 6 hingegen drückt sich jenes sehr ausgeprägte Interesse aus, das majoritäre Gruppen an „mittleren“ Verfahren, etwa an der Regel der einfachen Mehrheit haben. Und es lässt sich hiermit die majoritäre Gruppen kennzeichnende Abneigung gegen solche Verfahren veranschaulichen, die eine sehr große oder eine sehr kleine Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen vorsehen. 3 Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung Wir haben gesehen, dass das Verfassungskalkül jeweils aus der Optik eines einzelnen Individuums angestellt wird; das bisher Gesagte gilt also für ein Individuum. Nun kann aber die Verfassung nicht nur für einen Einzelnen Gültigkeit haben; sie gilt - ist sie einmal eingerichtet - für alle Mitglieder des entsprechenden Kollektivs. Damit aber befinden wir uns in einer - wie es scheint - ausweglosen Situation: Der in Kollektiven unvermeidliche Zwang soll dadurch eine auch vom Standpunkt des Individualismus annehmbare Legitimation erfahren, dass die im einzelnen Kollektiv geltenden Entscheidungsverfahren in den Augen der einzelnen Kollektivmitglieder annehmbar sind. Einerseits also kommt es auf das Urteil eines jeden Kollektivmitgliedes an; mit anderen Worten: Jedes Kollektivmitglied soll und kann von seinem Standpunkt aus ein Verfassungskalkül anstellen. Andererseits aber kommt es - abgesehen von dem eher seltenen Fall einer völlig homogenen Zusammensetzung des Kollektivs - nicht nur zu einer Vielzahl, sondern auch zu einer Vielfalt von individuellen Ansichten über die optimale Entscheidungsregel.Wie aber sollen sich Individuen einstimmig auf eine Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 151 <?page no="169"?> Verfassung einigen, die in ihren Überlegungen zu unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Ansichten darüber gelangt sind, welches in ihren Augen die optimale Entscheidungsregel ist? Diese Frage muss eine Antwort finden, wenn der Zwang, wie er in Kollektiven auf der Ebene des Ergebnisses die Regel ist, auf der Ebene des Verfahrens seine individualistische Legitimation finden soll. Ein Beispiel: A lebt in einem Kollektiv, das in zwei durch ein Niemandsland getrennte ungleich große Gruppen gespalten ist. A selbst ist Mitglied der größeren Untergruppe. B - Mitglied des gleichen Zusammenschlusses - ist Mitglied der minoritären Untergruppe. A und B stellen beide aus ihrer Sicht ein Verfassungskalkül an. Abbildung 18 gibt die Überlegungen der beiden wieder. Das Mehrheitsmitglied A sieht eine Verfassungsregel, die X A positive Voten erfordert, als optimal an. Gegenüber jeder zwischen L und M liegenden Lösung ist es ziemlich indifferent. Regeln, die zwischen 1 und L sowie zwischen M und 100 Ja-Stimmen erfordern, sind in seinem Urteil sehr unerwünscht. Das Minderheitsmitglied B sieht die Regel L als optimal an, ist gegenüber unterhalb von L und oberhalb von M liegenden Regeln ziemlich indifferent und will am wenigsten, dass eine zwischen L und M angesiedelte Verfahrensregel zum Zuge kommt. Ein Blick auf die Abbildung 18 zeigt, dass die konstitutionellen Vorstellungen des Mehrheits- und des Minderheitsmitgliedes einander diametral entgegengesetzt sind: Was A will, will B nicht; was B will, will A nicht. Das Problem lautet also: Wie können sich Kollektivmitglieder, die unterschiedliche, ja, diametral entgegengesetzte Ansichten über die optimale Verfassung haben, auf eine Verfassung einigen? Auf diese Frage lassen sich eine Reihe von Antworten geben.Viele dieser Antworten erweisen sich bei näherer Analyse als unbefriedigend, zwei als gültig. 152 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang Abbildung 18 <?page no="170"?> 3.1 Individualistisch nicht akzeptable Lösungsansätze Im Folgenden werden zuerst jene Antwortversuche skizziert, die unannehmbar sind; in einem zweiten Schritt befassen wir uns mit den gültigen Lösungsansätzen. Als unbefriedigende Lösungen des Verfassungsproblems sind folgende zu nennen: Erstens: Man mag argumentieren, dass eine Verfassung die üblichen Charakteristika eines Kollektivgutes hat, über sie also in einem kollektiven Willensbildungsprozess zu entscheiden ist. So könnte etwa eine verfassunggebende Versammlung die Verfassung beschließen. Diese Argumentation läuft auf eine petitio principii hinaus; sie setzt voraus, dass das Problem, das zu lösen ist, gelöst ist. In der Tat: Damit in einem kollektiven Entscheidungsprozess über eine Verfassung entschieden werden kann, muss feststehen, nach welchen Regeln, sprich: nach welcher Verfassung über die Verfassung entschieden werden kann. Damit dies aber feststeht, bedarf es einer Verfassung, die festlegt, nach welcher Verfassung über die Verfassung entschieden wird, die ihrerseits... Es wird auf diese Weise ein unendlicher Regress in Gang gesetzt, in dessen Verlauf als Antwort in nicht endender Wiederholung immer wieder jene Frage präsentiert wird, die es zu lösen gilt. Dieser unendliche Regress ruft geradezu danach - und sei es nur aus praktischen Gründen - abgebrochen zu werden. Dies führt unmittelbar zu dem zweiten, ebenfalls nicht annehmbaren Lösungsansatz. Zweitens: Man kann den Regress „irgendwo“ abbrechen. Es ist eine plausible Vermutung, dass gemeinhin jener „man“, der den Regress abbricht und eine bestimmte Verfassung zur gültigen Entscheidungsregel erklärt, einer jener „Starken“ im Hobbesschen Sinne ist, der den übrigen Kollektivmitgliedern nach dem Gesetz der Stärke eine Verfassung aufzwingt, die seinen Interessen dient. Auch dann, wenn dies der Fall ist, kann man in der Regel beobachten, dass der Versuch unternommen wird, die Unterbrechung des unendlichen Regresses und die Errichtung einer bestimmten Verfassung zu rechtfertigen. Auch die schiere Gewalt braucht wenigstens den Anschein der Legitimität. Es gibt verschiedene in der Realität zu beobachtende Bemühungen, eine solche Legitimierung - wenigstens dem Schein nach - zu begründen: Sie berufen sich alle in dieser oder jener Form auf eine supraindividuelle Autorität. - So mag der jeweilige Machthaber (oder seine Apologeten) eine Entscheidungsregel zu der guten Verfassung erklären, weil sie und nur sie in Übereinstimmung etwa mit Gottes Willen oder mit Allahs Geboten ist. Dies bedeutet in der Theorie eine Abkehr vom normativen Individualismus und führt - wie die Erfahrung lehrt - in der Praxis in dieser oder jener Form zu einer Ayathollaisierung der Politik. - Eine andere Variante, in welcher die Berufung auf eine supraindividuelle Autorität auftritt, ist folgende: Man beruft sich auf ein in der Zukunft angesiedeltes Endziel, auf welches die Geschichte - ihren Ge- Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 153 <?page no="171"?> setzen folgend - zusteuert. In dieser Sicht ist jene Verfassung „gut“ und legitim, die in dem jeweiligen historischen Augenblick mit Bezug auf das Gesetz der Geschichte gerechtfertigt werden kann. Das wohl bekannteste, inzwischen allerdings diskreditierte Beispiel für diese Art der Legitimierung ist der Marxismus: Der historische Materialismus legitimiert im Sozialismus die Diktatur des Proletariats mit Blick auf den Kommunismus als Endzustand der Geschichte, und diese Diktatur wird von der kommunistischen Partei als der „Speerspitze des Proletariats“ legitimerweise ausgeübt. - Verwandt mit der eben geschilderten Lösungsvariante des Verfassungsproblems durch den Rückgriff auf eine überindividuelle Autorität ist folgende: Sie bezieht ihre Legitimität nicht im Hinblick auf einen in der Zukunft liegenden Zielpunkt der Geschichte, sondern unter Bezugnahme auf einen in der Vergangenheit liegenden Ausgangspunkt der Historie. Dies kann durch die Beschwörung von Mythen und Legenden, auch durch die Anknüpfung an die historisch belegte Kontinuität der Tradition geschehen. Ein auch heute noch durchaus unterschwellig nachwirkendes Beispiel ist der „Schwur der Eidgenossen“ auf dem Rütli. Auch dann, wenn man unterstellt, dass sich tatsächlich im Jahre 1291 die Gründerväter der ersten Eidgenossenschaft auf einer Wiese zwischen ihren jeweiligen Dörfern einstimmig auf die Verfahren für die Regelung gemeinsamer Anliegen geeinigt haben, wird man feststellen müssen: Der Rückgriff auf die Geschichte des Kollektivs läuft auf den Verzicht hinaus, die jeweils hier und heute geltende Entscheidungsregel individualistisch zu legitimieren. Selbst der Hinweis, dass Einzelne sich 1291 auf dem Rütli über Entscheidungsregeln geeinigt haben, hilft nicht weiter: Warum sollten die heute in der Schweiz lebenden Individuen durch einen Entscheid gebunden sein, den andere vor Jahrhunderten ohne sie getroffen haben? Der Individualismus verlangt, dass jeder für sich entscheidet, nicht aber, dass Individuen über andere entscheiden. Aus individualistischer Sicht lässt sich allerdings argumentieren, dass die Schweizer von heute sich an den Verfassungsentscheid möglicherweise gebunden fühlen wollen. Ist dies der Fall, dann begründet die individuelle Zustimmung der Schweizer von heute die Gültigkeit des Rütli-Schwurs für die Gegenwart, nicht aber ersetzt - in individualistischer Optik - der alte Rütli-Schwur die individuelle Zustimmung der heutigen Schweizer. Drittens: Eine weitere Möglichkeit, das Verfassungsproblem zu lösen, wird selten explizit diskutiert, aber nicht ganz so selten implizit praktiziert: Es wird nicht auf überindividuelle Autoritäten Bezug genommen, um den unendlichen Regress zu unterbrechen. Ein solcher Regress wird hier erst gar nicht in Gang gesetzt. Vielmehr wird hier wohl die Einstimmigkeit des Verfassungskonsenses angestrebt und auch erreicht. Nur geschieht dies 154 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="172"?> auf eine - in individualistischer Optik - unakzeptable Art und Weise. Die Einstimmigkeit kommt nämlich hier dadurch zustande, dass die potenziellen oder wirklichen Dissidenten auf diese oder jene Art vertrieben werden: „Wem es hier nicht passt, kann ja gehen.“ Die Einweisung von Dissidenten in psychiatrische Anstalten, die Medikalisierung der Opposition, die Kriminalisierung jener, die sich dem Konsens verweigern, war und ist in einigen Ländern eine gängige Praxis. Wer opponiert, ist geisteskrank oder kriminell; wer geisteskrank ist, ist nicht zurechnungsfähig, und wer kriminell ist, schließt sich selbst aus. Da aber nur Zurechnungsfähige und Dazugehörige politisch ernstzunehmende Ansichten haben können bzw. dürfen, ist jede oppositionelle Ansicht nicht ernstzunehmen. Das Ergebnis: Der Konsens der zurechnungsfähigen und anständigen Kollektivmitglieder ist einstimmig. Diese nicht nur in Diktaturen, sondern auch in sog. liberalen Gesellschaften - wenn auch in mehr oder weniger abgemilderter Form - praktizierte Herbeiführung der Einstimmigkeit des Verfassungskonsenses besteht darin, dass der Konsens der Verbliebenen durch die erzwungene Absenz der Vertriebenen erreicht wird. Es ist offenkundig, dass diese Praxis mit dem normativen Individualismus nicht kompatibel ist. Hier wirkt sich - wenn auch manchmal in verschleierter Form - das Gesetz der Stärke aus.Wohl gibt es tatsächlich psychisch Kranke, doch ändert es nichts an dem Prinzip, dass es nicht angeht, einzelnen Menschen um des Verfassungskonsenses willen Unzurechnungsfähigkeit zu bescheinigen. 3.2 Individualistisch akzeptable Lösungsansätze Wir wenden uns nun jenen zwei Ansätzen zu, die die Einstimmigkeit des Verfassungskonsenses aus liberal-individualistischer Sicht sinnvoll begründen. Sie kommen also ohne Rückgriff auf supraindividuelle Autoritäten aus und lassen - wenigstens ihrer Konstruktionsidee nach - nicht das Recht des Stärkeren zum Zuge kommen. 3.2.1 Der „veil of ignorance“ Buchanan und Tullock, denen wir hier in der Darstellung des ersten Ansatzes folgen, greifen auf eine auch anderweitig - so etwa von John Rawls - genutzte Gedankenkonstruktion zurück: den „veil of ignorance“ (den Schleier des Unwissens). Mit diesem logischen Konstrukt wird unterstellt, dass jedes einzelne Kollektivmitglied, welches sich hinter dem Schleier des Unwissens befindet, völlig im Unklaren darüber ist, wie die Gesellschaft, in der es zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft leben wird, aussehen wird.Auch wird postuliert, dass der Einzelne nicht weiß, welches seine eigene Stellung in dieser Gesellschaft sein wird. Auf unser Beispiel von oben zurückgreifend: Kein Kollektivmitglied kann heute sagen, ob morgen, übermorgen und später die Gesellschaft polarisiert, wie groß das Niemandsland zwischen den einzelnen Gruppen sein wird, ob es zwei, drei oder mehr kleine oder große Gruppen geben wird. Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 155 <?page no="173"?> Niemand soll auch wissen, wo er selbst in dieser Gesellschaft seinen Platz haben wird. Das Wissen des Einzelnen beschränkt sich auf die Einsicht, dass er und die übrigen Individuen auch in Zukunft ihr eigenes Wohl im Auge haben und sich entsprechend verhalten werden. Nehmen wir nun an, dass dieser „veil of ignorance“ völlig undurchsichtig, also die Zukunft total unbekannt ist. In diesem Fall ist es für keinen Einzelnen sinnvoll, sich heute auf eine Verfassung festzulegen, die in der Zukunft nur dann optimal wäre, wenn die Gesellschaft eine ganz bestimmte Struktur und er eine bestimmte Position hätte.Vielmehr wird der Einzelne, wird jeder Einzelne davon ausgehen müssen, dass grundsätzlich alle denkbaren Strukturen und Positionen mit gleicher Wahrscheinlichkeit möglich sind. Da aber die optimale Verfassung - siehe oben - von der gesellschaftlichen Struktur und der individuellen Position dessen abhängt, der das Verfassungskalkül anstellt, sind im Zustand des „Unwissens“ alle Verfassungen gleich optimal. Genauer: Alle können optimal sein, je nachdem wie die Zukunft aussieht. In dem Maße wie darüber niemand etwas weiß, bleibt auch jedem nur übrig, keine dezidierte Meinung über die aus seiner Sicht optimale Verfassung zu haben; alle sind gleichermaßen indifferent. Der immerhin mögliche Hinweis, dass ein Individuum angesichts des völlig undurchschaubaren „veil of ignorance“ der Überzeugung sein mag, es sei „ein Sonnenkind“, es stehe immer auf der Seite der Gewinner bzw. es sei ein „Unglücksrabe“, der immer auf der Verliererseite steht, läuft darauf hinaus, dass das fehlende Wissen über die Zukunft durch eine solide Gewissheit ersetzt wird. Doch sticht dieser Hinweis nicht als Argument: Wer sich immer auf der Seite der Gewinner (bzw. der Verlierer) sieht, dem ist die Verfassung gleichgültig.Wie sollte sie auch nicht? Er wird ohnehin auf der Sonnenseite (bzw. im Schatten) stehen. Wenn und in dem Maße wie der Schleier des Unwissens für alle Gesellschaftsmitglieder den Blick in die Zukunft versperrt, wird ein jedes eine Vielzahl horizontal verlaufender Interdependenzkostenkurven vor Augen haben. Alle werden gegenüber der Verfassungsfrage indifferent sein. Voraussetzung hierbei ist allerdings, dass diese Verfassung nicht selbst den „veil of ignorance“ zerreißt, d. h. den Blick auf die zukünftige Struktur der Gesellschaft und die zukünftigen Positionen einzelner freigibt. Wir werden gleich sehen, dass diese unverfänglich-abstrakten Sätze für die Praxis sehr weitreichende Implikationen haben. Vorerst aber müssen wir uns mit einigen Argumenten befassen, die gegen den Buchanan-Tullockschen Lösungsansatz vorgebracht werden können. So mag man einwenden wollen, dass auch dann, wenn sich die Kollektivmitglieder einmal hinter dem Schleier des Unwissens auf eine Verfassung geeinigt haben, dies kein Grund ist, dass die im Laufe der Zeit durch Geburt und Zuwanderung Hinzugekommenen in diese Einstimmigkeit eintreten sollen. Dies ist richtig. Und so ist der Ansatz von Buchanan und Tullock auch nicht so zu verstehen, dass die Bedingungen für die Undurchsichtigkeit des „veil of ignorance“ einmal, sondern dass sie immer gegeben sein müssen. Der „veil of ignorance“ muss nicht nur gleichsam in der Stunde Null den Blick auf die Zukunft versperrt haben, sondern er muss sich im Laufe der Zeit dergestalt verschieben, dass er die Zukunft vor der jeweiligen Gegenwart immer versteckt. Mit anderen Worten: Eine individualistisch legitimierte Verfassung ist nicht eine solche, der zu ir- 156 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="174"?> gendeinem Zeitpunkt einstimmig zugestimmt worden ist, sondern eine solche, der laufend einstimmig zugestimmt wird. Dies wird dann der Fall sein, wenn die Zukunft im Sinne des „veil of ignorance“ für alle gleichermaßen offen ist. Dies bedeutet, dass eine Verfassung, die dazu führt, dass schon in der Gegenwart Einzelne ihre zukünftige Situation prognostizieren können, nicht einstimmig akzeptiert werden wird. Hier setzt denn auch ein zweites Gegenargument ein: Wenn denn richtig ist, dass der Verfassungskonsens in jedem Augenblick einstimmig sein, also der „Schleier des Unwissens“ in jedem Augenblick undurchlässig sein muss, dann scheitert der Ansatz von Buchanan und Tullock wenigstens teilweise als praktischer Lösungsansatz. Diese Bedingung ist nämlich so weitreichend, dass praktisch nie mit ihrer vollen Realisierung zu rechnen ist. Schließlich - so dieses Gegenargument - sei es gemeinhin durchaus möglich, bis zu einem gewissen Grad von der Vergangenheit und der Gegenwart auf die Zukunft zu schließen: Eine Gesellschaft, die heute und seit hundert Jahren so und nicht anders strukturiert sei, werde dies mit einiger Wahrscheinlichkeit auch morgen sein. Mindestens aber könne man - so das Argument - die Richtung und den Rhythmus der Veränderung einigermaßen vorhersehen. Auch könne jemand, der als Sohn aus besserem Hause komme, mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass er nicht in der Gosse landen wird. Hingegen könne jeder wissen, dass für die Kinder aus der Obdachlosensiedlung der Weg selten in die Vorstandsetage führt. Dieses Argument ist ernstzunehmen. In der Tat: So völlig unsicher ist die Zukunft nicht; der „veil of ignorance“ hat Risse; man sieht mehr oder weniger hindurch. Es ist zuzugeben, dass in dem Maße wie dies der Fall ist, die Einstimmigkeit des Verfassungskonsenses auf dem von unseren beiden Autoren vorgeschlagenen Weg nicht erreicht werden kann. Nach Maßgabe der Durchsichtigkeit des „Schleiers des Unwissens“ bleibt deshalb ein Defizit an individualistischer Legitimierung des kollektiven Zwangs. Der Leser wird auch mit gutem Grund darauf hinweisen, dass der „veil of ignorance“ ein Gedankenkonstrukt ist. Er mag deshalb fragen, was ihm in der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht. Diese Frage ist durchaus berechtigt, soll doch die Einstimmigkeit des Verfassungskonsenses in der Praxis realisiert und nicht nur im theoretischen Argument gedacht werden. Es ist wohl eine in ihrer Einfachheit griffige, doch nicht falsche These, wenn man sagt, dass die Existenz bzw. das Fehlen des „Schleiers der Unwissens“ darüber entscheidet, ob wir es mit einer liberalen oder mit einer feudalen Gesellschaft zu tun haben. In der Tat: Feudale Gesellschaften zeichnen sich durch eine über lange Zeiten hinweg statische, also vorhersehbare Strukturierung aus. Auch ist für feudale Gesellschaften charakteristisch, dass der Einzelne in eine bestimmte Position hineingeboren wird und er mit einiger Sicherheit davon ausgehen kann, dass er diese Position bis an sein Lebensende innehaben wird. Mehr noch: Er kann in aller Regel auch voraussehen, dass seine Kinder und Kindeskinder die gleiche Position innehaben werden. Als Herzog (Schuster) wird man von einem Herzog (Schuster) gezeugt; und selbst zeugt man wieder lauter kleine Herzöge (Schuster). Liberale Gesellschaften zeichnen sich hingegen durch die Dynamik aus, welcher auch ihre Struktur, also ihre Institutionen und ihre Schichtung unterworfen sind. Entsprechend sind liberale Gesellschaften weniger vorhersehbar. Darüber hinaus entspricht es dem We- Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 157 <?page no="175"?> sen liberaler Gesellschaften, dass der Einzelne seiner eigenen Position nicht sicher sein kann. Regionale, berufliche und soziale Mobilität sind Wesensmerkmale von liberalen Gesellschaften. Mit anderen Worten: Während in feudalen Gesellschaften der „veil of ignorance“ recht durchsichtig ist, ist er in liberalen Gesellschaften eher undurchlässig. Allerdings ist zuzugeben, dass der „Schleier des Unwissens“ hier und heute in den sich liberal nennenden Gesellschaften so undurchlässig auch nicht ist.Auch in unseren Gesellschaften gibt es Strukturen und Positionen, die einigermaßen stabil sind und von denen man mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass sie auch zukünftig stabil sein werden. Soweit dies der Fall ist, muss zugegeben werden, dass unsere Gesellschaften eben nicht völlig liberal sind, sondern durchaus feudale Züge aufweisen. Wenn etwa ein Berufszweig, eine Industrie sich aufgrund von Verbandsmacht von der Dynamik des Marktes abschottet und zu Lasten des Steuerzahlers auch in der Zukunft so weiterarbeiten kann wie in der Vergangenheit, dann widerspricht dies den Geboten der Liberalität. Und es entspricht feudalen Privilegien: Einmal Bauer - immer Bauer. Einmal Arzt - immer Arzt. Einmal Professor - immer Professor. Es ist lediglich die logische Folge unserer obigen Darlegungen, wenn wir sagen, dass mit der Zementierung von Verhältnissen und Positionen auch in unseren Gesellschaften mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung versucht sein können, aus dem Verfassungskonsens auszuscheiden. dass die Formen, in welchen dies geschieht, sehr unterschiedlich sein können - Apathie, Radikalismus, Kriminalität -, ändert nichts daran. Es wäre höchst verwunderlich, wenn dies nicht geschähe: Sind nämlich die gesellschaftlichen Verhältnisse und individuellen Positionen erstarrt, also vorhersehbar, dann mag ein Einzelner sich ausdenken, dass er - angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse und seiner Position - eine andere Verfassung wünschen möchte als die gerade geltende. Ein anderer mag - gleichfalls durch die Löcher des „veil of ignorance“ blickend - feststellen, dass er keine andere als die geltende Verfassung haben möchte. Der Erste denkt, dass er unter der geltenden Verfassung ein ex ante-Verlierer ist; der zweite wird sich als ex ante-Gewinner erkennen. Es gibt deshalb starke Gründe für den ersten, jene gerade geltenden Regeln, nach denen er - voraussehbar - verlieren wird, nicht mehr zu akzeptieren. Ob er dann in der konkreten Situation tatsächlich aus dem Konsens ausbricht, hängt u. a. von den Kosten dieses „Exit“ und von den Erfolgsaussichten der Alternativen ab. Exkurs: Die eben gemachten Bemerkungen legen den Schluss nahe, dass die Bedeutung des mit dem „veil of ignorance“ argumentierenden Legitimitätsansatzes ihre Grenze lediglich darin findet, dass der Schleier des Wissens in der Praxis schon mal mehr oder weniger große Löcher aufweist. Es fragt sich, ob dieser Schluss gezogen werden soll, aus folgendem Grund: Jedes individuelle Verfassungskalkül wird im Rahmen der jeweils geltenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse angestellt; und: jeder kollektive Verfassungsentscheid kommt im Rahmen der jeweils geltenden Machtverhältnisse zustande.Wenn nun aber diese Verhältnisse derart sind, dass das Verfassungskalkül der weniger Mächtigen zugunsten der potenteren Gesellschaftsmitglieder manipuliert werden kann, bzw. dass der Verfassungsentscheid zum Vorteil der Letzteren zustandekommt, kann dem Schein nach ein einstimmiger Verfassungskonsens vorliegen, nur wird dieser in 158 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="176"?> Tat und Wirklichkeit nichts weiter als ein Reflex der bestehenden Machtverhältnisse sein. Ist dies der Fall, ist dieser Verfassungskonsens aus liberalindividualistischer Sicht nicht geeignet, den kollektiven Zwang zu legitimieren. Schließlich soll - wie wir gesehen haben - der freiwillige Verfassungskonsens freier und gleicher Individuen den kollektiven Zwang legitimieren, nicht aber sollen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse einen nur dem Schein nach freiwilligen Verfassungskonsens produzieren. Gewiss: Man kann unterstellen, dass es zum Zeitpunkt der individuellen Verfassungsüberlegungen und des gesellschaftlichen Verfassungskonsenses keine einseitigen Machtverhältnisse gibt. Nur bedeutet dies, dass auf diese Weise implizit postuliert wird, dass jene Bedingungen - die Freiheit und die Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder - zum Zeitpunkt des Verfassungskonsenses bestanden haben, die als Ergebnis einer liberal-individualistischen Verfassung geschaffen und gewährleistet werden sollen. Man ist an dieser Stelle versucht, an Münchhausen zu denken, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Allerdings: Selbst wenn diese Gedankenassoziation gerechtfertigt ist, verliert der Buchanan-Tullocksche Ansatz nicht jede Bedeutung; im Gegenteil: Er kann dann zu einem Instrument der Gesellschaftskritik werden, wenn er hilft, dass der liberal engagierte Konstitutionalismus in dem jeweils real existierenden Entscheidungsvollzug, also in der Verfassungswirklichkeit des Augenblicks den feudalen bzw. feudaloiden Elementen nachspürt und auf jene Risse und Löcher im „veil of ignorance“ aufmerksam macht, die den Blick auf die Zukunft erlauben. Konkret: Es kann und muss die Aufgabe einer liberal verpflichteten Verfassungsökonomik sein, jene durch Macht und Einfluss abgesicherten Bastionen und Gräben aufzuzeigen und nach Möglichkeit zu schleifen bzw. zuzuschütten, hinter welchen die heute Privilegierten ihre Positionen in die Zukunft hinüberzuretten trachten. Dabei reicht es nicht, die Undurchsichtigkeit des Schleiers allgemein zu postulieren; vielmehr ist es auch nötig, dessen Löcher konkret zu identifizieren. Gäbe es nun lediglich die von Buchanan und Tullock unter dem Stichwort des „veil of ignorance“ vorgeschlagene Möglichkeit, die Kollektivmitglieder in einem einstimmigen Verfassungskonsens zu vereinen, so wäre es wohl auch in vielen sog. liberalen Gesellschaften schlecht um die individualistische Legitimierung des kollektiven Zwangs bestellt. In den meisten dieser Gesellschaften gibt es nämlich erstarrte Verhältnisse und abgesicherte Positionen. Entsprechend müsste man mit weit mehr Verfassungsdissens rechnen, als ohnehin zu beobachten ist. Allenfalls könnte man darauf hoffen, dass für die ex ante-Verlierer die Kosten des Widerstandes gegen die geltende Verfassung zu hoch und/ oder die Attraktivität der Alternativen zu niedrig sind. Nun gibt es aber einen zweiten mit den Namen von Rabushka und Shepsle verbundenen Lösungsansatz. Dieser soll den ersten nicht ersetzen, wohl aber soll er ihn ergänzen. Er soll dort die Einstimmigkeit des Verfassungskonsenses ermöglichen, wo der erste Ansatz wegen der Durchlässigkeit des „Schleiers des Unwissens“ versagen muss. Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 159 <?page no="177"?> 3.2.2 „Cross-cutting cleavages“ In der Tat erfordert dieser zweite Ansatz nicht, dass der Einzelne nicht von der Vergangenheit und der Gegenwart auf die Zukunft schließen kann. Er ist auch dann von praktischem Wert, wenn die zukünftigen gesellschaftlichen Verhältnisse und die individuellen Positionen jenen bekannt sind, die ihr Verfassungskalkül anstellen. Im Unterschied zum ersten Ansatz hebt dieser zweite eine Prämisse auf, die wir bislang stillschweigend unseren Überlegungen zugrunde gelegt haben, die zwar realistisch sein kann, aber keineswegs realistisch sein muss. Bislang sind wir implizit davon ausgegangen, dass die Entscheidungen in dem Kollektiv, um dessen Verfassung es geht, in einer eindimensionalen politischen Welt getroffen werden.Wir haben also unterstellt, dass alle in diesem Kollektiv zur Entscheidung gestellten Fragen nur unter einem Aspekt analysiert und beantwortet werden. Wir haben ferner unterstellt, dass sich die Kollektivmitglieder - wenn sie sich denn überhaupt voneinander unterscheiden, also die Gesellschaft heterogen ist - nur unter diesem einen Aspekt voneinander abheben. Ein Beispiel wäre ein Kollektiv, in dem alle zur Entscheidung anstehenden Probleme nur in den Kategorien „rechts“ und „links“ gestellt werden. Die Kollektivmitglieder unterscheiden sich ihrerseits dadurch, ob sie mehr „links“ oder mehr „rechts“, „extrem links“, „extrem rechts“ oder „in der Mitte“ stehen. Dieses Kollektiv existiert also in einer Welt, die nur eine Dimension aufweist. Nun ist die Vorstellung einer eindimensionalen Welt recht wirklichkeitsfern. Denn die Menschen unterscheiden sich auch durch andere Merkmale als durch ihre „Linksbzw. Rechtsausrichtung“. Sie unterscheiden sich etwa durch die Sprache, durch die Religionszugehörigkeit, durch die Hautfarbe, das Geschlecht, die sexuellen Neigungen und ob sie Vanilleeis mögen oder nicht. Allerdings, und dies ist hier entscheidend, auch wenn sich die Menschen nach vielzähligen Kriterien voneinander abheben, so werden zu einem gegebenen Zeitpunkt doch nicht alle diese Kriterien bei der kollektiven Entscheidungsfindung herangezogen. Es mag in einer Gesellschaft beliebig viele Dimensionen, „cleavages“, geben, doch kommt es hier nur auf die „politically relevant cleavages“ an. So debattieren und entscheiden die Belgier in ihrem Staat so ziemlich alle politischen Fragen unter dem Gesichtspunkt der Sprache, ob flämisch oder wallonisch. Es ist nicht bekannt, dass in Belgien die Haarfarbe oder die Vorliebe für Vanilleeis in der Politik eine Rolle spielen, und dies obschon es rot-, braun- und schwarzhaarige Belgier gibt, die Vanilleeis mögen oder auch nicht. Wichtig sind also die „politically relevant cleavages“. Mit anderen Worten, es kommt auf die Art und die Zahl der in der Gesellschaft existierenden Dimensionen an, die in der kollektiven Entscheidungsfindung eine Rolle spielen. Die Zahl dieser politisch relevanten Dimensionen bzw. „cleavages“ kann zu einem bestimmten Zeitpunkt klein oder groß sein. Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass „cleavages“ im Laufe der Zeit politisch relevant werden bzw. ihre politische Relevanz verlieren (können). Die Dimensionen der Welt, in welcher kollektiv entschieden wird und in welcher ein einstimmiger Verfassungskonsens anzustreben ist, müssen also nicht über die Zeit die gleichen bleiben. Auch können sie von Kollektiv zu Kollektiv verschieden sein. Diese Unterscheidung zwischen einer ein- und einer mehrdimensionalen politisch relevanten Welt ist nun für unser Problem, die Suche nach dem einstimmigen Verfas- 160 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="178"?> sungskonsens, von großer Bedeutung. Wir hatten oben an dem in Abbildung 18 gezeigten Beispiel gesehen, dass zwei Individuen zu Verfassungsansichten kommen können, die einander diametral entgegengesetzt sind. Beide Individuen hatten ihre Vorstellung über die optimale Verfassung unter der impliziten Annahme entwickelt, dass es nur einen politisch relevanten „cleavage“, etwa: „rechts - links“, gibt. Die entsprechenden Kalküle wurden demnach in einem eindimensionalen politischen Raum durchgeführt. Wir wollen nun annehmen, dass der politische Raum nicht ein-, sondern mehrdimensional, genauer: zweidimensional ist. Neben dem „cleavage“ „rechts - links“ soll nunmehr auch der „cleavage“ „schwarz - weiß“ von politischer Bedeutung sein. Darüber hinaus wollen wir - vorerst - annehmen, dass das Individuum A als Rechter zu einer gesellschaftlichen Minderheit, aber als Weißer zu einer Mehrheit gehört; B hingegen ist als Linker ein Mitglied einer gesellschaftlichen Mehrheit, als Schwarzer gehört er aber einer Minderheit an. Sollen nun A und B - jeder für sich - ihr Verfassungskalkül anstellen, so sehen sie sich mit der Tatsache konfrontiert, - dass sie als Rechter (Linker) eine bestimmte Verfassung als optimal ansehen; - dass sie als Weißer (Schwarzer) auch eine bestimmte Verfassung für wünschenswert halten; - dass die Verfassung, die sie als minoritärer Rechter (majoritärer Linker) für optimal ansehen, jener Verfassung diametral entgegengesetzt ist, die sie als majoritärer Schwarzer (minoritärer Weißer) für wünschenswert halten. Da es auch im mehrdimensionalen Raum darum geht, eine Verfassung zu begründen, scheidet für A und B die Möglichkeit aus, für jede der relevanten Dimensionen je eine Verfassung anzustreben. So wird sich A fragen müssen, wie die eine Verfassung aussehen soll, nicht aber, wie eine Verfassung für ihn als Rechten und eine Verfassung für ihn als Weißen aussehen sollte. Dies bedeutet, dass jeder - A und B - die eine Verfassung von zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten aus beurteilen muss. Sie werden - jeder für sich - einmal vom Standpunkt eines Minderheitsangehörigen und einmal aus der Perspektive eines Mehrheitsmitgliedes die Verfassungsfrage stellen müssen. Sie werden - jeder für sich - die eine Verfassung unter mehr als einem Blickwinkel beurteilen müssen. Im Rahmen der hier gemachten Annahmen aber bedeutet dies: A wird sich den verfassungspolitischen Extremismus, zu dem er als Minderheitsmitglied neigt, als Mehrheitsmitglied nicht erlauben wollen. Und: Er wird sich die Entschiedenheit, mit der er als Mehrheitsmitglied für ein in der Nähe der einfachen Mehrheit liegendes Verfassungsoptimum eintritt, als Minderheitsmitglied nicht durchgehen lassen. Für B liegen - unseren Annahmen entsprechend - die Dinge ähnlich. Wenn nun für A und für B die beiden politisch relevanten Dimensionen das gleiche Gewicht haben, so werden sie sie auch in der Festlegung ihres jeweiligen Optimums der einen Verfassung gleichgewichtig berücksichtigen müssen. Tun sie dies, so lässt sich das Ergebnis in Abbildung 19 ablesen. Jeder Einzelne betrachtet hier also das Verfassungsproblem unter zwei Gesichtspunkten, zeichnet demnach in einem ersten Schritt zwei Interdependenzkostenkurven. Da er aber nicht nur mit Blick auf eine, sondern unter Berücksichtigung beider Kurven Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 161 <?page no="179"?> sein Verfassungsoptimum bestimmen kann, und da beide Gesichtspunkte ihm gleich wichtig sind, wird er das Mittel von beiden errechnen. Die Abbildung 19 zeigt uns, dass im Rahmen der hier gemachten Annahmen die so gefundene neue Interdependenzkostenkurve völlig anders verläuft, als die Interdependenzkostenkurven, aus denen sie hervorgegangen ist: Zum einen verläuft sie stetiger; zum anderen weist sie nur ein Minimum auf.Wenn und in dem Maße wie dies für A und B der Fall ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass für beide die neue Interdependenzkostenkurve ein Minimum aufweist, das etwa bei der gleichen Zahl der erforderlichen Ja-Stimmen liegt. Und selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass A und B - weil ihre jeweiligen Interdependenzkostenkurven relativ flach verlaufen - relativ indifferent in Verfassungsfragen sind. Der Verfassungsstreit ist entschärft, die Unvereinbarkeit der verfassungspolitischen Ansichten ist wenigstens teilweise verschwunden. Dies ist dadurch erreicht worden, dass die gegensätzlichen verfassungspolitischen Optionen, wie sie oben in Abbildung 18 zwischen den beiden Individuen A und B bestanden hatten, nunmehr intraindividuell bei A und B aufeinanderstoßen. Wo „zwei Seelen, ach, in seiner Brust wohnen“, muss der Einzelne mit sich selbst Kompromisse schließen. Wir haben in unserer Darstellung die politische Relevanz von nur zwei „cleavages“ unterstellt; es können deren mehr sein. Auch dann aber bleibt das Ergebnis das gleiche, nämlich die Entschärfung des Streits über die Verfassung. Dieses Ergebnis ist einigermaßen überraschend, besagt es doch nichts weniger, als dass die Einführungen und die Existenz von vielen Streitlinien, von vielen Kampffronten, von vielen Dimensionen, nach denen sich die Menschen als politische Akteure unterscheiden, dazu beitragen, dass sich diese Menschen nicht oder doch weniger über jene Regeln streiten, nach denen Kollektiventscheidungen getroffen werden. Es ist demnach wünschenswert, dass in einem Kollektiv die politische Auseinandersetzung nicht nur eindimensional ist, sondern dass die Mitgliedschaft durch eine Mehrzahl von „cleavages“ gespalten ist. 162 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang Abbildung 19 <?page no="180"?> In dieser Optik erweist es sich hingegen als schwierig bis fast unmöglich, zu einem einstimmigen Verfassungskonsens zu gelangen, wenn alle zur Entscheidung anstehenden Fragen unter dem Aspekt etwa nur der Klasse, nur der Rasse, nur der Religion oder nur der Sprache gesehen, erörtert und im Kollektiv entschieden werden sollen. Hingegen ist es - ebenfalls in dieser Sicht - leicht, den Verfassungskonsens zu erreichen, wenn diese Fragen unter dem Aspekt der Klasse und der Rasse und der Religion und der Sprache entschieden werden. In dieser abstrakten Form hört es sich überraschend an, dass der Verfassungsstreit umso mehr entschärft wird, je vielfältiger die politisch relevanten Merkmale sind, nach denen sich die Kollektivmitglieder unterscheiden. Und doch ist es genau dies, was uns die Erfahrung schon lange gelehrt hat: - Die Schweiz ist ein in Religion, Sprache und Kultur heterogenes Gemeinwesen. In einem ersten Ansatz möchte man annehmen, dass sich die Schweizer unentwegt über die Verfassung streiten. Das Gegenteil ist der Fall; wie kaum irgendwo sonst ist die Verfassung in der Schweiz kein wichtiger Streitgegenstand. Wir verstehen jetzt, warum dies so ist: Die Schweizer stehen ihrer Verfassung mit leicht gelangweilter Indifferenz gegenüber nicht obschon, sondern weil sie untereinander sehr verschieden sind. - Es ist von symptomatischer Bedeutung, dass Revolutionäre, also Menschen, denen es um die Zerstörung eines existierenden Verfassungskonsenses geht, regelmäßig alles daransetzen, den politischen Diskurs auf eine Dimension zu beschränken, nur einem „cleavage“ politische Relevanz zuzubilligen und zu belassen. So gab es für Marx nur die Dimension der Klasse (Proletarier - Kapitalisten), für Eldridge Cleaver nur die Dimension der Rasse (schwarz - weiß), für Khomeini nur die Dimension der Religion (gläubig - ungläubig). Aus unserer Analyse lässt sich nicht nur die praktische Konsequenz ziehen, dass man dann, wenn man als Revolutionär einen schon bestehenden Verfassungskonsens stören will, darauf hinarbeiten muss, alle „cleavages“ bis auf einen in die politische Bedeutungslosigkeit abzudrängen. Es lässt sich ebenfalls die praktische Konsequenz ziehen, dass man dann, wenn einem an der Einmütigkeit des Verfassungskonsens gelegen ist, darauf hinarbeiten muss, dass in der politischen Auseinandersetzung nicht nur ein, sondern mehrere Gesichtspunkte zur Geltung kommen. Zusammenfassend heißt das: So wie der einmütige Regelkonsens erlaubt, dass der Sachdissens unter den Mitgliedern ohne Verletzung des normativen Individualismus existieren kann, so erlaubt, erleichtert jedenfalls die Vielfalt der Dimensionen die Einmütigkeit des Regelkonsenses. An dieser Stelle müssen wir uns einem Gegenargument stellen. Dem kritischen Leser wird unsere Darstellung denn doch etwas zu optimistisch erschienen sein. Er mag auf Beispiele hinweisen, in denen trotz der Vielzahl der „cleavages“, ja - wie man annehmen muss - wegen dieser Vielfalt der Verfassungskonsens auseinanderbricht oder gar nicht erst zustandegekommen ist. Er wird etwa dem oben erwähnten Beispiel der Schweiz das Königreich Belgien gegenüberstellen, das wenigstens zwei „cleavages“, einen Sprach- und einen wirtschaftlichen „cleavage“ kennt und trotzdem, ja gerade Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 163 <?page no="181"?> deswegen von einer Verfassungskrise in die nächste taumelte, bis er sich in drei weitestgehend unabhängige Gemeinwesen mit je eigener Verfassung aufgespalten hatte: Flandern,Wallonien und Brüssel. Wohl reicht dieses Argument nicht, unsere bisherigen Überlegungen als falsch auszuweisen. Doch zwingt es uns zu einer wichtigen Spezifizierung und damit auch zu einer Einschränkung der These, dass eine Vielzahl von „politically relevant cleavages“ die Einstimmigkeit in der Verfassungsfrage ermöglicht. Bei dieser Spezifizierung handelt es sich um folgende: Wir haben bei unseren Überlegungen bisher stillschweigend unterstellt, dass sich dann, wenn ein Individuum sein Verfassungsoptimum unter etwa zwei Dimensionen errechnet, er bezüglich beider Dimensionen zu je gegensätzlichen Ergebnissen kommt; die Berücksichtigung beider Ergebnisse führe also dazu, dass sie sich wechselseitig kompensieren. So war oben das kalkulierende Individuum ein Mitglied der linken Minderheitsgruppe und ein Mitglied der weißen Mehrheitsgruppe. Entsprechend war es für das Individuum nicht zweckmäßig, sich einseitig für eine aus der Sicht eines Mehrheitsmitgliedes optimale Verfassung oder für eine aus der Sicht eines Minderheitsmitgliedes optimale Verfassung einzusetzen. Die Frage ist, was geschieht, wenn das Individuum A als Weißer ein Mitglied einer Mehrheitsgruppe und als Linker gleichfalls ein Mitglied einer Mehrheitsgruppe ist, und wenn zudem das Individuum B als Schwarzer und als Rechter ein Mitglied je einer Minderheitsgruppe ist. Die Antwort bedarf keiner langen Ausführungen: In diesem Fall ist nicht damit zu rechnen, dass A und B sich leicht auf eine Verfassung verständigen können. Im Gegenteil: Hier werden A und B mit besonderer Härte auf ihren jeweiligen Verfassungsvorstellungen bestehen. Denn jedes Abgehen davon würde bedeuten, dass sie nicht nur unter einem Aspekt, etwa dem der Hautfarbe, Nachteile hätten, sondern auch unter dem Aspekt ihrer Einordnung auf der „links-rechts“-Dimension. Man kann den gleichen Sachverhalt auch mit anderen Worten ausdrücken: Damit die „politically relevant cleavages“ einen Beitrag zur Herstellung und Wahrung eines einmütigen Verfassungskonsenses leisten können, ist es nicht nur nötig, dass es mehrere gibt. Es ist auch notwendig, dass sich diese „cleavages“ nicht überlagern. Vielmehr müssen sie sich überschneiden. Nur dann kann erwartet werden, dass ein Individuum, das in einer Dimension einer Minderheitsgruppe angehört, in einer anderen Dimension ein Mitglied einer Mehrheitsgruppe ist. Am Beispiel Belgiens kann man sich dies leicht klarmachen. Mit einiger Vereinfachung lässt sich sagen, dass das Land durch eine von Ost nach West verlaufende Linie in zwei Sprachengruppen geteilt wird. Im Norden leben die Flamen, im Süden die Wallonen. Das Land wird - auch von Ost nach West - durch eine die erste Linie überlagernde zweite Linie in zwei Teile gespalten: Im Norden der wirtschaftlich dynamischere, im Süden der wirtschaftlich stagnierende Teil. Sieht man sich hingegen die Schweiz an, so stellt man fest, dass die Sprach- und die Religionsgrenzen sich nicht durchgehend überlagern, sondern weitgehend überschneiden.Wir haben hier also eine einfache, konsistente und empirisch belegbare Erklärung dafür, warum die Belgier sich kaum auf eine Verfassung verständigen können, die Schweizer aber wohl.Vermutlich hätten demnach die Belgier weniger Schwierigkeiten mit ihrem Verfassungskonsens, wenn sie etwas mehr politisch relevante Merkmale hätten, nach denen sie sich unterscheiden, und 164 · Kapitel IV: Das Verfassungsproblem: individualistische Legitimation von kollektivem Zwang <?page no="182"?> wenn die entsprechenden gesellschaftlichen Trennlinien „cross-cutting cleavages“ wären. Für unsere Analyse spricht auch, dass dort, wo in der Schweiz die Verhältnisse ähnlich lagen wie in Belgien, der Verfassungskonflikt bis zur Unlösbarkeit aufbrach.Vor etwa einem Vierteljahrhundert spaltete sich der Jura vom Kanton Bern ab und bildete einen eigenen Kanton. Die Sprach- und Wirtschaftsgrenzen überlagerten sich weitgehend dort, wo heute die Grenze zwischen den beiden Kantonen verläuft. Es ist zu beachten: Die Trennlinien, von denen hier die Rede ist, sind nicht notwendigerweise - wie im Falle Belgiens - geographische Grenzen. Es ist durchaus möglich, dass sie keinen klar erkennbaren geographischen Verlauf haben, sondern im sozialen Raum lediglich einzelne Gruppen von Gesellschaftsmitgliedern voneinander trennen. Es bedarf keiner besonderen Ausführung, um darzutun, dass der hier erörterte Ansatz einiges Interesse verdient in einem Augenblick, in dem als Folge von Wanderungsbewegungen und der daraus resultierenden Durchmischung der Gesellschaften die Frage der Regeln des politischen Zusammenlebens eine neue Bedeutung bekommt. Auch sollte es sich nach den obigen Ausführungen erübrigen in extenso darzutun, dass der Verfassungskonsens in einer Gesellschaft dann erschwert, wenn nicht völlig verhindert wird, wenn ein Teil der in dieser Gesellschaft lebenden Mitglieder die politischen Entscheidungen vielleicht als vieldimensional ansieht, aber der Überzeugung ist, dass bezüglich einer Dimension keine intraindividuellen Kompromisse gemacht werden dürfen. So mag ein fundamentalistischer Muslim oder auch ein integristischer Christ über alles, nur nicht über einzelne religiöse Gebote und Verbote mit sich reden lassen. Ist dies der Fall, so ist nicht zu erwarten, dass sich auch in einer Gesellschaft mit vielen „cleavages“ ein Verfassungskonsens bilden lässt, der auch von diesen Fundamentalisten bzw. Integristen mitgetragen wird. Rückblickend ist festzuhalten: Eingangs hatten wir gefragt, wie der auf der Ebene der Entscheidungsergebnisse unausweichliche kollektive Zwang auf der Ebene des Entscheidungsverfahrens individualistisch legitimiert werden kann. Wir haben gesehen, dass dies möglich ist, wenn die kollektiven Entscheidungsverfahren, also die Verfassung einstimmig von den Kollektivmitgliedern akzeptiert wird: die Herstellung des Verfassungskonsenses. Dabei haben sich zwei Denkansätze als besonders hilfreich für die Lösung dieses Problems erwiesen: der Buchanan/ Tullocksche „veil of ignorance“ und die „cross-cutting cleavages“. Es hat sich gezeigt, dass beide das Verfassungsproblem nicht im eigentlichen Sinn „lösen“, sondern dass sie die Bedingungen benennen, unter denen sein Verschwinden, wenigstens seine Entschärfung zu erwarten ist. Wir haben schließlich gesehen, dass diese Bedingungen zum einen darin bestehen, dass die Liberalität der Verhältnisse, wie wir sie im Zusammenhang mit dem „veil of ignorance“ diskutiert haben, gewährleistet ist und bleibt. Zum zweiten ist es notwendig, dass die öffentliche Auseinandersetzung in dem Sinne offen ist, dass es möglich ist und bleibt, kollektive Anliegen unter möglichst vielen Gesichtspunkten zu analysieren, zu bewerten, zu erörtern und zu entscheiden. Das Problem: von vielen Verfassungskalkülen zu einer Verfassung · 165 <?page no="183"?> Literatur zu Kapitel IV Adamovich, I. Baron: Entstehung von Verfassungen: Ökonomische Theorie und Anwendungen auf Mittel- und Osteuropa nach 1989, Tübingen 2004. Buchanan, J. 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Definieren Sie den Begriff der Konsensfindungskosten. 3. Was sind wahrscheinliche externe Kosten? 4. Erläutern Sie den Begriff der Interdependenzkosten. 5. Was bestimmt die relative Lage des Punktes X? (Abbildung 13) 6. Wovon hängt die Dringlichkeit des Verfassungsproblems ab? 7. Erläutern Sie in Abbildung 14 den Verlauf der Kurven C1, C4 und C6. 8. Erläutern Sie in Abbildung 15 die Kurven D4 und D5. 9. Was bedeuten in Abbildung 17 die Kurven I5 und I6? 10. Diskutieren Sie einige Lösungsansätze des Verfassungsproblems, die aus individualistischer Sicht nicht akzeptabel sind. 11. Begründen Sie die Verfassungslösung der „Einstimmigkeit“ mit dem Konzept des „veil of ignorance“. 12. Erläutern Sie das Konzept der „social cleavages“, und stellen Sie deren Relevanz für die Verfassungsfrage heraus. Kontrollfragen zu Kapitel IV · 167 <?page no="185"?> Kapitel V Die Logik des kollektiven Handelns Oben hieß es, die Bewältigung des Externalitätenproblems könne auf zwei Arten erfolgen: das Betroffenmachen der Beteiligten und die Beteiligung der Betroffenen. Während jenes im Wesentlichen über den Marktmechanismus und über freiwillige Vereinbarungen angestrebt wird, setzt dieses die Bildung von Kollektiven voraus. Nun ist aber die Bildung von Zusammenschlüssen keineswegs ein unproblematischer Vorgang; sie ist an Voraussetzungen gebunden. Auch ist der Weiterbestand von Kollektiven nur unter bestimmten Bedingungen gesichert. Im Folgenden wird - im Anschluss an Mancur Olson - zu zeigen sein, dass die gleichen Ursachen, die die Bildung und den Bestand von Kollektiven wünschenswert erscheinen lassen, deren Entstehen und Bestehen behindern oder gar verhindern können. 1 Das Problem Wir haben oben gesehen, dass unter externen Effekten solche Entscheidungsfolgen verstanden werden, welche die Wohlfahrt jener berühren, die an der Entscheidungsfindung nicht beteiligt sind. Wir haben auch gesehen, dass diese externen Effekte zu Allokationsdefiziten führen und - soweit es sich um negative Externalitäten handelt - verteilungspolitisch problematisch sein können. Schließlich haben wir gesehen, dass für Kollektivgüter das Ausschlussprinzip nicht gilt: Auch jener, der zur Bereitstellung eines „collective good“ nicht beitragen will oder kann, kann vom Genuss dieses Gutes nicht ausgeschlossen werden. Und: Jemand, der zur Verursachung eines „collective bad nicht beigetragen hat, wird durch dieses „bad“ in seiner Wohlfahrt zwangsläufig beeinträchtigt. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass Kollektivgüter sich durch die mit ihnen verbundenen externen Kosten und Nutzen definieren. Das Kollektivgüterproblem ist im Wesentlichen ein Externalitätenproblem; und dies in allokations- und distributionspolitischer Hinsicht. Für private Güter löst der Markt - wenigstens von seiner Konstruktionsidee her - das Allokations- und Distributionsproblem. Für Kollektivgüter ist die Frage noch offen. Man sollte nun meinen, dass dann, wenn - im Extrem - alle Mitglieder einer Gesellschaft ein Interesse an der Bereitstellung eines Kollektivgutes haben, sie dieses auch erstellen, und jeder Einzelne von sich aus und nach Maßgabe seines Interesses einen Beitrag zur Erstellung eines Gutes bzw. zur Verhütung eines Übels leistet. Niemand will an Hautkrebs sterben, also sollte man annehmen, dass alle auf die Benutzung von FCKW-getriebenen Sprays verzichten und so zum Erhalt der Ozonschicht beitragen. Nun haben wir oben schon gesehen, dass dem nicht unbedingt so ist. Kollektivgüter, an denen alle ein Interesse haben, werden im Zweifel nicht bereitgestellt, und „collec- 168 <?page no="186"?> tive bads“, an denen alle leiden, werden im Zweifel von allen verursacht. Der Grund für diese scheinbare Widersprüchlichkeit liegt in der Natur der Kollektivgüter, genauer: in der Nichtgeltung des Ausschlussprinzips. Wenn nämlich das Ausschlussprinzip nicht gilt, liegt es im Interesse des Einzelnen, als Trittbrettfahrer kostenlos seinen Nutzen aus den von anderen erstellten Kollektivgütern zu ziehen. Es liegt in seinem Interesse zu warten, bis andere das Kollektivgut bereitgestellt haben. Er wird demnach nicht als erster seine Präferenzen offenbaren. Denn wer im Falle von Kollektivgütern als erster seine Präferenzen offenlegt, kommt auf eine niedrigere Indifferenzkurve als auf jene, die er erreicht hätte, wenn er ein „free-rider“ gewesen wäre. Warum? Reduzieren wir das Problem auf eine Gesellschaft, die aus zwei Individuen A und B besteht, die beide ein Interesse an der Befriedigung eines gleichen Bedürfnisses haben, für welches das Ausschlussprinzip nicht gilt. Daneben hat jedes von ihnen dem Ausschlussprinzip unterworfene private Bedürfnisse. Stellt also eines der beiden das Kollektivgut unter eigenen Kosten zur Verfügung, so kann es den zahlungsunwilligen Nachbarn nicht daran hindern, an diesem Gut kostenlos zu partizipieren. In der Konsequenz bedeutet dies, dass das Individuum A, das im Alleingang das Kollektivgut herstellt, die gesamten Kosten tragen muss, während das Individuum B gratis seinen Nutzen daraus zieht. Mit anderen Worten: Das im Alleingang vorpreschende Individuum muss auf die Befriedigung wenigstens eines Teils seiner privaten Bedürfnisse verzichten, während der „free-rider“ seine Ressourcen voll und ganz für private Güter ausgeben kann und trotzdem in den Genuss von Kollektivgütern kommt. Was auch bedeutet: A realisiert wohl seine Wohlfahrt, wenn es im Alleingang ein Kollektivgut erstellt und finanziert. Doch wird dieser Wohlfahrtsgewinn niedriger sein, als er gewesen wäre, wenn A gewartet und B im Alleingang aktiv geworden wäre.Abbildung 20 zeigt diesen Sachverhalt. So erreicht A durch den Alleingang in der Kollektivguterstellung wohl die Indifferenzkurve 1, ermöglicht es aber B, die Indifferenzkurve 3 zu erreichen, was diesem unmöglich gewesen wäre, wenn er selbst vorgeprescht wäre. Dann hätte er lediglich die Indifferenzkurve 2 erreicht. Hätte dagegen B den ersten Schritt gemacht und - seinem Präferenzkalkül entsprechend - die Menge Y an Kollektivgütern erstellt, so hätte A als Trittbrettfahrer die Möglichkeit gehabt, auf seine Indifferenzkurve 3 zu gelangen. Es zeigt sich demnach: Es ist jeweils dasjenige Individuum, das als Erstes seine Präferenzen offenbart und im Alleingang die Produktion und Finanzierung von nicht dem Ausschlussprinzip unterworfenen Gütern in Angriff nimmt, das im Nachteil ist. Da nun beide Individuen diesen Zusammenhang durchschauen mögen, ist nicht ausgeschlossen, dass beide sich zurückhalten werden; mit der Folge, dass eine Bedürfnisbefriedigung, an der beide ein Interesse haben, unterbleibt. Weil jedes - „Hanemann, geh du voran! “ - darauf wartet, dass das andere als Erstes etwas unternimmt, geschieht, was beide wünschen, nicht. Demnach kommt das Kollektivgut nicht zustande, weil jedes der betroffenen Individuen hofft, am Nutzenkollektiv teilzuhaben, ohne im entsprechenden Kostenkollektiv Mitglied zu sein. Das Problem · 169 <?page no="187"?> Wir können demnach vorerst festhalten: - Naiverweise könnte man meinen, dass Güter, aus deren Bereitstellung alle einen Nutzen ziehen, problemlos von allen bereitwillig erstellt und finanziert werden. - Realistischerweise muss man erkennen, dass dies für die nicht dem Ausschlussprinzip unterworfenen Güter nicht der Fall ist. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass es im Interesse eines jeden liegt, gratis als Trittbrettfahrer von diesen Gütern zu profitieren. - Wenn und in dem Maße wie alle die Logik der Kollektivgüter durchschaut haben und danach handeln, wartet jeder, dass die anderen ihre Präferenzen offenbaren.Was alle wünschen, geschieht nicht, bzw. was keiner will, wird durch alle verursacht. - Dabei ist entscheidend, dass dies nicht auf „irrationales“ Verhalten zurückgeführt werden kann. Im Gegenteil: Weil jeder für sich rational entscheidet und handelt, wird eine anderweitig mögliche Wohlfahrtssteigerung für alle im Zweifel verfehlt. Alle tragen sehenden Auges und völlig rational zu einem Ergebnis bei, das sie nicht haben wollen. 2 Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe 2.1 Freiwilligkeit Es will also scheinen, dass Kollektivgüter nur das Ergebnis nichtrationaler Entscheidungen oder aber ein Resultat äußeren Zwangs sein können. Es scheint, dass einzelne rational auf den Eigennutz ausgerichtete Akteure auch dann, wenn sie an der Bereitstellung von Kollektivgütern ein Interesse haben, diese von sich aus nicht bereitstellen. Oder doch? 170 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns Abbildung 20 <?page no="188"?> Versetzen wir uns in die Lage eines nur an der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse interessierten Individuums. Dieses Individuum wird dann die Entscheidung zur Bereitstellung der für seine individuelle Bedürfnisbefriedigung notwendigen technischen Vorkehrungen treffen und die dafür notwendigen Mittel aufbringen, wenn die von ihm zu tragenden Kosten die ihm zufließenden Nutzen nicht überschreiten. Ist dies der Fall, so wird er einerseits seine positiven Bedürfnisse befriedigen, andererseits werden aber auch andere unentgeltlich von der Bereitstellung dieses Gutes profitieren. Der Einzelne hat also, ohne es eigens zu wollen, ja im Zweifel ohne es zu wissen, die Bereitstellung eines Kollektivgutes sichergestellt. Dies jedenfalls dann, wenn - bei den nicht dem Ausschlussprinzip unterworfenen Gütern die einzelnen Individuen nicht deshalb von deren Produktion abgehalten werden, weil auch andere davon ihren Nutzen haben. Es wird also unterstellt, dass der Einzelne seine Entscheidung nur mit Blick auf seine Nutzen und seine Kosten trifft. Bei dieser Betrachtung ist die Tatsache ausgeschlossen, dass Neid und/ oder ein „Gerechtigkeitsgefühl“, das durch nichtinternalisierte externe Nutzen verletzt würde, die Initiative zur Bereitstellung eines Kollektivguts im Alleingang durch ein Individuum verhindern. Man kann es auch so sagen: In das Wohlfahrtskalkül eines Individuums geht nicht die Wohlfahrtssituation seiner Mitmenschen ein. Ihr Glück freut ihn nicht, und ihr Unglück betrübt ihn nicht. Er neidet ihnen weder ihre Wohlfahrt, noch empfindet er Schadenfreude beim Anblick ihres Leides. Hass und Liebe, Missgunst und Zuneigung sind gleichermaßen ausgeschlossen. Wiewohl in einer Gesellschaft mit Menschen zusammenlebend, ist jeder mit sich und den verfügbaren Ressourcen allein. - der Einzelne nicht erwarten kann, dass dann, wenn er das Kollektivgut nicht erstellt, andere dies tun. Mit anderen Worten: Der Einzelne muss davon ausgehen, dass er als Trittbrettfahrer nirgends hinkommt, weil ohne sein Zutun der Zug überhaupt nicht fährt. Er wird als erster seine Präferenzen offenbaren, weil er davon ausgehen muss, dass dies sonst niemand tut, ja dass im Zweifel auch nach ihm niemand seine Präferenzen offenbaren wird. Dies bedeutet: Der Einzelne stellt ein Kollektivgut her, als sei es ein privates Gut. Es wird zu klären sein, wann dies der Fall ist. 2.1.1 Kleine Gruppen - große Gruppen Es ist nun eine Tatfrage, wann ein Einzelner im Alleingang Güter, die der Befriedigung seiner Bedürfnisse dienen sollen, erstellt und dabei - ohne es zu wollen und im Zweifel zu wissen - ein Kollektivgut bereitstellt. Er wird umso eher bereit sein, im Alleingang solche Güter zu erstellen, wenn dies für ihn mit geringen Kosten verbunden ist. Dies ist umso eher zu erwarten, je kleiner dieses Gut ist. In dem Maße wie man annehmen kann, dass an kleinen, also auch billigen technischen Vorkehrungen eine geringe Anzahl von Nicht-Zahlern profitieren können, ist es sinnvoll mit Olson in diesem Zusammenhang von kleinen Gruppen zu sprechen. In dem Maße wie in kleinen Gruppen die Gesamtkosten der Kollektivguterstellung tendenziell gering sind, ist demnach in ihnen mit der Bereitstellung im Alleingang Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe · 171 <?page no="189"?> durch Einzelne zu rechnen.Von großen Gruppen wird man hingegen dann sprechen, wenn es sich um Güter handelt, an denen viele auch als Nichtzahler partizipieren könnten und deren Erstellung entsprechend aufwendig sind. 2.1.2 Die Ausbeutung der Großen durch die Kleinen Noch ein zweites Moment ist von Bedeutung: Unter Berücksichtigung des Primats der individuellen Nutzenvorstellungen und unter der Bedingung rationaler Individualkalküle wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein Einzelner ein Kollektivgut im Alleingang erstellt, mit der Ungleichheit der Bedürfnisintensitäten der einzelnen Individuen steigen. Begründen lässt sich die These wie folgt: Mit je größerer Intensität der Einzelne ein Bedürfnis empfindet, also je lebhafter er dessen Befriedigung begrüßen würde, desto größer ist der Nutzen, den er aus der Bereitstellung des entsprechenden Gutes zieht. Das Individuum mit der vergleichsweise hohen Bedürfnisintensität wird dann das Kollektivgut im Alleingang herstellen, - wenn die anderen Individuen wissen, dass jenes ein größeres Interesse an dem Kollektivgut hat als sie selbst, und - wenn die anderen Individuen wissen, dass er weiß, dass sie wissen, ... Dies deshalb, weil dann das Individuum mit der größeren Bedürfnisintensität davon ausgehen muss, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit die anderen den ersten Schritt nicht machen werden. Diese ihrerseits können mit einiger Sicherheit damit rechnen, dass dieses Individuum das Kollektivgut im Alleingang herstellen wird. Mit anderen Worten: Nicht nur die unterschiedlichen Bedürfnisintensitäten, sondern auch das Wissen um diese Unterschiede machen es wahrscheinlich, dass trotz der Geltung des Ausschlussprinzips ein Einzelner das Kollektivgut bereitstellt. Es stehen sich also unter diesen Prämissen nicht mehr die beiden Kontrahenten bewegungslos gegenüber und warten auf den ersten Schritt des Gegenübers. Vielmehr macht einer, und zwar der „Große“, den ersten Schritt. Dies hat zur Folge, dass der „Kleine“ kostenlos von den Bemühungen und Anstrengungen des Großen profitiert. Es kommt also zur Ausbeutung der Großen durch die Kleinen. Hier muss vor einer Fehldeutung gewarnt werden: So begrüßenswert diese Tendenz jenem vorkommen mag, dessen gesellschaftskritisches Engagement ihn auf die Seite der Kleinen treibt, so wenig ist sicher, dass er mit „klein“ die gleichen Personen meint, die Olsons Formulierung umfasst.Während jener die Reichen, die Besitzer großer Vermögen, die Bezieher hoher Einkommen meint, ist für Olson jene Nutzenmenge für die „Größe“ eines Individuums entscheidend, die es bei gegebenem Versorgungsniveau aus dem Kollektivgut zieht.Wohl können im Einzelfall diese beiden nach unterschiedlichen Kriterien zusammengefassten Personenmengen die gleichen Individuen umfassen; dies muss aber nicht der Fall sein. So ist z. B. denkbar, dass ein vermögendes Individuum im Gegensatz zu seinem ärmeren Nachbarn eher in der Lage ist, auf die Produktion von Kollektivgütern zu verzichten und die entsprechenden Bedürfnisse durch den Kauf von Privatgütern zu befriedigen. Ein Beispiel ist der Mann, der die Mittel hat, sein Bedürfnis nach sauberer Luft durch den Einbau von Filteranlagen und die regelmäßigen Wochenenden in seinem Landhaus zu befriedigen. Der weniger Betuchte hin- 172 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="190"?> gegen, dem diese Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung durch private Güter, weil zu teuer, nicht offensteht, wird saubere Luft nur atmen können, wenn - etwa durch eine aktive Umweltpolitik - die Luftqualität als öffentliches, also als Kollektivgut produziert und erhalten wird. Es ist allerdings zu bedenken: Wenn jemand über viele Ressourcen verfügt, er also unter diesem Aspekt ein „Großer“ ist, so mag der Grenznutzen der privaten Güter so klein, also ihr Verzicht so wenig schmerzlich, also mögen die Kosten für die Bereitstellung des Kollektivgutes so niedrig sein, dass der „Große“ das Kollektivgut im Alleingang erstellt. Jemand, der über viele Ressourcen verfügt, wird im Zweifel auch dann schon das Kollektivgut im Alleingang erstellen, wenn die Intensität seines Bedürfnisses nach diesem Gut nicht oder kaum höher ist als jene der übrigen Gesellschaftsmitglieder. Hingegen wird jemand, der weniger vermögend ist, erst dann im Alleingang tätig werden, wenn er eine im Vergleich zu den anderen Kollektivmitgliedern sehr hohe Bedürfnisintensität hat. Am Beispiel: Obschon der Reiche für den Bau eines Kunstmuseums in seiner Heimatstadt sehr viel Geld ausgibt, kostet ihn dies im Zweifel weniger, als es den weniger Reichen kosten würde, für viel weniger Geld ein Gemälde zu stiften. Entsprechend müsste dieser schon ein verhältnismäßig weit stärkeres Bedürfnis nach öffentlicher Museumskultur haben als der Reiche, wenn er das Bild stiften sollte. Fassen wir unsere bisherigen Überlegungen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: - Haben wir es mit einer Gruppe zu tun, deren Mitgliederzahl niedrig ist und deren Mitglieder unterschiedliche Bedürfnisintensitäten haben, dann ist es wahrscheinlich, dass ein Individuum aus dieser Gruppe das Kollektivgut im Alleingang bereitstellen wird. - Zum anderen gibt es den Fall der großen Gruppen, bei dem viele Personen das Bedürfnis nach einem Kollektivgut haben und dieses Bedürfnis von allen mit etwa gleicher Intensität empfunden wird. In diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass die Bereitstellung des Kollektivgutes unterbleibt. Folgende Kombinationen sind also möglich: Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe · 173 Die Bedürfnis- Die Gruppe ist intensitäten sind groß klein 1) 2) Freiwillige Bereit- Freiwillige Bereitgleich stellung des Kollekstellung des Kollektivgutes ist sehr tivgutes ist unbeunwahrscheinlich stimmt 3) 4) Freiwillige Bereit- Freiwillig Bereitungleich stellung des Kollekstellung des Kollektivgutes ist unbetivgutes ist sehr stimmt wahrscheinlich Abbildung 21 <?page no="191"?> In den Feldern 2 und 3 ist solange keine Aussage möglich, wie nichts über die relative Einflussstärke der gegeneinander wirkenden Intensitätsunterschiede einerseits und der Gruppengröße andererseits bekannt ist. 2.1.3 Mittelgroße Gruppen Die bisherigen Ausführungen haben etwas gemeinsam: Sie beziehen die jeweiligen Reaktionen einzelner Individuen auf die Entscheidungen und Handlungen anderer Personen nicht in ihre Überlegungen ein. Dies unterbleibt im Falle der großen und der kleinen Personenzahl nicht ohne Grund: - Für die kleine Gruppe und/ oder für die Gruppe mit unterschiedlich hohen Bedürfnisintensitäten ist der einem Individuum zuwachsende Nettonutzen so groß, dass er allein die Entscheidung dieses Einzelgängers bestimmt und dieser die Reaktionen der Mitnutzer ignorieren kann: Wohl kennen diese jenen, nicht aber braucht jener diese zu kennen. Der Mäzen, der einer Stadt aus Liebe zum Schönen ein Museum stiftet, braucht niemanden zu kennen und - außer dem Museum - nichts zu sehen. - In der großen Gruppe und/ oder in der Gruppe mit Mitgliedern gleicher Bedürfnisintensität bewirkt die Entscheidung eines Einzelnen, einer Gruppe zahlend beizutreten oder aus ihr auszuscheiden, für den Kosten-Nutzen-Haushalt der übrigen keine fühlbare Veränderung. Entsprechend braucht jeder Einzelne auch nicht mit Reaktionen von seiten dieser übrigen zu rechnen. Da diese jenen nicht kennen, braucht jener diese auch nicht zu kennen. Beispiel: In Joseph Hellers Roman „Catch 22“ antwortet ein Pilot, der keine Kampfeinsätze mehr fliegen will, dem Freund, der ihm vorhält, er möge bedenken, was geschähe, wenn alle sich zurückziehen würden: „Nun, wenn ich nicht mehr fliege, ändert dies am Verhalten der anderen und an unseren Siegeschancen nichts. Ziehen sich die anderen Piloten aber zurück, so wäre ich blöd, allein weiterzumachen.“ Man mag sich nun aber auch eine Situation vorstellen, in der die Entscheidung eines Einzelnen, einem Kollektiv beizutreten oder fernzubleiben, für die Bedürfnisbefriedigung der übrigen Betroffenen bedeutende Konsequenzen hat. Diese mögen ein solches Ausmaß erreichen, dass sie die Fühlbarkeits- und die Reaktionsschwellen dieser so in ihrer Wohlfahrt berührten Individuen überschreiten. Das hat zur Folge, dass diese nunmehr eine neue Entscheidung über den Beitritt oder den Verbleib innerhalb eines schon bestehenden oder noch zu konstituierenden Kollektivs fällen. Diese Entscheidung wird nun ihrerseits nicht ohne Folgen für denjenigen sein, dessen Entscheidung am Anfang der Reaktionsfolge stand. In dem Maße wie dieser die Reaktionen der übrigen Individuen vorausschätzt und für ihn als ungünstig erachtet, wird er die geplante Entscheidung unterlassen. Mit anderen Worten: Der eine muss in seinem Verhalten die Reaktionen der anderen zur Kenntnis nehmen, weil diese in ihrem Verhalten seine Aktionen berücksichtigen. Konkreter: Der Austritt aus oder das Wegbleiben von einem Kollektiv durch ein bestimmtes Individuum A mag für die übrigen potenziellen oder schon aktiven Mitglieder dieser Gruppe ein Anlass sein, sich selbst von dem Zusammenschluss zu distanzieren. 174 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="192"?> Dies mit der Folge, dass das Kollektivgut, von dem das Individuum A als Trittbrettfahrer profitieren wollte, überhaupt nicht mehr zur Verfügung gestellt wird. Das Individuum A hat es in der Hand, das Kollektiv auffliegen zu lassen oder aber zu seiner Gründung bzw. und zu seinem Bestand beizutragen. Es wird ersteres bewirken, wenn es die „freerider-position“ einnimmt. Es wird das zweite tun, wenn es - wie alle übrigen - seinen Beitrag erbringt. Es wird sich für A solange lohnen, einen freiwilligen Beitrag zur Herstellung des Kollektivgutes zu leisten, wie der ihm so zufließende Nettonutzen einen positiven Wert hat. Die Logik der Situation entspricht einem Zug, der sofort stehenbleibt, wenn auch nur ein Schwarzfahrer unter den Reisenden ist, der aber weiterfährt, wenn alle den Fahrpreis entrichtet haben: Es gibt hier allenfalls Trittbrettsteher, aber keine Trittbrettfahrer. Das Kalkül des Individuums wird dann kompliziert und unsicher, wenn es sich über die Reaktionsweisen der übrigen Kollektivmitglieder, die Höhe ihrer Fühlbarkeits- und Reaktionsschwellen nicht ganz sicher ist und diese darüber hinaus für alle Betroffenen nicht unbedingt gleich hoch sind. Das Individuum wird es in dieser Situation mit einem mehr oder weniger wahrscheinlichen, mehr oder weniger schnell abbröckelnden und auseinanderfallenden bzw. sich konstituierenden oder ausweitenden Kollektiv zu tun haben. In dieser Situation wird es abzuschätzen haben, mit welcher Wahrscheinlichkeit es wieviel dadurch zu verlieren hat, dass die Mitfinanzierung des Kollektivgutes durch andere als Folge seines „free-rider“-Verhaltens ganz oder teilweise unterbleibt. Und es wird dieses Schätzergebnis mit den ihm sicheren Kosteneinsparungen vergleichen, die es durch sein Trittbrettfahrerverhalten erzielen könnte. Das Individuum wird sich etwa fragen: Lohnt es sich, den Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr zu verweigern und so mehr oder weniger viele Dorfbewohner durch das eigene schlechte Beispiel mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu zu verleiten, auch auszutreten, und dies mit der Folge, dass dann mit einiger Wahrscheinlichkeit der Feuerschutz mehr oder weniger fehlen wird? Es entspricht der Logik der hier geschilderten Situation, dass es im Prinzip in der Hand eines jeden Einzelnen liegt, als Katalysator für den Verfall oder für die Konstituierung eines Kollektivs zur Bereitstellung eines Kollektivgutes zu fungieren. Dies schließt allerdings nicht aus, dass der Austritt aus oder der Beitritt zu einem Kollektiv einen von Individuum zu Individuum unterschiedlich ausgeprägten Signal- und Aufforderungscharakter haben kann. Dies in doppelter Hinsicht: - Die Verhaltensweisen bestimmter Individuen mögen mehr als die anderer Gesellschaftsmitglieder für die Handlungen der übrigen Gesellschaftsmitglieder wegweisend sein: „Wenn der nicht zahlt, zahle ich auch nicht.“ - Einzelne Individuen mögen mehr als andere für die Signalwirkungen empfänglich sein, die von dem Verhalten einzelner Gesellschaftsmitglieder ausgehen. Beides ist mit rationalem Verhalten vereinbar: Die Ausrichtung des eigenen Verhaltens am Verhalten eines bestimmten anderen kann die Informationskosten für den Einzelnen senken. Auch kann der Grad der Beeinflussbarkeit eines Einzelnen durch das Verhalten anderer eine Folge seines geringen Informationsgrades, und dieses wiederum eine Folge seiner geringen Ressourcen sein. Zusammenfassend: Sieht man von den unterschiedlich hohen Bedürfnisintensitäten ab, so ist es nötig von der großen und der kleinen Gruppe noch eine dritte zu unter- Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe · 175 <?page no="193"?> scheiden: Unterhalb der großen Gruppe, in der ein Kollektivgut von den einzelnen Interessenten nicht freiwillig bereitgestellt wird, und oberhalb der kleinen Gruppe, in der ein Einzelner ein Kollektivgut im Alleingang bereitstellen mag, gibt es eine mittlere Gruppe. Hier ist es unbestimmt, ob das Kollektivgut produziert wird. Wir können also festhalten: Relativ problemlos ist die Konstituierung von Kollektiven auf der Basis des freiwilligen Zusammenschlusses eigennütziger Individuen nur dann, wenn die Zahl der Betroffenen gering und/ oder die Intensitätsgrade der Bedürfnisse bei den einzelnen Betroffenen unterschiedlich sind. Wenn dies nicht der Fall ist, also der Kreis der Betroffenen das Ausmaß der mittleren oder der großen Gruppe erreicht und/ oder die Bedürfnisintensitäten in etwa gleich sind, ist es höchst unsicher oder vorerst gar unmöglich, dass es auf freiwilliger Grundlage zur Bereitstellung des Kollektivgutes kommt. Im Extrem wird, was alle wollen, nicht bereitgestellt. So ist es wahrscheinlicher, dass sich auf der Basis individueller Freiwilligkeit die Banken in einem Interessenverband organisieren, als dass dies den Bankkunden gelänge. Auch ist es wahrscheinlicher, dass in einer mittelgroßen Wohnkommune jedes Mitglied freiwillig seinen Beitrag zur Sauberhaltung des Hauses leistet, als dass die Camper auf einem sehr großen Zeltplatz freiwillig auf Sauberkeit achten. Diese unterschiedliche Organisierbarkeit von Interessen ist aus allokations- und distributionspolitischen Gründen insofern von großer Bedeutung, als jene Anliegen, die nicht oder relativ wenig organisiert sind, Gefahr laufen, im politischen Entscheidungsprozess unterrepräsentiert zu sein, also auch wenig, wenn überhaupt berücksichtigt zu werden. Die optimistische These von John K. Galbraith, dass die organisierte Macht von Interessen die Organisation von Gegenmacht hervorruft, ist demnach dahingehend zu relativieren, dass die Entstehung solcher „countervailing powers“ an bestimmte Bedingungen gebunden ist.Wir werden dieses Thema weiter unten wieder aufgreifen. Exkurs: TIT FOR TAT In jüngerer Zeit hat Robert Axelrod mit etwas anderer Akzentuierung die Frage, die Olson bewegt hat, wieder aufgegriffen. Dabei war seine Ausgangsfrage: Unter welchen Voraussetzungen werden Individuen sich auch dann zu einer für alle vorteilhaften Kooperation bereitfinden, wenn für den Einzelnen die Möglichkeit besteht, aus einzelnen unkooperativen Handlungen einen Nutzen zu ziehen? Axelrod nähert sich dem Trittbrettfahrerproblem unter Rückgriff auf das aus der Spieltheorie bekannte Gefangenendilemma. Zur Erklärung kurz Folgendes: Zwei Gefangene, A und B, werden verdächtigt, ein gemeinsames Verbrechen begangen zu haben. Sie werden, ohne dass sie die Möglichkeit zur Kommunikation haben, getrennt voneinander vernommen. Beiden versichert man glaubwürdig, dass - wenn beide das Verbrechen gestehen, jeder von ihnen für fünf Jahre ins Gefängnis muss; - wenn nur einer gesteht, dieser als Kronzeuge straffrei bleibt, der andere aber zu 20 Jahren verurteilt wird; - wenn beide nicht gestehen, beide für ein Jahr hinter Gitter müssen. 176 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="194"?> Abgebildet sind diese Varianten in der folgenden Auszahlungsmatrix: Jeder der beiden steht jetzt vor der Frage, ob er gestehen soll oder nicht. Entscheidend ist nun, dass die Auswirkung einer bestimmten Entscheidung - gestehen oder nicht-gestehen - auch von der Entscheidung des anderen abhängt. Der Einzelne muss sich also fragen, welche Strategie er fahren soll und zwar unter Berücksichtigung der Strategien, die dem anderen zur Wahl stehen. Beiden ist daran gelegen, möglichst wenig Zeit im Gefängnis zu verbringen. Beide hätten also ein Interesse daran, zu kooperieren, d. h. die gemeinsam begangene Tat zu verschweigen und so nur für ein Jahr ins Gefängnis zu müssen. Da nun aber ein jeder von ihnen befürchtet, dass dann, wenn er als kooperationswilliges Bandenmitglied schweigt, er das Opfer der Redseligkeit des anderen wird und so für 20 Jahre ins Gefängnis muss, gestehen beide. Sie müssen jeder für fünf Jahre ins Gefängnis, ein Urteil, das für sie entschieden unangenehmer ist, als wenn beide nicht gestanden hätten. Die Kooperation, an der beide ein Interesse haben, kommt nicht zustande. Dies erinnert an den inzwischen oft in diesem Buch gelesenen Satz, dass Kollektivgüter, die im Zweifel jeder will, nicht bereitgestellt werden. In der Tat: Von der Logik her ist das Kollektivgüterproblem das Ergebnis eines Gefangenendilemmas; entsprechend stellt sich im Gefangenendilemma und im Kollektivgüterproblem die gleiche Frage: Wie kommt zwischen eigennützigen Individuen jene Kooperation zustande, an der im Zweifel alle ein Interesse haben und deren Zustandekommen a priori durch das Verhalten der Einzelnen unmöglich gemacht wird. Nun haben wir bei Olson gesehen, dass unter bestimmten Bedingungen die Bereitstellung der Kollektivgüter durchaus möglich ist; so spricht Olson unter anderem von der Größe der Gruppe. Es ist nun interessant festzustellen, dass die Antwort von Axelrod in der Nähe von Olsons mittleren Gruppen angesiedelt ist. Für beide, Olson und Axelrod, sieht sich das Individuum in der Situation, ein Kollektivgut haben zu wollen und auch bereit zu sein, zu dessen Finanzierung beizutragen, wenn es nicht befürchten müsste, von anderen nicht Zahlungswilligen ausgebeutet zu werden. Wünschenswert für das Individuum wäre, wenn die Bereitstellung und die Finanzierung des Kollektivgutes durch alle sichergestellt werden könnte; dann wäre es auch selbst durchaus willig, seinen Beitrag dazu zu leisten. Es geht für das Individuum also darum, dass seine Kooperationswilligkeit für andere nicht Grund und Anlass ist, nicht zu kooperieren. Es geht auch darum, dass die eigene Exkurs: TIT FOR TAT · 177 B nicht-gestehen gestehen 1 Jahr 20 Jahre für A nicht-gestehen für beide 0 für B A 0 für A 5 Jahre gestehen 20 Jahre für B für beide Abbildung 22 <?page no="195"?> Angst, „der Dumme“ zu sein, das einzelne Individuum nicht davon abhält, einen Beitrag zu leisten. In dieser Situation mögen nun die Individuen verschiedene Strategien verfolgen: Sie können von sich aus kooperieren oder auch nicht; sie können auch dann noch kooperieren, wenn andere nicht kooperieren, oder aber mit Nicht-Kooperation auf die Nichtkooperation anderer reagieren usw. Axelrod hat nun in mehreren Computer-Turnieren verschiedene Verhaltensstrategien gegeneinander antreten lassen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die TIT FOR TAT-Strategie aus der Gesamtheit der Begegnungen als Sieger hervorgegangen ist. Und dies, obschon sie gegenüber einzelnen konkurrierenden Strategien durchwegs in jedem einzelnen Spielzug nicht immer überlegen war. So konnte das kooperationsfreudige TIT FOR TAT - wir werden gleich sehen, was darunter zu verstehen ist - in einzelnen Begegnungen von kooperationsunfreundlichen Strategien geschlagen werden. Doch war TIT FOR TAT insgesamt die erfolgreichere Strategie; sie sammelte die meisten Punkte, weil sie als kooperationsfreudige, aber zum Rückschlagen bereite Strategie andere zur Kooperation und damit zu allseits wohlfahrtssteigerndem Verhalten animierte. Was kennzeichnet die TIT FOR TAT-Strategie? Folgende Merkmale sind hier zu nennen: - Der Akteur, welcher der TIT FOR TAT-Strategie folgt, beginnt die Begegnung - wenn man so will: das Spiel - damit, dass er kooperiert, also zu einem Kollektivgut einen Beitrag leistet. - Sobald der andere Spieler die Trittbrettfahrer-Position einnimmt, also keinen Beitrag leistet, stellt der erste Akteur seinerseits die Kooperation ein, leistet also auch keinen Beitrag mehr. - Wenn der Mitspieler daraufhin wieder kooperiert, also einen Beitrag leistet, kooperiert auch der erste Akteur wieder. Wir haben es hier also mit einer Strategie zu tun, die - kooperationsfreundlich ist, also andere zur Kooperation einlädt; - reizbar ist, also andere von unkooperativen Verhalten abschreckt; - nicht nachtragend ist, also auch nach unkooperativem Verhalten des anderen bereit ist, wieder mit diesem zu kooperieren, sobald dieser wieder kooperiert. Die Merkmale dieser Strategie können wohl nicht verhindern, dass der diese Strategie befolgende Akteur in einzelnen Spielzügen das Opfer der Kooperationsunwilligkeit des/ der anderen wird, er also „der Dumme“ ist. Doch ist dies wegen der Reizbarkeit der Strategie nur begrenzt der Fall, da die Strategie keine Ausbeutung durchgehen lässt. Allerdings trägt sie dem „free-rider“ seine Kooperationsunfreundlichkeit nicht nach. Dies und die grundsätzlich kooperationsfreundliche Haltung des TIT FOR TAT- Spielers bewirken, dass die Kooperation (immer wieder) aufgenommen werden kann, also auch die aus dieser Kooperation resultierenden Wohlfahrtsgewinne (immer wieder) fließen. Noch einmal: TIT FOR TAT ist nicht deshalb eine erfolgreiche Strategie, weil der sie anwendende Spieler in einzelnen Spielpartien gegenüber einzelnen Mitspielern gewinnt, sondern weil er über eine lange Folge von Spielpartien viele Spieler zur Kooperation bewegen kann. 178 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="196"?> Axelrod hat nun gezeigt, dass sich in einer Gesellschaft diese Strategie als die erfolgreichere ausbreitet, also andere Strategien verdrängt. Darüber hinaus hat er gezeigt, dass sie in einer Gesellschaft, in der sie von den Gesellschaftsmitgliedern praktiziert wird, nur sehr schwer von anderen Strategien verdrängt werden kann. Mit anderen Worten: Es kann eine Gesellschaft, deren Mitglieder die Vorteile der Kooperation erfahren haben, durch das „free-rider“-Verhalten einiger weniger nicht so ohne weiteres in eine Gesellschaft verwandelt werden, in welcher die Mitglieder nicht kooperieren. Umgekehrt kann durch den Zuzug einiger dem TIT FOR TAT folgender Mitglieder der Stil des gesellschaftlichen Umgangs kooperationsfreundlicher werden. Und dies - wie Axelrod betont - ohne dass es von jemandem bewusst angestrebt werden müsste. So wie Adam Smith ehedem behauptet hatte, dass die unsichtbare Hand die Zusammenarbeit eigennütziger Individuen bei der arbeitsteiligen Erstellung von Privatgütern regelt, so zeigt Axelrod, dass gleichsam eine unsichtbare Hand die Kooperation bei der Erstellung von Kollektivgütern herbeiführt und gewährleistet. Allerdings zeigt Axelrod auch, dass diese „Evolution of Cooperation“ - so der Titel seines Buches - nur dann zu erwarten ist, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Es sind dann auch einige dieser Bedingungen, die Axelrods Analyse in die Nähe von Olsons Untersuchung der mittleren Gruppe rücken, allerdings ohne dass beide Theorien deckungsgleich wären. Diese Bedingungen sind: - Es muss zwischen den Akteuren, um deren Kooperation es geht, eine Vielzahl von Spielzügen, von Partien geben. Es darf also nicht in einer Entscheidung ein für allemal festgelegt werden (müssen), ob der Einzelne kooperiert oder nicht.Vielmehr ist es nötig, dass der Einzelne durch sein Verhalten immer von neuem den anderen gegenüber seine Kooperationsfreundlichkeit bzw. seine Bereitschaft zur Nichtkooperation unter Beweis stellen muss und kann. - Die Zahl der Spielzüge, in welchen die Akteure miteinander interagieren, muss wohl nicht unendlich, doch darf ihre Zahl keinem der Akteure im Voraus bekannt sein. Dass diese Bedingung erfüllt sein muss, leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass der Einzelne in einem bestimmten Spielzug IC kooperiert, damit der andere im nächsten Spielzug IC + 1 seinerseits kooperiert. Weiß man nun, dass es etwa 16 Spielzüge gibt, so ist ab initio davon auszugehen, dass jener Akteur, der dann am Zuge ist, nicht kooperieren wird, und dies unabhängig davon, ob der andere Akteur im 15. Spielzug kooperiert haben wird oder nicht. Also kann man davon ausgehen, dass dieser nicht kooperieren wird, und zwar unabhängig davon, ob der erste Spieler im 14. Spielzug kooperiert haben wird oder nicht, ...; die Überlegung lässt sich bis zum 1. Spielzug zurückführen mit dem Ergebnis, dass - weil beide geradezu sicher sein können, dass im letzten, also dem 16. Spielzug die Kooperation nicht zustandekommt - auch niemand der beiden im 1. Zug kooperieren wird. Wir haben hier eine einfache, aber einleuchtende Erklärung für eine häufig zu beobachtende Erscheinung: Wenn man weiß, dass und wann eine Gruppe (Camping-Gruppe, Verein, Unternehmensabteilung) ihr Ende findet, nimmt mit unschöner Regelmäßigkeit die Bereitschaft der Gruppenmitglieder, einen Beitrag zur Gruppenleistung zu erbringen, ab. Exkurs: TIT FOR TAT · 179 <?page no="197"?> - Es muss für den Einzelnen möglich sein, jenen zu identifizieren, dessen Kooperationsunwilligkeit er zum Opfer gefallen ist, bzw. von dessen Kooperationsfreundlichkeit er einen Nutzen hat. Die Verwandtschaft von Axelrods Theorie mit Olsons Ansatz wird besonders in der letzten Bedingung deutlich. Olson allerdings stellt in der Hauptsache darauf ab, dass der Einzelne in mittleren Gruppen im Zweifel kooperiert, wenn und weil sonst das in Frage stehende Kollektivgut nicht erstellt wird. Axelrod hingegen legt den Akzent darauf, dass als Folge der Kooperationsunwilligkeit des einen identifizierbare Einzelne nicht kooperieren. Mit einiger Vereinfachung kann man sagen: Bei Olson zieht der Einzelne in Betracht, dass dann, wenn er seinen Beitrag zur Erstellung eines Kollektivgutes (nicht) leistet, dies die anderen auch (nicht) tun. Bei Axelrod hingegen sagt sich der Einzelne, dass er mit jemandem, der in einer Spielpartie (nicht) kooperiert hat, in der nächsten auch (nicht) kooperieren wird. Axelrods Ansatz ist also insofern analytisch detaillierter; was dann auch erklären mag, warum Axelrod zu Aussagen über die Evolutionsdynamik der Kooperation und über mögliche Strategien gelangt ist, die Olson nicht zugänglich waren. 2.2 Positive und negative selektive Anreize 2.2.1 Positive selektive Anreize Nach dem Gesagten muss man vorerst davon ausgehen, dass die Bereitstellung von Kollektivgütern in großen Gruppen auf der Grundlage der Freiwilligkeit nicht zu erwarten ist. Doch kann nicht übersehen werden, dass es Kollektive gibt, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen, die vielen, sehr vielen Individuen gemeinsam sind. Schließlich gibt es Staaten, Gewerkschaften, Kirchen,Verbände u. Ä., die Hunderttausende, ja Millionen von Mitgliedern haben. Es müssen also andere Gründe für die Befriedigung von Bedürfnissen in Kollektiven gefunden werden. Sie können darin bestehen, - dass den Mitgliedern eines Kollektivs auch Leistungen und/ oder Güter zur Verfügung stehen, für die das Ausschlussprinzip gilt. Man spricht von selektiven Anreizen. - dass die Mitgliedschaft in Kollektiven erzwungen wird. Wir werden gleich sehen, dass es sich hier um eine Variante von selektiven Anreizen handelt, nämlich um negative selektive Anreize. - dass einzelne Individuen Mitglieder in einem Kollektiv werden und sind, weil bei ihnen das „interest in their own selves“ das „self-interest“ (teilweise) verdrängt hat und/ oder die Einzelnen „den Kopf verlieren“, also zu jedwedem Interessenkalkül nicht mehr fähig sind. Das Stichwort lautet: Hingabe. Im Folgenden wenden wir uns diesen Punkten zu. Eine erste Möglichkeit, eine große Anzahl von Individuen in einem Kollektiv zusammenzuschließen, stellen positive selektive Anreize dar.Was ist im Einzelnen darunter zu verstehen? Es wurde oben dargelegt, dass die Kooperationsunwilligkeit und die Trittbrettfahrerattitüde des Einzelnen darin begründet sind, dass er davon ausgeht, auch ohne eigenen Beitrag seinen Nutzen aus dem Kollektivgut ziehen zu können. Es ist demnach recht 180 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="198"?> unwahrscheinlich, dass einzelne Individuen um des Kollektivgutes willen einen freiwilligen Beitrag liefern. Da der Grund für dieses Verhalten in der Nichtgeltung des Ausschlussprinzips für dieses Gut besteht, ist zu fragen, ob die freiwillige Mitgliedschaft nicht dadurch erreicht werden kann, dass den zahlenden Mitgliedern durch das Kollektiv auch Leistungen zur Verfügung gestellt werden, die nur ihnen zukommen. Es ist also zu fragen, ob die Beitritts- und Beitragswilligkeit nicht dadurch erreicht werden kann, dass den Mitgliedern, und nur ihnen, die Befriedigung eines Bedürfnisses in Aussicht gestellt wird, für welches das Ausschlussprinzip gilt. Die Antwort auf diese Frage ist dann positiv, wenn in den Augen des Einzelnen der Nutzen, den er aus dem als selektiven Anreiz angebotenen Privatgut zieht, höher ist als die ihm aus der Kollektivmitgliedschaft entstehenden Kosten.Wohl zieht der Einzelne aus der Bereitstellung eines Kollektivgutes auch einen Nutzen. Doch geht dieser in sein Kalkül deshalb nicht ein, weil er diesen auch ohne Zahlung haben kann. So mag ein Autofahrer daran interessiert sein, dass ein Verband die Interessen des motorisierten Straßenverkehrs „in Berlin“ vertritt. Da die Segnungen eines solchen Lobbyismus aber allen Autofahrern zugute kommen, also auch jenen, die nicht Verbandsmitglieder sind, kann der Einzelne sie gleichsam als freies Gut betrachten und entsprechend in seinem Rationalkalkül vernachlässigen. Hingegen wird er die den Verbandsmitgliedern vorbehaltenen Serviceleistungen (Versicherungsschutz, Pannendienst usw.) daraufhin prüfen, ob ihr Nutzen den geforderten Mitgliedsbeitrag übersteigt. Kommt er zu einem positiven Ergebnis, so bedeutet dies: Mit einem Mitgliedsbeitrag trägt er nicht nur zur Finanzierung des Privatgutes „Service für Mitglieder“, sondern - gleichsam nebenbei - auch des Kollektivgutes bei. Und dies, obwohl er zu dessen Erstellung ohne den positiven selektiven Anreiz „Service für Mitglieder“ keinen Beitrag geliefert hätte. Man könnte nun der Ansicht sein, dass die Mitgliedsbeiträge sehr hoch sein müssen. Dies deshalb, weil sie sowohl die als positive selektive Anreize angebotenen Privatgüter als auch jene Kollektivgüter finanzieren sollen, die den eigentlichen Zweck des Kollektivs ausmachen. Dem ist jedoch nicht unbedingt so. Insbesondere in großen Kollektiven kann man davon ausgehen, dass der vom einzelnen Mitglied zu entrichtende Beitrag zur Finanzierung des Kollektivgutes gering ist. Entsprechend wird der Mitgliederbeitrag auch dann nicht sehr hoch sein, wenn er zusätzlich zur Finanzierung des Kollektivgutes die Bereitstellung eines selektiven Anreizes ermöglichen soll. Es ist denn auch typisch, dass die selektiven Anreize gemeinhin in Gütern und Leistungen bestehen, die für den Einzelnen einen relativ hohen Wert haben, in der Herstellung aber vergleichsweise billig sind. Nicht immer ist dies so ausgeprägt wie im folgenden Beispiel: Die äußere Sicherheit ist von den meisten ein hoch geschätztes Kollektivgut. Trotzdem sind die wenigsten bereit, um dieses Gutes willen einen freiwilligen Beitrag zu leisten, indem sie das Risiko des Tötens und des Getötetwerdens eingehen. Und doch gibt es Fälle von todesverachtendem Engagement. Die Motive hierfür sind gewiss vielfältig und tiefschichtig. Es ist in unserem Zusammenhang trotzdem interessant festzustellen, dass der Staat versucht, durch das Angebot positiver selektiver Anreize, die ihn wenig kosten, dem Einzelnen aber viel bedeuten, dieses Engagement zu fördern: Orden und Auszeichnungen. Nicht immer liegen jedoch die Dinge so eindeutig und offen zutage. Doch dürfte auch in anderen Kollektiven die Strategie der Mitgliederwerbung mittels positiver selektiver Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe · 181 <?page no="199"?> Anreize dieser Logik gehorchen. So wird eine Gewerkschaft etwa Ferienlager für die Kinder von Gewerkschaftsmitgliedern anbieten. Hier mag wohl der Ferienaufenthalt eines Kindes mehr kosten als der Jahresbeitrag eines Mitgliedes. Doch kann die Gewerkschaft davon ausgehen, dass nicht sämtliche Mitglieder alle ihre Kinder in jedem Jahr ins Ferienlager schicken. Entsprechend ist dies für die Gewerkschaft insgesamt eine Veranstaltung, deren Kosten im Vergleich zu den Beiträgen all jener Mitglieder vergleichsweise niedrig sind, für die schon allein die Möglichkeit, ihre Kinder ins Ferienlager zu schicken, mehr wert ist als der zu entrichtende Gewerkschaftsbeitrag. Im Extrem mag ein Kollektiv danach trachten, solche positive selektiven Anreize anzubieten, die für die Mitglieder von Wert sind, deren Erstellung innerhalb des Kollektivs aber keine Kosten verursacht. Ein Beispiel wäre die Regelung, dass nur Gewerkschaftsmitglieder einen Arbeitsplatz haben können. Wir können demnach zusammenfassend festhalten: Die Bildung von Zusammenschlüssen auf der Grundlage von positiven selektiven Anreizen beruht auch auf der Freiwilligkeit ihrer potenziellen Mitglieder. Auch hier entscheiden diese im Hinblick auf ihre individuelle Wohlfahrtssituation, ob sie einem Kollektiv beitreten oder nicht. Von der oben dargestellten Situation unterscheidet sich diese Art der Freiwilligkeit aber dadurch, dass sie sich primär auf das dem Ausschlussprinzip unterworfene Gut bezieht. Der Einzelne zahlt seinen Gewerkschaftsbeitrag freiwillig, nicht weil er die Verhandlungsmacht der Gewerkschaft erhöhen will, sondern weil er die Möglichkeit haben will, einmal im Jahr seine Kinder für zwei Wochen kostengünstig loszuwerden, indem er sie in das gewerkschaftseigene Ferienheim schickt. Dies schließt allerdings nicht aus, dass er sich und seine Umwelt über seine wahren Motive täuscht und ein gewerkschaftliches Engagement zur Schau trägt, das mit Trivialitäten wie Ferienlager u. Ä. nichts gemein hat. 2.2.2 Negative selektive Anreize: Zwang Eine besondere Art von selektiven Anreizen ist in der Anwendung von Zwang zu sehen; der Zwang stellt gewissermaßen ein in Aussicht gestellter negativer selektiver Anreiz dar. Es ist wichtig und nützlich, die oben geschilderten positiven Anreize und den Zwang als negativen selektiven Anreiz im Vergleich, also sowohl in ihrer Gleichartigkeit als auch in ihrer Andersartigkeit zu sehen. Ihre Gleichartigkeit: Man kann beide einander insofern gleichsetzen, als in beiden Fällen der Einzelne durch die Zahlung eines Beitrages zum Kollektiv einen dem Ausschlussprinzip unterworfenen Einfluss auf den Grad seiner Wohlfahrt nehmen kann. Handelt es sich um positive selektive Anreize, so kann er sich durch die Zahlungen Wohlfahrtssteigerungen erkaufen, von denen er andernfalls ausgeschlossen wäre. Handelt es sich um Zwang, also um negative selektive Anreize, so kann er sich durch die Beitragszahlungen die Freiheit von Wohlfahrtseinbußen, also von Strafen erkaufen, von denen jene nicht ausgenommen sind, die nicht zahlen. Der Unterschied zwischen positiven und negativen selektiven Anreizen besteht vornehmlich darin, dass negative selektive Anreize, wenigstens in einer liberal-individualistisch konzipierten Gesellschaft, im Gegensatz zu positiven Anreizen ein Problem 182 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="200"?> darstellen. Im Falle von positiven „incentives“ stellt sich nicht die Frage des Zwanges, seiner Reichweite und seiner Wirkung, seiner Rechtfertigung und seiner Legitimität: Positive Anreize stellen ein Angebot dar, das anzunehmen oder abzulehnen dem Einzelnen freisteht. Negative selektive Anreize hingegen basieren darauf, dass dem Einzelnen etwas, was ihm bislang eigen war, genommen wird, und er es nur zurückerhält, wenn er bereit ist, dafür etwas anderes herzugeben. In dem einen Fall kann er entscheiden, ob er durch die Annahme eines Angebotes seine Wohlfahrt erhöhen kann und will. In dem anderen kann er lediglich darüber befinden, in welcher Form er eine Wohlfahrtseinbuße erleiden will und welche Form für ihn die vergleichsweise geringste Beeinträchtigung seiner Wohlfahrt mit sich bringt. Im Falle von positiven selektiven Anreizen steht der Einzelne vor dem Problem, eine möglichst große Wohlfahrtssteigerung zu erreichen; im Falle von negativen selektiven Anreizen hat er lediglich die Möglichkeit,Wohlfahrtseinbußen zu minimieren. Der Zwang kann in mehr oder minder verhüllter, in mehr oder minder subtiler Form ausgeübt werden. Er reicht von physischer Gewaltanwendung bis hin zu der sanften Gewalt mondäner Konvention. So wird niemand in den Rotary Club hineingeprügelt, doch kann man es sich unter Umständen nicht leisten, nicht Mitglied zu sein. Der Leser sei auf die obigen Ausführungen über soziale Normen verwiesen. Der Zwang mag einen kollektivinternen oder einen kollektivexternen Ursprung haben. Ein Beispiel für letzteres: Der Staat zwingt die Angehörigen dieser oder jener Berufskategorie, Mitglied einer berufsständischen Organisation zu sein. Der Zwang, Mitglied eines Kollektivs zu sein, mag sich auf ein bestimmtes Kollektiv oder aber nur auf eine bestimmte Art von Kollektiven beziehen. So ist jeder Staatsbürger gezwungen, Bürger einer Gemeinde zu sein. Es steht ihm aber - abgesehen von Ausnahmefällen der Residenzpflicht - in liberalen Staaten frei, in die Gemeinde seiner Wahl zu ziehen. Es ist an dieser Stelle auf die obigen Ausführungen über den Zusammenhang zwischen Zwang und Abwanderungsmöglichkeiten hinzuweisen. Im Gegensatz zu positiven selektiven Anreizen sind negative Anreize als Mittel zur Gründung und Existenzsicherung von Kollektiven in hohem Maße problematisch. Dies eben deshalb, weil sie in dieser oder jener Form Zwang darstellen. Da nun aber der Zwang als staatliche Herrschaft nützlich sein mag und legitimiert sein muss, sind negative selektive Anreize rechtens dem Staat vorbehalten. Man kann es auch so sagen: Der Staat legitimiert sich in einer Gesellschaft durch den Wunsch der Gesellschaftsmitglieder, als einziger Inhaber von Gewalt sie vor gegenseitiger Gewalt zu schützen.Was demnach beim Staat der Ausfluss legitimer Herrschaftsausübung ist - etwa die zwangsweise Erhebung von Steuern -, muss bei privaten Organisationen als Raub bezeichnet werden, etwa die Eintreibung einer „Schutzabgabe“ durch kriminelle Organisationen. Der Staat mag allerdings nichtstaatliche Organisationen mit der Ausübung bestimmter Hoheitsaufgaben betrauen und ihnen nach Maßgabe dieser Aufgabe einen Teil seiner Gewaltbefugnisse übertragen. So mögen an Kammern und Innungen vom Staat bestimmte Aufgaben und gleichzeitig bestimmte Befugnisse delegiert werden. Entscheidend ist hier, dass es sich um einen begrenzten und abgeleiteten Zwang handelt. So gesehen ist die Zwangsmitgliedschaft in einer Handwerkskammer völlig anders einzuordnen, als die Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe · 183 <?page no="201"?> mit roher Gewalt erzwungene Mitgliedschaft etwa in jener Hafenarbeitergewerkschaft, die den Hintergrund für Eliah Kazans Film „Die Faust im Nacken“ abgab. Es ist demnach wohl richtig, von der These auszugehen, dass der Staat als der legitime Monopolist der Gewalt Herrschaft ausüben, also auch negative selektive Anreize, sprich: Zwang zum Einsatz bringen kann. Das verhindert allerdings nicht, dass der Staat unter bestimmten Bedingungen seine Legitimität verliert. Dies dann, wenn er zum Instrument privater Macht wird und etwa die Stärke des Gesetzes nur noch ein Reflex des Gesetzes der Stärke ist. Zwar mögen dann die äußeren Formen legitimer Herrschaft noch bestehen. Doch ist dann der Staat selbst zu einer mafiosen Organisation geworden, die Schutzgelder von jenen erpresst, die sie bedroht. Wir werden dieses Thema weiter unten noch einmal aufgreifen. 2.3 Hingabe Die nicht auf dem „self-interest“ gründende aktive Mitgliedschaft Einzelner in Kollektiven spielt in der Neuen Politischen Ökonomie, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Es ist hier nicht der Ort, ein weiteres Mal in eine Diskussion über den Eigennutz als Handlungsmotiv einzutreten. Es genügt für den Zweck dieser Überlegungen, wenn wir uns darüber verständigen, was im Folgenden unter Hingabe gemeint ist. Wir wollen von Hingabe sprechen, wenn ein Einzelner sich in einen Zusammenschluss einfügt, nicht weil er als Mitglied Vorteile (oder die Vermeidung von Nachteilen) für sich erwarten kann.Vielmehr wird der Einzelne Mitglied eines Zusammenschlusses, weil das Kollektiv und/ oder ein Teil jener, die es konstituieren, so sind, wie sie sind, ihnen also eine eigene Qualität und Würde zugeschrieben wird. Entsprechend wird den kollektivverbindlichen Entscheidungen Gehorsam entgegengebracht, nicht weil ihre Folgen für den Einzelnen per saldo positiv oder möglichst wenig negativ sind, sondern weil jenen, die sie getroffen haben bzw. weil den Regeln, nach denen sie getroffen worden sind, ein von den Ergebnissen abgelöster Anspruch auf diesen Gehorsam zuerkannt wird. In dieser Situation leistet der Einzelne einen Beitrag im Kollektiv, weil das Kollektiv selbst oder einige seiner Mitglieder für ihn, genauer: für sein Selbst etwas bedeuten, nicht aber weil das, was sie tun, für die Befriedigung seines „self-interest“ von Bedeutung ist. Dies führt uns zu Max Webers charismatischer und traditionaler Herrschaft: Wie im Falle der charismatisch legitimierten Herrschaft gründet die Bereitschaft des Einzelnen, kollektiv verbindlichen Entscheidungen Folge zu leisten, im traditional begründeten Verband nicht auf einer individuell-eigennützigen Bewertung der Folgen der dort getroffenen bzw. zu treffenden Entscheidungen. Vielmehr trägt der Einzelne im traditionalen Herrschaftsverband die Entscheidungskonsequenzen wegen der Heiligkeit des Amtes und der durch Herkommen dem Kalkül entrückten Institutionen und Formen der Entscheidungsfindung. Charismatisch bzw. traditional begründete Kollektiventscheidungen legitimieren über das „self“ die Entscheidungskonsequenzen. Im Gegensatz dazu sind es die Entscheidungsfolgen, welche eine am „self-interest“ ausgerichtete Bejahung von Kollektiventscheidungen rechtfertigen. 184 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="202"?> Ist auch die traditionale Herrschaft der charismatischen darin verwandt, dass beiden die individuell-selbstbezogene Kosten-Nutzen-Analyse der Entscheidungskonsequenzen fremd ist, so unterscheiden sie sich doch darin, dass im Falle der charismatischen Herrschaft die Person das Amt überflüssig macht und - umgekehrt - im Falle der traditionalen Herrschaft das durch Herkommen und Alter geheiligte Amt die Person des jeweiligen Inhabers in den Hintergrund treten lässt. Die Neue Politische Ökonomie ist bislang merkwürdig ungeschickt bei der Behandlung der Hingabe gewesen. Es mag sein, dass in der Gegenwart die Bedeutung traditionaler Herrschaft im Vergleich zu früheren Zeiten gering erscheint. Auch mag - wenigstens über weite Strecken - die Anziehungskraft von Charismen nicht sehr hoch scheinen. Mögen sich in Augenblicken rauschhafter Begeisterung auch viele schon mal an Charismen verlieren, so ist doch im Alltag die Regel, dass sich die meisten in ihrem Verhalten durch ihr „self-interest“ leiten lassen. Dies verhindert nicht, dass immer wieder Anstrengungen unternommen werden, dieses Kalkül auszuschalten und das Selbstinteresse durch das Interesse am eigenen Selbst in den Hintergrund zu drängen. Wobei dann häufig das „Selbst“ des Einzelnen in der Mitgliedschaft, im „wir“-Gefühl oder in der Identifizierung mit „ihm“, etwa dem „Führer“, gefunden werden soll. Das feierliche Gründungsritual vieler Zusammenschlüsse, der Pomp und der Aufwand, welche viele Veranstaltungen zum Anwerben von neuen Mitgliedern umgeben, sind Mittel, das rationale Kalkül des auf seinen Eigennutz bedachten Individuums von der Welle eines nichtreflektierten Wir-Erlebnisses wegzuschwemmen. Hier soll der Einzelne nicht die Vor- und Nachteile seiner Beitrittsentscheidung für sich abschätzen, sondern in einer großen Gefühlsaufwallung in dem großen Ganzen aufbzw. untergehen. Wenn er denn im Rausch der Fahnen und Trompeten nicht überhaupt völlig den Kopf verliert und zu keinem Kalkül mehr fähig ist, so wird er doch von seiner Kollektivmitgliedschaft und Gefolgschaft nicht primär die Befriedigung seiner Eigeninteressen, als vielmehr die Stabilisierung und Sicherung seines Selbst suchen und im Zweifel finden. In der Identifizierung mit einem „Führer“ bzw. im Aufgehen im Kollektiv wird er seiner Egoschwäche entfliehen: Er findet ein Selbst, indem er sein „Ich“ aufgibt und nur noch ein „Er“ oder ein „Wir“ kennt.Was Sigmund Freud in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ analysiert hat, wird etwa durch die hingebungsvolle Begeisterung vieler Deutscher an Hitler illustriert. Einschlägige Studien belegen, dass etwa Hitler, Goebbels, Speer u. a. diese Zusammenhänge genauestens gekannt und sehr effizient umgesetzt haben. Allerdings: So plausibel die in zahlreichen Einzelfällen zu belegende Rolle der Hingabe bei der Gründung neuer und beim Eintritt in schon bestehende Zusammenschlüsse sein mag, so plausibel scheint auch die Annahme, dass in einem Kollektiv von den Mitgliedern auf die Dauer zunehmend Eigennutzerwägungen angestellt werden. Von deren Ergebnis wird es dann abhängen, ob der Einzelne auch weiterhin einen Beitrag leisten wird. Die rauschhafte Begeisterung der Gründung eines Kollektivs bzw. des individuellen Eintritts in ein schon bestehendes Kollektiv flacht in der nüchternen Routine des Alltages gemeinhin ab. Es ist symptomatisch, dass alle Analytiker des Dritten Reiches als eines seiner hervorstechenden Merkmale das Fehlen jeglichen Alltages feststellen. In der Tat war es das offenkundige Bemühen von Hitler und insbesondere von Goebbels, so ziemlich jeden Tag zu einem Festtag zu machen, die nüchterne und Die Antwort: Freiwilligkeit, selektive Anreize, Zwang, Hingabe · 185 <?page no="203"?> ernüchternde Routine der Alltäglichkeit also garnicht erst aufkommen zu lassen. Dem Einzelnen sollte es unmöglich gemacht werden, sein Selbst im eigenen „Ich“ zu suchen; er sollte es im „Wir“ der marschierenden Volksgemeinschaft, in der jubelnden Identifizierung mit „ihm“, dem „Führer“, finden. Wenn allerdings auch die Hingabe des Einzelnen vornehmlich die Gründung von neuen Zusammenschlüssen und den Beitritt zu schon existierenden ohne Zwang und ohne selektive Anreize erklären kann, so sind diese Anreize doch nicht ohne Bedeutung. Ist nämlich ein Kollektiv erst einmal entstanden, so ist es häufig möglich, dass sich innerhalb dieses Zusammenschlusses ein Herrschaftsapparat entwickelt, der den Verfall des einmal gebildeten Kollektivs durch positive bzw. negative selektive Anreize aufhalten oder gar verhindern kann. Gleichfalls mag der aus begeisterter Hingabe vollzogene Beitritt eines neuen Mitgliedes in ein schon bestehendes Kollektiv den Eintritt dieses Individuums in einen sozialen Zusammenhang bedeuten, aus dem wieder auszuscheiden dann recht schwer sein mag. In beiden Fällen mag die Hingabe zwar einen Beitritt oder eine Gründung ohne Zwang und ohne positive Anreize ermöglichen. In beiden Fällen mögen aber gerade dadurch auch überhaupt erst die Voraussetzungen für die Bereitstellung von selektiven Anreizen geschaffen werden. Exkurs: Die Dynamik des Kollektivzusammenhalts Es ist zweckmäßig, darüber nachzudenken, ob und wie sich die einzelnen zuvor geschilderten Gründe des Kollektivzusammenhalts im Zeitablauf wandeln (können). A Von der Hingabe an ein Charisma zu selektiven Anreizen Man mag sich einen Zusammenschluss vorstellen, der durch die Hingabe einiger an die charismatische Figur eines Einzelnen entstanden ist und so anfangs zusammengehalten wird. Diese um eine charismatisch begabte Figur gescharte Gemeinde ist in der Regel am Anfang klein. In einer bestenfalls indifferenten Umwelt stellt sie einen Hort der Wärme dar. Selbst wenn sie sonst weiter nichts zu bieten hat, gibt sie dem einzelnen Mitglied das Gefühl des Erwähltseins, der persönlichen Berufung, der Belohnung durch den kennenden und anerkennenden Blick des charismatischen Führers, des Gurus, des Rabbi. Der Einzelne sucht und findet in der Mitgliedschaft im Kollektiv und in der Hingabe an und für die anderen sein „Selbst“, weniger aber - wenn überhaupt - die Befriedigung seines „self-interest“. Die vom Einzelnen erwartete Leistung mag groß oder klein sein. Der Einzelne wird auch einen hohen Beitrag dann nicht verweigern, wenn die emotionale Aufheizung in der Gemeinde, wenn die Intensität der Beziehung zwischen Führer und Geführten hinreichend groß ist. Wenigstens bis zu einem bestimmten Punkt wird dies mit einiger Wahrscheinlichkeit in Situationen der Krise, des Auf- und Umbruchs, der Bedrohung der Fall sein. Nimmt aber mit zunehmender Alltäglichkeit die affektive Temperatur innerhalb der Gemeinde ab, dann ist zu erwarten, dass auch die Bereitschaft zur und das Ausmaß der Hingabe sinken. Unter Berufung auf das Charisma lassen sich in gewöhnlichen Zeiten keine außergewöhnlichen Beitragsleistungen einfordern. Dies ist dann für den Zusammenhalt und den Wei- 186 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="204"?> terbestand der Gemeinde nicht weiter schlimm, wenn entsprechend der sinkenden Hingabebereitschaft der Gemeindemitglieder die Leistungsanforderungen an sie abnehmen. Und es ist ebenfalls nicht problematisch, solange die Gemeinde wenige Mitglieder hat. Wenn es sich nämlich um eine kleine bis mittlere Gruppe im Olsonschen Sinne handelt (mit möglicherweise ungleich ausgeprägten Präferenzen für das zu erstellende Kollektivgut und unterschiedlich hohen Beitragsmöglichkeiten), ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß, dass die Leistungsanforderungen die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitglieder übersteigen und die Bereitstellung des Kollektivgutes gefährdet ist. An diesem Punkt kommt das Element des kalkulierenden Selbstinteresses ins Spiel. Mag dessen Bedeutung anfangs vergleichsweise gering gewesen sein, so muss doch - eben wegen der Abkühlung der emotionalen Innentemperatur des Kollektivs - erwartet werden, dass die rationale Rückbesinnung auf die Eigeninteressen und die nüchterne Aufrechnung von individuellem Beitrag und Gegenleistung im Kollektiv einsetzen und an Kraft gewinnen. Max Weber hat mit guten Gründen dargelegt, warum das Charisma vor der nüchternen Banalität des Alltages keinen Bestand haben kann. Oben wurde schon darauf hingewiesen, wie sehr das Nazi-Regime bemüht war, die Volksgenossen ja nicht zur Ruhe kommen zu lassen, wie sehr es bestrebt war, in immer neuen Aufmärschen, Paraden, Festen, Gedenktagen und Erinnerungsritualen den Alltag erst garnicht anbrechen zu lassen. Es sieht also danach aus, als ließe sich auf die Dauer eine Gemeinde nur dann charismatisch zusammenhalten, wenn das Kollektiv dauernd in einem Krisenzustand gehalten wird. Dieser Krisenzustand darf einerseits den Zusammenschluss nicht dadurch überfordern, dass von den Jüngern mehr verlangt wird, als sie zu leisten fähig und bereit sind. Und er darf andererseits auch nicht unter jene Schwelle absinken, die das Extraordinäre vom Alltäglichen trennt. Gelingt beides nicht, so bricht das Kollektiv auseinander, weil die Jünger „Seiner“ nicht wert sind. Das Charisma lässt sich nicht mehr halten. An seine Stelle tritt das individuelle, eigensüchtige Kalkül der zu erwartenden Vor- und Nachteile der Mitgliedschaft. Jetzt bricht die üblicherweise bei der Bereitstellung von Kollektivgütern zu erwartende Problematik auf. Es steigt die Versuchung für den Einzelnen, zum Trittbrettfahrer zu werden. Was ehedem in schenkender Hingabe an ein Charisma bereitwillig geleistet wurde, wird nunmehr aus eigensüchtigem Kalkül heraus verweigert. Es wäre nicht uninteressant und keineswegs blasphemisch, die Texte des Neuen Testaments unter dem Aspekt der Dynamik des Kollektivzusammenhalts zu lesen. Nur als Andeutung Folgendes: Genau jene Jünger, die - einem simplen „Folge mir nach“ gehorchend - alles und alle im Stich gelassen haben, um einem charismatischen Rabbi zu folgen, fragen später, wer denn im kommenden Reich der Erste sein werde; sie fragen nach selektiven Anreizen. Der Rabbi schafft es noch, Kraft seines Charismas diese Fragen als unzulässig, ja als unsinnig abzutun: „Die Ersten werden die Letzten, die Letzten werden die Ersten sein.“ Später allerdings wird dann Petrus - wie die Apostelgeschichte berichtet - nicht mehr über dieses Charisma verfügen und jene, die - wie Ananias und Saphira - einen Teil ihres Vermögen zurückbehalten und nicht der Gemeinde überlassen, werden „tot umfallen“. Das Stichwort lautet: negative selektive Anreize. Die Hinterziehung der Kirchensteuer wird mit dem Tode bestraft. Exkurs: Die Dynamik des Kollektivzusammenhalts · 187 <?page no="205"?> Ist der Punkt erreicht, an dem die Hingabe versagt, so kann vorerst die Leistung des Einzelnen, sein Beitrag zum Kollektiv nur dadurch sichergestellt werden, dass die Kostenund/ oder Nutzenseite des individuellen Kalküls beeinflusst wird. Es müssen also selektive Gegenleistungen und Zwang eingeführt werden. Damit aber wird ein entscheidender Schritt weg von der Gemeinde hin zur Kirche, weg von der Bewegung hin zur Partei getan. Das rationale Kalkül, die nüchterne Rückbesinnung auf die eigene individuelle Interessenlage tritt an die Stelle des Engagements „auf Sein Wort hin“. Nicht nur, dass das Kalkül die Hingabe ersetzt; es ist auch mit guten Gründen zu vermuten, dass das Kalkül die Hingabe verdrängt. Ist nämlich ein Kollektiv, vertreten durch seinen Führer, erst einmal genötigt, durch Zwang und Belohnung, durch Repression und Bestechung, das Wohlverhalten seiner Mitglieder zu erkaufen oder zu erzwingen, dann hat es sich als eine Instanz erwiesen, die - wie alle anderen - eine Leistung nur gegen eine Gegenleistung haben kann. Das Kollektiv und/ oder sein Führer erweisen sich nun als völlig gewöhnlich. Sie existieren nicht mehr aus eigenem Recht und aus eigener Kraft, sondern weil andere, eben die Mitglieder, sie am Leben halten. Das Kollektiv und seine Führung existieren, weil seine Mitglieder dies so wollen und wünschen. Nicht aber sind einzelne Individuen Gefolgsleute eines charismatischen Führers, weil dieser „Er“ ist. Das Kollektiv erweist sich als von den Mitgliedern abhängig, nicht aber sind diese in ihrem Selbst auf eine Berufung angewiesen. Man wird diesen Wandel in seiner Bedeutung kaum überschätzen können. Hier setzt nämlich ein Vorgang ein, der einerseits die Desakralisierung des Zusammenschlusses, andererseits die Zunahme der rechnenden und berechnenden Einstellung des Einzelnen zum Kollektiv fördert. Und: Gerade weil die Hingabe abnimmt, muss auf selektive Anreize zurückgegriffen werden, die dem kalkulierenden Eigeninteresse entgegenkommen. Gerade weil aber dem eigensüchtigen Kalkül entgegengekommen wird, wird dieses aufgewertet, geradezu gesellschaftlich akzeptiert, und dies mit der Folge, dass die Hingabe an relativer Bedeutung verliert. B Von selektiven Anreizen zur Hingabe an ein Charisma Dies bedeutet nun nicht, dass die gläubige Hingabe an eine charismatische Herrschaft - ist sie erst einmal durch das individuelle Kosten-Nutzen-Kalkül verdrängt worden - hinfort ohne Bedeutung ist.Vielmehr legen historische Beispiele die Vermutung nahe, dass es für den Zusammenhalt eines Kollektivs in Zeiten der Krise - wenn also keine hinreichend hohen positiven selektiven Anreize geboten werden können und auch der Zwang sich unter Umständen als unzureichend erweist - wichtig ist, auf die Erinnerung an ein Gemeinschaftsgefühl zurückgreifen zu können, das über den engen Partikularinteressen der Einzelnen steht. Wo die Mitgliedschaft und die Mitarbeit in einem Kollektiv nicht (mehr) durch die Befriedigung des „self-interest“ sichergestellt werden können, mag die Erinnerung der Mitglieder hilfreich sein, dass das Kollektiv für ihr „self“ von Bedeutung war und latent ist. Dabei mag sich diese Erinnerung auf die tatsächliche Historie eines Zusammenschlusses oder aber auf eine fiktive, legendenhafte Vergangenheit beziehen. Die Pflege von Tradition und Geschichtsbewusstsein sind hier als Stichworte zu nennen. 188 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="206"?> Es ist also keineswegs überflüssig, dass am Anfang eines Zusammenschlusses die Hingabe an ein Charisma stand. Ohne sie dürfte es schwierig, wenn nicht überhaupt unmöglich sein, zu einem späteren Zeitpunkt an die aus der Hingabe geborene Opferbereitschaft der Mitglieder zu appellieren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein reiner Zweckverband, der nie anders als durch Zwang bzw. durch positive selektive Anreize zusammengehalten worden ist, dann, wenn diese „incentives“ nicht mehr reichen, bei seinen Mitgliedern ad hoc jene Hingabe wecken kann, die nötig wäre, um ihn vor dem Verfall zu retten. Die reine Dauer der Kollektivzugehörigkeit ist dann für die einzelnen Mitglieder wohl kein hinreichender Grund, sich aus Loyalität dem Kollektiv nicht zu versagen, wenn in der Vergangenheit nur die kühl-nüchterne Aufrechnung von individuellem Beitrag und selektiver Gegenleistung das Verhältnis von Kollektiv und Mitgliedern bestimmt haben. Allerdings mögen charismatisch begabte Herrscherfiguren dann für einen Zusammenschluss zur Gefahr werden, wenn sie, um ihren Führungsanspruch zu retten, die durchaus mögliche Alltäglichkeit stören und das Kollektiv in jene Krise führen, welche die Hingabe der Mitglieder am Leben hält bzw. neu entfacht. Dies dürfte ihnen um so eher gelingen, je weniger die Mitglieder zu sich selbst als Individuen gefunden haben und je mehr in ihnen die Erinnerung an die emotionale Wärme der Anfangsgemeinde und die Sehnsucht, im großen Ganzen aufzugehen, lebendig sind. Sie werden dann nur zu leicht bereit sein, den Alltag, sein Kalkül, seine kühle Nüchternheit und den isolierenden Eigennutz zugunsten heroischer Zeiten, also der Krise, aufs Spiel zu setzen und selbst noch im Despoten den liebevollen Vater zu verehren. So wichtig es für ein Kollektiv ist, im Notfall auf die Hingabe und Opferbereitschaft seiner Mitglieder zurückgreifen zu können, so wichtig ist es demnach auch, dass die Mitglieder sich nicht zu leicht von der eigennützigen Befriedigung ihrer jeweiligen individuellen „self-interests“ abbringen lassen. Einerseits ist also zu wünschen, dass der berechnende Eigennutz die Bereitschaft zur Hingabe an eine gegebenenfalls für den Weiterbestand des Kollektivs notwendige charismatische Herrschaft nicht völlig abgetötet hat.Andererseits ist aber auch zu wünschen, dass die Distanzierung von charismatischen Herrschaftsfiguren soweit gelungen ist und dass sich das analytische Kalkül soweit etabliert hat, dass der Alltag realistisch gestaltet werden kann und nicht tatsächlich oder in der Phantasie laufend Ausnahmesituationen geschaffen werden müssen, die einer ansonsten leerlaufenden Opferbereitschaft einen Sinn geben sollen. Dieser Zustand, in dem hingabefähige, aber nicht unterwerfungssüchtige, ihres Wertes bewusste, aber nicht in sich verschlossene Individuen im Kollektiv interagieren, ist labil. Denn einerseits tendieren die selektiven Anreize dazu, die Kollektivmitglieder zu selbstbezogen-rechenhaftem Verhalten gegenüber ihrem Zusammenschluss anzuhalten, also das Kollektiv und seine Symbolfiguren zu entzaubern und so die Hingabe an eine charismatische Herrschaft zunehmend schwieriger zu machen. Andererseits können jene Kräfte, die auf eine Banalisierung der Kollektivmitgliedschaft hinwirken, unter den oben genannten Bedingungen durch die Revitalisierung des Charismas kompensiert werden. Die Gefahr, dass die latente Bereitschaft zur Hingabe an ein Charisma durch die Praxis des eigennützig-rationalen Kalküls gleichsam aufgefressen wird, scheint in liberaldemokratischen Staatswesen besonders groß zu sein. So ist es ein Kennzeichen liberal- Exkurs: Die Dynamik des Kollektivzusammenhalts · 189 <?page no="207"?> individualistischen Staats- und Kollektivverständnisses, dass der Heroismus und die selbstvergessene Hingabe des Einzelnen an ihm übergeordnete Charismen als dubios und gefährlich angesehen werden. Es ist auch ein Kennzeichen dieses Kollektivverständnisses, dass Heroismus und Hingabe des Einzelnen dann als inhumane, weil den durchschnittlichen Menschen überfordernde Erwartung angesehen werden, wenn sie als Norm aufgestellt werden. C Lebensphasen von Kollektiven Es ist nicht ohne spekulativen Reiz, zwischen Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter eines Kollektivs zu unterscheiden. In der Kindheit besteht ein Zusammenschluss durch die Hingabe seiner Mitglieder an ein nicht weiter in Frage gestelltes Charisma. Auf diese Weise kann ein Kollektiv nur in der Hoch-Zeit des über den Alltag hinausragenden Neubeginns Bestand haben. Irgendwann holt der Alltag das Kollektiv ein, und das Charisma verliert an Bindungskraft. Die Jugend eines Kollektivs ist dadurch gekennzeichnet, dass die einzelnen Individuen durch vornehmlich positive und/ oder negative selektive Anreize zu einem Verhalten gebracht werden, das die Bereitstellung eines Kollektivguts ermöglicht, welches im Extrem alle wünschen, das aber auf freiwilliger Basis nicht (mehr) bereitgestellt würde. Gleichzeitig ist in der „Jugend“ die Erinnerung an die vergangene Hingabe an ein Charisma noch sehr lebendig. Einerseits erfahren und lernen die Einzelnen im Umgang mit den selektiven Anreizen, dass sie als Individuen mit eigenen Rechten und Ansprüchen Mitglieder des Zusammenschlusses sind. Andererseits trägt die Erinnerung an den gemeinschaftlichen Rausch im Dienste eines überindividuell gültigen Charismas dazu bei, dass sich die Einzelnen wohl als Individuen im Kollektiv, aber eben als Individuen im Kollektiv erleben. Die „Jugend“ wäre demnach gekennzeichnet durch ein geradezu pubertäres Hin- und Hergerissensein zwischen individueller Selbstbehauptung und kollektivem Gemeinschaftsgefühl. Für diese Periode sind heftige Ausschläge nach der einen wie nach der anderen Richtung charakteristisch: Einerseits ein rücksichtsloser Eigennutz, der durch drastischen Zwang in Grenzen gehalten und durch weitreichende Anreize genutzt und kanalisiert werden soll; andererseits die leicht aus der Latenz aufweckbare Bereitschaft, charismatischen Figuren zu folgen, wo auch immer sie den Zusammenschluss hinführen mögen. So betrachtet, erscheinen die Entwicklungen vieler erst jüngst in eine eigene Staatlichkeit entlassener Kolonien und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion weder überraschend noch schockierend. Dabei ist für dieses jugendliche Entwicklungsstadium Folgendes kennzeichnend: Die Ausübung charismatischer Herrschaft und die Formen der Hingabe sind wenig verfestigt; sie müssen und können jeweils neu erfunden werden. Ferner weisen auch die Art sowie das Ausmaß der selektiven Anreize und der individuellen Ansprüche - mangels eingespielter Erfahrung - eine große Variationsbreite auf. Dies alles gibt der Politik des jugendlichen Kollektivs eine gewisse Unstetigkeit. Sie wird noch verstärkt durch die schon erwähnte Leichtigkeit, mit der selbst bei kleineren Krisen das kühle Verhältnis 190 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="208"?> des Austauschs selektiver Anreize gegen Beiträge zum Kollektiv durch das emotional aufgeheizte Klima selbstvergessener Hingabe ersetzt wird. In einem „erwachsenen“ Kollektiv ist die Erinnerung an das Charisma des Beginns, und sei sie latent, noch so lebendig, dass in Krisenzeiten die Teilnehmer zu einer Hingabe fähig sind, die über das hinausgeht, was das eigennützige Kalkül ihnen nahelegen würde. Hier ist die rechenhaft-selbstsüchtige Einstellung der Kollektivmitglieder aber auch so ausgeprägt, dass sie im Alltag nicht zu Opfern des Kollektivs werden.Vielmehr wirken sie darauf hin, dass das Kollektiv zum Instrument der Befriedigung ihrer „selfinterests“ wird. Auch ist in einem „erwachsenen“ Kollektiv die Treue zu den überkommenen Umgangsformen und Institutionen des Kollektivs wenigstens so stark, dass mindestens für eine gewisse Zeit und in einem bestimmten Ausmaß selektive Anreize fehlen können und das Kollektiv trotzdem Bestand hat, und zwar auch ohne dass die Begeisterung für ein forderndes Charisma entfacht wird. Ferner ist für diese Lebensphase des Erwachsenseins kennzeichnend, dass auch die aus Tradition respektierten Formen und Institutionen den individuellen Eigennutz im Kollektiv in seiner Durchsetzung an bestimmte Formen und Grenzen binden. Gleichfalls wird aber auch durch diese Formen und Institutionen das Charisma in den Rahmen dessen eingebunden, was noch zulässig ist; seine Gefährlichkeit wird also gemindert. Auf diese Weise kann auch der Rückfall in pubertäre Zustände geist- und grenzenloser Begeisterung der Massen verhindert oder doch zumindest erschwert werden. Der Zustand des Erwachsenseins wäre somit ein diffiziles Gleichgewicht zwischen einander ergänzenden, sich aber gleichzeitig auch schwächenden Kohäsionselementen. Damit zeichnet sich das Bild „alternder“ Kollektive ab. Hier fördert der Rückgriff auf selektive Anreize den rechenhaften Eigennutz, der seinerseits wiederum den weiteren Regress auf „selective incentives“ nahelegt. Die verpflichtende Erinnerung an ein Charisma verblasst und wird schwächer. Dies mit der Folge, dass die aus dem Glauben an den Eigenwert des Kollektivs geborene Loyalität der Mitglieder schwindet und ein Thema für feierliche Sonntagsreden und zynische Partywitze wird. An ihre Stelle tritt der Respekt vor der Tradition. Er hält die Durchsetzung partikularer Interessen im Kollektiv bestenfalls dadurch in Grenzen, dass diese Durchsetzung an bestimmte Formen gebunden ist. Dies mag so lange ausreichend sein, wie die durch die Änderungen der Umweltbedingungen für das Überleben des Kollektivs nötigen Aktionen und Reaktionen der Mitglieder im Kollektiv nicht über das hinausgehen, was innerhalb der traditional akzeptierten Formen und aufgrund der individuellen Eigeninteressen möglich ist. Ist die umweltbedingte Herausforderung allerdings größer, dann läuft die Verfolgung des individuellen Eigennutzes auf ein allgemeines „Rette sich, wer kann“ hinaus, und der Respekt vor den alttradierten Formen und Ordnungen wird zum Mittel der Selbstbeschwichtigung. Oder aber der Respekt vor der Tradition verdrängt selbst den individuellen Eigennutz. Das Festhalten an den überkommenen Formen und Institutionen erlaubt nur noch, mit Stil unterzugehen. Soll dies vermieden werden, dann ist eine Balance zwischen individualistischem Eigennutz, der Bereitschaft und Fähigkeit zur Hingabe an ein Charisma und dem Respekt vor der Tradition nötig.Wenn in einem Kollektiv diese Elemente vereint sind, dann besteht die Aussicht, dass jene Nüchternheit erhalten bleibt, ohne die das Gemeinschaftsgefühl Exkurs: Die Dynamik des Kollektivzusammenhalts · 191 <?page no="209"?> zu jedem Missbrauch einlädt. Es besteht auch die Aussicht, dass jene Begeisterung geweckt werden kann, ohne die der Eigennutz eher kollektivzerstörend als kollektiverhaltend ist. Es besteht ferner die Aussicht, dass der Respekt vor dem Althergebrachten so groß ist, dass ein gewisses Maß an Kontinuität gesichert bleibt. Und es besteht schließlich die Hoffnung, dass daneben auch jene nüchterne Rationalität und jene Begeisterung lebendig sind, ohne die die Tradition zum Ritual der Sklerose wird. 3 Die optimale Kollektivgröße 3.1 Theorie der Clubs Bislang ging es darum, ob und warum Individuen sich zur Bereitstellung und Finanzierung von Kollektivgütern bereitfinden. Neben dieser ist eine weitere Frage für die Konstituierung von Zusammenschlüssen bedeutsam: Wovon hängt es ab, ob Einzelne eine Teilhabe an Kollektiven mit vielen oder aber wenigen Mitgliedern vorziehen? Die Beantwortung dieser Frage ist für die Entwicklung von Kollektiven in doppelter Hinsicht von Bedeutung: - Von ihr hängt es ab, ob Einzelne in schon existierende Zusammenschlüsse eintreten oder nicht. - Von ihr hängt es auch ab, ob die Mitglieder eines Kollektivs für die Erweiterung des Zusammenschlusses optieren oder ob sie den Status quo halten, vielleicht gar die Mitgliederzahl senken wollen. Auch bei der Beantwortung dieser Frage ist auf das Wohlfahrtskalkül des einzelnen Individuums abzustellen; es ist also zu fragen, welche Überlegungen ein Einzelner anstellt, um über die Größe des Kollektivs zu entscheiden. Die Rückbesinnung auf seine eigene Wohlfahrtssituation konkretisiert sich darin, wie der Nutzen, den er aus dem im Kollektiv bereitgestellten Gut zieht, und die Kosten, die er zu seiner Finanzierung tragen muss, in Abhängigkeit von der Zahl der Mitglieder variieren.Anstreben wird er jene Kollektivgröße, bei welcher die Differenz zwischen individuellem Nutzen und individuellem Kostenbeitrag maximal ist. Er wird also jenen Punkt als optimal ansehen, an dem die individuellen Grenzkosten gleich dem individuellen Grenznutzen sind. In Abbildung 23 ist das Wohlfahrtskalkül eines Einzelnen in einer bestimmten Situation wiedergegeben. X 0 stellt die in seinen Augen optimale Mitgliederzahl dar. X 1 ist die Zahl der Mitglieder, unterhalb welcher der Nettonutzen dieses Individuums negativ würde. Dies geschähe im vorliegenden Fall auch, wenn die Mitgliederzahl über X 2 ansteigen würde. Die Lage von X 0 , X 1 und X 2 hängen nun vom Verlauf der individuellen Nutzen und der individuellen Kosten in Abhängigkeit von der Mitgliederzahl ab.Wovon aber sind diese Kosten- und Nutzenverläufe bestimmt? Einige Beispiele sollen Hinweise auf denkbare, im Einzelfall zu identifizierende Einflüsse geben. In Abbildung 24 sind drei mögliche Nutzenverläufe dargestellt. 192 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="210"?> Die optimale Kollektivgröße · 193 Abbildung 23 Abbildung 24 <?page no="211"?> N 1 : Der Nutzen, den ein Einzelner aus einem Kollektivgut zieht, wird weder positiv noch negativ durch die Zahl jener beeinflusst, die an diesem Nutzen partizipieren. Saubere Luft, ein blauer Himmel als Ergebnis einer aktiven Politik des Umweltschutzes sind hier als Beispiele zu nennen. N 2 : Mit zunehmender Zahl der Mitglieder steigt der Nutzen, den ein Individuum aus dem Kollektiv zu ziehen vermag. Eine Gewerkschaft, deren Erfolg von ihrer Durchsetzungskraft und diese wiederum auch von der Mitgliederzahl abhängt, mag als Beispiel dienen. N 3 : Das Kollektivgut, welches ein Rotary Club seinen Mitgliedern bietet, ist u. a. Prestige. Dieses Prestige ist an die Exklusivität des Clubs gebunden, was bedeutet, dass nach einem Nutzenmaximum mit steigender Mitgliederzahl der Nutzen rasch absinkt und - da unser Individuum ein Snob ist - schnell negativ wird.Wo derart viele Mitglieder sind, ist kein Ort für ihn. Entsprechend sinkt die Nutzenkurve unter die Abszisse. In Abbildung 25 sind einige Kostenverläufe dargestellt. Auch hier können wir uns mit kurzen Hinweisen begnügen. K 1 : Der Kostenbeitrag, den ein Einzelner zur Finanzierung des Kollektivgutes zu entrichten hat, variiert nicht als Funktion der Mitgliederzahl. K 2 : Da sich die Gesamtkosten auf immer mehr Zahler verteilen, sinkt mit zunehmender Mitgliederzahl die individuelle Belastung des Einzelnen. K 3 : Das kalkulierende Individuum gehört in diesem Fall zu der Gruppe X der gleichmäßig an den Kosten partizipierenden Mitglieder, nicht aber zu den übrigen Teilnehmern, von denen keiner einen Beitrag leistet.Wohl hätte unser Individuum von seiner Kostenbelastung her ein Interesse daran, die Gruppe X der zahlenden Mitglieder zu erhöhen, eine Steigerung der Mitgliederzahl schlechthin ist ihm aber gleichgültig. 194 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns Abbildung 25 <?page no="212"?> K 4 : Die Kurve bildet die individuelle Belastung eines individuellen Mitgliedes in einem Kollektiv ab, das Sprungkosten aufweist, dessen Gesamtkosten sich also mit steigender Mitgliederzahl erhöhen, dies aber unstetig tun. Bringt man Kosten und Nutzen gleichzeitig in die Betrachtung ein, so sind vielfältige Kombinationen möglich. Die Abbildungen 26a und 26b zeigen zwei davon: In Abbildung 26a haben wir es mit einem inklusiven Zusammenschluss zu tun. Aus der Sicht des kalkulierenden Individuums ist hier die höchstmögliche auch die bestmögliche Mitgliederzahl. In Abbildung 26b liegt die optimale Mitgliederzahl verhältnismäßig niedrig. Wir sprechen von einem exklusiven Zusammenschluss. Es mag also ein Einzelner verschiedene Zusammenschlüsse, in denen er Mitglied ist bzw. Mitglied werden könnte, mit Blick auf ihre optimale Mitgliederzahl recht unterschiedlich einschätzen. So mag er - als Beispiel - Mitglied in einer großen Gewerkschaft und in einem kleinen örtlichen Rotary Club sein wollen. Ein weiterer Aspekt ist wichtig.Wir haben bislang stillschweigend unterstellt, dass der Einzelne ein Kalkül über die aus seiner Sicht optimale Zahl der Kollektivmitglieder anstellt und dass er dabei von der Prämisse ausgeht, die technische Vorkehrung zur Bereitstellung des Kollektivgutes sei gegeben. Nun mag man sich aber einen Verein vorstellen, dessen Zweck die Bereitstellung einer Schwimmanlage für die Mitglieder ist. Bislang gingen wir davon aus, dass die Größe der Anlage feststeht und es lediglich um die Frage geht, wieviele Individuen dort ihr Vergnügen suchen und zur Finanzierung beitragen. Man kann sich aber auch vorstellen, dass noch offen ist, ob man ein Schwimmbecken von 25 oder 50 Meter Länge bauen soll. Jetzt ist nicht mehr nur darüber zu befinden, ob man bei einer gegebenen Anlage viele oder wenige Mitglieder in den Verein aufnehmen soll. Vielmehr ist jetzt zu fragen, ob man sich für eine große oder eine kleine Anlage entscheiden soll und welche Mitgliederzahl optimal ist. Abbildung 27 zeigt die individuellen Kosten- und Nutzenverläufe für eine kleine Anlage 1 und für eine große Anlage 2. Das Individuum wird sich für jene Anlage entscheiden, die ihm den größten Nettonutzen einbringt, also hier für die große Anlage 2 mit einer Mitgliederzahl Y. Die optimale Kollektivgröße · 195 Abbildungen 26a, 26b <?page no="213"?> Einige Varianten sind möglich und nicht ohne Interesse. So kann die Situation vorliegen, dass der Schwimmverein wohl niemanden zwingen kann einzutreten, ihm aber zur Auflage gemacht worden ist, jeden aufzunehmen, der dies will. Nimmt man nun an, dass mit Z Mitgliedern zu rechnen ist, so liegt es nicht im Interesse des Einzelnen, für das kleine Becken mit überoptimaler Auslastung zu optieren.Vielmehr wird er sich für das große Becken aussprechen, obschon keine Aussicht besteht, dies optimal auszulasten. Noch ein Punkt ist zu beachten: Es wurde bislang unterstellt, dass das Kollektiv derer, die ein Kollektivgut finanzieren, gleich groß ist, wie das Kollektiv jener, die es nutzen. Doch ist es auch möglich, dass die Finanzierung des Kollektivgutes in einem Kollektiv mit großer Mitgliederzahl erfolgt, die Nutzung dieses Gutes aber in kleinen Subkollektiven innerhalb des großen Kollektivs erfolgt. Ein Beispiel: In einem großen Kollektiv wird die Planung,Wartung usw. von einer Vielzahl von Schwimmbecken finanziert, die Nutzung dieser Schwimmbecken erfolgt aber in vielen kleineren Clubs. Entscheidend dabei ist also, dass der Einzelne nur dann in einem kleinen Nutzenkollektiv seine Wohlfahrt erhöhen kann, wenn er sich in einem großen Kostenkollektiv an der Finanzierung des Gutes beteiligt. So wird er nun seinen individuellen Kostenverlauf im großen Kollektiv mit seinem individuellen Nutzenverlauf in einem kleinen Kollektiv vergleichen, wie sie sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Mitgliederzahl entwickeln. 3.2 Wer hat wie über die Clubgröße zu entscheiden? Auch die Beantwortung dieser Frage gründet auf individuellen Präferenzvorstellungen. Es ist - wie auch beim Verfassungsproblem - zu fragen, wie eine Vielzahl in ihrem Ergebnis unterschiedlicher Kalküle in der Praxis unter einen Hut gebracht werden können. Konkreter: Wenn zwei Individuen A und B über die aus ihrer jeweiligen Sicht optimale Mitgliederzahl divergierende Ansichten haben, hat sich dann A dem B anzupassen oder umgekehrt? Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu unterscheiden, ob A und/ oder B Mitglied des betreffenden Zusammenschlusses sind oder nicht. Verschiedene Fälle sind denkbar: 196 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns Abbildung 27 <?page no="214"?> - A ist Mitglied eines Kollektivs, das in seinen Augen zu klein ist; B ist nicht Mitglied und findet, dass die Mitgliederzahl ohnehin zu groß ist. Darf A den B zur Mitgliedschaft zwingen? Die Antwort lautet: Nein! Mit folgender Begründung: Die Zwangsmitgliedschaft des B liefe auf die Instrumentalisierung des B durch A hinaus. A würde B also zum Tragen von externen Kosten zwingen. Dies läuft aber dem individualistischen Engagement zuwider, wonach B von A nicht zum Tragen externer Kosten gezwungen werden darf, also auch berechtigt ist, die Produktion von externen Nutzen zugunsten von A abzulehnen. Wenn B sich allerdings gegenüber A vertraglich verpflichtet hat, in das Kollektiv einzutreten, wenn A ihn rufen wird, so ist A durchaus befugt, B zum Eintritt zu zwingen. Wir haben es hier also wiederum mit dem Problem der Eigentumsrechte und ihrer Verteilung zu tun. - A ist Mitglied in einem seiner Ansicht nach optimal großen Kollektiv. B findet, dass in diesem Kollektiv die optimale Mitgliederzahl noch nicht erreicht und seine Mitgliedschaft eine gute Sache wäre. Darf B sich dem A aufzwingen? Auch hier lautet die Antwort: Nein! Die Begründung ist analog zu der vorhergehenden. B würde durch seine gegen den Willen von A erfolgte Mitgliedschaft diesen zu Wohlfahrtseinbußen im Dienste der eigenen Wohlfahrtssteigerung zwingen, ihn also instrumentalisieren. Auch hier ist auf die Verteilung der Eigentumsrechte zu verweisen: Falls A sich gegenüber B verpflichtet hat, ihn auf Wunsch aufzunehmen, hat B ein Anrecht auf seinen Eintritt in das Kollektiv. Die beiden hier skizzierten Fälle finden sich denn auch mühelos in der Praxis wieder. So sind Zwangsrekrutierungen und Zwangsbekehrungen aller Art durch nichtstaatliche bzw. durch nicht mit staatlichen Hoheitsaufgaben betraute nichtstaatliche Kollektive in der Regel unzulässig. Nicht zulässig ist auch, dass jemand gegen den Willen der Mitglieder seinen Zutritt zu einem Kollektiv erzwingt. Es gilt demnach, dass A - wenn er in seinem Kollektiv mehr Mitglieder haben will - dieses öffnen und werbend anbieten kann, zu mehr aber nicht befugt ist. Es gilt auch, dass B - will er in einem Kollektiv Mitglied werden - sich bewerben, nicht aber aufdrängen darf. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, um die Bedeutung dieser Aussage für das Flüchtlingsproblem darzutun.Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass jene, die als Flüchtling in ein Land wollen, dies nicht unbedingt mit Blick auf die so erreichbare optimale Kollektivgröße tun. Auch denken jene, die Flüchtlinge abwehren, nicht notwendigerweise an die optimale Mitgliederzahl. Die „Das Boot ist voll“-Rhetorik kann, muss aber nicht ehrlich gemeint sein. Hinter ihr können sich andere - vielleicht uneingestandene und uneinstehbare Gründe verbergen. Wir sind bislang davon ausgegangen, dass von den Individuen, die unterschiedliche Ansichten über die optimale Kollektivgröße haben, das eine Mitglied des Kollektivs ist, das andere aber nicht. Man mag sich aber auch vorstellen, dass die einander gegenüberstehenden Individuen Mitglieder des Zusammenschlusses sind, um dessen optimale Größe es geht. Es lassen sich verschiedene Fälle unterscheiden; wir sprechen deren zwei an. - A und B, beide Mitglieder eines Kollektivs, haben über die optimale Mitgliederzahl unterschiedliche Ansichten. A möchte den Zusammenschluss für zusätzliche Mitglieder öffnen, B jedoch nicht. Nun haben sich A und B nach den Regeln der Wil- Die optimale Kollektivgröße · 197 <?page no="215"?> lensbildung im Kollektiv entweder für oder gegen die Aufnahme zusätzlicher Mitglieder zu entscheiden. Sind diese Regeln - siehe die obigen Darlegungen zur Verfassungsfrage - in den Augen von A und B legitimierend, so kann - wie auch immer das Entscheidungsergebnis sein wird - weder A noch B sich über eine Instrumentalisierung durch seinen Widerpart beklagen, wenn gegen sein Votum neue Mitglieder aufgenommen bzw. nicht aufgenommen werden. - Ähnlich ist die Lage, wenn die Kollektivmitglieder A und B dahingehend differieren, dass A weniger Mitglieder wünscht, B aber die Kollektivgröße als optimal ansieht. Auch hier ist das Entscheidungsergebnis für den bindend, gegen dessen Votum es zustande gekommen ist. Und dies auch dann, wenn er derjenige ist, der zur Aufgabe der Mitgliedschaft gezwungen wird. Hier zeigt sich allerdings mit großer Deutlichkeit, dass die Frage nach der optimalen Kollektivgröße mit der Frage nach der optimalen Kollektivzusammensetzung in engem Zusammenhang stehen kann. So mag in der Tat jemand für die Senkung der Mitgliederzahl und entschieden gegen seinen Ausschluss sein. Gleichfalls mag jemand für die Erhöhung der Mitgliederzahl und gegen die Aufnahme einer bestimmten Art von Beitrittswilligen - Türken, Frauen, Minderjährige, Homosexuelle, Nichtgetaufte, HIV-Positive - sein. Analytisch müssen beide Aspekte - der quantitative und der qualitative - der Kollektivmitgliedschaft auseinandergehalten werden. In praxi kann es jedoch unmöglich sein, ihnen voneinander getrennt Rechnung zu tragen. Dies deshalb, weil aus der Sicht eines Einzelnen die Kosten- und Nutzenkurven in Abhängigkeit von der Zahl der Mitglieder einen je nach Zusammensetzung unterschiedlichen Verlauf haben können. Das unappetitliche Beispiel eines Rassisten in Abbildung 28 mag dies verdeutlichen. Die Kurve K gibt die Kosten wieder, die der Rassist in Abhängigkeit von der Mitgliederzahl zu tragen hat. Die Kurve N W zeigt, wie sein Nutzen als Funktion der Mitglie- 198 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns Abbildung 28 <?page no="216"?> derzahl variiert, wenn der Club „For Whites Only“ ist. Die Kurve N G zeigt seinen Nutzenverlauf in einem gemischtrassigen Club. Der Rassist wird in einem nur für Weiße offenen Club Y als die optimale Mitgliederzahl ansehen. Soll der Club aber auch für Nichtweiße geöffnet werden, so ist es aus der Sicht des Rassisten optimal, den Club aufzulösen oder aber ihn zu verlassen. Wir sagten oben, dass der verfassungsgemäß zustandegekommene Entscheid, die Mitgliederzahl zu senken, auch für jenes Mitglied legitimerweise bindend ist, das ausgeschlossen wird. Dies aber eben nur dann, wenn das Individuum, wie alle anderen auch, der Entscheidungsregel vorher zugestimmt hat. Allerdings mag ein Einzelner, ehe er seine Zustimmung zur Verfassung gibt, bedenken, dass ein später immerhin möglicher Ausschluss für ihn existenzbedrohend sein kann, also nur dann in den Verfassungskonsens einstimmen wird, wenn diese Art von Entscheidung ausgeschlossen oder doch erschwert wird. Das Stichwort lautet hier: die Festschreibung von Grundrechten in der Verfassung. Er wird diese Festschreibung in diesem Falle dann zur Bedingung für seine Zustimmung zur Verfassung machen, wenn er die mit dem Ausschluss verbundenen Wohlfahrtseinbußen höher einschätzt als die Vorteile, die damit verbunden sind, dass ein ihm nichtpassendes und/ oder überzähliges Mitglied ausgeschlossen wird. Jedoch wird er, wenn die Mitgliedschaft für ihn nicht existenzwichtig ist und/ oder die Mitgliedschaft unliebsamer Zeitgenossen ihm sehr unangenehm ist, dafür optieren, dass die Verfassung den Ausschluss nicht erschwert. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, dass die Verfassungen liberaler Demokratien die zwangsweise Ausbürgerung nicht vorsehen, hingegen die Regeln eines Bridge-Clubs dem Ausschluss eines einzelnen Mitgliedes keine großen Hemmnisse entgegenstellen. Literatur zu Kapitel V und zu den Exkursen Andreoni, J.: Privately Produced Public Goods in a Large Economy: The Limits of Altruism, Journal of Public Economics 35, 1988. Axelrod, R. M.: The Complexity of Cooperation: Agent-Based Models of Competition and Collaboration, Princeton 1997. Axelrod, R. M.: The Evolution of Cooperation, New York 1984. Berglas, E.: On the Theory of Clubs,American Economic Review 66, 1976. Bradley, R. T.: Charisma and Social Structure, New York 1987. Buchanan, J. 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Wo ist im Zusammenhang mit den negativen selektiven Anreizen die Rolle des Staates zu sehen? 7. Erläutern Sie die Grundidee charismatischer und traditional begründeter Kollektiventscheidungen. 8. Skizzieren Sie das Spannungsverhältnis zwischen Hingabe an ein Charisma und selektiven Anreizen im jugendlichen und erwachsenen Kollektiv. 9. Zeigen Sie die „Lebensphasen“ von Kollektiven auf. 10. Was bestimmt gemäß der Theorie der Clubs die optimale Kollektivgröße (vgl. Abbildung 23), und wo liegt diese Größe? 11. Erläutern Sie die Verläufe der Nutzenkurven N 1 und N 3 in Abbildung 24 sowie der Kostenkurve K 4 in Abbildung 25. 12. Was versteht man unter einem inklusiven, was unter einen exklusiven Zusammenschluss? 200 · Kapitel V: Die Lokik des kollektiven Handelns <?page no="218"?> Kapitel VI Die indirekte Demokratie 1 Prinzipielles Verständnis .... Wir sind in unseren Überlegungen vom Fall einer direkten Demokratie ausgegangen: Die Mitglieder des Kollektivs sollten unmittelbar über die Befriedigung ihrer Bedürfnisse entscheiden. Im Folgenden wenden wir uns der indirekten, also der repräsentativen Demokratie zu. Hier entscheiden nicht unmittelbar jene, die von den Entscheidungskonsequenzen betroffen sind, vielmehr entscheiden andere in ihrem Namen und auf ihre Rechnung. 1.1 Von der direkten zur indirekten Demokratie ... Neben die mit jeder Entscheidungsfindung im Kollektiv verbundenen Probleme tritt nun die Frage: Wie kann es ermöglicht werden, dass jene Individuen (im Weiteren: die Politiker), welche zwischen den Bedürfnissen der Kollektivmitglieder und den zu ihrer Befriedigung notwendigen Entscheidungen stehen, sich so verhalten, dass diese Entscheidungen an den Bedürfnissen der Kollektivmitglieder, nicht aber an den Wünschen der Politiker ausgerichtet sind? Es ist demnach zu fragen, wie eine indirekte Demokratie eingerichtet sein muss, damit die politischen Unternehmer nur in vikarischer Funktion, als Stellvertreter der Mitglieder des Zusammenschlusses, agieren, sie also nicht nur im Namen und auf Rechnung des Souveräns, sondern auch in dessen Sinn entscheiden. Dies wäre dann kein Problem, wenn die Politiker keine eigenen Ziele verfolgten, keine Vorstellungen und Bedürfnisse hätten, die von jenen ihrer Auftraggeber im Zweifel völlig verschieden sind. Es wäre dann kein Problem, wenn die Politiker gleichsam willen- und initiativlose Instrumente in den Händen des Souveräns wären, wenn sie also nur Aufträge ausführten: Das Wort „Exekutive“ ist hier mit dem französischen „exécuter“, „ausführen“ in Verbindung zu setzen. Wie wir weiter unten sehen werden, ist es weder möglich noch wünschenswert, dass die Politiker in der indirekten Demokratie willen- und initiativlose Ausführungsinstrumente sind. Es ist deshalb zu fragen, unter welchen Umständen, in welchem Ausmaß und in welchen Formen die Freiräume der Politiker aus der Sicht des Souveräns, also der Bürger, zweckmäßig und nützlich sind. Wir haben es demnach hier mit dem Principal-Agent Problem zu tun. Dies insofern, als die den Bürgern aus dem Übergang von der direkten zur indirekten Demokratie entstehenden Wohlfahrtsgewinne größer sein müssen als die Wohlfahrtsverluste, die den Bürgern aus der Gefahr entstehen, dass die Politiker ihr Handeln nicht an den Vorstellungen und Zielen der Bürger, sondern an ihren eigenen Vorstellungen und Zielen ausrichten. 201 <?page no="219"?> Die Wohlfahrtsgewinne, die mit dem Übergang von der direkten zur indirekten Demokratie für die Bürger verbunden sind, sind vielfältig; als wichtigste sind zu nennen: - Mit der Zahl der Kollektivmitglieder steigen die Kosten der Entscheidungsfindung. In einem kleinen Kollektiv ist es eher möglich, in einem interaktiven Prozess Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen. In großen Kollektiven würde ein solcher interaktiver Prozess schnell so schwerfällig, langwierig und im letzten teuer sein, dass kaum ein anderer Ausweg bestünde, als eher zufällig entstandene Entscheidungsvorlagen per Akklamation zu verabschieden. Mit steigender Kollektivmitgliederzahl birgt die direkte Demokratie also die Gefahr von Wohlfahrtsverlusten. Diese können darin bestehen, dass der Entscheidungsprozess für die Einzelnen sehr lang und teuer, im Extrem so lang und so teuer ist, dass überhaupt nicht mehr entschieden werden kann, also auch die Erstellung der entsprechenden Kollektivgüter unterbleibt. Oder aber die Wohlfahrtsverluste bestehen darin, dass die per Akklamation eher zufällig zustandegekommenen Kollektiventscheidungen an den Vorstellungen und Zielen der Einzelnen vorbeigehen. Im Zweifel werden dann die Ziele und Vorstellungen aller Kollektivmitglieder verfehlt. - Mit der Heterogenität der Kollektivmitglieder steigt in einer direkten Demokratie die Schwierigkeit der Kommunikation. Mögen die hiermit verbundenen Kosten in kleinen Kollektiven noch in relativ engen Grenzen bleiben, so erreichen sie in großen Kollektiven leicht prohibitive Höhen. Die indirekte Demokratie bietet in dieser Situation insofern einen Ausweg, als sie die Voraussetzung dafür schafft, dass die vielfältigen Vorstellungen der Kollektivmitglieder in einer beschränkten Anzahl von Programmentwürfen gebündelt werden. Nur diese stehen sich gegenüber, wenn konkret über diese oder jene politische Maßnahme entschieden wird. Parteien und Politiker stehen in einer indirekten Demokratie demnach typischerweise in einem doppelten Spannungsverhältnis: Einerseits sind sie „in Berlin“ mit einer beschränkten Anzahl gegnerischer Politikentwürfe konfrontiert, andererseits müssen sie „draußen im Lande“ die vielfältig-divergierenden Vorstellungen der Parteibasis auf einen Nenner bringen. „In Berlin“ sollen sie vertreten, was „draußen im Lande“ gewollt wird; „draußen im Lande“ müssen sie verkaufen, was „in Berlin“ erreicht werden konnte und zukünftig erreicht werden soll. Die indirekte Demokratie ist demnach eine Veranstaltung, in welcher einerseits im kleinen Kreis „derer in Berlin“ die Heterogenität der in Politikentwürfen gebündelten Vorstellungen der Bürger eher bewältigt werden kann, in welcher aber andererseits auch die Heterogenität der Wählerpräferenzen gleichsam dezentral in weniger heterogenen Parteien bewältigt werden kann. - Mit der Komplexität der Entscheidungsgegenstände steigen die Kosten der Entscheidungsvorbereitung und der Entscheidungsfindung. In einer direkten Demokratie, in der jeder Bürger unmittelbar an der Entscheidungsfindung beteiligt ist, bedeutet dies, dass diese Kosten schnell jenen Nutzen übersteigen können, den er aus seinem informierten und engagierten Entscheidungsbeitrag erwarten kann. Die Folge kann sein, dass Entscheidungen dann entweder überhaupt nicht oder aber von wenig oder uninformierten und engagierten Kollektivmitgliedern getrof- 202 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="220"?> fen werden. Der Übergang zur indirekten Demokratie soll insofern einen Beitrag zur Lösung dieses Problems liefern, als hier mit der Entscheidungsfindung Politiker betraut werden, deren Nutzen nicht derart schnell durch die Kosten der informierten und engagierten Teilnahme am Prozess der Willensbildung überstiegen wird. Mag sich in einer direkten Demokratie für den einzelnen Bürger ein informiertes Engagement in Sachen Energiepolitik nicht lohnen, so kann dies für einen einzelnen Politiker durchaus der Fall sein. Zusammenfassend können wir demnach festhalten: Der Übergang von der direkten zur indirekten Demokratie soll dazu beitragen, dass - auch angesichts großer Mitgliederzahlen, einer heterogenen Kollektivmitgliederschaft und komplexer Entscheidungsgegenstände - für den Einzelnen die Kosten seiner engagierten und informierten Entscheidungsteilnahme nicht jenen Nutzen übersteigen, den er aus seinem informierten Engagement ziehen kann. Dem steht nun entgegen, dass die Politiker nicht nur willenlose Instrumente sind.Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie eigene Vorstellungen darüber haben, was ist, und über das, was sein soll. In einem ersten Ansatz möchte man versucht sein, den Spielraum der Politiker auf Null zu reduzieren, sie also zu reinen Exekutivorganen zu machen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dies nicht zweckmäßig ist. Es ist nicht zweckmäßig, weil - erstens - eine detaillierte Weisungsgebundenheit und die lückenlose Kontrolle der Politiker durch die Bürger mit Kosten verbunden ist. Die mit dem Übergang von der direkten zur indirekten Demokratie erzielten Einsparungen an Entscheidungskosten gingen auf diese Weise ganz oder teilweise verloren. Es ist nicht zweckmäßig, weil - zweitens - die Freiräume der Politiker auch neue positive Möglichkeiten eröffnen. Dabei handelt es sich um die von den Politikern identifizierten neuen Alternativen des Machbaren und Wünschbaren, die für die Wohlfahrt der Bürger von Bedeutung sind, die aber erst im Vollzug der politischen Entscheidungen sichtbar werden, also nicht schon vor den Wahlen erkennbar waren. Somit kann nicht nur der Aspekt gesehen werden, dass in der indirekten Demokratie die Bürger Wohlfahrtsverluste erleiden, weil die Politiker nicht tun, was ihnen aufgetragen worden ist. Es muss auch der Aspekt gesehen werden, dass die Bürger Wohlfahrtsgewinne realisieren können, weil die Politiker tun, was ihnen nicht aufgetragen worden ist. In dem Maße wie beide Aspekte miteinander verbunden sind, kann man die Chance der Wohlfahrtsgewinne nicht ohne das Risiko der Wohlfahrtsverluste haben.Allerdings kann man darauf hinarbeiten, durch institutionelle Vorkehrungen die Chance zu erhöhen und/ oder das Risiko zu senken. Dies ist dann auch der Punkt, um den die Diskussion über Leistung und Versagen, über Gestaltung und Reform der indirekten Demokratien kreist. Es geht darum, jene institutionellen Vorkehrungen zu schaffen, die - einerseits die Bürger von den Kosten der direkten Demokratie entlasten, - andererseits aber sicherstellen, dass die Politiker die ihnen zugestandenen Handlungsspielräume so nutzen, dass die Wohlfahrt der Bürger gefördert wird. Von der direkten zur indirekten Demokratie ... · 203 <?page no="221"?> In dem Maße wie die Politiker andere Zielvorstellungen haben (können), als den Willen des Souveräns auszuführen, können diese institutionellen Vorkehrungen nur auf eine Art geschaffen werden, bei der die Zielrealisierung der Politiker von jener der Wähler abhängig gemacht wird. Es muss demnach vermieden werden, dass zwischen den Bürgern und den Politikern eine Nullsummen-Situation besteht, in der die Politiker ihre Ziele auf Kosten der Bürger realisieren können bzw. müssen. Vielmehr ist ein Positivsummen-Spiel anzustreben, in dem einerseits die Politiker dadurch ihre Wohlfahrt erhöhen, dass sie die Wohlfahrt der Bürger fördern, und in dem andererseits die Bürger ihre Wohlfahrt dadurch erhöhen, dass sie zur Wohlfahrt der Politiker beitragen. Die Analogie zum Markt für Privatgüter ist offenkundig. Wir werden weiter unten sehen, dass diese Analogie sich nicht im Oberflächlich-Sprachlichen erschöpft. Dies zu betonen ist deshalb wichtig, weil die Demokratieanalyse der Neuen Politischen Ökonomie, der wir uns gleich zuwenden werden, aus dieser Analogie ihren Ausgangsimpuls bezogen hat. 1.2 ... und zurück? Vorher ist allerdings auf ein durchaus bemerkenswertes Phänomen hinzuweisen: Nachdem lange Zeit die indirekte Demokratie als die fraglos überlegene Form der politischen Willensbildung angesehen worden ist und die direkte Demokratie allenfalls als schweizerische Eigenart Beachtung gefunden hat, wächst mit dem Unbehagen an und in der indirekten Demokratie das Interesse an der direkten Partizipation. Erklären lässt sich dieser Wandel dadurch, dass sich in der Einschätzung vieler der oben dargestellte Vergleich von Vorteilen und Nachteilen zunehmend zu Ungunsten der indirekten und damit zu Gunsten der direkten Demokratie entwickelt. Die Beantwortung der Frage, warum dem so ist, trägt zum Verständnis sowohl der indirekten als auch der direkten Demokratie bei. Dazu Folgendes: Man kann in den indirekten Demokratien, so auch in der Bundesrepublik, beachten, dass die Politik in ihrer Sprache und in ihren Inhalten von den Bürgern zunehmend als eine Veranstaltung empfunden wird, die in einem für sie kaum noch einsehbaren Bezug zu ihrer Lebenswirklichkeit steht.Vieles von jenem, das in „Berlin“ verhandelt wird, ist für die „Menschen draußen im Lande“ - (hier ist schon die Sprache verräterisch) - in seiner Bedeutung für ihr Leben nicht zu verstehen und zu beurteilen. Gerade dieses aber wäre notwendig, wenn die indirekte Demokratie ihrer Konstruktionsidee entsprechend funktionieren soll. Diese Distanz zwischen dem Geschäft der Politik und der Lebenswirklichkeit der Bürger und Wähler ist insofern nicht überraschend, als die zur Entscheidung anstehenden Einzelfragen gemeinhin derart miteinander verknüpft sind bzw., etwa aus Kompromissgründen, verknüpft werden, dass die so entstandenen Bündel in ihrer Komplexität vielleicht schon für viele Abgeordnete, gewiss aber für die meisten Bürger nicht mehr durchschaubar, also auch in ihrer Bedeutung für die eigene Lebenswirklichkeit nicht mehr erkennbar sind. Die Entfernung zwischen dem indirekt-demokratischen politischen Prozess und der Lebenswirklichkeit der einzelnen Bürger hat ihr Pendant in der zunehmenden so- 204 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="222"?> zialen Distanz zwischen den Parlamentariern und den Wählern. So sind unter den Bundestagsabgeordneten die Beamten und die Vertreter von Verbänden im Vergleich zur gesamten Wählerschaft weit überproportional vertreten. Auch führt die Eigendynamik der parlamentarischen, also indirekt-demokratischen Willensbildung dazu, dass sich innerhalb der „classa politica“ Beziehungen und Spielregeln einspielen, die ihrer eigenen Logik unterliegen und bestenfalls bedingt und begrenzt von „den Menschen draußen im Lande“ beeinflusst werden können. Ist dem aber so, dann haben wir es hier mit einer Verschärfung des Principal- Agent Problems in der indirekten Demokratie zu tun. Nur ist das Principal-Agent Problem hier nicht so sehr darauf zurückzuführen, dass einzelne Politiker als einzelne agents Freiräume zu ihrem individuellen Vorteil und auf Kosten der principals, also der Wähler, nutzen. Vielmehr besteht das Principal-Agent Problem nun auch deshalb, weil die Politiker insgesamt dann, wenn sie der Eigenlogik der „classa politica“ nicht zum Opfer fallen wollen, die Wähler und deren Willen mehr oder weniger ignorieren müssen. Man kann es auch so sagen: Ein einzelner Politiker steht in einem doppelten Beziehungszusammenhang. Einerseits steht er in einem Verhältnis zu seinen Wählern und andererseits in einem Bezug zu den übrigen Mitgliedern der „classa politica“. Erfolg haben, ja als Politiker auch nur überleben kann der Einzelne nur, wenn er den Ansprüchen, die in den beiden Bezügen an ihn gestellt werden, gerecht wird bzw. gerecht zu werden scheint. Problematisch wird und ist es, wenn beide sozialen Bezugssysteme von ihm Widersprüchliches erwarten, er also die Mitglieder der „classa politica“ nur zufriedenstellen kann, wenn er die Belange der Wähler vernachlässigt oder gar verrät - oder vice-versa. Nun kann man schon mal den Eindruck haben, dass die Eigenlogik der einen Beziehung zur Logik der anderen in Widerspruch steht, also etwa die Interessen der Mitglieder der „classa politica“ auf Kosten der Belange der Wähler im Entscheidungsverhalten einzelner Politiker berücksichtigt werden. Dies ist für einen einzelnen Politiker, der Politiker sein und bleiben will, dann übrigens nur rational, wenn die Sanktionen seiner Politikerkollegen schärfer und unvermeidbarer sind als jene von Wählern, die z. T. desinteressiert, z. T. uninformiert und täuschungsanfällig im Zweifel nicht einmal merken, dass ein bestimmter Politiker als „agent“ sie als „principals“ übergangen und vernachlässigt hat. In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich aus der Sicht der Wähler der Kosten-Nutzen-Vergleich zuungunsten der indirekten Demokratie insgesamt entwickelt hat.Wohl verlangt sie nach wie vor von ihm vergleichsweise wenig an Einsatz, nur bietet sie ihm auch immer weniger an Gestaltungs- und an Kontrollmöglichkeiten. In der Sprache von Hirschmann: Die Kosten von „voice“ sind für die Wähler nach wie vor niedrig, doch ist die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs von „voice“ gesunken. Mehr noch: In vielen Fällen besteht für den Wähler nicht mehr die Möglichkeit, sein „voice“ bezogen auf konkrete Entscheidungen zu erheben. Was ihm dann noch bleibt, ist die Möglichkeit, ein allgemeines Unbehagen in und an der Demokratie zu äußern. Die Stichworte lauten hier: Desinteresse, Protestwahl, Wahlabstinenz, Politiker-, gar Politikverdrossenheit. ... und zurück? · 205 <?page no="223"?> Man mag nun darauf hinweisen, dass es für die Bürger in der indirekten Demokratie nicht nur die Möglichkeit gibt, als Wähler Einfluss auf die Politik zu nehmen; sie können auch als Kandidaten für ein politisches Amt versuchen, politisch gestaltend zu wirken. Allerdings hat dies in dem Maße wenig Bedeutung, wie es für den Einzelnen gemeinhin nur über die sog. „Ochsentour“, also über zeit- und kostspielige Umwege möglich ist, sich Eingang in die „classa politica“ zu verschaffen und dort zu einigem Einfluss zu gelangen. Dies vielleicht nicht unbedingt auf der Kommunal-, so doch gewiss auf Länder- und noch mehr auf Bundesebene. Diese Verschärfung des Principal-Agent Problems in der indirekten Demokratie hat nun nicht nur zur direkten Folge, dass die Präferenzen der Bürger allenfalls begrenzt in den politischen Entscheidungen ihren Niederschlag finden. Als indirekte Konsequenz ist auch zu erwarten, dass sich die Bürger eher begrenzt mit jenem Gemeinwesen identifizieren, in dem und für das sie sich, für sie wenig oder überhaupt nicht erlebbar, engagieren können. In der Tat: Wie sollten sie auf die Dauer als ihre Angelegenheit betrachten, was weitgehend ohne sie von anderen entschieden wird. Empirische Untersuchungen scheinen denn auch die Hypothese zu stärken, dass in Regimen der direkten Demokratie der Grad der Identifizierung mit dem Gemeinwesen und der Zufriedenheit mit der Politik höher ist als in vergleichbaren indirekten Demokratien. Der Einwand, dass die Bürger gemeinhin nicht über jene Informationen und über jenen Sachverstand verfügen, die nötig sind, um der technischen Komplexität der zur Entscheidung anstehenden Fragen gerecht zu werden, ist durchaus ernstzunehmen. Allerdings trägt er nicht so weit, wie es auf den ersten Blick scheint; der Grund ist folgender: Wenn und in dem Maße, wie die Bürger in einer direkten Demokratie sich mehr als in der indirekten Demokratie mit ihrem Gemeinwesen identifizieren, besteht auch für sie ein stärkerer Antrieb, sich über die politischen Fragen zu informieren. Gewichtiger als der Einwand des geringen Informationsniveaus der Wähler ist allerdings das Argument, in der direkten Demokratie würde notwendigerweise über einzelne Entscheidungsgegenstände abgestimmt und es bestünde so die Gefahr, dass die Interdependenz der einzelnen Themen nicht hinreichend berücksichtigt würde. Diese Gefahr ist in der Tat gegeben; doch kann diesem Mangel dadurch begegnet werden, dass neben den Mechanismen der direkten Demokratie jene der indirekten erhalten bleiben und so beide ihre Defizite wenigstens zum Teil wechselseitig kompensieren können. Ein letzter Punkt: Gegen die direkte Demokratie wird häufig eingewandt, in ihr könnten sich die Emotionen und Leidenschaften der Bürger ungebremst und ungefiltert auswirken; die indirekte Demokratie hingegen bringe jenes Maß an Rationalität in die politische Entscheidungsfindung, ohne welche die Politik zum Opfer momentaner Gefühlswallungen der öffentlichen Meinung werde. Abgesehen davon, dass die bisherigen Erfahrungen mit der direkten Demokratie diesen Einwand nicht stützen, ist er auch aus theoretischer Sicht wenig plausibel.Wer nämlich als Wähler in einer direkten Demokratie mit konkreten Sachfragen konfrontiert ist, läuft mit einiger Wahrscheinlichkeit weniger Gefahr, sich emotional „hochzufahren“, als jener, der sich in einer indirekten Demokratie vor Entscheidungsprobleme gestellt sieht, die er in ihrer Kom- 206 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="224"?> plexität nicht durchschaut und deren Bezug zu seiner Lebenswelt er allenfalls erahnen kann. Die direkte Demokratie mag eine bestimmte Art von politischer Kultur voraussetzen; sie schafft sie aber auch. Es ist richtig: Auch und besonders in der Bundesrepublik stößt die direkte Demokratie auf starke Vorbehalte. Doch sollte es misstrauisch stimmen, dass diese Vorbehalte besonders von Politikern vorgetragen werden; es ist schließlich nicht überraschend, dass sich „agents“ gegen eine Stärkung der Position der „principals“ wehren. 1.3 Von der Realisierung des „volonté générale“ zur „Legitimation durch Verfahren“ Ehe wir uns nun der Demokratietheorie der Neuen Politischen Ökonomie zuwenden, wollen wir einen kurzen Blick auf jenes Demokratieverständnis werfen, das ihr vorausgegangen ist und von dem sie sich ausdrücklich absetzt. Dieses alte Demokratieverständnis existierte (und existiert wenigstens implizit nicht selten auch noch heute) in verschiedenen Varianten.Wir illustrieren es hier an Rousseaus Lehre vom „contrat social“. Ziel und Zweck der nun folgenden Zeilen ist es, einen Hintergrund zu schaffen, vor dem sich die Analyse der Neuen Politischen Ökonomie in ihrer Eigenheit besonders scharf und deutlich abhebt. „... die demokratische Methode ist jene institutionelle Ordnung zur Erzielung politischer Entscheide, die das Gemeinwohl dadurch verwirklicht, dass sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden lässt, und zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen.“ So beschrieb Joseph A. Schumpeter in „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ die klassische Auffassung von der Demokratie. Hier wird die Demokratie als eine institutionelle Vorkehrung gesehen, mittels derer sich die Bürger wechselseitig zu der Einsicht in das Gemeinwohl bringen und so dem „volonté générale“ zum Ausdruck verhelfen sollen. Die Politik kann demnach in nichts anderem als in der Realisierung des „volonté générale“ bestehen; die Politiker sind, wenn schon nicht das Fleisch gewordene Gemeinwohl, so doch das Fleisch gewordene Streben nach dem Gemeinwohl. Diese Theorie mag den meisten von uns als unsäglich naiv vorkommen. Dies verhindert aber nicht, dass sie unterschwellig vielen Politikerreden zugrundeliegt, wenn sie für sich in Anspruch nehmen, „zum Wohl unseres Vaterlandes“, „pour le salut de la France“ zu arbeiten. (Zum Vergleich: Keinem Metzger würde man abnehmen, dass er im Dienste der Volksernährung Würstchen produziert.) Diese Theorie nun, die heute allenfalls verschämt-verschleiert auftritt, hatte ehedem in Jean-Jacques Rousseau einen intelligenten und bis zum Zynismus realistisch-ehrlichen Vertreter. Es lohnt sich - auch im Hinblick auf unsere spätere Darstellung -, das Argument von Rousseau zur Kenntnis zu nehmen. Rousseau verkennt nicht, dass der Einzelne als Privatmann, sozusagen als „bourgeois“, enge individuelle Partikularinteressen hat und dass diese individuellen Partikularinteressen ihn durchaus veranlassen können, gegen das Gemeinwohl zu handeln. In der Sprache der Kollektivgütertheorie: Als „bourgeois“ durchschaut der Einzelne die Logik Von der Realisierung des „volonté générale“ zur „Legitimation durch Verfahren“ · 207 <?page no="225"?> der Kollektivgüter, und er erkennt, dass es in seinem Interesse liegt, sich die Nichtgeltung des Ausschlussprinzips zunutze zu machen und ein Trittbrettfahrer zu sein. Nun ist der Einzelne aber - nach Rousseau - nicht nur ein „bourgeois“, sondern auch ein „citoyen“, und auch als solcher durchschaut er die Logik der Kollektivgüter. Doch als „citoyen“ bedauert er auch, dass er und die übrigen Kollektivmitglieder sich in ihrer Eigenschaft als „bourgeois“ wie Trittbrettfahrer verhalten und so im Zweifel jene Kollektivgüter nicht erstellt werden, die zur Wohlfahrt aller beitragen könnten. Die Demokratie ist nun nach Rousseau der Ort, wo die „citoyens“ ihrem Bedauern über ihr Verhalten als „bourgeois“ tatkräftig Nachdruck verleihen. In der Demokratie herrschen die Kollektivmitglieder als „citoyens“ über sich selbst als „bourgeois“. Im Extrem mögen in dieser Optik die „citoyens“ den „volonté générale“ dem Willen aller „bourgeois“ entgegenstellen. Der „volonté générale“ ist nicht identisch mit dem „volonté de tous“; und weil beide nicht identisch sind, können die „citoyens“ als „allgemeinen Willen“ durchsetzen, was im Zweifel der Wille von keinem „bourgeois“ ist. Rousseau glaubt nun, nicht davon ausgehen zu können, dass es allen oder auch nur den meisten Gesellschaftsmitgliedern im praktischen Vollzug der Politik gelingt, „citoyens“, nur „citoyens“ zu sein und den „volonté générale“ zu erkennen. Er schlägt deshalb vor, die Politik einem Kreis von durch besondere Eigenschaften hervorgehobenen Männern anzuvertrauen. Diese sollen aufgrund ihrer charakterlichen, intellektuellen und gesellschaftlichen Eigenschaften in der Lage sein, sich selbst als „bourgeois“ gleichsam zu vergessen, um nur „citoyens“ zu sein und so den „volonté générale“ zu erkennen und durchzusetzen. Sie sind der Fleisch gewordene „volonté générale“; und als solche treten sie für das ein, was alle als „citoyens“ wünschen (würden bzw. müssten), gegen das aber im Extrem alle als „bourgeois“ verstoßen. Rousseau, der - wie oben gesagt - ein bis zum Zynismus ehrlicher Autor ist, antwortet dann auch folgerichtig auf die Frage, was mit jenen zu geschehen habe, die sich der Einsicht in den „volonté générale“ verschließen: Sie sind als „étrangers au corps politique“ zu betrachten und als solche zu behandeln. Wer sich der Einsicht in den „volonté générale“ verschließt, ist ein Fremdkörper im Gemeinwesen und als solcher zu behandeln. Er ist wohl ein „bourgeois“, aber kein „citoyen“. Bei aller Bewunderung für die über weite Strecken die Kollektivgütertheorie vorwegnehmende Analyse Rousseaus wird man allerdings ihre Grenzen nicht übersehen, Grenzen, die übrigens darauf zurückzuführen sind, dass Rousseau mit seinem Traktat die kleine Republik Genf, nicht aber ein großes Land demokratisch ordnen wollte. Zwei dieser Grenzen sind hier eigens zu nennen. - Rousseau hat ohne plausiblen Grund und - wie wir inzwischen aus Erfahrung wissen - irrigerweise angenommen, dass dann, wenn alle als „citoyens“ analysieren und werten, auch alle das Gleiche wollen. Im praktischen Vollzug der Politik entspräche dem „volonté générale“ ein, nur ein Kollektivgüterangebot und eine, nur eine Verteilung der Beitragslasten. - Rousseau hat die Möglichkeit unterschätzt, dass jene, die als Regierende nur „citoyens“ sein sollen, doch auch „bourgeois“ sind. Er hat die Möglichkeit unterschätzt, dass auch ehrenwerte Menschen das Gemeinwohl als „bourgeois“ ihren individuellen Partikularinteressen opfern mögen. 208 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="226"?> Es sind dann auch diese Mängel, die dazu geführt haben, dass die praktische Umsetzung des Rousseauschen Demokratieverständnisses regelmäßig fehlschlägt. Der wohl berühmteste Fehlschlag ist der „Terreur“ der Französischen Revolution. Robespierre berief sich ausdrücklich auf Rousseau und war stolz darauf, als „citoyen“ ohne Privatleben zu gelten, ein „incorruptible“ - so sein Spitzname - zu sein, der sich durch nichts und niemanden, auch nicht durch sich selbst vom Dienst am „volonté générale“ abbringen lässt. Das „Comité du Salut Public“, der Wohlfahrtsausschuss, verstand sich selbst als Ausdruck des „volonté générale“; entsprechend verfuhr es mit jenen, die „étrangers au corps politique“, eben keine „citoyens“ waren. Die Theorie Rousseaus ist auf dem „Place de la Révolution“ im Blut der Geköpften ertränkt worden.Was aber nicht verhindert, dass sie später bei Marx und auch Hitler als Reinkarnation wieder auftauchte und heute in den Reden selbst demokratischer Politiker schon mal als Gespenst herumgeistert. In ausdrücklichem Gegensatz zu diesem von den Jakobinern praktizierten und diskreditierten Demokratieverständnis und in Anlehnung an die angelsächsische Staatsphilosophie skizzierte 1942 Joseph A. Schumpeter einen anderen Denkansatz. Er sollte für die Entwicklung der Neuen Politischen Ökonomie von entscheidender Bedeutung werden. Dem hehren Demokratieverständnis Rousseaus mit seinen verhängnisvollen praktischen Folgen setzte er eine in ihrem Bemühen um Realismus gleichfalls zynisch wirkende Theorie der Demokratie entgegen: „Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnisse vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben. Das Prinzip der Demokratie bedeutet dann einfach, dass die Zügel der Regierung jenen übergeben werden sollten, die über mehr Unterstützung verfügen als die anderen in Konkurrenz stehenden Individuen oder Teams.“ Der Realitätsgewinn gegenüber der klassischen Demokratietheorie ist offensichtlich. Hier ist keine Rede mehr davon, dass die Kollektivmitglieder einerseits „bourgeois“, andererseits „citoyens“ sind, dass sie als „citoyens“ herrschen, dass die Regierung lediglich der Ausdruck dieser Herrschaft ist. Wenn man so will, stehen die Gesellschaftsmitglieder nicht - wie bei Rousseau - sich selbst gegenüber; bei Schumpeter stehen sie einander gegenüber. Bei Rousseau konnte es bezüglich des einen „volonté générale“ zwischen gutwilligen und einsichtigen Kollektivmitgliedern nur Harmonie geben. Mit Schumpeter eröffnet sich der Ausblick auf die plausiblere Möglichkeit, dass auch unter einsichtigen und gutwilligen Kollektivmitgliedern Konflikte über die „richtige“ Politik bestehen können. Es ist nicht mehr die Rede von dem „volonté générale“ als Grundlage der Politik, sondern vom Willen der Mehrheit. Diese Interpretation der Demokratie als „freie Konkurrenz um freie Stimmen“ öffnet den Weg für die Frage nach der Freiheit der Konkurrenz und nach der Freiheit der Teilnehmer am demokratischen Spiel. Sie öffnet auch den Weg für die Frage nach den Bedingungen und den Auswirkungen dieser Freiheit. Anthony Downs griff 1957 in seiner „Ökonomischen Theorie der Demokratie“ den Schumpeterschen Ansatz auf. Ihm ging es um eine einfache, aber realitätsgerechte Darstellung des Wettbewerbs der Politiker um die Stimmen der Wähler und um die Nachzeichnung der in diesem Wettbewerb eingebauten politischen Dynamik. Der Downs- Von der Realisierung des „volonté générale“ zur „Legitimation durch Verfahren“ · 209 <?page no="227"?> schen Darstellung liegt - wie übrigens auch der Schumpeterschen - die Auffassung zugrunde, dass das Wählervolk, d. h. jeder einzelne Bürger, klare und operationale Zielvorstellungen hat, dass er sich ihrer bewusst und in der Lage ist, sie dem Politiker mit Hilfe des Stimmzettels eindeutig mitzuteilen. Der demokratische Prozess soll auch sicherstellen, dass die Politiker sich dem Wählerauftrag nicht entziehen können, sie also stellvertretend für die Bürger handeln und nur dem Schein nach selbst entscheiden: Als willenlose Agenten führen Minister - lateinisch für Diener - ihnen fremde Aufträge aus; Eigeninitiative ist weder gefragt noch möglich. Rousseau hatte unterstellt, dass gute „citoyens“ in dem „volonté générale“ das Zentrum, den Bezugspunkt erkennen (können und müssen), von welchem aus die Politik zu gestalten ist. Jetzt tritt jedes einzelne Kollektivmitglied als ein Zentrum auf, von dem aus Einfluss auf die Politik genommen werden kann. In Deutschland veröffentlichte 1959 Herder-Dorneich unter dem Pseudonym F. O. Harding sein „Politisches Modell der Wirtschaftstheorie“. Auch hier wurde - wie bei Downs und in der Nachfolge von Schumpeter - von der Vorstellung Abschied genommen, dass die Demokratie dazu dient, den „volonté générale“ zu erkennen. Auch hier geht es nur darum, eine Mehrheit für diese oder jene Politik zu finden.Auch hier dient der demokratische Prozess dazu, einen Kollektiventscheid hervorzubringen, der - weil er nach allgemein akzeptierten, also legitimierenden Regeln zustandegekommen ist - als Willensausdruck für alle Kollektivmitglieder verbindlich ist.Abkürzend und vereinfachend: Der demokratische Willensbildungsprozess dient nicht dazu, den Volkswillen, sondern eine Mehrheit zu finden. Es geht nicht darum, den Volkswillen zu erkennen, sondern das Ergebnis kollektiver Entscheidungsfindung als Volkswillen anerkennen zu lassen und jene, die zu dieser Anerkennung nicht bereit sind, um jegliche soziale Resonanz zu bringen. Niklas Luhmann spricht hier sehr treffend von einer „Legitimation durch Verfahren“. Literatur zu Kapitel VI.1 Arnim, H. H.: Das System: Die Machenschaften der Macht, München 2001. Barro, R. J.: Determinants of Democracy, Journal of Political Economy 107, 1999. Besley, T., Coate, S.: An Economic Model of Representative Democracy, Quarterly Journal of Economics 12, 1997. Besley, T., Coate, S.: Sources of Inefficiency in a Representative Democracy: A Dynamic Analysis, American Economic Review 88, 1998. Blankart, C. B., Mueller, D. C.: Alternativen der parlamentarischen Demokratie, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 3, 2002. Blankart, Ch. B.: Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 5.Aufl., München 2004. 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Schumpeter, J.A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1980 (1942). Wehner, B.: Die Katastrophen der Demokratie, Darmstadt 1992. 2 ... und praktische Probleme 2.1 Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie Man kann das Verhältnis zwischen Wählern und Politikern in einer parlamentarischen Demokratie auf verschiedene Weisen abzubilden versuchen: - So mag man davon ausgehen, dass die Wähler über ein vollausgebildetes Präferenzsystem verfügen, sie also wissen, welche Kollektivgüter sie in welcher Menge, in welcher Qualität und mit welchem Aufwand erstellt sehen möchten. Die Zielvorstellungen der Wähler sind dem politischen Prozess vorgegeben. Dieser kann idealerweise nur darin bestehen, den Politikern einen eindeutigen Auftrag zu geben, den sie nicht umhin kommen auszuführen. Es ist dies die Vorstellung, die wir oben in einem ersten Ansatz unseren Überlegungen zugrundegelegt haben.Auch ist Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 211 <?page no="229"?> es jene Vorstellung, die der herkömmlichen Finanztheorie zugrundeliegt. Sie geht von als Datum existierenden, nicht aber von als Problem zu berücksichtigenden Kollektivbedürfnissen aus und schließt von dort auf die Notwendigkeit von Kollektivgütern. - Oder man mag, anstatt von der Nachfrage nach Kollektivgütern seitens der Bürger, von dem Kollektivgüterangebot der Politiker ausgehen, mit dem sie in sie legitimierenden Wahlen die Stimmen der Bürger gewinnen wollen. Hier wird auf das Angebot als ein dem politischen Prozess präexistentes Datum abgestellt. Diese Optik, wie sie insbesondere für die italienischen Vertreter des soziologischen Positivismus, etwa Puviani und Mosca, charakteristisch war, ist insofern einseitig, als die politischen Programme als Datum angesehen werden. Diese einseitig nachfrageorientierte und diese einseitig angebotsorientierte Interpretation der Demokratie stellen nicht nur zwei konkurrierende Analysemuster dar. Sie sind auch der Reflex zweier grundverschiedener ideologischer Positionen. Das nachfrageorientierte Demokratieverständnis ist dem radikaldemokratischen Glauben an die Souveränität der Bürger, an die Weisheit des Volkes verpflichtet, wie sie etwa für Thomas Jefferson charakteristisch ist. Demgegenüber entspringt die angebotsorientierte Demokratietheorie einem profunden Misstrauen in die Einsichtsfähigkeit des Wählervolkes und der festen Überzeugung, dass ohne Eliten eine Demokratie ziellos dahintreiben muss. So ist es dann auch kein Wunder, dass die Vertreter der nachfrageorientierten Analyse mitunter ein recht optimistisches Bild der Demokratie entwerfen und dazu tendieren, ihre Probleme, Ausfall- und Entartungserscheinungen zu unterschätzen. Hingegen sind die angebotsorientiert Argumentierenden gegenüber der Demokratie ausgesprochen skeptisch. Dabei ist symptomatisch, dass einige Vertreter des angebotsorientierten soziologischen Positivismus sich und ihre gesamte Denkrichtung durch ihre Sympathie für den italienischen Faschismus diskreditiert haben. Die Einseitigkeit der beiden Ansätze und die mit ihr einhergehende Selektivität der Analyse legen den Schluss nahe, dass einiges durch die Überwindung dieser polaren Gegensätzlichkeit der Standpunkte zu gewinnen ist: Die Frage, ob die Nachfrage vor dem Angebot da ist oder vice-versa, erinnert an die stupide Frage nach dem Ei und der Henne. Im Folgenden wird sich zeigen, dass sich die Nachfrage und das Angebot in der Konfrontation des einen mit dem anderen heranbilden. Die Bürger können demnach nur eine Nachfrage haben und artikulieren, weil es ein Angebot gibt; und die Politiker können erst in Reaktion auf eine Nachfrage ein Angebot machen.Was auch heißt, dass die Analyse nicht dabei stehenbleiben kann, die Anbieter oder die Nachfrager, die Politiker oder die Bürger als „unbewegte Beweger“ zu unterstellen und die jeweils anderen in ihren Reaktionen zu beobachten. Vielmehr ist der demokratische Prozess als beidseitig offener Interaktionsvorgang zu sehen, in dem die Aktion der Anbieter als Reaktion auf die Aktion der Nachfrager erfolgt, die ihrerseits eine Reaktion auf die Aktion der Anbieter war, die ...; die Kette lässt sich beliebig verlängern. Es lohnt sich, diesem Punkt einige Aufmerksamkeit zu schenken. Dies deshalb, weil gemeinhin die Qualität des demokratischen Willensbildungsprozesses daran gemessen wird, ob und inwieweit er sicherstellt, dass die Präferenzen der Bürger in die Kollektiv- 212 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="230"?> entscheidungen eingehen, nicht aber, ob und inwieweit er gewährleistet, dass die Bürger zu ihren Bedürfnissen finden. Dabei werden wir etwas weiter ausholen müssen. Denn nach wie vor geht die Wirtschaftstheorie gemeinhin von der Unterstellung aus, dass sich ihr Problem darin erschöpft, die knappen Ressourcen im Dienste der Befriedigung gegebener Bedürfnisse zu allozieren. Eher selten geht die Wirtschaftstheorie davon aus, dass die Wohlfahrt auch dann verfehlt werden kann, wenn man keine oder die falschen Bedürfnisse hat. Diese letzte Formulierung ist mit Absicht gewählt. Fühlt sich der Leser nämlich durch sie provoziert, so geht auch er - implizit und damit vermutlich unreflektiert - davon aus, dass die Knappheit der Ressourcen, nicht aber die Unzulänglichkeit der Bedürfnisse der Wohlfahrt der Einzelnen Grenzen setzen mag. 2.1.1 Das Entstehen von Bedürfnissen Wie die Wirtschaftstheorie geht die Neue Politische Ökonomie gemeinhin davon aus, dass in einer Welt der knappen Mittel die Befriedigung der Bedürfnisse das Kernproblem ist, dass aber die Bedürfnisse selbst als problemlose Daten angesehen werden können. Als Regel wird also unterstellt, dass die Bedürfnisse der Menschen als Input in deren Rationalkalkül eingehen. Seltener, wenn überhaupt, wird die Tatsache berücksichtigt, dass die Bedürfnisse selbst auch ein Output dieses Kalküls sind. Diese Begrenzung der Fragestellung führt mit Notwendigkeit zu einem gleichfalls begrenzten Aussagenbereich der Neuen Politischen Ökonomie. Denn das Augenmerk richtet sich damit im Wesentlichen nur auf die Frage, wie institutionelle Arrangements der kollektiven Entscheidungsfindung die Befriedigung gegebener Bedürfnisse beeinflussen, nicht aber, welchen Einfluss sie auf die Entstehung neuer und die Entwicklung alter Bedürfnisse haben. Diese Begrenzung ist umso bedauerlicher, als die Ausklammerung der Entstehung und Entwicklung von Bedürfnissen aus dem Analysebereich keineswegs notwendig ist. Im Folgenden geht es darum, unter Rückgriff auf vorhandene Ansätze einen begrifflichen Rahmen zu skizzieren, innerhalb dessen die Bedürfnisse nicht nur in ihrer Befriedigung, sondern auch in ihrer Entstehung im Diskurs der Neuen Politischen Ökonomie berücksichtigt werden können. Dabei lassen didaktische Überlegungen einen Umweg zweckmäßig erscheinen. So werden wir, obwohl unser Hauptaugenmerk der Entstehung von Kollektivbedürfnissen gilt, zuerst die Entstehung von Privatbedürfnissen erörtern. Ehe wir also fragen, wie die Menschen dazu kommen, ein Bedürfnis nach dem Ausbau des Autobahnnetzes zu haben, werden wir der Frage nachgehen, wie sie dazu kommen, ein Bedürfnis etwa nach Compact Discs zu haben. 2.1.1.1 Behagen und Lust Dabei ist es hilfreich, von der Feststellung auszugehen, dass der Mensch sich nicht selbst genügt, sondern auf den Austausch mit der Umwelt angewiesen ist. Das Leben, ja das Überleben des Menschen erfordert Zufuhren und Abgaben aus der bzw. an die Umwelt. Das Wohlleben erfordert, dass diese Zufuhren und Abgaben bestimmte Werte weder übernoch unterschreiten. Jede Störung des Austauschs führt im Ergebnis zu einem möglicherweise bis zum Schmerz gesteigerten Unbehagen (illfare, mal- Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 213 <?page no="231"?> être). Die Behebung der Austauschstörung führt im Ergebnis zum Behagen (welfare, bien-être). Der Weg vom Unbehagen zum Behagen ist gemeinhin mit Lust, der Weg vom Behagen zum Unbehagen gemeinhin mit Unlust verbunden. Dies bedeutet - wie Scitovsky gezeigt hat -, dass - die Lust ein bestimmtes Unbehagen voraussetzt; - die Lust eine mehr oder weniger kurze Erfahrung ist; - das Behagen dann an Reiz verliert, wenn die Erinnerung an jene Lust, die mit seiner Realisierung verbunden war, (schon) verblasst ist bzw. wenn die Hoffnung auf jene Lust, die mit seiner Realisierung verbunden sein wird, (noch) nicht erwacht ist. Am Beispiel: Der Hunger ist das im Zweifel bis zum Schmerz gesteigerte Unbehagen als Folge einer zeitweilig unterbrochenen Kalorienzufuhr; die Sättigung ist das als Folge der Nahrungsmittelzufuhr eingetretene Behagen. Ohne Hunger macht das Essen keine Lust. Der Zustand des Gesättigtseins verliert dann allen Reiz, wenn ihm nicht die Erinnerung an bzw. die Aussicht auf Hunger und Essvergnügen beigemischt ist. In dem Maße aber wie ohne Unbehagen keine Lust möglich und ohne Unlust das Behagen ohne Reiz ist, wird der Mensch weder ausschließlich die Lust noch das Behagen maximieren, sondern einen Mix von Lust und Behagen anstreben, der mit einem Mix von Unlust und Unbehagen erkauft werden muss. Wie Scitovsky gleichfalls ausgeführt hat, kann dieser Mix von Mensch zu Mensch verschieden sein. Auch kann der gemeinhin als optimal angesehene Mix von Epoche zu Epoche, von Gesellschaft zu Gesellschaft eher der Lust oder dem Behagen die größere Bedeutung beimessen. 2.1.1.2 Unbehagen + Instrumentalwissen = Bedürfnis Wir können also vorerst festhalten, dass der Mensch auf den Austausch mit der Umwelt angewiesen ist. Die Frage ist, ob damit auch schon das, was Gegenstand des Austausches zwischen Mensch und Umwelt sein wird, als Datum feststeht. Ist dem Menschen also angeboren, was ihm Behagen und Lust bereitet? Oder anders: Sind die Bedürfnisse angeboren oder erworben? In einem ersten Ansatz wird man gewiss sagen müssen, dass das Bedürfnis nach Nahrung, Flüssigkeit, Sauerstoff,Wärme usw. angeboren ist. In einem zweiten Ansatz wird man allerdings auch anerkennen müssen, dass sich die Bedürfnisse des Menschen im täglichen Leben nicht auf Nahrung allgemein, sondern konkret auf Müsli oder Schweinebraten, nicht auf Flüssigkeit, nicht einmal auf Bier, sondern auf Pilsener oder Export, nicht auf akustische Reize schlechthin, sondern auf eine ganz bestimmte CD der „Rolling Stones“ beziehen. Wird der Mensch aber mit dem Bedürfnis nach den „Rolling Stones“ und Rheinischem Sauerbraten geboren? Die Antwort lautet: Nein. Damit aber wird auch gesagt, dass die Bedürfnisse wenigstens in ihrer konkreten Ausprägung nicht angeboren, sondern erworben sind. Es stellt sich die Frage, wie die Bedürfnisse erworben werden. Bei der Beantwortung dieser Frage gehen wir von dem aus, was dem Menschen als Datum angeboren ist: die 214 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="232"?> Notwendigkeit des Austauschs mit der Umwelt. Man braucht, selbst als Kleinstkind, nichts von sich und der Welt zu wissen, um sich als Folge eines gestörten Austauschs unbehaglich zu fühlen. Man muss aber schon einiges über sich und die Welt wissen, um sagen zu können, was ausgetauscht werden soll. Wenn man also nicht nur sagen soll, dass einem etwas fehlt, sondern auch, was einem fehlt, so muss man wissen, was geeignet ist, das Unbehagen lustvoll zu beheben. Es reicht also nicht, sich unbehaglich zu fühlen. Es braucht auch das Wissen über jene Instrumente, mittels derer das Unbehagen behoben werden kann. Erst wenn beide zusammentreffen, das Unbehagen und das Instrumentalwissen, entsteht ein konkretes Bedürfnis. Das Unbehagen allein erlaubt lediglich die vage und im Extrem zu unartikulierter Klage reduzierte Äußerung: „Mir fehlt etwas; es muss etwas geschehen“. Erst das Instrumentalwissen erlaubt, diese Äußerung zu der Aussage zu konkretisieren: „Ich will das; es sollte dies gemacht werden“. Das Unbehagen ist handlungsmotivierend; das Instrumentalwissen ist handlungsorientierend. Ohne Unbehagen gibt es keinen Grund, etwas zu tun; ohne Instrumentalwissen bleibt unklar, was zu tun ist. Das Unbehagen läuft ohne Instrumentalwissen auf das hinaus, was Peter Handke „Wunschloses Unglück“ genannt hat. Ohne Unbehagen reduziert sich das Instrumentalwissen auf einen Katalog belangloser Handlungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: Erst das Instrumentalwissen erlaubt, ein vages Unbehagen in ein konkretes Bedürfnis zu transformieren. Wenn aber richtig ist, dass wohl das Unbehagen gegeben ist, seine Konkretisierung zu bestimmten Bedürfnissen aber über erworbenes Instrumentalwissen erfolgt, dann hängen die Bedürfnisse und die über die Bedürfnisbefriedigung erreichbare Wohlfahrt auch von dem Instrumentalwissen ab. Und wenn nun das Unbehagen nur durch die Anwendung eines bestimmten Instrumentes behoben werden könnte, dann würde - je nachdem, ob man über dieses Wissen verfügt oder nicht - die Behebung des Unbehagens durch die Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses im Rahmen der verfügbaren Ressourcen möglich sein oder nicht.Wenn schließlich aber - was innerhalb bestimmter Grenzen in der Regel der Fall ist - es mehr als eine Möglichkeit gibt, das Unbehagen anzugehen, dann besteht auch die Möglichkeit, das Unbehagen in mehr als einem Bedürfnis zu konkretisieren. Sigmund Freud: „Das Veränderlichste an den Trieben ist ihr Objekt.“ So mag jemand sein Unbehagen in ein Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung oder in ein Bedürfnis nach Pralinen umsetzen. Ist dies aber der Fall, so drängt sich der Ver- Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 215 Unbehagen + Instrumentalwissen = Bedürfnis handlungsmotivierend handlungsorientierend diffus-vage konkret-präzise „Mir fehlt etwas“ „Dies bzw jenes hat diesen „Ich will das“ bzw. jenen Einfluss auf mein (Un-)Behagen.“ Abbildung 29 <?page no="233"?> gleich zwischen dem Wohlfahrtsgewinn auf, der als Folge der Befriedigung des Bedürfnisses nach menschlicher Zuwendung zu erreichen ist, und dem durch das Essen von Pralinen möglichen Wohlfahrtszuwachs. 2.1.1.3 Der Erwerb von Bedürfnissen - ein Gegenstand des Rationalkalküls Die Befriedigung des einen Bedürfnisses kann also einen niedrigeren Wohlfahrtsgewinn erbringen als die Befriedigung eines anderen. Damit aber besteht auch die Möglichkeit, dass jemand sein Wohlfahrtsmaximum verpasst, nicht weil er die knappen Ressourcen bei der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse falsch, sprich: ineffizient einsetzt, sondern weil er die knappen Ressourcen möglicherweise effizient bei der Befriedigung „falscher“ Bedürfnisse einsetzt. Um im Beispiel zu bleiben: Anstatt sich allokationseffizient Kummerspeck anzuessen, wäre es möglicherweise sinnvoller, weil wohlfahrtssteigender, eine Liebesbeziehung einzugehen. Wenn nun aber eine ansonsten mögliche Wohlfahrtssteigerung nicht nur durch die falsche Befriedigung richtiger Bedürfnisse, sondern auch durch die richtige Befriedigung falscher Bedürfnisse verfehlt werden kann, dann wird im Hinblick auf die eigene Wohlfahrt für den Einzelnen Folgendes wichtig: Es steht nicht a priori fest, dass es für ihn sinnvoll ist, sein Wohlfahrtsstreben auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu beschränken, die er in einem bestimmten Zeitpunkt hat. Es ist für ihn im Zweifel auch wichtig zu berücksichtigen, dass seine Wohlfahrt durch die Befriedigung von Bedürfnissen, die er noch nicht hat, stärker erhöht werden könnte. Im Übrigen ist es eine plausible Hypothese, dass das gemeinhin zu beobachtende exploratorische Verhalten der meisten Menschen darauf zurückzuführen ist, dass ihnen dies mehr oder weniger deutlich bewusst ist. In dem Maße nun wie die Ausbildung von Bedürfnissen über die Aneignung von Instrumentalwissen erfolgt und diese Wissensaneignung nicht kostenlos ist, erstreckt sich das ökonomische Kalkül sinnvollerweise nicht ausschließlich auf die Befriedigung gegebener Bedürfnisse, sondern auch auf die Suche nach Bedürfnissen, deren Befriedigung wohlfahrtssteigernder sein könnte. Mit anderen Worten: Die Bedürfnisse sind nicht nur der Bezugspunkt, sondern auch ein Gegenstand des ökonomischen Kalküls. Dass es sich in der Regel um ein Kalkül unter recht beschränkter Information handelt, macht dieses Kalkül schwierig, ändert aber nichts an seiner Logik. Am Beispiel: Der Mensch ist auf die Zufuhr akustischer Reize angewiesen.Wer nur ein Instrument, etwa die „Rolling Stones“, zur Erlangung solcher Reize kennt, wird aus dem Hören dieser Rockgruppe im Zweifel einen Wohlfahrtsgewinn ziehen. Er kann nun seine knappen Mittel (Geld, Zeit usw.) ausschließlich zum Kauf und zum Hören von CDs der „Rolling Stones“ verwenden. Er kann aber auch versuchen, im Hinblick auf mehr oder weniger wahrscheinliche Wohlfahrtsgewinne, sich unter Kosten die musikalische Welt von Mozart zu erschließen, also ein zusätzliches Instrument zur Unbehagensbekämpfung zu erwerben. Auf diese Weise kann sich ihm die Möglichkeit eines neuen Bedürfnisses eröffnen. Konnte er ehedem nur ein Bedürfnis, nämlich das nach den „Rolling Stones“ haben, so kann er hinfort auch ein Bedürfnis nach Mozart haben. Damit hat er auch die Freiheit gewonnen, jenes Bedürfnis zu wählen, dessen Befriedigung ihm den vergleichsweise größeren Wohlfahrtsgewinn bringt. 216 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="234"?> Verlassen wir die Trivialität des einzelnen Beispiels, so können wir festhalten, dass die über die Aneignung von Instrumentalwissen mögliche Erschließung von Bedürfnissen für den Einzelnen auf eine Erschließung der Welt hinausläuft. Denn in der Tat ist für jenen, der sein Unbehagen nur über die Befriedigung eines oder einer geringen Zahl von Bedürfnissen beheben kann, die Welt kleiner als für jenen, der eine größere Vielfalt und Vielzahl von Bedürfnissen haben kann. Für den, der nur zu Werder nach Bremen gehen kann, ist die Welt kleiner als für jenen, der auch zu Wagner nach Bayreuth pilgern kann. Die Wohlfahrt des Menschen hängt demnach wohl auch, aber nicht nur von der Menge der verfügbaren Ressourcen und von deren allokationseffizientem Einsatz ab. Sie hängt vielmehr zudem von der Vielfalt und der Vielzahl jener Bedürfnisse ab, über die der Mensch sein Unbehagen artikulieren und über deren Befriedigung er dieses Unbehagen lustvoll senken, also seine Wohlfahrt steigern kann. Man kann es auch so ausdrücken: Die Wohlfahrt des Menschen hängt nicht nur von der möglichst effizienten Nutzung der Welt, sondern auch von der möglichst erfolgreichen Erschließung der Welt ab. Damit zeigt sich, dass die Qualität einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ordnung nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Allokationseffizienz bei der Befriedigung gegebener Bedürfnisse zu beurteilen ist. Vielmehr ist auch jene Ordnung höher einzuschätzen, die es dem Einzelnen ermöglicht, viele und vielfältige Bedürfnisse zu haben, die Minderung seines Unbehagens also auf möglichst vielen und vielfältigen Wegen suchen zu können. Der gängige Vorwurf an die Adresse der Marktwirtschaft, sie schaffe viele künstliche Bedürfnisse, geht also ins Leere. Es ist demnach kein Nachteil, sondern ein Vorteil, dass in einer Marktwirtschaft vielzählige und vielfältige Bedürfnisse erlernt werden können. Dies jedenfalls dann, wenn - mit der Zahl und der Vielzahl der erlernten Bedürfnisse das Niveau des Unbehagens, von dem wir ausgegangen sind, nicht steigt; - die von den Einzelnen erlernten Bedürfnisse nicht in dem Sinne zwingend sind, dass sie - etwa als Folge der Werbung oder der Suchtbildung - befriedigt werden müssen. Es geht hier darum, dass der Einzelne viele Bedürfnisse haben kann, nicht aber, dass er diese oder jene Bedürfnisse befriedigen muss. Der Zentralplanwirtschaft muss man dagegen in dieser Optik nicht nur den Vorwurf machen, dass sie bei der allokationseffizienten Befriedigung gegebener Bedürfnisse versagt hat. Es ist ihr auch entgegenzuhalten, dass in ihr die Menschen um die Möglichkeit gebracht wurden, vielfältige Bedürfnisse zu entwickeln. Die oft angesprochene graue Tristesse sozialistischer Städte war nicht nur die Folge knapper Ressourcen; sie war auch der sichtbare Ausdruck unterentwickelter Bedürfnisvielfalt. Ein weiterer Punkt ist wichtig. Wenn man nicht nur die Befriedigung gegebener Bedürfnisse, sondern auch die Erschließung neuer Bedürfnisse als Teil des Wohlfahrtskalküls akzeptiert, so eröffnet sich eine zusätzliche Dimension der Distribution. Es geht dann nämlich nicht mehr nur darum, wie sich die Wohlfahrtszuwächse als Folge der Befriedigung gegebener Bedürfnisse, also der Weltnutzung, unter den Gesellschaftsmitgliedern verteilen. Es geht dann vielmehr auch darum, wie die Chancen zum Erlernen vielfältiger Bedürfnisse, wie die Chancen zur Erschließung der Welt in der Gesellschaft verteilt sind. Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 217 <?page no="235"?> Reduziert man unsere bisherigen Überlegungen auf ihren Kern, dann laufen sie auf Folgendes hinaus: Die Wohlfahrt des Menschen hängt nicht nur von der allokationseffizienten Befriedigung gegebener Bedürfnisse, sondern auch von deren Vielzahl und Vielfalt ab. Dies heißt aber nichts anderes, als dass die Wohlfahrt auch von dem verfügbaren Instrumentalwissen des Einzelnen abhängt, wie auch von der Frage, in welchem Maße er diese Instrumente beherrscht, zu welcher Meisterschaft er es in der Handhabung dieser Instrumente gebracht hat. In der Folge bedeutet das, dass die Wohlfahrt des Einzelnen auch eine Funktion seiner Bedürfnisfähigkeit ist. Damit sind also nicht nur die Qualität und die Quantität der nutzbaren Ressourcen, sondern auch die Qualität des sie nutzenden Menschen für die Wohlfahrt von Bedeutung. In den Worten von John Ruskin: „... if a thing is to be useful, it must be not only of an availing nature, but in availing hands. Or, in accurate terms, usefulness is value in the hands of the valiant; ... Wealth, therefore, is the ‚Possession of the Valuable by the Valiant‘; and in considering it as a power existing in a nation, the two elements, the value of the thing, and the valour of its possessor, must be estimated together. Whence it appears that many of the persons considered commonly wealthy, are in reality no more wealthy than the locks of their own strong boxes are.“ Der hier vor mehr als hundert Jahren von Ruskin eher essayistisch angesprochene Aspekt ist 1977 von Stigler und Becker wirtschaftstheoretisch angegangen worden. In ihrem Aufsatz „De gustibus non est disputandum“ gehen sie unter anderem der Frage nach, wie jene scheinbar dem Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen widersprechende Erscheinung zu erklären ist, dass man je mehr Musik hören will, je mehr Musik man gehört hat: Wer zum ersten Mal ein Streichquartett von Beethoven hört, möchte in der Regel am liebsten fliehen. Das Geigengewimmer ist für ihn bestenfalls ohne Sinn und Inhalt, ein informationsloses Geräusch. Das ändert sich beim zweiten, zwanzigsten Hören: Aus Lärm wird Musik, Strukturen werden erkennbar. Was ehedem als inhaltslose Geschwätzigkeit empfunden wurde, erweist sich nun als gehaltvolle Rede. Und dies um so mehr, je öfter man die Quartette hört. Entscheidend ist nun, dass die Beethovensche Musik beim ersten und beim 39sten Hören die Gleiche ist; nicht mehr gleich aber ist der Hörer. Er hat etwas dazugelernt. Er hat ein „musical human capital“ angesammelt. Er ist - wenn der Ausdruck erlaubt ist - „beethovenfähig“ geworden. Er hat seine Bedürfnisfähigkeit erweitert; er hat nicht nur ein neues Instrument kennengelernt, mittels dessen er sein Unbehagen senken, seine Wohlfahrt erhöhen kann. Er lernt auch durch immer wiederholtes Hören, souveräner mit diesem Instrument umzugehen. Beethoven wird für ihn immer wichtiger, weil er selbst immer fähiger wird, aus dessen Musik einen Nutzen zu ziehen. In der Sprache Ruskins: Die „availing nature“ von Beethoven ist und bleibt immer die gleiche; nur die „hands“, richtiger: die „ears“ des Menschen werden zunehmend mehr „availing“. Was hier am musisch-musikalischen Beispiel illustriert worden ist, lässt sich auch an anderen Exempeln nachweisen. So ist - der Leser möge sich erinnern - der erste Schluck Wein, den man im Leben trinkt, gemeinhin eine eher unerfreuliche Erfahrung: Der feinste Bordeaux wird als sauer-bitteres Gesöff erlebt. Erst allmählich, d. h. nach öfterem Trinken des Bordeaux, lernt der Mensch, dem Wein gerecht zu werden; er wird gleichsam „bordeauxfähig“; er hat ein „oenological human capital“ erwor- 218 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="236"?> ben, das ihm erlaubt, aus dem immer gleichen Bordeaux einen immer größeren Nutzen zu ziehen. Zu beachten ist auch, dass die Dynamik des Entstehens und der Entwicklung von Bedürfnissen nicht immer gleich abläuft. So ist es eher selten, dass jemand eine umso größere Vorliebe für Orangenlimonade entwickelt, je mehr er davon getrunken hat. Auch dürfte es eher selten sein, dass man diesen oder jenen Schlager umso mehr mag, je öfter man ihn gehört hat. Das Potenzial sowohl der Limonade als auch des Schlagers sind schnell ausgeschöpft. Was aber nichts anderes heißt, als dass sehr schnell jenes „human capital“ angesammelt ist, das den ganzen „Reichtum“ der Limonade bzw. des Schlagers auszuschöpfen vermag. Es braucht nicht viel, damit der Konsument so „valiant“ ist, wie die Limonade bzw. der Schlager „valuable“ sind. Entsprechend gibt es Bordeaux- und Beethovenliebhaber; nicht aber gibt es Colaliebhaber.Als Liebhaber hat jener zu gelten, der durch Investitionen in sein „human capital“ seine Bedürfnisfähigkeit steigern will. Vom Liebhaber zu unterscheiden ist der Genießer: Während der Liebhaber durch den gegenwärtigen Konsum eines Gutes (auch) seine zukünftige Genussfähigkeit steigern will, beschränkt sich der Genießer darauf, mit dem gegenwärtigen Konsum jenen Genuss zu haben, den seine Genussfähigkeit heute erlaubt. Der Liebhaber ist auch zukunftsorientiert, der Genießer ist auf die Gegenwart beschränkt. Entsprechend spricht man dann auch gern, wenn etwa von Weinliebhabern die Rede sein soll, von „connaisseurs“. Im Übrigen: Symptomatischerweise redet man beim Cola-Trinken selten von der Cola. Hingegen dürfte beim Trinken von Bordeaux umso mehr vom Wein geredet werden, je kostbarer dieser ist. Dies ist nicht unbedingt der Ausdruck von Angeberei angesichts eines teuren Weins; es dient auch der Mobilisierung und Erweiterung des Wissens um den Instrumentalwert des Weines. Nur die Genießer und die Säufer trinken ohne zu reden, denn sie wollen, können oder brauchen nichts mehr über den instrumentellen Wert des Weines hinzuzulernen. Jedoch unterscheiden sich einzelne Ressourcen nicht nur in dem ihnen eigenen Potenzial, Unbehagen reduzieren zu können. Sie unterscheiden sich auch in der Leichtigkeit bzw. in der Schwierigkeit, mit der dieses Potenzial vom Einzelnen erschlossen werden kann, wobei letzteres im konkreten Fall auch von der Lernfähigkeit des Einzelnen abhängen mag. Wenn nun aber zutrifft, dass die Wohlfahrtssteigerung, die jemand aus einem Gut ziehen kann, nicht nur von den Eigenschaften des entsprechenden Gutes, sondern auch von seiner eigenen Bedürfnisfähigkeit abhängt, dann stellt sich für ihn folgende Frage: Soll er seine Ressourcen zur Befriedigung heute gegebener Bedürfnisse einsetzen oder aber in sein „human capital“, in seine Bedürfnisfähigkeit im Hinblick auf in der Zukunft zu erwartende höhere Wohlfahrtssteigerungen investieren? Soll er - in der oben gebrauchten Terminologie - die Welt heute nutzen, wie sie ihm heute erschlossen ist, oder soll er sich heute die Welt erschließen, wie er sie morgen nutzen will? Es ist offenkundig, dass in diesem Kalkül die Zeitpräferenz des Einzelnen eine Rolle spielt. Je höher die Diskontrate, je enger also der Zeithorizont, desto geringer die Bereitschaft des Einzelnen, in sein „human capital“ zu investieren. Auch spielen die mit Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 219 <?page no="237"?> dem Erwerb von Instrumentalwissen, also die mit der Entwicklung der Bedürfnisfähigkeit verbundenen Kosten eine Rolle. Je höher sie sind, desto geringer die Bereitschaft, um des zukünftigen Genusses willen auf gegenwärtige Wohlfahrtssteigerungen zu verzichten. Es ist dann auch in völliger Übereinstimmung mit diesen Überlegungen, dass neue Produkte recht häufig mit einem Einführungspreis angeboten werden. Aus ordnungspolitischer Sicht ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass es ein Charakteristikum liberaler Gesellschaften ist, dass in ihnen das Erlernen neuer Bedürfnisse vergleichsweise billig ist. Entsprechend zeichnen sich diese Gesellschaften im Vergleich zu ihren nichtliberalen Pendants dadurch aus, dass in ihnen neben der Weltnutzung die Welterschließung eine beträchtliche Rolle spielt. Der Konsum als Mittel zur Erschließung neuer Bedürfnisse, das neugierige Probieren neuer „Instrumente“, das Suchen neuer Erfahrungen spielen in liberalen Gesellschaften eine relativ große Rolle im Vergleich zu der geruhsamen Befriedigung von Bedürfnissen, die man auch schon gestern in dieser Form hatte. Auch die Dynamik liberaler Gesellschaften dürfte zu einem nicht geringen Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich in ihnen neue Bedürfnisse leicht und rasch bilden und weiterentwickeln. Wir kommen zu einem weiteren Aspekt. Oben haben wir auf zwei Bedingungen hingewiesen, die erfüllt sein müssen, damit das Erlernen von Instrumentalwissen der individuellen Wohlfahrt förderlich ist: - Das Niveau des Unbehagens, d.h. die Anforderungen an den Austausch zwischen Mensch und Umwelt dürfen als Folge dieser Lernerfahrung nicht steigen. - Diese Lernerfahrungen müssen wohl dazu führen, dass der Mensch zusätzliche Bedürfnisse haben kann, nicht aber, dass er bestimmte Bedürfnisse befriedigen muss. Beide Bedingungen sind typischerweise im Falle der Sucht nicht gegeben. Hier steigt als Folge des Konsums etwa von Rauschgift die Menge des „Stoffs“, die nötig ist, um einen bestimmten Zustand des Behagens zu erreichen; die erste Bedingung ist demnach nicht realisiert. Nicht realisiert ist auch die zweite Bedingung, indem der Genuss von Suchtmitteln zunehmend nur ein Instrument zulässt, durch dessen Einsatz das Unbehagen angegangen werden kann und muss, eben die Droge. Zum Abschluss ist auf einen Punkt hinzuweisen, der in der Wirtschaftswissenschaft im Allgemeinen keine, in der praktischen Lebensweisheit des Westens allenfalls eine marginale Rolle spielt: die Bekämpfung des Unbehagens nicht über die Ausbildung und Befriedigung von Bedürfnissen, sondern durch dessen unmittelbare Überwindung. Gemeint ist hiermit jene eher der asiatischen Kultur als uns vertraute Übung, das Leiden des Lebens und am Leben, das „mal-être“, wie dies Serge-Christophe Kolm nennt, nicht durch die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern durch die Überwindung allen Verlangens zu beenden. Es ist wohl richtig, dass auch uns dieser direkte Weg zur Behebung des Unbehagens nicht immer total fremd war. Die europäische Tradition der Askese ist hier zu erwähnen.Auch sie will das Leiden durch die Überwindung aller Begierden, durch die Überwindung allen Verlangens beenden. So ist das Ziel des Büßers das Leiden; der Asket 220 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="238"?> hingegen strebt das Nichtleiden an. Ein Asket, der leidet, hat sein Ziel (noch) nicht erreicht. Wie gesagt: Die Idee der Askese ist uns - wenn sie uns denn je vertraut gewesen sein sollte - reichlich fremd geworden. Es muss dahingestellt bleiben, ob dies Ursache oder Folge der Tatsache ist, dass die Mechanismen westlicher Marktwirtschaften sehr förderlich sind, wenn es darum geht, immer neue Bedürfnisse zu entwickeln und diese Bedürfnisse effizient zu befriedigen, dass sie aber wenig hilfreich beim Erlernen der heiteren Kunst der Askese sind. Es ist allerdings zu vermuten, dass der Mensch im Laufe seines Lebens häufig die Akzente verlagert. So mag jemand in jungen Jahren einen großen Teil seiner Ressourcen auf das Ausprobieren immer neuer Instrumente, also auf das Erlernen immer neuer Bedürfnisse legen. In reiferen Jahren hingegen mag er sich auf das Genießen des Bekannten, d. h. auf die Befriedigung früher erlernter Bedürfnisse konzentrieren. Im hohen Alter schließlich mag er sich vor allem bemühen, ein Leben wohl ohne Leid, aber ohne Bedürfnisbefriedigung zu führen, eben ein Asket zu werden. Auf die Welterschließung folgt die Weltnutzung, auf diese die Weltabkehr. Es scheint dies jedenfalls das Lebensideal des gläubigen Hindu zu sein: Im ersten Lebensabschnitt wächst der Mensch in die Welt hinein, indem er sie sich erschließt. Im zweiten Lebensalter bewegt sich der Mensch gestaltend und genießend in dieser Welt. In der dritten und letzten Phase schließlich zieht er sich entsagend aus der Welt zurück und bereitet sich auf den Tod vor. Es ist offenkundig, dass uns dies vielleicht als unausweichliche Praxis wohl vertraut, als bejahtes Ideal aber fremd ist. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass man in liberal-marktwirtschaftlichen Gesellschaften leicht und schnell die Welterschließung (Bedürfnisbildung) und die Weltnutzung (Bedürfnisbefriedigung) lernt. Weniger leicht, wenn überhaupt, lernt man die heitere Kunst der Askese, der unmittelbaren Überwindung des Unbehagens. Die Folge ist eine einseitige Fixierung auf die Bedürfnisbildung und -befriedigung. In dem Maße wie es nicht gelingt, auf diesem Wege das Unbehagen zu besiegen, also durch den Konsum die aus dem Konsum erwachsenen Frustrationen und Enttäuschungen zu überwinden, bleibt am Ende nur zu häufig das bittere und böse Zurückweisen der Welt. Man lässt die Welt nicht los, sondern stößt sie zurück. Es sei denn, man klammert sich bis zum Schluss an sie in dem verzweifelten Bemühen, ihr doch noch ein Quäntchen Lust und Befriedigung zu entreißen. Anders im Fall der bejahten Askese: Hier zieht sich der Mensch wohl enttäuscht, aber dankbar von der Welt zurück. Einerseits weiß er, dass die Welt gegeben hat, was sie geben konnte.Andererseits weiß er aber auch, dass die Welt nur geben konnte, was sie hat, und dass dies eben nicht reicht, alles Unbehagen zu beenden. Der Mensch wendet sich ab, dankbar für das, was die Welt gegeben hat, enttäuscht über das, was sie nicht geben konnte. Unsere Ausführungen - zusammengefasst in Abbildung 30 - belegen, dass - das handlungsmotivierende Unbehagen angeboren ist; - das handlungsorientierende Instrumentalwissen erworben werden kann und muss; - die Entscheidung über die Art und Menge des Wissenserwerbs mehr oder weniger bewusst Gegenstand des Rationalkalküls ist. Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 221 <?page no="239"?> Wenn nun also die Bedürfnisse in ihrer Entstehung und Entwicklung Gegenstand der wirtschaftstheoretischen Überlegungen sein sollen, so müssen wir als nächstes unser Augenmerk auf den Erwerb von Instrumentalwissen richten. Als Erstes ist hierbei zu fragen, auf was sich dieses Instrumentalwissen gründet. So soll hier argumentiert werden, dass das Instrumentalwissen auf Erfahrung basiert, also auf der Begegnung des unbehaglichen Menschen mit der (möglicherweise) Lust und Behagen bzw. Unlust und Unbehagen bewirkenden Wirklichkeit. Wenn man wissen soll, dass Steinpilze ein Lust und Behagen bewirkendes Instrument sind, muss irgendwer irgendwann Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Gleichfalls muss irgendwer irgendwann mit Fliegenpilzen eher negative Erfahrungen gemacht haben, wenn man wissen soll, dass man nach ihnen besser kein Bedürfnis entwickelt. 2.1.1.4 Der Erwerb von Instrumentalwissen Diese Erfahrungen können nun von unterschiedlicher Art sein. Man kann sie selbst machen. Es ist dies eine gängige Art, Instrumentalwissen zu erwerben, d. h. herauszufinden, welches Bedürfnis man haben soll. Ob es im konkreten Fall sinnvoll ist, über eigene Erfahrungen Instrumentalwissen anzustreben, hängt ab - von den damit verbundenen Kosten. Das Lehrgeld kann mehr oder weniger hoch sein. Man wird eher bereit sein, durch eigene Erfahrung herauszufinden, ob man an einer neuen Biermarke Gefallen findet, als dass man sich darauf einlässt, durch den Kauf einer Harley-Davidson herauszufinden, ob man tatsächlich eine solche Maschine wollen soll. Die mit dem Machen von Erfahrungen verbundenen Kosten mögen prohibitiv hoch sein; im Extrem sind dies dann Lernvorgänge mit tödlichem Ausgang. Es macht wenig Sinn, sich auf Erfahrungen einzulassen, nach denen man, wenn überhaupt etwas, als Letztes nur noch wünschen kann, sie nie gemacht zu haben. - davon, ob man sie in Zukunft nutzen kann. Man ist eher bereit, sich auf das Machen kostspieliger bzw. riskanter Erfahrungen einzulassen, wenn man davon ausgehen 222 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie Abbildung 30 <?page no="240"?> kann, dass man das durch sie erworbene Instrumentalwissen in Zukunft nutzen kann, also das „Lehrgeld“ als Investition zu betrachten ist. Es lohnt sich nur, kostspielige Erfahrungen zu machen, wenn man davon ausgehen kann, dass man das Gut, nach dem man ein Bedürfnis entwickelt hat, auch in Zukunft noch haben kann.Warum sollte ich unter Kosten ein Bedürfnis entwickeln wollen, das ich in Zukunft nicht mehr befriedigen kann, sei es, weil das Produkt dann nicht mehr angeboten wird, sei es, weil ich nur einmal eine Nachfrageentscheidung treffen kann, es also kein „Repeat-buying“ gibt? - von der Intensität des Unbehagens: Ein Schiffbrüchiger, der auf einer einsamen Insel gestrandet ist, mag anfangs davor zurückscheuen, Erfahrungen mit den ihm völlig unbekannten Früchten zu machen. Mit zunehmendem Hunger wird er vermutlich bereit sein, sich auf Lernvorgänge mit möglicherweise tödlichem Ausgang einzulassen; - von der Möglichkeit, auf der Grundlage nicht selbst gemachter Erfahrungen Instrumentalwissen zu erwerben. Neben den selbst gemachten Erfahrungen gibt es nämlich die Erfahrungen anderer. Auch durch sie mag jemand das Wissen gewinnen, das ihm erlaubt, seine Bedürfnisse zu entwickeln. Indem er sich die Erfahrungen anderer aneignet, hat er Erfahrungen, ohne welche - mehr oder weniger kostenintensiv - gemacht zu haben. Diese fremden Erfahrungen können die von Zeitgenossen oder von Vorfahren sein. In beiden Fällen setzt die Übernahme des auf diesen Erfahrungen gründenden Erfahrungswissens voraus, dass - die Konsequenzen der Erfahrungen für die Wohlfahrt jener, die sie gemacht haben, für den Beobachter sichtbar und das Wissen über sie verlässlich ist. Dies wiederum setzt ein gewisses Maß an Empathie, an psychologischer Nähe und wechselseitiger Öffnung voraus, die nicht immer gegeben sind. Es ist symptomatisch, dass der Einzelne um so eher bereit ist, sich die Erfahrungen anderer anzueignen und sie zu nutzen, je näher ihm diese stehen und je größer das Vertrauen ist, das er in sie hat. Wer beispielsweise ein neues Auto kaufen will, verlässt sich eher auf die Erfahrungen, die sein Freund mit diesem Autotyp gemacht hat, als auf die Erfahrungen, von denen ein völlig Unbekannter berichtet. Gleichfalls ist die Annahme plausibel, dass die Erfahrungen vergangener Generationen für die Gegenwärtigen dann nicht oder wenig nutzbar sind, wenn die psychologische Distanz zwischen den Generationen groß ist. - die Verhältnisse, unter denen die Erfahrungen von Dritten gemacht wurden, den Verhältnissen ähnlich sind, unter denen derjenige lebt, der sie übernehmen soll, und/ oder die Unterschiede in den Verhältnissen in ihren Folgen für die Gültigkeit des Instrumentalwissens abgeschätzt werden können. Dies ist seinerseits nur möglich, wenn jene, die die Erfahrungen gemacht haben, und jene, die sie übernehmen sollen, soviel gemeinsam haben, dass sie sich über ihre Unterschiede verständigen können. Mit dem Zerfall der Gesellschaft in auf sich bezogene und in sich geschlossene Lebens- und Erfahrungsbereiche einzelner „Sze- Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 223 <?page no="241"?> nen“ ist diese Voraussetzung wohl immer weniger gegeben. Der Einzelne orientiert sich bei seiner Bedürfnisbildung vor allem an den Erfahrungen in seiner „Szene“, ignoriert aber fast notgedrungen die Erfahrungen, die außerhalb dieser „Szene“ gemacht worden sind. Bezogen auf die Erfahrungen, die vergangene Generationen gemacht haben, ist hinzuzufügen: Sie sind für den Gegenwärtigen bei der Ausbildung eigener Bedürfnisse nur in dem Maße von Nutzen, wie sich die Verhältnisse nicht, jedenfalls nicht zu schnell und/ oder nicht zu sehr gewandelt haben. Die Erfahrungen der Ahnen und Alten sind dann im Zweifel nicht nur nutzlos, sondern gar gefährlich, wenn die Verhältnisse der Gegenwart völlig andere sind. Der heute vielfach beklagte Zerfall der Tradition und das heute oft bejammerte Fehlen des Respektes der Jungen für die Alten haben wohl hier eine ihrer Ursachen. Der Kult der Tradition, der Ahnenkult und der Respekt vor den Alten sind typischerweise in statischen oder doch sich nur langsam wandelnden Gesellschaften anzutreffen. Diesen realen Erfahrungen - seien es eigene oder fremde - stehen die fiktiven Erfahrungen gegenüber. Wohl geht es für den Einzelnen auch hier darum, Erfahrungen zu haben, ohne sie selbst gemacht zu haben. Doch geht es auch darum, Erfahrungen zu haben, die tatsächlich noch niemand, auf dessen Erfahrungen man zurückgreifen könnte, gemacht hat. Am Beispiel: Soll jemand eine Segeltour im Mittelmeer machen wollen? Soll er ein entsprechendes Bedürfnis ausbilden? Er selbst hat diese Erfahrung noch nicht gemacht, weiß also aus eigenem Erleben auch nicht, ob ein solches Unterfangen ein Instrument ist, seine Wohlfahrt zu erhöhen. Darüber hinaus kennt er auch niemanden, dessen Erfahrungen mit dem Segeln im Mittelmeer er sich zu eigen machen könnte und wollte. Zu fragen ist nun, ob es unter diesen Umständen nicht zur Ausbildung eines Bedürfnisses nach einer Segeltour im Mittelmeer kommen kann. Die Antwort lautet: Ein solches Bedürfnis kann durchaus entwickelt werden. Wenn aber unter diesen Umständen ein solches Bedürfnis doch entwickelt werden kann, so ist weiter zu fragen, woher das hierfür nötige Instrumentalwissen kommen kann. Konkret: Woher weiß der Einzelne, dass ein Segeltörn im Mittelmeer ein geeignetes Instrument ist, seine Wohlfahrt zu erhöhen? Als Antwort auf diese Frage drängt sich auf: Der Einzelne versucht, sich vorzustellen, was eine Bootsreise im Mittelmeer für ihn bedeuten könnte. Er versucht also, im Kopf jene Erfahrungen zu produzieren, die er in der Realität (noch) nicht gemacht hat. Er konstruiert gleichsam das Modell einer Bootsreise im Mittelmeer und macht, indem er es durchspielt, fiktive Erfahrungen. Diese fiktiven Erfahrungen gehen in dem Maße wie sie fiktiv sind, über das hinaus, was der Einzelne real erfahren hat. In dem Maße aber wie es sich um Erfahrungen handelt, die möglichst jenen gleichen sollen, die er haben würde, wenn er wirklich im Mittelmeer segeln würde, müssen sie möglichst wirklichkeitsgerecht sein. Fiktive Erfahrungen bestehen demnach darin, mittels gedanklichen Erlebens eine Wirklichkeit zu erfahren, die man aus wirklichem Erleben nicht kennt. Dies scheint, wo nicht unmöglich, schwierig zu sein. Dass es möglich, wenngleich nicht ohne Risiko ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, welche beiden Elemente in fiktive Erfahrungen eingehen: 224 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="242"?> - das aus realen Erfahrungen gewonnene Wissen sowie - Vorstellungskraft und Kombinationsgabe. Einerseits braucht es auf realen Erfahrungen gründendes Wissen. So wird der Einzelne im Zweifel schon die Erfahrung des Segelns auf dem Bodensee haben; auch mag er schon mal in Nizza gewesen sein. Andererseits braucht es Vorstellungskraft und Kombinationsgabe. So muss der Einzelne in der Lage sein, die auf realen Erfahrungen gewonnenen Wissenselemente so zu kombinieren, dass ein Ganzes entsteht. Dabei muss dieses Ganze schlüssig sein und zudem das verfügbare aus realer Erfahrung gewonnene Wissen möglichst vollständig berücksichtigen; insbesondere darf es diesem Wissen nicht widersprechen. Der Einzelne konstruiert also ein Modell, das empirisch gehaltvoll und in sich konsistent ist. Dabei ist beides wichtig: Das auf realen Erfahrungen aufbauende Wissen und die Vorstellungskraft und Kombinationsgabe. Fehlt das reale Erfahrungswissen, so läuft der Einzelne Gefahr, das Opfer seiner eigenen Phantasie zu werden, sich in vielleicht reizvollen und widerspruchsfreien, aber wirklichkeitsfernen Traumwelten zu verlieren und dort Bedürfnisse zu entwickeln, die dann später im wirklichen Erleben zu Enttäuschungen führen müssen. So wird im Zweifel jener, der in seinem Modell von der Segeltour im Mittelmeer die reale Erfahrung nicht berücksichtigt, dass auf einem Boot wenig Platz ist, später vermutlich in der Wirklichkeit leidvoll erfahren, was er im Modell nicht vorweggenommen hat. Fehlen hingegen die Vorstellungskraft und die Kombinationsgabe, so mag der Einzelne wohl wissen, wie es am Mittelmeer aussieht. Doch wird er sich kein Bild davon machen können, wie es auf dem Mittelmeer ausschaut. Dabei gilt: Die Anforderungen an die Vorstellungskraft und an die Kombinationsgabe sind umso größer, je geringer das verfügbare, auf realen Erfahrungen basierende Wissen ist. Und es gilt auch: Der Vorstellungskraft und der Kombinationsgabe sind umso engere Grenzen gesetzt, je größer das auf realen Erfahrungen gründende Wissen ist. Im Extrem: Wer aus realer Erfahrung gar nichts weiß, kann und muss sich alles vorstellen. Und wer aus realer Erfahrung alles weiß, muss und kann sich nichts vorstellen. Man ist also zwecks Erwerbs des zur Bedürfnisbildung notwendigen Instrumentalwissens um so mehr auf fiktive Erfahrungen angewiesen, über je weniger reales Erfahrungswissen man verfügt. Und: Je geringer das verfügbare reale Erfahrungswissen, desto größer die Gefahr, dass Vorstellungskraft und Kombinationsgabe den Einzelnen in vielleicht in sich schlüssige, aber wirklichkeitsferne Modellwelten (ver)führen. Aus dem Gesagten folgt, dass die ex ante gemachten fiktiven Erfahrungen ex post um so eher den wirklichen Erfahrungen entsprechen, - je größer der Input an realem Erfahrungswissen und an Vorstellungskraft und Kombinationsgabe ist; - je mehr die Kombinationsgabe und die Vorstellungskraft die Elemente realen Erfahrungswissens untereinander in Beziehung setzen kann und je mehr das reale Erfahrungswissen die Phantasie in Grenzen hält. Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 225 <?page no="243"?> Man kann also ein von den Bedürfnissen her dürftiges und karges Leben führen, weil man unfähig bzw. unwillens ist, sich auf der Grundlage dessen, was man aus Erfahrung kennt, auszumalen, was noch alles möglich ist. Und: Man kann sich von seiner Phantasie zur Entwicklung von mehr oder weniger unrealistischen Bedürfnissen verleiten lassen, weil man nicht willens oder fähig ist, sich auf der Grundlage dessen, was man aus Erfahrung kennt, auszumalen, was alles nicht möglich ist. In welchem Verhältnis reale Erfahrungselemente und Phantasie in die Produktion von fiktiven Erfahrungen eingehen, hängt wesentlich ab - von den Kosten der Speicherung, Auffindung und Verarbeitung der Information über reale Erfahrungen und - von den Kosten, aber auch von dem unmittelbaren Nutzen des Phantasierens. Dabei ist Folgendes zu bedenken: Sind die Kosten der Information über reale Erfahrungen und der Nutzen des Phantasierens hoch, so besteht die Gefahr, dass wirklichkeitsfremde Traumerfahrungen generiert werden, in denen - wie der Volksmund sagt - der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Wir sollten diesen Punkt im Auge behalten, verweist er doch auf einen Tatbestand, den sich - wie wir unten sehen werden - viele Politiker zunutze machen. Auch scheinen wir hier auf einen Aspekt zu stoßen, der erklären mag, warum so beachtenswert viele politische Programme so völlig anders erscheinen, als ihre Realisierung im Nachhinein aussieht. Die dramatische Verkennung der mit der deutschen Wiedervereinigung verbundenen Schwierigkeiten und Kosten dürfte zum Beispiel darauf zurückzuführen sein, dass die Phantasie des einen Deutschland seit Jahrzehnten zwar ohne große Kosten, ja im Gegenteil mit unmittelbarem Lustgewinn gepflegt und eingeübt worden war. Die Aufarbeitung des für die Wiedervereinigung relevanten Faktenwissens hingegen wäre sehr kostspielig gewesen. Oder aber diese Ausarbeitung wurde - da man nicht wirklich an das Ende der DDR glaubte - als unnötig angesehen. Wir brechen hier die Darstellung der Entstehung von Privatbedürfnissen ab und fassen das Gesagte in Abbildung 31 zusammen: 226 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie Abbildung 31 <?page no="244"?> 2.1.2 Das Entstehen von Kollektivbedürfnissen Auch für Kollektivbedürfnisse gilt der Zusammenhang von Unbehagen und Instrumentalwissen. Auch hier ist das Unbehagen die zum Handeln motivierende Kraft, ist das handlungsorientierende Instrumentalwissen die Frucht der Erfahrung. Auch hier kann diese Erfahrung eine reale oder fiktive, eine eigene oder fremde sein.Allerdings sind bei der Frage nach der Entstehung von Kollektivbedürfnissen einige Aspekte zu beachten, die bei privat befriedigbaren Bedürfnissen nicht oder doch weniger ins Gewicht fallen. 2.1.2.1 Eigene reale Erfahrungen Die Annahme ist plausibel, dass es gemeinhin kostspieliger ist, Kollektivgüter auszuprobieren als mit Privatgütern zu experimentieren. Es ist billiger, ein neues Bier auf seine Eignung als Mittel zur Wohlfahrtssteigerung zu prüfen als ein Autobahnnetz. Jenes kostet einen Euro; bei diesem wäre ein Lehrgeld in Milliardenhöhe zu entrichten. Darüber hinaus ist der Kauf von Getränken ein immer wiederkehrender Vorgang; der Auf- und Ausbau eines Verkehrssystems hingegen ist ein einmaliger, jedenfalls nur selten wiederholbarer Akt. Hat man unter Milliardenaufwand ein Autobahnnetz aufgebaut, so weiß man im Zweifel, dass man gut beraten ist, kein solches zu wollen. In dem Maße wie es hier kein „repeat-buying“ gibt, nützt einem diese Erkenntnis nichts. Bei Kollektivgütern gilt: Verlässt man sich nur auf reale eigene Erfahrungen, so muss man im Zweifel diese Güter teuer erworben haben, um zu wissen, dass man sie nicht wollen soll. Hier mag einer der Gründe dafür liegen, warum - von Ausnahmesituationen abgesehen - in der Politik bei den Wählern der Slogan „Keine Experimente“ gut ankommt. Die Wähler scheinen wenigstens zu ahnen, dass Experimente mit Kollektivgütern in der Regel sehr teuer sind. Diese konservative Grundhaltung mag allerdings dann leicht aufgegeben werden, wenn die gegenwärtige Lage so schlecht ist, dass die auch noch so geringe Erfolgsaussicht eines teuren politischen Experiments dieses sinnvoll erscheinen lässt. Auch mögen die hohen Kosten realer eigener Erfahrungen mit Kollektivgütern erklären, warum die jüngere Generation im Hinblick auf Kollektivgüter häufig experimentierfreudiger ist als die Erwachsenengeneration: Die Mitglieder der Erwachsenengeneration sind nämlich im Zweifel jene, welche das „Lehrgeld“ zahlen, also die Kosten der Erfahrungen tragen müssen, aber nur noch begrenzt einen Nutzen aus dem so gewonnenen Erfahrungswissen ziehen können. Ganz im Gegenteil zu den Jüngeren: Diese tragen, da sie etwa noch keine Steuern zahlen, weniger an den Kosten des Wissenserwerbs, können aber, da sie länger leben, aus dem so gewonnenen Erfahrungswissen eher einen Nutzen ziehen.Typischerweise neigen auch die Mitglieder der jüngeren Generation dann dazu, keine Experimente zu machen, wenn - wie im Falle etwa der Plutoniumindustrie - das Risiko besteht, dass das „Lehrgeld“ während Jahrtausenden, bestimmt aber während ihrer eigenen Lebenszeit bezahlt werden muss. Wenn nun trotzdem Bedürfnisse auf der Basis von realen eigenen Erfahrungen gebildet werden sollen, so kann dies dadurch erleichtert werden, dass nach Möglichkeit die Erfahrung mit Kollektivgütern in kleinere Erfahrungsabschnitte aufgespaltet wird. Entsprechend geringer sind dann die mit jedem Abschnitt verbundenen Kosten des Wissenserwerbs; entsprechend größer ist auch die Chance, dass die in den ersten Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 227 <?page no="245"?> Abschnitten gewonnenen Informationen bei späteren Entscheidungen genutzt werden. Dem „repeat-buying“ im Falle von Privatgütern entspricht die „Revidierbarkeit der Politik“ in Bezug auf Kollektivgüter, entspricht die „Politik der kleinen Schritte“. Es gibt eine zweite Möglichkeit, die mit dem Erwerb realen eigenen Erfahrungswissens verbundenen Kosten zu senken. Sie besteht darin, nicht - wie eben erwähnt - diachron, d. h. im zeitlichen Ablauf, sondern synchron, d. h. gleichzeitig, vielfältige und vielzählige kleinere Experimente mit Kollektivgütern zu ermöglichen. Einer der Vorteile des Föderalismus gegenüber dem Zentralismus bei der Bereitstellung von Kollektivgütern besteht eben hierin. Ein weiterer Punkt ist zu beachten: Damit eine Erfahrung ein Wissen über den Wert eines Gutes als Instrument zur Wohlfahrtssteigerung generiert, ist es nötig, dass zwischen diesem Gut und der eigenen Wohlfahrt eine Beziehung hergestellt werden kann. Dies ist eine Selbstverständlichkeit, verdient aber, hier eigens hervorgehoben zu werden. Wenn und in dem Maße nämlich wie der einzelne Bürger zwischen seiner Wohlfahrt und der Bereitstellung eines bestimmten Kollektivgutes keine Beziehung erkennen kann, wird er selbst im Nachhinein nicht wissen können, ob er dieses Gut eigentlich wollte. Er weiß im Nachhinein nicht einmal, ob er ein Bedürfnis nach diesem Gut hat. Nach dem Versuch mit einem neuen Bier werden die meisten wissen, ob es ihnen schmeckt oder nicht, ob sie ein Bedürfnis danach haben (sollen) oder nicht. Im Falle von Kollektivgütern sind die Beispiele nicht selten, bei denen - auch nachdem die Güter schon bereitgestellt worden sind - die Zahl der Unentschiedenen relativ hoch ist. Nach wie vor weiß man hier nicht, was man davon halten soll. 2.1.2.2 Fremde reale Erfahrungen von Zeitgenossen Mag man schon selbst kein Autobahnnetz bauen wollen und können, um herauszufinden, ob man eines wollen soll, so mag man doch prüfen, welche Erfahrungen anderweitig mit einem Autobahnnetz gemacht worden sind. Dem entspricht die gängige Praxis, vor eigenen politischen Entscheidungen Kommissionen mit dem Studium auswärtiger Erfahrungen zu beauftragen. Allerdings mögen die realen Erfahrungen Dritter nicht nur wenig hilfreich sein, sie können auch irreführend sein. Der Grund hierfür ist ein doppelter: Zum einen hängt der Beitrag eines bestimmten Kollektivgutes zur Wohlfahrt der einzelnen Gesellschaftsmitglieder von den Bedingungen ab, unter denen dieses Gut erstellt und in Anspruch genommen wird. So bedeutet der Bau und die Benutzung eines Autobahnnetzes in einem weiträumigen, flachen Land wie etwa dem US-amerikanischen Mittelwesten etwas anderes für die individuelle Wohlfahrt, als dies in einem engräumigen, gebirgigen Land wie der Schweiz erwartet werden kann. Die unmittelbare Übernahme fremder Erfahrungen verbietet sich demnach.Wir werden weiter unten sehen, dass die Berücksichtigung der von Land zu Land verschiedenen Bedingungen darauf hinausläuft, fiktive Erfahrungen zu produzieren. Zum anderen spricht gegen die unmittelbare Übernahme realer Erfahrungen Dritter, dass auch dann, wenn die externen Bedingungen in dem Vergleichsland nicht differieren, die dort vorhandenen inneren Befindlichkeiten anders sein mögen. Genauer: Auch wenn im Vergleichsland die Wohlfahrt der einzelnen Bürger durch den 228 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="246"?> Bau von Autobahnen erhöht worden ist, mögen die Bürger hier - weil sie ein anderes Präferenzsystem haben - durch den Bau und die Nutzung von Autobahnen keineswegs glücklicher werden. Problemlos ist dies dann, wenn die Unterschiede zwischen den Präferenzsystemen im Voraus abgeschätzt und entsprechend auch berücksichtigt werden können. Damit ist aber so ohne weiteres nicht zu rechnen. Zum einen soll gerade das Erfahrungswissen Dritter helfen, die eigenen Bedürfnisse und Präferenzen zu finden und zu konkretisieren. Entsprechend können die eigenen Präferenzen nicht dazu herangezogen werden, die Distanz zu den Präferenzen Dritter festzustellen. Zum anderen setzt die Feststellung der Wohlfahrt Dritter eine psychologische Nähe und ein empathisches Einfühlungsvermögen voraus, die über die Kollektiv-, Landes- und Staatsgrenzen hinaus wohl eher selten existieren. 2.1.2.3 Fremde reale Erfahrungen aus der Vergangenheit Wenn man schon nicht selbst mit einem Autobahnnetz Erfahrungen machen will und wenn man schon nicht auf die realen Erfahrungen von Zeitgenossen in anderen Kollektiven zurückgreifen kann oder will, so mag man fragen, wie „wir es in der Vergangenheit gemacht haben“. Man mag also prüfen, wie frühere Generationen entschieden haben und wie sie mit diesen Entscheidungen gefahren sind. Dann mag man - „weil sich das Alte bewährt“ hat - entscheiden wie diese. Dies ist aber nur dann sinnvoll, wenn sich die Verhältnisse inzwischen nicht soweit geändert haben, - siehe oben - dass die Lehren aus der Vergangenheit im günstigsten Fall harmlos sind. So wird man kaum aus den Erfahrungen der Vorväter Auskunft darüber erhalten können, ob wir heute Autobahnen wollen sollen oder nicht. Es mag gar sein, dass das, was für sie sinnvoll war, für uns gefährlich wäre. So lautet etwa eine pazifistische These, dass die ehedem vielleicht richtige Erfahrung, dass Kriegsvorbereitungen den Frieden sichern, heute mit Sicherheit falsch ist. Es ist eine plausible Vermutung, dass die realen Erfahrungen vergangener Generationen angesichts des rasanten Wandels der Verhältnisse auch im Bereich der Kollektivbedürfnisse an Wert verlieren, ja zum „Unwert“ werden. Das aus diesen Erfahrungen der Vergangenheit resultierende Wissen existiert oftmals nicht nur in den Geschichtsbüchern und in den Köpfen der Menschen. Es ist häufig auch in Institutionen und Organisationen, in Gesetzen und Regeln festgehalten: Institutionen und Gesetze sind gleichsam „geronnenes Erfahrungswissen“. Dies ist dann für den Einzelnen von Vorteil - und damit kostensparend -, wenn die Verhältnisse einigermaßen konstant bleiben, der Wandel allenfalls bescheiden ist.Wenn aber - wie dies gegenwärtig der Fall ist - der Wandel der Verhältnisse schnell, tiefgreifend und weitreichend ist, dann erweist sich das in den Institutionen „geronnene“ Erfahrungswissen zunehmend als den gewandelten Verhältnissen nicht mehr entsprechend. Die Folge ist, dass die Befriedigung der auf der Grundlage dieses Wissens artikulierten Kollektivbedürfnisse immer weniger zur Wohlfahrt der Bürger beiträgt. Dies kann dann zur Folge haben, dass die Institutionen selbst bei den Bürgern in Misskredit geraten. So ist es eine wenigstens bedenkens- und prüfenswerte Frage, ob nicht das, was heute als Staatsverdrossenheit beklagt wird, auch hier einen seiner Gründe hat. Dies um so mehr, als es den Anschein hat, dass diese Staatsverdrossenheit sich nicht so sehr auf den Inhalt der politischen Entscheidungen, nicht einmal so sehr auf die Personen der Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 229 <?page no="247"?> politischen Klasse, sondern auch und im Letzten auf die Institutionen der Politik, also auf das dort „geronnene“ Erfahrungswissen bezieht. 2.1.2.4 Fiktive Erfahrungen Bei der Entstehung von Kollektivbedürfnissen kommt fiktiven Erfahrungen eine besondere Bedeutung zu. Dies deshalb, weil es hier gemeinhin sehr teuer ist, eigene reale Erfahrungen zu machen, und weil hier die Übernahme der realen Erfahrungen Dritter gemeinhin nicht angezeigt ist.Wenn aber Kollektivbedürfnisse vornehmlich auf einem aus fiktiven Erfahrungen gewonnenen Instrumentalwissen basieren, dann sind hier die Mobilisierung der Vorstellungskraft und der Kombinationsgabe sowie die Nutzung relevanter Elemente von realem Erfahrungswissen von großer Wichtigkeit. Mag das Machen von fiktiven Erfahrungen schon im Falle von Privatgütern nicht leicht sein, so dürfte es im Falle von Kollektivgütern ungleich schwieriger sein. Denn es ist diffiziler, in Gedanken durchzuspielen, was der Aufbau eines Raketenabwehrsystems, der Bau eines Autobahnnetzes oder die Reform des Gesundheitswesen letztlich bedeuten, als sich ein Bild davon zu machen, wie eine Segeltour im Mittelmeer oder der Bau einer Veranda am eigenen Haus erlebt würde.Auch wenn man sich einzelne Beispiele vorstellen kann, in denen es leichter ist, fiktive Erfahrungen mit Kollektivgütern zu machen als mit Privatgütern, so dürfte es im Regelfall doch umgekehrt sein. Die Gründe hierfür sind folgende: - Gemeinhin streuen die durch die Erstellung von Kollektivgütern erzeugten wohlfahrtsrelevanten Konsequenzen zeitlich und sachlich breiter, als dies bei Privatgütern der Fall ist. - Entsprechend ist zum Erfassen dieser weitstreuenden Effekte das Fachwissen aus im Zweifel mehr Disziplinen nötig, als dies zum Erfassen der Wirkungen von Privatgütern erforderlich ist. - Die Vielzahl und die Vielfalt der durch Kollektivgüter ausgelösten Effekte ermöglichen eine - im Vergleich zu Privatgütern - größere Zahl von Kombinationen, erfordern also zu ihrer Zusammenfügung in einem konsistenten und realistischen Modell mehr an Vorstellungskraft und Kombinationsgabe. Es ist angezeigt, an dieser Stelle einen kurzen Blick zurückzuwerfen. Nach wie vor geht es um die Entstehung von Kollektivbedürfnissen. Das zu ihrer Entstehung notwendige Instrumentalwissen baut auf der Erfahrung auf. Diese Erfahrung wird im Falle der Kollektivbedürfnisse vorrangig eine fiktive Erfahrung sein; und im Falle von Kollektivbedürfnissen ist es besonders schwierig, diese fiktiven Erfahrungen zu machen. Man kann es auch so sagen: Was im Falle von Kollektivbedürfnissen besonders nötig ist, ist hier auch besonders schwierig. Entscheidend dabei ist, dass auch Kollektivbedürfnisse letztlich Bedürfnisse von Individuen sind. Also müssen auch die fiktiven Erfahrungen von Individuen, im Extrem und Ideal von jedem einzelnen Individuum gemacht werden (können). In einem ersten Angehen mag man demnach wünschen und hoffen, dass die einzelnen Individuen willens und fähig sind, die zur Erstellung von fiktiven Erfahrungen nötige Kombinationsgabe und Vorstellungskraft zu mobilisieren und die relevanten 230 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="248"?> realen Wissenselemente zu nutzen. Dieser Wunsch und diese Hoffnung erweisen sich jedoch als unrealistisch. Denn wie anderweitig zu zeigen sein wird, liegt es gemeinhin nicht im Interesse des einzelnen Individuums, sich über die zur kollektiven Entscheidung anstehenden Angelegenheiten zu informieren, sich also unter Kosten das irgendwo verfügbare Wissen über den Entscheidungsgegenstand anzueignen. Darüber hinaus liegt es gemeinhin weder im Interesse des Einzelnen noch im Rahmen seiner Fähigkeiten, sich ein konsistentes Modell vorzustellen. Dies jedenfalls dann, wenn darunter mehr und anderes verstanden wird als die lustvolle Fabrikation von Stammtischvisionen. Wenn aber das einzelne Kollektivmitglied, etwa der einzelne Wähler nicht fähig und/ oder nicht willens ist, die zum Finden seiner Kollektivbedürfnisse notwendigen fiktiven Erfahrungen zu generieren, dann mag man die Hoffnung haben, dass die einzelnen Politiker hierzu bereit und in der Lage sind. Doch auch diese Hoffnung trügt. Denn Politiker zeichnen sich von vornherein weder durch ein überdurchschnittlich hohes Wissen noch durch eine überdurchschnittlich hohe Phantasie aus. Wohl mag der eine oder der andere auf dem einen oder anderen Gebiet eher Bescheid wissen und auch dort zu überdurchschnittlich innovativen Kombinationen fähig sein. Doch dürfte richtig sein, dass sich Politiker zu weit mehr Dingen äußern als sie überschauen; und - mehr noch - sie entscheiden in weit mehr Angelegenheiten, als sie durchgedacht haben. Politiker sind gemeinhin allround-Redner und allround-Entscheider, aber sie sind keine all-round-Spezialisten. Gerade dies aber müssten sie sein, wenn sie als Einzelne den Bürgern realitätsnahe und phantasievolle Modelle anbieten sollten, auf deren Grundlagen die einzelnen Bürger ihre Kollektivbedürfnisse entwickeln könnten. 2.1.2.5 Die indirekte Demokratie - eine Lern- und Lehrveranstaltung Damit stehen wir vor der Frage: Wenn denn die einzelnen Wähler und die einzelnen Politiker in der Regel weder die Fähigkeit noch die Bereitschaft haben, die notwendigen fiktiven Erfahrungen zu generieren, wo sollen diese herkommen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Was die Wähler und die Politiker als Einzelne weder bewerkstelligen können noch wollen, das können und müssen sie in der Interaktion. In diesem Sinne ist die Hoffnung nicht unrealistisch, dass der demokratische Willensbildungsprozess unter bestimmten Bedingungen jene Informationen mobilisieren und jene Phantasie wecken und beflügeln kann, die nötig sind, wenn fiktive Erfahrungen mit Kollektivgütern erzeugt werden sollen, die sich im Nachhinein als einigermaßen richtig erweisen. Es ist zu vermuten, dass die Demokratie auch eine Lern- und Lehrveranstaltung ist, in der zwischen den Bürgern als Wählern, Politikern und Mitgliedern der Verwaltung psychologische Prozesse ablaufen, ohne die das Unbehagen der Bürger im Staat nicht in Bedürfnisanmeldungen an den Staat umgesetzt werden kann, ohne die also die Politik mangels handlungsorientierender Signale seitens der Bürger auch ohne Richtmaß und Kontrollinstanz bleibt; jedenfalls ohne solche, die ein Höchstmaß an Wohlfahrtssteigerung erlauben. In paradigmatischer Vereinfachung lässt sich dieser Vorgang wie folgt skizzieren: Wir haben von der plausiblen Annahme auszugehen, dass die um die Gunst und um die Stimmen der Wähler werbenden Politiker längst nicht auf allen Gebieten, die ihre Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 231 <?page no="249"?> Wahlprogramme tangieren, Fachleute sind oder auch nur das Wissen von Fachleuten nutzen. Häufig dürfte es so sein, dass sie vage und phantasiearme Programme vorstellen, die alles bedeuten und nichts aussagen. Auch ist anzunehmen, dass sie es als in ihrem Interesse liegend ansehen, sich möglichst wenig festzulegen. Denn so entziehen sie sich wenigstens zum Teil der Kontrolle durch die Bürger und der Kritik durch die Mitbewerber. Mag dies auch die ernüchternde Ausgangssituation sein, so kann doch der politische Wettbewerb Kräfte in Gang setzen, die im Ergebnis sowohl bei den Politikern als auch bei den Wählern die notwendigen fiktiven Erfahrungen erzeugen, indem sowohl die Phantasie als auch das irgendwo verfügbare Wissen mobilisiert werden; dies jedenfalls in einer ersten Annäherung. Was hier abläuft, lässt sich in seinem Kern schematisch-vereinfacht darstellen, wenn wir zwei politische Kandidaten A und B einander gegenüberstellen. Beide stellen ihre Programme vor: vage und nichtssagend, ein Reflex des niedrigen Informationsniveaus und der bescheidenen Vorstellungskraft der beiden Bewerber. Ihnen stehen gleichfalls uninformierte und phantasiearme Wähler gegenüber, von denen vorerst keine kritischen Fragen und provozierenden Einwände zu erwarten sind. Der einzelne Kandidat steht nun vor der Notwendigkeit, sich gegenüber seinem Konkurrenten abzusetzen und die Wähler anzusprechen. Empirische Untersuchungen belegen die - von der theoretischen Reflexion her plausible - Hypothese, dass er dies nicht dadurch tut, dass er konkret und im Detail sein eigenes Programm vorstellt und dessen Vorteile ins helle Licht rückt.Vielmehr bemüht er sich, das Programm seines Gegners in einem möglichst dunklen Licht erscheinen zu lassen. Die Betonung der Negativseiten konkurrierender Programme ist in der Regel deshalb erfolgversprechender als das Herausstellen der positiven Aspekte des eigenen Programmentwurfs, weil Wohlfahrtseinbußen gemeinhin nachhaltiger erlebt werden als Wohlfahrtssteigerungen. Der politische Bewerber taucht das konkurrierende Programm also in ein dunkles Licht, indem er diesem Programm negative Seiten zuschreibt.Was aber auch Folgendes heißt: Das ursprüngliche, gleichfalls vage konkurrierende Programm wird - wenigstens was seine negativen Aspekte angeht - konkretisiert. A gibt sich Mühe, vermutlich noch recht uninformiert, hervorzuheben, was die Realisierung des Programms von B an Wohlfahrtseinbußen für die Wähler nach sich ziehen würde. Damit ist B aber von A in die Defensive gedrängt. Es stehen ihm zwei gleichzeitig mögliche Gegenstrategien zur Verfügung: Er kann seinerseits mit einem Angriff auf das Programm des A antworten, dessen Kosten und Nachteile er - wiederum möglicherweise uninformiert, also verzerrt und übertrieben - einseitig aufzuzeigen versucht. Er kann und muss aber wahrscheinlich auch den Angriff des A auf sein Programm parieren, indem er zeigt, wie sehr die Nachteile falsch und übertrieben eingeschätzt und wie sehr die Vorteile nicht berücksichtigt worden sind. Damit aber ist ein Interaktionsprozess in Gang gesetzt, aus dem auszubrechen für die beiden Gegner so ohne weiteres nicht möglich ist, ein Interaktionsprozess auch, der zu Ergebnissen führt, die über das hinausgehen, was jeder der Gegner von sich aus angestrebt haben würde. Sollte einer der Wettbewerber aus dem Prozess aussteigen wollen, so würde er sich insofern schaden, als in den Augen der Wähler der Eindruck entstünde, dass er seinem Gegner nichts entgegenzusetzen, also den Wählern nichts zu bieten hat. 232 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="250"?> So führt diese Auseinandersetzung dazu, dass jeder der beteiligten Kandidaten gezwungen ist, will er bestehen und als Sieger hervorgehen, sich über die „tatsächlichen“ Vor- und Nachteile seines Programms zu informieren, um den Angriffen, Übertreibungen, Verzerrungen und Einseitigkeiten seines Gegners standhalten zu können. Indem er dies tut, wächst ihm einerseits selbst ein Erkenntnisstand zu, den er eingangs nicht hatte und um den er sich nicht bemüht hätte, wenn er die politische Auseinandersetzung mit den sonoren Formeln einer leerlaufenden Rhetorik hätte bestreiten können.Andererseits sieht er sich gezwungen, jene Phantasie und Vorstellungskraft zu mobilisieren, die nötig sind, um das so erworbene Wissen in wirklichkeitsnahen und konsistenten Modellen und Szenarien zu nutzen. Mit etwas anderer Akzentsetzung kann man auch sagen: Der politische Wettbewerb führt dazu, dass - zusammen mit konkreten Vorstellungen über Kollektivbedürfnisse - jene Sprache entsteht, ohne die der politische Diskurs nicht geführt werden könnte. So gesehen ist die Sprache, d.h. die Ausdrucksmöglichkeit für Bedürfnisse, ein Ergebnis und eine Voraussetzung des politischen Wettbewerbs. Denn in der Politik kann nur über jene Belange geredet werden, bezüglich derer es eine Sprachregelung gibt. Und ohne politischen Wettbewerb gäbe es nur rudimentäre Ausdrucksmöglichkeiten für jenes Unbehagen, das die Bürger in den politischen Prozess einbringen wollen. In nichtdemokratischen Staaten sind die Bürger nicht nur stumm, weil ihnen der staatliche Terror den Mund verbietet. Sie sind auch sprachlos, weil es ihnen an den Instrumenten der Artikulation, eben an einer politischen Sprache mangelt. Die Konkretisierung von Bedürfnissen und die sprachlichen Artikulationsmöglichkeiten hängen also zusammen. Es ist daher zu vermuten, dass sprachlose Bürger keine oder doch höchst unrealistische Vorstellungen von ihren Kollektivbedürfnissen haben. Im Zweifel sind sie „wunschlos unglücklich“. Dies und die begrenzten Artikulationsmöglichkeiten, gepaart mit einem möglicherweise starken Unbehagen, führen dazu, dass - reicht die staatliche Repression nicht mehr aus - das Gefühl des Mangels sich häufig im unartikulierten Protest, in der ziellosen Destruktivität äußert. In Kurzfassung: In einer funktionierenden Demokratie führt das Unbehagen über den politischen Wettbewerb zu artikulierten Forderungen. In nichtdemokratischen Staaten ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich in unartikulierten Gewaltausbrüchen entlädt. Die Angst totalitärer Machthaber vor den geringsten Willensäußerungen ihrer Untergebenen ist nur zu berechtigt. Wir werden unten sehen, dass auch in Demokratien analoge, wenn auch nicht identische Situationen der Angst entstehen können. Die Schwierigkeiten und Wirren in den Nachfolgestaaten der mittel- und osteuropäischen Diktaturen dürften auch hier eine ihrer Ursachen haben: Das Funktionieren der Demokratie setzt eine artikulierte politische Sprache voraus, die ihrerseits nur das Ergebnis einer funktionierenden Demokratie sein kann. Beides - die Sprache und die Demokratie - mag sich in günstigen Fällen allmählich herausbilden. In den besagten Nachfolgestaaten hätten beide mit einem Schlag gleichzeitig da sein müssen; dies erwies sich als nicht möglich. Alles in allem mobilisiert also die Dynamik des politischen Wettbewerbs - unabhängig von der Motivation der Konkurrenten - jenes Wissen und jene Phantasie, die notwendig sind, um möglichst realitätsnahe fiktive Erfahrungen zu generieren.Auch wenn die Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 233 <?page no="251"?> Kandidaten für ein politisches Amt keinerlei Interesse an einer Konkretisierung ihrer eigenen Pläne haben, trägt der politische Wettbewerb zum Entstehen solcher konkreten Programme bei. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass der einzelne Wettbewerber nicht über alle Informationen verfügen und von ihm nicht alle Phantasie aufgebracht werden muss. Im Gegenteil: Im politischen Wettbewerb ist es gerade die Einseitigkeit des Einzelnen, seine Voreingenommenheit, seine Subjektivität, die Enge seines Blickwinkels, die - in der Konfrontation mit der Partialität des oder der anderen - dazu beitragen, dass ein möglichst vollständiges und wirklichkeitsnahes Bild dessen entsteht, was an Wohlfahrtsänderungen als Folge der zur Diskussion stehenden alternativen Programme zu erwarten ist. Der demokratische Willensbildungsprozess ist demnach nicht nur ein Mittel, um gegebene individuelle Bedürfnisse in Kollektiventscheidungen gegeneinander abzuwägen und zu befriedigen. Er ist auch ein Mittel, um in hochdramatischer Form artikulierte fiktive Erfahrungen zu produzieren und so im Kollektiv zu befriedigende Bedürfnisse überhaupt erst zu ermöglichen. So wie es auch ein Vorteil der Marktwirtschaft ist, dass sie erlaubt, diffuses Unbehagen in Bedürfnisse nach Privatgütern umzusetzen, so ist es ein Vorteil der Demokratie, dass sie erlaubt, diffuses Unbehagen in Bedürfnisse nach Kollektivgütern zu artikulieren. In dieser optimistischen Optik ist die Demokratie also eine Lern- und Lehrveranstaltung. Zu fragen ist, ob die Wirklichkeit diesen Optimismus rechtfertigt. Es ist also nach den Bedingungen zu suchen, unter denen Politiker und Bürger sich in einem Interaktionsprozess wechselseitig vermitteln, was der jeweils andere will bzw. soll. Dazu Folgendes: Eine politische Konstellation, in der die konkurrierenden Politiker einander nahestehende Standpunkte vertreten, ist eine recht ambivalente Sache.Wohl wird so die mit einer Polarisierung der Positionen verbundene Verschärfung des politischen Konfliktes vermieden. Doch wird auf diese Weise auch verhindert, dass möglichst viele und vielfältige Gesichtspunkte in die öffentliche Diskussion eingebracht werden. Die Annäherung der politischen Standpunkte und die Entleerung der Extremsegmente des politischen Meinungsfächers haben die bedenkliche Folge, dass die Spannweite der in die öffentliche Auseinandersetzung eingebrachten Probleme zusammenschrumpft. Das Unbehagen der Bürger kann sich so lediglich innerhalb des engen Rahmens der wohl konfligierenden, aber benachbarten Parteiprogramme in konkrete Kollektivbedürfnisse umsetzen. Es ist an dieser Stelle eigens auf die gesellschaftlichen Minoritäten, die randständischen Existenzen, die marginalen Gruppen hinzuweisen. Ihre durchaus positive Bedeutung besteht gerade darin, dass sie jenseits und außerhalb des Beziehungs- und Verpflichtungsgeflechts der gesellschaftlichen Normalität, wenn man so will: des Establishments, stehen. So besteht die begründete Hoffnung, dass sie von ihrem etwas außerhalb liegenden Standpunkt solche Aspekte, Zusammenhänge und Kombinationen sehen können, die außerhalb der Vorstellungskraft des „Durchschnittsbürgers“ und des „Durchschnittspolitikers“ liegen. Es ist eine plausible Hypothese, dass viele (die meisten) gesellschaftlichen Neuerungen von marginalen Gesellschaftsmitgliedern in die politische Diskussion eingebracht werden. Allerdings: Mögen auch viele Außenseiter überdurchschnittlich phantasiereich sein, so liegt doch die Vermutung nahe, dass auch viele von ihnen über ein reales Erfahrungswissen verfügen, das in seiner 234 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="252"?> Bedeutung der Phantasie nicht entspricht. Die Folge ist, dass nicht selten jene fiktiven Erfahrungen, die von Außenseitern in die öffentliche Auseinandersetzung eingebracht werden, nur in Traumwelten von Nutzen sein könnten. Ist dies der Fall, so fällt es leicht, sie als bestenfalls harmlose, vielleicht gar als gefährliche Utopie abzutun und abzulehnen. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass gesellschaftliche Minderheiten über eine durchaus seltene Ressource verfügen können: Phantasie und Vorstellungskraft. Es mag schon mal sinnvoll sein, ihre fiktiven Erfahrungen als realitätsfremd abzutun; es ist gewiss nicht zweckmäßig, die Phantasie, die in diese fiktiven Erfahrungen eingegangen ist, durchgehend nicht zu nutzen. Diese Art von „Arbeitsteilung“ setzt allerdings eine Gesprächs/ Hörfähigkeit und eine Gesprächs/ Hörbereitschaft auf Seiten der Außenseiter und auf seiten des Establishments voraus, die in der Regel nicht so ohne weiteres gegeben sind. Es ist demnach wichtig, dass das Angebot an fiktiven Erfahrungen nicht zu eng ist, die Standpunkte der politischen Wettbewerber also nicht zu nahe beieinander liegen. Dies sollte jedoch nicht zu dem Schluss verleiten, dass eine Polarisierung der politischen Parteienlandschaft, also die Ansiedlung der Programme an den Extremen des Meinungsfeldes, für die Produktion von fiktiven Erfahrungen ohne weiteres ein Segen ist. Das ist dann nicht der Fall, wenn die politischen Positionen so weit auseinanderliegen bzw. die Animosität der „Rechten“ gegen die „Linken“ so groß ist, dass die von „rechts“ in die Diskussion eingebrachten Argumente „links“ nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen werden und die „linken“ Argumente „rechts“ auf taube Ohren stoßen. Es sieht also so aus, dass zwar eine zu große Nähe der politischen Standpunkte den Reflexionsprozess im Staat drosselt und so nur eng gefächerte fiktive Erfahrungen zulässt; wo alle das Gleiche denken, denkt niemand. Es sieht aber gleichfalls so aus, dass eine zu große Polarisierung der politischen Meinungen dem Reflexionsprozess wenig förderlich ist; wo jeder ohne Bezug zum Anderen und Andersartigen denkt, denkt er allein. Ein weiterer Aspekt ist in diesem Kontext anzusprechen. I. L. Janis hat auf die Gefahr hingewiesen, dass politische Entscheidungen, wenn sie von einem geschlossenen, auf sich selbst bezogenen Kreis von Eingeweihten getroffen werden, das Opfer des „groupthink“ werden. Das Bedürfnis der Entscheidungsträger nach Harmonie und Gruppenkohäsion verleitet dann zu gemeinsam gepflegten Irrtümern und einer gemeinsam gehegten Borniertheit des Horizonts. Soll also der demokratische Willensbildungsprozess zu wirklichkeitsnahen fiktiven Erfahrungen führen, so ist es nötig, dass der Kreis der unmittelbaren Entscheidungsträger in dem Sinne offen ist, dass im Prinzip in jedem Augenblick „newcomers“ in ihn einbrechen (können). Die von Robert Michels angesprochenen „oligarchischen Tendenzen“ von im Prinzip demokratisch organisierten Parteien stehen dem entgegen. Im Ergebnis führen sie zu einer weitgehend von den Menschen „draußen im Land“ abgekapselten und abgehobenen „classe politique“. Dass dies nicht von der Realität entfernte Spekulationen sind, zeigt die in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtende Distanz zwischen dem Wählervolk und „seinen“ Politikern. Verstärkt entsteht der Eindruck, dass die Politiker in wechselseitigem Austausch Erfahrungsbilder generieren, die für die Artikulation des Unbehagens der Bürger, wenn überhaupt, von geringem Nutzen sind. Mit der Folge, dass die Mitglieder der Nachfrage- und angebotsorientierte Demokratietheorie · 235 <?page no="253"?> politischen Klasse einigermaßen verständnislos darauf reagieren, dass ihnen die Wähler nicht mehr zuhören. Mit der Folge auch, dass die Bürger resigniert oder wütend konstatieren, dass die Sprache der Politik nicht (mehr) jene ist, in der sie ihr Unbehagen als politikfähige Bedürfnisse artikulieren können. Die Demokratie als Lern- und Lehrveranstaltung ist an eine weitere Voraussetzung gebunden: Die politische Entscheidungsfindung muss auch in dem Sinn eine offene Veranstaltung sein, dass sie öffentlich ist. Sie darf also nicht hinter der Wand der Geheimhaltung den Augen der Öffentlichkeit verborgen und nur einem kleinen Kreis von Geheimnisträgern zugänglich sein. Mögen auch Fragen etwa der äußeren Sicherheit die Geheimhaltung imperativ fordern, so ist doch auf einem restriktiven Gebrauch des Stempels „Geheim“ zu bestehen. Eine - vielleicht, aber nicht notwendigerweise - unbeabsichtigte Variante der Geheimhaltung ist die Technizität und damit die Schwer- und weitgehende Unverständlichkeit der Sprache, in der über zur Entscheidung anstehende Angelegenheiten geredet wird und geredet werden muss. Die Geheimhaltung - sei sie nun beabsichtigt oder nicht - hat zur Folge, dass im günstigen Fall für die unmittelbar an der Entscheidungsfindung Beteiligten fiktive Erfahrungen produziert werden, diese also über ein Instrumentalwissen verfügen, das ihnen erlaubt, ihr Unbehagen in Bedürfnissen zu artikulieren. Da es aber allenfalls am Rande um die Bedürfnisfindung und Bedürfnisartikulation der unmittelbar Entscheidenden, also der Politiker, sondern vor allem um die Bedürfnisentstehung der Bürger geht, wird auf diese Weise verfehlt, was erreicht werden müsste. Ein letzter Aspekt ist hier zu erwähnen. Der schon von Max Weber aufgezeigte Zusammenhang zwischen Zweckrationalität und Verwaltung hat dazu geführt, dass die politische Entscheidungsfindung zunehmend auf das in der Verwaltung vorhandene Wissen zurückgreifen muss und der Informationsfluss zwischen Verwaltung und Politik über etablierte Kanäle, gleichsam über „stehende Leitungen“ erfolgt. Diese „stehenden Leitungen“ sind nun gewiss insofern von Vorteil, als auf diese Weise die Interaktions- und die Transaktionskosten niedrig gehalten werden können. Allerdings wird dieser Vorteil mit dem Nachteil erkauft, dass diese schon bestehenden Informationskanäle in dem Sinne selektiv sind, dass sie bestimmte Informationen weiterleiten, andere aber herausfiltern. Mit dem Ergebnis, dass das an bestimmten Stellen des Entscheidungsvorgangs verfügbare Wissen selbst selektiv und gleichsam ein Reflex der aus der Vergangenheit überkommenen Kommunikationsstruktur ist.Also werden auch die an diesen Stellen ermöglichten Bedürfnisse von den schon bestehenden Kanälen abhängen. Eine Verwaltung, die in dem Instrumentalwissen, das sie weiterleiten kann und darf, beschränkt und selektiv ist, trägt dazu bei, dass bestimmte Bedürfnisse entstehen können, andere aber nicht. Literatur zu Kapitel VI.2.1 Badura, B.: Bedürfnisstruktur und politisches System, Stuttgart 1972. Becker, G. S., Stigler, G. J.: De Gustibus Non Est Disputandum, American Economic Review 67, 1977. Becker, G. S.: Accounting for Tastes, Cambridge/ London 1996. 236 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="254"?> Becker, H. S.: Outsiders, Studies in the Sociology of Deviance, New York 1971. Bernholz, P. O.: Property Rights, Contracts, Cyclical Social Preferences, and the Coase Theorem: A Synthesis, European Journal of Political Economy 13, 1997. Brennan, G., Hamlin, A.: Democratic Devices and Desires, Cambridge 2000. Dollard, J., Miller, N. E.: Personality and Psychotherapy: An Analysis in Terms of Learning,Thinking and Culture, New York/ Toronto/ London 1950. Downs, A.: An Economic Theory of Democracy, New York 1957. Faber, M., Manstetten, R., Petersen, Th.: Homo Oeconomicus and Homo Politicus: Political Economy, Constitutional Interest and Ecological Interest, Kyklos 50, 1997. Festinger, L.: A Theory of Cognitive Dissonance, Evamston 1957. Hamilton, L.A.: The Political Philosophy of Needs, Cambridge 2003. Hayek, F.A. von: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel 1968. Hilgard, E. R.: Theories of Learning, New York 1965. Janis, I. L.: Victims of Groupthink, Boston 1972. Kirsch, G.: Bedürfnisse als Problem der Wirtschaftswissenschaft, in: WISU Das Wirtschaftsstudium 5, 1990. 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C. von: Notes on Endogenous Change of Tastes, Journal of Economic Theory 1971. 2.2 Die Informationsbereitschaft Wir haben bislang gezeigt, dass die Demokratie eine Veranstaltung ist, in der nicht nur über die Befriedigung von Kollektivbedürfnissen entschieden wird, sondern in der auch gelehrt und gelernt werden kann, welche Kollektivbedürfnisse die Bürger haben können und sollen. Hierin ähnelt sie dem Markt, auf dem - wenigstens von der Konstruktionsidee her - nicht nur allokationseffizient über die Befriedigung von Privatbedürfnissen entschieden wird, sondern auf dem auch eine Vielzahl und eine Vielfalt von Bedürfnissen gelehrt und erlernt werden können. Gleichfalls haben wir in Ansätzen gesehen, warum es unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs im Interesse der einzelnen Politiker liegt, Phantasie und reales Erfahrungswissen zu mobilisieren, also fiktive Erfahrungen zu generieren und anzubieten. Noch nicht angesprochen wurde die Frage, ob, unter welchen Umständen und in welchen Grenzen es im Interesse der einzelnen Bürger liegt, auf dieses Angebot an fiktiven Erfahrungen mit einer entsprechenden Nachfrage zu antworten. Daher ist zu fragen, ob die Bürger bereit sind, die ihnen dergestalt angebotenen fiktiven Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen und bei der Ausbildung ihrer Bedürfnisse zu nutzen. Dies ist deshalb wichtig, weil es primär die Belange des Souveräns, also der Bürger, es aber nicht ausschließlich jene der Politiker sind, die uns interessieren. Es geht demnach im Weiteren um die Frage, ob die Bürger bereit sind, den oben geschilderten Austausch von Programmen und Gegenprogrammen, von Argumenten und Die Informationsbereitschaft · 237 <?page no="255"?> Gegenargumenten, von Rede und Widerrede zu verfolgen, also informationsbereit und zunehmend sachkundig dem Inhalt der Auseinandersetzung zwischen den Politikern ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Kurz: Es geht um die Informationsbereitschaft der Bürger. 2.2.1 Warum sich Bürger gemeinhin nicht informieren Auf den ersten Blick möchte es scheinen, dass der Bürger über die öffentlichen Belange informiert sein möchte. Nun zeigen aber vielfältige Untersuchungen einen sehr geringen, wenn auch nach Bevölkerungsgruppen unterschiedlichen Informationsgrad. Und ein zweiter Blick zeigt zudem, dass genau dieser Befund erwartet werden muss. Dies deshalb, weil es für den Einzelnen im Regelfall rational ist, sich nicht zu informieren. Der Grund hierfür ist in Folgendem zu sehen: Aufnahme, Speicherung, Verarbeitung und Nutzung von Informationen sind mit Kosten verbunden. Soll sich die Information für den Einzelnen lohnen, so müssen die Grenzkosten der Informationsbeschaffung niedriger oder gleich dem Grenznutzen sein, den er aus dem Gebrauch der Information zieht. Auch die Informationen über fiktive Erfahrungen mit Kollektivgütern sind für den Einzelnen nicht gratis zu haben; die Kosten, die mit der Informationsbeschaffung verbunden sind, liegen gemeinhin über dem Nutzen dieser Information. Entsprechend ist es für den Einzelnen rational, sich nicht zu informieren. Die Frage ist allerdings, warum dies im Fall von Kollektivgütern „gemeinhin“ so ist, es jedenfalls häufiger festzustellen ist als im Fall von Privatgütern. Auf diese Frage gibt es zwei, sich nicht ausschließende Antworten: - Im Fall von Kollektivgütern sind die Informationskosten für den Einzelnen höher als im Falle von Privatgütern. - Im Fall von Kollektivgütern ist der individuelle Informationsnutzen niedriger als im Fall von Privatgütern. Zum ersten Punkt: Oben wurde die Tatsache angesprochen, dass der sachliche, zeitliche und räumliche Streubereich der Konsequenzen von Kollektiventscheidungen sehr weit, in der Regel weiter als jener von Privatentscheidungen ist. Entsprechend schwieriger und kostenintensiver ist es, ihn auszuloten. Umso schwieriger ist es auch, die Ergebnisse dieser Abschätzung mitzuteilen, und umso kostenträchtiger ist es, die so präsentierten Ergebnisse als Information aufzunehmen. Dabei reicht es für den Einzelnen nicht - siehe oben - Information über fiktive Erfahrungen zu haben. Es ist auch nötig, dass er diese Information mit seiner individuellen Wohlfahrtslage in Beziehung bringt. Dies aber wird er in vielen Fällen nur unter beträchtlichem Informationsaufwand bewerkstelligen können. Mit anderen Worten: Auch dann, wenn der Einzelne überzeugt ist, dass es bei einer bestimmten Kollektiventscheidung, bei einer bestimmten politischen Entscheidung um sein Leben und seinen Tod geht, so kann er doch oft, wenn überhaupt, nur unter beträchtlichen Kosten wissen, ob ein bestimmter Politikentwurf seinen Tod oder sein Leben bedeutet. Wie soll jemand wissen, ob das Verbot der Genforschung seinen künftigen Tod an Aids bedeutet oder ob er mit seinem Votum für die Freiheit der Gentechnologie seinen Tod durch eine amoklaufende Mutation besiegelt? 238 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="256"?> Die Spezialisierung in der Wissenschaft führt dazu, dass die Konsequenzen konkurrierender Politikentwürfe aus der Optik sehr unterschiedlicher und häufig nicht miteinander kommunizierender Fachdisziplinen untersucht werden. Entsprechend werden - von einzelnen Politikern - fiktive Erfahrungen auf der Basis des Wissens aus vielfältigen Disziplinen generiert. Der Bürger könnte seinerseits nur unter hohen Kosten die Informationen über diese disparaten Wissenselemente in einem Gesamtmodell vereinigen, auf dessen Grundlage er - mit Blick auf seine Wohlfahrt - seine Kollektivbedürfnisse entwickeln könnte. Es gibt demnach Gründe, warum es sinnvoll ist, bis zum Beweis des Gegenteils von der Annahme auszugehen, dass die Informationskosten bei Kollektivgütern für den Einzelnen hoch sind. Dies schließt ausdrücklich nicht aus, dass es politische Programme gibt, bei denen es keines hohen Informationsaufwandes bedarf, um zu wissen, was sie für den Einzelnen und seine Wohlfahrt bedeuten werden. Ein Beispiel: Wer erfährt, dass in 50 Meter Entfernung von seiner Villa im Grünen eine Autobahn gebaut werden soll, wird sich auch ohne große Informationsanstrengungen ausmalen können, was dies für seine Wohlfahrt bedeutet. So dürften auch die Informationskosten bei kommunal angebotenen Kollektivgütern in der Regel niedriger sein als bei landesweit erstellten Gütern. Dies jedenfalls in dem Maße wie in Gemeinden die Entscheidungsfolgen weniger weit streuen, in ihrem Beziehungszusammenhang durchschaubarer sind und die angewandte Technologie vertrauter ist als auf nationaler Ebene. Dies auch in dem Maße wie der Zusammenhang zwischen einzelnen Kollektivgütern und der individuellen Wohlfahrt in Kommunen leichter abzuschätzen ist als auf Bundesebene. Zur Frage nach dem Informationsnutzen: Die Antwort auf diese Frage ist eindeutiger zu beantworten als jene nach den Informationskosten. Dies allerdings nicht aus dem Grunde, der sich als erster ins Blickfeld drängt. Als Erstes möchte man nämlich meinen, dass viele (die meisten) Entscheidungen über Kollektivgüter bedeutsamer und gewichtiger sind als jene über Privatgüter. Ob das Autobahnnetz ausgebaut werden soll, ist in der Tat eine weitreichendere Entscheidungsfrage als jene, ob man einen neuen Zaun um seinen Garten errichten soll. Doch ist dies hier insofern nicht von Belang, als es nicht um die - wie auch immer definierte - gesellschaftliche Bedeutung einer Entscheidung geht, sondern um die Bedeutung, die sie für die Wohlfahrt des Einzelnen hat. Und unter diesem Aspekt mag die Frage nach dem neuen Gartenzaun weit wichtiger sein als die Frage nach dem Ausbau des Autobahnnetzes. So paradox es klingen mag, so richtig ist es doch: Obwohl verteidigungspolitische Entscheidungen für den Bestand oder Untergang von ganzen Kontinenten von Bedeutung sein können, mögen sie im Wohlfahrtskalkül des Einzelnen doch eine geringere Rolle spielen als die Frage, ob er heute oder morgen ein neues Auto kaufen soll. Damit ist nicht gesagt, dass dies immer so sein muss, sondern dass es oft so sein kann. Es gibt also a priori und allgemein keinen Grund, von der „großen Bedeutung“ einer Kollektiventscheidung auf deren Gewicht im individuellen Wohlfahrtskalkül zu schließen. Entsprechend kann auch nicht allgemein und a priori unterstellt werden, dass bei Kollektivgütern der Informationsnutzen höher ist als bei Privatgütern. So ist der Mann, der behauptet, er kümmere sich um die großen Dinge des Lebens, seine Frau aber um die kleinen, eine Witzfigur, wenn er damit meint, dass er sich die Tagesschau ansieht während seine Frau den Abwasch erledigt.Wenn also nicht a priori und allgemein von Die Informationsbereitschaft · 239 <?page no="257"?> der relativ größeren bzw. kleineren Bedeutung der Kollektivgüter für das individuelle Wohlfahrtskalkül gesprochen werden kann, dann kann von daher auch nicht a priori, allgemein und eindeutig, von dem relativ größeren bzw. kleineren individuellen Nutzen der Information bei Kollektivgütern die Rede sein. Wenn aber dennoch a priori die These vertreten wird, dass bei Kollektivgütern die Information für den Einzelnen eine geringere Bedeutung hat als bei Privatgütern, so muss ein anderer Grund gefunden werden. Einige Ausführungen hierzu: In dem Maße wie die Information für den Einzelnen keinen unmittelbaren Wert hat, sondern deshalb, weil sie ihm erlaubt, Entscheidungen zu treffen, die seiner Wohlfahrt möglichst förderlich sind, wollen wir vom investiven Wert der Information reden. Dies deshalb, weil der Einzelne keinen unmittelbaren Nutzen aus der Information zieht.Vielmehr entsteht sein Nutzen erst mittelbar durch die Sachentscheidung, die dank der Information so oder anders getroffen wird. Zwei Beispiele dazu: - Wir wollen vom investiven Wert einer Information dann sprechen, wenn der Einzelne sich im Hinblick auf eine Kaufentscheidung über verschiedene Autotypen unterrichtet, nicht aber, wenn er sich informiert, weil es „ihm Spaß macht, alles über Autos zu wissen.“ - Vom investiven Wert einer Information kann man auch dann sprechen, wenn sich der Einzelne mit Blick auf eine anstehende politische Entscheidung über das Sexualstrafrecht informiert, nicht aber, weil ihn die „Sache“ eben interessiert. Die beiden Beispiele beziehen sich je auf Privatgüter und auf Kollektivgüter. Die Unterschiede zwischen beiden fallen bei der Frage nach dem individuellen investiven Informationswert ins Gewicht. In der Tat: Jener, der sich - wie unser potenzieller Autokäufer - über Autos informiert, kann eher eine seiner Wohlfahrt förderliche Entscheidung treffen als jemand, der - nicht, falsch oder unzulänglich informiert - einen Wagen kauft. Entscheidend dabei ist, dass die positiven (negativen) Folgen seines Informiertseins (Uniformiertseins) seine Fühlbarkeitsschwelle überschreiten. Und entscheidend ist darüber hinaus, dass er und nur er von (an) seiner Informiertheit (Uninformiertheit) profitiert (leidet). Mit anderen Worten: Es gilt das Ausschlussprinzip. Sehen wir uns nun die Information im Zusammenhang einer Kollektiventscheidung - etwa über das Sexualstrafrecht - an. Wir wollen aus didaktischen Gründen annehmen, dass unser „jemand“ einer sexuellen Minderheit angehört, also von der Entscheidung so oder anders in seinen vitalen Lebensbelangen betroffen sein wird. Es ist also für ihn von Bedeutung, dass die für ihn „richtige“, sprich: wohlfahrtsgünstigere Entscheidung getroffen wird. Da es sich aber um eine Kollektiventscheidung handelt, ist sein Gewicht gering. Die Folge ist, dass er in den meisten Fällen davon ausgehen muss, dass die schließlich zustande gekommene Entscheidung für ihn fühlbar nicht davon abhängt, für welche Politikalternative er sich in der Wahlkabine entschieden hat. Entsprechend ist es für ihn und seine spätere Wohlfahrt nicht von Belang, ob er sich für diesen Politikentwurf oder für jenen entscheidet. Dies aber wiederum bedeutet, dass es für ihn und seine Wohlfahrt gleichgültig ist, ob er über das Sexualstrafrecht informiert ist oder nicht. Sein geringes, gegen Null tendierendes Gewicht im kollektiven Willensbildungsprozess lässt auch den investiven Informationswert gegen Null tendieren. Der Nutzen, den ein Einzelner im Fall von Kollektivgütern aus der Information ziehen 240 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="258"?> kann, hängt demnach nicht nur von der Relevanz des Entscheidungsgegenstandes für seine Wohlfahrt, sondern auch von seinem Gewicht im kollektiven Entscheidungsprozess ab. Allerdings ist es nicht nur das geringe Gewicht des Einzelnen im Entscheidungsprozess, welches den investiven Wert der Information für den Einzelnen relativiert. Hinzu kommt, dass das Gut, um dessen Entscheidung es geht, ein Kollektivgut ist, also dem Ausschlussprinzip nicht unterliegt. Entsprechend profitiert von einer wohlinformierten Kollektiventscheidung nicht nur jener, der sich - unter Kosten - Informationen beschafft hat, sondern es profitieren auch jene, die uninformiert geblieben sind. Umgekehrt kann der Einzelne - selbst wenn er keine Informationskosten getragen hat - von der wohlinformierten Entscheidung profitieren, wenn andere Kollektivmitglieder sich informiert haben.Wir treffen hier wiederum auf die Logik der Kollektivgüter. Jedes einzelne Kollektivmitglied mag im Zweifel ein Interesse daran haben, dass unter Mobilisierung möglichst vieler Informationen, unter Heranziehung von möglichst viel Sachverstand im Kollektiv entschieden wird, doch wird es rational für jeden Einzelnen sein, sich nicht um diese Informationen zu bemühen. Denn: Informieren sich die anderen, er aber nicht, so ist jede Anstrengung seinerseits überflüssig; informieren sich die anderen nicht, er aber wohl, so ist seine Anstrengung nutzlos. Die oft gehörte Klage über das niedrige Niveau der öffentlichen Diskussion, über die geringe Informiertheit der Bürger wird dann auch nicht selten von jenen geführt, die sich selbst - durchaus rational - nicht informieren. 2.2.2 Warum sich die Bürger doch informieren Wirft man einen Blick zurück auf unsere Überlegungen zu den individuellen Informationskosten und -nutzen bei Kollektivgütern, so muss zwangsläufig der Eindruck entstehen, dass die Kosten die Nutzen in der Regel übersteigen, sich also Informationsanstrengungen für den Einzelnen nicht lohnen. Über weite Strecken ist dies dann auch in der Realität festzustellen: Bei vielen Kollektivmitgliedern, bei vielen Bürgern ist der Informationsgrad gering. Doch ist dies nicht gleichbedeutend mit der Feststellung, er sei bei allen Kollektivmitgliedern immer Null. Es ist also zu fragen, warum mitunter manche Kollektivmitglieder über einige Informationen verfügen. Eine erste, vorerst noch leere Antwort auf diese Frage besteht darin, dass dies dann der Fall ist, wenn und weil die Informationskosten niedriger als die Informationsnutzen sind. Die Anschlussfragen lauten dann: - Wie können die individuellen Informationskosten gesenkt werden? - Wie können die individuellen Informationsnutzen erhöht werden? 2.2.2.1 Senkung der Informationskosten Wir beginnen mit der ersten Frage, der Senkung jener Kosten, die dem Einzelnen dadurch entstehen, dass er sich über öffentliche Belange informiert. Dabei gibt es verschiedene Wege, auf denen dies angestrebt und mehr oder weniger erreicht werden kann. Erstens: Der Einzelne ist in seinem Informationsverhalten selektiv. Er informiert sich also nicht über alle im Kollektiv zur Entscheidung anstehenden Gegen- Die Informationsbereitschaft · 241 <?page no="259"?> stände. Er widmet sein Interesse primär oder ausschließlich jenen Gegenständen, die ihn besonders berühren, die für seine Wohlfahrt besonders bedeutsam sind. So wird sich ein Landwirt eher über die Agrarpolitik informieren als über die Hochschulpolitik. Diese durchaus gängige Praxis ist allerdings nicht ohne ihre eigenen Grenzen und Gefahren.Wohl können auf diese Weise die Kosten der Information gesenkt werden. Es ist allerdings zu bedenken, dass es schon eines gewissen Maßes an Information bedarf, um festzustellen, ob ein bestimmter Entscheidungsbereich für die individuelle Wohlfahrt von Bedeutung ist; es ist ein gewisses Maß an Information nötig, um wissen zu können, dass ein Mehr an Information von Interesse ist. Konkret: Weil man in einem bestimmten Gebiet etwas wusste, sieht man ein, dass weitere Informationen für die eigene Wohlfahrt von Interesse sind. Und weil man sich weiter informiert, weiß man auf diesem Gebiet etwas mehr usw. Dabei weiß man dann im Zweifel mangels Information nicht, dass Informationen über einen anderen Sachbereich wohlfahrtsfördernder wären. Diese Art von sich selbstverstärkender Betriebsblindheit dürfte so selten nicht sein; sie ist zumindest eine Gefahr des selektiven Informationsverhaltens. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass es für den Einzelnen sehr schwierig, ja unmöglich sein kann, zu wissen oder auch nur zu ahnen, dass ein bestimmter Politikbereich für seine Interessen von Bedeutung ist.Wenn es auch offenkundig ist, dass die Subventionspolitik die Wohlfahrtssituation eines Landwirts berührt, so ist es für den Einzelnen schwer einsehbar, dass und wie politische Entscheidungen im Bereich der Gentechnologie seine Lage berühren werden. Dies dürfte umso mehr der Fall sein, je neuartiger die zu regelnden Sachverhalte sind. Bezüglich der individuellen Informationskosten wird man nun mit gutem Grund sagen können, dass sie in liberalen Demokratien niedriger sind als in freiheitsfeindlichen Regimen. In Letzteren gibt es allenfalls eine sehr beschränkte Öffentlichkeit und wenig informationshaltige Medien. Dort werden die einzelnen Aspekte der politischen Belange auch nicht in aller Öffentlichkeit kontrovers, d.h. vielfältig präsentiert und diskutiert. Die für Diktaturen typische Geheimniskrämerei und die für sie notwendige Unterdrückung des öffentlichen Informations- und Meinungsaustausches laufen für den Einzelnen auf eine Erhöhung der Informationskosten hinaus. Umgekehrt bedeutet dies, dass liberale Gesellschaften sich im Prinzip auch dadurch auszeichnen, dass möglichst viele Informationen für den Einzelnen möglichst billig zu haben sind. Aber genau dies versetzt den Einzelnen in eine Lage, in der er sich einer Fülle unterschiedlichster Analysen und Wertungen über die verschiedentlichsten Bereiche gegenübersieht. Die Folge: In Diktaturen ist es kostspielig, an einzelne Informationen heranzukommen. In unseren Demokratien ist es für den Einzelnen kostspielig, die Fülle der Informationen zu bewältigen. In Diktaturen ist es für den Einzelnen teuer, an jene Informationen zu gelangen, die er brauchen könnte. In Demokratien ist es für den Einzelnen teuer, jene Informationen, die er nicht braucht, von jenen zu trennen, die ihm von Nutzen sein können. Am konkreten Beispiel: Es gibt eine Vielzahl und eine Vielfalt von Zeitungen und Zeitschriften, Radiostationen und Fernsehanstalten. Jedes Einzelne dieser Medien ist für relativ wenig Geld zugänglich.Auch sind die meisten derart leserbzw. hörerfreundlich, dass sie als Einzelne wenig Zeit und Anstrengung abverlangen. Aber gerade weil sie 242 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="260"?> einzeln kostengünstig genützt werden können, wird ihre Fülle für den Einzelnen zum Problem. Entweder liefert er sich dieser Fülle aus; dann läuft er Gefahr, sich in einer strukturlosen und unüberschaubaren Welt zu verlieren. Oder aber er begrenzt von sich aus die Zahl und die Art der Medien, Zeitungen und Kanäle, über die er sich informiert. Er sieht die „Tagesschau“, nicht aber „Heute“, er liest die FAZ, nicht aber die TAZ.Auf diese Weise entgeht er wohl der erdrückenden und destrukturierenden Informationsfülle, doch handelt er sich dafür eine selektive Wahrnehmungsenge ein, die ihn wenigstens teilweise für das blind machen kann, was für seine individuelle Wohlfahrt von Interesse ist oder sein könnte. 2.2.2.2 Abwälzung der Informationskosten Eine weitere Art, die Informationskosten zu senken, besteht für den Einzelnen darin, diese ganz oder zum Teil auf andere abzuwälzen. So kann der Einzelne darauf verzichten, im Alleingang die für ihn und seine Wohlfahrt relevanten Informationen zu suchen, zu sichten, zu verarbeiten und zu speichern. Er kann - den oben angesprochenen Kollektivgutcharakter des Informiertseins entsprechend - dies etwa einem Verband überlassen. Der einzelne Landwirt verzichtet darauf, die Details der EU-Agrarmarktordnung zu studieren und überlässt dies dem Landwirtschaftsverband. Er schiebt so mittelbar wenigstens einen Teil der Informationskosten auf andere Landwirte und/ oder auf das Verbandsmanagement ab. So verlockend es auch immer für den Einzelnen sein mag, die Informationskosten ganz oder teilweise auf andere abzuschieben, so sehr besteht für den Einzelnen die Gefahr, dass er damit auch die eigene Informationssouveränität ganz oder teilweise an andere abtritt. Denn jene, die nun die Informationskosten tragen, werden ihr Informationsverhalten wohl eher an ihren eigenen Interessen, nicht aber an den Interessen des Einzelnen ausrichten. Und dies im Zweifel, ohne dass der Einzelne, mangels Information, dies auch nur wahrnehmen, geschweige denn korrigieren könnte. Diese Instrumentalisierung Einzelner im Dienste jener, welche die Informationskosten tragen, kann nur dann vermieden werden, wenn - wie James S. Coleman gezeigt hat - nicht nur die Voraussetzungen für „trust relationships“, sondern auch die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass Vertrauensmissbräuche möglichst schnell entlarvt und geahndet werden können. Dies ist aber nicht durchgängig der Fall. Oben haben wir gesehen, dass die individuelle Entscheidung, sich zu informieren oder nicht, von dem Verhältnis der individuellen Informationskosten zu den individuellen Informationsnutzen abhängt. Nachdem wir uns bislang im Wesentlichen mit den Informationskosten befasst haben, wenden wir uns nun den individuellen Nutzen der Information über öffentliche Belange zu. Und hier ist folgender Punkt von Bedeutung: Es muss auch in einer Demokratie das Gewicht der einzelnen Kollektivmitglieder nicht durchgehend gleich und für alle gleich klein sein.Vielmehr ist es plausibel, dass in einzelnen Entscheidungsgängen und über eine mehr oder weniger lange Zeit einzelne Kollektivmitglieder in der kollektiven Willensbildung ein größeres Gewicht haben. Dieses größere Gewicht mag in der persönlichen Autorität oder in der institutionellen Position seinen Grund haben.Auch in einer liberalen Demokratie haben einzelne Autoren, Künstler, Prediger, Journalisten einen größeren Einfluss auf die politi- Die Informationsbereitschaft · 243 <?page no="261"?> sche Willensbildung, als sie ihn auf Grund nur ihres Stimmzettels hätten und als ihn jene haben, die nur über einen Stimmzettel verfügen. Soweit sie diesen Einfluss in ihrem Sinne einsetzen wollen, lohnt es sich für sie, Informationskosten zu tragen. Je informierter sie nämlich sind, desto gezielter können sie ihren Einfluss auf Kollektiventscheidungen an dem ausrichten, was sie für nützlich, richtig, gut, wichtig oder schön halten. Dies gilt auch für jene, die durch ihre Position die Möglichkeit haben, nicht nur das (vielleicht vernachlässigbare) Gewicht ihrer Person in die Waagschale zu werfen, sondern das Gewicht einer Institution (etwa eines Verbandes oder einer Verwaltung) zum Tragen bringen können. Man muss also erwarten und kann feststellen, dass diese Gruppen von Personen in der Regel überdurchschnittlich gut informiert sind: Für Meinungsbildner, Verbandsfunktionäre und Beamte lohnt sich - falls sie denn überhaupt politisch gestalterisch tätig sein wollen - die kostenträchtige Information. In diesem Kontext ist allerdings darauf aufmerksam zu machen, dass sich hier eine Gefahr auftut: Der auf diese Weise entstehende Informationsvorsprung einiger ist auf ein überdurchschnittlich großes Gewicht im kollektiven Entscheidungsprozess zurückzuführen. Und: Die Vergrößerung des Informationsvorsprungs trägt zu einer weiteren Vergrößerung des Einflusses bei; man informiert sich, weil man Macht hat; man hat Macht, weil man sich informiert. Und da jene, die einen vergleichsweise höheren Einfluss haben, diesen nicht selten haben, weil sie ihn zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen anstrebten, entsteht auch die Gefahr einer zunehmenden Instrumentalisierung der weniger Informierten durch die Informierten. Dabei ist es eine zumindest prüfenswerte Hypothese, dass wir es hier mit einer Art Sperrklinken-Effekt zu tun haben: Je informiert-einflussreicher man ist, desto größer das Interesse und die Möglichkeit, es zu bleiben. Und: Je weniger informiert-einflussreich man ist, desto geringer die Möglichkeit, desto geringer vielleicht auch die Einsicht in das eigene Interesse, diesen Zustand zu beenden. 2.2.2.3 Investiver und konsumtiver Wert der Information Bis hierhin sieht es danach aus, als ob - von Ausnahmen abgesehen - in einer Gesellschaft die wenigsten ein Interesse haben können, sich zu informieren. Und trotzdem kann man feststellen, dass die Gesellschaftsmitglieder nicht durchgehend so uninformiert sind, wie man nach unseren bisherigen Überlegungen annehmen könnte. Die Frage ist, warum? Eine Antwort lässt sich in Folgendem finden: Wir haben bisher unterstellt, dass der Wert der Information über einen politischen Entscheidungsgegenstand in dem Sinne ein investiver Wert ist, als die Information erlaubt, eine wohlfahrtsfördernde Entscheidung zu treffen. Neben diesem investiven Wert mag die Information über politische Belange auch einen konsumtiven Wert haben. Denn obwohl sich diese Information auf dem Ausschlussprinzip nicht unterworfene Werte bezieht, gilt dieses Prinzip für den konsumtiven Nutzen, den man aus ihr zieht. So mag es für den Einzelnen unmittelbar interessant, lustvoll, jedenfalls wohlfahrtsfördernd sein, sich über öffentliche Angelegenheiten zu informieren oder informiert zu sein. Obschon ein Einzelner keinen für ihn fühlbaren Einfluss auf das nationale Raumfahrtprogramm hat, mag es für ihn „einfach so“ interessant sein zu erfahren und zu wissen, wie ein Raumgleiter funktioniert. Oder ein anderes Beispiel: Obschon er keinerlei fühlbaren Einfluss auf die nationale Außen- 244 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="262"?> politik hat, mag ein Einzelner sich über Bündnisparagraphen und Vertragsbestimmungen informieren wollen, weil er sonst am nächsten Stammtisch nicht mitreden kann, also in das gesellschaftliche Abseits gerät. Auch mag ein Einzelner sich für die Interna etwa in Staatskanzleien interessieren, weil die dortigen Abläufe spannender als jeder Krimi sind; man denke hier etwa an die Watergate-Affäre oder an diverse Spendenskandale; ganz zu schweigen von Liebesspielen im „oval office“. Man mag schließlich auch - ohne dem Zynismus zu verfallen - vermuten, dass beim Zuschauer so mancher Fernsehreport über fernes Schlachtgemetzel jene ambivalenten Triebe befriedigt, die schon im römischen Zirkus lustvoll ausgelebt wurden. Die Beispiele ließen sich vermehren. Sie laufen - bei all ihrer Unterschiedlichkeit - darauf hinaus, dass hier nur jener, der die Kosten der Information trägt, am Nutzen des Informiertwerdens und des Informiertseins teilhaben kann. Die Information wird in diesen Fällen um des individuellen konsumtiven Wertes willen gesucht und auch bezahlt. Dies bedeutet allerdings, dass in der Hauptsache, wenn nicht gar ausschließlich, jene Informationen nachgefragt werden, die von unmittelbar konsumtivem Wert sind. Es sind dies nicht notwendigerweise jene, die im Hinblick auf die zu treffenden Kollektiventscheidungen und in Bezug auf die Wohlfahrt des Einzelnen von Interesse wären. In aphoristischer Verkürzung: Im Einzelnen hat sich der Einzelne für sehr vieles interessiert, dessen Kenntnis für seine Interessen ohne Belang ist. So ist er im Zweifel detailliert darüber informiert, in welcher Höhe und aus welchen Gründen die Space Shuttle explodiert ist. Doch ist er nicht über die für ihn wichtigeren Details einer politischen Ausgestaltung der Pflegeversicherung informiert. Auf der anderen Seite eröffnet dieses am unmittelbaren konsumtiven Wert der Information ausgerichtete Nachfrageverhalten der Bürger den diversen Anbietern die Möglichkeit, ihre Ziele durch das Angebot lustvoll genießbarer Informationen zu erreichen.Verhältnismäßig problemlos ist dies dann, wenn es sich um Anbieter handelt, die mit dem Informationsangebot Geld und sonst nichts machen wollen. Das Ergebnis ist allenfalls eine Verflachung des Informationsangebots.Wir haben es dann etwa mit TV- Sendern zu tun, deren Nachrichtensendungen der Sache nach Entertainment sind, und mit Zeitungen, deren Lektüre nur Freizeitentspannung sein kann. Das Stichwort lautet: „Infotainment“. Anders ist es allerdings, wenn die konsumtive Ausrichtung der Nachfrage nach Informationen von den Anbietern dazu benutzt wird, bestimmte Meinungen, Wertungen und Analysen gezielt in ihrem eigenen Interessen zu verbreiten. Im Ergebnis läuft dies dann darauf hinaus, dass die Nachfrager manipuliert und im Dienste ihnen fremder Interessen instrumentalisiert werden. Und dies im Zweifel, ohne dass sie es selbst merken, sie also nicht einmal auf den Gedanken kommen, sie sollten etwas dagegen unternehmen. Man mag es nur bedauern, dass sich ein Medium, um sich besser zu vermarkten, wenn es auf „Sex and Crime“ spezialisiert ist, politische Nachrichten nur soweit und in der Form bringt, dass sie einen „human appeal“ haben. Und man mag es auch lediglich bedauerlich finden, wenn sich die Berichterstattung etwa über die Entwicklungsprobleme Afrikas auf die Darstellung telegener dramatischer Einzelschicksale und medienwirksamer Brutalitäten beschränkt, die Darstellung sachlicher Zusam- Die Informationsbereitschaft · 245 <?page no="263"?> menhänge aber unterlässt. Doch ist es ausgesprochen schlimm und gefährlich, wenn etwa ein Staat, eine Partei oder auch ein Medienzar ihren privilegierten Zugang zu den Medien, gar ihre Beherrschung der Informationsträger dazu benützen, eine bestimmte Politik oder auch nur ihre eigene Machtposition durch die konsumfreundliche Präsentation von bestimmten Informationen den Zuhörern/ Lesern, also ihren Auftraggebern, nämlich den Bürgern schmackhaft zu machen. Es ist ausgesprochen schlimm, wenn ein Verteidigungsministerium durch die gekonnte Inszenierung eines Krieges gezielt ein solches Bild bei dem Publikum entstehen lässt, dass dieses den Krieg nicht nur hinnimmt, sondern auf breiter Front bejubelt. Dass sog. freie Journalisten sich dabei „einbetten“ lassen, macht das Ganze nicht besser, sondern schlimmer. 2.3 Die Partizipationsbereitschaft Oben wurde ausgeführt, dass das Funktionieren der indirekten Demokratie voraussetzt, - dass die Bürger wissen, was sie wollen sollen. - dass die Bürger sich über öffentliche Belange informieren wollen und können. - dass die Bürger den Politikern sagen wollen und können, was sie wollen. - dass die Politiker hören können, wollen und müssen, was ihnen die Bürger mitteilen. - dass die Politiker unter Berücksichtigung der Mitteilungen der Bürger entscheiden wollen bzw. müssen. Auf den vorhergehenden Seiten haben wir uns im Wesentlichen mit den beiden erstgenannten Punkten befasst. Wir wenden uns nun dem dritten Punkt zu. Können und wollen die Bürger den Politikern mitteilen, was sie wollen? So geht es in einem ersten Schritt um die Frage, ob die Bürger den Politikern ihre Vorstellungen mitteilen wollen. Später greifen wir die Frage auf, ob sie dies auch können. 2.3.1 Wahlbeteiligung Der Leser mag versucht sein, die Frage nach dem Wollen negativ zu beantworten. Mit dem Hinweis auf die oben diskutierte Logik der Kollektivgüter mag er als Erstes argumentieren, dass es bei Kollektivgütern für den Einzelnen unzweckmäßig ist, als Erster seine Präferenzen zu offenbaren, und - da dies für jeden Bürger gilt - es auch im Interesse jedes Bürgers liegt, nicht zu sagen, was er will. Diese Argumentation ist deshalb falsch, weil die Logik der Kollektivgüter nur dann durchschlägt, wenn die Offenlegung individueller Präferenzen im Alleingang auch bedeutet, dass der Einzelne nach Maßgabe seiner Präferenzen zur Finanzierung des Kollektivguts gezwungen ist. Dies ist nun aber im Falle einer indirekten Demokratie nicht der Fall. Es ist nämlich gerade der Sinn und Zweck demokratisch verfasster Kollektive, die Logik der Kollektivgüter zu überwinden. Und zwar geschieht dies gerade dadurch, dass die individuelle Offenbarung von Präferenzen und der individuelle Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Güter entkoppelt werden. Damit aber scheint es vorerst, dass die Bürger ihre Präferenzen doch offenbaren wollen. 246 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="264"?> Dieser Eindruck wäre durchaus richtig, wenn die Präferenzoffenbarung für den Einzelnen ohne Kosten möglich wäre und/ oder der einzelne Bürger durch seine Präferenzoffenbarung für ihn fühlbar etwas an der für ihn wohlfahrtsrelevanten Kollektivguterstellung ändern könnte. Beides ist - von Ausnahmen abgesehen - nicht der Fall: Die Präferenzoffenlegung ist für den Einzelnen mit Kosten verbunden und der Nutzen der Präferenzoffenlegung liegt für den Einzelnen unterhalb seiner Fühlbarkeitsschwelle. Bezogen auf die indirekte Demokratie bedeutet dies konkret: Die Partizipation an der demokratischen Willensbildung, hier in der Hauptsache: die Wahlbeteiligung, ist für den Einzelnen mit Kosten verbunden.Wohl ist es ein typisches Merkmal liberal-individualistischer Demokratien, dass in ihnen - im Gegensatz zu autoritär gelenkten „Demokratien“ oder gar zu Diktaturen - für den Einzelnen die Kosten der Willenskundgebung, also die Kosten des „voice“, niedrig sind und sein sollen. Dies verhindert aber nicht, dass auch in Demokratien die Partizipation für den Einzelnen mit Kosten verbunden ist: Der Gang zum Wahllokal, möglicherweise das Anstehen, die Begegnung mit den Wahlhelfern wird der Einzelne - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - als belastend, als wohlfahrtsmindernd, kurz: als Kosten empfinden. Dass diese Kosten im günstigen Fall sehr niedrig sind, ist aber dann kein Grund, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, also zur Wahl zu gehen, wenn der aus einer Partizipation erwachsende Nutzen niedriger ist als die Kosten. Und gerade dies kann nicht ausgeschlossen werden. Im Gegenteil: Wie wir oben gesehen haben, ist das Gewicht des Einzelnen in politischen Entscheidungsprozessen gemeinhin so klein, dass seine Stimmabgabe für ihn fühlbar am Endergebnis der Wahl nichts ändert. Ist dem aber so, dann kann der Einzelne im konkreten Fall durch seine Stimmabgabe über das Entscheidungsergebnis seine Wohlfahrt nicht erhöhen. Bezüglich des Entscheidungsergebnisses ist damit seine Partizipation zweck- und nutzlos. Die selbst sehr niedrigen Kosten der Partizipation sind höher als der Nutzen, den der Einzelne aus ihr über das Entscheidungsergebnis ziehen kann. Es ist für den Einzelnen vorerst also rational, sich nicht zu beteiligen. Es ist demnach leicht erklärbar, warum in vielen Ländern die Wahlbeteiligung niedrig ist. Verwunderlich ist demgegenüber, dass sie überhaupt so hoch ist, wobei verschiedene, sich nicht notwendigerweise wechselseitig ausschließende Erklärungen möglich sind. Es ist eine Tatfrage, welche im konkreten Fall zutrifft. Diese Erklärungen stellen alle darauf ab, dass das Verhältnis der Partizipationsnutzen und -kosten für den Einzelnen günstig ist, sei es, dass die Nutzen der Wahlbeteiligung hoch und/ oder dass die Kosten niedrig sind. Auf der Nutzenseite argumentieren die vorgebrachten Erklärungen damit, dass sich der Nutzen der Wahlbeteiligung nicht mehr nur in Bezug zu dem Entscheidungsergebnis ergibt. Sie argumentieren vielmehr damit, dass die Beteiligung als solche für den Einzelnen fühlbar mit Nutzen verbunden ist. Die einzelnen Erklärungen der Beteiligung an der politischen Willensbildung unterscheiden sich in dem, was sie als fühlbaren und dem Ausschlussprinzip unterworfenen Nutzen, also als selektiven Anreiz in den Vordergrund rücken. Erstens: Es wird argumentiert, dass der Einzelne zur Wahl geht, weil die damit verbundenen Umstände für den Einzelnen in dem Sinn wohlfahrtsför- Die Partizipationsbereitschaft · 247 <?page no="265"?> dernd sind, dass er etwa Freunde trifft, einen Spaziergang macht usw. Anders ausgedrückt: Per Saldo ist die Wahlbeteiligung nicht nur mit Kosten verbunden. Zweitens: Der Einzelne geht - obschon dies für ihn mit Kosten verbunden ist - zur Wahl, weil dies die gesellschaftlichen Normen verlangen und der soziale Druck sein Wegbleiben ahnden würde. Sind die gesellschaftlichen Sanktionen wohlfahrtsmindernder als die mit dem Gang zum Wahllokal verbundenen Unannehmlichkeiten, so ist es für den Einzelnen rational, sich zu engagieren. Es ist an dieser Stelle eigens auf die obigen Ausführungen zu den gesellschaftlichen Normen und ihrer Durchsetzung zu verweisen. Insbesondere ist daran zu erinnern, dass Letztere ein enges soziales Beziehungsnetz voraussetzt. Dieses ist nun aber in mobilen und anonymen Gesellschaften immer weniger gegeben, mit der Folge, dass der soziale Druck als Quelle selektiver Anreize sinkt. Die weit verbreitete geringe Wahlbeteiligung muss demnach nicht notwendigerweise und ausschließlich auf ein gesunkenes Interesse an den öffentlichen Belangen zurückgeführt werden. Wenigstens zum Teil mag es darauf zurückzuführen sein, dass die Voraussetzungen für die Durchsetzung sozialer Normen immer weniger gegeben sind. Drittens: Es wird auch argumentiert, dass der Einzelne die gesellschaftlichen Normen internalisiert hat, er demnach zur Wahl geht, um einer Gewissenspflicht zu genügen und so den wohlfahrtsmindernden Gewissensbissen zu entgehen. Dabei ist auf die obigen Darlegungen über das individuelle Gewissen zu verweisen. In dem Maße wie der Einzelne sein Selbst auch als aktiver Staatsbürger definiert, muss er seine Nichtbeteiligung mit einer Verletzung eben dieses so definierten Selbst bezahlen. Und dieser Preis mag höher sein als die Kosten der Wahlbeteiligung. So mag die gegenwärtig oft geringe Wahlbeteiligung ihren Grund auch darin haben, dass sich die Voraussetzungen sowohl für das Angebot als auch für die Nachfrage nach einem individuellen Gewissen allgemein verschlechtert haben, demnach auch das staatsbürgerliche Gewissen schwächer geworden ist. Eine Variante dieses dritten Arguments kann an die Überlegungen von Howard Margolis anknüpfen. Margolis postuliert, dass der einzelne Mensch eine doppelte Wohlfahrtsfunktion hat. Nach ihm weist die Wohlfahrtsfunktion eine S-Dimension und eine G-Dimension auf. Dabei steht S für „self“ und G für „group“. Im Einzelnen ist damit gemeint, dass der Einzelne seine Wohlfahrt nicht nur durch die Befriedigung seiner Selbstinteressen, sondern auch durch die Wahrung von Gruppenbelangen zu erhöhen trachtet. Dabei versucht er, in einem intraindividuellen Prozess die Selbstinteressen und die Gruppenbelange so gegeneinander abzuwägen, dass per Saldo ein Maximum an individueller Wohlfahrt entsteht. Der Einzelne geht in dieser Optik zur Wahl, obschon dies seinen 248 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="266"?> Selbstinteressen zuwiderläuft; er geht zur Wahl, weil es den Gruppenbelangen einer funktionierenden Demokratie förderlich ist. Viertens: Der Einzelne beteiligt sich an der Wahl, weil negative selektive Anreize in Form von staatlich verhängten Strafen für Nichtbeteiligung drohen. So gibt es Länder, in denen - wie in Italien, Belgien, Luxemburg - Wahlpflicht besteht. Offenkundig handelt es sich hier um Länder, in denen - zu Recht oder zu Unrecht - die Ansicht besteht, dass das individuelle Gewissen und/ oder die gesellschaftlichen Normen nicht ausreichen, um eine - wie man meint - befriedigende Wahlbeteiligung sicherzustellen. Offensichtlich waren in diesen Ländern die Bürger der Ansicht, dass sie sich nur durch staatlichen Zwang wechselseitig dazu bringen können, sich soweit zu beteiligen, wie dies für den Bestand der Demokratie - ein Kollektivgut! - nötig ist. Die Hypothese ist zumindest interessant, dass es sich hier um Staaten handelt, die entweder von ihrer Geschichte oder von ihrem jeweiligen Zustand her zum Zeitpunkt ihrer Verfassungsgebung, also auch bei der Festschreibung der Wahlpflicht, befürchten mussten, dass sie allenfalls Einwohner, aber keine Staatsbürger haben. Mit dieser Hypothese ist die Beobachtung kompatibel, dass in einigen Staaten, die bisher keine Wahlpflicht kannten, über ihre Einführung nachgedacht wird und dass dies zu einem Zeitpunkt geschieht, an dem die gesellschaftliche Kontrolle und das individuelle Gewissen, die aus Einwohnern Staatsbürger machen könnten, abnehmen. Diese Versuche, die Wahlbeteiligung der Einzelnen zu erklären, richtet ihr Augenmerk in der Hauptsache auf den Nutzenaspekt. Daneben gibt es solche, die den Akzent vor allem auf die Kostenseite legen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass sich liberale Demokratien von Diktaturen und gelenkten „Demokratien“ typischerweise auch dadurch unterscheiden, dass in ihnen die Kosten der Beteiligung möglichst niedrig sein sollen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass im Wohlfahrtskalkül der Einzelnen die mit der Wahlbeteiligung verbundenen Unannehmlichkeiten nicht für alle Bürger das gleiche Gewicht haben. Damit bietet sich die Möglichkeit, Hypothesen über die Partizipationsbereitschaft Einzelner nach Alter, Bildung, sozialem Status, Beruf u. Ä. anzustellen und empirisch zu prüfen. Auch eröffnet sich die Möglichkeit der Hypothesenbildung und -überprüfung über die zeitliche Entwicklung der Wahlbeteiligung in Abhängigkeit von der Entwicklung der entsprechenden Kosten. 2.3.2 Die außerparlamentarische Partizipation Wir haben bislang unsere Darstellung auf die Wahlbeteiligung beschränkt. Nun ist diese wohl eine wichtige, sicher aber nicht die einzige Möglichkeit, über die sich der Einzelne an der politischen Willensbildung beteiligen kann und - vielleicht - will. Es gibt nicht nur eine parlamentarische Opposition, es gibt auch eine außerparlamentarische Opposition. Der Einzelne hat im Zweifel nicht nur die Möglichkeit und den Willen, sich durch seine Stimmabgabe am politischen Willensbildungsprozess zu beteiligen. Er mag sich auch durch Briefe an Zeitungen und an Abgeordnete, auf Demonstra- Die Partizipationsbereitschaft · 249 <?page no="267"?> tionen und in Bürgerinitiativen politisch engagieren. Schließlich mag er - außerhalb der Legalität - im terroristischen Untergrund mitmachen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wann wird der Einzelne - wenn überhaupt - von einer, und wenn ja, von welcher dieser Partizipationsmöglichkeiten Gebrauch machen? Nach dem eben Gesagten sollte die Antwort auf diese Frage nicht schwerfallen. Der Einzelne wird dann partizipieren, wenn in einer der möglichen Beteiligungsvarianten die Kosten unterhalb des Nutzens liegen. Und er wird jene Form der Mitwirkung wählen, in welcher für ihn das Kosten-Nutzen-Verhältnis am günstigsten ist. Es erübrigt sich an dieser Stelle, dies an allen oben erwähnten Kosten- und Nutzenarten der Partizipation durchzuspielen. Stattdessen wollen wir als illustrierendes Beispiel lediglich die Frage ansprechen, warum Bürger in einem Staat ihren Willen im Zweifel nicht mit dem Stimmzettel artikulieren, sondern an „sit-ins“ teilnehmen. Dass sie nicht zur Wahl gehen, mag sich dadurch erklären, dass entweder der damit verbundene Nutzen unterhalb der damit verbundenen Kosten liegt und/ oder das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei „sit-ins“ günstiger ist.Wann und warum aber sollte Letzteres der Fall sein? Die Antwort auf diese Frage kann sich aus einem oder mehreren der folgenden Elemente zusammensetzen. Erstens: Der Einzelne ist - mit gutem Grund oder auch nicht - der Ansicht, dass er durch seine Mitwirkung am „sit-in“ einen für ihn fühlbaren Einfluss auf das Ergebnis der Kollektiventscheidung nehmen kann, dies aber über die Wahlbeteiligung nicht der Fall ist. Den Kosten der Partizipation am „sit-in“ steht also auf der Ebene des Kollektivergebnisses ein hoher Nutzen gegenüber. Dies deshalb, weil etwa die Regierung besonders schnell und leicht „dem Druck der Straße“ nachgibt. Zweitens: Die Kollektivgüter, deren Bereitstellung durch den Staat über das „sit-in“ erreicht werden soll, interessieren nur einen derart beschränkten Personenkreis, dass es sich um eine mittlere Gruppe im Olsonschen Sinn handelt. In diesem Fall kann ceteris paribus mit der freiwilligen Teilnahme des Einzelnen am „sit-in“ eher gerechnet werden als mit der Wahlbeteiligung. Dies deshalb, weil beim „sit-in“, nicht aber bei der Wahlbeteiligung, die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass die Beteiligung des einen die Beteiligung des anderen bedingt und verursacht. Es ist daher auch charakteristisch, dass „sit-ins“ als Mittel der Beteiligung an der politischen Willensbildung vornehmlich zur Durchsetzung von jenen politischen Anliegen gewählt werden, die von einer eher minoritären Gruppe der Bevölkerung, nicht aber (noch nicht bzw. nicht mehr) von vielen Gesellschaftsmitgliedern geteilt werden. So kann man den Eindruck haben, dass etwa umweltpolitische „sit-ins“ in dem Maße an Bedeutung verlieren, wie ökologische Interessen von immer weiteren Bevölkerungsteilen vertreten werden. Drittens: Gemeinhin ist der Gang zum Wahllokal ein eher nüchternes Geschäft. Hingegen kann ein „sit-in“ eine emotional hoch aufgeheizte Veranstaltung, ein gesellschaftliches „event“, ein „happening“ sein. Und so können „sit-ins“ als solche - unabhängig von ihrem sachlichen Erfolg - als lust- 250 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="268"?> voll, also wohlfahrtsintensiv erlebt werden. Dies dürfte um so eher der Fall sein, je mehr sich das Anliegen des „sit-ins“ für eine emotionale Dramatisierung eignet. Es gibt eher „sit-ins“ vor Abtreibungskliniken und Raketensilos, als dass es welche zur Reform des Konkursrechts gäbe. Viertens: Es ist eine zu simple Vorstellung, wenn man davon ausgeht, dass es nur ein Set von gesellschaftlichen Normen gibt.Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Gesellschaft in mehr oder weniger eigenständige, zum Teil im Widerspruch zueinander stehende Subsozietäten, also „Szenen“, aufgespalten ist. Diese Subgesellschaften haben ihre je eigenen Normen und ihre je eigenen Methoden, die Beachtung dieser Normen durch ihre Mitglieder durchzusetzen. Mit der Konsequenz, dass für den Einzelnen in einer solchen „Szene“ die gesellschaftlichen Sanktionen so hoch sein können, dass sowohl eine Beteiligung am „sit-in“, als auch eine Nichtbeteiligung an den Wahlen für ihn ratsam ist. „Man“ geht zum „sit-in“, aber nicht zu den Wahlen. Fünftens: Der Einzelne kann eher die Normen der jeweiligen Subgesellschaft internalisiert haben, seine Identität also eher aus der Mitgliedschaft an dieser Subgesellschaft als aus seiner Staatsbürgerschaft ableiten. Er wird dann um seines „Selbst“ willen am „sit-in“ teilnehmen. Gerade die Intensität des Gruppenerlebnisses beim „sit-in“ und der affektive „appeal“ des Anliegens können für Ego-schwache Personen die Beteiligung an solchen Veranstaltungen zu einer für den Erhalt des Selbst wichtigen, ja notwendigen Bedingung machen. Sechstens: Die Kosten der Partizipation an der politischen Willensbildung sind für einzelne Gesellschaftsmitglieder vergleichsweise niedrig. Man muss erwarten, dass unter diesen Umständen die Bereitschaft zur Mitwirkung steigt, und zwar besonders in Formen, die einen besonders hohen Wohlfahrtszuwachs in Aussicht stellen. In dem Maße wie etwa eine Beteiligung an der politischen Willensbildung nicht mit Einkommenseinbußen verbunden ist, sind die Kosten der Partizipation verhältnismäßig niedrig. Entsprechend ist mit einem gestiegenen Engagement zu rechnen. In dem Maße auch wie bestimmte Partizipationsformen als lustvoll, also nicht nur als kostenträchtig erlebt werden, ist auch damit zu rechnen, dass das Engagement sich in diesen Formen auslebt. So ist es durchaus erklärbar, dass Jugendliche, Studenten, für die die Zeit (noch) nicht unmittelbar Geld bedeutet, sich eher auch zeitintensiv engagieren.Auch ist es nicht verwunderlich, dass Menschen, die weniger etwas erreichen wollen, dafür aber mehr etwas erleben wollen, Partizipationsformen wählen, die auf einer der oben geschilderten Arten einen Erlebnisnutzen, weniger aber einen Ergebnisnutzen stiften. So gesehen ist die in den sechziger bis in die frühen achtziger Jahre hinein sich entwickelnde außerparlamentarische Demonstrationskultur nicht oder jedenfalls nicht nur der Ausdruck eines gestärkten staatsbür- Die Partizipationsbereitschaft · 251 <?page no="269"?> gerlichen Bewusstseins. Sie ist vermutlich eher die Folge gesunkener Partizipationskosten bei einem Großteil der insbesondere jugendlichen Bevölkerung, der Fragmentierung der Gesellschaft in zum Teil sich eng kontrollierende Subgesellschaften, der Betonung der Selbstrealisierung im emotionalen Erleben von Anliegen, die einen „betroffen machen“ und in die man „sich einbringt“. Diese etwas ernüchternde Analyse wird gestützt durch die Feststellung, dass die Mitwirkung an der politischen Willensbildung im Allgemeinen und die Partizipation an außerparlamentarischen Veranstaltungen im Besonderen in jenem Augenblick schwächer zu werden scheinen, indem der wirtschaftliche Leistungsdruck, jedenfalls die Angst vor dem Versagen größer werden und die lustvolle Selbstverwirklichung durch die Sorge um die Lösung von Sachproblemen wenigstens relativiert worden ist. Diese Überlegungen zu parlamentarischen und außerparlamentarischen Formen der Partizipation an der politischen Willensbildung haben illustrativen Charakter. Neben den hier angesprochenen „sit-ins“ gibt es andere Formen.Von einigen, so den Verbänden, wird noch eigens zu reden sein. Bezüglich aller jedoch gilt, dass das einzelne Gesellschaftsmitglied entscheiden muss, - ob sich angesichts der Kosten und Nutzen der Partizipationsmöglichkeiten für ihn eine Beteiligung überhaupt lohnt und - welche Möglichkeit bzw. welcher Mix von Möglichkeiten angesichts der jeweiligen Kosten und Nutzen zweckmäßig ist. Ein hier lediglich kurz anzusprechender weiterer Punkt berührt die Frage, wie sich die institutionellen, informell eingebürgerten oder formell abgesicherten Möglichkeiten der Mitwirkung verändern. Auch bei der Beantwortung dieser Frage ist es zweckmäßig, von dem Einzelnen und seinen Kosten-Nutzen-Überlegungen auszugehen. Die Entscheidung, ob der Einzelne im Rahmen der existierenden institutionellen Möglichkeiten an der politischen Willensbildung mitwirken soll oder ob er sich innerhalb (oder außerhalb) der existierenden institutionellen Möglichkeiten für deren Veränderung, gar für deren Abschaffung bzw. für die Schaffung neuer Möglichkeiten engagieren soll, ist auch ein Gegenstand des individuellen Rationalitätskalküls. So konnte man in den westlichen Demokratien im Laufe der letzten Jahrzehnte beobachten, dass das Engagement verschiedener Gesellschaftsgruppen nicht nur darauf zielte, im Rahmen existierender und allgemein eingeübter Institutionen Einfluss auf die Politik zu nehmen, sondern neue zu schaffen: Demos, „sit-ins“, Hearings, Tribunale, Märsche, Besetzungen, Bürgerinitiativen, „walk-ins“ usw. bis hin zu Entführungen und Attentaten. Jene, die für die Einführung neuer Mitwirkungsmöglichkeiten eintraten, waren dabei typischerweise jene, die - zu Recht oder zu Unrecht - der Ansicht waren, dass sich ihre Mitwirkung innerhalb der bestehenden Institutionen vom Ergebnis her und von dem Mitwirken als solchem nicht lohnt. Oder aber es waren jene, die - zu Recht oder zu Unrecht - davon überzeugt waren, dass andere institutionelle Möglichkeiten der Partizipation ein für sie günstigeres Kosten-Nutzenverhältnis aufweisen würden. 252 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="270"?> 2.3.3 Private Wahrheiten - öffentliche Lügen Im Vorhergehenden ist erörtert worden, ob, wann, unter welchen Umständen und in welcher Form die Bürger an der politischen Entscheidungsfindung partizipieren. Dabei wurde unterstellt, dass sie dann, wenn sie partizipieren, ihre tatsächlichen Präferenzen, Ansichten und Wertungen kundtun. Nicht aber wurde in Erwägung gezogen, dass sie in der Öffentlichkeit sagen mögen, was sie insgeheim für falsch halten. Timur Kuran folgend kann man nun unterstellen, dass letzteres durchaus nicht ausgeschlossen, gar zu erwarten ist. Timur Kuran beginnt sein Argument mit der Unterscheidung von drei Arten von Nutzen (Kosten), die der Einzelne aus seiner Teilnahme am Prozess der kollektiven Willensbildung zieht: - „intrinsic (dis)utility“: Es handelt sich hier um jene Nutzen (Kosten), die ein Individuum hat, weil eine seinen tatsächlichen Präferenzen entsprechende Kollektiventscheidung (nicht) zustandekommt; - „reputational (dis)utility“: Es ist dies jener Nutzen (Nachteil), der dem Einzelnen aus der sozialen Anerkennung (Ächtung) zufließt, weil er eine bestimmte Meinung vertritt. - „expressive (dis)utility“: So werden jene Nutzen (Kosten) bezeichnet, die der Einzelne deshalb hat, weil er gleichsam (nicht) zu sich selber steht, also (nicht) ausdrückt, was seine innerste Meinung und Ansicht ist. Ohne die Theorie Kurans hier im Detail nachzuzeichnen kann doch festgehalten werden, dass der Einzelne dann, wenn er entscheidet, ob er öffentlich kundtun soll, was er privat für richtig hält, diese drei Nutzenarten bzw. Kosten berücksichtigt. Dabei mag er feststellen, dass er möglicherweise mit Blick auf die „intrinsic utility“ sich für eine bestimmte Kollektiventscheidung einsetzen möchten, dies aber deshalb nicht ratsam ist, weil ein öffentliches Engagement für eben diesen Bescheid mit gesellschaftlicher Ächtung bestraft würde. Es mag also sinnvoll für ihn sein, öffentlich nicht zu sagen, was er privat will. So mag ein Gay durchaus eine „intrinsic utility“ darin sehen, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften rechtlich anerkannt werden; doch mag der soziale Druck eine solche „reputational disutility“ verursachen, dass er davon Abstand nimmt, durch die wahrheitsgemäße Bekundung seiner Präferenzen diese „intrinsic utility“ anzustreben. Allerdings: Es ist nicht ausgeschlossen, dass es mit Blick auf seine „expressive utility“ für ihn derart wichtig ist, zu sich selbst zu stehen, dass er seine wahren Präferenzen trotzdem öffentlich kundtut. Dies wird dann der Fall sein, wenn seine „intrinsic utility„ und seine „expressive utility“ zusammen größer sind als die „reputational disutility“. Entscheidend ist also, wie diese drei Arten von „(dis)utility“ im Verhältnis zueinander stehen. Dies wiederum mag von vielen Umständen abhängen. In dem eben skizzierten Beispiel: Der Einzelne schätzt wegen seines geringen Gewichts in der kollektiven Entscheidung die „intrinsic utility“ seiner wahrheitsgemäßen Partizipation gering ein; die „reputational disutility“ schätzt er wegen des großen sozialen Drucks hoch ein und - weil er ein auf seine persönliche Integrität sehr bedachter Mensch ist - ist die „expressive disutility“ einer Verleugnung der eigenen Präferenzen in der Öffentlichkeit gleichfalls hoch. Die Partizipationsbereitschaft · 253 <?page no="271"?> Da man nun realistischerweise davon ausgehen muss, dass dieses Kalkül nicht für alle Gesellschaftsmitglieder zu dem gleichen Ergebnis führt, muss man auch davon ausgehen, dass nicht alle in einer gegebenen Situation in gleichem Ausmaß lügen oder auch nicht.Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass die einen schon lügen (die Wahrheit sagen), wenn Andere noch die Wahrheit sagen (lügen). Dies wäre nun eine wenig bedeutsame Feststellung, wenn nicht die Nutzen, insbesondere die „reputational utility“ des Einzelnen davon abhängen würde, wie viele andere Gesellschaftsmitglieder in der Öffentlichkeit welche Meinung vertreten. So ist die „reputational disutility“ des oben erwähnten Individuums dann hoch (niedrig), wenn die Zahl jener, die öffentlich gegen die gesetzliche Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften sind, gleichfalls groß (klein) ist. Entsprechend wird auch der erwähnte Einzelne dagegen sein, also in der Öffentlichkeit sagen, was er privat nicht für wünschenswert hält. Er wird also lügen, weil nun aber - und dieser Punkt ist entscheidend - das Kalkül einiger, vieler, im Zweifel aller zu diesem Ergebnis führen kann, kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Extrem alle lügen, sie also im Gegensatz zu ihren tatsächlichen Präferenzen sich öffentlich gegen die Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften aussprechen. Allerdings: Selbst dann, wenn ein solcher Grad allgemeiner Unwahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit erreicht wäre, müsste er nicht endgültig sein und auf Dauer bestehen bleiben. Vielmehr können selbst kleinste Vorkommnisse dazu führen, dass die Proportionen der „(dis)utilities“ eines Individuums sich so verändern, dass es die Wahrheit sagt; und dies mag reichen, um bei einem zweiten Individuum diese Relationen auch zu verändern, und in der Folge auch dieses für eine rechtliche Gleichstellung von Schwulenpaaren eintritt, was seinerseits bewirken kann, dass ein drittes Individuum …, usw.: der Bandwagon ist ins Rollen gekommen. Im Übrigen: Kurans theoretisch fundierter These entspricht die Einsicht, die Andersens Märchen zugrunde liegt: Es bedurfte nur eines Kindes, das sagte, dass der König nackt ist, damit alle Höflinge nicht mehr öffentlich des Königs neue Kleider priesen, sondern sagten, was sie schon lange - ein jeder für sich - wussten: der König ist nackt. Entscheidend für Kuran ist also, dass selbst kleinste Vorkommnisse gesellschaftsweite Wirkungen in der öffentlichen Meinung hervorrufen können. Entscheidend ist auch, dass solche Umschwünge der öffentlichen Meinung deshalb nicht vorhersehbar sind, weil die (dis)utility-Schwellen, jenseits derer Einzelne sich dem Bandwaggon anschließen, a priori kaum, wenn überhaupt bekannt sind, man also a priori auch nicht wissen kann, welche Vorkommnisse wann welchen Umschwung der öffentlichen Meinung hervorrufen werden. So zeigt Kuran an einzelnen historischen Beispielen, dass solche Meinungsumschwünge unerwartet aufzutreten pflegen. In der Tat: Über mehr oder weniger lange Perioden kann die öffentliche Meinung in konservativer Starre verbleiben, um dann das Opfer jener nunmehr öffentlich geäußerten privaten Meinungen zu werden, die sich bis dahin unter der Maske des öffentlichen Lügens versteckt hatten. Der Ansatz Kurans ist insofern alarmierend, als er im Gegensatz zur gängigen Ansicht, dass nur in Diktaturen die Repression und die Zensur dazu führen, dass die Menschen ihre wahren Ansichten und Überzeugungen verbergen, steht. Kurans Argument lässt es vielmehr als plausibel erscheinen, dass es auch in liberalen Demokratien dazu kom- 254 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="272"?> men kann, dass die Individuen ihre tatsächlichen Präferenzen in der Öffentlichkeit verleugnen. Es ist also durchaus gerechtfertigt, dass die kollektive Entscheidungsfindung im Rahmen von institutionellen Arrangements stattfindet, die es dem Einzelnen erlauben, ohne „reputational disincentives“ öffentlich für jenes einzustehen, das er privat für richtig und erstrebenswert hält. Geheime Wahlen sind ein solches Arrangement. Da sich aber die politische Partizipation nicht nur in der Abgeschiedenheit der Wahlkabinen abspielt, reicht das Wahlgeheimnis nicht, das von Kuran erörterte Problem des Auseinanderfallens von privaten Meinungen und lügenhafter Öffentlichkeit vollends zu lösen. Literatur zu Kapitel VI.2.2 und VI.2.3 Aldrich, J. H.: When is it Rational to Vote? , in: Mueller, D. C. 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Es hat sich auch gezeigt, dass das Demokratieverständnis des Public Choice in Analogie zum Markt für private Güter entwickelt worden ist.Wie auf dem Markt, gibt es auch in der indirekten Demokratie Anbieter und Nachfrager. Wie dort, sollen auch hier die Anbieter nur dann ihre Zielvorstellungen realisieren, wenn sie zur Verwirklichung der Zielvorstellungen der Nachfrager beitragen.Wie auf dem Markt - wo der Kunde, nicht aber der Verkäufer König ist - liegt in der Demokratie die Souveränität bei den Nachfragern, d. h. bei den Wahlbürgern, nicht aber bei den Politikern. So wie es dem Konstruktionsprinzip des Marktes widerspricht, dass die Kunden nachfragen sollen, damit die Verkäufer anbieten können, so läuft es der Grundidee der Demokratie zuwider, dass die Wähler Politiker und ihre Programme wählen sollen, damit diese als Gewählte regieren können. 256 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="274"?> 2.4.1 Der politische Wettbewerb als Analogie zum Markt für Privatgüter Oben hieß es: - Der Metzger macht Würstchen, weil er ein Einkommen erzielen, nicht aber, weil er zur Volksernährung beitragen will. - Der Metzger soll nur dann sein Geld verdienen, wenn er einen Beitrag zur Ernährung leistet, wie ihn die Kunden wünschen. Analog dazu gilt für die indirekte Demokratie: - Der Politiker bietet bestimmte Programme an und bemüht sich um ihre Durchsetzung, weil er so in den Genuss der mit einem politischen Amt verbundenen Annehmlichkeiten (Prestige, Einkommen, Macht) kommen kann, nicht aber, weil ihm unbedingt am - wie auch immer definierten - Gemeinwohl, am Heil des Vaterlandes, am Glück der Menschen liegt. - Der Politiker soll nur dann in den Genuss der mit einem politischen Amt verbundenen Annehmlichkeiten kommen, wenn er einen Beitrag zum Glück von wenigstens so vielen Menschen macht, wie zur Wahl in ein politisches Amt nötig sind. Diese Betonung des partikularen Eigeninteresses von Politikern, ihre Nichtverpflichtung auf ein wie auch immer definiertes Gemeinwohl scheint unrealistisch zu sein, darüber hinaus klingt sie zynisch. Sie scheint eher einer aus Politikverdrossenheit entsprungenen Politikbeschimpfung als einer realistischen Tatsachenanalyse zu entspringen. Als vollends unannehmbar erscheint sie, wenn die Ausrichtung an Partikularinteressen nicht als leider hinzunehmende Tatsache, sondern als zu bejahende positive Erscheinung dargestellt wird. Dieser Eindruck ist nicht gerechtfertigt. Wohl ist richtig, dass es Politiker geben mag, denen das Glück ihrer Mitbürger tatsächlich am Herzen liegt. Es kann ja auch nicht a priori ausgeschlossen werden, dass ein Metzger Würstchen produziert, um seinen Kunden eine Freude zu machen. Nur dürfte dies relativ selten sein. Und so ist ein Gebot kluger Gesellschaftspolitik, Institutionen zu schaffen, die auch dann zu einem allseits bejahbaren Ergebnis führen, wenn den einen nicht die Wohlfahrt der anderen, sondern die eigene am Herzen liegt. Der Markt und die indirekte Demokratie sind - wenigstens von der Konstruktionsidee her - solche Einrichtungen. Wie gesagt, mag es durchaus vorkommen, dass einem Politiker das „Wohl des Vaterlandes“ am Herzen liegt, er also Konzepte und Programme entwirft und implementiert, die dem Wohl des Gemeinwesens - wie er es versteht - dienen sollen, sobald er nur die Möglichkeit dazu hat. Allerdings wird auch dann der Politiker diese als Mittel betrachten müssen, die Macht zu erringen bzw. zu behalten. Er wird sie also nicht als Ziel um ihrer selbst anstreben können. Tut er Letzteres, vernachlässigt er also den instrumentellen, d. h. den dem Machterhalt untergeordneten Charakter seiner Vorstellungen und Überlegungen, so läuft er Gefahr, die Macht zu verlieren und damit auch die Möglichkeit, seine Vorstellungen und Überzeugungen, seine Konzepte, Projekte und Programme in die Tat umzusetzen. Ein Politiker, der nicht primär auf die Machterringung und den Machterhalt fixiert ist, landet über kurz oder lang im politischen Nichts. Dies ist nicht so zu verstehen, als bräuchten Politiker keine Überzeugungen und Vorstellungen zu haben, als könnten sie sich damit genügen, allenfalls inhaltsleere Anru- Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 257 <?page no="275"?> fungen des Gemeinwohls von sich zu geben, ansonsten aber sich mit dem zu begnügen, was die Franzosen abschätzig „politique politicienne“ nennen. Im Gegenteil spricht vieles dafür, dass die Wähler von einem Politiker erwarten, dass er Überzeugungen hat; sie lehnen also im Zweifel jenen Politiker ab, der keine eigenen Überzeugungen hat bzw. der nicht wenigstens den Eindruck erweckt, dass er welche hat. Kurz: Wer ohne Überzeugungen ist oder scheint, überzeugt nicht. Allerdings honorieren sie nur jenen Politiker, der ihnen genehme Überzeugungen hat. Ein letzter Punkt ist in diesem Zusammenhang anzusprechen.Auch wenn ein Politiker ernsthaft dem Wohl des Gemeinwesens verpflichtet ist, auch dann, wenn es ihm in allem Ernst um das Wohl seiner Mitmenschen geht, so kann er doch nur das Gemeinwohl anstreben, wie er es versteht. Auch kann er dann nur das zu realisieren suchen, was nach seiner Meinung dem Wohl der Mitmenschen dient. In diesem Fall mag sein guter Wille nicht in Frage stehen, doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass wir es hier mit einer mehr oder weniger weitgehenden Entmündigung der Bürger durch den Politiker zu tun haben. Diese aber steht zum individualistischen Engagement einer Gesellschafts- und Staatsphilosophie im Widerspruch, deren Bezugspunkt die Wohlfahrt der Bürger ist, wie sie sie verstehen, deren Richtschnur aber nicht die Vorstellungen sein können, die andere - etwa wohlmeinende Politiker - über die Wohlfahrt der Bürger haben. Auch hier dürfte gelten, was oben schon ausgeführt worden ist: Die Wähler wenden sich von einem Politiker ab, der sichtbar an ihrer Wohlfahrt nicht interessiert ist. Sie erwarten, dass ein Politiker sich ihrer annimmt, sich für sie sorgt und einsetzt. Es ist aber ein Zeichen politischer Reife, wenn sie darauf bestehen, dass sie und nicht er darüber befinden, wie er sich am besten für sie einsetzt. Auch wäre es ein bedenkliches Zeichen, wenn die Institutionen zuließen, dass Politiker das Glück der Wähler nach ihrem, nicht aber nach dem Geschmack der Bürger machen könnten. Wir halten fest: Es ist realistisch anzunehmen, klug zu unterstellen und berechtigt zu bejahen, dass die Politiker eigene Ziele verfolgen und diese Ziele von jenen, welche die Bürger im Staat verfolgen, verschieden sind. Allerdings ist sicherzustellen, dass die Politiker ihre Ziele nur erreichen können, wenn und indem sie zur Realisierung der Ziele der Wähler beitragen. Weiter oben ist ausgeführt worden, dass es nötig ist, dass die Bürger ihre Bedürfnisse kennen und dass die Bürger den Politikern ihre Bedürfnisse für diese verständlich mitteilen. Unter den Stichworten der Informations- und der Partizipationsbereitschaft haben wir diese Forderungen diskutiert. Dabei haben wir festgestellt, dass sie nur schwer und nur teilweise erfüllt werden können. Dies ist nun nicht so zu verstehen, als sei damit die indirekte Demokratie als solche diskreditiert. Es ist allerdings sehr wohl so zu verstehen, dass damit mögliche Schwachstellen des demokratischen Entscheidungsprozesses sichtbar werden. Entsprechend sind diese Ausführungen auch dann nicht aus dem Gedächtnis zu verdrängen, wenn sie - wie auf den folgenden Seiten - wenigstens vorerst explizit nicht beachtet werden. 258 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="276"?> 2.4.2 Ein ökonomisches Modell der Demokratie Damit die Politiker ihre eigenen Ziele nur über die Realisierung der Ziele der Wähler anstreben und erreichen können, verlässt sich die indirekte Demokratie auf den Wettbewerb; ganz so, wie der Wettbewerb auf dem Markt sicherstellen soll, dass die Anbieter ihre Ziele nur im Dienste der Ziele der Nachfrager anstreben und erreichen können. Und so wie der Wettbewerb auf dem Markt an bestimmte Bedingungen gebunden ist, so setzt der Wettbewerb im politischen Raum bestimmte Bedingungen voraus. In seiner „Economic Theory of Democracy“ hat Anthony Downs diese Funktionsbedingungen zu einem einfachen Modell des politischen Wettbewerbs zusammengefasst. Sie stellen deskriptiv die Charakteristika der demokratischen Regierungsform in ihrer einfachsten Erscheinung dar. 2.4.2.1 Die Prämissen des Downsschen Modells der Demokratie 1. Jeweils eine Partei (...) wird durch das Volk zur Ausübung der staatlichen Herrschaft gewählt. 2. Solche Wahlen werden in periodischen Zeitabständen gehalten, deren Dauer die Partei, die an der Macht ist, nicht im Alleingang ändern kann. 3. Alle Erwachsenen, die dieser Gesellschaft ständig angehören, sind berechtigt, bei jeder Wahl eine Stimme abzugeben. 4. Jeder Wähler darf bei jeder Wahl eine, und nur eine Stimme abgeben. 5. Jede Partei, die von der Mehrheit der Wähler unterstützt wird, ist berechtigt, die Regierungsgewalt bis zur nächsten Wahl zu übernehmen. 6. Die Parteien, die die Wahl verloren haben, versuchen niemals, die Siegerpartei mit Gewalt oder durch irgendein anderes ungesetzliches Mittel an der Amtsübernahme zu hindern. 7. Die Partei, die an der Macht ist, versucht niemals, die politische Tätigkeit irgendwelcher Bürger oder Parteien zu beschränken, solange diese nicht den Versuch unternehmen, die Regierung mit Gewalt zu stürzen. 8. Bei jeder Wahl gibt es zwei oder mehrere Parteien, die um die Kontrolle des Regierungsapparates konkurrieren. Akzeptiert man diese Downssche Deutung der Demokratie als Wettbewerb um die Stimmen der Wähler, akzeptiert man also, dass die Politiker - wie die Metzger verschiedene Würstchentypen - verschiedene politische Programme anbieten, und dass die Wähler sich in unterschiedlicher Zahl für die diversen Programme entscheiden, so stellt sich die Frage nach der Dynamik des politischen Wettbewerbs. Konkret: Welche Programme werden von den Politikern angeboten, und welches Programm wird so viele Wählerstimmen auf sich vereinen, dass jener Politiker, der es vertritt, in die Regierungsverantwortung gewählt wird? Diese Frage ähnelt jener, die im Zusammenhang mit dem Markt für private Güter gestellt wird: Welche Arten von Würstchen werden in welcher Menge in einem wettbewerblich geregelten Markt gehandelt? Beide Fragen sind aber insofern voneinander verschieden, als auf dem Markt für Privatgüter die Nachfrager nach vielen unterschied- Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 259 <?page no="277"?> lichen Würstchensorten je ihre Sorte haben können, dies aber für die politischen Programme nicht gilt. Hier wird jenes Programmangebot zum für alle Bürger verbindlichen Regierungsprogramm, das seinen Vertretern zur Regierungsmacht verholfen hat. Entsprechend sind eigene Annahmen über das Verhalten des einzelnen Wählers angesichts von Programmangeboten und Regierungsprogrammen zu machen, die im Zweifel (nicht) seinen individuellen Präferenzen entsprechen. Anthony Downs hat auch diese in ein einfaches räumliches Modell der Demokratie eingebaut. Dieses Modell besteht aus folgenden Elementen: - Die politischen Optionen lassen sich auf einem Kontinuum von rechts nach links anordnen, und zwar so, dass alle Kollektivmitglieder mit dieser Anordnung einverstanden sind. Man spricht von einem räumlichen Demokratiemodell. Die ihm zugrundeliegende Idee eines Kontinuums ist verschiedentlich kritisiert worden. Man hat darauf hingewiesen, dass es politische Themen gibt, die nicht mit „mehr oder weniger“, sondern mit „Ja oder Nein“ entschieden werden müssen. Man ist entweder für die Liberalisierung der Abtreibung oder dagegen; man ist für die Todesstrafe oder man ist dagegen.Allerdings: Auch in diesen Fällen sind - verlässt man die Ebene des Prinzipiellen - mittlere Positionen denkbar. So können die Bedingungen, unter denen man die Abtreibung als zulässig ansieht, mehr oder weniger eng gefasst sein; auch kann die Todesstrafe als Regel oder als Ausnahme Anwendung finden. So gesehen hängt die Frage, ob wir es in der Politik mit einem Kontinuum zu tun haben, davon ab, ob die politische Auseinandersetzung als Konfrontation von Prinzipien oder als Wettbewerb pragmatischer Lösungen geführt wird. - Jedes Mitglied entscheidet sich in einer Wahl für jenes Programm, • das seinen Vorstellungen am nächsten ist, • und zwar unabhängig davon, wie weit das Programm von seinen Vorstellungen entfernt ist, • und unabhängig davon, ob das Programm auf dem Kontinuum nach rechts oder nach links von seinen Vorstellungen abweicht. - Alle politischen Optionen werden nur unter einem Aspekt betrachtet. Die politische Auseinandersetzung ist eindimensional. Konkret bedeutet dies, dass die im Wettbewerb angebotenen politischen Programme nur auf eine Eigenschaft hin wahrgenommen werden, also auch nur bezüglich dieser einen Eigenschaft Unterschiede zwischen ihnen in der Wahlentscheidung der einzelnen Bürger eine Rolle spielen. So mag man sich vorstellen, dass auf dem oben erwähnten Kontinuum ganz rechts die „libertarians“ (kein Staat), etwas weniger rechts die Friedmanianer (fast kein Staat) und ganz links die Vertreter einer totalen Verstaatlichung usw. angesiedelt sind. 2.4.2.2 Die Dynamik des politischen Wettbewerbs Die Frage ist nun, was die Dynamik des politischen Wettbewerbs im Rahmen dieses Modells bestimmt. Dabei wird unterstellt, dass die Politiker wenigstens so viele Stimmen bekommen wollen, wie zur Übernahme der Regierung nötig sind. Es wird sich zeigen, dass die Dynamik von der relativen Stärke der sog. zentripetalen und der zentrifugalen Kräfte abhängt. 260 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="278"?> Unter den zentripetalen Kräften sind jene Kräfte zu verstehen, die dahin wirken, dass sich die in Konkurrenz zueinander stehenden Politiker bzw. Parteien auf den Median der über das Optionenkontinuum verteilten Wählerschaft und damit aufeinander zu bewegen. Die zentrifugalen Kräfte sind jene Kräfte, welche die Bewegung hin zum Medianwähler bremsen, gar in ihr Gegenteil verkehren können. Zentripetale Kräfte Es ist eine zentrale These der Ökonomischen Theorie der Demokratie, dass innerhalb des institutionellen Rahmens des politischen Wettbewerbs, wie er oben skizziert worden ist, das Verhalten der Politiker und der Wähler dazu führt, dass die Programme der konkurrierenden Parteien bzw. Politiker auf den Median zustreben. Wir beginnen unsere Darstellung der Dynamik dieses Prozesses, indem wir von einer Situation ausgehen, in der über das eindimensionale Spektrum der politischen Optionen die Wähler gleich verteilt sind, also jede Option von gleich vielen Wählern als ihren Präferenzen völlig entsprechend angesehen wird.Abbildung 32a gibt diese Situation wieder. Vorerst bieten zwei Parteien A und B ihre Programme in Konkurrenz zur Wahl an. Die Ausgangsposition ist willkürlich gewählt, denn unsere Geschichte muss irgendwo anfangen.Wie die Parteien zu diesen Programmen gekommen sind, nehmen wir deshalb als Ergebnis vergangener, hier nicht zu erklärender Entwicklungen an. Aus der Wahl wird A als Gewinner hervorgehen. Dies deshalb, weil alle Wähler links von seinem Programmangebot für ihn stimmen werden, denn A ist für sie die nächststehende Partei. Darüber hinaus werden alle rechts vom Programmangebot angesiedelten Wähler auch für A stimmen, soweit A ihnen näher steht als B, ihre Präferenzen also links von Punkt X liegen. Die übrigen Wähler votieren für B. Da die Zahl dieser Wähler geringer ist als die Zahl der Voten für A, hat Letzterer die Wahl gewonnen. Da nun den Prämissen entsprechend demnächst wieder eine Wahl stattfindet, versucht B, diese zu gewinnen und so A aus der Regierung zu verdrängen. Gleichfalls den Prämissen entsprechend kann B dieses Ziel nur durch ein verändertes Programmangebot anstreben. Als Folge der vergangenen Wahl kennt B die Präferenzverteilung der Bürger. Davon ausgehend und unter Berücksichtigung der oben skizzierten Verhaltensmuster der Wähler kann dies für die Partei B nur bedeuten, dass sie ihr Programmangebot nach links, d. h. in Richtung Median verschiebt: B 1 in Abbildung 32b. Damit aber gelingt es, der konkurrierenden Partei, die mit dem alten Programm A angetreten war, die durch das schraffierte Rechteck abgebildeten Wähler abzuwerben: Die rechte Partei mit Programm B 1 hat alle rechts von X 1 liegenden Wählerstimmen auf sich vereint und damit die Wahl gewonnen. Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 261 Abbildung 32a <?page no="279"?> Im nächsten Wahlgang zieht nun die linke Partei die Konsequenzen aus ihrer Wahlniederlage und - getrieben von ihrem Willen zu gewinnen und unter Berücksichtigung des Wählerverhaltens - bietet sie das zum Median hin verlagerte Programm A 1 an. Die Folge ist, dass nun alle links von X 2 angesiedelten Wähler für die linke Partei votieren. Die rechte Partei hat also die durch die schraffierte Fläche abgebildete Wählerzahl an die linke Partei verloren.Abbildung 32c zeigt diesen Sachverhalt. Diesen Prozess kann man über einen vierten, fünften usw. Wahlgang verfolgen. Dabei wird man feststellen, dass sich die Parteien einander immer weiter annähern. Im bisherigen Beispiel haben sich die Parteien aufeinander zu und auf den Median hinbewegt. Es stellt sich die Frage, ob die Parteien sich auch aufeinander zu bewegen können, ohne auf den Median zuzusteuern. Genauer: Es ist zu fragen, wann und wie Parteien den Median ansteuern, wenn sie sich einander annähern.Wir gehen in Abbildung 33a davon aus, dass eine linke und rechte Partei anfangs die Programme A bzw. B anbieten. Der Dynamik des politischen Wettbewerbs entsprechend gewinnt B die Wahl. Da in der Ausgangssituation - aus einem hier nicht interessierenden Grund - die rechte Partei mit ihrem Programm B links vom Median liegt, ist vorerst nicht einzusehen, dass die Parteien sich gleichzeitig aufeinander zu und auf den Median hinbewegen können. Auf den ersten Blick will es jedenfalls scheinen, dass A und B im Wettbewerb um die zwischen ihnen liegenden Wähler aufeinander zugehen (A 1 , B 1 ) sie aber nicht auf den Median zustreben. Dieser erste Eindruck ist falsch. Denn im Rahmen der oben genannten Bedingungen hindert nichts A daran zu tun, was er mit Blick auf seinen Wahlsieg tun muss, nämlich B rechts zu überholen, also das Programm A 2 anzubieten, und so die Wahl für sich zu entscheiden.Abbildung 33b illustriert dies. 262 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie Abbildung 32c Abbildung 33a Abbildung 32b <?page no="280"?> Man mag gegen diesen programmatischen „Sprung“ einwenden, dass die linke Partei nicht zur rechten Partei werden kann, ohne ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen und damit an politischer Attraktivität bei den Wählern zu verlieren. Es ist wohl richtig, dass dies in der Realität zu erwarten ist. Es trifft aber gleichfalls zu, dass der Hinweis auf den Glaubwürdigkeitsverlust einer Partei darauf hinausläuft, den Prämissenrahmen des Modells zu verändern. So wichtig es auch immer ist, das theoretische Modell nicht mit der Realität zu verwechseln, so notwendig ist es auch, die Prämissen eines Modells zu respektieren. Dies schließt nicht aus, dass man sie im Weiteren der Wirklichkeit annähert; nur muss dies explizit geschehen. Vorerst aber erlaubt uns das Festhalten an den Prämissen zu sehen, dass die zentripetalen Kräfte sich offenkundig in der in Abbildung 33a gezeigten Ausgangssituation nur dann auswirken, wenn die Glaubwürdigkeit, also die Vergangenheit der Politiker und Programme keine Rolle spielt. Die Wähler wählen eben die Partei, deren Programm in der gerade anstehenden Wahl ihren Präferenzen am nächsten liegt, gleichgültig, wie groß auch immer die Distanz zwischen Programm und Präferenzen ist. Es gibt im Rahmen des - noch einmal: nicht in allen Teilen realistischen - Prämissenrahmens eine andere Möglichkeit, dass die Parteien durch den politischen Wettbewerb nicht nur gezwungen werden, sich mit ihren Programmen einander anzunähern, sondern dass sie sich gleichzeitig auf den Medianwähler hinbewegen müssen. Wir gehen wieder von der in Abbildung 33a gezeigten Situation aus, in der die beiden Parteien programmatisch links vom Median angesiedelt sind: A und B. In einer ersten Wahl teilen sich die Wähler bei X in die linke und in die rechte Partei auf, wobei B die Wahl gewinnt. Der Prämissenrahmen schließt nicht aus, dass nicht nur zwei, sondern mehr Parteien um die Wählerstimmen konkurrieren. In der in Abbildung 34a abgebildeten Situation ist es nun sehr erfolgversprechend für eine dritte Partei, mit dem „rechten“ Programm C in den nächsten Wahlkampf zu ziehen.Wenn A und B nach wie vor die Programme der beiden alten Parteien sind, wird die neue Partei als relativ stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen.Alle rechts von Y lokalisierten Wähler werden für sie gewählt haben.Alle zwischen X und Y angesiedelten Wähler werden für B gestimmt haben.Alle links von X liegenden Wähler werden A ihre Stimme gegeben haben. Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 263 Abbildung 33b Abbildung 34a <?page no="281"?> Bei der nächsten Wahl (hierzu Abbildung 34b) werden nun die drei Parteien, getrieben von ihrem Siegeswillen, ihre Programme revidieren. Für die linke Partei kann dies im Rahmen der Prämissen nur bedeuten, dass sie nach rechts rückt: A 1 . Die rechte Partei ihrerseits wird nach links rücken: C 1 . Beide Parteien nähern sich also einander und dem Median an. Es bleibt die Partei der Mitte mit Programm B, die nun über eingeschränkte Möglichkeiten verfügt. In dem Maße nämlich wie die rechte und die linke Partei sich zum Median hinbewegen, verringert sich der Spielraum für die mittlere Partei.Während die linke und die rechte Partei sich darum bemühen können,Wählerstimmen zu gewinnen, muss die Partei der Mitte darum kämpfen, möglichst wenige Stimmen zu verlieren. Die zentripetalen Kräfte wirken sich als existenzbedrohend für die Partei der Mitte aus. Und so ist es in diesem Zusammenhang als symptomatisch auszusehen, dass in der Tat Parteien der Mitte - wie etwa die FDP in der Bundesrepublik - gemeinhin nicht nur verhältnismäßig kleine Parteien sind, sondern auch um ihr Überleben kämpfen müssen. Dass die Partei der Mitte das hilf- und reglose Opfer der sich zum Median bewegenden Parteien von links und rechts wird, ist allerdings nur dann zu erwarten, wenn die Wählerverteilung - wie bislang angenommen - über das politische Spektrum gleich verteilt ist. Entspricht diese Verteilung jener in Abbildung 35, so kann die Partei der Mitte - wenigstens vorerst - noch etwas tun. Rücken hier - ausgehend von A bzw. C - die beiden Konkurrenzparteien nach A 1 bzw. C 1 , so ist es für die Partei der Mitte zweckmäßig, von B nach B 1 zu rücken. Zwar ver- 264 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie Abbildung 34b Abbildung 35 <?page no="282"?> liert sie auf diese Weise rechts mehr Wähler an C (Fläche P) als sie ohne diesen Linksruck verloren hätte (Fläche Q), doch steht diesem Verlust gegenüber, dass B von A jenes Terrain zurückgewinnt, das B durch die Rechtsbewegung von A nach A 1 verloren hatte. Mit anderen Worten: Ist die Wählerverteilung nicht gleichmäßig, so wird die Partei dort mit programmatischen Änderungen reagieren, wo für sie relativ viele Wähler zu gewinnen sind bzw. wo relativ viele Wähler verlorengehen könnten. Was im konkreten Einzelfall die Partei der Mitte tatsächlich tut, hängt ab von der Art der Wählerverteilung und von der Aggressivität der linken bzw. der rechten Partei, also von der Distanz A - A 1 bzw. C - C 1 . Doch auch dies selbstverständliche Ergebnis kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei der Mitte dann, wenn die zentripetalen Kräfte sich ungehindert auswirken können, über kurz oder lang ein Opfer dieser Kräfte wird. Dabei wird sie um so eher zwischen der linken und der rechten Partei erdrückt werden, je polarisierter die Gesellschaft ist, d. h., je dünner die Optionen des Mittelfeldes besetzt sind. Haben wir es hingegen mit einer Gesellschaft zu tun, in der die politischen Präferenzen der meisten Bürger im Mittelfeld des politischen Spektrums angesiedelt sind, so ist wenigstens innerhalb des Prämissenrahmens des Modells mit einem eher langsamen Ende der Partei der Mitte zu rechnen. Ob die Partei nach rechts oder nach links ausweicht, hängt wesentlich von der relativen Geschwindigkeit, mit welcher A und C sich auf sie zu bewegen, und von der Wählerverteilung ab. Ändert sich Letztere bzw. ändern sich die relativen Geschwindigkeiten von A und C, so mag B - um zu retten, was zu retten ist - erst nach der einen, dann aber nach der anderen Richtung ausweichen. Sie gerät auf diese Weise leicht in den Ruf des Opportunismus; sie erscheint als „Umfaller-Partei“. Dies gilt nicht für die beiden Parteien links bzw. rechts vom Median. Jedenfalls innerhalb des hier angenommenen Prämissenrahmens liegt es - wie auch immer die Wählerverteilung sich verändert - in ihrem Interesse, zum Median hinzurücken, sich zur Mitte hin zu öffnen. Doch selbst wenn sie dies tun, bleiben sie eine rechte bzw. eine linke Partei; die Grundposition bleibt jeweils die gleiche. Entsprechend können diese Parteien, trotz aller Öffnung zur Mitte, mit der Treue zu ihren althergebrachten Werten, Wertungen, Vorstellungen und Programmen kokettieren. So wird die rechte Partei, auch wenn sie das Programm C zugunsten von C 1 aufgegeben hat, sich nach wie vor als „große Sammelpartei der Rechten“ bezeichnen können. Sie wird sich - auch wenn sie eine liberal-konservative Partei wird - als konservative Partei treu geblieben sein. Und dies ist weit mehr, als die Partei der Mitte erreichen kann, wenn sie aus einer links-liberalen zu einer rechts-liberalen Partei wird. Das Odium des amoralischen Opportunismus, der prinzipienlosen Ausrichtung am Machtstreben, wie es vielen Parteien der Mitte anhaftet, erklärt sich demnach nicht primär aus den sittlichen Defiziten ihrer Politiker, sondern ihrer Stellung zwischen anderen Parteien. Und: Die Aura der moralischen Grundsatztreue und der Verpflichtung gegenüber Prinzipien, wie sie für Parteien typisch sind, die rechts bzw. links angesiedelt sind, erklärt sich demnach nicht primär aus der moralischen Qualität von deren Politikern, sondern gleichfalls aus deren Stellung im politischen Spektrum. Damit haben wir allerdings späteren Ausführungen vorgegriffen, indem wir selbst den Prämissenrahmen ge- Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 265 <?page no="283"?> sprengt haben. Innerhalb dieses Rahmens spielt nämlich weder die Glaubwürdigkeit einer Partei noch die sittliche Qualität ihrer Politiker für die Wähler eine Rolle. Ehe wir diese Punkte wieder aufgreifen, ist zu prüfen, wo die von den zentripetalen Kräften verursachte Dynamik des politischen Wettbewerbs zum Stillstand kommt. Die Antwort auf diese Frage sollte nun nicht überraschend sein: beim Medianwähler. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass rechts und links vom Median immer wieder neue Parteien entstehen und diese - der Dynamik der politischen Konkurrenz folgend - sich auf den Median zu bewegen, und so die inzwischen schon in der Nähe des Medians angesiedelten Parteien erdrücken. In einer nächsten Runde werden sie dann ihrerseits im Zweifel von neuen, rechts und links entstandenen Parteien erdrückt usw. Dies jedenfalls dann und in dem Maße wie die Gründung neuer Parteien kostenlos ist. Man mag sich allerdings auch vorstellen, dass jene Parteien, die Gefahr laufen, in der Nähe des Medians erdrückt zu werden, selbst wieder jene linken (bzw. rechten) Parteien links (bzw. rechts) überholen, die sie zu erdrücken drohen. Wir haben oben gesehen, dass dies wenigstens im Rahmen der Modellprämissen möglich ist. Das Medianwähler-Modell der Demokratie erinnert in dieser Form an die aus der Kosmologie und Astronomie bekannte Theorie der Schwarzen Löcher, jene zu unglaublicher Dichte kollabierten Sterne, deren Anziehungskraft so groß ist, dass sie alles in ihrer Nachbarschaft Befindliche in sich hineinsaugen und nicht einmal Licht abgeben. So wie in diesen „black holes“ alle Materie entschwindet, so verschwinden am Median die Parteien, während am Rande des Universums bzw. des Optionenspektrums immer neue Nahrung für den nimmersatten Schlund entsteht. Man kann die Analogie weiterverfolgen: So wie in der Kosmologie über die Möglichkeit spekuliert wird, dass die von den Schwarzen Löchern verschlungene Materie „auf der anderen Seite“ zur fortlaufenden Erschaffung des Universums verwendet wird, so mag man die Parteien, die aus der erdrückenden Enge um den Median wieder an den Rand des Optionenspektrums flüchten, als Erscheinung eines politischen Prozesses sehen, der seine Energie aus der eigenen Dynamik zieht; gleichsam ein perpetum mobile der Politik. Das Ergebnis der Dynamik des politischen Wettbewerbs läuft dann, wenn die zentripetalen Kräfte sich ungehindert auswirken, darauf hinaus, dass die im Kollektiv verbindlich getroffenen Entscheidungen, also die Regierungspolitik, den Präferenzen des Medianwählers entspricht.Weil unter dem Druck der Konkurrenz um die Wählerstimmen die Parteien ihre Programme am Medianwähler ausrichten müssen, wenn sie denn überhaupt eine Erfolgschance haben wollen, werden sich ihre Programme bis zur Ununterscheidbarkeit ähnlich sein. Man kann sich an dieser Stelle fragen, ob damit die indirekte Demokratie nicht eines ihrer wesentlichen Merkmale verliert, ob nämlich die Wähler bei der Wahl auch tatsächlich die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen haben. In der Tat, wenn es - nehmen wir an - zwei Parteien gibt und beide das gleiche, den Präferenzen des Medianwählers entsprechende Programm anbieten, kann man fragen, warum der einzelne Wähler noch dort wählen soll, wo es nichts auszuwählen gibt. Man mag sich fragen, warum überhaupt Wahlen abgehalten werden. Es reiche dann - so mag man argumentieren -, die Präferenzen des Medianwählers in Erfahrung zu bringen; noch einfacher sei es, den Medianwähler zum Regierungschef zu machen. 266 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="284"?> Diese auf den ersten Blick verführerische Argumentation hält einem zweiten Blick nicht stand. Aus folgendem Grund: Man kann die Präferenzen des Medianwählers erst dann zum Maßstab der Regierungspolitik, also der kollektiv verbindlichen Entscheidungen machen, wenn man sie kennt. Nur weiß man allerdings nicht bereits vor den Wahlen, welcher Wähler mit welchen Präferenzen am Median der Wählerverteilung angesiedelt ist. Man kann also nicht mit dem Hinweis, die Regierungspolitik entspreche ohnehin den Präferenzen des Medianwählers, auf die Wahlen verzichten. Anders ausgedrückt: Man kann nicht auf die Wahlen verzichten, weil man allenfalls erst nach den Wahlen wissen kann, wer der Medianwähler ist und welche Präferenzen er hat. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Median auch jener Punkt sein wird, dem - im Rahmen der oben genannten Prämissen - alle Wahlbürger zugestimmt haben werden.Wohl werden die Bürger, wenn es zwei Parteien A und B gibt, zwei verschiedene Parteien wählen können, doch werden sie sich - da A und B inhaltlich das den Präferenzen des Medianwählers entsprechende Programm anbieten - vom Inhalt her für das gleiche entschieden haben. Im Rahmen der Modellprämissen findet demnach jeder Wähler im Regierungsprogramm wieder, für was er sich bei der Wahl entschieden hat.Vom Entscheidungsinhalt her führt das Medianwähler-Modell zur Einstimmigkeit, also zu einem pareto-optimalen Ergebnis, von dem abzuweichen zumindest für einen Bürger mit Wohlfahrtseinbußen verbunden wäre. Das Bild der indirekten Demokratie, wie es dem Medianwähler-Modell entspricht, ist zumindest in der vorliegenden Form realitätsfremd.Wohl sind in der Wirklichkeit Beispiele zu finden, in denen sich die Parteiprogramme einander annähern. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass zwischen den Programmen der Parteien inhaltliche Differenzen nicht nur bestehen bleiben, sondern sich diese Unterschiede gar vergrößern. Angesichts dieser in verschiedene Richtungen zeigenden Beispiele lässt die Logik nur wenige Deutungen zu. Entweder gibt es die zentripetalen Kräfte - jedenfalls in dem bislang unterstellten Umfang - nicht. Oder aber die zentripetalen Kräfte existieren wohl, werden jedoch durch andere, ihnen entgegenwirkende, also zentrifugale Kräfte kompensiert, vielleicht gar überkompensiert. Zentrifugale Kräfte Wenn wir unterstellen, dass unsere bisherigen Überlegungen innerhalb des Prämissenrahmens des Modells stimmig sind, dann lässt sich das bisherige Fehlen von zentrifugalen Kräften nur durch die Eigenart des Prämissenrahmens erklären. Anders formuliert: Die Wirklichkeitsfremdheit der innerhalb des Modells erarbeiteten Aussagen ist der Niederschlag der Wirklichkeitsfremdheit der Prämissen. Die Frage ist also, ob als Folge der Variation der einen oder anderen Prämisse zentrifugale Kräfte ins Blickfeld rücken. Die Antwort auf die Frage vorwegnehmend ist festzuhalten, dass dem so ist. Parteiinterne Demokratie Als erste Prämisse wollen wir jene stillschweigende Annahme fallenlassen, dass die Partei A bzw. die Partei B dieses oder jenes Programm anbietet. Programme fallen nicht vom Himmel, und welches Programm eine Partei anbietet, hängt nicht allein von der Dynamik des Wettbewerbs zwischen den Parteien ab. Über Parteiprogramme - wenigs- Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 267 <?page no="285"?> tens wenn und soweit die Parteien intern demokratisch verfasst sind - wird in einem parteiinternen Prozess der Kollektiventscheidung befunden. Und in diesem Prozess der parteiinternen Willensbildung geht das oben postulierte Ziel, die Wahlen zu gewinnen, lediglich indirekt ein. Dies ist auf den ersten Blick überraschend. Es sollte doch einleuchtend sein, dass jedes an der parteiinternen Entscheidungsfindung teilnehmende Parteimitglied unmittelbar daran interessiert ist, dass seine Partei die Wahlen gewinnt. Wohl ist hier zutreffend, dass die Parteimitglieder den Sieg ihrer Partei wünschen, doch sind sie im parteiinternen Willensbildungsprozess direkt daran interessiert, dass dieses Programm ihren Präferenzen möglichst entspricht. Und dies im Zweifel auch dann, wenn ihnen ihre eigenen Präferenzen als solche wenig, dafür aber als Mittel zur eigenen politischen Karriere wichtig sind: Ein Vertreter der extremen Linken kann nur in einer linken Partei Karriere machen, wenn extrem-linke Werte und Optionen das Parteiprogramm bestimmen. Und weil er nur dann im Gemeinwesen als Ganzem politisch Karriere machen kann, wenn er in seiner Partei Karriere gemacht hat, muss ihm daran gelegen sein, dass seine Position - welche dies auch immer sei - in der Partei erfolgreich ist. Kurzum: Wie und wenn der innerparteiliche Erfolg für den einzelnen Politiker eine conditio sine qua non für die politische Karriere überhaupt ist, muss er - unter Vernachlässigung aller anderen Gesichtspunkte, also auch des Wahlerfolges seiner Partei - den innerparteilichen Erfolg anstreben. Das Hemd (die eigene Karriere) ist ihm näher als der Rock (der Erfolg der eigenen Partei). Wenn wir nun annehmen, dass innerhalb der Partei die Willensbildung der oben erörterten Dynamik des Medianwähler-Modells folgt, dann können wir uns vorstellen, dass auf dem Parteitag etwa der linken Partei A zwei Entwürfe vorgestellt und in Wettbewerb zueinander stehen: ein Entwurf des linken und ein Entwurf des rechten Flügels. Beide werden - der Dynamik des politischen Wettbewerbs innerhalb der Partei folgend - auf den parteiinternen Median zustreben. Wenn die zentripetalen Kräfte innerhalb der Partei sich voll auswirken können, wird das verabschiedete Parteiprogramm den Präferenzen des Medianmitgliedes der Partei entsprechen.Wenn nun aber dieser parteiinterne Median nicht mit dem Median aller Wähler innerhalb des Staates identisch ist, bedeutet dieser Programmentscheid der linken Partei, dass sie den Median der Wählerverteilung im Staat nicht erreicht. Weil, wenn und in dem Maße wie sich die zentripetalen Kräfte innerhalb der Partei auswirken, wirken sie sich im zwischenparteilichen Wettbewerb als bremsend, gar als zentrifugal aus. Damit Letzteres nicht zutreffe, müssten nicht nur die zentripetalen Kräfte innerhalb der Partei ganz oder teilweise außer Kraft gesetzt sein. Es müsste sich darüber hinaus der Entwurf des rechten Flügels der linken Partei durchsetzen. Dies ist aber eine Voraussetzung, für deren allgemeine Gültigkeit es keinerlei Berechtigung gibt. Es ist demnach vorerst festzuhalten: Die zentripetalen Kräfte im innerparteilichen Wettbewerb wirken sich als Schwächung der zentripetalen Kräfte im zwischenparteilichen Wettbewerb aus. Sie verhindern, erschweren jedenfalls, dass in einer Partei jener Programmentscheid zustande kommt, der aus interparteilichen Konkurrenzgründen zweckmäßig, ja notwendig wäre. Umgekehrt gilt dann auch: Im politischen Wettbewerb sind jene Parteien im Vorteil, deren interne Willensbildung nicht oder im Vergleich zu anderen Parteien wenig durch die Dynamik der zentripetalen Kräfte geprägt 268 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="286"?> ist. Sie werden - falls es sich um linke Parteien handelt - es dann leichter als andere haben, auf den Median der gesamten Wählerverteilung zuzugehen, wenn sie das vom rechten Parteiflügel vorgeschlagene Programm zum gültigen Parteiprogramm machen können. Ein Beispiel soll das Gesagte illustrieren: Noch vor nicht allzu langer Zeit ging in der Partei der Grünen in der Bundesrepublik - mit einigen Unterbrechungen - der Streit zwischen den „Realos“ und den „Fundis“ hin und her. Die „Realos“ forderten mit Blick auf die mit der Übernahme von Ämtern verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten in der Politik ein Parteiprogramm, das für möglichst viele Wählerschichten akzeptabel, also nicht zu weit vom Wählermedian entfernt sein sollte. Die „Fundis“ ihrerseits forderten ein Programm, das mindestens beim Parteimedian liegen sollte. Solange die Grünen als Partei sehr weit links vom Wählermedian lagen und/ oder solange sich die zentripetalen Kräfte in der Partei auswirkten, hatten die „Realos“ keine Chance. Damit aber waren auch die „Grünen“ im Nachteil gegenüber konkurrierenden Parteien, etwa der SPD, die einerseits dem Wählermedian schon näher standen und in denen andererseits die zentripetalen Kräfte weniger mächtig waren, die also auch eher ihr Programm entsprechend der Verteilung der gesamten Wählerschaft ausrichten konnten. Für die These, dass sich die zentripetalen Kräfte in den altetablierten Parteien weniger stark auswirken, als dies bei den Grünen der Fall war, spricht Folgendes: Eine der Voraussetzungen für die Existenz und Stärke dieser Kräfte ist, dass die innerparteiliche Demokratie unter Mitwirkung einer aktiven Parteibasis funktioniert. Es darf also nicht so sein, dass eine dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“ (Robert Michels) entsprungene Parteihierarchie über eine ausgeklügelte Parteitagsregie die Mitglieder zur Akklamationsmaschine für schon vorher und anderweitig gefasste Programmentscheide macht. Es wäre nun gewiss überzogen, wenn man allgemein in Abrede stellen wollte, dass die großen Volksparteien demokratisch verfasst sind. Es wäre aber auch unrealistisch zu verkennen, dass die Parteihierarchie bei der parteiinternen Willensbildung ein entscheidendes Gewicht und demnach auch die mehr oder weniger große Möglichkeit hat, ein vom Parteimedian entferntes Programm durchzusetzen. Wenn nun die oberen Ränge der Parteihierarchie - wie man annehmen muss und feststellen kann - aus der Teilhabe an der politischen Macht größere selektive Vorteile haben als die Mitglieder der Basis, dann dürfte für sie die Durchsetzung sachlich-inhaltlicher bzw. ideologischer Optionen auch eine geringere Rolle spielen als bei den Mitgliedern der Parteibasis. Einfacher formuliert: Die Parteihierarchien sind eher machtorientiert; die Parteibasis ist eher sach- und ideologieorientiert. Parteihierarchien haben Ideologien und Sachprogramme im Dienste von Machtinteressen; Parteimitglieder haben eher Machtinteressen im Dienste von Ideologien und Sachprogrammen. Wenn dem aber so ist und wenn die Parteihierarchen über ihr vergleichsweise großes Gewicht ihre Machtorientierung zum programmprägenden Element machen können, dann ist zu erwarten, dass sie nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten die Partei auf den Wähler-Median hinführen werden. Es entspricht dieser Darstellung, dass bei den Grünen der Streit zwischen „Realos“ und „Fundis“ über das Parteiprogramm auf das Engste mit der Frage verknüpft war, wie verhindert werden kann, dass eine Parteihierarchie Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 269 <?page no="287"?> mit eigenen selektiven Interessen entsteht: So sollen gewählte Kandidaten nach einer bestimmten Zeit den Platz für andere frei machen; außerdem sollen Amt und Mandat getrennt sein usw. Im Kern laufen alle diese Vorkehrungen darauf hinaus, die Machtorientierung zu begrenzen. Mit der Folge allerdings, dass parteiintern die zentripetalen Kräfte gestärkt und so die Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Parteien geschwächt wird. Diese Ausführungen sollen nicht den Eindruck erwecken, es sei die Regel oder gar häufig, dass es Großparteien vollständig gelingt, parteiintern genau jene Programme zu beschließen, die unter dem Aspekt der zwischenparteilichen Konkurrenz zweckmäßig wären. Entsprechend versuchen die Parteien, dieses Defizit in seinen Folgen wenigstens zu mildern. Sie tun dies etwa, indem sie einen Parteivorsitzenden wählen, der am parteiinternen Median angesiedelt ist und so über ein großes Maß an Autorität verfügt. Gleichzeitig stellen sie einen Spitzenkandidaten auf, der - falls es sich um eine linke Partei handelt - eher am rechten Rand dieser Partei, also näher am Median der gesamten Wählerschaft steht. Seine Aufgabe ist es, dem Programm seiner Partei einen „touch“ zu verleihen, der dessen sachliche Distanz zum Median der gesamten Wählerschaft etwas in den Hintergrund treten lässt. So wählte die SPD Willy Brandt zum Parteivorsitzenden und den „Rechten“ Helmut Schmidt zum Kanzlerkandidaten. Mit Schmidt blieb die Partei wählbar und wurde gewählt. Allerdings konnte sich Schmidt nur solange als Kanzler halten, wie Brandt in der Lage und auch willens war, seine Autorität als Parteivorsitzender dafür einzusetzen, dass die Partei einen Kanzler stützte, dessen Optionen rechts vom parteiinternen Median lagen. (Während ich dies redigiere, überrascht Bundeskanzler Schröder die Öffentlichkeit mit der Nachricht, dass er auf den Parteivorsitz der SPD verzichtet, und stellt den in der Partei populären Müntefering als Parteivorsitzenden vor, der seinerseits flugs einen Generalsekretär präsentiert, der den Flair des Linken noch nicht ganz verloren hat. Schröder soll für den Medianwähler attraktiv sein; die neuen Führungsfiguren der Partei sollen den Mediangenossen ansprechen.) Es ist allerdings zu ergänzen: Mit den Bemerkungen zu diesem letzten Punkt haben wir ein neues Element in die Analyse eingeführt, das uns später noch eingehender beschäftigen wird. Wir haben nämlich unterstellt, dass die Wahlhandlungen der Bürger - sei es als Wähler bei allgemeinen oder bei parteiinternen Wahlen - nicht nur vom sachlichen Inhalt der Optionen und Programme, sondern auch von jenen Personen abhängen, die diese Optionen und Programme vertreten und verkörpern. Dies mag realistisch sein, muss aber als Veränderung des Prämissenrahmens eigens hervorgehoben werden. Entfremdung von der Partei Eine weitere der oben genannten Prämissen hielt fest, dass der einzelne Wähler sich für jene Partei bzw. für jenen Politiker entscheidet, dessen (deren) Programm seinen Vorstellungen und Präferenzen am meisten entspricht, und zwar unabhängig von der Distanz, die zwischen diesem Programm und seinen Präferenzen besteht. Diese Prämisse kann, muss aber nicht der Wirklichkeit entsprechen. Es ist durchaus möglich, dass der einzelne Wähler sich ab einer bestimmten Distanz derart wenig in dem jeweiligen Programm erkennen kann, dass er jenen nicht mehr wählen mag, der 270 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="288"?> es vertritt. Ist dieser Fall eingetreten, so stehen dem einzelnen Bürger verschiedene Möglichkeiten offen. Stichwortartig sind sie zu nennen: - Der Einzelne verzichtet überhaupt darauf, an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Verbittert und enttäuscht wendet er sich von der Politik ab. Hinfort ist er nur noch Privatmann; er geht seinen privaten Geschäften nach. Da selbst im günstigsten Fall aus seiner Sicht bei Wahlen nichts Gutes herauskommen kann, zieht er sein Engagement aus diesem Lebens- und Gesellschaftsbereich ab. Einerseits versucht er erst gar nicht mehr, über die Politik seine individuelle Wohlfahrt zu fördern.Andererseits ist er vermutlich bestrebt, sich dem Zugriff der Politik zu entziehen. Mit anderen Worten: Der Einzelne versucht nicht mehr, über die Mitgestaltung des Kollektivgüterangebots seine Wohlfahrt zu steigern. Dafür versucht er im Zweifel, sich der Mitfinanzierung der Kollektivgüter zu entziehen. Der Politikverdrossenheit entsprechen Schattenwirtschaft, Steuerflucht, Steuerhinterziehung, kurz: Trittbrettfahrerverhalten. - Der Einzelne wählt zwar nicht für eine der bestehenden, d. h. für die ihm am nächsten stehende Partei, doch er nimmt nach wie vor an der politischen Willensbildung teil. Dies kann er tun • innerhalb des Regelrahmens der parlamentarischen Willensbildung; • außerhalb des Regelrahmens der parlamentarischen Willensbildung. Nimmt er an der politischen Entscheidungsfindung innerhalb des Rahmens der indirekten Demokratie teil, so kann er dies erreichen, indem er auf die Gründung einer neuen, ihm näherstehenden Partei hinarbeitet. Dies wiederum kann dadurch geschehen, dass • sich die alte, ihm relativ am nächsten, aber seiner Ansicht nach absolut zu weit entfernte Partei spaltet; • eine völlig neue Partei gegründet wird. Versucht er, außerhalb des Regelrahmens an der politischen Willensbildung teilzunehmen, so bieten sich verschiedene Möglichkeiten an: • Publizistische Tätigkeit: Leserbriefe,Artikel usw.; • Briefe an Politiker; • Demonstrationen, „sit-ins“, „walk-ins“, Hungerstreik, Mahnwachen usw.; • Mitwirkung in „pressure groups“, in Verbänden, Gewerkschaften usw. Die Liste lässt sich verlängern. Die Mitwirkung an der politischen Willensbildung außerhalb der Regeln der parlamentarischen Willensbildung kann sich • im Rahmen der Legalität halten; • außerhalb der Legalität erfolgen durch • Bestechung; • Erpressung; • Terrorismus. Ob der Einzelne eine der hier aufgelisteten Möglichkeiten - und wenn ja, welche - nutzt, hängt u. a. ab Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 271 <?page no="289"?> • von der Kenntnis, die der Einzelne von diesen Möglichkeiten hat; • von den Kosten, die mit der Teilnahme an einzelnen dieser politischen Mitwirkungsmöglichkeiten verbunden sind; • von den Erfolgsaussichten der einzelnen Mitwirkungsmöglichkeiten; • von der Fühlbarkeits- und Reaktionsschwelle des Einzelnen, d.h. davon, wie sensibel der Einzelne Differenzen zwischen seinen Präferenzen und den politischen Programmen registriert und wie schnell er willens und fähig ist, auf diese Differenzen mit Verhaltensänderungen zu reagieren. Es ist nötig, eigens die besondere Wichtigkeit der Fühlbarkeits- und Reaktionsschwelle herauszustellen. Dies deshalb, weil ideologische Festlegungen und/ oder die Loyalität zu einer bestimmten Partei dem Einzelnen den Blick für das Kosten-Nutzen-Verhältnis alternativer Mitwirkungsmöglichkeiten trüben mögen und/ oder den Einzelnen abhalten mögen, dort den „Exit“ zu suchen, wo ihm die „Voice“ ohne Zweck erscheint. Nicht ausgeschlossen ist auch, dass der Einzelne - in der Hoffnung, dass die Differenz zwischen seinen Präferenzen und „seiner“ alten Partei demnächst wieder kleiner wird - es wenigstens vorerst unterlässt abzuwandern. Mit dieser letzten Bemerkung ist der Zeitfaktor angesprochen, der in dem oben geschilderten Modell der indirekten Demokratie ausgeblendet ist. Wir können an dieser Stelle darauf verzichten, die einzelnen Möglichkeiten der politischen Mitwirkung weiter zu erörtern. Einerseits kann auf die obigen Darlegungen zu der Partizipationsbereitschaft verwiesen werden. Andererseits werden im Zusammenhang mit der Verbandstätigkeit noch einige der hier angesprochenen Themen zu behandeln sein. Eigens soll hier nur auf die Möglichkeit der Gründung neuer Parteien hingewiesen werden. Dabei ist von der Tatsache auszugehen, dass die Gründung einer neuen Partei für den, der sie betreibt, mit mehr oder weniger hohen Kosten verbunden ist. Dieser Aufwand lohnt sich nur, wenn ihm eine entsprechend hohe Erfolgsaussicht, also ein gestiegener Einfluss auf die Politik gegenübersteht. Dieser aber hängt wesentlich von dem jeweils geltenden Wahlsystem ab. Dabei lassen sich mit einiger Vereinfachung zwei Wahlsysteme unterscheiden: - Das System der relativen Mehrheitswahl: Die Kandidaten einer bestimmten Partei ziehen nur dann in die staatlichen Entscheidungsorgane - in das Parlament - ein, wenn ihre Listen in den jeweiligen Wahlkreisen die relative Mehrheit der Stimmen auf sich vereint haben. - Das Verhältniswahlrecht: Jede Partei beschickt das Parlament nach Maßgabe der für sie abgegebenen Stimmen. Da das Verhältniswahlrecht eine weit geringere Wählerunterstützung zur Regierungsfähigkeit erfordert, besteht für die einzelnen kleinen Parteien auch ein geringerer Anreiz, sich zu wenigen großen zusammenzuschließen. Wenn sich hingegen im System der relativen Mehrheitswahl mehrere Parteien keine Chance ausrechnen, jemals die relativ meisten Stimmen zu erringen, so besteht die Tendenz, sich zusammenzuschließen und so gleichsam unter einer Flagge in die Regierung vorzustoßen. Das Ergebnis ist eine Reduzierung der Zahl der Parteien bis hin zum Zweiparteiensystem. 272 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="290"?> Für die Frage nach der Gründung neuer Parteien bedeutet dies, dass es eher im System der Verhältniswahl als in jenem der relativen Mehrheitswahl zweckmäßig ist, neue Parteien zu gründen, wenn man sich in einer der bestehenden nicht mehr heimisch fühlt. Die Situation lässt sich auf folgende Formel bringen: Im System der relativen Mehrheitswahl liegt es im Interesse jener Parteien, die nicht damit rechnen können, aus einem Wahlgang mit den relativ meisten Stimmen als Sieger hervorzugehen, sich vor der Wahl nach Möglichkeit zusammenzuschließen und als eine Partei ihre Erfolgschancen zu erhöhen. Sie müssen dies vor der Wahl tun, da bei der relativen Mehrheitswahl nach der Wahl hierzu nicht mehr die Möglichkeit besteht. A fortiori besteht für sie kein Anreiz, vor der Wahl auseinanderzulaufen und mehr oder weniger kleine Parteien zu gründen. Ganz im Gegensatz zum Verhältniswahlrecht: Hier sind auch nach der Wahl Koalitionsverhandlungen noch möglich, also vor der Wahl nicht unbedingt nötig. Entsprechend bleibt nach der Wahl auch für kleine Parteien wenigstens im Prinzip die Möglichkeit, über erfolgreiche Koalitionsabsprachen in die Regierungsverantwortung vorzustoßen. Damit erscheint auch die oft diskutierte Frage, ob das Mehrheits- oder das Verhältniswahlrecht, ob ein zwei- oder Mehrparteiensystem eine adäquatere Repräsentation des Wählerwillens, insbesondere eine bessere Vertretung der Minoritäten erlaubt, in einem weniger dramatischen Licht. In einem durch das Mehrheitswahlrecht geförderten Zweiparteiensystem werden sich die Minoritäten parteiintern Gehör verschaffen müssen. In einem durch das Verhältniswahlrecht begünstigten Mehrparteiensystem müssen sich Minoritäten auf dem Felde der zwischenparteilichen Koalitionsverhandlungen durchsetzen. Es ist nicht a priori ausgemacht, welches Wahlsystem für sie das kostengünstigere und erfolgversprechendere ist. Für die Frage nach der Gründung neuer Parteien ist - neben dem Wahlrecht - die Wählerverteilung von Bedeutung. So kann man sich - in didaktisch begründeter Vereinfachung - zwei Verteilungen vorstellen: - Die Wähler streuen der Gaußschen Normalverteilung entsprechend über das politische Spektrum. Die Positionen an der extremen Linken und an der extremen Rechten sind schwach, die gemäßigte Mitte aber stark besetzt. - Die Verteilung der Wähler ist zweigipflig, d. h. die beiden Extreme sind stark, die Mitte schwach besetzt. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass dann, wenn die Wählerschaft in zwei extremen Lagern polarisiert ist, die Gründung von neuen Parteien bzw. die Abspaltung von Splitterparteien am rechten bzw. am linken Ende des Spektrums erfolgversprechender ist als dann, wenn an den Extremen wenige Stimmen zu gewinnen sind. Entsprechend wirkt sich auch eine zweigipflige Wählerverteilung günstig auf die zentrifugalen Kräfte aus. Loyalität der Wähler und Glaubwürdigkeit der Parteien Weiter oben stießen wir in anderem Zusammenhang auf das Problem der Glaubwürdigkeit von Politikern. Dabei hatten wir als Hypothese festgehalten, dass zu rasche, zu häufige und zu weite Positionswechsel und Programmänderungen die Glaubwürdig- Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Programme · 273 <?page no="291"?> keit von Politikern und Parteien bei den Wählern gefährden können. Nicht nur fühlen sich im Zweifel jene Wähler verraten, die bis dahin bestimmten Politikern und Parteien deshalb ihre Stimme gegeben haben, weil sie ihnen relativ nahe standen. Im Zweifel werden auch jene Wähler, die bestimmten Politikern und Parteien nach dem Positionswechsel nahestehen, diesen ihre Stimme nicht geben, weil sie ihnen nicht trauen. Die Politiker und Parteien haben dann das Vertrauen ihrer alten Wähler verspielt und das Vertrauen neuer Wähler nicht gewonnen. Diese Hypothese ist zumindest plausibel, weil die Wähler nicht nur deshalb jenen Politikern ihre Stimme geben, weil ihnen deren Programme nahestehen, sondern auch, weil man von diesen Politikern annimmt, dass sie diese Programme tatsächlich vertreten, es sich also glaubwürdigerweise um ihre Programme handelt. Als solche erkannte und durchschaute Opportunisten können im Zweifel nicht auf eine starke Loyalität jener setzen, die sie ansprechen und denen sie etwas versprechen. Nach Maßgabe der Richtigkeit dieser Hypothese bedeutet dies, dass aus Gründen der Glaubwürdigkeit politische Programme nicht so schnell, so tiefgreifend und so häufig geändert, insbesondere nicht so schnell zum Median hin verschoben werden können, wie dies der zwischenparteiliche Wettbewerb erfordern mag. Die Gefahr des Verlustes an Glaubwürdigkeit wirkt sich als zentrifugale Kraft, jedenfalls als ein die zentripetalen Kräfte bremsendes Element aus. 2.5 Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Dimensionen Eine letzte Prämisse des Downsschen Demokratiemodells, wie es oben skizziert wurde, ist hier anzusprechen. Es hieß, die politischen Optionen lägen allesamt auf einer Dimension, d. h. der politische Wettbewerb würde in einer eindimensionalen Welt ausgetragen, die politische Auseinandersetzung werde unter nur einem Aspekt geführt. Dies ist nun eine enge und wohl auch nicht immer realistische Prämisse. Gewiss ist richtig, dass jede Auseinandersetzung, so auch der politische Wettbewerb, nur eine mehr oder weniger begrenzte Anzahl von Aspekten berücksichtigen kann. Sowohl die Informationskapazitäten der Teilnehmer als auch die Kapazität der Kommunikationskanäle zwischen den Teilnehmern lassen in ihrer Begrenztheit nicht zu, dass politische Programme unter mehr als einer begrenzten Zahl von Dimensionen erörtert und untereinander verglichen werden. Dennoch ist in der Vergangenheit versucht worden, mehrdimensionale Modelle des politischen Wettbewerbs aufzustellen; aus Platzgründen werden diese Modelle hier nicht behandelt und auf die Literatur verwiesen. Was an dieser Stelle aber geleistet werden kann, das ist, die eher grundsätzlichen Probleme zu diskutieren, die mit der Einführung und dem Bestand einer Vielzahl von politischen Dimensionen in einem politischen Raum zusammenhängen. 2.5.1 Das Interesse an einer Neudimensionierung Nehmen wir in einem ersten Schritt an, dass - den oben aufgeführten Modellprämissen entsprechend - der politische Wettbewerb zwischen den Politikern in einem eindimensionalen „Raum“ ausgetragen wird. Nehmen wir weiter an, dass die Wähler ihre individuellen Wohlfahrtskalküle in eben dieser einen Dimension anstellen. Dies bedeutet dann, dass sich alle Wähler und alle politischen Wettbewerber in einer Welt 274 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="292"?> bewegen, welche die gleiche Dimension aufweist. In diesem Fall folgt der politische Wettbewerb der Dynamik der zentripetalen und der zentrifugalen Kräfte, wie wir sie eben geschildert haben. Unterstellen wir nun in einem nächsten Schritt, dass die politischen Wettbewerber nach wie vor davon ausgehen, dass die Auseinandersetzung entlang der bisherigen einen Dimension stattfindet. Unterstellen wir aber darüber hinaus, dass die Wähler ihrerseits mittlerweile überzeugt sind, dass - mit Blick auf ihre Wohlfahrt und unter Berücksichtigung der Umstände - die einzelnen Projekte und Programme unter einer anderen bzw. zusätzlich unter einer anderen Dimension geprüft, erörtert und verglichen werden müssen. So mögen die Politiker nach wie vor in den Kategorien von „links“ und „rechts“ gegeneinander antreten und um die Voten der Wähler werben, während diese inzwischen der Ansicht sind, dass politische Programme nur oder jedenfalls auch unter dem Aspekt diskutiert und gewählt werden müssen, ob sie umweltfreundlich oder -feindlich sind. Ist dies der Fall, so leben die Bürger und die Politiker gleichsam in (teilweise) verschiedenen Welten. Denn der Diskurs der Politiker erreicht die Bürger nicht oder doch nur begrenzt. Allenfalls können die Bürger noch verstehen, von was die Politiker reden. Doch müssen sie feststellen, dass die Politiker in einer Art und Weise über Programme und Projekte reden, die den Wohlfahrtsbelangen der Bürger nicht mehr angemessen sind. Die Politiker ihrerseits können nicht oder nur begrenzt in Erfahrung bringen, was die Bürger tatsächlich umtreibt.Weil aus der Sicht der Politiker die politische Auseinandersetzung nur in der ihnen altvertrauten Dimension stattfindet, sind sie nicht offen für das, was ihnen nur in einer anderen Dimension mitgeteilt werden könnte. Wenn man so will: Mangels einer gemeinsamen Sprache können die Politiker nicht hören, was die Bürger mitteilen wollen; auch können die Bürger nicht so reden, dass die Politiker ihre Botschaft verstehen. Wenn die Distanz zwischen der Welt der Politiker und der Welt der Wähler hinreichend groß (geworden) ist, sind auf beiden Seiten Gefühle der Entfremdung, Frustration und Enttäuschung zu erwarten. Denn in einer solchen Situation wird der einzelne Bürger irgendwann feststellen, dass die politischen Programme inhaltlich nicht nur sehr weit von seinen Vorstellungen entfernt sind, sondern dass sie mit seinen Vorstellungen im Extrem nichts oder nur wenig zu tun haben. Einzelne Programme laufen seinen Interessen im Zweifel nicht einmal zuwider.Vielmehr stehen alle konkurrierenden Programme mit seinen Interessen in keinem oder nur in einem schwachen Zusammenhang. Damit aber verlieren für ihn der politische Wettbewerb im Allgemeinen und sein Engagement für diese oder jene Partei im Besonderen an Attraktivität. Es lohnt sich für den Einzelnen nicht, in einen Wettkampf einzugreifen und für den einen oder den anderen Wettbewerber Partei zu ergreifen, wenn das, worum es in diesem Konflikt geht, mit ihm und seiner Wohlfahrt aus seiner Sicht nichts zu tun hat. Er wird demnach vorerst überlegen, ob und in welchem Maße er auf welchen anderen Wegen Einfluss auf die Kollektiventscheidungen nehmen soll. Jedenfalls wird die einzelne Partei feststellen müssen, dass die Zahl jener, die für sie und ihr Programm stimmen, abnimmt.Während demnach die einzelnen Wähler konstatieren, dass die indirekte Demokratie als Mittel der politischen Einflussnahme und Mitwirkung ganz oder teilweise unbrauchbar geworden ist, stellen die konkurrierenden Parteien fest, dass ihnen die Wähler „abhanden kommen“. Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Dimensionen · 275 <?page no="293"?> Wenn dies auch für alle Parteien in gleichem Maße gelten mag, so kann doch eine Partei davon ausgehen, dass sie gegenüber ihren Wettbewerbern im Vorteil wäre, wenn es ihr (besser als allen anderen) gelänge, wieder auf die gleiche Wellenlänge mit den Bürgern zu kommen. Eine einzelne Partei kann also darauf setzen, dass es in ihrem Interesse liegt, wieder einen „Draht“ zu den Wählern zu bekommen, sie also wieder von den Dingen unter dem bzw. den Aspekt(en) redet, unter denen die Dinge für die Bürger wichtig sind. Die Bürger ihrerseits haben ein Interesse daran, dass in der parlamentarischen Demokratie über die Dinge unter den für sie wohlfahrtsrelevanten Aspekten geredet wird. Dies besonders dann, wenn die Kosten der politischen Mitwirkung über nichtparlamentarische Wege und die Kosten des Rückzugs in die Privatsphäre im Vergleich zu den entsprechenden Erfolgsaussichten und Wohlfahrtsgewinnen hoch sind. Man kann demnach vorerst festhalten, dass, sowohl auf seiten der Bürger als auch auf seiten der politischen Wettbewerber, ein Interesse daran bestehen mag, dass „neue“ Dimensionen neben oder an die Stelle der althergebrachten in der Politik Geltung bekommen. Nun ist damit noch nicht gesagt, dass die Bürger und/ oder die Politiker als Anbieter und/ oder als Nachfrager solch neuer Dimensionen tatsächlich auftreten werden. Der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass die Einführung und Beherrschung einer neuen Dimension des politischen Diskurses mit Kosten verbunden sind. Der Einzelne wird diese Kosten nur aufbringen wollen, wenn es sich mit Blick auf die so zu erwartenden individuellen Wohlfahrtsgewinne lohnt. So kann man die Ersetzung bzw. die Ergänzung einer hergebracht-üblichen durch eine neue Dimension der politischen Auseinandersetzung mit dem Erlernen einer neuen Sprache vergleichen. Dieser Vergleich ist deshalb mehr als eine oberflächliche Analogie, weil sich die in den Dimensionen konkretisierten Denkmuster und Sprachregelungen entsprechen. Wie man aber eine neue Sprache nur erlernen kann, wenn man die alte zwar nicht vergisst, so doch wenigstens zeit- und teilweise „immobilisiert“ und sich in der Beherrschung der neuen übt, so müssen die hergebrachten Dimensionen in den Hintergrund gedrängt und der Umgang mit den neuen erlernt werden. Beides aber ist mit Kosten verbunden: Jener, der bislang alle politischen Angelegenheiten ausschließlich in den Kategorien „rechts-links“ analysiert, bewertet, erörtert und entschieden hat, wird mehr oder weniger große Mühe haben, diese Angelegenheiten nunmehr nur oder in der Hauptsache unter dem Aspekt „umweltfreundlich-umweltfeindlich“ zu sehen, zu diskutieren und zu regeln. 2.5.2 Die Neudimensionierung - ein Kollektivgut Doch ist es in diesem Zusammenhang nicht nur wichtig, dass die Einführung einer oder mehrerer Dimensionen in den politischen Diskurs für den Einzelnen mit Kosten verbunden ist und dass diese Kosten seine individuellen Wohlfahrtsgewinne übersteigen können.Wichtig ist auch, dass die Einführung neuer Dimensionen, also neuer Paradigmen der politischen Willensbildung, zur Debatte steht. Denn ginge es nur darum, dass der Einzelne für private Entscheidungen einen neuen Kategorienrahmen schaffen, neue Dimensionen einführen sollte und wollte, so könnte er die Tatsache vernachlässigen, dass der daraus für ihn resultierende Wohlfahrtsgewinn auch vom Verhalten der anderen abhängt. So mag etwa ein Einzelner, der bislang alle seine Einzelentschei- 276 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="294"?> dungen unter dem Aspekt des Geldgewinnes vorbereitet und getroffen hat, im Laufe seines Lebens zu der Einsicht gelangen, dass „es noch Anderes gibt“, dass (noch) andere Dimensionen zu berücksichtigen sind. Ab jetzt will er etwa seine Entscheidungen (auch) unter dem Aspekt treffen, ob sie seinem Seelenheil förderlich sind oder nicht. Dies kann er nun, ohne dass dies jene, mit denen er umgeht, auch tun. Und: Wenn er unter Kosten das Streben nach Heiligkeit eingeübt hat, so wird er, nicht aber werden die anderen, die sich dieser Mühe nicht unterzogen haben, einen Nutzen daraus ziehen. Es gilt also das Ausschlussprinzip. Wenn es aber - wie in dem hier zur Diskussion stehenden Problemzusammenhang - darum geht, dass die Dimensionen der kollektiven Willensbildung durch neue ergänzt bzw. ersetzt werden sollen, so stellt sich die Situation für den Einzelnen völlig anders dar. Zum einen reicht es jetzt nicht mehr, dass er sich die neuen Dimensionen aneignet. Jetzt ist es auch nötig, dass die übrigen Kollektivmitglieder dies tun. Wenn dies nicht geschieht, so wird es - mangels Teilnehmern - nicht dazu kommen können, dass hinfort die politische Auseinandersetzung (auch) unter Berücksichtigung der neuen Dimensionen geführt wird. Der Einzelne muss dann feststellen, dass der politische Diskurs weiterhin in Bahnen verläuft, die - aus seiner Sicht - unangemessen sind. Er wird zum Beispiel feststellen, dass der politische Wettbewerb noch immer in den Kategorien von „links-rechts“ ausgetragen wird, während er seiner Ansicht nach schon längst in den Kategorien „umweltfreundlich-umweltfeindlich“ ablaufen müsste. An dieser Stelle mag folgender Einwand naheliegen: Wenn nur dieses eine Kollektivmitglied an der Einführung neuer Dimensionen interessiert ist, die anderen aber nicht, so ist es verständlich und rechtens, dass es unterbleibt. Wenn aber nicht nur ein, sondern viele, im Extrem alle Kollektivmitglieder daran interessiert sind, so könnte man erwarten, dass viele (alle) Mitglieder auch das Ihrige tun, damit es zur Einführung der neuen Dimensionen in den politischen Diskurs kommt. Dieser Einwand ist nun aber aus folgendem Grund nicht berechtigt: Aus der Sicht jedes einzelnen Kollektivmitgliedes mag die Einführung neuer Dimensionen sinnvoll sein, doch wird es - wenn die Erneuerung des Kategorienrahmens in seinem Sinne erst einmal bewerkstelligt ist - davon auch dann profitieren, wenn es sich nicht dafür eingesetzt hat. Es kann von der so neu ausgerichteten Politikdimension gratis, d. h. als Trittbrettfahrer profitieren. Es wird sich demnach rationalerweise nicht unter Kosten für diese Neuausrichtung des politischen Raumes starkmachen.Allenfalls wird es sich darum bemühen, sich selbst in diesen Dimensionen einzuüben, damit es - falls es ohne sein Zutun zu deren Einführung gekommen ist - an der öffentlichen Auseinandersetzung teilnehmen kann. Es wird dieses, nicht aber jenes tun, weil für dieses das Ausschlussprinzip gilt, für jenes aber nicht. In dem Maße aber wie dies für alle Kollektivmitglieder gilt, unterbleibt, was im Zweifel alle wollen, nämlich die Erneuerung der Dimensionen der politischen Auseinandersetzung. In dem vorhergehenden Satz ist die Einschränkung „in dem Maße wie“ von Bedeutung. Es ist nämlich eine plausible Hypothese, dass in einem Kollektiv einzelne Mitglieder ihre Rechnung mit einem anderen Ergebnis anstellen. Für sie lohnt es sich, die mit der Einführung eines neuen kollektiv-gültigen Dimensionsrahmens verbundenen Kosten auf sich zu nehmen. Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Dimensionen · 277 <?page no="295"?> Der Leser mag sich an dieser Stelle die obigen Ausführungen zur Olsonschen Logik des kollektiven Handelns ins Gedächtnis zurückrufen.Was er nämlich dort kennengelernt hat, ist hier von Nutzen. Wohl dürften in diesem Zusammenhang die unter den Stichworten der „mittleren“ und der „kleineren“ Gruppe angesprochenen Bedingungen wenn überhaupt, dann von nur sehr geringer Bedeutung sein. Hingegen spielen die Unterschiede in den Bedürfnisintensitäten und die selektiven Anreize eine große Rolle. Man kann nämlich mit einiger Plausibilität davon ausgehen, dass nicht alle Kollektivmitglieder gleich stark an der Einführung neuer Dimensionen in den politischen Diskurs interessiert sind. Im Kalkül jener, deren Interesse besonders ausgeprägt ist, mögen dann die aus einer Neudimensionierung des politischen Diskurses resultierenden individuellen Wohlfahrtsgewinne höher sein als die Kosten, die dem Einzelnen aus dem Engagement für dieses Ziel erwachsen. Darüber hinaus werden die besonders stark interessierten Kollektivmitglieder nicht darauf setzen können, dass Andere - eben die weniger intensiv Interessierten - den ersten Schritt tun. Sie werden - falls sie überhaupt wollen, dass etwas geschieht - den ersten Schritt tun müssen. Für sie besteht die Möglichkeit des Trittbrettfahrens nicht. Auch kann mit einiger Plausibilität davon ausgegangen werden, dass der Einsatz für die Einführung neuer Dimensionen in die Politik Einzelnen Vorteile bringen kann, die nur ihnen zukommen, für die also das Ausschlussprinzip gilt: positive selektive Anreize. So mag dieser oder jener - getrieben von seinem überdurchschnittlich entwickelten ökologischen Gewissen - sich an das Schreiben von Büchern und Artikeln machen und sich in eine rege Vortragstätigkeit stürzen, um so darauf hinzuarbeiten, dass die Einstellung zur Umwelt als Dimension in den Raum der politischen Optionen Eingang findet. Er wird die damit verbundenen Kosten vielleicht auf sich nehmen, wenn und weil sie wenigstens aufgewogen werden durch den Wohlfahrtsgewinn, den er als Folge seines guten Gewissens erwarten kann. Er wird aber auch und besonders berücksichtigen, dass mit dem Schreiben von Büchern zum Schutze der Umwelt Wohlfahrtssteigerungen verbunden sein können, die mit der Umwelt nichts zu tun haben. Ein Autor, der erfolgreich, d. h. hier: auflagenstark für die Umwelt schreibt, kassiert Honorare. Und das Prestige des ökologischen Gurus, der Ruhm des Umweltpropheten, die Aura des Wendezeit-Predigers kommen vielleicht der Umwelt, sicher aber dem Ego des so Ausgezeichneten zugute. Mit der Folge, dass Einzelne um des Privatgutes „Pflege der individuellen Eitelkeit“ willen tun werden, was sie - trotz der Sorge um das Kollektivgut „Umweltschutz“ - ansonsten unterlassen würden: Sie setzen sich für die Einführungen neuer Dimensionen in die öffentliche Auseinandersetzung und in den politischen Wettbewerb ein. Es gibt - neben den eben angesprochenen intellektuellen Meinungsmachern - eine andere Gruppe, in deren Individualinteresse es liegen kann, sich für die Einführung einer neuen Dimension einzusetzen: eine bestimmte Art von Politikern. Weiter oben wurde geschildert, dass und wie in einem eindimensionalen Optionenspektrum einige Parteien der Dynamik des politischen Wettbewerbs, insbesondere den zentripetalen Kräften zum Opfer fallen. Auch wurde dargestellt, dass die Gründung neuer Parteien an den Extremen des Spektrums kostspielig und - wegen des im Zweifel dort geringen Wählerpotenzials - wenig erfolgversprechend ist. Einzelne Politiker bzw. politi- 278 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="296"?> sche Gruppierungen, die Gefahr laufen, am Median erdrückt zu werden bzw. die an den Extremen keine Chance erblicken, haben damit vorerst nur die Möglichkeit - aus dem politischen Wettbewerb auszuscheiden oder - eine politische Karriere innerhalb der erfolgreicheren, d. h. der den Wettbewerb bislang überlebenden Parteien zu versuchen. Es ist aber auch zu fragen: Kann ein Politiker, der das Opfer der zentripetalen Kräfte im eindimensionalen Parteienwettbewerb geworden ist und/ oder in (noch) existierenden Parteien keine Chance sieht, nicht dadurch sein Verbleiben bzw. seinen Eintritt in die politische Konkurrenz mit einiger Aussicht auf Erfolg anstreben, dass er sich - zusammen mit anderen - um die Einführung einer neuen Dimension bemüht? Ist diese Frage zu bejahen, dann haben wir in diesem Politiker jemanden identifiziert, der - um des eigenen selektiven Vorteils willen - darauf hinarbeitet, dass eine oder mehrere neue Dimensionen neben oder an die Stelle der bisherigen treten. Der selektive Anreiz besteht in diesem Falle darin, dass er im Falle eines Erfolges am politischen Wettbewerb teilnehmen kann, weil er die mit diesem Tun verbundenen Kosten getragen hat. So wie - oben - der Prophet und der Guru um des eigenen selektiven, sprich: privaten Anreizes willen sich für die Einführung etwa der ökologischen Dimensionen in die Politik eingesetzt haben, so wird der Politiker dies tun, weil sich ihm so die Möglichkeit einer erfolgversprechenden Partizipation am politischen Wettbewerb bietet, die ihm ohne sie verschlossen geblieben wäre. Er wird demnach ein Interesse daran haben, den bislang auf dem Optionenspektrum „rechts-links“ ausgetragenen Wettbewerb um die ökologische Dimension zu bereichern. Er wird also - da er dort ohnehin keine Chancen sieht - sich kaum, wenn überhaupt im Spannungsfeld „links-rechts“ den Wählern präsentieren. Er wird vielmehr gleichsam „eine neue Front“ eröffnen, indem er zum einen dafür wirbt, dass es auch, vielleicht gar nur um die Frage „umweltfreundlich-umweltfeindlich“ geht. Zum anderen wird er sich auf dieser Dimension so einordnen und den Wählern präsentieren, dass er möglichst viele Stimmen für sich gewinnt. Dieser Politiker macht also zweierlei: - Er wirbt für die Einführung einer neuen, in unserem Beispiel: der ökologischen Dimension in die Politik. Dabei kann er dies mit umso größeren Erfolgschancen tun, je mehr Bürger schon als Einzelne mehr oder weniger bewusst das alte Spannungsfeld „links -rechts“ als unangemessen empfunden haben. Diese werden die aufnahme- und annahmewilligen Adressaten des Politikers sein. Denn er tut, was sie - im Zweifel in großer Zahl - gewünscht, aber - der Logik der Kollektivgüter folgend - nicht getan haben: Er präsentiert, operationalisiert und etabliert eine neue, stimmigere Dimension des politischen Wettbewerbs. Dabei wird er umso erfolgreicher sein, d. h. er wird dies mit umso geringeren Anstrengungen tun können, je zahlreicher jene sind, die ihre Anliegen nur unzureichend in dem „rechts-links“-Spektrum unterbringen konnten, je größer ihr diesbezügliches Unbehagen und je stärker ihre vielleicht noch unartikulierte ökologische Sensibilität sind. In dieser ersten Phase tut demnach der Politiker nichts anderes als das, was vor und neben ihm die oben schon angesprochenen Meinungsmacher auch tun. Nur dass er - im Gegensatz zu diesen - Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Dimensionen · 279 <?page no="297"?> es mit Blick auf seine politische Karriere tut. Dies schließt nicht aus, dass jemand, der so am Anfang eine politische Karriere anstrebt, sich im Laufe der Zeit als Umweltprophet etabliert, bzw. dass jemand, der ein intellektueller Meinungsbildner geworden ist, Geschmack am politischen Wettbewerb findet. - Wenn und nachdem es gelungen ist, die - in unserem Beispiel - ökologische Dimension in den Raum des politischen Wettbewerbs einzuführen, muss der an einer politischen Karriere Interessierte auf diesem Feld eine Position beziehen. Es ist dies der Augenblick, in dem er und seine Mitstreiter vor der - möglicherweise schmerzlichen - Notwendigkeit stehen, die „Bewegung“, in der sie bis dahin zusammengearbeitet haben, in eine Partei umzugestalten. Die „Bewegung“ ist ein zweckmäßiges Instrument bei der Einführung einer neuen Dimension; im politischen Wettbewerb ist es nötig, eine Partei im Rücken zu haben. 2.5.3 Die Dynamik des Wettbewerbs der politischen Dimensionen Die hier skizzierte Schrittfolge bei der Einführung einer neuen Dimension lässt sich mit großer Deutlichkeit am Gründungsprozess der Grünen nachvollziehen. Die Partei der Grünen ist symptomatischerweise - gegen innere Vorbehalte - aus einer ökologischen Bewegung entstanden. Während es der Bewegung darum ging, ökologische Kategorien als Dimension der öffentlichen Auseinandersetzung und des politischen Wettbewerbs zu etablieren, geht es der Partei um den Erfolg im politischen Wettbewerb. Darüber hinaus: Der sich über lange Jahre hinziehende Streit zwischen „Realos“ und „Fundis“ war und ist zum Teil ein Streit darüber, ob man noch als Bewegung für eine Verankerung der ökologischen Dimension im Raum der politischen Konkurrenz kämpfen soll, oder aber ob man schon als Partei mit anderen Parteien um die Stimmen der Wähler konkurrieren kann. Die Verschmelzung von politischen Dimensionen Am Beispiel der Grünen lassen sich auch die folgenden Überlegungen illustrieren. Wir haben bislang die Einführung einer neuen, eben der ökologischen Dimension aus der Perspektive des Politikers betrachtet. Es ist aber nötig, sie auch vom Standpunkt des (potenziellen) Wählers zu sehen. Wenn die ökologische neben die „links-rechts“- Dimension getreten ist, so steht der Wähler vor zwei Arten von Parteien: Jene, die einen Wahlkampf vorerst nur in dem hergebrachten „links-rechts“-Schema führen, und jene, die nur auf der neuen ökologischen Dimension operieren. Die einen bieten also ein Programm an, das mehr oder weniger rechts bzw. links ist. Nur weiß man nicht, wie sie zur Ökologie stehen; man kann es auch nicht wissen, weil sie selbst dazu keine Position bezogen haben. Die anderen geben sich als mehr oder weniger ökologisch engagiert zu erkennen; nur ist unklar, ob sie „rechts“ oder „links“ stehen. Nehmen wir an, dass der Wähler nur eine Stimme zu vergeben hat, so wird er zuerst entscheiden müssen, welche der Dimensionen er persönlich für die wichtigere hält. Erst dann kann er entscheiden, welchem Programm, welcher Partei bzw. welchem Politiker er auf dieser Dimension seine Stimme geben wird. Er wird dann im Zweifel sagen, dass die Berücksichtigung ökologischer Belange so wichtig ist, dass „rechtslinks“-Differenzen in den Hintergrund treten müssen, es also unwichtig ist, ob die 280 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="298"?> Grünen „rechts“ oder „links“ stehen, wenn sie denn überhaupt auf dieser Dimension irgendwo einen Platz einnehmen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Wettbewerb der Parteien nun nicht mehr nur in der Konfrontation von Programmen auf einer Dimension stattfindet, sondern auch zum Gegenstand hat, welche der einander gegenüberstehenden Dimensionen welches Gewicht in den Augen wie vieler Wähler hat. Dabei wird es im Interesse jeder der konkurrierenden Parteien sein, dass jene Dimension, in der sie mit ihrem Programm Wähler gewinnen kann, in den Augen der Wählerschaft die wichtigere ist. In dem Maße wie es also einer auf der „links-rechts“-Dimension in einer erfolgssicheren Lage angesiedelten Partei gelingt, die ökologische Dimension als die Ausgeburt verwirrter Geister ins politische und soziale Abseits zu drängen, braucht sie von dort keine Bedrohung zu befürchten. Umgekehrt: Wenn es der auf der ökologischen Dimension erfolgssicher angesiedelten Partei gelingt, die Vertreter der „links-rechts“- Dimension als die heillos überholten Relikte von vorgestern darzustellen, so ist sie diese Bedrohung los. In beiden Fällen wird als Folge dieses Konflikts nur noch eine Dimension gelten: Die Dimension „rechts-links“ bzw. die ökologische Dimension. Nun kann man gewiss nicht ausschließen, dass eine Dimension die andere verdrängt, doch ist dies keineswegs zwingend.Anderes ist möglich und scheint wahrscheinlich zu sein. Folgendes: Die bislang auf der Dimension „links-rechts“ operierenden Parteien werden feststellen, dass ein mehr oder weniger großer Teil der Wählerschaft, um die sie bislang konkurriert haben, zu der (den) auf der ökologischen Dimension angesiedelten Partei(en) abwandert, für sie also vorerst verloren ist. Für jede der auf der alten Dimension verbliebenen Parteien stellt sich damit die Frage, ob sie auch weiterhin nur versuchen soll, den auf derselben Dimension angesiedelten Parteien Wählerstimmen abzujagen, oder ob sie hinfort auch danach streben soll, den auf der neuen Dimension befindlichen Partei(en) Stimmen wegzunehmen. Dabei werden sie beachten müssen, dass das Engagement um die Stimmen auf der einen Dimension dem Kampf um die Stimmen auf der anderen Dimension förderlich oder hinderlich sein kann. Kommt eine Partei zu dem Entschluss, auch auf der neuen Dimension um Wählerstimmen werben zu wollen, so kann dies nur dadurch geschehen, dass sie ihr Programm nicht nur in den Kategorien „rechts-links“, sondern auch unter ökologischen Gesichtspunkten abfasst. Vergleichbare Überlegungen mag die bislang auf der ökologischen Dimension operierende Partei anstellen: Sie nimmt in ihren Diskurs „rechts-links“-Elemente auf und definiert sich so auch auf der „rechts-links“-Dimension. Wir treffen hier wiederum auf eine Bewegung der Parteien im Sinne der oben beschriebenen zentripetalen Kräfte. Diese Bewegung wird dann besonders ausgeprägt sein, wenn und weil in der Optik der Wähler die beiden hier in Konkurrenz stehenden Dimensionen insofern ihre Berechtigung haben, als beide in den Augen der Bürger nötig sind, um ihre Anliegen im Raum des politischen Wettbewerbs zu artikulieren. Mit anderen Worten: Die Bewegung der Parteien „aufeinander zu“ ist um so ausgeprägter, je weniger die Wähler in der Lage und/ oder bereit sind, ihre Wahlentscheidungen nur unter einem Aspekt zu treffen, es also für sie nützlich bzw. notwendig ist, sich nicht für eine Wahlentscheidung auf einem Optionenspektrum entscheiden zu müssen. Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Dimensionen · 281 <?page no="299"?> Falls es auf diese Weise zu einer vollständigen Annäherung der Parteien kommt, dann sind die eingangs ökologischen Parteien nun auch auf der Dimension „rechts-links“ verortet. Und: Dann sind die eingangs im Spannungsfeld von „rechts-links“ angesiedelten Parteien nun auch durch ihre programmatische Festlegung auf der ökologischen Dimension charakterisiert. Dabei mag, muss aber nicht zu beobachten sein, dass z. B. die ursprünglich ökologischen Parteien eher links und die ursprünglich linken Parteien eher umweltfreundlich sind. Der Grund hierfür kann darin liegen, dass entweder sachlich-programmatische Affinitäten zwischen Ökologie und Linksorientierung bestanden und/ oder dass aus wahltaktischen Gründen die ökologisch ausgerichteten Parteien linke Positionen beziehen, oder aber, dass sie - wiederum aus wahltaktischen Gründen - von den konkurrierenden Parteien in die „linke Ecke“ geschoben worden sind. Im Ergebnis bedeutet dies: Indem die eingangs im „rechts-links“-Spektrum operierenden Parteien nun auch in der ökologischen Dimension plaziert sind und indem die eingangs in der ökologischen Dimension angesiedelten Parteien nun auch im „linksrechts“-Spannungsfeld verortet sind, haben sich die beiden Dimensionen wechselseitig angereichert. Und dies möglicherweise im Extrem bis zu jenem Punkt, an dem sie in eins fallen: Die „rechts-links“-Dimension ist so sehr ökologisch wie die ökologische mit „rechts-links“-Kategorien angereichert ist. Die hier relativ abstrakt dargestellten Abläufe und Zusammenhänge lassen sich wieder mit dem Hinweis auf die Entstehung und Entwicklung der Grünen - nicht nur - in Deutschland illustrieren. Ihre Geschichte begann mit dem Auftreten von einzelnen Umweltpropheten und mit den ersten Äußerungen außerparlamentarischer Partizipation an der politischen Willensbildung. In der ersten Phase waren die Grünen eine Bewegung, deren ansonsten eher vages gesellschaftskritisches Engagement sich in umweltpolitischen Anliegen konkretisierte. Es ging primär darum, die Ökologie als Dimension des politischen Raumes zu etablieren. In der zweiten Phase wurde aus der Bewegung eine Partei, die sich auf der nun akzeptierten ökologischen Dimension plazierte. In einer weiteren Phase fingen die bis dahin in den „links-rechts“-Kategorien angesiedelten Parteien an, nun auch ihrerseits in ökologischen Begriffen zu argumentieren. Gleichzeitig ließen sich die Grünen bereitwillig auf die linke Seite der „rechtslinks“-Dimension drängen; zum Teil gingen sie von selbst dorthin. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass es die Grünen schwer haben - weil alle Parteien ökologisch argumentieren -, sich als die Partei der ökologischen Dimension darzustellen und nicht als eine unter vielen Parteien auf der „rechts-links“-Dimension zu gelten, die allesamt für eine „ökologisch ausgerichtete Soziale Marktwirtschaft in einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung“ sind. Ein Blick zurück zeigt: Wir waren von der Frage ausgegangen, ob es wirklichkeitsnah ist davon auszugehen, dass der politische Wettbewerb zwischen den Parteien auf einem eindimensionalen Spektrum stattfindet.Wir hatten die Frage negativ beantwortet und festgestellt, dass man einen mehrdimensionalen politischen Raum als Regelfall unterstellen kann.Auch hatten wir als plausible Annahme festgehalten, dass über die Zeit die Dimensionen des politischen Raumes nicht immer gleichbleiben müssen.Vielmehr ist anzunehmen, dass die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gültigen Dimensionen irgendwann nicht mehr in der Lage sind, die Anliegen der Wähler aus- und anzusprechen. Damit drängte sich die Frage auf, wie neue, stimmigere Dimensionen in den 282 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="300"?> Raum des politischen Wettbewerbs eingebracht werden. Es konnte gezeigt werden, dass hierbei Politiker eine wichtige Rolle spielen. Anschließend führten unsere Überlegungen zu der theoretisch plausiblen und empirisch belegten Hypothese, dass die neu eingebrachte und die bis dahin übliche Dimension sich einander annähern bzw. sich wechselseitig durchdringen. Mit dem Ergebnis, dass sich die beiden Dimensionen zu einer - nunmehr - komplexeren Dimension verdichten. Für die Wähler hat dies den Vorteil, dass sie nun nicht mehr gezwungen sind, sich mit der Stimmabgabe für eine Partei auch für eine (und damit gegen die andere) Dimension zu entscheiden, wie dies eingangs der Fall war. Nunmehr ist es ihnen möglich, mit der Entscheidung für eine Partei den beiden in der neuen Dimension vereinten Aspekten „rechts-links“ und „umweltfreundlich-umweltfeindlich“ Ausdruck zu verleihen. Man kann sich nun vorstellen und muss auch erwarten, dass in einem mehr oder weniger fernen Zeitpunkt wiederum eine Situation auftritt, in der die aus den zwei Dimensionen „rechts-links“ und „umweltfreundlich-umweltfeindlich“ synthetisierte neue Dimension ihrerseits nicht mehr in der Lage ist, die für die Wohlfahrt der Bürger relevanten Aspekte der Kollektiventscheidungen im politischen Wettbewerb aufzugreifen und zu berücksichtigen.Wir befinden uns dann wieder in jener Situation, von der wir ausgegangen waren. Man kann annehmen, dass unter den oben genannten Bedingungen und in den oben genannten Formen der eben geschilderte Prozess wieder einsetzen und ablaufen wird; dies mit dem Resultat, dass die eben aus zwei Dimensionen gebildete neue Dimension nun durch eine dritte weiter angereichert wird. Diese ihrerseits mag dann später nicht mehr genügen und der geschilderte Prozess von neuem einsetzen. Der politische Wettbewerb erweist sich demnach gleichsam als eine institutionelle Maschine, die nicht nur alternative Entscheidungsentwürfe und kollektiv verbindliche Entscheidungen hervorbringt, sondern auch die Dimensionen, nach denen die Entwürfe gestaltet, dargestellt, erörtert und bewertet werden. Das Verschwinden von politischen Dimensionen Man könnte nun befürchten, dass dann, wenn immer neue und zusätzliche Dimensionen in einer Dimension synthetisiert werden, diese auf die Dauer so komplex wird, dass sie weder für die Gestalter der Parteiprogramme noch für die Wähler von Nutzen ist. In der Tat: Nicht nur ist die Zahl der Themen und Gegenstände beschränkt, die ein Politiker bzw. eine Partei in seinem (ihrem) Programm unterbringen kann. Auch die Aspekte, also die Dimensionen, unter denen diese Themen und Gegenstände im Wahlkampf dargestellt und behandelt werden können, sind beschränkt. Gleichfalls sind die Wähler nicht nur in der Zahl der Gegenstände und Themen begrenzt, denen sie zu einem gegebenen Zeitpunkt ihre Aufmerksamkeit widmen können. Auch können sie diese Themen und Gegenstände nur mit einer begrenzten Differenziertheit wahrnehmen, analysieren und bewerten.Wie jede soziale Kommunikation, so ist auch der politische Wettbewerb notwendigerweise durch die Existenz von Informationskosten und die beschränkten Informationskapazitäten der Teilnehmer begrenzt. Die Befürchtung, dass die „Anreicherung“ der Dimension des politischen Optionenspektrums zu einer Überforderung der Teilnehmer führt, ist allerdings weniger berechtigt als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Der Grund hierfür liegt darin, dass Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der Dimensionen · 283 <?page no="301"?> im Laufe der Zeit nicht nur zusätzliche Aspekte hinzukommen, sondern auch bis dahin gängige und allgemein als wichtig akzeptierte ausscheiden. So konnte man im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht nur beobachten, dass zu der gängigen „rechts-links“-Dimension etwa die Dimensionen der Ökologie und des Feminismus kamen. Man konnte auch beobachten, dass die Religionszugehörigkeit und der Berufsstand als Dimensionen der politischen Auseinandersetzung an Bedeutung verloren haben, gar völlig verschwunden sind. So spricht man - dies als Beispiel - heute nicht mehr vom „Katholischen Zentrum“ oder von einer Bauernpartei. Dabei ist die Feststellung interessant, dass die Einführung neuer Dimensionen in den politischen Raum der eigenen Anstrengungen Einzelner bedarf, also sich für diese auch lohnen muss. Auch ist der Prozess der Einführung neuer Dimensionen von einiger Sicht- und Hörbarkeit. So war seinerzeit weder zu überhören noch zu übersehen, dass die Ökologie und der Feminismus als neue Dimensionen des politischen Raumes gelten sollten. Hingegen sind die Religion und der Berufsstand eher geräuschlos als Dimensionen des Parteienwettbewerbs verschwunden. Dies hat damit zu tun, dass eine Dimension, die im Laufe der Zeit in den Augen der Wähler ihre Wohlfahrtsrelevanz verliert, nicht durch besondere Anstrengungen Einzelner eigens aus dem politischen Raum ausgeschieden werden muss. Vielmehr verblasst sie gleichsam innerhalb des politischen Raumes. Nach Maßgabe des Bedeutungsverlustes einer Dimension in den Augen der Wähler haben Parteien und Politiker immer weniger Interesse, sich in dieser Dimension dem Wettbewerb bzw. dem Wähler zu stellen. Sollte aber eine Partei oder ein Politiker die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben und an dieser Dimension festhalten, so scheidet sie bzw. er auf die Dauer aus dem politischen Wettbewerb aus - und mit ihm im Zweifel der letzte Anhänger dieser Dimension. Es ist sinnvoll, an dieser Stelle auf die obigen Ausführungen zum Buchanan/ Tullockschen Verfassungskalkül und die Frage nach der Einstimmigkeit des Verfassungskonsenses zu verweisen.Wir haben dort gesehen, dass die Mehrdimensionalität der Politik eine wichtige Voraussetzung für diese Einstimmigkeit ist. Es ist demnach auch wichtig, dass die Mehrdimensionalität erhalten bleibt bzw. immer neue Dimensionen geschaffen werden. Den Prozess, über den immer neue und zusätzliche Dimensionen generiert werden, haben wir kennengelernt. Er erweist sich als für den Verfassungskonsens und damit für den Bestand der Demokratie von entscheidender Bedeutung. Dies besonders dann, wenn die schon entstandenen Dimensionen in einer Dimension synthetisiert werden, wie wir dies kennengelernt haben. Man kann allerdings auch Fälle beobachten, in denen die Mehrdimensionalität der Politik dadurch aufrechterhalten werden soll, dass die Synthetisierung mehrerer Dimensionen zu einer neuen Dimension wenigstens erschwert wird. So vermag die institutionell-gesetzliche Festschreibung von Paritäten und Quoten bei der Besetzung von Ämtern und der Zusammensetzung von Gremien wenigstens für eine bestimmte Zeit einzelne voneinander getrennte Dimensionen daran hindern, sich zu einer Dimension zu verdichten. Dies ist allerdings ein nicht ungefährliches Unterfangen. In dem Maße wie dies nämlich gelingt, muss befürchtet werden, dass die institutionell festgeschriebenen Dimensionen nicht nur als Einzelne bestehen bleiben, sondern dass sie auch dann noch den 284 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="302"?> politischen Wettbewerb bestimmen, wenn sie in den Augen der Wähler schon längst ihre Wohlfahrtsrelevanz verloren haben. Auch muss man befürchten, dass es auf diese Weise neuen wohlfahrtsrelevanten Aspekten schwergemacht wird, ihren Niederschlag in neuen Dimensionen des politischen Wettbewerbs zu finden. In diesem Fall ist die Abkehr der Bürger von einer Politik, die in nicht mehr adäquaten Kategorien operiert, nicht überraschend. 2.6 Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der politischen Tabus Wir haben uns bislang mit dem Problem befasst, ob und wie Individuen als Wähler bzw. als Politiker versuchen, im und über den politischen Prozess Kollektiventscheidungen herbeizuführen, die ihrem Wohlfahrtskalkül entsprechend optimal sind. Dabei haben wir drei Fragen unterschieden: - Über welche Gegenstände soll kollektiv verbindlich entschieden werden? - Welche Aspekte sollen bei der Entscheidung berücksichtigt werden? (Die Frage nach den Dimensionen des politischen Raumes.) - Welche Option setzt sich auf einer bestimmten Dimension bezüglich eines bestimmten Gegenstandes durch? Am Beispiel: Es ist festzulegen, ob über das Schulwesen kollektiv zu entscheiden ist (die Frage nach den Gegenständen).Wenn ja, ist weiter zu bestimmen, ob der Aspekt der Konfessionalität für die staatliche Schulpolitik von Bedeutung ist (die Frage nach den Dimensionen). Wenn ja, ist zu entscheiden, ob das Schulwesen nach Konfessionszugehörigkeit getrennt zu organisieren ist (die Frage nach den Optionen). An dieser Stelle ist es nun wichtig festzuhalten, dass das Bemühen der Einzelnen dahin ging, die Politik des Staates dadurch in ihrem Sinne zu gestalten, dass sie ihre Ansichten über die Wahl der Gegenstände, der Dimensionen und der Optionen durchzusetzen versuchten. Nicht berücksichtigt haben wir, dass der Einzelne nicht nur versuchen kann, die Politik dadurch in seinem Sinne mitzugestalten, dass er sich für seine Vorstellungen einsetzt, sondern auch, dass er gegen die Vorstellungen anderer kämpft. Diese unsere Einseitigkeit ist insofern nicht gerechtfertigt, als die Einzelnen wohl nur das eine tun können, es aber durchaus möglich und wahrscheinlich ist, dass sie das eine und das andere tun. So mag ein Einzelner sich nicht nur dafür einsetzen, dass das Schulwesen ein Gegenstand der Politik wird, sondern auch, dass über das Gesundheitswesen im politischen Raum nicht geredet wird. Er mag sich nicht nur dafür einsetzen, dass die Schulpolitik unter konfessionellen Aspekten gemacht wird, sondern auch, dass der Aspekt der sozialen Herkunft der Schüler völlig unberücksichtigt bleibt. Er mag nicht nur dafür kämpfen, dass die Erziehungspolitik auf getrennte Konfessionsschulen setzt, sondern auch, dass gemischte Schulen nicht einmal erwähnt werden dürfen. Wenn aber richtig ist, dass die Bürger in einem Staat nicht nur ein Interesse daran haben, dass das eine oder das andere geschieht, sondern auch, dass das eine oder andere unterbleibt, dann ist es nötig, beides zu berücksichtigen. Auch ist es zweckmäßig, beides analytisch auseinanderzuhalten. Im Folgenden beschäftigen wir uns schwergewichtig mit dem Bemühen der Einzelnen, das eine oder andere im Kollektiv zu unter- Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der politischen Tabus · 285 <?page no="303"?> drücken, zu verhindern oder doch wenigstens zu behindern. Diese Einseitigkeit ist insofern gerechtfertigt, als die bisherige Darstellung die andere Seite einseitig behandelt hat. Wir beginnen mit der Frage, warum der Einzelne ein Interesse daran hat, dass in der Politik nicht über bestimmte Gegenstände unter bestimmten Aspekten in einem bestimmten Sinne gesprochen und votiert werden kann. Bei der Beantwortung dieser Frage können wir uns relativ kurz fassen, weil wir auf weiter oben gemachte Ausführungen zurückgreifen und auf weiter unten anzustellende Überlegungen verweisen können. Die Antwort gliedert sich in zwei Teile: - Erstens: Unter Rückgriff auf die Konsensfindungskosten, die wir im Zusammenhang mit der Verfassungstheorie von Buchanan und Tullock erörtert haben, lässt sich an dieser Stelle sagen: Mit steigender Homogenität des Kollektivs sinken für das einzelne Kollektivmitglied die Kosten, die es aufbringen muss, damit ein Entscheid in seinem Sinn zustandekommt. Es liegt demnach in seinem Interesse, in einem homogenen Kollektiv Mitglied zu sein. Es ist allerdings hinzuzufügen, dass der Einzelne ein Interesse daran hat, in einem homogenen Kollektiv Mitglied zu sein, dessen Homogenität seinen Standards entspricht. Es ist für den Einzelnen wenig verlockend, in einem Kollektiv Mitglied zu sein, in dem alle - außer ihm - über das Schulwesen unter Konfessionsgesichtspunkten im Sinne von Konfessionsschulen entscheiden wollen. Jetzt wäre zwar das Kollektiv sehr homogen, nur müsste er einen sehr hohen Aufwand an Zeit, Energie, Kompensation u. Ä. aufbringen, also hohe Konsensfindungskosten tragen, wenn die Politik dieses Kollektivs zu Entscheidungen in seinem Sinn führen soll. Der Einzelne hat also ein Interesse daran, dass in dem Kollektiv das Schulwesen als Gegenstand der Politik nicht, schon gar nicht unter konfessionellen Aspekten und im Sinne von Konfessionsschulen zur Debatte steht und stehen kann. - Zweitens: Unter Bezug auf den oben erläuterten Begriff der wahrscheinlichen externen Kosten können wir an dieser Stelle festhalten: Für den Einzelnen sinken die wahrscheinlichen externen Kosten, wenn möglichst viele Kollektivmitglieder mit ihm der Ansicht sind, dass über das Schulwesen nicht politisch entschieden werden soll und konfessionelle Gesichtspunkte in der Politik ohne Bedeutung sind. In diesem Fall ist in der Tat das Risiko gering, dass er eine staatliche Politik mittragen muss, die auf die Einrichtung von Konfessionsschulen hinausläuft. Der Einzelne hat demnach ein Interesse daran, dass nur über die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse unter bestimmten Aspekten in einem bestimmten Sinne entschieden wird.Was auch heißt: Er hat ein Interesse daran, dass über bestimmte Dinge und unter bestimmten Aspekten in der Politik deshalb nicht entschieden werden kann, weil über sie nicht geredet werden darf. Er hat ein Interesse daran, dass auch bestimmte Lösungsvorschläge für ansonsten thematisierbare Entscheidungsprobleme deshalb nicht einmal bekämpft werden müssen, weil sie nicht einmal gemacht werden können, mit anderen Worten: Weil sie tabuisiert sind. Damit stellt sich die Frage, ob und wie es zu solcher Tabuisierung einzelner politischer „issues“, einzelner Dimensionen und einzelner Lösungsoptionen kommt. Es gibt verschiedene Antworten auf diese Frage. Zwei sind gängig, aber nicht befriedigend: 286 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="304"?> - Nicht öffentlichkeitsfähig sind jene Gegenstände, Dimensionen und Vorschläge, die von der statistischen Norm abweichen. Dem stehen aber die vielen Fälle entgegen, in dem von der statistischen Norm abweichende Vorstellungen keineswegs tabuisiert sind. - Nicht thematisierbar ist, was krankhaft ist. Diese auf den intrinsischen Charakter von Entscheidungsgegenständen, Dimensionen und Optionen abstellende Erklärung scheitert an dem Argument, dass das, was innerhalb des einen Kollektivs als krankhaft gilt, innerhalb eines anderen durchaus als normal akzeptiert werden kann. Neben diesen beiden unzulänglichen Antworten gibt es eine dritte, und diese führt in eine gangbare Richtung. Sie vermeidet die Fehler der beiden erstgenannten Versuche und entspricht darüber hinaus dem Denkmodell der Ökonomischen Theorie der Politik, indem sie nicht in organizistischer Weise auf das Kollektiv abstellt und indem sie auch nicht die Nichtthematisierbarkeit, das Außenseiterische etwa eines Bedürfnisses auf dessen Eigenschaften zurückführt. Für sie ist die Länge und die Zusammensetzung des Katalogs der in einem kollektiven Entscheidungsprozess thematisierbaren Bedürfnisse, der zugelassenen Dimensionen und der nichttabuisierten politischen Optionen selbst das Ergebnis eines kollektiven Entscheids: Mit den Worten von Howard S. Becker: „Abweichendes Verhalten wird von der Gesellschaft geschaffen. Ich meine dies nicht in der Weise, wie es gewöhnlich verstanden wird, dass nämlich die Gründe für abweichenden Verhaltens in der sozialen Situation des in seinem Verhalten abweichenden Menschen oder in den Sozialfaktoren liegen, die seine Handlungen auslösen. Ich meine vielmehr, dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern stempeln. Von diesem Standpunkt ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem Missetäter. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen.“ Wir haben oben im Zusammenhang mit dem Problem der Zweckmäßigkeit und der Durchsetzung gesellschaftlicher Normen schon wichtige Teile jener sozialen Auseinandersetzung kennengelernt, in deren Verlauf darüber entschieden wird, was als abweichendes Verhalten zu gelten hat und wie mit dem Abweichenden zu verfahren ist. Insbesondere haben wir gesehen, dass das Selbst des Einzelnen sich in einem „moral space“ definiert. Zu den Dimensionen dieses „moral space“ gehören auch, wenn auch nicht unbedingt nur, die hier erörterten Dimensionen des politischen Raumes. Wenn man so will: Der politische Raum ist ein „subspace“ des moralischen Raumes. Schließlich haben wir auch gesehen, dass der Einzelne - als soziales Wesen - sein Selbst nur in einem „moral space“, den er mit anderen teilt, finden und sichern kann. Er hat demnach um des eigenen Selbst willen ein Interesse daran, sich mit anderen über die Dimensionen des politischen Raumes zu einigen. Und weil diese Einigung - mit Blick auf das eigene Selbst - einen Eigenwert hat, ist er - wenigstens in Grenzen - bereit, sich um der Einigung willen auf Dimensionen einzulassen, die er allein nicht gewählt hätte. Kurzum: Der Einzelne ist - wenigstens bis zu einem bestimmten Grade - bereit, ihm fremde, Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der politischen Tabus · 287 <?page no="305"?> ja nicht genehme Optionen, Dimensionen und Themen der politischen Entscheidungsfindung zuzulassen bzw. auf ihm genehmere Optionen, Dimensionen und Themen zu verzichten, damit sein Selbst auch als soziales Wesen gewährleistet ist und bleibt. Obschon dies im Prinzip für alle Gesellschaftsmitglieder und für alle Bürger gilt, ist die Gefahr, dass jeder jeden zum Außenseiter machen will, beträchtlich kleiner als man dies annehmen könnte. Auch dort, wo die Gesellschaftsmitglieder sich darüber streiten, welche der zulässigen Dimensionen mit welchem Gewicht das politische Geschehen prägen soll, sind sie sich häufig einig über jene Dimensionen, die tabuisiert sind. Crenson kann gar die Ansicht vertreten, dass ein Gemeinwesen, das pluralistisch in der Wahl der Themen seiner Entscheidungsfindung ist, sich in monolithischer Geschlossenheit gegen das wenden kann, über das nicht entschieden wird. Gleichfalls mag es in einem Gemeinwesen einen Wettbewerb zwischen alten und neuen Dimensionen des politischen Raumes geben, und in eben diesem Gemeinwesen große Einmütigkeit darüber bestehen, was als Dimension ausgeschlossen ist. So gilt jedenfalls in der zivilisierten Welt wenigstens bislang, dass „Rasse“ keine Dimension der Politik sein kann, soll, darf, ist und sein wird. (Trotz einiger Zweifel darüber, ob die Wörtchen „kann“, „ist“ und „sein wird“ auch heute noch so ohne weiteres hingeschrieben werden können, lasse ich - gleichzeitig hoffnungsfroh und beunruhigt - den Satz so stehen, wie er in der vorhergehenden Auflage zu lesen war.) An dieser Stelle ist ein Hinweis wichtig: Es ist ein Unterschied zwischen jenen Dimensionen zu machen, die - siehe oben - aus dem politischen Raum verschwinden, und jenen, die - wie hier - aus dem politischen Raum ausgeschlossen, also tabuisiert werden. Jene verschwinden, weil das Interesse an ihnen schwindet; diese sollen ausgeschlossen werden, weil sie ansonsten Eingang finden würden. Tabus betreffen immer Wünsche, Bedürfnisse, Triebe, die man hat, aber die zu haben man sich verbietet. Ohne latenten Rassismus gäbe es kein Rassismus-Tabu. Entsprechend braucht es zur Einführung und Aufrechterhaltung von Tabus eigene Anstrengungen. Die Frage ist nun, wie es zu einem solchen Konsens über Tabus kommt. Der Hinweis, dass er von selbst, quasi spontan, deshalb zustandekommt, weil im Zweifel alle Kollektivmitglieder ihn herbeiwünschen, ist unbefriedigend. Und zwar aus zwei Gründen: - Erstens: Auch wenn jeder ein Interesse an einem Konsens über die in der Politik geltenden Tabus hat, stimmen nicht alle notwendigerweise ohne weiteres a priori in dem überein, was tabuisiert werden soll. - Zweitens: Weil dem so ist, muss der Konsens über die in der politischen Willensbildung geltenden Tabus herbeigeführt werden. Dies kann nur gegen Widerstände, also unter Kosten bewerkstelligt werden. Nun ist aber der besagte Konsens ein Kollektivgut. Es ziehen aus dem Konsens auch jene einen Nutzen, die zu seinem Zustandekommen nichts beigetragen haben; das Ausschlussprinzip gilt nicht. Damit ist vorerst offen, wer auf die Erstellung des Kollektivguts „Konsens über Tabus“ hinarbeitet. Das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, ist jenem ähnlich, das wir oben im Zusammenhang mit der Einführung von Dimensionen und Optionen kennengelernt haben. Während es dort darum ging, etwas zu ermöglichen, geht es 288 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="306"?> hier darum, etwas aus dem Bereich des Möglichen auszuschließen. Wir haben dort den politischen Unternehmer kennengelernt, der etwas bewirken will. Wir treffen hier auf den moralischen Unternehmer, der etwas verhindern will. Beide - der politische und der moralische Unternehmer - handeln vornehmlich deshalb, weil selektive Anreize ihre Anstrengungen belohnen oder relativ hohe Bedürfnisintensitäten sie antreiben. Beide arbeiten auf die Erstellung eines Kollektivguts hin, weil ihnen und nur ihnen nach Maßgabe ihrer Leistung Nutzen zufließen. Nachdem wir uns oben schon ausreichend mit dem politischen Unternehmer beschäftigt haben, beschränken wir uns hier auf den moralischen Unternehmer. Es lassen sich - mit Bezug auf die Art der selektiven Anreize - zwei Typen unterscheiden: der „Kreuzfahrer“ und der „Söldner“. Der Kreuzfahrer ist jener, der eine bestimmte Dimension bzw. eine bestimmte Option als fraglos und absolut schlecht ansieht. Für ihn ist deren Bekämpfung eine moralische Verpflichtung, der er auch unter Kosten nachzukommen hat. Mit anderen Worten: In seinen Augen stellt die Tabuisierung dieser Dimension oder Option einen so hohen Nutzen dar, dass die mit den entsprechenden Bemühungen verbundenen Kosten aufgewogen sind. Dies selbst dann, wenn er die (vielleicht geringe) Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Anstrengungen mitberücksichtigt und wenn er die Kosten allein zu tragen hat, während andere als Trittbrettfahrer profitieren. Kirchenleute und Intellektuelle, die aus moralischem Verantwortungsgefühl gegen dieses oder jenes agitieren, sind hier als Beispiele zu nennen. So haben es etwa die Kirchen u. a. über lange Zeit hinweg verstanden, die Abtreibung als Option aus der politischen Diskussion herauszuhalten.Außerdem kann man gegenwärtig beobachten, dass eine mehr oder weniger große Anzahl von Gesellschaftsmitgliedern dafür kämpfen, dass Rassengesichtspunkte nicht schon wieder eine Dimension der Politik werden. Kennzeichnend für den Kreuzfahrer ist, dass aus seiner Sicht ganz bestimmte Bedürfnisse zu tabuisieren sind. Der Söldner: Charakteristisch für ihn ist, dass er sich nicht für die Tabuisierung bestimmter Bedürfnisse einsetzt. Ihm sind die Bedürfnisse, die als Folge seiner Bemühungen als außenseiterisch gebrandmarkt werden sollen, gleichgültig. Ihn interessiert die Belohnung, die er für seine Bemühungen von denen empfängt, denen die Tabuisierung ein Anliegen ist. Der Söldner ist demnach - wie der Politiker Downsscher Definition - motiviert durch die selektiven, nur ihm zugänglichen Anreize. Prestige, Reichtum und Macht können den in einem Kollektiv belohnen, der glaubwürdig, aber nicht unbedingt aus innerer Überzeugung, darauf hinarbeitet, dass bestimmte Dimensionen in den politischen Raum keinen Eingang finden, dass bestimmte Gegenstände nicht zum Gegenstand der Politik werden bzw. dass bestimmte Optionen nicht einmal als Vorschlag in die politische Auseinandersetzung aufgenommen werden können. Die hier skizzierten Typen des moralischen und des politischen Unternehmers sind Idealtypen. In der Praxis kann ein Politiker in beiden Rollen gleichzeitig auftreten. Einerseits mag er sich dafür einsetzen, die politische Auseinandersetzung durch die Errichtung von Tabus zu begrenzen. Andererseits kann er den Erfolg suchen, indem er innerhalb des durch Tabus eingegrenzten Raumes Dimensionen, Entscheidungsprobleme und Lösungsvorschläge anbietet. Der politische Wettbewerb: die Konkurrenz der politischen Tabus · 289 <?page no="307"?> Der moralische und der politische Unternehmer haben also gemeinsam, dass sie im Wesentlichen um selektiver Anreize willen den Wählern ihre Dienste anbieten. Doch unterscheiden sie sich auch in einigen Punkten: - Der politische Unternehmer redet offen über das, was er in Aussicht stellt; der moralische Unternehmer verhindert auf indirekten Wegen, durch Totschweigen,Verdächtigung und Andeutung, was er aus der politischen Diskussion heraushalten will. - Da die politischen Tabus, aus deren Verfestigung und Verteidigung der moralische Unternehmer Kapital zu schlagen versucht, nicht selten auch ein Reflex individueller Verdrängung sind, ist das Verhältnis des moralischen Unternehmers zu den Wählern tendenziell unsachlicher und emotionsgeladener, als das des politischen Unternehmers. Gleichzeitig ist die Annahme plausibel, dass dieses Verhältnis im Falle des moralischen Unternehmers, wenigstens seitens der Bürger, nicht souverän beherrschbar ist. Dies auch deshalb, weil die Ausscheidung von bestimmten Alternativen aus der öffentlichen Auseinandersetzung das Ergebnis eines wenig artikulierten Verhältnisses zwischen Bürger und Politiker ist.Was nicht öffentlich genannt wird, bleibt - wortwörtlich - unbegreifbar und unbeherrschbar; eine Wahrheit, die im Märchen von Rumpelstilzchen einen prägnanten Ausdruck gefunden hat: der bösartige Zwerg verliert seinen Zauber in dem Augenblick, wo jemand seinen Namen kennt und nennt. - Die Träger jener Bedürfnisse, die das Opfer moralischer Unternehmer geworden sind, haben wenige Möglichkeiten, sich innerhalb der akzeptierten Normen zu wehren. Versuchen sie nämlich, nach der erfolgreichen Tabuisierung eines Bedürfnisses, dieses in die politische Diskussion einzubringen, so schließen sie sich selbst eo ipso aus dieser Diskussion aus. Beispiel: Wer - vor der Enttabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs - für eine Liberalisierung der geltenden Regelung eingetreten wäre, würde nicht Widerrede und Gegenargument, also Widerstand gegen seinen Vorschlag, sondern Widerwillen, Feindschaft und Verachtung für seine Person provoziert haben. Dies bedeutet: Der moralische Unternehmer mag im Raum der politischen Auseinandersetzung Themen aus dem Entscheidungsprozess heraushalten; dies aber um den Preis, dass diese Themen in den Raum der nicht geregelten Auseinandersetzung abgedrängt werden. Das Studium des moralischen Unternehmers und seines Verhältnisses zu der Wählerschaft kann in psychoanalytischen Kategorien weitergeführt werden. Ich verweise ausdrücklich auf den später folgenden Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge. Dort kann man nachlesen, dass und warum es für ein Gemeinwesen von großer Bedeutung ist, dass es Tabus gibt - und dass sie irgendwann aufgehoben werden. 2.7 Volksparteien, Milieuparteien, Gesinnungsparteien, Ein-Themaparteien, Personenparteien Auf den vorliegenden Seiten ist allgemein von Parteien die Rede gewesen, nicht aber sind verschiedene Arten von Parteien unterschieden worden. Dies soll hier nachgeholt werden. Dabei ist zu bedenken, dass die Wahl der Kriterien, nach denen verschiedene 290 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="308"?> Arten von Parteien identifiziert werden, eine Frage der Zweckmäßigkeit, nicht aber der Richtigkeit ist. Mit Blick auf die Gegenwart und auf die jüngere Vergangenheit empfiehlt es sich, folgende Parteiarten zu unterscheiden. - Milieuparteien. Es sind dies Parteien, die ihre Mitglieder und ihre Wähler in einer bestimmten sozialen Kategorie von Gesellschaftsmitgliedern, in einer bestimmten Schicht, in einer bestimmten Klasse suchen. Man mag dann - dies als illustrierende Beispiele - etwa von einer Bauernpartei, einer Partei der arbeitenden Klasse, einer Partei der Besserverdienenden sprechen. - Ein-Themaparteien. Hier handelt es sich um Parteien, die mit einem Thema oder doch mit einer vergleichsweise eng begrenzten Anzahl von Themen Mitglieder rekrutieren und Wähler gewinnen wollen. Als Beispiel seien Umweltparteien, Friedensparteien,Antiabtreibungsparteien,Autoparteien usw. genannt. - Gesinnungsparteien. Diese Parteien berufen sich auf einen bestimmten Glauben, auf eine bestimmte religiöse oder politico-religiöse Rechtgläubigkeit: Partei der gläubigen Christen, Partei der Freunde der Erde u. Ä. Indem sie sich als einem bestimmten Glauben bzw. einer bestimmten Gesinnung verpflichtet den Wählern und den (potenziellen) Mitgliedern präsentieren, streben sie darnach, deren Glauben und Gesinnungstreue in Unterstützung für sich selbst umzusetzen. - Volksparteien. Diese Art von Parteien suchen den Erfolg, indem sie in Aussicht stellen, ihre Politik an den Vorstellungen der Wähler auszurichten, wobei es im Prinzip gleichgültig ist, aus welcher Klasse, Schicht bzw. aus welchem sozialen Milieu diese Wähler stammen, wobei es im Prinzip auch ohne Bedeutung ist, auf welche Themen und Gegenstände sich die Vorstellungen der Wähler beziehen und welche Glaubens- und Gesinnungsüberzeugungen die Wähler mit diesen Vorstellungen verbinden. - Personenparteien. Diese Parteien suchen den politischen Erfolg indem sie auf die Person der Politiker abstellen; hingegen treten hier Themen, Inhalte und Überzeugungen in den Hintergrund Diese fünf Parteitypen mögen begrifflich eindeutig voneinander getrennt sein. Dies schließt allerdings nicht aus, dass in der konkreten Praxis eine Partei zu mehr als nur zu einem Typ gehören kann; dies ist vielmehr in vielen Fällen zu erwarten. So mag etwa eine Bauernpartei sich vornehmlich agrarpolitischen Themen annehmen bzw. eine Partei der gläubigen Christen mag besonders das Abtreibungsverbot oder die Bekämpfung der Gleichstellung homosexueller Partnerschaften als Themen behandeln. Ein weiterer Punkt ist hervorzuheben: Auch dann, wenn eine bestimmte Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt einem bestimmten Typ entspricht, so schließt dies nicht aus, dass sie im Laufe der Zeit in einen anderen Typ mutiert. So mag eine Gesinnungspartei bzw. eine Milieupartei zu einer Volkspartei werden, und dies entweder als Folge von gesellschaftlichen Veränderungen und/ oder als Folge der Dynamik des politischen Wettbewerbs. Dies ist nicht verwunderlich, insofern es von dem gesellschaftlichen Kontext und von der politischen Konkurrenz abhängt, ob es für eine Partei eher erfolgversprechend ist, als Milieu-, als Ein-Thema-, als Gesinnungs- oder als Volkspartei aufzutreten. Dies wird deutlich, wenn man nach den Bedingungen fragt, unter welchen welcher Parteientyp eher prosperiert. Volksparteien, Milieuparteien, Gesinnungsparteien, Ein-Themaparteien, Personenparteien · 291 <?page no="309"?> In einer Gesellschaft, in welcher die Schichtung und Segmentierung stabil sind, in welcher die soziale Mobilität gering ist und in welcher es ein bestimmtes Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl (Korpsgeist, Klassenbewusstsein) gibt, das in einem jeweils eigenen Denk, Sprach- und Lebensstil geäußert, gepflegt und tradiert wird, sind Milieuparteien zu erwarten. Dies auch und besonders deshalb, weil man sich „in unseren Kreisen“ vergleichsweise leicht verständigen, im Zweifel Interessengemeinschaften gegen „die anderen“ bilden und sich aufeinander verlassen kann. Die Transaktionskosten zwischen den Mitgliedern eines gleichen Milieus tendieren dazu geringer zu sein als jene, die im interindividuellen Austausch über Milieugrenzen hinweg zu erwarten sind. Wenn es in einer Gesellschaft mehrere solcher vergleichsweise stabiler und abgeschotteter Milieus gibt, so ist mit mehreren einander eher „klassenkämpferisch“ gegenüberstehender Milieuparteien zu rechnen. Dies muss nicht ausschließen, dass es zu Kompromissen und Vereinbarungen zwischen ihnen kommt, die ein gewisses Maß an Kooperation ermöglichen.Allerdings nach Maßgabe der Stabilität und der Abschottung der diese Parteien tragenden Milieus, wird diese Zusammenarbeit die Charakteristika einer „feindlichen Entente“ tragen, in welcher gegenseitige Missverständnisse und wechselseitiges Misstrauen zu hohen Transaktionskosten führen, die eine allseits vorteilhafte Kooperation zumindest behindern, wenn nicht gar immer wieder (zu) verhindern (drohen). Es ist aber auch der Fall denkbar, dass nur ein Teil der Gesellschaft, eine Klasse, ein Milieu innerlich so verfasst ist, dass sie nach außen geschlossen auftreten kann, der übrige Teil der Gesellschaft aber insofern unstrukturiert ist, dass hier keine Gruppe ein derart gefestigtes Klassenbewusstsein bzw. einen derart soliden Korpsgeist aufweist, dass deren Mitglieder ihre Anliegen geschlossen nach außen vertreten können. Es ist zu erwarten, dass jene Gesellschaftsmitglieder, die ihren „Corps“, ihre „Klasse“ als Basis für die gemeinsame Vertretung ihrer Interessen nutzen können, in dieser Gesellschaft ceteris paribus ein größeres politisches Gewicht haben. Es war - dies ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte - also nur folgerichtig, wenn Marx und seine Anhänger, nachdem sie die Kapitalisten als Klasse mit eigenem Bewusstsein, das Proletariat aber als Klasse ohne hinreichend ausgeprägtes Klassenbewusstsein identifiziert hatten, postulierten, dass das Klassenbewusstsein der Proletarier gestärkt werden müsse, wenn dem politischen Gewicht der Kapitalistenklasse etwas entgegengesetzt werden solle: Die Stärkung des Klassenbewusstsein als Voraussetzung zur Bildung einer revolutionären Klassenpartei. Im Übrigen: Ein erhellendes Beispiel dafür, wie eine Partei bei dem Versuch, als Milieupartei Erfolg zu haben, in die Irre gehen kann, wenn die Voraussetzungen nicht gegeben sind, lieferte vor wenigen Jahren die FDP, als sie es unternahm, sich als „Partei der Besserverdienenden“ anzubieten. Der Versuch scheitert kläglich und wurde klugerweise sehr schnell abgebrochen. Ein-Themaparteien haben dann Erfolgschancen, wenn sie Anliegen und Themen ansprechen, die von anderen Parteien vernachlässigt werden, und dies obschon diese Anliegen für die Wähler von Bedeutung und Dringlichkeit sind. Diese Vernachlässigung von Themen und Anliegen mag verschiedene Gründe haben. So ist nicht a priori auszuschließen, dass die Mitglieder der in den etablierten Parteien interagierenden „classa 292 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="310"?> politica“ eine etwas abgestumpfte Sensibilität für das haben, was „den Menschen draußen im Lande“ unter den Nägeln brennt. Auch mag die Vernachlässigung eines bestimmten Anliegens durch einzelne Parteien darauf zurückzuführen sein, dass sich dieses Anliegen mit den übrigen Programmpunkten dieser Parteien nicht widerspruchsfrei verträgt. So wird eine Gesinnungspartei, die sich aus gläubigen Christen zusammensetzt, kaum in der Lage und willens sein, die Anliegen der Homosexuellen auf rechtliche Gleichstellung aufzugreifen. Schließlich muss eine Partei, die als Volkspartei eine Vielzahl und eine Vielfalt von Anliegen aufgreift, die einzelnen Anliegen notgedrungen als „eines unter vielen“ berücksichtigen und so - zu Recht oder zu Unrecht - bei einer mehr oder weniger großen Anzahl von Wählern den Eindruck erwecken, dass sie das einzelne Anliegen nicht hinreichend ernstnimmt. Es ist typisch für Ein-Themaparteien, dass sie gemeinhin von Politikern ins Leben gerufen werden, die sich innerhalb der schon etablierten Parteien keine oder doch nur geringe Erfolgschancen ausrechnen können. Nicht selten handelt es sich hier um auf eine neurotisch-enge Weltsicht fixierte Menschen, denen es gelingt, ihre neurotische Energie in einem populistischen Talent auszuleben, das ihnen gestattet, oft gleichsam über Nacht eine solche Partei zu durchaus beachtlichen Erfolgen zu führen.Allerdings sind es dann auch häufig die gleichen Gründe, die dazu führen, dass diese Erfolge nicht von langer Dauer sind. Besonders dann, wenn die Anfangserfolge eine solche Partei in die politische Verantwortung bringen, erweist es sich recht schnell, dass es nicht möglich ist, ein Thema ohne Berücksichtigung jener politischen Themen anzugehen, mit denen es verknüpft ist. Dies aber bedeutet, dass dieses eine Thema relativiert werden muss, also nicht mit jener Radikalität und Konsequenz angegangen werden kann, wie es vorher versprochen worden ist. Die Wähler sehen sich in ihren (überzogenen) Erwartungen enttäuscht. Dies geschieht um so eher und umso nachhaltiger, desto mehr und desto eindeutiger die in Amt und Mandat hochgetragenen Politiker einer solchen Ein-Themapartei sich angesichts der nunmehr geforderten Sacharbeit als menschlich bzw. als fachlich unkompetent erweisen. Es ist allerdings hinzuzufügen, dass nicht jede Ein-Themapartei verschwindet, indem sie als Partei überhaupt von der Bildfläche verschwindet. Durchaus möglich ist auch, dass eine solche Partei als Ein-Themapartei aufhört zu existieren und sich zu einem anderen überlebensfähigeren und erfolgversprechenderen Typus von Partei entwickelt. Die schweizerische „Autopartei“ ist ein Beispiel für das völlige Verschwinden einer Ein-Themapartei nach beträchtlichen Anfangserfolgen. „Bündnis 90/ Die Grünen“ hingegen sind ein Beispiel für eine Partei, die aus zwei Ein-Themaparteien hervorgegangen ist, sich aber als Ganzes unter Schwierigkeiten und - immer wieder - mit Rückschlägen zur Volkspartei entwickelt hat. Gesinnungsparteien haben dort ihre Chance, wo große Teile der Bürger ihr Wahlverhalten an religiösen Glaubensinhalten und/ oder an ideologischen Überzeugungen ausrichten. Dabei ist es nicht nötig, dass alle Bürger ihre (politischen) Entscheidungskalküle an religiös oder ideologisch vorgegebenen Richtlinien orientieren. Es reicht, dass - wie im Falle der orthodoxen Juden in Israel - eine gewisse Anzahl von Wählern dies tut, damit eine Gesinnungspartei hinreichend bedeutend wird, um wenigstens als Koalitionspartner in einer Mehrparteienregierung ein nicht unbeträchtliches Gewicht zu haben. Volksparteien, Milieuparteien, Gesinnungsparteien, Ein-Themaparteien, Personenparteien · 293 <?page no="311"?> Gegenwärtig spielen Gesinnungsparteien in den westlichen Demokratien eine allenfalls marginale Rolle, was angesichts des Werterelativismus und des Agnostizismus, wie sie hier typisch sind, nicht verwunderlich ist. Allerdings muss dies nicht von Dauer sein: Die Einbürgerung von gläubigen Muslimen könnte durchaus nicht nur die Voraussetzung für die Gründung islamisch ausgerichteter Gesinnungsparteien schaffen, sondern es für die übrigen Parteien zweckmäßig werden lassen, gleichfalls wieder wenigstens Züge von Gesinnungsparteien anzunehmen. Dies könnte dann der Fall sein, wenn sich die einheimischen Wähler - in Reaktion auf betont muslimisch auftretende Zuwanderer - als Christen „neu entdecken“ würden. Die Volksparteien sind charakteristisch für Gesellschaften, in denen religiöse Überzeugungen und/ oder ideologische Gesinnung vielleicht noch Privatangelegenheiten sind, aber das Leben in der Öffentlichkeit und hier besonders im politischen Raum kaum noch bestimmen. Auch sind Volksparteien eher in Gesellschaften anzutreffen, in welchen die Menschen - zu Recht oder auch zu Unrecht - davon ausgehen, dass sie nicht an eine bestimmte Klasse gebunden bzw. in einer bestimmten Schicht feststecken, sondern dass die Gesellschaft ihnen ein solches Maß an Mobilität gestattet bzw. aufzwingt, dass ein lebendiges Klassenbewusstsein bzw. ein ausgeprägter Korpsgeist für sie weder möglich sind noch hilfreich wären. Auch treten dann Parteien eher als Volksparteien und nicht etwa als Ein-Themaparteien auf, wenn es neben den Parteien Organisationen, etwa Verbände, Non-Government-Organisations und Non-Profit-Organisations, gibt, deren Ziel und Zweck es ist, einzelne Themen und Anliegen in den politischen Diskurs einzubringen und dort zu vertreten. Ein Blick in die Parteienlandschaft zeigt nun, dass diese Bedingungen in den westlichen Demokratien durchgehend, wenn auch in je unterschiedlichem Ausmaß gegeben sind. Entsprechend prägen Volksparteien das Bild: Die SPD ist schon seit dem „Godesberger Programm“ von einer marxistischen Klassenpartei zu einer Volkspartei geworden; und in England ist die auf den Welfare-State eingeschworene Labour Partei der ersten Nachkriegsjahre kaum noch als Vorläuferin von New Labour zu erkennen; die PDS versucht, aus einer revolutionären Klassenpartei zu einer reformerischen Volkspartei zu werden; und die CDU und die CSU sind wohl noch dem Namen nach christlich, also Gesinnungsparteien, wenden sich aber als Volksparteien auch an jene Bürger, die sich in ihrem politischen Verhalten mehr an ihren Interessen und Bedürfnissen denn an ihrer christlichen Überzeugung orientieren. (Man mag versucht sein, in Sinn Fein eine christliche Partei zu sehen. Diese wäre ein Irrtum. Wohl rekrutiert sie ihre Mitglieder und Wähler in der katholischen Bevölkerung Nordirlands, doch spricht sie diese weniger als Katholiken, denn als Iren unter britischer Herrschaft an. Das heißt, dass Sinn Fein wenigstens auch, wenn nicht gar im Wesentlichen eine Milieupartei ist, und dies kann sie mit einiger Aussicht auf Erfolg tun, weil die Durchlässigkeit zwischen dem protestantischen und dem katholischen Bevölkerungsteil in Nordirland wohl denn doch eher gering ist). Nachdem wir nun verschiedene Typen von Parteien kennengelernt haben, mag man fragen, auf welchen Parteitypus die Downssche Theorie der Demokratie, wie sie hier 294 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="312"?> dargestellt worden ist, abstellt. Die Antwort lautet selbstverständlich: Volksparteien. Der Leser wird aber auch leicht erkennen, dass die weiterführenden Überlegungen zur Einführung von neuen Dimensionen den Typus der Ein-Themapartei und jenen der Gesinnungspartei im Auge haben; dies gilt auch - allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen - für jene Parteien, die sich auf die Verteidigung von politischen Tabus konzentrieren. Abschließend ist auf einen letzten Parteientyp abzustellen: die Personenpartei. Er zeichnet sich im Unterschied zu den bisher erörterten Parteien dadurch aus, dass hier nicht Programminhalte, seien diese nur schicht-, gesinnungs-, themen- oder allgemein interessenbezogen, im Vordergrund stehen, sondern dass der Akzent auf jenen Person(en), die zur Wahl steht (stehen), liegt. Diese Art von Parteien ist hier und heute nicht selten und wohl alle Parteien zeigen mehr oder weniger starke Züge der Personenbezogenheit auf. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einer davon besteht darin, dass die Vermittlung von komplexen Entscheidungsproblemen schwierig ist und angesichts des Informationsverhaltens der Wähler auch an eher enge Grenzen stößt. Hinzu kommt, dass als Folge der Kommerzialisierung der Medien diese vorzugsweise jene Informationen anbieten, die auflagenfördernd und quotensteigend sind, und dies sind eher personenals sachbezogene News. In einer mediatisierten und kommerzialisierten Gesellschaft haben Sachthemen am ehesten dann eine Chance, wenn sie mit dem Gesicht von Menschen, hier: von Politikern auftreten. In dem Maße wie dies der Fall ist, gilt weniger, dass Politiker Erfolg haben, weil sie bestimmte Sachfragen aufgreifen und mit mehr oder weniger großem Erfolg behandeln, sondern bestimmte Sachfragen werden zu politischen Agenden, weil sie sich in der Person dieses oder jenes Politikers gleichsam verkörpern. Auch dann, wenn der politische Diskurs und Wettbewerb weder vollends personen-, noch vollends sachfixiert sind, so sind diese beiden Extrempunkte doch insofern von Interesse, als sie erlauben, den jeweiligen Zustand eines demokratischen Staatswesen auf einem Kontinuum zwischen den beiden Punkten zu verorten und - gegebenenfalls - Veränderung weg von dem einen hin zu dem anderen Punkt zu identifizieren. Es mag naheliegen, die Personalisierung der Politik als bedauerliche Entartung zu bezeichnen und zu fordern, dass in der Demokratie, also auch im Parteienwettbewerb, die Wähler und die Politiker nur mit Blick auf Sachprobleme, also - wortwörtlich - „ohne Ansehen der Person“ aufeinander treffen. Dieser Schluss wäre unklug, insofern auch in der Politik die Einzelnen nicht nur als Träger von Sachanliegen auftreten, sondern auch als Menschen mit ihren je eigenen individuellen Eigenschaften, Stärken und Schwächen, Ängsten und Hoffnungen, Neurosen und Pathologien; und dies sowohl auf Seiten der Wähler als auch auf Seiten der Politiker. Näheres dazu ist in dem folgenden Exkurs nachzulesen. Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge (zusammen mit Klaus Mackscheidt) In der Neuen Politischen Ökonomie wird das einzelne Individuum in dem, was es ist und was es will, als problemloses Datum angesehen. Dabei wird einerseits allenfalls Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge · 295 <?page no="313"?> am Rande berücksichtigt, dass das Individuum in dem, was es ist und will, nicht nur als Input in die kollektive Willensbildung eingeht, sondern auch ein Output eben dieser kollektiven Entscheidungsfindung ist.Andererseits wird das Individuum auch in jenem Sinne als problemloses Datum angesehen, als unterstellt wird, dass der Mensch tatsächlich Individuum, ungeteilt und unteilbar ist, dass man ihn also als fraglos gesicherte Einheit ansehen kann. Zu dieser der Neuen Politischen Ökonomie eigenen Optik gibt es Alternativansätze. Zwei dieser Ansätze verdienen ein eigenes Interesse. Denn sie erlauben nicht nur, auf eine Grenze der Neuen Politischen Ökonomie aufmerksam zu machen, sondern auch, einen wenigstens flüchtigen Blick auf den jenseits dieser Grenze liegenden Problembereich zu werfen. Diese beiden alternativen Ansätze haben gemeinsam, dass sie den Menschen als „Dividuum“ ansehen, als ein Wesen also, das in der Praxis“ geteilt und/ oder in der Theorie „auseinandergenommen“, eben analysiert werden kann und mit Blick auf die kollektive Entscheidungsfindung auch sollte. Der erste Ansatz - oben haben wir ihn erörtert - geht davon aus, dass der Mensch gleichsam in vertikale Scheiben dividiert wird; er geht davon aus, dass es theoretisch zweckmäßig und praktisch erlebbar ist, dass der Mensch als Folge der systemischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in nebeneinander bestehende und funktionierende Systemelemente tranchiert wird. Diesen Ansatz haben wir oben in Anlehnung an Luhmann kennengelernt. Der zweite dieser Denkansätze stellt sich den Menschen analytisch in horizontal übereinanderliegenden Schichten aufgeteilt vor. Zwischen diesen horizontal gelagerten Schichten eines Menschen bestehen dynamische Beziehungen, und die Dynamik dieser intraindividuellen Beziehungen steht mit den interindividuellen Beziehungen im Allgemeinen und mit den interindividuellen Beziehungen in Kollektiven im Besonderen in wechselseitigem Bezug. Die Dynamik des intraindividuellen Geschehens beeinflusst also die Dynamik der interindividuellen Beziehungen; und: Die Dynamik der Politik ist für die Entwicklung des Einzelnen, d. h. für seine intraindividuelle Dynamik, von Bedeutung.Wir wollen uns im Folgenden diesem zweiten Ansatz zuwenden. A Der innerlich freie und der neurotisch gebundene Mensch Die spezifische Eigenart dieses Ansatzes wird besonders deutlich, wenn wir sie vor dem Hintergrund jenes Menschenbildes sehen, das für die Wirtschaftstheorie typisch ist. Diese geht davon aus, dass der Mensch mit seinen Bedürfnissen in einer Welt agiert, in der die Knappheit der Ressourcen und/ oder die Macht bzw. die Rechte anderer Menschen die Befriedigung dieser Bedürfnisse begrenzen. Der Befriedigung der Bedürfnisse stehen äußere Grenzen, nicht aber innere Hemmnisse entgegen. In dieser Optik ist der Mensch innerlich frei, alle seine Bedürfnisse zu bejahen, nur hindern ihn die Knappheit der Ressourcen und die Ansprüche anderer, diese seine Bedürfnisse auch zu befriedigen. Die Freiheit des Menschen stößt sich also an den Grenzen der äußeren Umstände, nicht aber begrenzen innere Zustände seine Freiheit. Die äußeren Umstände begrenzen die Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen, nicht 296 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="314"?> aber begrenzen innere Zustände den Kreis jener Bedürfnisse, deren Befriedigung er wollen kann, ja deren Existenz er sich überhaupt bewusst werden kann. Nun lehrt aber die Psychoanalyse, dass der Mensch keineswegs immer, ja vermutlich nie völlig frei ist, alle seine Bedürfnisse und Triebe zu bejahen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Einzelne, neben jenen Bedürfnissen, zu denen er sich bekennt, Bedürfnisse hat, die in der Verdrängung des Unbewussten gehalten werden. Es sind dies Bedürfnisse, die zu haben er sich nicht einmal eingestehen mag, über deren Befriedigung oder Nichtbefriedigung also auch keine bewusste Überlegung angestellt werden kann und darf. In dem Maße wie der Einzelne den im Unbewussten verankerten Geboten und Verboten ausgeliefert ist, wollen wir von einem neurotischen Menschen sprechen. Er ist die Gegenfigur zu dem innerlich souveränen Menschen, der seine Bedürfnisse kennt, sich zu ihnen bekennen und entsprechend für oder gegen ihre Befriedigung entscheiden kann. Auch in ihrer Anwendung auf die Politik geht die ökonomische Theorie von der Vorstellung des innerlich freien Menschen aus. Jedenfalls klammert sie alles, was auf die neurotische Gebundenheit des Menschen verweisen könnte, aus ihrem Diskurs aus. Entsprechend stellt sich für die Ökonomische Theorie der Politik nur die Frage nach der äußeren, nicht aber das Problem der inneren Freiheit des Menschen in der Gesellschaft. Entscheidend ist nun, dass die verdrängten Neigungen und Triebe, Wünsche und Bedürfnisse, wiewohl dem Einzelnen unbewusst, ein Teil seiner selbst, richtiger: seines Selbst sind. Genauer: Es ist für den Einzelnen von größter Wichtigkeit, dass sie im Unbewussten gehalten werden, also nicht in das Bewusstsein aufsteigen. Es ist für das Gleichgewicht des neurotischen Ichs von entscheidender Bedeutung, dass die Abwehrmechanismen funktionieren.Wenn die im Unbewussten gehaltenen Triebe von innen gegen die Verdrängungsmechanismen anstürmen, wird dies vom Einzelnen - voller Angst und Schrecken - als Gefährdung seines eigenen Ichs erlebt. Gleichfalls gilt, dass eine Schwächung der Abwehrmechanismen, die außerhalb des Einzelnen ihre Ursache hat, von diesem als Bedrohung des eigenen Ego erlebt wird. Der Einzelne - soweit er neurotisch gebunden ist - steht also in einem Kampf um die Sicherung und um den Weiterbestand seiner eigenen Identität. Diesen Kampf um die eigene neurotisch gestützte Existenz führt er, indem er - in der Regel unter hohem Kraftaufwand - die eigenen Abwehrmechanismen instand hält, gegebenenfalls weiter ausbaut und/ oder den Verlockungen der ihn umgebenden Wirklichkeit entflieht, sie negiert oder gar zerstört. Er tut es, er muss es tun, weil und in dem Maße wie seine Neurosen nicht periphere Eigenschaften sind, sondern zum Kern seiner Identität gehören. Von entscheidender Bedeutung ist nun Folgendes: Es ist für den Einzelnen besonders schwer, die abgedrängten Neigungen und Triebe im Unbewussten zu halten, wenn die ihn umgebende Wirklichkeit ihm unübersehbar die Möglichkeit und die Attraktivität der Befriedigung eben dieser Bedürfnisse vor Augen führt. Da die so heraufbeschworene Gefährdung der neurotischen Identität vom neurotischen Ich als Bedrohung seines Selbst erlebt wird, erlebt es auch jene Möglichkeiten und Reize der Bedürfnisbefriedigung, welche ihm die Wirklichkeit anbietet, nicht als Reichtum und Chance, son- Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge · 297 <?page no="315"?> dern als Gefahr und Bedrohung.Was ihm eine Verlockung zur Lust sein könnte, erlebt es als Last der Verführung. Die Möglichkeiten, die ihm die Welt bietet, erlebt er nicht als Angebot für ein reicheres Leben, sondern - wenigstens zum Teil - als tödliche Gefahr für sein neurotisches Selbst. Entsprechend wird sich der innerlich unfreie Mensch dieser Möglichkeiten nicht - wie der innerliche freie - bemächtigen und sich ihrer bedienen, wie es ihm gefällt. Der neurotisch verengte Mensch überträgt vielmehr seine eigene Enge auf die ihn umgebende Wirklichkeit. Entweder übersieht er ihren Reichtum, oder aber er versucht, diese Vielfalt, soweit sie ihm gefährlich ist, zu zerstören. Die Verneinung des neurotisch unfreien Menschen endet im Extrem in der Destruktion der Wirklichkeit: Weil die Vielfalt der Welt nicht als Reichtum genutzt werden darf, muss die Welt verarmt werden. Die Möglichkeiten, welche die Wirklichkeit bietet, sollen so zurückgeschnitten werden, dass sie die Enge des neurotischen Ichs nicht überschreiten und überfordern. Die Bejahung des eigenen Ego erfolgt durch die wenigstens teilweise Verneinung der Realität. Es scheint nun keinen Grund zu geben, warum die neurotische Befindlichkeit des Einzelnen sich lediglich in den Grenzen seines privaten Lebens auswirken sollte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Einzelne auch als Bürger unter dem Diktat der aus dem Unbewussten an ihn ergehenden Verbote und Gebote steht. Mehr noch: Es ist eine plausible Hypothese, dass der Einzelne in seinem Bemühen, die zur Stützung seines neurotischen Selbst notwendigen Abwehrmechanismen zu entlasten und zu stützen, nicht nur als Privatmann, sondern gerade auch als Bürger agiert. Dazu Folgendes: Die Abwehrmechanismen, mit denen der Mensch sein neurotisch eingeengtes und gestütztes Ich vor dem Ansturm der ihn umgebenden und ihn bedrohenden Wirklichkeit schützt, lassen sich nur unter hohen Kosten und mit hohem Kraftaufwand aufrecht und funktionstüchtig halten. Selbst die nur vage geahnte Möglichkeit, die Abwehrdämme könnten nicht halten, löst Angst, wortwörtlich Existenzangst aus. Nun ist es durchaus möglich, dass der Einzelne in dieser Situation weitgehend allein seine Bedrohungsängste bewältigen kann. Er hat dann noch die Kraft, die Abwehrmechanismen zu verteidigen. Zwangshandlungen, Süchte, gelegentliche Depressionen und aggressive Ausbrüche mögen der Preis sein, den er und andere für den Erhalt des neurotischen Ichs zahlen müssen und (noch) zahlen können. B ... im privaten Umgang mit anderen ... Es mag aber auch sein, dass die für die Aufrechterhaltung der Abwehrmechanismen notwendige Energie seine Kraft zu überschreiten droht und sein Ich in seiner Existenz nachhaltig gefährdet ist. Jetzt steigt der Leidensdruck. Die Wahrscheinlichkeit wächst, dass er fremde Hilfe sucht. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. So mag der Mensch mit Anderen im privaten Raum ein neurotisches Arrangement eingehen, in dem sich zwei oder mehr in ihrer Unfreiheit komplementäre Menschen umklammern, sich gegenseitig stützen, und einer dem anderen bei der Abwehr der Wirklichkeit behilflich ist. Das neurotische Arrangement ist stabilisierend. Der Einzelne mag aber auch - noch immer im Raum seiner privaten Lebenssphäre - mit einem anderen ein therapeutisches Verhältnis eingehen. Er mag also in dem An- 298 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="316"?> deren jene Stütze und jenes Verständnis, jene Empathie und jene „geliehene“ Kraft finden, die es ihm erlauben, mit jener Angst umzugehen, welche den Abbau der neurotischen Abwehr begleitet, die es ihm auch gestattet, sich bislang negierten Teilen der Wirklichkeit zu stellen, sich also zu bislang verdrängten Wünschen und Bedürfnissen zu bekennen. Das therapeutische Verhältnis ist konstruktiv. Schließlich mag der Einzelne der Versuchung erliegen, jene Bedürfnisse, die ihn aus der Verdrängung heraus ängstigen, und jene Wirklichkeit, die ihn von außen bedrängt, dadurch zu bändigen, dass er sich jenem zuwendet, der ihm verspricht, seine vom Einsturz bedrohten Abwehrmechanismen von außen nicht nur zu stützen, sondern auszubauen. Er mag sich also jenem zuwenden, der verspricht, ihm Mittel und Wege zu zeigen, wie die Wirklichkeit zum Verschwinden gebracht werden kann, und zwar im Zweifel bis hin zu jenem Punkt, wo der Angst vor dem Zusammenbruch der Abwehrmechanismen - paradoxerweise - durch die Destruktion des eigenen Selbst ein Ende gemacht werden soll. Es ist dies eine pathogene Beziehung, ihrem Wesen nach ist sie destruktiv. C ... und als Bürger Der Einzelne kann demnach versuchen, dem Leidensdruck und der Existenzangst, wie sie als Folge der Gefährdung seiner Abwehrmechanismen entstehen, dadurch zu begegnen, dass er als Privatmann in ein neurotisches Arrangement eintritt, sich einem Therapeuten anvertraut oder sich einem Verführer ausliefert. Er mag aber auch versuchen, dem Leidensdruck und der Existenzangst dadurch entgegenzuwirken, dass er im politisch-öffentlichen Raum eine Lösung für seine Probleme sucht. Dies wird um so eher der Fall sein, je ungenügender die Möglichkeiten sind, die sich ihm im privaten Lebensbereich bieten. Wer als Privatmann keinen Partner für ein neurotisches Arrangement, keinen Therapeuten oder keinen Verführer gefunden hat, sucht ihn als Bürger, als Wähler oder als Politiker. Mit anderen Worten: Der Mensch versucht als homo politicus, in der Rolle des Wählers oder des Gewählten, seine privaten Neurosen in öffentliche Anliegen zu transformieren, wie der starke Ausdruck von Harold Lasswell lautet. Dieser Versuch wird dann am ehesten erfolgreich sein, wenn der einzelne Wähler mit seiner neurotischen Angst nicht allein ist, er also nicht ein isolierter Spinner bleiben muss, und wenn in der konkreten Situation ein Politiker auftritt, der bereit und in der Lage ist, in ein neurotisches Arrangement, eine therapeutische Beziehung bzw. in ein demagogisches Verhältnis einzutreten. Geschieht dies tatsächlich, dann ist die politische Auseinandersetzung in einer Demokratie nicht nur ein Konflikt über die Bedürfnisse, die in einer Gesellschaft befriedigt werden sollen, sondern auch ein Streit darüber, welche Bedürfnisse man in einer Gesellschaft haben darf. Es reduziert sich dann der politische Wettbewerb nicht nur auf die Frage, welche bewussten Wünsche und Bedürfnisse gestillt werden sollen. Der politische Wettbewerb erweist sich nun auch als eine Veranstaltung, in der darüber entschieden wird, welche Bedürfnisse und Wünsche aus der Verdrängung in das Licht des Bewussten aufsteigen oder aber im Dunkeln des Unbewussten gehalten werden. Wenn aber richtig ist, dass neben der Auseinandersetzung über die im Kollektiv zu befriedigenden Bedürfnisse auch eine Auseinandersetzung darüber stattfindet, welche Bedürfnisse man in einer Gesellschaft bewusst haben darf und welche in der Verdrän- Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge · 299 <?page no="317"?> gung zu halten sind, dann ist die Politik im Allgemeinen, die Demokratie im Besonderen der Ort, wo nicht nur über das Ausmaß und den Inhalt der äußeren Freiheit, d. h. über die Freiheit des Einzelnen von äußerem Zwang entschieden wird. Sie ist auch der Ort, wo um den Umfang und den Gehalt der inneren Freiheit, d. h. um die Freiheit des Einzelnen von neurotischen Zwängen gerungen wird. Die Demokratie ist also nicht nur ein Wettbewerb um die Befriedigung konkurrierender Bedürfnisse, sondern auch ein Wettbewerb widerstreitender Neurosen. Der Konflikt in einer Demokratie dreht sich demnach nicht nur um die materiellen Ressourcen der Welt. Er hat vielmehr auch die Brennweite jener Optik zum Gegenstand, mit der diese Welt wahr- und angenommen wird. Anders formuliert: Die Demokratie kann zu einer Ausweitung der inneren Freiheit oder aber zu einer Ausweitung der inneren Unfreiheit beitragen; sie kann eine therapeutische Veranstaltung, ein neurotisches Arrangement oder ein freiheitszerstörender Prozess sein. Ob sie das eine oder das andere ist, hängt davon ab, welche Art der Beziehung die Bürger untereinander als Wähler und Politiker eingehen und entwickeln. Hier können wir nun auf das zurückgreifen, was wir im privaten Lebensraum des Einzelnen kennengelernt haben. Wir wollen drei Arten von Beziehungen unterscheiden, die zwischen Wählern und Politikern bestehen können. Bezogen auf die jeweilige Art der Beziehung wollen wir dann von drei Politikertypen sprechen, - dem Amtsinhaber, - dem Staatsmann und - dem Demagogen. Der Amtsinhaber: Er ist der Exponent der jeweils gesellschaftlich dominierenden Neurosen. Seinen politischen Erfolg baut er darauf auf, dass er in den Augen seiner Wähler ein Garant dafür ist, dass die der bewussten Reflexion entzogenen Verbote und Gebote von außen nicht nur nicht gefährdet, sondern gestützt werden. Er steht in den Augen seiner Wähler als jener, der dafür sorgt, dass jene Zwänge und Phobien, an denen sie ihre eigene Identität zu einem mehr oder weniger großen Teil aufrichten, auch im politischen Raum ausgelebt werden. Der Amtsinhaber sorgt dafür, dass jene das Ich seiner Wähler bedrohenden Teile der Wirklichkeit aus dem politischen Diskurs ausgeklammert, also als Bedrohung des neurotisch abgesicherten Ichs neutralisiert werden. Sein politischer Erfolg gründet auf der Erwartung seiner Wähler, dass er in seiner politischen Analyse ein Bild der Realität anbietet, das alles, was ihren neurotischen Verboten zuwider ist, im trüben Licht des Unheils, und alles, was ihren neurotischen Geboten entspricht, in der Verklärung der Erfüllung erscheinen lässt. Der Amtsinhaber erledigt und regelt - nach Möglichkeit kompetent, denn auch daran wird er gemessen - jene Sachprobleme, denen sich seine Wähler bewusst stellen können. In dieser Tätigkeit ist er ein Gegenstand der Ökonomischen Theorie der Politik. Er hütet und pflegt aber auch - nach Möglichkeit umfassend, denn auch daran wird er gemessen - die Zwänge und Phobien, die er mit seinen Wählern gemeinsam hat. Allerdings unterscheidet er sich in einem Punkt von seinen Wählern: Seine neurotische Struktur ist solider als die ihre, seine Abwehrmechanismen sind funktionstüchtiger als die ihren.Wo sie schon befürchten müssen, dass ihre Abwehrmechanismen einstürzen und ihr neurotisches Ich unter dem Ansturm der Realität zerfällt, kann vom 300 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="318"?> Amtsinhaber erwartet werden, dass er in unerschütterlicher Ruhe den Schrecken und den Verlockungen der Wirklichkeit gewachsen ist. Er erweckt den Anschein der „force tranquille“ und ist in Wirklichkeit nur von einer neurotischen Borniertheit, die unerschütterlicher ist als die des gemeinen Bürgers. In aphoristischer Kürze: Der Erfolg des Amtsinhabers gründet darauf, dass er auf geradezu überdurchschnittliche Weise durchschnittlich ist. Der Amtsinhaber bietet sich seinen Wählern als Partner für ein neurotisches Arrangement an. Beide führt die gleiche Begrenztheit zusammen, und es hält sie das gemeinsame Interesse beieinander, diese Begrenztheit unter keinen Umständen zu thematisieren. Diese Art der Beziehung hat also, wenn überhaupt, ein außerordentlich geringes Entwicklungspotenzial. Sie kann sich deshalb auch kaum entwickeln, ohne ihren Charakter zu verändern, weil beide Seiten sie in der - wenn auch nicht ausdrücklich genannten - Absicht eingehen, jede Entwicklung unmöglich zu machen, die ihr neurotisches Gleichgewicht in Gefahr bringen könnte. Der Staatsmann: Er hat mit dem Amtsinhaber gemeinsam, dass ihm die neurotischen Zwänge und Phobien, die Ängste und Phantasien der Wähler nicht fremd sind. Doch während der Amtsinhaber die neurotische Enge und Ängstlichkeit der ihn politisch tragenden Bürger teilt, hat der Staatsmann sie für seine Person überwunden. Er ist, im Gegensatz zum Amtsinhaber, innerlich freier als seine Wähler. Doch hat er, ausgehend von der Unfreiheit, in der seine Wähler nach wie vor sind, diese seine größere innere Souveränität errungen. Hätte er die neurotische Enge seiner Mitbürger nicht gekannt, könnte er sich nicht empathisch in sie einfühlen. Hätte er diese neurotische Enge nicht für seinen Teil überwunden, so hätte er selbst nicht jene innere Freiheit, zu welcher er seine Mitbürger führen soll. Eigentlich erfüllt ein Staatsmann im Gesellschaftlich-Politischen jene Funktion, die im Individuell-Privaten der Psychotherapeut erfüllt: Geleitet durch seine Sensibilität und seine Empathie, in der Kraft seiner eigenen Freiheit, erschließt er seinen Patienten die Möglichkeit, sich aus der schützenden und einengenden Panzerung der Neurose herauszuwagen und zu größerer Freiheit zu gelangen; eine Freiheit, die sich in intensiverem Leben und Erleben sowie in einer gestärkten und erweiterten Leidens- und Glücksfähigkeit in einer nun größeren, reicheren und bunteren Welt auswirkt. Es entspricht der Art der Beziehung, die zwischen den Wählern und dem Staatsmann besteht, dass sie - ganz im Gegensatz zu dem Verhältnis des Amtsinhabers zu seiner Wählerschaft - außerordentlich spannungsgeladen und dynamisch ist. Sie ist nicht auf die Verteidigung von Grenzen und Abwehrbastionen ausgerichtet, sondern auf die Ausweitung der Lebens- und Erlebensmöglichkeiten der Bürger in der Politik und im Gemeinwesen. Dass dies mit Angst verbunden ist, wurde schon ausgeführt. Gleichfalls wurde schon darauf hingewiesen, dass die Funktion des Staatsmanns in der Hauptsache darin besteht, diese Angst zu bändigen, beherrschbar zu machen. Die Rolle des Staatsmanns besteht also im Wesentlichen darin, die mit der Lockerung neurotischer Fesselung verbundenen Schmerzen erträglich zu halten. Es sollte demnach nicht überraschen, wenn die Einstellung der Bürger zu dieser Art von Politiker ambivalent ist. Wie der Therapeut ist der Staatsmann jemand, der, indem er dazu beiträgt, dass der Panzer der Neurosen gesprengt wird, Schmerzen zufügt oder Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge · 301 <?page no="319"?> doch Schmerzen nicht vermeidet und betäubt. Wie der Therapeut ist der Staatsmann aber auch jemand, der die Möglichkeit zu neuen, ungeahnten und lustvollen Begegnungen mit sich selbst und der Welt eröffnet. Entsprechend liegen bei den Bürgern Aggressivität und Zuneigung, Ressentiment und Dankbarkeit gegenüber dem Staatsmann nicht selten eng beieinander, existieren sie in unauflösbarem Gemisch neben- und miteinander.Wo der Amtsinhaber wenigstens bei jenen, deren Neurosen er stützt, mit einer ruhigen Zustimmung rechnen kann, die im Wesentlichen aber nichts weiter als Betäubung und Langeweile ist, trifft der Staatsmann auf leidenschaftliche Ablehnung und - im Zweifel bei den gleichen Personen - auf gleichfalls leidenschaftliche Zuneigung. Der Demagoge: Wie dem Amtsinhaber und dem Staatsmann sind auch dem Demagogen die Zwänge und Phobien seiner Gefolgschaft nicht fremd. Im Gegenteil: Der Demagoge ähnelt in dem, was er wollen muss und nicht wollen darf, sowie in dem, was er kennen und anerkennen kann und verleugnen, verstümmeln und zerstören muss, seinen Wählern. Nur dass jener neurotisch verkrustete Teil im Haushalt seines Ego ein größeres Gewicht hat, als dies bei dem ihm folgenden Wählervolk der Fall ist. Vom Amtsinhaber unterscheidet sich der Demagoge dadurch, dass er in weit stärkerem Maße neurotisch fixiert und paralysiert ist als die Bürger, die seinen politischen Erfolg gewährleisten.Vom Staatsmann hingegen unterscheidet er sich dadurch, dass er in seiner Person die neurotische Unfreiheit nicht überwunden hat, welche die Lebens- und Erlebenswelt seiner Mitbürger einengt. Vielmehr ist er noch mehr als sie in den Möglichkeiten der Wirklichkeitsbegegnung eingeengt. Darüber hinaus: Der Demagoge ist in weit höherem Maße als seine Mitbürger an einer weiteren Einengung der Welt interessiert. Auch verfügt er mehr als sie über die Fähigkeit, dies zu bewerkstelligen. Im Letzten unterscheidet sich der Demagoge vom Staatsmann darin, dass dieser die Bürger in neue Freiheiten führt, während jener sie in tiefere Unfreiheiten verführt. Der Demagoge ist das Negativbild eines Therapeuten. Er liefert jene Rechtfertigung und Rationalisierung, er bietet jene Formen an, welche es erlauben, jene Verneinung in aller Offenheit glühend auszuleben, die vordem nur latent unter der aschgrauen Schicht bürgerlicher Respektabilität glimmend gerade noch bestehen konnte.Was eine diffuse private Angst vor dem Fremden, dem Anderen war, fokussiert er in dem einen Punkt eines allverzehrenden öffentlichen Hasses auf Juden, HIV-Positive, Homosexuelle,Türken und Behinderte.Was den unappetitlichen Hautgout privater Ressentiments hatte, erhebt er in den Rang einer politisch-moralischen Mission. An dieser Stelle ist vor einem Missverständnis zu warnen. Die hier skizzierten Politikertypen sind nicht Bündel von Merkmalen, die eine bestimmte Person in allen Situationen hat. Man kann also nicht sagen, dass der Politiker X ein Staatsmann ist.Vielmehr ist es so, dass ein Politiker, der mit den Bürgern unter bestimmten Umständen für eine bestimmte Zeit etwa in eine therapeutische Beziehung tritt, er damit wohl, aber nur in dieser Beziehung, ein Staatsmann ist. Wenn nun bei der Analyse der drei Politikertypen die Beziehung zwischen Politiker und Bürger das entscheidende Element ist, dann ist zu fragen, - was jeweils in den einzelnen Beziehungstypen geleistet bzw. was nicht geleistet wird und - welches jeweils die Dynamik der einzelnen Beziehungstypen ist. 302 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="320"?> Oben wurde ausgeführt, dass die Ruhe und Gelassenheit des Amtsinhabers nicht der Ausdruck großer innerer Souveränität, sondern einer besonders wenig ausgeprägten Sensibilität sind. Dies darf jedoch nicht zu dem vorschnellen Urteil verleiten, dass Amtsinhaber im Staatswesen Versager sind. Es ist vielmehr so, dass sie innerhalb ihres Wahrnehmungs- und Werthorizontes gute, wenn nicht sogar sehr gute Arbeit leisten können. Wenn der Amtsinhaber auch nicht vermag, den Zugang zu jenen Lebensbereichen zu öffnen, die jenseits der neurotischen Abwehrgrenzen der Bürger liegen, und den Bürgern neue Begegnungsmöglichkeiten mit der Wirklichkeit zu erschließen, so muss die Bilanz seiner Amtsführung doch nicht durchgehend negativ sein. Seine Tätigkeit hat im Zweifel auch eine effiziente Gestaltung der Wirklichkeit diesseits der Abwehrgrenzen gebracht. Gewiss mag auch ein Amtsinhaber innerhalb dieser Grenzen versagen, d. h., die bewussten und bejahten Bedürfnisse der Bürger nicht so weit befriedigen, dass sie ihn noch wählen mögen. Doch besteht das Versagen des Amtsinhabers auf die Dauer typischerweise in dem, was seinen anfänglichen Erfolg ausgemacht hat, also in der Unerschütterlichkeit seiner Abwehrmechanismen. In dem Maße nämlich wie die Bürger doch jenseits und abseits der Abwehrtechnik des Amtsinhabers das Drängen der eigenen Triebe ahnen, fühlen sie sich vom Amtsinhaber nicht mehr verstanden. Was ehedem als „Gelassenheit“ begrüßt wurde, wird nun als Unempfindlichkeit abgelehnt. Es ist dann auch diese wechselseitige Entfremdung, die es auf die Dauer dem Amtsinhaber schwer, ja unmöglich macht, eine diesseits der Grenzen der Abwehrmechanismen verortete Politik, selbst wenn sie „gut“ ist, als seinen Erfolg zu verbuchen. Er kommt nicht mehr an. Und dies, weil nunmehr auch Probleme angegangen werden müssten, die vordem nicht einmal benannt werden konnten.Was aber auch heißt, dass der Amtsinhaber Probleme hinterlässt, die nun mit besonderer Dringlichkeit nach einer Lösung rufen, weil sie vordem nicht einmal gestellt werden konnten. Er hinterlässt aber auch gleichermaßen „ruhende“ Probleme, die deshalb nun vernachlässigt werden können, weil sie ehedem nicht nur mit großer Deutlichkeit benannt, sondern auch einigermaßen effizient angegangen worden sind. Diese Probleme können nun aus dem politischen Diskurs, aus der öffentlichen Auseinandersetzung herausgehalten werden, weil sie entweder gelöst und damit aus der Welt geschafft sind, oder aber weil für ihre immer neu in Angriff zu nehmende Bewältigung Institutionen und Organisationen geschaffen worden sind. Sie sind also aus dem Raum der politischen Willensbildung in den Raum der Sachbearbeitung durch die Verwaltung transportiert worden. Wie auch immer: Der Amtsinhaber hinterlässt nicht nur bislang nicht benannte, sondern auch inzwischen erledigte bzw. sich erledigende Probleme. Und beides ist für die Zeit nach dem Abgang des Amtsinhabers von Bedeutung. Die ruhenden Probleme schaffen jene Entlastung, die es seinem Nachfolger erlaubt, seine Aufmerksamkeit in diesem oder jenem Sinne auf andere bisher abgewehrte Probleme zu konzentrieren. Wo das Ordentliche erledigt ist oder sich von selbst erledigt, kann man sich dem Außerordentlichen zuwenden. Allerdings ist es durchaus denkbar, dass der Amtsinhaber als Amtsinhaber scheitert, er also kein wohlbestelltes Haus hinterlässt, wenn er abtritt. Entsprechend wird es ein Staatsmann schwer haben, mangels hinreichender Regelung des Ordentlichen die Bürger dem Außerordentlichen zuzuführen. Wie oben dargestellt worden ist, konzentriert der Staatsmann seine Bemühungen auf die Ausweitung des Freiheitsraumes seiner Mitbürger. In dem Maße wie er ein Staats- Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge · 303 <?page no="321"?> mann, nur ein Staatsmann ist, vernachlässigt er den Bereich des Tagtäglichen, des Problemlosen. Man erinnere sich an die Verachtung de Gaulles für die „intendance“, für den Tross. Wie einen Therapeuten bei der Arbeit mit dem Patienten interessieren ihn die Details des Tagtäglichen nur soweit, wie sie von symptomatischer Bedeutung für die Diagnose der neurotischen Befindlichkeit sind, wie sie Ansatzpunkte für das therapeutische Bemühen abgeben. Dies kann er auch - vorerst ohne Folgen - tun, weil der Amtsinhaber neben ungestellten Fragen eben auch gelöste oder sich gleichsam automatisch lösende Probleme hinterlassen hat. Allerdings: Mag dies während einer bestimmten Zeit gutgehen, so ist es doch wenig wahrscheinlich, dass es auf die Dauer so bleibt. Mag die „intendance“, der Tross, in den Augen des Schlachtenlenkers von nur sehr relativer Bedeutung sein, so wurden doch schon Kriege verloren, weil die Logistik versagte. Und in der Tat: Mögen während einer bestimmten Zeit die Probleme des Gemeinwesens verwaltungsmäßig erledigt, routinemäßig abgehandelt werden, so ist es auf die Dauer unumgänglich, dass sie (wieder) als politische Entscheidungsgegenstände angegangen werden. Dies zumindest früher oder später. Es ist in diesem Zusammenhang von symptomatischer Bedeutung, dass die Herrschaft von Staatsmännern sich oft durch einen Widerspruch auszeichnet. Einerseits gibt es die Erregung des Aufbruchs zu neuen Horizonten, andererseits gibt es die aussichtslose Langeweile der Routine. Einerseits gibt es das mitunter dramatische Ringen des Staatsmanns mit seinem Volk um größere Freiheiten, andererseits gibt es die gedankenlose Nachlässigkeit des Tagesgeschäftes. Die Herrschaft des Staatsmannes wird also gleichzeitig durch eine höchst spannungsgeladene Intensität und eine intensive Spannungslosigkeit geprägt. Auch hier ist demnach die Nachlassenschaft weder durchgehend positiv noch ausschließlich negativ. Denn während der Amtsinhaber ruhende Probleme und eine reduzierte Möglichkeit hinterlässt, Probleme anzugehen, besteht das Erbe des Staatsmannes in zunehmend unruhiger werdenden Problemen und zugleich in erweiterten Möglichkeiten, Probleme anzugehen. Damit aber macht sich der Staatsmann, eben indem er seine Aufgabe erfüllt, überflüssig. Er wird aber auch allmählich für das Gemeinwesen zur Belastung. Das Außerordentliche hat er getan, und für das Ordentliche hat er als Staatsmann kein Auge. Kein Wunder, dass die Gesellschaftsmitglieder des Staatsmanns allmählich überdrüssig werden. Dankbar und erleichtert verabschieden sie ihn. Die Stunde des Demagogen schließlich schlägt um so eher, je nachhaltiger und länger es dem Amtsinhaber gelungen ist, durch die Solidität seines Abwehrsystems die Bürger von einer sie beunruhigenden Realität abzuschotten. Je länger der Traum gedauert hat, desto brutaler ist das Erwachen. Der Demagoge erweist sich hierin, wie der Staatsmann, als der Erbe des Amtsinhabers. Wie dem Staatsmann, erwächst ihm seine Chance aus den mit Hilfe des Amtsinhabers aus dem politischen Diskurs herausgehaltenen Fragen, also aus den verdrängten Wirklichkeitsaspekten. Aber noch in anderer Hinsicht tritt der Demagoge die Hinterlassenschaft des Amtsinhabers an.Wie der Staatsmann tritt er im günstigen Fall in ein wohlbestelltes Haus. Die 304 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="322"?> Fragen und Probleme, die diesseits der Abwehrgräben des Amtsinhabers und seiner Wähler lagen, sind nun gelöst oder aber über das wohl eingespielte Funktionieren der Institutionen und über die Routine der wohleingeübten Usancen im Griff. Der Demagoge kann also, weil er sich den Tagesgeschäften versagen kann, seine volle Aufmerksamkeit den Ängsten der Bürger widmen. Er kann sie nun als Energiequellen für den Marsch in die größere Unfreiheit missbrauchen. Es ist zuzugeben: Die These, dass der Demagoge in der Lage sein muss, auf ein bestimmtes Maß an Ordnung zurückzugreifen, ist einigermaßen überraschend. Entgegen aller Vermutung ist der Demagoge nicht der Sohn des sozialen Chaos; und dies entgegen der gängigen Überzeugung, dass allein die gesellschaftliche Unordnung der Boden ist, aus welchem dem Demagogen die Chancen erwachsen. An dieser gängigen Sicht ist richtig, dass die Chancen des Demagogen aus der Verwirrung der Geister, aus der Bedrohung einer neurotisch gestützten Sicht der Weltordnung entstehen. Daran ist aber falsch, dass der Demagoge ohne die Absicherung durch funktionierende Institutionen und eingespielte Usancen Karriere machen kann: Ohne die nach wie vor hervorragende deutsche Verwaltung, ohne die nach wie vor funktionierenden Institutionen, ohne eine nach wie vor geltende Staatstreue und Staatsloyalität der Bürger wäre Hitler vermutlich in seinen ersten Anfängen steckengeblieben. Wie der Staatsmann ist der Demagoge in einem doppelten Sinne der Nachfolger des Amtsinhabers, dessen Erbschaft er antritt. Die bislang nicht benannten, nach dem Kollaps des Abwehrsystems sich mit traumatischer Gewalt stellenden Probleme schaffen die Chancen für den Demagogen. Und: Die vom und unter dem Amtsinhaber eingefahrene Gewöhnlichkeit, die Tragfähigkeit der Institutionen und Usancen schaffen die Möglichkeit, dass ein Politiker diese Chancen als Demagoge wahrnehmen und realisieren kann. Ob in der konkreten Situation nach dem Amtsinhaber der Demagoge oder der Staatsmann eine Chance hat, hängt wesentlich von der „Therapiefähigkeit“ der Bürger ab. Vereinfachend kann man zwei Fälle unterscheiden. Der erste Fall: Der Amtsinhaber war in der Lage, die öffentlichen Abwehrmechanismen solange aufrechtzuerhalten, dass dann, wenn er abtritt, die nun über den Bürgern hereinbrechende Wirklichkeit deren Abwehrmechanismen zum Einsturz bringt.Wenn nun noch die Bereitschaft und die Fähigkeit bestehen, sich mit fremder Hilfe den ins Bewusstsein drängenden Trieben und Möglichkeiten zu stellen, hat der Staatsmann eine Chance.Andernfalls - dies der zweite Fall - hat die Stunde des Demagogen geschlagen. Doch wenn sich der Demagoge und der Staatsmann auch im Ausgangspunkt ihrer Karriere nicht unähnlich sind, so könnten die Ergebnisse, der logische Endpunkt ihrer Laufbahn nicht gegensätzlicher sein.Wohl zehrt der Staatsmann vom Kapitalstock der vom Amtsinhaber etablierten Gewöhnlichkeit, der eingespielten Normalität und Funktionstüchtigkeit der politischen Einrichtungen. Doch vergrößert und verstärkt er auch die Freiheitsfähigkeit der Bürger, ihren Realitätssinn und ihre Sensibilität für verantwortete Wertengagements. Der Staatsmann stärkt also die ordnende Kraft des Geistes, die intellektuelle und moralische Reife seiner Mitbürger und nimmt dafür eine Erschütterung jener äußeren Ordnung in Kauf, die auch in geistloser Routine und unreflektiertem Gehorsam gegenüber dem Althergebrachten ihren Grund hat. Exkurs: Amtsinhaber, Staatsmann, Demagoge · 305 <?page no="323"?> Der Demagoge seinerseits schwächt ebenfalls, indem er von ihr zehrt, die vom Amtsinhaber hinterlassene Ordnung.Aber - und dies ist der entscheidende Unterschied zum Staatsmann - er schwächt die intellektuelle und moralische Reife seiner Gefolgsleute, er treibt sie in die größere Unfreiheit rigoroser werdender Verbote und Gebote, unerbittlicher werdender Zwänge und Ängste. Der Demagoge fordert einen Preis und liefert - abgesehen vom dubiosen Komfort sich verstärkender Neurosen, von der zweifelhaften Lust verbissener Destruktivität - nichts. Die Bilanz des Demagogenregimes ist also durchgehend negativ. Das aber bedeutet auch, dass der Demagoge - kann er seinen Weg bis zu seinem logischen Ende fortsetzen - nichts hinterlässt, worauf jene, die nach ihm kommen, aufbauen könnten. Schlimmer noch: Er hinterlässt eine Hypothek, die erst abgetragen werden muss, wenn nach seinem Abgang ein neuer Anfang gemacht werden soll. Die Verwirrung der Geister und die Zerrüttung der Institutionen müssen einigermaßen überwunden werden, ehe ein anderer Politikertyp überhaupt eine Chance haben kann. So brauchte es denn auch die Hilfe von außen, damit auf den Trümmern des Dritten Reiches die Bundesrepublik errichtet werden konnte. Literatur zum Exkurs Adorno, T.W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D. J. et al.: The Authoritarian Personality, New York 1950. Arendt, H.: Elemente totaler Herrschaft, Frankfurt 1958. Freud, S.: Das Ich und die Abwehrmechanismen, München 1958. Freud, S.: Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt 1974. Fromm, E.: Furcht vor der Freiheit, Frankfurt 1971. Goffman, E.: Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity, Englewood Cliffs 1963. Hoffer, E.: The True Believer, New York 1951. Horney, K.: Der neurotische Mensch unserer Zeit, München 1964. Kirsch, G., Mackscheidt, K.: Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber: Eine psychologische Ergänzung der ökonomischen Theorie der Politik, Göttingen 1985. Kirsch, G., Mackscheidt, K.: Politik - Markt der Interessen oder Forum der Leidenschaften, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 5,Tübingen 1986. Lasswell, H. D.: Psychopathology and Politics, Chicago 1930. Neel, A. F.: Handbuch der psychologischen Theorie, 2.Aufl., München 1969. Roazen, P.: Freud: Political and Social Thought, New York 1968. 2.8 Angst und Furcht in Wirtschaft und Politik Der im vorhergehenden Exkurs dargestellte Versuch, mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien dem „Menschlich-Allzumenschlichen“ jenseits des bewussten Kosten-Nutzen-Kalküls des „Rational Man“ nachzuspüren, mag wegen seiner allzu großen Distanz zur ökonomischen Theorie der Demokratie auf Vorbehalte stoßen. Sollte dies der Fall sein, so sei auf Ansätze hingewiesen, die Gefühle wie etwa Neid, den Wunsch nach Fairness, das Bedürfnis, nicht nur etwas haben zu wollen, sondern auch jemand zu sein, in größerer Nähe zur ökonomischen Theorie berücksichtigen wollen. An dieser Stelle können nicht alle diese Versuche explizit vorgestellt werden. Es muss genügen, an einem Beispiel zu zeigen, dass dies durchaus möglich und erfolgversprechend ist. 306 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="324"?> Die Gefühle, die hier beispielhaft aufgegriffen und im engeren Sinn ökonomisch behandelt werden, sind das Gefühl der Angst und das Gefühl der Furcht. Diese darzustellen empfiehlt sich allerdings nicht nur deshalb, weil hier die Analyse mit Hilfe ökonomischer Begriffe besonders einleuchtend ist, sondern auch, weil Angst und Furcht eine nicht wegzuleugnende Bedeutung in Politik und Wirtschaft spielen; dies unbeschadet der Tatsache, dass diese Gefühle bis in die jüngere Gegenwart in der Öffentlichkeit totgeschwiegen und in der Theorie vernachlässigt worden sind. Es ist hilfreich, mit einer Klarstellung der Begriffe Angst und Furcht zu beginnen: Während die Angst ein diffuses Gefühl der Bedrohung ist, besteht die Furcht in dem Gefühl einer identifizierten Bedrohung. Man fürchtet sich vor etwas; doch hat man schlicht Angst. Ausgehend von dieser Unterscheidung zwischen Angst und Furcht ist - erstens - zu fragen: Haben die Menschen, und wenn ja, warum und wieviel Angst? Und zweitens: Transformieren die Menschen, und wenn ja, warum und wie ihre Angst in Furcht? Zur ersten Frage: Nicht nur, aber verstärkt als Folge der mit dem Modewort Globalisierung angesprochenen Entwicklung erleben gegenwärtig viele Menschen, dass die für ihr Leben, ihr Wohlleben und ihr Überleben relevante natürliche und gesellschaftliche Welt nicht nur sehr weiträumig, sondern auch bis zur Undurchschaubarkeit komplex (geworden) ist. Man kann es auch so sagen: Viele sollen, ja müssen ihr Leben, Wohlleben und Überleben in einer Welt bewerkstelligen, über die sie - etwa über das Internet - jede Menge Informationen haben können, über die es ihnen aber an einem konsistenten und sinnhaften Wissen fehlt. Sie ahnen, dass vieles, über das sie informiert sind, für ihr Schicksal von Bedeutung sein kann, nur wissen sie nicht, wie und in welchem Ausmaß, wenn überhaupt, es sie und ihr Leben tangiert. Entsprechend müssen sie damit rechnen, dass die Welt, in der sie leben, Gefährdungen birgt, deren Art sie nicht kennen und deren Eintretenswahrscheinlichkeit sie nicht berechnen können. Gewiss, diese Welt mag auch Beglückungen in sich tragen, deren Art und Eintretenswahrscheinlichkeit ihnen unbekannt sind, doch ist die Annahme plausibel, dass eher das Gefühl der potenziellen Gefährdung als jenes der möglichen Beglückung verbreitet ist. Paradoxerweise sind es also gerade die Vielzahl und die Vielfalt von Informationen, über welche der Mensch heute kostengünstig verfügt oder doch wenigstens verfügen kann, die dazu beitragen, dass seine Lebenswelt für ihn von geradezu undurchschaubarer Komplexität geworden ist. Wegen, nicht aber trotz einer überbordenden Informationsfülle über die Welt fehlt es dem Einzelnen an einem konsistenten und sinnhaften Wissen über die für ihn relevante Welt. Dies ganz im Gegensatz etwa zu dem Menschen des Mittelalters. Dieser verfügte über weit weniger Informationen als der moderne Mensch, doch hatte er über seine vergleichsweise enge Lebenswelt ein (vielleicht aus heutiger Sicht falsches, aber ihm als richtig geltendes) konsistentes und sinnhaftes Wissen. In dem Maße nun, wie der Einzelne heute über die für ihn und sein Leben relevante Welt zwar im Prinzip gut informiert ist, aber im Zweifel wenig weiß, ist die Annahme plausibel, dass er vor dieser Welt - wenn er sich denn nicht, voll Vertrauen in die Menschenfreundlichkeit der Welt, als Hans-im-Glück sieht - Angst hat. In dieser Welt Angst und Furcht in Wirtschaft und Politik · 307 <?page no="325"?> kann ihm im Zweifel jedes Unheil drohen; und er weiß selten mit einiger Gewissheit, vor was er sich eigentlich fürchten soll. In dem Maße nun, wie dies der Fall ist, also die Angst, vorerst aber weniger die Furcht ein wichtiges Lebensgefühl ist, erweisen sich zwei Verhaltensmuster als naheliegend - und wenig hilfreich: Für jenen, der im Prinzip durch alles und jedes gefährdet werden kann, ist es nicht sinnvoll, offensiv etwas Bestimmtem entgegenzuarbeiten; auch macht es unter diesen Umständen keinen Sinn, vor etwas Bestimmtem die Flucht zu ergreifen. Allenfalls bietet es sich an, aggressiv gegen alles und jedes vorzugehen oder aber vor allem und jedem zu flüchten. Und sollten weder die Aggression gegen noch die Flucht vor allem und jedem möglich sein, so bleibt dann, wenn die Angst ein gewisses Maß übersteigt, nur noch die katatone Erstarrung: Wem es gelungen ist, alle Lebendigkeit in sich abzutöten, kann von nichts und niemandem bedroht werden. Diese angstinduzierten Verhaltensweisen haben eines gemeinsam: Sie sind nicht konstruktiv; im Gegenteil.Allerdings sollte daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass die Angst als ein durchgehend disfunktionales Gefühl abzuwehren ist. Wer nämlich keine Angst hat, dem fehlt die Sensibilität für mögliche Gefahren. Es ist geradezu existenznotwendig, angstfähig zu sein. Allerdings: So wichtig es ist, Angst haben zu können, so wichtig ist es auch, dass es nicht bei diesem diffusen Gefühl der Angst bleibt, sondern dass es gelingt, diese diffuse Angst in eine konkrete Furcht zu transformieren. Soll nämlich ein konstruktives Verhalten möglich werden, so ist es nötig, dass jene Gefahren identifiziert werden, die entweder gezielt-offensiv angegangen werden sollen bzw. vor welchen die Flucht zu ergreifen ist. Die Transformation der diffusen Angst vor allen und jedem in eine konkrete Furcht vor diesem oder jenem ist eine notwendige Bedingung für das gezielte Streben nach Leben, Wohlleben und Überleben. (Im Übrigen scheint der Hang, Angst in Furcht umzuwandeln, uns evolutionsgeschichtlich einprogrammiert zu sein: Wer nachts ein verdächtiges Geräusch im Hause hört, hat Angst; und - von dieser Angst getrieben - sucht er solange, bis er jene Ratte gefunden hat, vor der er sich fürchten kann und die er jagen oder vor der er weglaufen kann.) Zusammenfassend: Wer angstunfähig ist oder seine Angst nicht in Furcht umsetzen kann, lebt im Zweifel nicht nur schlecht, sondern auch eher kurz. Man kann allerdings davon ausgehen, dass die meisten Menschen angstfähig sind und darnach streben, ihre Angst in Furcht zu transformieren. Mit anderen Worten: Der Mensch kann offensichtlich eher mit der Furcht als mit der Angst umgehen. Also drängt es ihn, Dinge, Tatbestände, Menschen, Entwicklungen auszumachen, vor denen er sich fürchten kann: Die Angstbesessenheit wird als Gier nach Fruchtobjekten ausgelebt. Und in dem Maße, wie - als Folge des wohl immer ungenügenden konsistenten und sinnhaften Wissens über die Welt - die Angst in keinem Furchtobjekt ganz und endgültig konkretisiert werden kann, ist zu erwarten, dass die Suche nach immer neuen Furchtobjekten immer wieder aufgenommen werden muss. Und sollte gerade mal kein Objekt gefunden werden, vor dem man sich hinreichend fürchten kann, dann mag man noch immer welche erfinden. Entweder findet man etwa Elektrofelder, SARS-Viren, Skins, die man fürchten kann, oder aber man erfindet „aliens“, die zum Fürchten sind. Dabei ist es vorerst unwichtig, ob die Elektrofelder, die Viren, die Skins und die „aliens“ in Tat 308 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="326"?> und Wirklichkeit gefährlich sind; entscheidend ist vorerst nur, dass sie als konkrete Gefahr, also als furchterregend von jenen wahrgenommen werden, deren Angst in Furcht transformiert werden soll. Man kann es auch so sagen: Angetrieben durch die Angst entwickeln die Menschen eine Nachfrage nach Furchtobjekten. Ist aber erst von einer Nachfrage die Rede, dann drängt es sich auf, nach dem Angebot Ausschau zu halten. Dieses Angebot ist schnell gefunden; in der Tat lassen sich auf dem Marktplatz der Wirtschaft und auf dem Forum der Politik verschiedene Kategorien von Akteuren identifizieren, die ihre eigene Wohlfahrt dadurch erhöhen wollen, dass sie auf der Angebotsseite auf die Nachfrage reagieren. Da sind - erstens - jene, die in der Politik bzw. in der Wirtschaft Furchtobjekte anbieten: Ein Wissenschaftler, der zu Recht oder auch nur glaubwürdig nachweist, dass BSE durch das Essen von Kalbshirn auf den Menschen übertragen wird, bietet das Kalbshirn als ein Furchtobjekt an, das erlaubt die diffuse Existenz- und Lebensangst zu konkretisieren; ein Politiker, dem es gelingt, die Muslime als Bedrohung zu vermitteln, bietet diese als Furchtobjekte an; und: Ein Unternehmer, dem es gelingt die „kleinen Fältchen“ als konkrete Bedrohung für das Wohlergehen glaubhaft zu machen, bietet die Runzeln des Älterwerdens als Furchtobjekte an. Zweitens gibt es Akteure, die ihre eigenen Zwecke dadurch zu erreichen suchen, dass sie Furchtobjekte, die von den erstgenannten gleichsam „produziert“ worden sind, vermitteln: Mit einer glaubwürdigen Story über krebsverdächtige, bei der Baumwollverarbeitung gebräuchliche Chemikalien und die potenzielle Gefährlichkeit von bestimmten Textilien lassen sich auflagenfördernde Schlagzeilen machen: „Der Tod kommt im T-Shirt.“ Neben den Anbietern und den Verbreitern von Furchtobjekten gibt es auf dem Markt von Furchtobjekten - drittens - eine Kategorie von Menschen, deren Angebot darin besteht, Objekte, die anderweits als furchteinflößend angeboten worden sind, als harmlos auszuweisen. Allerdings kann man den Eindruck haben, dass über das „Verharmlosen“ als solches vergleichsweise wenige Erfolge zu erwarten sind. Zu stark ist das Bedürfnis nach Furchtobjekten, als dass sich die Menschen so ohne weiteres von jenen trennen wollten, in welchen sie gerade ihre Angst konkretisiert haben. In den meisten Fällen dürfte es nur dann gelingen, Furchtobjekte als harmlos glaubhaft zu machen, wenn gleichzeitig andere Objekte angeboten werden, die an ihrer Stelle als bedrohlich gefürchtet werden können. Dies mag übrigens erklären, warum sich in unserer Gesellschaft die Furchtobjekte in schneller Folge verändern: Was gestern gefürchtet wurde, ist heute als harmlose Banalität vergessen, und was heute gefürchtet wird, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit morgen als Bedrohung nicht mehr wahr-, jedenfalls weniger ernstgenommen. Es gibt Ausnahmen, doch bestätigen diese in ihrer Seltenheit die Regel. Eine vierte Art von Akteuren tritt als Anbieter auf dem Markt der Furcht auf; hierbei handelt es sich um jene, die Mittel und Wege, Techniken und Strategien, Instrumente und Rezepte anbieten, um jenen konkreten Bedrohungen, die gerade als furchterregend gelten, zu begegnen: BSE - eine furchterregende Gefahr; Gegenmaßnahme - Kalbshirn meiden. Al Kaida - eine furchterregende Gefahr; Gegenmaßnahme - Verstär- Angst und Furcht in Wirtschaft und Politik · 309 <?page no="327"?> kung von Sicherheitsvorkehrungen und „preemptive strikes“. „Kleine Altersfältchen“ - furchterregende Gefahr; Gegenmaßnahme - regelmäßiges Auftragen der Feuchtigkeitscrème X. Diese vier Typen von Akteuren - die (Er)finder von Furchtobjekten, die Verbreiter von Furchtobjekten, die Verharmloser von Furchtobjekten, die Anbieter von Techniken und Mitteln der Gefahrenabwehr - auf dem Markt für Furchtobjekte sind hier analytisch auseinander gehalten. Dies bedeutet nicht, dass zwei oder gar mehr Akteurstypen in einem Anbieter vereint sein mögen. Dazu zwei Beispiele: Ein Politiker sucht etwa den Erfolg bei den Wählern, indem er deren diffusen Ängste in die konkrete Furcht vor einer terroristischen Bedrohung umsetzt. Gleichzeitig bietet er jene Mittel an, die geeignet sind (oder doch sein sollen), mit dieser Bedrohung fertigzuwerden. Oder: Ein Zigarettenfabrikant transformiert die diffuse Angst pubertierender Jugendlicher in die konkrete Furcht vor einer defizitären Männlichkeit und bietet ein Mittel gegen diese konkrete Bedrohung an: Durch das Rauchen einer bestimmten Zigarette kann sich der junge Mann seiner Männlichkeit im Kreise richtiger Männer vergewissern. Die Kombination der Typen drei und vier in einem Akteur ist recht häufig anzutreffen; nicht ohne Grund.Wenn nämlich Politiker, Unternehmer, Publizisten usw. dazu neigen, gleichzeitig Furchtobjekte sowie Mittel und Instrumente anzubieten, mittels welcher den entsprechenden Gefahren begegnet werden kann, so deshalb, weil man das Interesse der Menschen dann am ehesten weckt, wenn man sie bei ihren Ängsten anspricht und ihnen Furchtobjekte anbietet; und: Weil die Menschen um so eher zu einem bestimmten Verhalten motiviert werden, wenn man ihnen Instrumente aufzeigt, mittels derer die konkrete Bedrohung und Gefahr abgewendet werden kann.Wenn dem aber so ist, dann liegt es etwa für einen Politiker bzw. für einen Unternehmer nahe, die Wähler bzw. die Kunden bei ihrer Angst zu packen und sie an der Leine ihrer Furcht zu führen: „Du hast Angst. In Wirklichkeit fürchtest Du Dich vor terroristischen Anschlägen. Unterstütze meine Politik der Terrorismusbekämpfung und Deine Sicherheit vor terroristischen Anschlägen ist gewährleistet.“ Auf den ersten Blick mag es geradezu zynisch scheinen, die Politik und die Wirtschaft als gesellschaftliche Räume zu sehen, in welchen Angst in Furcht umgesetzt wird, in welchen die Menschen geradezu das Fürchten lernen können und in welchen in mehr oder weniger schneller Folge mal diesen, mal jenen Furchtobjekten begegnet wird. Man mag gar der Ansicht sein, dass es eine pathologische Entartung von Politik und Wirtschaft ist, wenn in ihnen Angst und Furcht überhaupt ein Thema sind. So mag man insbesondere der Ansicht sein, dass wohl in freiheitsfeindlichen, nicht aber in liberalen Gesellschaften die Menschen Angst und Furcht haben. So plausibel diese Ansicht auch klingen mag, so zweifelhaft ist es, dass sie richtig ist. Es ist nämlich für den Einzelnen höchst funktional, dass er nicht mit einer Lebens- und Weltangst konfrontiert bleiben muss, angesichts derer er nur vor allem fliehen bzw. alles angreifen oder aber in katatoner Leb- und Weltlosigkeit erstarren müsste. Indem seine Angst in Furcht umgesetzt wird, wird wenigstens eine notwendige Bedingung dafür erfüllt, dass der Einzelne gegenüber sich selbst, den Mitmenschen und den Dingen dieser Welt ein zielgerichtetes und wenigstens nicht allgemein aggressives bzw. 310 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="328"?> destruktives, sondern gar ein konstruktives Verhalten entwickeln kann. In etwas anderer Formulierung: Die Umwandlung von Angst in Furcht erlaubt es dem Menschen, den Preis des Lebens in dieser Welt nicht in den großen Scheinen der Existenzangst, sondern in der kleinen Münze des Fürchtens zu zahlen. Auch ist die Umsetzung von Angst in Furcht für das gesellschaftliche Zusammenleben von Wert. Indem sich nämlich auf diese Weise den Gesellschaftsmitgliedern die Möglichkeit eröffnet, nicht umfassend destruktiv miteinander umzugehen, sondern offensiv aufeinander zuzugehen oder sich aus dem Wege zu gehen, sinkt das Agressionspotenzial in der Gesellschaft.Wenn es in liberalen Gesellschaften - trotz aller nicht zu leugnenden (Selbst)destruktivität - verhältnismäßig friedlich und konstruktiv zugeht, so wohl auch deshalb, weil sich die Menschen der Angst nicht unmittelbar, sondern vermittelt über Furchtobjekte stellen müssen. Die verbreitete Vorstellung, dass die Menschen in Diktaturen, nicht aber in liberalen Ordnungen Angst und Furcht haben, muss als irrig zurückgewiesen werden. Dies bedeutet nicht, dass es zwischen liberalen und unliberalen Regimen bezüglich Angst und Furcht keinen Unterschied gibt. Dazu Folgendes: Während in liberalen Regimen die Einzelnen durchaus frei sind, Angst zu haben, sie also vor sich und - besonders wichtig - in der Öffentlichkeit bekunden dürfen, dass sie und wieviel Angst sie haben, ist dies typischerweise in Diktaturen nicht der Fall. Hier entscheidet wenigstens im Prinzip, d. h. nach Maßgabe seiner Zugriffs- und Kontrollmöglichkeiten, der Diktator bzw. sein Regime, ob und, wenn ja, wieviel Angst zu haben erlaubt ist. Ein Einzelner in Nordkorea kann nicht öffentlich bekennen, dass er Angst hat; und sollte er doch welche haben, so muss er - auch dies im Unterschied zu einer liberalen Gesellschaft - mit dieser Angst allein bleiben. Man kann geradezu sagen, dass Diktaturen, im Gegensatz zu Demokratien, sich auch dadurch auszeichnen, dass der Mensch in der Öffentlichkeit bezüglich der Angst, die er haben darf, nicht mit dem Monopolanspruch des Machthabers konfrontiert ist. Ein weiterer Unterschied ist festzustellen: In einer liberalen Gesellschaft werden im demokratischen und im marktwirtschaftlichen Prozess idealerweise Furchtobjekte in Konkurrenz angeboten. Dies bedeutet, dass Vieles und Vielfältiges als furchterregendgefährlich vorgestellt und angeboten werden kann, das dann wiederum durch Vieles und Vielfältiges, das seinerseits furchterregend zu sein vorgibt, relativiert, gar verdrängt werden kann. Für den Einzelnen bedeutet dies, dass er die Wahl hat zu entscheiden, was er fürchten will, in welche Furcht er seine Angst transformieren will. Im Gegensatz zu einer Diktatur hat der Einzelne in einer liberalen Gesellschaft idealerweise nicht nur die Freiheit, seine Angst zu haben, sondern auch, das zu fürchten, was er will. Zugegeben: Auch in der liberalen Gesellschaft ist es durchaus möglich, dass es zu Massenängsten und Furchtepidemien kommt. So mag es geschehen, dass sich in einer Gesellschaft geradezu alle vor Schweinefleisch fürchten; einer steckt den anderen mit seiner Furcht an und kaum jemand hat kein mulmiges Gefühl beim Verzehr eines Schweinebratens. Mag diese epidemische Furcht auch zu beklagen sein, so ist sie doch solange wenigstens insoweit unproblematisch, als diese Panik nicht durch einen Akteur im Dienste seiner Interessen ausgelöst worden ist. Dies dürfte in liberalen Gesellschaften - soweit diese ihrer Konstruktionsidee entsprechen - eher der Fall sein als in Angst und Furcht in Wirtschaft und Politik · 311 <?page no="329"?> diktatorischen Regimen. Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, als sei in der Praxis in freiheitlichen Gesellschaften die Gefahr der eigeninteressierten Panikmache durch Einzelne als Politiker, Medien usw. a priori nicht gegeben. Eine letzte Unterscheidung: Während in Diktaturen idealtypischerweise der Machthaber als Monopolist jene Instrumente und Mittel anbietet, mit welchen der Furcht zu begegnen ist, werden in liberalen Ordnungen diese im Wettbewerb angeboten. Für den Einzelnen bedeutet dies, dass er nicht nur seine Angst und seine Furcht haben kann, sondern dass er auch die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten hat, mit seiner Furcht umzugehen. Einschränkend ist allerdings noch einmal zu betonen, dass diese Gegenüberstellung zwischen Diktatur und Demokratie nur in dem Maße in der hier praktizierten Schärfe zulässig ist, wie ein Diktator innerhalb seines Herrschaftsbereichs tatsächlich ohne Konkurrenz ist und wie es in einer liberalen Gesellschaft keine Kräfte gibt, die als Anbieter von Furchtobjekten und/ oder von Instrumenten zur Gefahrenabwehr konkurrenzlos sind. 2.9 Von einer Wahl zu vielen Wahlen Die bisherigen Überlegungen stellten auf die Analyse einer Wahl ab. Sie hatten nicht das Verhältnis eines Wahlganges zu anderen Wahlgängen zum Thema. Die Beschränkung rechtfertigte sich aus didaktischen Gründen; sie muss nun aber mit Blick auf die Realität überwunden werden.Weil in einer Gesellschaft nicht eine Wahl, sondern eine Vielzahl von Wahlen stattfinden, müssen diese in ihrem wechselseitigen Bezug gesehen werden. Im Folgenden werden drei Bezüge dieser Art erörtert: - Wahlfolgen, d. h. das zeitliche Vor- und Nacheinander von Wahlen; - zirkuläre Wahlen, d. h. Wahlen in Kollektiven, die über ihre Zusammensetzung wechselseitig entscheiden; - parallele Wahlzüge, d. h.Wahlen in nebeneinander existierenden Zusammenschlüssen, die wenigstens zum Teil aus den gleichen Individuen gebildet sein können. 2.9.1 Wahlfolgen Wir haben bislang die Tatsache vernachlässigt, dass in einem demokratischen System auf Wahlen gemeinhin Wahlen folgen, also auch jeder Wahl gemeinhin Wahlen vorausgegangen sind.Wohl haben wir bei der Darstellung der Dynamik des politischen Wettbewerbs davon geredet, dass sich die Programme der konkurrierenden Parteien schrittweise, von Wahl zu Wahl auf den Median zubewegen. Doch geschah dies allein aus darstellerischen Gründen, nicht aber war die zeitliche Abfolge als solche ein Thema. Der Sache nach hätten wir auch davon sprechen können, dass sich - unter der Annahme hoher Reaktionsschnelligkeit und hoher Informationsfähigkeit der Teilnehmer am demokratischen Wettbewerb - die Parteien ohne jede Verzögerung und ohne Zwischenetappen am Median begegnen. Mit anderen Worten: Wir haben bislang vernachlässigt, dass Demokratien eine Geschichte haben und dass deren Verlauf bzw. die 312 · Kapitel VI: Die indirekte Demokratie <?page no="330"?> einzelnen Etappen dieses Verlaufs für das Verständnis der Demokratie wichtig sind. Sie sind, genauso wichtig wie die Feststellung jenes Punktes, den der Parteienwettbewerb erreichen würde, wenn sich in einer zeitlosen Welt etwa zentripetale Kräfte ungehindert auswirken könnten. Das Stichwort lautet also: Demokratien haben eine Geschichte. Die zeitliche Abfolge von Wahlen soll dabei sicherstellen, dass das politische Geschehen in einem Gemeinwesen einen inneren Zusammenhalt hat, - der die einzelnen Teilnehmer - als Wähler und als Politiker - miteinander verbindet und - der aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hineinreicht. Einerseits soll die zeitliche Abfolge von Wahlen gewährleisten, dass die Verbindung von Bürgern und Politikern nicht nur bestehen bleibt, sondern sich auch qualitativ-inhaltlich weiterentwickelt. Andererseits soll erreicht werden, dass die Entscheidungen in der Gegenwart die vergangenen Entscheidungen wenigstens soweit integrieren, dass die Geschichte des Gemeinwesens von den Bürgern ohne Bruch zur Gegenwart erlebt wird und dass in die Entscheidungen der Gegenwart die Projektion der eigenen zukünftigen Geschichte eingeht. Beides ist für den Zusammenhalt eines Gemeinwesens von Bedeutung: Lockert sich oder entfällt gar die Verbindung zwischen Bürgern und Politikern, so wird die Geschäftsgrundlage eines Systems brüchig, dessen Zweck und Legitimität in der Respektierung des Willens des Souveräns besteht. Und: Ein Gemeinwesen, dem der Rückblick auf die eigene Vergangenheit wie auch der Ausblick auf die eigene Zukunft verstellt sind, kann die Gegenwart nur als sinnlose Beliebigkeit erleben. Genauer: Der einzelne Mensch kann auch als Staatsbürger nur ein Selbst haben, wenn er sich nicht in der Gegenwart erschöpft. Weil ein Mensch ohne Erinnerungen an die Vergangenheit und ohne Entwürfe für die Zukunft ohne „Selbst“ ist, ist auch ein Gemeinwesen ohne Vergangenheit und ohne Zukunft ohne Substanz. Es wird sich gleich zeigen, dass diese eher spekulativ anmutende These einen sehr nüchternen Gehalt hat. 2.9.1.1 Auf Wahlen folgen Wahlen Wir beginnen damit, dass auf eine Wahl andere Wahlen folgen und eine Wahl ihre Bedeutung auch dadurch erhält, dass nach ihr andere Wahlen abgehalten werden. Es ist ein konstitutives Merkmal der Demokratie, dass - im Gegensatz zur Diktatur - in ihr die gewählten Politiker in regelmäßigen Abständen die Macht verlieren und die Handlungs- und Kontrollrechte wieder an den Souverän, d. h. an die Bürger zurückfallen, ohne dass diese sich eigens darum bemühen müssen. Es ist also ein konstitutives Merkmal der Demokratie, dass die Bürger in regelmäßigen Abständen wieder neu über diese Rechte verfügen und sie auf Zeit den ehedem Regierenden oder aber der Opposition übertragen können. Dies aber setzt Wahlen in der Zukunft voraus. Man möchte nun fragen, warum die Handlungs- und Kontrollrechte in regelmäßigen Abständen an die Wähler zurückfallen sollen. Schließlich - so ein immerhin denkbares Argument - könne man sich auch damit begnügen, einen Politiker ein für allemal demokratisch zu wählen, einen Präsidenten auf Lebenszeit etwa. Es sei ja immerhin Von einer Wahl zu vielen Wahlen · 313 <?page no="331"?> möglich und gegebenenfalls sinnvoll, jemandem so sehr zu vertrauen, dass man sich seinem Können und seinem Wohlwollen unwiderruflich überantwortet, also endgültig auf einen mehr oder weniger großen Teil seiner Handlungs- und Kontrollrechte verzichtet. Im Ergebnis liefe dies darauf hinaus, in einem Wahlgang einen Diktator in einem geordneten Verfahren mit mehr oder weniger weiten, nicht mehr rückholbaren Handlungs- und Kontrollrechten auszustatten. Man kann nach den Bedingungen fragen, unter denen aus der Sicht der Bürger - und sie sind die letzte Bezugsinstanz - ein solches Vorgehen sinnvoll wäre. Diese Bedingungen sind: - Es muss sichergestellt sein, dass der ein für allemal gewählte Politiker, wenn er denn dazu fähig ist, auch bereit und willens ist, den Zielvorstellungen der Bürger entsprechend kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen. - Es muss sichergestellt sein, dass der ein für allemal gewählte Politiker, wenn er denn dazu bereit und willens ist, auch fähig ist, den Zielvorstellungen der Bürger entsprechend kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen. Mit anderen Worten: Der demokratisch gewählte Diktator muss nicht nur