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Internationale Regime und Organisationen

0912
2012
978-3-8385-8513-0
978-3-8252-8513-5
UTB 
Reinhard Wesel

Sicherheit und Abrüstung, Welthandel und Weltwirtschaft, Ernährung, Menschenrechte, Umweltschutz und Klimawandel sind für uns und unsere Zukunft globale Probleme größter Bedeutung. Reinhard Wesel erklärt in dieser Einführung, welche (wachsende) Rolle internationale Organisationen und Regime spielen und beschreibt ihre theoretischen Grundlagen, Strukturen und Funktionsweisen. Schaubilder, Synopsen, Tabellen und Pro-/Contra-Listen veranschaulichen das nötige Informationswissen.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 2 Meinen Student/ inn/ en der Model UN-Gruppen in München und Magdeburg <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 3 Reinhard Wesel Internationale Regime und-Organisationen UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 4 Reinhard Wesel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Magdeburg und Leiter der MUN-Gruppen der Universitäten Magdeburg und München (LMU). Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Lektorat: Verena Artz, Bonn Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Druck: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 8513 ISBN 978-3-8252-8513-5 <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 5 5 Inhalt 1 Einführung 7 1.1 Die Bedeutung von Internationalen Organisationen und-Regimen 7 1.2 Entwicklung und Probleme von internationalen Organisationen und Regimen 13 1.3 Zu diesem Buch 17 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen 21 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 21 2.1.1 Souveränität als grundlegendes Prinzip der-modernen-Staatenwelt 21 2.1.2 Folgen der »Globalisierung« für die Nationalstaaten 24 2.1.3 Die Forderung nach »global governance« 29 2.2 Theorien über internationale Politik 37 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen 49 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 51 3.1.1 Die regimetheoretische Debatte 52 3.1.2 Macht und Interessen 55 3.1.3 Interdependenz und Kooperation 56 3.1.4 Wissen und Normen 58 3.1.5 Wirtschafts- und spieltheoretische Argumentationshilfen 60 3.1.6 Ansätze der Regime-Analyse 63 3.2 Begriff und Definitionen 65 3.2.1 Übersicht: Ausgewählte Definitionen 66 3.2.2 Die Vier-Elemente-Lehre 70 3.3 Kritik und Probleme 71 3.4 Synopse: Was sind Internationale Regime? 73 3.4.1 Merkmale 73 3.4.2 Akteure 75 3.4.3 Funktionen 76 3.4.4 Abgrenzungen 77 3.4.5 Typen 79 3.5 Aufgabenfelder und Strukturen der Kooperation 80 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen 85 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 87 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 101 4.2.1 Ideen und Ansätze zu internationalen Organisationen 102 4.2.2 Die verwirklichte Idee des Völkerbunds und sein Scheitern 104 4.2.3 Die Entstehung der UNO aus dem Zweiten Weltkrieg 107 4.2.4 Die Entwicklung der UNO in sieben Jahrzehnten 113 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 123 4.3.1 Was ist »die UNO«-- und was nicht ? 123 4.3.2 Das »Mandat« der UNO: Die Charta der Vereinten Nationen 128 4.3.3 Struktur der UNO: Haupt- und Neben-Organe 142 4.3.3.1 Die Generalversammlung 142 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 6 6 Inhalt 4.3.3.2 Der Sicherheitsrat 151 4.3.3.3 Der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) 156 4.3.3.4 Das Sekretariat unter dem Generalsekretär 158 4.3.3.5 Der Internationale Gerichtshof (IGH) 160 4.3.3.6 Der Treuhandrat (suspendiert) 161 4.3.3.7 Nebenorgane und Spezialorgane 162 4.3.4 »System« der UNO: Sonderorganisationen 163 4.3.5 Verwaltung und Finanzierung 167 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 173 4.4.1 Gruppenbildung 174 4.4.2 Rhetorik und Verhandlung 177 4.4.3 Berichte, Kommissionen und Konferenzen 180 4.4.4 Zivilgesellschaft 184 4.4.5 Konsens und Ritualität 185 5. Internationale Regime 189 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 192 5.1.1 Rüstungskontrolle und Abrüstung 194 5.1.2 Friedenssicherung und Konfliktbewältigung 202 5.1.2.1 Streitbeilegung nach Kapitel VI und Friedenserzwingung nach Kapitel VII 204 5.1.2.2 Friedenswahrung/ peace keeping (nach »Kapitel Sechseinhalb«) 209 5.1.2.3 Friedensaufbau (i. S. eines »Kapitel Siebenplus« ? ) 216 5.1.3 »Humanitäre Intervention« und »Schutzverantwortung« 221 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 228 5.2.1 Der Anspruch der Menschenrechte 230 5.2.2 Abkommen und Mechanismen zum Menschenrechtsschutz 232 5.2.3 Internationale Strafgerichtsbarkeit 244 5.3 Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen (world-economy) 245 5.3.1 Weltweiter Handel ohne Hemmnisse 247 5.3.2 Stabile und austauschbare Währungen 249 5.3.3 Globale Finanz- und Wirtschaftspolitik? 250 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 252 5.4.1 Wirtschaftliche, soziale und »menschliche« Entwicklung 254 5.4.2 Agenturen und Methoden der multilateralen Entwicklungspolitik 258 5.4.3 (Welt-)Ernährung 266 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) 271 5.5.1 Probleme und Konflikte 272 5.5.2 Institutionen und Verfahren 274 5.5.3 Umwelt-, Natur- und Ressourcenschutz 276 5.5.4 Klimawandel 278 Literaturverzeichnis 283 <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 7 7 1 Einführung Unsere Welt hat eine Menge Probleme. Manchmal gar scheint das Ende nah zu sein, wenn man sich den Zustand unserer Welt illusionslos anschaut: Gewalt und Krieg, Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Hunger und Armut sowie Umwelt- und Klimakatastrophen bedrohen das Leben der meisten heute und zukünftig lebenden Menschen, sei es existentiell oder qualitativ. Gleichzeitig hatte die Menschheit noch nie so viel wissenschaftliches, technisches, infrastrukturelles und materielles Potential, um weltweite Probleme auch auf globaler Ebene zu lösen. Die mühselige, bislang nicht entscheidend fortgeschrittene Auseinandersetzung um Klimawandel und Klimaschutz z. B.-- oder der nunmehr seit fast einem halben Jahrhundert währende, vor allem rhetorisch geführte »Kampf gegen den Hunger in der Welt« als ein noch skandalöseres Beispiel- - zeigen aber, dass es nicht so einfach ist, von der mühsam erarbeiteten Einsicht, dass es ein Problem bestimmter Art gibt, zu angemessenem politischen Handeln auf Weltebene zu kommen: Als solche wahrgenommene eigene Interessen, Konkurrenz um wirtschaftliche Ressourcen und Märkte, religiöse und ideologische Blockaden, Engstirnigkeit und Selbstbezogenheit politischer Klassen und andere Unfähigkeiten hemmen die internationale Kooperation der Regierungen der Welt-- auch Staaten und Gesellschaften können so etwas wie schlechten Charakter zeigen. »We have the means and the capacity to deal with our problems, if only we can find the political will.« Kofi Annan, Generalsekretär der UNO, 1997-2006 Aber es gibt keine Alternative zu internationaler Verhandlung und Zusammenarbeit, solange es keinen Weltstaat oder effektiven supernationalen Welt-Bundesstaat gibt, was aus guten Gründen hoffentlich nie der Fall sein wird. Wenn zwei Staaten interagieren, ist das logischerweise inter-national, aber nur bilateral. Wenn drei oder ein Dutzend oder gar alle fast 200 Staaten der Erde miteinander verhandeln, ist das auch international, aber vor allem multilateral. Multilaterale Verhandlungen sind aufgrund der Anzahl und meist auch der Vielfalt der Teilnehmer schwierig und zeitraubend, doch internationale Organisationen können dabei als Rahmen und Infrastruktur dienlich sein: Erst internationale Organisationen und Regime ermöglichen multilaterale Zusammenarbeit. 1.1 Die Bedeutung von Internationalen Organisationen und-Regimen Die Problembereiche (Sicherheit/ Abrüstung, Welthandel/ -wirtschaft, Entwicklung/ Ernährung, Menschenrechte, Umweltschutz/ Klimawandel) sind die klassischen Arbeitsfelder der seit Mitte des 20. Jahrhunderts in immer größerer Zahl und für immer umfassendere Aufgaben entstehenden internationalen Organisationen und Regime. Sie haben für unser alltägliches Leben überraschend viel Bedeutung, auch wenn wir nicht einmal ihren Namen kennen. <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 8 8 1 Einführung Das Ausmaß internationaler Organisation Zur Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts gab es (nach Berechnungen der Union of International Associations, http: / www.uia.org/ ) knapp 250 zwischenstaatliche internationale Organisationen (Mitglieder sind Staaten, vertreten durch ihre Regierungen) und über 7 000 nichtstaatliche internationale Organisationen (Mitglieder aus der Zivilgesellschaft); es gab über 2 300 multilateral-zwischenstaatliche Verträge; über 130 multilateral-zwischenstaatliche Konferenzen und fast 600 multilateral-nichtstaatliche Konferenzserien wurden jährlich abgehalten. Die wichtigste der gut 34 zwischenstaatlichen internationalen Organisationen mit universaler Mitgliedschaft ist die Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organization/ UNO), der wichtigste multilateral-zwischenstaatliche Vertrag ist die Charta der Vereinten Nationen (Charter of the United Nations). Aber zugleich ist vor zu großen Erwartungen an internationale Organisationen, vor allem an »die UNO« zu warnen: Falsche Vorstellungen und gängige Missverständnisse führen zu übertriebenen Hoffnungen an die internationalen Institutionen; wenn der fromme Wunsch dann enttäuscht wird, schlägt er leicht um in meist noch weniger begründete pauschale Kritik. Die symbolischen Aspekte und Funktionen internationaler Organisationen verdienen spätere Betrachtung; doch schon vor dem ersten Versuch einer Skizze ihrer Eigenart und Arbeitsweise kann ein Blick auf gängige Denkbilder lohnen, mit denen wir diese fremdartigen Phänomene in unser Weltbild einordnen. Neben Dutzenden Metaphern, mit denen einzelne Aspekte der Arbeit von internationalen Organisationen und Regimen erfasst werden (Feuerwehr, Weltpolizei, Arena, Theater, »Völkerclub«, Brennglas, Sündenbock u. v. m.), können zwei völlig disparate Bilder die beiden vorherrschenden, eben sehr unterschiedlichen Verständnisweisen charakterisieren: »Amt« vs. »Puzzle«. ● ● Amt, das assoziiert Amtshierarchie, Regierungsbehörde, öffentliche Verwaltung (vgl. die frühere Bezeichnung »Internationales Arbeitsamt« für die International Labour Organization/ ILO): eine hierarchische Struktur mit Durchgriffsrechten und mit eigenen Instrumenten für Durchsetzung und Sanktionierung von oben nach unten bzw. von der Zentrale in die Randbereiche. ● ● Puzzle, das assoziiert ein mehr oder weniger organisierbares Durcheinander, das sich in glücklichen Fällen wenigstens teilweise passend zusammenfügt: eine prinzipiell offene, nicht mehr hierarchische und dynamische Struktur, in der die Mitspieler alles Mögliche tun können, wenn dies nur am Ende zu einem Ergebnis führt. Internationale Organisationen mögen zu oft intern wie eine Amtsbehörde funktionieren, nach außen und in ihre Mitgliedstaaten hinein haben sie aber selten Amtsprivilegien und Durchgriffsrechte wie eine nationale Regierungsverwaltung. Das Denkbild vom Puzzle-Spiel gibt die Praxis internationaler Koordination und Kooperation wesentlich besser wieder, aber stellt die Mitspieler und ihre jeweiligen Potentiale viel zu beliebig, unbestimmt und undifferenziert vor. Vorstellungsbilder führen und verführen unser Denken unbewusst, indem sie einige Aspekte beleuchten und hervorheben, andere verdunkeln oder manche ganz ausblenden. Sprachliche Prägungen können auch reine Fiktionen dauerhaft am Leben halten: So geht ein Geist um in Zeitungskommentaren und vielen schönen Reden über Zustand und Zukunft der Welt-- die »Internationale Gemeinschaft«. Außerhalb von abstrakten völkerrechtlichen Debatten, die ihr vielleicht einmal neues Leben geben könnten, ist sie noch ein Ideen-Gespenst mit einem ziemlich zerfledderten Astralleib-- greifbar ist das Phänomen jedenfalls nicht, auch nicht ansprechbar: wer ist sie, wo hat sie ihr Büro, was ist ihre Telefonnummer? Vom ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger stammt das berühmte Bonmot, er glaube erst dann <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 9 1.1 Die Bedeutung von Internationalen Organisationen und-Regimen 9 an ein vereinigtes Europa, wenn man ihm die Telefonnummer des europäischen Außenministers geben könne. Bei der EU gibt es immerhin einige kooperierende und/ oder konkurrierende Instanzen, über die »die Europäische Union« ansprechbar ist, aber was könnte die Adresse der so oft beschworenen »Internationalen Gemeinschaft« sein? Und wo lebt ihre wegen der Heimeligkeit des Namens immer noch sehr beliebte ältere Schwester, die gute alte »Völkergemeinschaft«? Sollte ihr Ort »die UNO« (»am East River«) sein, wo die »Internationale Gemeinschaft« oder »Völkergemeinschaft«, »Völker-« oder »Staatenfamilie« u. Ä. beherbergt sind? Wenn das 20. Jahrhundert das »Jahrhundert der internationalen Organisationen und Regime« (Schwarz 2000, S. 28) war, sind wir dann im 21. Jahrhundert schon weiter, vielleicht in der beginnenden Epoche der »global governance«, also einer Art globalen Steuerung über die Staaten hinaus? Um das zu diskutieren, ist zunächst in einer ersten Annäherung zu zeigen, was unter einer »Internationalen Organisation« und was unter einem »Internationalen Regime« zu verstehen ist-- und was das Konzept der »global governance« darüber hinaus beitragen könnte. Das traditionelle Verständnis von internationalen Organisationen ist eher vom Denkbild Amt motiviert. Die klassischen Bestimmungsmerkmale waren (zu Definition und Theorie s.-Kap. 4.), dass internationale Organisationen ● ● ein Zusammenschluss von mindestens zwei (→ bilateral) oder mehreren (→ multilateral) bis zu allen (→ universal) Staaten sind; ● ● ihre Mitglieder nur und ausschließlich souveräne Staaten sein können, vertreten durch ihre Regierungen; ● ● durch »internationale« Verträge, völkerrechtliche Verträge zwischen Staaten, gegründet werden; ● ● dauerhaft angelegt sind und über eigene handlungsfähige Organe und Infrastruktur verfügen; ● ● den durch die zugrundeliegenden Verträge gesetzten gemeinsamen Zwecken und Zielsetzungen zu dienen haben; ● ● eigene Zuständigkeitsbereiche haben, in denen sie nach Maßgabe dieser Verträge bestimmte Aufgaben im Sinne dieser Ziele erfüllen; ● ● dabei logischerweise meist über nationale politische Grenzen hinweg arbeiten sollen, ● ● aber die Souveränität der Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen dürfen. Als in den 1970er Jahren das rasch anwachsende Phänomen der sich national und bald auch international einmischenden Organisationen der Zivilgesellschaft entstand, wurde die Bezeichnung »Internationale Organisationen« problematisch. Denn darunter konnten nun auch nichtstaatliche bzw. nicht aus Regierungsvertretern zusammengesetzte international operierende Gruppen und Organisationen verstanden werden; zivilgesellschaftliche Bewegungen wie »amnesty international« oder »Greenpeace« wurden schnell zu bekannten und hoch eingeschätzten »NGOs« (Non-Governmental Organizations, Nichtregierungsorganisationen oder Nichtstaatliche Organisationen) bzw. zu INGOs (International Non-Governmental Organizations). Da eigentlich auch jedes privatwirtschaftlich verfasste multibzw. transnationale Unternehmen eine »nichtstaatliche Organisation« ist, wurde zur sauberen Abgrenzung auch noch der Terminus BINGOs (Business International Non-Governmental Organizations) eingeführt. Früher waren mit »Internationale Organisationen« fast immer Internationale Regierungs-Organisationen (International Governmental Organizations/ IGOs) gemeint. Auch weiterhin wird der Oberbegriff häufig in diesem eingeschränkten Sinn verwendet. Es ist also sinnvoll, sich dessen bewusst zu sein und jeweils deutlich zu machen, wenn man von NGOs/ INGOs spricht. Auch hier soll »Internationale Organisationen« zumal im Bezug zu »Internationalen Regimen« nur die Regierungsorganisationen bezeichnen, sofern nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet. Schließlich kann sich der Singular »internationale Organisation« auch abstrakt auf das Phänomen organisierter zwischenstaatlicher Zusammenarbeit generell beziehen und nicht auf eine konkrete Organisation, was aber im Zusammenhang jeweils deutlich werden sollte. <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 10 10 1 Einführung Tab. 1: Bezeichnungen für internationale Organisationen deutsch englisch Abk. Internationale Organisation International Organization IO Internationale Regierungsorganisation (Intergouvernementale Organisation) International Governmental Organization IGO Nichtregierungsorganisation (Nichtstaatliche Organisation) Non-Governmental Organization NGO Internationale Nichtregierungsorganisation (Internationale Nichtstaatliche Organisation) International Non-Governmental Organization INGO Internationale Regime sind gegenüber den fest gefügten Organisationen flexiblere politische Institutionen, die meist auf mehr Ebenen und mit unterschiedlicheren Akteuren funktionieren, aber auch schwerer greifbar sind. In seinem einfachsten Verständnis bedeutet »Regime« nicht viel mehr als eine verbindliche Regelung in einem bestimmen Ausschnitt des politischen, sozialen und/ oder wirtschaftlichen Lebens; Regelung geschieht nach Regeln, die aufgrund von definierten Kriterien, die z. B. aus ethischen oder sozialen Normen gewonnen werden, bestimmte Verfahrensweisen und Standards festlegen. Ähnlich wie bei den ebenfalls »Regime« genannten historischen binnenwirtschaftlichen Verkaufsmonopolen (z. B. das österreichische Tabakmonopol »Austria« oder das italienische »sale e tabacchi«) müssen auch internationale Regime einen legitimen Allein-Anspruch auf ihre Regelungskompetenz erheben können, um wirksam zu sein. Die negative Konnotation des Terminus, wie sie sich in der Redeweise vom »autoritären/ diktatorischen Regime« oder dem »ancien régime« für das absolutistische Herrschaftssystem vor der Französischen Revolution zeigt, sollte hier nicht irritieren; im amerikanischen Englisch hat »regime« eine neutralere Bedeutung. In den internationalen Beziehungen ist mit »Regime« seit den theoretischen Debatten in den 1980er Jahren eine spezifische Art inter- und transnationaler Kooperation zu verstehen, die meist auf der Arbeit und Infrastruktur von internationalen Organisationen aufbaut, aber über sie weit hinausgehen kann. Wichtige Merkmale dafür, dass in einem Bereich der Zusammenarbeit über Staatsgrenzen hinaus so etwas wie ein internationales Regime zu erkennen ist (zu Definition und Theorie s.-Kap. 3), sind ● ● gemeinsame und/ oder harmonierende Erwartungen der Akteure, ● ● geteilte Prinzipien, Normen, Regeln sowie ● ● verbindlich festgelegte Kommunikations-, Entscheidungs- und Arbeitsverfahren, ● ● zum Zweck der Koordination von Aktivitäten oder der weiter gehenden Kooperation zur Erreichung oder Vermeidung bestimmter Zustände. Internationale Regime sind formal meist in einem internationalen Vertrag oder mehreren begründet, oft gar in einer langen Kette von Verträgen, Übereinkommen, Abmachungen, Absprachen, auch einseitigen Verpflichtungen usf., die gern auf internationalen Konferenzen oder ganzen Serien davon erarbeitet und verkündet werden. Auch wenn das Phänomen des internationalen Regimes vielschichtig und durchaus auch fachlich umstritten ist, hat sich doch die Einsicht verbreitet, dass unser alltägliches Leben immer stärker von allerlei internationalen Regimen geregelt wird. Ein noch vielschichtigeres und umstritteneres Konzept ist seit Beginn dieses Jahrhunderts rasch dominant geworden: »global governance«- - für seine Vertreter die alle Fragen und Antworten zusammenwww.claudia-wild.de: <?page no="11"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 11 1.1 Die Bedeutung von Internationalen Organisationen und-Regimen 11 klammernde analytische und praktische Lösung, für seine Kritiker nur eine Mode-Erscheinung von begrenztem Gebrauchswert (s.-Kap. 2.1). Ausgangspunkt war der Gedanke, dass immer mehr komplizierte Probleme global so vernetzt sind, dass »Regierbarkeit« abnimmt, weil Kompetenzen und Ressourcen der Staaten überfordert werden. Der gemeinsame historische Erfahrungshintergrund für die verschiedenen »global governance«-Ansätze ist die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die sich nach Ende des sowjetischen Imperiums und des Ost-West-Gegensatzes rasch beschleunigte; die politisch wichtigste Folge dessen ist-- so die weit verbreitete Meinung--, dass der moderne Nationalstaat in seinen Durchgriffsmöglichkeiten und Handlungsoptionen zunehmend beschränkt wird und an Bedeutung, konkret Steuerungskapazität und Sanktionsmonopol gegenüber der »Zivilgesellschaft« verliert. Mit »governance« ist gemeint, dass gesellschaftliche Abläufe und Entwicklungsprozesse auch ohne den Staat geregelt werden können; eine Art Selbstregierung wird also dem hierarchisch Regiertwerden durch »government«, sprich Steuerung von oben durch den Staat, entgegengesetzt. Damit wären auch das Handeln von einzelnen Staatsregierungen und ihre internationale und multilaterale Zusammenarbeit zu ergänzen oder gar zu ersetzen durch neuartige, nicht nur grenzüberschreitende, sondern »globale« Kooperationsformen und Regelungsmechanismen; darin sind Elemente der Zivilgesellschaft nicht nur einbezogen, sondern diese werden als zuständige wie verantwortliche Akteure eigenständig aktiv. Die Idee der »global governance« korrespondiert zwar mit der Metapher vom »Puzzle«-Spiel, aber die komplexe Vielzahl ihrer dynamischen Elemente zusammengenommen ergibt kein passendes Bild, sondern bleibt als ein offener Prozess zu begreifen (Karns/ Mingst 2010, S. 538). Aber Vorsicht ist auch in der Politikwissenschaft immer angebracht, wenn schlagwortartige Etiketten rasch und allumfassend das Terrain der Seminare und Publikationen erobern: So wenig wie Argumentation, Diskussion und Debatte mit dem »Diskurs« erledigt worden sind, wird mit der Globalisierung und der allseits beschworenen »global governance« der Nationalstaat und sein logisches Gegenstück die internationale Organisation hinfällig werden: Zwar ist mit dem Schlagwort eine zentrale theoretische wie praktische Problematik aufgespannt, aber die komplizierten Prozesse der aktuellen internationalen Kooperation werden nicht erklärt. Handlicher als das große unvollständige Puzzle-Spiel der »global governance« ist das ältere, bescheidenere und deswegen leistungsfähigere Konzept des Internationalen Regimes. Warum gibt es so viele internationale Organisationen und warum sind die internationalen Regime so unübersichtlich? Darauf gibt es zwei Antworten: Zum einen sind die internationalen oder globalen Probleme vielfältig und kompliziert, zum anderen sind die Funktionsmechanismen der internationalmultilateralen Politik nicht gerade simpel- - zumal schon allein fast 200 sehr unterschiedliche Staaten dabei im Spiel sind, dazu Tausende Interessengruppen, Wirtschaftsunternehmen und viele mehr. Die Arbeitsbereiche internationaler Kooperation können umfassen: alles-- inzwischen auch den Weltraum. Zur Zeit der Anfänge internationaler Organisation im 19. Jahrhundert waren es vor allem technisch-organisatorische Bedürfnisse, die grenzübergreifend zu erfüllen waren: Normierung und Standardisierung der Logistik des internationalen Austauschs (Post/ Telekommunikation/ Verkehr-…), aber auch die Kooperation naturwissenschaftlicher Forschung. Das klassische Arbeitsfeld für internationale Organisationen mit universalem Anspruch war und ist immer noch Krieg und Frieden, Sicherheit und Abrüstung. Das traditionelle Konzept der »kollektiven Sicherheit« (collective security)- - alle Staaten zusammen garantieren jedem einzelnen Staat Sicherheit gegen Aggression eines anderen Staates, sodass kein Staat mehr so weit aufrüsten muss, dass er sich alleine verteidigen könnte-- ist ein gedanklicher Prototyp eines internationalen Regimes. Dass die Entwicklung der völkerrechtlichen Gründung der Menschenrechte und ihr Schutz zu einem weiteren klassischen Thema internationaler Zusammenarbeit wurden, ist aus der ethisch-idealistischen Tradition des »Völkerbunds«-Denkens und wohl mehr noch aus den Erfahrungen der Weltkriege und der organisierten Menschenrechtsverletzungen und Genozide im 20. Jahrhundert zu verstehen. <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 12 12 1 Einführung Mit der Erfahrung, dass wirtschaftliche Entwicklungen und Krisen für die internationalen Beziehungen von ausschlaggebender Bedeutung sein können, wurden Wirtschaft, Welthandel und wirtschaftlichsoziale Entwicklung zu einem weiteren riesigen internationalen Arbeitsbereich. Dies wurde politisch stark befördert und akzentuiert durch die Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entstehung von Dutzenden »neuer Staaten« in der dann sog. Dritten Welt. Ziemlich jung, aber in seinen Problemthemen überwältigend dynamisch ist der Arbeitsbereich Umwelt und Klima, der erst in den 1970er Jahren öffentlich in den Blick kam, aber inzwischen für viele Menschen als der wichtigste gilt. Die Probleme sind in sich sehr vielfältig und komplex; der Klimaschutz allein ist ein Arbeitsfeld für sich geworden. Die offenkundig internationale oder globale Qualität der Umwelt- und Klimaschädigungen hat ihrerseits maßgeblich das Denken in »globalisierten« Kategorien angeregt. Arbeitsfelder der UNO nach ihrer Charta Die Charta der Vereinten Nationen nennt als Tätigkeitsfelder explizit ● ● Friedenssicherung, Sicherheit und Abrüstung [Kapitel V bis VIII] ● ● Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [diese sind nur als Ziele in Kapitel-I genannt, aber es gibt kein gesondertes Kapitel dazu und spezifische zuständige Organe sind nicht vorgesehen] ● ● Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und sozialen Fragen [Kapitel IV und X] Die klassischen Arbeitsbereiche internationaler Organisationen und Regime sind also: ● ● Krieg und Frieden: Sicherheit und Abrüstung; ● ● Stärkung und Schutz der Bürger- und Menschenrechte; ● ● Funktionieren der Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen; ● ● Armutsbekämpfung durch wirtschaftliche und soziale Entwicklung; ● ● Umwelt- und Klimaschutz. Freilich gibt es eine Reihe von Teil- oder Unter-Regimen, von denen einige auch als weitgehend eigenständige Regime angesehen werden können, wie die zur Ernährungssicherung und zur Katastrophenhilfe, zum Verbot von Chemiewaffen oder auch zur Artenvielfalt (biodiversity), zur Ozonschicht, zum Schutz des Regenwaldes u. v. m. Ein wahrscheinlich wichtiger werdendes Problem- und Arbeitsfeld ist ● ● Gesundheit/ Schutz vor weltweiten Krankheiten und Pandemien. Auch diverse kleinere, thematisch spezielle sowie eine große Zahl regionaler Regime können identifiziert werden. Schließlich kann auch spekulativ so etwas wie ein allerdings ziemlich informelles ● ● internationales »Reform-Regime« angenommen werden, in dem die unendliche Geschichte der Diskussionen und Versuche zur Reform der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen bzw. ihrer Arbeitsweisen fortgesponnen wird. Immer mehr Probleme passen nicht mehr in das alte Schema, wohl auch weil wir sie inzwischen als komplexer und mehrdimensional ansehen. So war AIDS/ HIV nie nur dem Bereich Krankheitsbekämpfung/ Gesundheitsvorsorge zuzuschreiben: die Ansteckung mit der Krankheit und ihr Verlauf hängt eng zusammen mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen; ihre Folgen können nicht nur wiederum gravierende wirtschaftliche und soziale Auswirkungen haben, sondern auch den Frieden in einer Region gefährden, wie das erschreckende Phänomen der AIDS-Waisen, die zu Kindersoldaten gemacht werden, zeigt. Um Kleinbauern in Bolivien und Afghanistan vom Anbau von Rauschgift abzuwww.claudia-wild.de: <?page no="13"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 13 1.2 Entwicklung und Probleme von internationalen Organisationen und Regimen 13 bringen, muss ihnen nicht nur eine wirtschaftliche Alternative geboten werden, sondern dies auch in verlässlichen Schutz vor dem organisierten Verbrechen eingebettet werden. Viele andere Probleme wie Piraterie, Menschenhandel, Schutz von Zivilpersonen in kriegerischen Auseinandersetzungen usw. haben jeweils spezifisch miteinander verbundene Aspekte in den Dimensionen Sicherheit, Menschenrechte, Wirtschaft/ Entwicklung und Umwelt/ Klima. Dieses jüngste der internationalen Arbeitsfelder ist zudem selbst eine Art Hybrid: Dank der militärischen und wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschheit vor allem in den entwickelteren nordwestlichen Weltregionen wurde »die Umwelt« geschädigt und vielfach schon zerstört; die »nachholende Entwicklung« in den ökonomisch ärmeren Teilen der Welt scheint dieses Programm nun zügig zu vollenden, was wiederum im Kampf um abnehmende Ressourcen zu Unfrieden, Menschenrechtsverletzungen bis zu Kriegen führen kann. Sollte es gelingen, Umweltzerstörung und Klimawandel zumindest einzudämmen, dann nur durch das Lösen gewaltiger Aufgaben in allen genannten Dimensionen-- und dies wäre nur mit internationalen Organisationen und Regimen möglich. Zwischen den Arbeitsfeldern internationaler Kooperation gibt es naturgemäß viele Zielkonflikte, auch sehr grundsätzliche wie jener, der in dem gern gebrauchten Begriff der »nachhaltigen Entwicklung« (sustainable development) geradezu dialektisch eingebaut ist: Die unauflösliche Verknüpfung der entwicklungs- und sozialpolitischen Problemdimension mit der ökologischen ist ausgedrückt, zugleich wird die Möglichkeit der Vereinbarkeit der Ziele Entwicklung und Umweltschutz behauptet sowie schließlich die Notwendigkeit einer Versöhnung beider beschworen. Doch das Dilemma bleibt: Wirtschaftliche Entwicklung ohne Umweltschutz ist zerstörerisch, aber gleichzeitig hat Umweltschutz keine Chance, wenn Entwicklung und Umweltschutz als Zielkonflikte und im Streit über Ressourcenallokation konkurrieren müssen. 1.2 Entwicklung und Probleme von internationalen Organisationen und Regimen Seit der Gründung des Völkerbunds im Jahr 1918 und der UNO im Jahr 1945 haben sich nicht nur Problemstellungen und Arbeitsaufträge für internationale Kooperation thematisch geändert, auch die internationalen Beziehungen selbst unterliegen raschen und tiefgreifenden Wandlungsprozessen, die sich in internationalen Organisationsstrukturen, mehr noch in Arbeitsweisen und Arbeitsstilen, am meisten aber in veränderten Ansprüchen an die internationale Kooperation auswirken. Dieser Wandel zeigt sich einerseits in epochalen Entwicklungstrends, andererseits in Veränderungen der Praxis internationaler Zusammenarbeit, immer auf der Basis des historisch entstandenen Völkerrechts. Tragende Prinzipien des klassischen Völkerrechts-- oder besser des internationalen Rechts (vgl. das englische international law), weil es sich ja in erster Linie auf Staaten als Rechtssubjekte bezieht-- sind: Souveränität (und damit das Interventionsverbot), Gleichheit, Reziprozität, das Gewaltverbot und der Grundsatz von »Treu und Glauben«. Die entscheidenden Entwicklungstrends seit Mitte des letzten Jahrhunderts sind: ● ● Die politische Mehrheit, aber noch nicht der politische Schwerpunkt der Staatenwelt hat sich von Nord nach Süd verschoben-- von einem halben Hundert vor allem europäischer und amerikanischer Staaten bei Gründung der UNO zu fast zweimal Hundert Staaten heute. Die Auflösung des Ost- West-Gegensatzes nach 1989 hat die Folgen dieser Entwicklung noch verstärkt. ● ● Internationale Zusammenarbeit entwickelte sich zwangsläufig von der Bilateralität zur Multilateralität bis zur Universalität-- und gar weiter zur Globalität? Aus der Zusammenarbeit zweier oder weniger Staaten, die zu oft in Konkurrenz oder Gegnerschaft zu anderen kooperierenden Staaten geriet, wurde die naturgemäß anfälligere multilaterale Zusammenarbeit vieler oder fast aller Staaten, die lange Zeit <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 14 14 1 Einführung beeinträchtigt war durch die Bildung gegeneinander arbeitender Staatenblöcke (Ost/ West, Nord/ Süd), was aber eine Ausprägung von Multilateralität sein kann. ● ● Mit dem Ende der Ost/ West-Blockade waren auch die Bedingungen für eine stark beschleunigte »Globalisierung« gegeben, die ihrerseits wiederum den skizzierten Wandel weiter antrieb. Nicht nur die Anzahl und Vielfalt der Staaten ist gestiegen, nun differenziert sich weltweit auch die Art der Akteure in der internationalen Politik durch die Etablierung nichtstaatlicher, »zivilgesellschaftlicher« Elemente. ● ● Das grundlegende, nahezu »heilige« Prinzip der Staatensouveränität und damit des Staaten und ihre Regierungen schützenden Interventionsverbots wird durch den wachsenden inter-(bzw. über-)nationalen Anspruch auf Einmischung zum Schutz gemeinsamer Güter und Prinzipien wie der Menschenrechte oder einer sauberen Umwelt zunehmend unter Legitimationsdruck gesetzt. Die Entwicklungsphasen der internationalen Kooperation folgen dem historischen Wandel. Der Durchsetzung des Nationalstaats als zentralem Akteur in der europäischen Politik und damit der ausschließlichen Orientierung am Souveränitätsprinzip entsprachen Prozesse der Institutionalisierung von internationalen Organisationen und multilateralen Verfahrensweisen. Deren Praxis sowie die gewachsene Anzahl und Vielfalt der Staaten und die somit komplizierter werdenden Konfliktlinien führten zu einer stetig steigenden Verregelung und dann auch Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und transnationalen Aktivitäten. Diese Entwicklung hat eine das ohnehin problematisch gewordene Souveränitätsprinzip schwächende Tendenz in sich. Elementare Prinzipien des Völkerrechts Souveränität Innere Ordnung und Herrschaftsform sind von jedem Staat unabhängig selbst zu bestimmen. Damit gibt es kein Recht zu Eingriffen in einen Staat durch einen oder mehrere andere Staaten. Also gilt das Interventionsverbot, das die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten garantiert. Gleichheit Es gilt gleiches Recht für alle Staaten, ungeachtet ihrer Größe, Lage, Macht, Geschichte, z. B. bei Abstimmungen in internationalen Organisationen gemäß dem Prinzip »ein Staat =-eine Stimme« - allerdings nicht in allen, was jeweils begründet sein muss. Reziprozität Was für Staat A gegenüber Staat B gilt, gilt gleichermaßen auch für Staat B gegenüber Staat A. Jeder Staat ist somit sowohl Urheber als auch Adressat des Völkerrechts. Gewaltverbot Der Ausschluss von Gewalt als legitimem Mittel der Außenpolitik ergibt sich wie das Interventionsverbot schon aus dem Souveränitätsprinzip. Die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates ist (nach Charta der UNO, Art. 2) ausdrücklich verboten. »Treu und Glauben« Dieser Grundsatz verpflichtet die Staaten zur Einhaltung des Völkerrechts. Zwar gibt es keine den Staaten übergeordnete Instanz, die das Völkerrecht legitimerweise und faktisch durchsetzen könnte, dennoch gilt dieses oft verletzte Prinzip unter den Staaten, nach dem Verträge eingehalten werden müssen (Vertragstreue), einseitige Versprechen verbindlich sind, Rechtsmissbrauch verboten ist u. v. m. <?page no="15"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 15 1.2 Entwicklung und Probleme von internationalen Organisationen und Regimen 15 Festzustellen ist, dass erstens immer mehr Bereiche immer stärker durch Regelungen organisiert werden, dass zweitens diese Regeln nicht mehr nur als ein Ergebnis von politischen Aushandlungsverfahren und als entsprechend flexibel angesehen werden, sondern ihnen zunehmend rechtsverbindlicher Status zugeschrieben wird, und dass drittens-- das ist dabei das Wichtigste-- über Auslegung und Einhaltung dieser Regeln im Streitfall zunehmend von supranationalen Schlichtungsinstanzen oder Gerichten beraten und entschieden werden kann, egal ob es um Handelsfragen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht. Damit und mit der steigenden Anzahl und Vielfalt der nichtstaatlichen Akteure wird die Lage noch komplizierter, während zugleich die Bemühungen um strukturelle Reformen wichtiger internationaler Institutionen nicht oder nur sehr zäh fortschreiten; das könnte zu immer mehr informellen, also stillschweigend vollzogenen Veränderungen der Arbeitsweisen internationaler Kooperation führen: Als Gegenbewegung zur formalen Institutionalisierung würde eine Informalisierung die Zusammenarbeit im jeweils gegebenen, möglicherweise zu starren institutionellen Rahmen aufrechterhalten oder gar vertiefen können. Die skizzierten Entwicklungen und Veränderungen sind nicht als aufeinanderfolgende Phasen zu verstehen, sondern im Sinne eines emergenten Schichtaufbaus, d. h. spätere Schichten überlagern frühere, aber verdrängen sie nicht oder allenfalls zum Teil: Staaten bleiben die Handlungskerne der Kooperation, aber andere Instanzen und Mechanismen lagern sich um sie an und gewinnen an Handlungsspielraum. Internationale Organisationen, zumal die UNO, kennen im Umgang mit neuartigen Problemen drei klassische Strategien, die aus Innenpolitik und Alltagsleben wohlbekannt sind: ● ● Ausweitung des Aufgabenbereichs von schon verfügbaren Institutionen, Gremien und Mitarbeitern; ● ● Gründung neuer Organisationen, Institutionen, Gremien und die Einstellung neuer Mitarbeiter; ● ● bessere Koordination der bestehenden Institutionen, Gremien und ihrer Aktivitäten. Das bloße Hinzufügen von neuen Aufgaben zu bestehenden Arbeitsbereichen stößt in der Sache meist schnell an Grenzen: Kann eine altgediente wirtschaftsund/ oder entwicklungspolitische Agentur (wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation/ FAO oder die Konferenz für Handel und Entwicklung/ UNCTAD) auch ökologische Probleme aufgreifen und angemessen verarbeiten? Bestenfalls wäre zu erwarten, dass die etablierten Institutionen sich den neuen Fragen und Anforderungen im Sinne einer »Querschnittsaufgabe« möglichst ernsthaft stellen, aber doch nicht, dass sie selbst zu den Agenten umwälzender Innovationen würden. Tab. 2: Die Evolution internationaler Kooperation Denkbild Agenten der Kooperation Historische Bedingungen Prinzip/ Tendenz »Amt« »Puzzle« Staat versus andere Staaten Internationale Organisationen Internationale Regime »global governance« ↓ ↓↑ ↓↑ Entstehung des modernen Nationalstaats steigende Anzahl und Vielfalt der staatlichen Akteure steigende Anzahl und Vielfalt der nichtstaatlichen Akteure Souveränität Institutionalisierung (Organisationen und Verfahren) Verregelung Verrechtlichung Informalisierung <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 16 16 1 Einführung Das Neu- oder Ausgründen von Institutionen erlaubt dagegen, sie als neue Instrumente mit klarem Mandat und vielleicht sogar mit den nötigen Mitteln zu versehen, um ihr Thema überhaupt erst im internationalen System zu etablieren, die anzugehende Aufgabe politisch aufzuwerten, innovative Methoden einzuführen u. v. m. Außerdem hat das Gründen neuer Ausschüsse, Komitees, Organisationen usf. politisch den Charme eines bewährten Rituals zur Entschärfung oder Verschiebung von akuten Problemen: Die Methode »Gründen wir eine Ausschuss, der sich in Ruhe drum kümmern kann-…« hält jedenfalls Situationen und Auswege offen. Ein Dilemma zeigt sich allerdings: Die Ausweitung von Aufgaben und Kompetenzen einer funktionierenden Institution ist billiger und schneller umzusetzen als eine Neugründung, aber das Neue kann sich gegen das Alte womöglich nicht recht durchsetzen; eine Neugründung gibt dem Neuen einen eigenständigen Bereich, aber der kann sich dann durchaus als randständig erweisen, weil mit der Neugründung die Integration in den eingespielten Betrieb nicht gewährleistet ist. Um die Arbeit von internationalen Organisationen an neue oder veränderte Aufgaben anzupassen, kann auch die meist unterschätzte, aber doch viel genutzte Möglichkeit der Koordination sehr hilfreich sein: Allein durch Informationsaustausch, mehr noch durch abgestimmte Maßnahmen oder sogar integrierte Programme können bestehende Aktivitäten wirksamer und die Leistungsfähigkeit der Strukturen erhöht werden; dies erlaubt es dann im besten Fall, tatsächlich auch neue Arbeitsgebiete zu besetzen. Darauf zielt auch die beliebte Formel, ein bestimmtes Problem sei eine »Querschnittsaufgabe« für alle bestehenden Gremien oder Institutionen, womit vor Neuerungen gewarnt wird. Ungeachtet weit ausholender Reformdebatten und fein ausgearbeiteter Maßnahmenkataloge funktioniert in der wirklichen multilateralen Welt offenkundig aber eine andere Strategie oft am besten: das allseits bewährte »Durchwursteln« (»muddling through«). Möglicherweise liegt in der kreativen Fähigkeit zu dieser Methode das entscheidende Potential von internationaler Kooperation. Die Frage nach Ertrag und Wirkung internationaler Regime und Organisationen wird sich als schwer zu beantworten erweisen. Die Einschätzung ihrer Leistungen und deren politischer Bedeutung kann auch unter Fachleuten sehr kontrovers ausfallen. Die einfachste Antwort wäre eine Gegenfrage: Was wäre denn die Alternative zur internationalen Kooperation? Systematische sozialwissenschaftliche Analysen lösen zunehmend die ideologisch-normativen Debatten um Sinn und Zweck von UNO & Co. ab, wenn auch in den USA das Spiel »Verteufeln vs. Verklären« der Vereinten Nationen beliebt zu bleiben scheint. Die meisten strittigen Fragen oder vorherrschende Schlagworte wie »global governance« sind allerdings ohne Bezug auf fundamentale Wertungen meist nicht einmal zu formulieren: Solche Wertungen wären z. B., dass der Klimawandel-- sofern er von uns verursacht ist (was bis vor kurzer Zeit noch sehr umstritten war)-- ein Übel ist, dass massenhafter Hunger ein Skandal ist oder dass die NGOs statt der zwielichtigen Staaten ein Segen für die Menschheit sind-- oder auch, dass das Internet die Lösung unserer Probleme einfacher macht. Das Internet ist ein gutes Beispiel für die Kompliziertheit der Probleme, die von internationalen Regimen irgendwie in Ordnung und Verlässlichkeit gebracht werden sollen. Das Leben im Netz versprach zugleich diskret verborgen und offen für alles und jeden zu sein: anarchisch, anonym, autonom. Regeln schien es nicht zu geben oder allenfalls von den Nutzern zwangsfrei und freiwillig ausgemachte- - die Utopie des klassischen Anarchismus war neu erfunden. Vermeintlich gab es ja im Internet auch nicht viel zu regeln, seine Unregierbarkeit schien doch gerade wesentlich zu sein, die uneingeschränkte Freiheit des Nutzers zum Ärger vieler autoritärer Staatsregierungen oder eigentumsfixierter Wirtschaftsunternehmen. Aber bald zeigte sich, dass im und für das Internet eine ganze Menge zu regeln ist, damit es technisch und kommunikativ überhaupt funktionieren kann, also schon bevor sich überhaupt auf ethischer und politischer Ebene die Frage nach nötigen einschränkenden oder kanalisierenden Maßnahmen für den Internet-Verkehr stellte. In dem Maße, in dem das Internet sich vom Spielplatz für Spezialisten zum Massenmedium und weiter zum Marktplatz entwickelt, wächst auch der Bedarf nach Regeln über die <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 17 1.3 Zu diesem Buch 17 technischen Vorgaben hinaus, um widerstrebende Interessen auszugleichen: Wir alle wollen das Netz offen, unkontrolliert, grenzen- und kostenlos nutzen, Firmen und Händler wollen ungestört und ungefährdet Geld verdienen, Regierungen wollen Kriminalität und Terrorismus bekämpfen, weniger demokratische Regierungen sich außerdem keinen Widerspruch bieten lassen, politische Aktivisten wollen Staaten und Firmen kritisieren usf. Schon mit der Vergabe und Verwaltung von Namen und Adressen stellte sich eine Machtfrage; seit im und durch das Netz viel Geld zu verdienen ist, gibt es Interessenkonflikte, die sich nicht von selbst lösen und autonom regeln lassen. Staaten sind nicht nur in ihren Handlungsmöglichkeiten technisch beschränkt, auch grundlegende rechtliche Prinzipien für den Verkehr im Netz sind nicht zureichend entwickelt: Es ist z. B. sehr schwierig, klare Kriterien für das Feststellen missbräuchlichen Herunterladens zu formulieren, was erschwert, solche Kriterien bei den Nutzern autoritativ durchzusetzen; also wird das öffentliche Rechtsgut »geistiges Eigentum« von den im Netz anbietenden Firmen insofern »zivilgesellschaftlich« privatisiert, als sie versuchen, verlässliche technische Hürden gegen den Missbrauch einzubauen. Auch ohne dass Staaten bisher internationale Kontrollinstanzen etablieren wollten oder konnten, ist ein wachsender Bedarf nach Regelung oder gar Steuerung des Internet-Verkehrs absehbar-- und es zeichnen sich Elemente eines informellen, ziemlich offenen und noch sehr »weichen« Internet-Regimes ab. 1.3 Zu diesem Buch Alles, was in diesem Buch beschrieben wird, ist auch im Internet irgendwo und irgendwie zu finden. Sachinformationen sind dort zahlreicher und umfänglicher, spezifischer und aktueller gespeichert als dies in einem schmalen Band, der sich auch nicht wie von selbst stetig auf den neuesten Stand bringt, möglich wäre. Was aber hier geboten werden kann, wird so vom Netz nicht geliefert: ● ● das riesige Stoffgebiet mit seiner unübersehbaren Zahl von Elementen und mit seinen oft schwer durchschaubaren Regelungen wird zusammenfassend dargestellt; ● ● es wird Orientierung ermöglicht, indem dargelegt wird, wo und wie die Phänomene, Institutionen und Prozesse eingeordnet werden können, und ● ● es werden Interpretationen angeboten, anhand derer diese verstanden und beurteilt werden können; ● ● es werden Literaturhinweise zur vertiefenden Arbeit gegeben. Das zweite Kapitel liefert das nötige Grundwissen und orientierende Anmerkungen zu den konzeptionellen und theoretischen Grundlagen: Wie ist die Situation der internationalen Beziehungen aufzufassen, welche Perspektiven und Instrumente bieten die Theorien über internationale Politik? Das dritte Kapitel macht unter den Blickwinkeln von Interdependenz und Kooperation verständlich, wie Internationale Regime bestimmt, beschrieben und genutzt werden können: Was sind Regime, warum gibt es sie, woraus sind sie zusammengesetzt, wie funktionieren sie, wer nutzt sie? Das vierte Kapitel legt dar, wie die multilaterale Praxis internationaler Politik funktioniert und was dabei die Rolle der multilateralen Internationalen Organisationen ist oder zumindest sein könnte-- welche Merkmale, Aufgaben und Funktionen ihnen zuzuschreiben sind; zwangsläufig wird dies zu einer Darstellung »der UNO« bzw. des sog. Systems der Vereinten Nationen und des oft recht speziellen Charakters ihrer Arbeitsweisen. Das fünfte Kapitel stellt die großen Arbeitsfelder internationaler Regime und der diese tragenden internationalen Organisation vor. Angesichts der nicht mehr überschaubaren Menge des Stoffes kann dies nur in Form von Überblicken geschehen; in diesen konnten nicht ausgewogen alle denkbaren Punkte gleichmäßig aufgegriffen werden, sondern es galt auszuwählen und Schwerpunkte zu setzen. Schließlich bleibt die Frage nach dem Ertrag: Wirkung, Effizienz und Defizite internationaler Regime und Organisationen darzustellen und zu beurteilen, böte ausreichend Stoff für einen weiteren Band. Er <?page no="18"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 18 18 1 Einführung müsste die den internationalen Organisationen und Regimen entgegengebrachten politischen Erwartungen mit-- keineswegs ausreichend vorliegenden-- politikwissenschaftlichen Analysen ihrer Leistung und ihrer Mängel konfrontieren, um die von Wissenschaft und Politik diskutierten Vorschläge zu Reformen und Alternativen kritisch würdigen zu können. Indes können in diesem Buch dem Leser nur in der jeweiligen Darstellung des Problemstoffs sehr kurz Kriterien angeboten werden, wie die Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation und Organisation einzuschätzen sind. Gesamturteile zu formulieren wäre ohnehin müßig, dazu sind die Strukturen der Arbeitsbereiche und die ihnen zugrundeliegenden Interessen und Konflikte, aber auch die zur Verfügung stehenden Lösungsstrategien und Instrumente viel zu vielfältig und unterschiedlich: Ohne internationale Kooperation geht es definitiv nicht mehr, aber geht es durch sie jeweils besser? Das Verfallsdatum kritischer Untersuchungen und konstruktiver Vorschläge scheint jedenfalls immer früher anzusetzen zu sein (vgl. zur UNO z. B. Krasno 2004; Varwick/ Zimmermann 2006, Volger 2007); die einschlägigen Reformdebatten vollziehen sich meist recht schwerfällig und gar umständlich, während die Umstände sich oft schon rasch gewandelt haben: Eine Sichtweise, die eher auf informelle und inkrementelle Veränderungsprozesse achtet, dürfte den realen Entwicklungen angemessener sein. Schließlich ist noch ein eigenes kleines »Sprach-Regime« für den folgenden Text zur Verwendung englischer Termini und Abkürzungen erforderlich: Die Sprache internationaler Organisation ist inzwischen praktisch fast ausschließlich Englisch, auch wenn in der Charta der Vereinten Nationen (Art. 111) weitere offizielle Amtssprachen festgelegt sind (Chinesisch, Französisch, Russisch und Spanisch; Arabisch kam später dazu). Viele Dokumente und wichtige Texte liegen nur noch auf Englisch vor. In diesem Buch werden- - um den fließenden Text nicht mit zu viel »Denglisch« zu verzieren- - immer die deutschen Bezeichnungen verwendet, sofern sie allgemein eingeführt und verständlich sind; die englischen Namen und Termini werden bei Bedarf in Klammern angefügt. Problematisch kann das aber bei den Abkürzungen werden: Deutsche Abkürzungen werden auch bei uns immer seltener verwendet, sofern es sie denn überhaupt gibt und sie sich durchgesetzt haben. Für die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) z. B. gibt es keine adäquate deutsche Abkürzung. Der Internationale Währungsfonds (International Monetary Fund, IMF) wird zwar in den Medien häufig mit »IWF« abgekürzt, aber das englische »IMF« dürfte sich auch bei uns bald durchgesetzt haben. Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (International Bank for Reconstruction and Development, IBRD) ist uns fast nur unter dem Kürzel »Weltbank« bekannt, was auch im Englischen mit der Durchsetzung von »World Bank« statt »International Bank« ähnlich ist- - unser aller »Globalisierung« zeigt sich schnell in der Sprache. Viele der benutzen Fachtermini sind nicht eindeutig definiert, was besonders dann, wenn es sich auch um ein ganz normales Wort unserer Alltagssprache handelt, verwirren kann. Um das zu vermeiden, wird die Bedeutung in der Darstellung jeweils beizeiten erläutert. Schon das simple Wort »international« kann Missverständnisse auslösen: Im engeren Sinne bedeutet es zwischenstaatlich, wobei aber oft tatsächlich nur intergouvernmental (zwischen Regierungen) gemeint ist; im weiteren Sinne verstehen wir es als grenzübergreifend oder grenzüberschreitend, unabhängig davon auf wen und was bezogen; mit »transnational« sind Aktivitäten gemeint, die durch Staatsgrenzen, gewissermaßen von diesseits nach jenseits, hindurch gehen wie wirtschaftlicher Verkehr oder das Surfen im Internet; mit »supernational« oder auch »supranational« dagegen sind Instanzen und Mechanismen gemeint, die über der Ebene der Nationalstaaten funktionieren und auf diese zugreifen und auch in diese eingreifen können wie die EU auf ihre Mitgliedstaaten. Und wie schon erwähnt: In diesem Buch soll »Internationale Organisationen« nur die Regierungs-Organisationen bezeichnen, wenn es nicht ausdrücklich anders vermerkt wird. Eine besondere Frage ist die angemessene deutsche Übersetzung für »Non-governmental Organizations« (NGOs)«. Eingebürgert hat sich die Fehlübersetzung »Nichtregierungsorganisationen«, obwohl eigentlich eher »nichtstaatliche Organisationen« gemeint ist. Das englische »governmental« bezeichnet <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 19 1.3 Zu diesem Buch 19 nicht nur die Regierung i. e. S., sondern den staatlichen Bereich insgesamt als ein im Idealfall republikanisches Gemeinwesen unter einer demokratischen Regierung; mit »intergovernmental« ist mehr gemeint als die Beziehungen zwischen Staatsregierungen, also auch die zwischen allen staatlichen oder auch nur staatsnahen Institutionen (vgl. Paqué 2000, S. 513-f ). Aber auch in diesem Fall ist es wenig aussichtsreich, gegen den Mainstream zu halten. Noch ein Hinweis zu Zitierweise und Literaturangaben: Literatur, die in der Darstellung genannt oder auf die für Belegstellen verwiesen wird, ist in der Bibliographie am Ende des Bandes zu finden; die kurzen Literaturhinweise in den einzelnen Kapiteln oder Abschnitten des Buches informieren über die wichtigsten Bücher und Aufsätze zum jeweiligen Thema, zwangsläufig nur in einer überschaubaren Auswahl. <?page no="20"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 20 <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 21 21 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen Nachgedacht und gestritten wird über die Frage, ob überhaupt, in welcher Art und in welchem Ausmaß internationale Kooperation oder gar Organisation wünschenswert und möglich wäre, eigentlich schon, seitdem die Menschheit in Gruppen organisiert Konflikte austrägt. Aber die Gelegenheit zu herrschaftsübergreifender Zusammenarbeit ergab sich nur selten, bevor sich im 17. Jahrhundert in Europa der moderne-- territorial eingegrenzte und in seinen Grenzen souveräne-- Nationalstaat als politische Organisationsform und damit als der eigentliche außenpolitische Akteur durchsetzte. Nun wurde mit jedem größeren Krieg das zwischenstaatliche/ internationale Problem drängender. Das moderne Denken über internationale Beziehungen ist von Anfang an auch wesentlich daran interessiert, wie Krieg verhindert und sicherer Frieden gewährleistet werden könne. Die Meinungen dazu variieren zwischen zwei extremen Vorstellungen: ● ● Die moderne Staatenwelt ist notwendigerweise anarchisch strukturiert; diese Anarchie bedeutet nichts anderes als einen ständigen potentiellen Kriegszustand zwischen den Staaten-- weswegen sich jeder Staat zu wappnen hat. ● ● Das einzige verlässliche Mittel gegen die ständige Kriegsgefahr ist die Errichtung eines weltumspannenden Gewaltmonopols-- meist als »Weltstaat« gedacht. 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? Jene alte Dichotomie zwischen den Ideen »Anarchie« und »Weltstaat« prägt letztlich bis heute die Diskussionen über die internationalen Beziehungen- - von der Entwicklung des »Westfälischen Systems« bzw. des Konzepts der Staaten-Souveränität über die von der sog. Globalisierung ausgelöste Veränderung der Rolle der Staaten bei wachsender Bedeutung der Zivilgesellschaft bis zur heute angesagten Forderung nach wirksamer »global governance«. 2.1.1 Souveränität als grundlegendes Prinzip der-modernen-Staatenwelt Das »System des Westfälischen Friedens« bezeichnet die moderne internationale Welt von nach innen und nach außen unabhängigen, souveränen und gleichberechtigten Staaten, deren Handlungsfreiheit von keiner übergeordneten Machtinstanz eingeschränkt werden kann-- sie tendiert also zu einem anarchischen Zustand, wenn nicht gar zu einem permanenten Kriegszustand im Hobbes’schen Sinne. Paradoxerweise gilt ein Friedensvertrag als Beginn des Zustands der Anarchie zwischen den Staaten: Der Westfälische Friede ist der Friedensvertrag von 1648 zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, in dem ganz Europa geschunden und viele Landstriche und Städte vor allem in Deutschland zerstört wurden-- er war vordergründig ein Religionskrieg, aber es ging grundsätzlich natürlich auch um Machtfragen. Der Friedensschluss ist von mehrfacher Bedeutung für die Entwicklung des modernen politischen Denkens (z. B. zur Religionsfreiheit) und insbesondere für die Theorie der »internationalen Beziehungen«-- denn die gibt es im engeren Sinne erst seit dem Westfälischen Frieden. Der Vertrag gilt als das wohl erste völkerrechtliche Dokument, in dem im Prinzip das Konzept des souveränen Nationalstaats festgeschrieben wurde: Seitdem ist dieser »Akteur« der europäischen und der Weltpolitik-- und zwar der entscheidende Akteur. Der Vertrag erkannte nur noch die Staaten als die ausschließlich oberste-- oder eben »souveräne«-- Macht in ihrem Territorium an und wies damit die Ansprüche der Kirche auf transnationale politische <?page no="22"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 22 22 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen Autorität zurück. Zwar wurde konkret noch nicht das Abstraktum »Staat« genannt, aber gemeint waren als neue Träger der Souveränität nicht mehr autorisierte Personen und Personenverbände als Herrscher, sondern die territoriale Herrschaft als solche-- nicht angesprochen waren dabei die »Völker«. Als Idealfall des Nationalstaats wird in der Folge eine Deckungsgleichheit von Territorium, Staat, Volk und sogar des religiösen Bekenntnisses angenommen; nach den jahrzehntelangen Religionskriegen war die Durchsetzung des Prinzips »cuius regio, eius religio« (»wessen Herrschaft, dessen Religion«) ein klarer zivilisatorischer Fortschritt, weil darin nicht nur der Verzicht auf die Einmischung in die religiösen, sondern auch generell in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates eingeschlossen war. Staaten, in deren Grenzen verschiedene Völkerschaften miteinander potentiell konfliktträchtig zusammenleben, sind seitdem durch das Nichteinmischungsgebot und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen vor ethnischen Ansprüchen von außen weitgehend geschützt. Das sog. Westfälische Staaten-System ist also fundiert im Souveränitätsprinzip und im Territorialprinzip, aber erst das sog. Legalitätsprinzip machte es zu einem funktionierenden inter-nationalen Regelwerk: Unabhängig von der Größe des Landes, seiner Bevölkerung, seiner militärischen Macht oder seiner Wirtschaftskraft ist jeder souveräne Staat gegenüber allen anderen souveränen Staaten absolut gleichberechtigt, unabhängig von deren Größe etc.; völkerrechtliche und vertragliche Regelungen werden nur auf der Basis von Freiwilligkeit und Kündbarkeit nach Maßgabe der eigenen Interessen wirksam; insbesondere das Recht auf Kriegsführung als ultimativem Mittel zur Wahrung der eigenen Souveränität gilt unbeschränkt. Nur wenigen Hegemonialmächten wird es in ihren stärksten Zeiten möglich gewesen sein, die Prinzipien des Westfälischen Systems tatsächlich voll auszunutzen; meist waren Rücksichtnahme auf andere Staaten und die Duldung von Einflussnahme von außen angebracht, zugleich wurde aber immer versucht, die Souveränitätsrechte der Staaten auf der gegnerischen Seite faktisch zu untergraben. Beides liegt in der Logik eines Staaten-»Systems« ohne übergeordnete Macht oder vorgegebene Verhaltensregeln: Wer seine Möglichkeiten ausschöpft, provoziert Konflikt, wer dem Konflikt ausweicht, wird zumindest ausgenutzt-- eine Balance dazwischen zu finden, war immer riskant, ihre Verlässlichkeit war nie gewährleistet. Gegen die Anarchie und damit den latenten Konfliktzustand zwischen den Staaten gibt es logischerweise drei idealtypische Mittel: ● ● national: Durchsetzung einer hegemonialen Vormacht, die aber ständig ihre Stellung als unangreifbare Ordnungsinstanz (»Weltpolizei«) bekräftigen und verteidigen müsste und dennoch irgendwann in Gewalt untergehen würde; ● ● inter-national: Schaffung-- und ständige Pflege für Erhalt und Ausbau-- eines möglichst universalen Systems von vertraglichen Abmachungen mit prozeduralen und normsetzenden Regelungen und praktischen Formen der Kooperation aller souveränen Staaten untereinander auf der Basis ständiger multilateraler Verhandlungen und mittels internationaler Institutionen (wie Regime, Organisationen, Gerichte); ● ● supra-national (»global«): Gründung eines »Weltstaats« mit effektiver »Weltregierung«. Schon länger als die oft beschworene »internationale Gemeinschaft« (s.- Kap. 1.1) spukt also ein noch wunderlicheres Gespenst durch manche krisengeschüttelte Köpfe-- der »Weltstaat«. Man mag dies als utopische Spinnerei verbuchen, aber überraschend viele Menschen und darunter auch sehr ernstzunehmende Geister (wie Einstein) haben immer wieder davon geträumt. Der Gedanke ist so gespenstisch, weil der Weltstaat schon tot ist, bevor er je zum Leben kommen könnte; weder die alten Weltreiche noch die katholische (d. h. »alles umfassende«) Kirche und schon gar nicht moderne zwischenstaatliche »Weltorganisationen« wie der frühere »Völkerbund« oder heute »die UNO« genügen auch nur halbwegs der anspruchsvollen Idee des einen, die ganze Welt regierenden Zentralstaats, der mit Weltgesetz und Weltethik, Weltpolizei und Weltgericht Frieden und Gerechtigkeit schafft. Der Weltstaat und seine <?page no="23"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 23 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 23 Regierung sind sowohl unmöglich als auch unerwünscht-- und wären ohnehin ungeeignet für die Bearbeitung der anfallenden Probleme: Ein globaler Staat über allen Völkern und Kulturen wäre-- sofern er auch nur die Chance haben soll, zu funktionieren-- zwangsläufig zentralistisch, bürokratisch, demokratisch nicht kontrollierbar und vor allem nicht ausreichend problem(feld)spezifisch. Bekennende Anhänger entsprechender Allmachts-Phantasien mögen als skurrile Außenseiter gelten-- aber: der Weltstaatsgedanke ist als leitende Idee oder Denkreflex verbreiteter und prägender als uns meist bewusst wird. So wurde »die UNO« schon bei ihrer Gründung von vielen Zeitgenossen und zumal von überzeugten Unterstützern als Weltstaats-Ersatz (miss-)verstanden. Wie die Europäische Union (EU) zeigt, ist noch eine Sonderform unter der Rubrik supra-national (»regional«) einzuführen. Die EU ist der bisher zwar einzige und regional begrenzte, aber recht erfolg- Das Prinzip der »Souveränität« des Staates Das völkerrechtliche Prinzip der »Souveränität« des Staates hat »zwei komplementäre und sich wechselseitig bedingende Seiten«: Innerhalb des Staates, konkret seines Territoriums, »setzt ihr Inhaber letztverbindliches Recht«, von außen kann keine andere Macht ihm rechtliche Weisungen geben. So ist »einerseits von staatsrechtlicher (innerstaatlicher), andererseits von völkerrechtlicher Souveränität die Rede. Für letztere wird als Synonym auch ›Unabhängigkeit‹ verwandt.« (Fassbender 2000, S. 492) Als politisches Konzept wurde »Souveränität« allerdings wegen des Machtgefälles unter den Staaten praktisch nie vollständig umgesetzt: Der Begriff der Souveränität des Staates ist aber so eng mit dem modernen Staatsbegriff verschränkt, dass, obwohl-- oder eben weil-- »seine Konturen so unscharf sind«, ihm »beinahe mystische Qualität« und entscheidende Bedeutung in der modernen Staats- und Völkerrechtslehre zukommt; gleichwohl ist er »vornehmlich als ein Kampfbegriff wirksam geworden-- mehr das beschreibend, was sein soll, als das, was ist« (Fassbender 2000, S. 492). Im 19. Jahrhundert wurde die Staaten-Souveränität noch fast als absolut gesehen, aber im 20. Jahrhundert wurde sie von konkurrierenden Ansprüchen und Normen immer mehr bedrängt-- zumal seit es die UNO gibt. In der sie begründenden »Charta der Vereinten Nationen« ist zwar gleich am Anfang das Wort »souverän« hervorgehoben, aber als Attribut der »souveränen Gleichheit« aller Mitgliedstaaten (UNO-Charta Art. 2). Damit wird Souveränität in Verbindung gesetzt mit der Mitgliedschaft in der internationalen Gemeinschaft, was so interpretiert werden kann, dass »das Recht eines Staates auf Unabhängigkeit durch seine Verpflichtung bedingt wird, Gemeinschaftswerte und -ziele zu schützen und zu fördern« (Fassbender 2000, S. 493). In neueren völkerrechtlichen Debatten wird sogar versucht, eine entstehende Verfassung der internationalen Gemeinschaft zu postulieren, die den Staaten nach Beachtung vorrangiger und vom Willen der einzelnen Staaten unabhängiger Normen als verbleibende Souveränität lediglich Autonomie für Selbstentfaltung in Eigenverantwortlichkeit garantiert. Aus einem »als im wesentlichen rechtlich ungebunden gedachte[n] Staat« sei demnach eine »vielfach-- mit, ohne und sogar gegen ihren Willen-- verpflichtete […] Territorialorganisation geworden«, d. h.: »Souveräne Staatsgewalt […] gibt es heute weder tatsächlich noch rechtlich.« (Fassbender 2000, S. 493) Dennoch lässt bisher der verbleibende Bestand an Souveränitätsrechten und -garantien auch innerhalb der »Weltorganisation« die Staaten zweifellos und konkurrenzlos die entscheidenden Akteure bleiben: Gewaltverbot und Interventionsverbot schränken den souveränen Staat in seinem auswärtigen Handeln zwar stark ein, schützen ihn aber in seinem Bestand; nur er kann seine innere Ordnung bestimmen und nur er hat das legitime Gewaltmonopol auf seinem Territorium- - und ist dabei allenfalls verpflichtet zur Gewährung elementarer Menschenrechte. <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 24 24 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen reiche Fall eines staatlichen Gebildes über existierenden souveränen Staaten, die an dieses freiwillig zunehmend Teile ihrer Souveränität abgegeben haben. Die drei genannten Idealtypen sind definitionsgemäß logisch reine Formen, die realiter so sauber abgegrenzt nicht zu finden sein werden. Die Frage der Zukunft ist, ob es eine Form der weltweiten Kooperation geben kann, die zwischen oder hinter den Logiken von »international/ zwischenstaatlich« und »supranational/ weltstaatlich« funktionsfähig wäre. Oder anders, ob es auch ohne Weltstaat/ -regierung möglich ist, auf supranationaler oder gar globaler Ebene zentrale Instanzen und/ oder Mechanismen mit einer unangefochtenen Monopolstellung für die verbindliche Entscheidung und Regelung bestimmter wichtiger Fragen zu etablieren. In diese Richtung weisen die interessanteren Entwicklungen der letzten Jahrzehnte (wie die in Kap. 1.2 erwähnte Verrechtlichung und Informalisierung), weil die Souveränität der Staaten zwar nicht grundsätzlich beschränkt, aber sehr wohl die Ausübung der Souveränitätsrechte insofern modifiziert worden ist, als die Regierungen sich immer stärker an multilateral geltenden Normen orientieren sollen oder gar müssen. Solche Prozesse haben auf der Ebene der internationalen Kooperation stattgefunden, aber auch supranationale Momente werden beobachtet und diskutiert. 2.1.2 Folgen der »Globalisierung« für die Nationalstaaten »We cannot wait for governments to do it all. Globalization operates on Internet time. Governments tend to be slow moving by nature, because they have to build political support for every step.« Kofi Annan, Generalsekretär der UNO, 1997-2006 »Globalisierung« ist eines der weltweit am meisten verbreiteten Schlagwörter, also selbst total globalisiert: Gemeint ist ein quantitativ wie qualitativ beschleunigter Prozess der weltweiten Verflechtung und Verdichtung von Wirtschaften und Gesellschaften einerseits und globalen Problemen oder Gefahren andererseits; Ereignisse in einem Teil der Welt können sich zunehmend in anderen Teilen der Welt auswirken. Zu befürchten ist, dass die Staaten trans-nationalen Herausforderungen in inter-nationaler Interaktion nicht mehr gerecht werden. Ungeachtet der Aufgeregtheit über »die Globalisierung« wird immer wieder bezweifelt, dass es dabei wirklich um etwas Neues geht- - aus guten Gründen: Durch Fernhandel, Eroberung und Forschergeist ist die Welt schon seit den Großreichen der Antike und spätestens seit dem modernen Kolonialismus ein immer stärker verdichteter Zusammenhang geworden. Mit der Durchsetzung des Kapitalismus als vorherrschende Wirtschaftsweise vollzieht sich wegen dessen expansiven und alle menschlichen Beziehungen durchdringenden Charakters seit dem 16. Jahrhundert eine Entwicklung zu einer alle Weltregionen umfassenden sozioökonomischen Verflechtung. Trotz dieser stark beschleunigten global wirksamen Prozesse ist die Vorstellung einer Vereinheitlichung der »Welt« aber fragwürdig, weil gerade durch die arbeitsteilige Modernisierung und den Welthandel die Ausprägungen der globalen Integration geographisch wie sozial sehr ungleich verteilt sind. Grundsätzlich kann bezweifelt werden, dass »Globalisierung« ein einheitlicher und in sich kohärenter Prozess ist, der gar auch noch eindeutig auf bestimmte Ursachen zurückzuführen ist. »Die These, dass die Angelegenheiten aller Menschen irgendwie zusammenhängen, dürfte heute kaum Widerspruch finden. Die begriffliche Konstruktion dieses Zusammenhanges und dessen genaueres Verständnis bereiten jedoch beträchtliche Schwierigkeiten.« Niklas Luhmann zur »Weltgesellschaft« (1971, S. 5) <?page no="25"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 25 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 25 Es ist ratsam, in der Diskussion der »Globalisierung« drei Ebenen zu unterscheiden: 1. den langfristigen, fundamentalen und epochalen historischen Prozess der sozioökonomischen Verflechtung der Welt zu einem komplex-interdependenten Wirtschaftssystem und zugleich zu einer höchst heterogenen Weltgesellschaft; dieser Prozess hat sicherlich nicht erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begonnen, sich aber seitdem rapide entwickelt-- er wird insbesondere nun als solcher breit wahrgenommen; 2. den Mythos, der die komplexen Vorgänge vereinfachend erklärt und ihnen eine gerichtete Tendenz unterschiebt, sie so je nach Bedürfnis sowohl fortschrittsfroh als Heilsversprechen verklären als auch pessimistisch-kritisch als sozialen, kulturellen und ökologischen Untergang beschwören kann; 3. für den politischen Alltagsgebrauch die Ideologie, die als Begründung manipulativ eingesetzt werden kann, wenn es um die Durchsetzung von Interessen geht (z. B. in Lohntarifverhandlungen). Als wichtigste politische Konsequenzen der Globalisierung werden beschrieben: ● ● Globalisierung und Fragmentierung: Wirtschaftliche und einige soziale und mediale Zusammenhänge werden zwar global stärker verdichtet, was aber zugleich bedeuten kann, dass andere Bereiche und Gruppen sozial, politisch und kulturell durch den globalen Wettbewerb wieder stärker marginalisiert oder regional isoliert werden. ● ● Entgrenzung der Politik: Die Handlungsspielräume der national-territorial begrenzten Staaten reichen hinsichtlich vieler globalisierter Mechanismen und Probleme nicht mehr aus-- die Regierungen stoßen im wörtlichen Sinn an ihre Grenzen. Die anstehenden politischen Aufgaben und so auch schon viele der politischen Prozesse sind aber transnational auf verschiedenen Ebenen verflochten, etwa in internationalen Regimen. Wenn die Räume für politische Regelungen zunehmend sektoral-funktional von den Problemen her und nicht mehr durch nationalstaatliche Grenzen bestimmt sind, ist die Kongruenz von Territorialität und Souveränität, d. h. praktisch die Einheit von Entscheidungsmacht und Entscheidungswirkung, in Frage gestellt. ● ● Entstaatlichung: Wenn die Staaten sich nicht zur Wahrung des Zusammenhalts von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsmacht entsprechend der globalen Probleme zu einem Weltstaat oder zumindest einer Weltföderation zusammenschlössen, drohten sie dann nicht praktisch an Handlungsmacht verlieren? Radikal weitergedacht ließe sich folgern, dass globalisierte Politik zu ent-staatlichen wäre und die Handlungsinitiative von den Staatsregierungen auf (welt-)bürger-gesellschaftliche Akteure übergehen sollte; pragmatischer gedacht heißt das zumindest, dass zu prüfen ist, ob, wie und wo ein möglicher oder gar teilweise wahrscheinlicher Macht- und Bedeutungsverlust des Nationalstaats und ein Bedeutungszuwachs der transnational vernetzten »Zivilgesellschaft« zu beobachten und zu begrüßen ist. Jedenfalls ist zu erwarten, dass inter- und transnationale Kooperation, sei es mittels der existierenden Internationalen Organisationen und der flexibleren Internationalen Regime, sei es in neuen Formen und mit neuen Akteuren, rasch weiter wachsen wird, sodass sich supranationale Entscheidungsmechanismen entwickeln können. Weil internationale Organisationen und Regime definitionsgemäß und praktisch von den Staaten als den sie tragenden Akteuren abhängen, ist die Frage nach der »globalisierten« Zukunft der Staaten entscheidend: Verliert der klassische Staat, der souveräne und territorial gebundene Nationalstaat des »Westfälischen Systems«, mit der Entgrenzung seine Grundlage und seine Funktionen? Auf Grundlage einer plausiblen Unterscheidung in »Wirtschaftswelt«, »Gesellschaftswelt« und »Staatenwelt« (nach Czempiel 1992, 2002), könnte man die Staaten in ihrer Kompetenz beschränkt sehen auf den Kernbereich »internationaler« Politik-- zumeist Fragen von Friedenswahrung und Sicherheit--, der ihnen unbestritten bliebe, während in den anderen Welten wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure aller Art zunehmend autonomer, weil hoch kommunikativ und dicht vernetzt, die anstehenden globalen Probleme auf lokaler, regionaler und natürlicher globaler Ebenen selbst regeln. <?page no="26"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 26 26 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen »Die internationale Zusammenarbeit gründet sich auf die Staaten. Auch wenn sie internationale Regime und internationale Organisationen bildet, hängt deren Wirksamkeit letztlich vom Durchsetzungswillen und von der Implementationsfähigkeit der Staaten ab.« Jürgen Hartmann (2001, S. 78) Die politisch bedeutsamste Konfliktlinie in der Globalisierungsdebatte ist also die zwischen ● ● einer Position, die den Nationalstaaten weiterhin die zentrale, allerdings wegen der Globalisierungsphänomene vielfach zu modifizierende Bedeutung in den Internationalen Beziehungen zugesteht (»Kirche im Dorf lassen«), und ● ● einer Position, die dank der Globalisierung das Ende des Nationalstaats, seiner Funktionsmechanismen und zumal seiner Legitimation zugunsten zivilgesellschaftlicher Akteure und deren globalen Steuerungs- und Legitimationsformen verheißt (»das Kind schwimmt außerhalb des Bades besser«). Manche Prognosen über die endliche Zukunft des »westfälischen« Staates erinnern rührend an marxistische Prophezeiungen vom kommenden Absterben des Staates (wozu ihn Lenin und Stalin ja erst mal richtig stark machen mussten). Sofern der Globalisierungsprozess zumindest schon in der Epoche der neuzeitlichen Moderne einsetzte, stand der souveräne Nationalstaat zu dieser Zeit nicht im Widerspruch zur globalen Verdichtung und Verflechtung, sondern er war angesichts der noch geringen technischen und kommunikativen Mitteln dafür die geeignete politische Trägerstruktur. Nun steht der »Staat« als ein historisches und damit veränderliches und letztlich vergängliches Ordnungsinstrument offenbar-- wie früher auch schon-- unter starkem Anpassungsdruck, aber er wird in den meisten seiner Aufgabenbereiche weiterfunktionieren. Denn auch angesichts unserer transnationalen und globalen Probleme stellt sich die simple Frage, wer oder was denn »Staatlichkeit« ersetzen sollte? Eine Auflösung oder ein Aufgehen von fast 200 Nationalstaaten in eine wie immer geartete supranationale Struktur ist in absehbarer Zeit einfach nicht realistisch, wenn man sich nicht dem Mythos von der Weltregierung im Weltstaat hingibt. Eher sind neuartige hegemoniale bzw. multipolare Blockbildungen wie die Europäische Union zu erwarten, die sich aber dann zueinander ähnlich wie die heutigen Staaten verhalten dürften. Versprechen der Art, dass die »Zivilgesellschaft« selbst die Regierung der Welt übernimmt, etwa dass (Internationale) Nichtregierungsorganisationen als Funktionsäquivalente des Nationalstaats seine Aufgaben übernehmen könnten, sind rein spekulativ und selbst im Gedankenexperiment äußerst problematisch-- gerade unter dem Aspekt der zivil-demokratischen Legitimation: Welche Instanzen stellen mit welchen Kriterien fest, welche NGO legitimerweise Forderungen erhebt und Lösungen anbietet? Staaten als Akteure in den internationalen Beziehungen werden einerseits wohl an Handlungskompetenzen verlieren, anderseits wahrscheinlich aber durchaus auch neue hinzugewinnen bzw. alte modifizieren und spezifizieren: Wegen der wachsenden Bedeutung der Zivilgesellschaft könnten neue Aufgaben auf den Staat zukommen, etwa Moderatorenbzw. Mediatoren-Rollen für staatliche Institutionen; das wäre zwar nicht wirklich neu, würde aber aufgrund der wachsenden Vielfalt und Anzahl der Akteure immer wichtiger. Wegen des wirtschaftlichen und sozialen Anpassungsdrucks, den Globalisierung erzeugt, kann es in manchen Bereichen und Phasen dazu kommen, dass mehr Staatlichkeit verlangt wird, nämlich dass der Staat die Wettbewerbsfähigkeit seines Wirtschafts- und Sozialsystems mit Regeln, Reformen und Hilfen wahrt. Weil dank der Globalisierung die Begrenztheit des Handlungsspielraums des Staates auf seine territoriale Zuständigkeit problematisch geworden ist, bietet es sich an, dies dadurch ausgleichen, dass der Staat inter-national mit anderen Staaten kooperiert, um so gemeinsam handlungsfähig zu bleiben oder zu werden; insofern wäre die Konsequenz aus dem beschworenen Bedeutungsverlust des Staates nicht bescheidener Rückzug, sondern erhöhte Aktivität-- durch internationale Regime. Staatliches Handeln wird sich auch im Hinblick auf die verschiedenen Problem- und Arbeitsbereiche weiter differenzieren. Sicherheit, im klassischen militärischen und polizeilichen Sinn wie auch in der <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 27 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 27 Terrorbekämpfung, wird im Kern die vorrangige staatliche Domäne bleiben, selbst wenn viele Sicherheitsdienstleistungen und womöglich sogar der Strafvollzug privatisiert würden. Die Rahmenordnung der Spielregeln für Wirtschaft und Finanzmärkte sowie der Kriterien für soziale Sicherheit muss mit möglichst breit legitimierter staatlicher Autorität vorgegeben und verantwortet werden, wenn man nicht den Bock als Gärtner haben will. In anderen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Aktivitätsbereichen sind alle möglichen Formen der Arbeitsteilung zwischen Gesellschaft und Staat denkbar-- aber: gegen und ohne Staaten oder ihre Regierungen wird auch im 21. Jahrhundert das Weltklima nicht gerettet werden können. Nationalstaatliche Instanzen werden rechtlich, institutionell und finanziell weiterhin in den meisten Fällen die Grundlagen bieten und deswegen keineswegs um- oder übergangen werden; sie werden vielmehr intensiv in ein komplexer werdendes Verhandlungs- und Kooperationssystem mit anderen Akteuren auf allen relevanten Ebenen (»Politikverflechtung«) eingebunden werden. Die große Finanzkrise 2008/ 2009 zeigte denn auch dreierlei: ● ● Zwar gibt es kein funktionierendes internationales Regime zur Organisation und Kontrolle der Finanzmärkte; ● ● dennoch hat die rasche und reibungsarme Zusammenarbeit zwischen internationalen Organisationen wie dem IMF und den meisten Staaten zur Krisenbewältigung dann doch recht gut funktioniert; ● ● Bedeutung und Handlungsspielraum der Nationalstaaten sind keineswegs reduziert worden, im Gegenteil, diese waren die entscheidenden Akteure bei der Krisenbewältigung. Als wie fragwürdig man diese Krisenbewältigung auch einschätzen mag: Diejenigen, die aus ihrer neoliberalen Bastion in der Wirtschaftspolitik am lautesten weitestgehende Deregulierungen und das Ende der Einmischung des Staates gefordert hatten, mussten nun froh sein, dass die gering geschätzten Staaten weltweit Milliarden an Steuergeldern (aus der »Zivilgesellschaft« stammend, aber nicht von ihr vergeben) zur Rettung von Banken und Produktionsstätten bereitstellen konnten. »Die große Erzählung, dass der Nationalstaat überfordert sei und deswegen alles überstaatlich geregelt werden müsste, wird oft als Naturgesetz dargestellt. Das ist ein Irrtum. Viele Probleme müssen kooperativ gelöst werden, aber nicht alle.« Frank Schorkopf, Verfassungsrechtler (Süddeutsche Zeitung vom 21. August 2009) Die viel gebotene und gerne gehörte Erzählung vom Kompetenzverlust des Nationalstaats ist also ein Märchen, das man nicht mal mehr Kindern, die einmal Wirtschaftstheoretiker werden wollen, zumuten sollte. Dennoch hat die oft bedingungslose Staatsfixiertheit, die seit jeher große Teile der Politikwissenschaft und insbesondere die »realistisch/ neorealistisch« genannte Variante der Theorie der Internationalen Beziehungen prägt und dabei ihre Erkenntnismöglichkeiten reduziert, im Rahmen der Globalisierungsdebatte eine teilweise noch absurdere Anti-Staatsfixiertheit-Fixiertheit gegen sich in Stellung gebracht. Diese verdoppelte Ausfilterung führt zu eigentümlichen Kopfgeburten wie die »Zählebigkeit des Staates« und zu Scheinproblemen, etwa wie denn zu erklären sei, dass Staaten mit gesellschaftlichen Gruppen produktiv zusammenarbeiten können (vgl. Rittberger/ Kruck/ Romund 2010, S. 20 u. 28). Wieso sollten sie denn nicht, jedenfalls im Falle demokratischer Staaten und deren internationaler Organisationen? Die rituelle Beschwörung der »NGOs« als neue Heilsbringer auch ohne oder gar gegen den Staat verdeckt eher deren reale und potentielle Leistungen, als dass sie deren Bedeutung zu verstehen hilft: Der internationale Menschenrechtsschutz wäre ohne die Zuarbeit der vielen zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsorganisationen als ausschlaggebende Voraussetzung nicht funktionsfähig. Ohne die Aufklärungs- und Lobby-Arbeit von Umweltgruppen und -verbänden hielten wohl die meisten Journalisten und Politiker den Klimawandel nur für schlechtes Wetter. Aber sollte und könnte deswegen das zivilgesellschaftliche Unternehmen »Greenpeace« das Weltklima managen? <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 28 28 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen Die konstruktive oder auch konfliktreiche Zusammenarbeit mittels Kritik und Verhandlung zwischen »Staat« oder »staatlichen Stellen« und organisierten Gruppen der Gesellschaft ist nichts grundsätzlich Neues; neu und interessant waren seit den ersten »Bürgerinitiativen« in den 1970er Jahren Ausmaß und Vielfalt, in welchen sich Interaktionen zwischen Staat und Gesellschaft ausdifferenziert haben-- und dass längst schon die inter- oder transnationale Ebene davon erreicht worden ist (vgl. Brühl 2003). Aber das schuf neue Probleme und Fragen bleiben dabei offen, z. B.: ● ● Das englische »civil society« bekommt, wenn es nicht als »Bürgergesellschaft« sondern als »Zivilgesellschaft« übersetzt wird, einen bemüht anti-militaristischen, jedenfalls anti-etatistischen Unterton- - aber wer ist dabei eigentlich der Gegner? ● ● Das kaum lösbare Problem der Legitimation: Durch wen oder was ist eine bestimmte Aktionsgruppe oder ein bestimmter Verband berechtigt, in einer bestimmten Frage eine bestimmte Stellung zu beziehen? ● ● Nicht vergessen werden sollte: Zur Zivilgesellschaft zählen definitionsgemäß auch Öl-Multis, Psycho- Sekten und Mafia-Clans; wer entscheidet, auf welche Weise, welche Elemente der Zivilgesellschaft nicht mitspielen dürfen? ● ● NGOs und andere Elemente der Zivilgesellschaft sind auch ein Abbild dessen, was man vage als »Weltgesellschaft« bezeichnen mag, und ihrer Widersprüche: Weltbilder, Interessen, Ziele, Kapazitäten, Arbeitsweisen und Personal von NGOs aus Nord und Süd z. B. können sehr verschieden und widersprüchlich sein, wie jedes rituelle »NGO-Forum« am Rande einer »Weltkonferenz« oder eines ähnlichen globalen »events« trotz aller Globalisierung beweist. Der von den einschlägigen NGOs intensiv begleitete und als grandios gescheitert geltende sog. Weltklima-Gipfel (COP 15) in Kopenhagen im Dezember 2009 hat- - wie viele ähnliche Konferenzen zuvor-- klar gezeigt, wo die Macht noch ist und wo nicht: Nicht auf irgendeiner »Welt«-Ebene und/ oder bei Akteuren einer global interessierten Zivilgesellschaft, sondern immer noch beim Nationalstaat, der seine souveränen Rechte und Spielräume zumindest in der Verweigerung bedenkenlos nutzen kann, auch in einer kleinen Gruppe oder selbst als einzelner- - sofern er nur ausreichend Macht-Ressourcen hat, nicht zuletzt auch »symbolische«. Die sog. Schwellenländer und am konsequentesten die VR China haben-- in stillschweigender Allianz mit klima-indifferenten Kräften in den USA-- ihre ökonomische, aber auch moralische Position scheinbar rücksichtslos genutzt, um den Redeschwall vor und auf der »Weltklimakonferenz« in ein kleinlautes Gebrabbel zu vermindern. Zwar mag der von den meisten Menschen und auch Regierungen als »Scheitern« empfundene Ausgang die Entwicklung eines effektiven globalen Klima-Regimes für Jahre behindern, aber vielleicht ist auch die Lektion nachhaltig hilfreicher als es ein weiterer Konsens-Kompromiss mit eng begrenzten verbindlichen Regelungen wäre. Zur Diskussion der zukünftigen Rolle von Staat und Zivilgesellschaft sollten zwei Perspektiven sauber getrennt werden: ● ● Die von der Beobachtung der sich beschleunigenden »Globalisierung« motivierte Einsicht, dass wir immer mehr komplexe und interdependente Probleme von globaler Reichweite haben, die meist (auch) in weltweiten Ursache-Wirkungszusammenhängen gründen, weswegen sie (auch) oberhalb der Handlungsebenen einzelner Staaten oder Staatengruppen bearbeitet werden müssen. ● ● Den fröhlichen Aufruf, gegen all diese Probleme machen wir jetzt selbst was und zwar logischerweise gleich auf dem Niveau des »Weltregierens« und die NGOs helfen uns dabei (»global governance«)-… <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 29 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 29 2.1.3 Die Forderung nach »global governance« Die Zauberformel bietet sich schon länger zur Lösung der Weltprobleme an: »global governance«. Sie soll irgendwo zwischen Inter- und Supranationalität wirken; auch nach jahrelanger Diskussion bleibt unklar, was genau mit diesem fast zustimmungspflichtigen Begriff gemeint ist-- seine große Popularität und nahezu erdrückende Verbreitung sind indes unbestritten. »In den aktuellen Debatten über Weltpolitik ist der Begriff ›Global Governance‹ inzwischen allgegenwärtig. […]-- ungeachtet von Reichweite, Inhalt oder Kontext ist in den vergangenen Jahren beinahe jeder politische Prozess und beinahe jede politische Struktur jenseits des Staates als Teil einer äußerst breit gefassten Idee des globalen Regierens verstanden worden.« Klaus Dingwerth/ Philipp Pattberg (2006, S. 376) Die Begriffe »government« und »governance« werden oft als harscher Gegensatz verstanden: Der eine bezeichnet konventionell die »Regierung« als Institution-- impliziert aber auch regiert werden durch den hierarchisch-bürokratischen Apparat eines Staates und einer Regierung; dagegen verspricht der andere die Chance auf sich selbst regieren, denn er meint die zielorientierte und planvolle Regelung von politischen und gesellschaftlichen Prozessen auch ohne eine von oben steuernde Zentralinstanz. Nun sind aber die unterschiedlichsten Optionen denkbar, wie globale Steuerung in Zukunft organisiert und was insbesondere dabei die Rolle der Staaten sein könnte. Wird es etwa doch einmal eine Zentralinstanz als Nukleus eines Weltstaats geben-- vielleicht den UNO-Sicherheitsrat (s.-Kap. 4.3.3.2)-- oder werden wir uns mit dem Ausbau von internationalen Regimen begnügen müssen (vgl. Bohmann 2002, S. 76 f.)? Oder ist (z. B. mit Peterson 2007, S. 112 f.) von den drei Möglichkeiten auszugehen, dass die entscheidungsmächtige Handlungsautorität ● ● wahrscheinlich bei den allerdings mehr und enger kooperierenden Staaten als den wichtigen Akteure bleiben wird, ● ● doch irgendwie in Richtung auf eine Weltregierung zentralisiert wird oder ● ● sich seitwärts auf »governance« durch trans-gouvernmentale und transnationale Netzwerke verlagern wird? Oder wäre es hilfreich, unter völligem Verzicht auf eine abstrakt-spekulative Zentralinstanz (mit Zürn 1998, S. 166 ff.) drei mögliche Formen von »governance« anzusetzen: 1. »governance by government«: Regelungen zwischen den Staaten-- der mehr oder weniger bewährte Multilateralismus; 2. »governance with government«: Regelungen unter Beteiligung der Staaten, die in unterschiedliche Formen unterschiedlicher Intensität organisiert sein kann, wobei sich immer die Frage nach der Federführung stellt-- ein neuer, sich derzeit entwickelnder erweiterter Multilateralismus; 3. »governance without government«: Regelungen ohne Staaten, also ohne deren Beteiligung bzw. nach ihrem Verschwinden-- nur eine spekulative und recht fragwürdige Vision. Die Losung »governance without government« (zuerst wohl bei Rosenau/ Czempiel 1992) basiert auf der Unterscheidung zwischen »government« als gesetzlich definierter und mit dem Gewaltmonopol ausgestatteter Autorität einer verfassungsmäßigen Regierung und »governance« als einem Regelsystem (»system of rule«) ohne eine zentrale Durchsetzungsgewalt. »Both [government/ governance] refer to purposive behavior, to goal-oriented activities, to systems of rule; but government suggests activities that are backed by formal authority, by police powers to insure the implementation of duly constituted policies, whereas governance refers to activities backed by shared goals that may or may not derive from legal and formally prescribed responsibiwww.claudia-wild.de: <?page no="30"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 30 30 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen lities and that do not necessarily rely an police powers to overcome defiance and attain compliance. Governance, in other words, is a more encompassing phenomenon than government. It embraces governmental institutions, but it also subsumes informal, nongovernmental mechanisms whereby those persons and organizations within its purview move ahead, satisfy their needs, and fulfill their wants.« James N. Rosenau (1992, S. 4) In seiner speziellen Variante »global governance« ist der »governance«-Begriff in den 1990er Jahren zum »internationalistischen« Modewort und zum Codewort politikwissenschaftlichen Insidertums avanciert; inzwischen ist er in einem Maße in Lehre und Publizistik verbreitet worden, dass alleine diese Popularität zu Zweifeln anregt, ob er noch trennscharf genug sein kann, um ein brauchbares Analyse-Instrument und Kommunikationsmittel zu sein. Es gibt mindestens eine Fachzeitschrift, viele Buchreihen und Sammelbände, unzählige Monographien und Aufsätze, die mehr oder wenig programmatisch »global governance« im Titel führen. Eine bescheidenere, mit der Zeit vergessene Variante war »international governance« (z. B. Young 1994a). Die Versuche einer Übersetzung ins Deutsche zeigen die Offenheit des Konzepts: von der soliden »globalen Ordnungs- und Strukturpolitik« und der technokratischen »globalen Steuerung« über die ambitioniertere »Weltordnungspolitik« bis hin zur schon klassischen »Weltinnenpolitik« oder deren Oberbegriff »Weltregieren« wird vielerlei angeboten. Eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags (»Globalisierung der Wirtschaft«; Enquete- Kommission 2002) hat den Begriff bei uns in die allgemeine politische Debatte eingeführt. Schon 1995 hatte die »Commission on Global Governance« in ihrem Bericht über nötige Reformen der internationalen Kooperation erstmals »global governance« definiert. Andere Definitionsversuche betonen andere Aspekte, alle aber lassen der Phantasie viel Spielraum, worum es denn genau gehen könnte und wie das alles als Gesamteffekt zu greifen oder gar auszulösen sei. Beispiele für Verständnisse von »global governance« und verwandten Schlagworten »Ob es uns paßt oder nicht: Wir sehen uns mehr und mehr Problemen gegenüber, welche die Menschheit insgesamt angehen, so daß folglich auch die Lösungen hierfür in steigendem Maße internationalisiert werden müssen. Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen- - Krieg, Chaos, Selbstzerstörung-- erfordert eine Art »Weltinnenpolitik«, die über den Horizont von Kirchtürmen, aber auch über nationale Grenzen weit hinausreicht.« Willy Brandt, Einleitung zum Bericht der Nord-Süd-Kommission (1980, S. 27) »[…] the sum of the many ways individuals and institutions, public and private, manage their common affairs. It is a continuing process through which conflicting or diverse interests may be accommodated and cooperative action may be taken. It includes formal […] as well as informal arrangements that people and institutions have agreed to or perceive to be in their interest.« Commission on Global Governance (1995, S. 2) »[…] als Antwort auf gegenwärtige und zukünftige Probleme ein System kooperativer globaler Steuerung […]. Nur durch eine Verknüpfung der vielen sozio-ökonomischen Netzwerke auf verschiedenen Ebenen und ihre Ausrichtung auf gemeinsame Ziele kann man realistischerweise hoffen, daß soziale Gerechtigkeit, <?page no="31"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 31 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 31 wirtschaftliche Effizienz, ökologische Nachhaltigkeit und politische Demokratie erreichbar sind und daß die Gefahr einer (ökonomischen, religiösen, politischen oder ethnischen) globalen Implosion vermieden wird.« bzw. »Pakt kooperativer globaler Steuerung« Gruppe von Lissabon (1997, S. 23 bzw. S. 192) « […] Entwicklung eines Institutionen- und Regelsystems und neuer Mechanismen internationaler Kooperation, die die kontinuierliche Problembearbeitung globaler Herausforderungen und grenzüberschreitender Phänomene erlauben.« Dirk Messner (2000, S. 284) »›Global governance‹ oder Weltregieren vollzieht sich in und durch auf bestimmte Problemfelder der internationalen Beziehungen spezialisierte internationale Institutionen oder Regime. Diese werden bei Bedarf von den Staaten selbst, gelegentlich auch mit der Inanspruchnahme oder Inkorporation nicht-staatlicher Akteure, errichtet mit dem Ziel, eine ihnen zweckmäßig erscheinende Kooperation auf eine wechselseitig transparente, stabile und zugleich flexible Basis zu stellen. Weltregieren ist in diesem Verständnis auch ohne öffentliche oder hegemoniale Zentralgewalt möglich, weil in den bestehenden politischen Gemeinschaften das Bewußtsein gewachsen ist, dass sie funktionierende internationale Institutionen brauchen und deshalb aus eigener Einsicht ihre Regeln befolgen.« Volker Rittberger (2003, S. 185 f.) »Wenn sich die Probleme globalisieren, muß sich auch die Politik globalisieren. Dann genügt auch nicht mehr ein punktuelles und reaktives Krisenmanagement, sondern es müssen neue Ordnungsstrukturen geschaffen werden.« Franz Nuscheler (2004, S. 91) Was Internationale Organisationen und Regime vor dem Zeitalter der »global governance« betrieben haben, ist offenbar schwer zu greifen, aber »ein Mehr« davon scheint schon erwünscht: Die am wenigsten greifbare-- und damit angreifbare-- Variante von »global governance« fordert lediglich ein »Mehr an Multilateralismus […], also […] eine […] Verdichtung der internationalen Zusammenarbeit in internationalen Organisationen und Regimen« (Nuscheler 2004, S. 92). Die anspruchsvollere Variante sieht die richtige Methode »nicht nur in einem Mehr an staatlich organisiertem Multilateralismus, sondern vielmehr im Zusammenwirken von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren von der lokalen bis zur globalen Ebene« (Nuscheler 2004, S. 94 f.). Oder es ist »die Entwicklung eines neuen Politikmodells jenseits eines simplen Mehr an Multilateralismus und globalem Denken« anzustreben, »bei dem staatliche und nichtstaatliche Akteure auf verschiedenen Ebenen neuartig zusammenarbeiten« (Varwick 2007, S. 174 f.). Immerhin sind die Vorstellungen über »global governance« klar abzugrenzen vom Ideenkreis »Weltstaat«/ »Weltregierung«: Es soll ja gerade um globale Steuerung ohne eine zentrale Instanz gehen-- um so etwas wie ein sich selbst regelndes Funktionen-Netz als Antwort auf die beschleunigte weltumspannende Vernetzung von Aktionen und Akteuren. »Somit besteht die zentrale Herausforderung für die Disziplin der Internationalen Beziehungen darin, nach grenzüberschreitenden Substituten für die abnehmende Steuerungsfähigkeit auf der nationalstaatlichen Ebene zu suchen. Wie unter diesen Voraussetzungen demokratisches und effektives Regieren jenseits des Nationalstaats möglich sein kann, gehört zu den offenen Fragen der Politikwissenschaft. Das Einfordern ›intelligenter‹ Mechanismen für diesen Problembereich bedeutet nichts anderes, als dass diese noch nicht gefunden sind.« Johannes Varwick (2007, S. 176) Wie nicht anders zu erwarten, korrespondiert die Einschätzung der Globalisierung und der daraus zu ziehenden Konsequenzen mit den theoretischen Grundpositionen zu den internationalen Beziehungen <?page no="32"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 32 32 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen (s.-Kap. 2.2): In »realistischer« Perspektive bleibt ungeachtet aller Veränderungen der Nationalstaat konkurrenzlos der ausschlaggebende Akteur, während in eher »idealistischen« Sichtweisen der Staat aufgrund eines fundamentalen Wandels seine vorrangige Bedeutung verliert oder seine Rolle sich wenigstens stark differenzieren muss. Argumentation und Rhetorik zur »global governance« bieten sich in vielfältigen Formen und unterschiedlichen Varianten an. Die wichtigste Unterscheidung wäre die in empirisch-analytische Forschungsansätze einerseits und in normative Konzepte andererseits: die einen wollen herausfinden, welche Entwicklungen hin zu neuen Formen oder Mechanismen weltweiter Steuerung aufgrund welcher Voraussetzungen mit welchen Folgen und Optionen feststellbar sind; die anderen wollen inmitten der Weltgesellschaft für diese neue Ziele formulieren (oder alte neu formulieren) und als realisierbar eingeschätzte Veränderungen und die Nutzung von als gegeben gesehenen Chancen einfordern, um auf neuen Wegen diese Ziele zu erreichen. Die normativen Versionen wären weiter zu unterscheiden in ● ● eine schwache- - oder das gängige Etikett »global governance« eher (mode-)rhetorisch nutzende- - Variante: der bewährte zwischenstaatliche Multilateralismus soll gestärkt und konsequent ausgebaut werden, also vor allem das UN-System und die etablierten internationalen Regime; ● ● eine starke-- oder »global governance« als bessere Zukunft (heils-)visionär beschwörende-- Variante mit weitreichenden politischen Botschaften und Forderungen zur anstehenden Neuorganisation der Welt durch Akteure aus der vernetzt-globalen Zivilgesellschaft und möglicherweise ohne oder gar gegen die Staaten. Die normativen Konzepte sind meist motiviert aus der Kritik am neoliberalen Verständnis der Globalisierung als begrüßenswerter Durchsetzung eines ungehemmten Weltmarkts und an deren sozialen und ökologischen Folgen; Gegenentwürfe dazu sollen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit durch demokratisch-»zivilgesellschaftliche« Kontrolle sichern oder wenigstens verbessern; welche trans- oder supranationalen Institutionen und Mechanismen dafür als geeignet angesehen oder für nötig gehalten werden, ist nicht so klar zu fassen-- manche Vorkämpfer der Zivilgesellschaft sind sich ja auch mit Marktradikalen zumindest in ihrer rhetorischen Zurückweisung staatlichen Einflusses überraschend einig. Entscheidende konzeptionelle Fragen müssten von den Verfechtern normativer Ansätze zur »global governance« beantwortet werden: ● ● Inwieweit ist eine Neudefinition des Konzepts der staatlichen Souveränität notwendig, weil einige für sie grundlegende völkerrechtliche Prinzipien ausgesetzt oder zumindest immer stärker eingeschränkt werden müssen: Unverletzlichkeit der Grenzen, Nichteinmischungsgebot, sogar das Gewaltmonopol? ● ● Wie ist die wünschenswerte Erweiterung und Differenzierung der Akteure rechtlich und institutionell zu verarbeiten und abzusichern, wie ist jeweils ihre Legitimation zu kontrollieren, wie und unter welchen Voraussetzungen können die erhofften neuen Kommunikationsformen und Politikstile praktisch wirksam werden? ● ● In welche Richtung sollen die Tendenzen von Verdichtung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen sich weiterentwickeln-- zu regelgeleiteten Verfahren in den vorhandenen institutionalisierten Formen und Organen oder zu offenen Netzwerken neuer Kooperationsformen? ● ● Konkret: Bleibt das komplexe System der Vereinten Nationen bzw. anderer internationaler Organisationen und der eingeführten internationalen Regime der durch Staaten fundierte Rahmen für Aktion und Kooperation oder sind konkurrierende Mechanismen globaler Abstimmung und Entscheidungsfindung durch INGOs o. Ä. denk- und wünschbar? ● ● Egal ob eher »Staaten« oder mehr »Zivilgesellschaft«: Ist ein Mechanismus zur auch gewaltsamen Durchsetzung notwendig, falls Kooperation verweigert wird? <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 33 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 33 ● ● Ist »global governance« wirklich eine globale Konzeption-- oder gibt es in anderen Weltregionen noch ein paar andere Problemsichten? Schon vor einer kritischen Würdigung der diskutierten Vorschläge drängt sich die Befürchtung auf, dass die normativen Ansätze Reichweite und Realisierungschancen ihrer Ideen weit überschätzen. »Die ›Krise der Politik‹ ist nicht der Globalisierung an sich geschuldet, sondern der Organisation der Politik. Weltwirtschaft und -gesellschaft haben sich in den vergangenen zwei Dekaden nachhaltig verändert, die Institutionen der Politik sind nicht ›nachgewachsen‹; ihr Beharrungsvermögen ist (zu) groß; es mangelt an institutionellen und politischen Innovationen. Die Weltgesellschaft ist in diesem Sinne ›untersteuert‹, institutionell unterbzw. fehlentwickelt.« Dirk Messner (1999, S. 7) Die »empirisch-analytische Global Governance-Forschung« (vgl. Grande 2009, S. 258 ff.) untersucht in Abgrenzung sowohl von der »realistischen« Sicht als auch von idealistischen Visionen vom »Weltregieren« die tatsächlich stattfindenden Prozesse der transnationalen Institutionenbildung; da die meisten Studien sich auf einzelne Organisationen, Akteure oder Arbeitsfelder beziehen, kann so allerdings die Komplexität globaler Kooperation und Steuerung nicht ausreichend dargestellt, ein möglicher Gesamteffekt von »globalem Regieren« also nicht festgestellt werden. Wie die normativen gehen auch empirische »global governance«-Ansätze von der Annahme aus, dass durch die Globalisierung erweiterter und neuartiger Bedarf an internationalen Regelungen entsteht, den zu erfüllen die Kapazität des Nationalstaats überfordert. Um das herkömmliche staatszentrierte Verständnis von »internationaler« Politik zu korrigieren bzw. zu erweitern, sind ● ● die wichtige und eigenständige Rolle von internationalen Organisationen und Institutionen, von denen einige als eingeschränkt autonome Akteure einzuschätzen sind, konzeptionell angemessen zu erfassen; ● ● die wachsende Bedeutung von privaten Akteuren (NGOs/ INGOs, Wirtschaftsunternehmen/ verbände, aber auch einzelne Personen) bei der Diskussion und Formulierung von Normen, aber auch bei deren Umsetzung zu analysieren; ● ● die sich weiterhin rasch vertiefende Verflechtung der politischen Handlungsebenen, die in vielen Fällen die Gegensätze wie den zwischen »lokal« und »global« aufhebt oder die Scheidung in national und international unscharf macht, zu berücksichtigen; ● ● »in komplexen Mehrebenenarchitekturen, in die eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure, Organisationen und Handlungsarenen integriert ist« zu denken, damit »neue, dezentrale und kooperative Formen des Regierens geschaffen werden« (Grande 2009, S. 261). »Architektur« ist die Lieblingsmetapher der kreativen Designer, die einen feinen Neubau der »global governance« zu konstruieren sich anschicken (starke normative Version); aber auch traditionelle Makler agieren gerne in diesem Bild, wenn sie meist schon etwas gebrauchte, teilweise schon recht schäbig anmutende Gebäude der Vereinten Nationen und andere internationale Immobilien anpreisen, indem sie alte Baupläne fleißig erweitern und umkolorieren (schwache normative Version). So wurde manche wohlbekannte politikwissenschaftliche oder publizistische Position zu internationaler Kooperation allgemein oder speziell z. B. zum System der Vereinten Nationen aufgefrischt, indem Etiketten ausgetauscht und Elemente aus dem »global governance«-Diskurs angefügt wurden. In der Sache kann es ja nur sinnvoll sein, von den bisher funktionierenden internationalen Kooperationsformen auszugehen, um deren mögliche Weiterentwicklung zu untersuchen und zu diskutieren. So stehen im Fokus fast aller vorgeschlagenen Strategiekonzepte die real existierenden internationalen Institutionen, um die herum zivilgesellschaftliche Aktivitäten für neue Kooperationsformen in globalen Netzwerken sich ranken und weiterwachsen könnten. Die vorliegenden Kataloge von Elementen und Mechanismen von »global governance« wirken dazu passend recht wildwüchsig. <?page no="34"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 34 34 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen Die Commission on Global Governance (CGG; 1995) hatte neben der konsequenten Nutzung und Stärkung des vorhandenen Systems internationaler Organisationen und Kooperation noch ziemlich emphatisch als zukunftsentscheidend die »public-private partnerships« propagiert, eine enge Zusammenarbeit von staatlichen und privaten Akteuren auf allen denkbaren Ebenen. Dahinter stand die Einsicht, dass es einen deutlichen Trend hin zu einer »Privatisierung der Weltpolitik« (Brühl/ Debiel/ Hamm/ Hummel/ Martens 2001) gab, auf den auch UNO-Generalsekretär Kofi Annan mit der Initiative des »Global Compact« reagierte; mit ihr sollten mächtige Privatunternehmen (»global players«) auf sozial und/ oder ökologisch korrekteres Verhalten eingeschworen oder sogar in die Lösung von Problemen eingebunden werden. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags empfahl (Enquete-Kommission 2002, S. 422- 442) ● ● insgesamt eine Reform des Systems der internationalen Institutionen, ● ● insbesondere Ausbau und Stärkung internationaler Organisationen, auch den Aufbau neuer internationaler Organisationen, z. B. einer Weltumweltorganisation, ● ● entgegen der Neigung mächtigerer Staaten zu uni- und bilateralem Vorgehen die Förderung und den Ausbau multilateraler Kooperation zwischen allen Staaten, zugleich Demokratisierung der UNO und ihrer Arbeitsweise und den stärkeren Einbezug nichtstaatlicher Akteure in »global governance«. Hochrangig besetzte Berater-Gremien beschreiben gerne, gewissermaßen als größten gemeinsamen Nenner, solche eierlegenden Wollmilchsäue als wünschenswert. Aber auch die von Politikwissenschaftlern zusammengestellten Kataloge sind meist recht üppig. So bemüht sich z. B. ein schon klassisches US-amerikanisches Lehrbuch mit dem weisenden Titel »International Organizations. The Politics and Processes of Global Governance« (Karns/ Mingst 2010) um eine ausgewogene Mischung von Elementen und Mechanismen auf mehreren Ebene, die seit Beginn der internationalen Kooperation wohlbekannt und vielfach bewährt sind (wie Völkerrecht, internationale Organisationen, Regime, Gerichtshöfe, Welt- Konferenzen etc.), und solchen, die neuartige Instrumente sind oder als solche zumindest gelten (wie internationale nichtstaatliche Organisationen, INGOs und BINGOs, und Formen von öffentlich-privater Zusammenarbeit). »Pieces of Global Governance« nach Karns/ Mingst (2010, S. 5) ● ● International structures and mechanisms (formal an informal) ● ● IGOs: global, regional, other ● ● NGOs ● ● International rules and laws ● ● Multilateral agreements; customary practices; judicial decisions; regulatory standards ● ● International norms or ›soft law‹ ● ● Framework agreements; selected UN resolutions ● ● International regimes ● ● Ad hoc groups, arrangements, and global conferences ● ● Private and hybrid public-private governance Zur Rolle der Staaten wird vermerkt, dass sie zwar weiterhin die Zwangsgewalt ausüben würden, dass aber »global, regional, and transnational governance« zunehmend auf neuer Autoritätsbasis beruhe, da sich die Verfügung über die Zwangsgewalt einerseits und legitimes Regieren andererseits entkoppeln würden (Karns/ Mingst 2010, S. 4). <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 35 2.1 »Anarchie« zwischen den Staaten oder »global governance« ? 35 Luftige Positionen wie diese provozieren Skepsis gegenüber und Kritik an den Vorstellungen und der Rhetorik von »global governance«. Wenn die Ausübung von Zwangsgewalt nicht engstens gebunden ist an die Legitimität der politischen (und ethischen) Entscheidung für ihren Einsatz-- was wäre das anders als Willkürherrschaft? Bei aller berechtigten Hoffnung auf Weisheit, Kreativität und vor allem Selbstregelungskapazität aus der Zivilgesellschaft- - verlässliche Strukturen und Verfahren von demokratischer Legitimation wären schon erstrebenswert, wenn »nichtstaatliche« Elemente statt verfasster Staaten Macht ausüben sollen. »Je lauter der Ruf nach ›global governance‹ wird, umso weniger geschieht; und je eindringlicher ›globale Verantwortung‹ angemahnt wird, umso erbitterter wird der globale Kampf aller gegen alle.« Peter J. Opitz (1997, S. 51) Kritik am »global governance«-Ansatz, insbesondere an den normativen Visionen vom Weltregieren, setzt an den konzeptionellen Fragen von Macht, Legitimation und Komplexität an sowie am Realitätsbezug und Argumentationsstil: ● ● Dass Machtfragen generell nicht ausreichend behandelt oder gar beantwortet werden, ist wohl der wichtigste Einwand; auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Interessenstrukturen, die Erwerb und Ausübung von Macht motivieren, würden nicht adäquat eingeschätzt: Dauerhafte Regelungen jenseits des Nationalstaats würden zwangsläufig scheitern, sobald sie die Durchsetzung des Interesses von Staatsapparaten an Macht und privater Unternehmen an Profit beeinträchtigten. ● ● Mit dem Problem der Macht eng verbunden ist das schon mehrfach angesprochene Problem der demokratischen Legitimation von Governance-Leistungen seitens NGOs, INGOs und anderer »neuer Akteure«. Welche Instanz nach welchen Auswahl- und Qualitäts-Kriterien festlegen und kontrollieren soll, welche konkreten Elemente der »Zivilgesellschaft« in welchen transparent nachvollziehbaren Verfahrensweisen legitime »global governance« ausüben dürfen-- und welche nicht-- dies wird schlicht nicht beantwortet; wie und von wem solche verbindlichen Kriterien entwickelt und eine solche legitime Legitmitätsverleihungsinstanz eingesetzt werden könnte, ist erst recht nicht geklärt. Die stattdessen oft angedeutete Hoffnung, dass es ein offener »Diskurs« jeweils schon richten würde, bleibt zu vage. ● ● Die schwerwiegendste Schwächung der Legitimationsbasis jeder Art von Weltregieren liegt in der krassen Ungleichverteilung der Beteiligungsmöglichkeiten der verschiedenen Weltregionen und einzelner Länder; die meisten Diskussionen um globales Regieren drehen sich bisher um Probleme und Chancen der Länder der »OECD-Welt« (die hoch entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften mit dem Schwerpunkt im Nordwesten des Globus, die recht eng im Rahmen der OECD in Paris zusammenarbeiten). In den meisten anderen Ländern sind die wirtschaftlichen und innenpolitischen Voraussetzungen für effektives und legitimes globales Regieren nicht oder zu wenig gegeben (vgl. Conzelmann/ Faust 2009); sie haben oft gar nicht die administrative Kapazität und die fachliche Expertise, um intensiv international oder gar global zu kooperieren. Wenn die Staaten der G8 als Club der Reichen oder der G20 als Club der Reichen und der gerade Reichwerdenden ihre Wirtschaftspolitik (und damit möglicherweise eine schädliche Klimapolitik) abstimmen und so dem Rest der Welt die Richtung vorgeben, ist das letztlich nur faktisch durch ihre wirtschaftliche Bedeutung gerechtfertigt-- mehr wird aber auch nicht ernstlich beansprucht, allenfalls, dass das den anderen auch nur nutzen könne. Eine stark asymmetrische »global governance« aber könnte als normatives Programm ihren eigenen Vorgaben nicht gerecht werden bzw. verlöre als empirisches Konzept ohne die entsprechenden Differenzierungen an Aussagekraft. ● ● Das verweist darauf, dass zu oft weit unterschätzt wird, welche hohe institutionelle Komplexität transnationales Regierens erfordert, einfach weil die zu regelnden Probleme sachlich und strukturell hochwww.claudia-wild.de: <?page no="36"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 36 36 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen komplex sind (vgl. Grande 2009, S. 266 ff.). Die Mittel, welche die Staaten bisher dafür innerhalb des eigenen Regierungsapparats und für internationale Organisation aufwenden, reichen in keinem der globalen Problembereiche aus, um den Aufgaben in ihrer Vielfalt und in ihrem Ausmaß gerecht zu werden. Auf welche größeren materiellen und besseren strukturellen Ressourcen aber eine »global governance« zugreifen könnte, bleibt unklar; Ansätze wie das Konzept von »public-private partnerships« (vgl. Börzel/ Risse 2005) oder Initiativen wie der »Global Compact« (vgl. Brinkmann/ Pies 2004) sind innovativ und chancenreich-- aber könnten sie ausreichend tragen? ● ● Manche Verfechter von »global governance« als neuem und verheißungsvollem Konzept beachten zu wenig, was bisher geschehen ist. Bevor etwa spekuliert wird, ob es zu einer fundamentalen Machttransformation von der Staatenwelt auf eine transnational vernetzte Zivilgesellschaft kommen wird, wäre zu empfehlen, sich jeweils in den einzelnen Arbeitsbereichen anzusehen, wie sich die Arbeitsteilung unter staatlichen/ zwischenstaatlichen Instanzen und NGOs entwickelt hat und konkret funktioniert, sei es in Konfrontation oder Kooperation. ● ● Schließlich ist sogar einigen Propagandisten Aufdringlichkeit bis hin zur Täuschung vorzuwerfen, wenn sie mit argumentativen Kampfstrategien banale Zusammenhänge dramatisieren und komplizieren, um bekannte Methoden neu gemixt als angebliches Zukunftsprodukt hochzupreisen (vgl. Haus 2008, S. 114). »Die meisten führenden westlichen Politiker sind moderne Jünger Woodrow Wilsons. Sie glauben mit religiöser Inbrunst an das, was Francis Fukuyama erst kürzlich als ›den Marsch der Geschichte in Richtung globale Demokratie‹ beschrieben hat. Wohlstand führt zu Verbürgerlichung und damit zu liberalen Werten. […] Geblendet von modischem Unsinn über die Globalisierung, glauben westliche Politiker, dass sich die liberale Demokratie unaufhaltsam verbreitet. Tatsache ist: Republiken und Imperien, freie und unfreie Demokratien und eine große Vielfalt autoritärer Staatsformen werden uns vorerst erhalten bleiben. Die Globalisierung ist nicht mehr als die fortschreitende Industrialisierung des Planeten und der zunehmende, strategisch motivierte Rohstoff. Nationalismus ist ein wesentliches Merkmal dieses Prozesses. […] Es wird wieder klassische Großmachtpolitik gemacht, mit wechselnden Allianzen und Einflusssphären. Der Unterschied ist nur, dass der Westen nicht mehr das Sagen hat. Mit ihren unterschiedlichen Historien und mitunter vollkommen gegenläufigen Interessen werden Russland, China, Indien und die Golfstaaten in keiner Weise irgendeinen neuen Block bilden. Aber es sind diese Länder, die die Entwicklung der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestimmen. Die USA, die ihre bankrotten Hypothekenbanken verstaatlicht und ihre gigantische Kriegsmaschinerie letztlich durch ausländische Kreditaufnahme finanziert haben, befinden sich auf steiler Talfahrt. Seitdem sich das Finanzsystem des Westens im schlimmsten Chaos seit den dreißiger Jahren befindet, schwindet seine Fähigkeit, Ereignisse zu beeinflussen, von Tag zu Tag. Der Welt zu predigen, dass die internationalen Beziehungen verrechtlicht werden müssten, ist nach dem Irakkrieg lächerlich und letztlich kaum mehr als ein nostalgischer Gedanke an die verlorene Hegemonie.« John Gray, London School of Economics (Süddeutsche Zeitung vom 12. September 2008) Wie groß ist der Anteil der irgendwie auf das Globale zielenden Regelungs-/ Steuerungs- oder Abstimmungs-/ Koordinierungsprozesse-- unter der unbekümmerten Annahme, dass sie von realer Bedeutung sind--, die wirklich der Sphäre der Tätigkeit eines »globalen Regierens« ganz oder wenigstens teilweise jenseits der Aktivitäten der Staaten und ihrer zwischenstaatlichen Institutionen zuzurechnen wären? <?page no="37"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 37 2.2 Theorien über internationale Politik 37 16 %, 4 %, 0,2 %? Wenn man global relevante Entscheidungen in (privat)wirtschaftlichen Multi-Ebenen-Systemen (Multi-/ Transnationale Konzerne oder neuerdings BINGOs) außer Acht lässt, dürften sich nicht mehr viele finden lassen; zwar kümmern sich nichtstaatliche Institutionen wie die Katholische Kirche, das Internationale Olympische Komitee und andere Sportverbände um vielerlei Fragen auf globaler Ebene- - allerdings: Gottesdienstordnungen und Papstbesuche, Weltmeisterschaften und Formel 1-Rennen mögen zweifellos prägende Momente einer aufkommenden Weltkultur sein, bleiben aber doch auf recht enge Segmente des globalen Geschehens begrenzt. Wenn »global governance« als Kürzel für eine komplexe Herausforderung für Sozialwissenschaft und Politik verstanden wird, kann der Begriff sinnvoll und fruchtbar sein als Ausdruck einer leitenden Idee, die formulierbar ist als Behauptung (Auf dieser Ebene-- außer und über den einzelnen Staaten-- muss etwas entschieden und getan werden! ) und als Frage (Und wer kann das wie tun-- wenn nicht bzw. nicht mehr die einzelnen Staaten? ). Wird mit dem Begriff »global governance« jedoch suggeriert, dass es so etwas schon gäbe und bald auch mehr davon, dann ist das Schamanismus-- oder auch nur Scharlatanerie. Für eine informierende Darstellung von Internationaler Organisationen und Regimen ist folglich das bescheidenere, aber präzisere Konzept der Multilateralität bzw. einer international-universal organisierten Kooperation die geeignetere Ausgangsbasis. Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 2.1 Becker/ John/ Schirm 2007; Behrens 2005; Bohman 2002; Brühl 2003; Brühl/ Debiel/ Hamm/ Hummel/ Martens 2001; Commission on Global Governance 1995; Czempiel 1992; Dingwerth/ Pattberg 2006; Fassbender 2000; Grande 2009; Hartmann 2001; Karns/ Mingst 2010; Messner 2005; Messner/ Nuscheler 2006; Meyer 2005; Nuscheler 2004; Osterhammel/ Petersson 2003; Rittberger 2003; Rosenau 1992; Rosenau/ Czempiel 1992; Zürn-1998 2.2 Theorien über internationale Politik Wie immer fängt theoretisches Denken schon mit den simplen Worten an, mit denen wir den Gegenstandsbereich nennen, auf den sich unsere Überlegungen beziehen: »Außenpolitik« ist von der Binnen- Perspektive eines Staates her definiert als diejenigen Handlungen seiner Regierung oder auch seines Parlaments, die an andere Staaten oder internationale Organisationen gerichtet sind und vorrangig auf die Wahrung der eigenen Interessen und insbesondere der eigenen Sicherheit abzielen. »Internationale Politik« und »Internationale Beziehungen« sind aus einer Vogel- oder besser Satelliten-Perspektive zu definieren als alle Aktionen und Reaktionen, die eine Vielzahl einzelstaatlicher Akteure über Staatsgrenzen hinweg an Akteure in einzelnen, mehreren oder allen anderen Staaten bzw. auch internationalen Organisationen richten. Meist wird in der praktischen Verwendung kein Unterschied gemacht zwischen »Internationaler Politik« und »Internationalen Beziehungen«, aber Letzteres kann als der breitere Begriff verstanden werden; er schließt alle zivilgesellschaftlichen Aktionen und Reaktionen ein, die für die Zusammenarbeit von Staaten und internationalen Organisationen militärische, politische oder wirtschaftliche Bedeutung haben. Alle Konzeptionen von internationaler Ordnung und Kooperation bauen auf den politikwissenschaftlichen Theorien der Internationalen Beziehungen bzw. der Internationalen Politik auf, die ihrerseits wiederum auf tiefer liegenden Fundamenten philosophischer und kulturwie gesellschaftswissenschaftlicher Theoriebildung gegründet sind. So groß und vielfältig der Kosmos der nutzbaren politischen Ideen, Topoi und ausgearbeiteten Theorien auch ist, so schnell formieren sich doch immer wieder in <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 38 38 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen politikwissenschaftlichen »Diskursen« meist altbekannte und gut eingewöhnte Schlachtordnungen. Für viele Mitspieler scheinen Theorien bzw. ihre Position in theoretischen Auseinandersetzungen Funktionen zu erfüllen, die nicht eigentlich zum Kerngeschäft des Theoretisierens gehören. Aber eine Theorie soll keine Heimat sein, sondern ein Standpunkt mit entsprechendem Blickwinkel, den man aus guten Gründen auch mal wechseln sollte und sei es nur versuchsweise. Theoretische Argumente sollen keine Kampfmittel sein, sondern Werkzeuge. Aus einem heimischen Schutzbunker kann man schwere Waffen gegen den Rest der Welt richten, sinnvoller wäre es jedoch, mit leichtem Gepäck durch die Welt zu spazieren und sie sich mit einer gut geschliffenen und geputzten Brille, womöglich mit verschiedenen Brillen je nach Licht- und Wetterbedingungen, in Ruhe anzuschauen: »theorein« (gr.) eben. Des Kaisers neue Kleider: Der Herrscher lässt sich neu einkleiden-- glaubt er, aber er ist an Scharlatane geraten: Die teuren Klamotten sind angeblich so schick, dass vorgeblich nur Leute mit viel Verstand und Stil sie erkennen können, der Rest sieht nichts Neues. Niemand, weder der stolze Träger selbst oder die Hofschranzen oder die braven Untertanen, will zugeben, dass er gar keine Kleidung sehen kann. Erst als ein Kind ausruft, der Kaiser sei ja nackt, sind alle blamiert. Märchenhafte Weisheit Politische Theorien dienen dazu, die Grundlage für die Beschreibung und Erklärung-- aber auch für die Praxis-- der Internationalen Beziehungen zu schaffen; sie bieten (vgl. Meyers 2007, S. 480): ● ● Orientierung, indem sie helfen, Erfahrungen, Beobachtungen und Informationen zu strukturieren und in bestimmte Bereiche einzuordnen, womit sie diese wiederum als relevante Ausschnitte von Realität ein- und andere ausgrenzen; ● ● Interpretation, indem sie erlauben, komplexe Sachverhalte auf einfache bzw. idealtypische Merkmals- oder Ablaufsbeschreibungen zu reduzieren, womit sie aber zugleich bestimmte Aspekte betonen, andere ausblenden; ● ● Zielbeschreibung, indem sie versprechen, praktisches Handeln anzuleiten, womit sie jedoch zwangsläufig das Notwendige, Zweckmäßige und/ oder Sinnvolle aus ihrer Perspektive formulieren; ● ● Legitimation, indem sie Argumente vorgeben, mit denen das erwünschte praktische Handeln zu rechtfertigen ist, womit sie natürlich auch wieder ihre eigene Position vertreten. Schließlich hat Theorie noch eine grundlegende epistemologische Funktion, indem sie die Formulierung wissenschaftlicher Aussagen für den von ihr sachlich konstituierten Realitätsausschnitt anleitet und Kriterien für die Geltung solcher Aussagen vorgibt. In der klassischen Ideengeschichte des politischen Denkens lassen sich manche Steinbrüche finden, die sich mehr oder weniger gut zur Absicherung der eigenen Position ausbeuten lassen. Oft wird den alten Autoren aber ziemliche Gewalt angetan, damit sie ins eigene Konzept passen oder gar als Gründerväter vereinnahmt werden können. Der Gegensatz zwischen Realismus und Idealismus ist ein alter Konfliktstoff in der Politischen Theorie, der auch im Denken über Internationale Beziehungen zur klassischen Frontlinie wurde. Zur Begründung der Prämissen der »realistischen« Sicht des Laufs der Welt beriefen sich deren Vorkämpfer auf Thukydides, Niccoló Machiavelli und besonders auf Thomas Hobbes, den englischen Philosophen und Theoretiker des absoluten Staates: Die aufgrund seiner materialistischen Weltsicht konstruierte physikalistisch-mechanistische Auffassung vom Menschen (»Körper in Bewegung«) erzwang seine These vom notwendigen Kampf aller gegen alle; der somit immer wahrscheinliche Bürgerkrieg könne zwar innerhalb des bürgerlichen Staates unterdrückt werden, nicht aber nach außen in einer Welt souveräner Staaten ohne übergeordnete Instanz-- was die fundamentale Ausgangsthese des »realistischen« Theorietypus zur Erklärung internationaler Politik ist: die regellose Anarchie zwischen den Staaten. Wenn aber Hobbes nicht nur ein »skeptisches«, sondern gar ein negatives Bild vom bösen Menschen <?page no="39"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 39 2.2 Theorien über internationale Politik 39 unterstellt wird, das jede ethikfreie »Realpolitik« rechtfertigt, wird er bedenkenlos verfälscht. Machiavelli musste ebenfalls als Referenz für die Legitimität eines am bloßen politischen Erfolg orientierten Denkens ohne jede Moral dienen. Der peleponnesische Krieg wurde sogar zum Muster des bipolaren Konflikts im Ost-West-Gegensatz zurechtgebogen, während es doch in Thukydides’ Werk wesentlich mehr um ethisches Verhalten und Versagen in Politik und Krieg geht als um das »Sicherheitsdilemma«, wiewohl er dieses womöglich als erster formuliert hat (vgl. Wesel 2003). Die Aktivisten der »idealistischen« Gegenposition konnten für ihre Menschen- und Weltsicht John Locke, Hugo Grotius und Immanuel Kant bemühen. Die produktive Spannung zwischen diesen Grundmustern hat sich in unterschiedliche Strängen, Schulen, Traditionen oder »Paradigmen« der Theoriebildung für die Internationale Politik bzw. die Internationalen Beziehungen ausdifferenziert. »Allen Paradigmen ist allerdings die axiomatische Annahme gemeinsam, daß das internationale System anarchisch strukturiert ist […]. Im Unterschied zum Nationalstaat, in dessen Grenzen sich das staatliche Gewaltmonopol herausbildet und die staatlichen Behörden bzw. das Militär die Ordnungsfunktion wahrnehmen, ist das internationale System durch die Abwesenheit eines entsprechenden internationalen Gewaltmonopols gekennzeichnet. Oberste Instanz sind die souveränen Nationalstaaten. […] Wie nun unter den Bedingungen von Anarchie nationale oder internationale Politikziele wie die Sicherung der staatlichen Existenz, der Frieden, die nationale Wohlfahrt, der Schutz der Umwelt oder die Durchsetzung der Menschenrechte erreicht und dauerhaft gewährleistet werden können, darin unterscheiden sich die paradigmatischen Geister. Dieses ist der eigentliche Gegenstand und Streitpunkt der Lehre von den Internationalen Beziehungen und umreißt damit auch den Kern des Fachs.« Ulrich Menzel (2001, S. 20 f.) Eine Klassifikation von theoretischen Ansätzen kann nicht nur von der philosophischen bzw. wissenschaftstheoretischen Grundorientierung her und nach entsprechenden ideengeschichtlichen Abstammungsbzw. Verwandtschaftsbeziehungen entworfen werden, sondern auch nach Vergleichskriterien, die sich aus dem Gegenstandsbereich der Theoriebildung gewinnen lassen- - halt von der Sache her. Solche Kriterien zur Unterscheidung und Einordnung verschiedener Ansätze zeigen sich schnell, befragt man (mit Meyers 2007b, S. 274) die Theorien nach ihrer Auffassung darüber, ● ● wie das Milieu, also die Situation insgesamt, in der die Akteure der internationalen Beziehungen handeln, geartet und strukturiert ist; ● ● welche Qualität und welchen Charakter diese Akteure in diesem Milieu üblicherweise haben; ● ● welcher Art und Reichweite die von diesen Akteuren verfolgten Interessen und Ziele sind; ● ● welche Mittel zur Verwirklichung dieser Interessen und Ziele eingesetzt werden; - und mehr auf Internationale Organisationen und Regime gerichtet-- ● ● welche Bedeutung den Phänomenen von Konflikt und/ oder Kooperation zur Erklärung des Akteursverhaltens zuzuschreiben ist; ● ● wie Möglichkeit und Erfolgschancen eines kooperationsorientierten Verhaltens gegenüber dem (scheinbar) vorherrschenden konfliktgeprägten Verhalten beurteilt werden können. In einer simplifiziert »realistischen« Perspektive ist das anarchische Milieu ein mörderischer Kampf ums Überleben, die Akteure (=-Staaten) sind rationale und egoistische Einzelkämpfer, Interessen und Ziele bestimmen sich aus ihrem entsprechend radikalen Sicherheitsbedürfnis und führen zu einem kompromisslosen Machtstreben, die Mittel sind alle denkbaren, sofern nur wirksam, also nicht zuletzt auch Zwang und Gewalt; Konflikt ist der Normalfall, Kooperation eine fragile Ausnahme unter besonderen Bedingungen, weder verlässlich noch dauerhaft. In einer damit konkurrierenden »idealistischen« Sicht wäre das Milieu wegen gegenseitiger Abhängigkeitsbeziehungen schon wesentlich freundlicher, die Akteure (=-Staaten, aber auch internationale Orgawww.claudia-wild.de: <?page no="40"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 40 40 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen nisationen sowie evtl. nichtstaatliche) sind lernfähig und damit auch zur friedlichen Zusammenarbeit fähig, ihre Interessen und Ziele sind letztlich auf eine den Austausch ermöglichende Friedensordnung gerichtet, die Mittel dazu sind Völkerrecht und internationale Institutionen, die mit ihrem Regelwerk Konfliktlösung und kooperatives Verhalten möglich machen. Allerdings war die Antithese »Realismus vs. Idealismus« immer schon zu simpel. Eine Vierfeldertafel (s. Tab. 3, nach Menzel 2001, S. 21 ff.) erlaubt, in den Dimensionen der Interessenorientierung und der Betrachtungsperspektiven die »Paradigmen« oder »Traditionen« Idealismus, Realismus, Institutionalismus und Strukturalismus einander gegenüberzustellen. Die Theoriebildung kann entweder an einem universalen Gemeinwohl orientiert oder auf das nationale Eigeninteresse fixiert sein; die Sichtweise kann zum einen »subjektiv« an den Motiven ansetzen, die aufgrund der menschlichen Triebstruktur vorgeben sind oder durch leitende Ideen formuliert werden, zum anderen »objektiv« von materiellen Strukturen wirtschaftlicher Prozesse oder realen Organisationsformen ausgehen. ● ● Der Idealismus glaubt an Fortschritt und Vernunft; er geht davon aus, dass Menschen durch Argumente beeinflussbar und also lernfähig sind. Das kann irgendwann eine friedliche Welt möglich machen, in der Konflikte durch Ausgleich und Kooperation lösbar sind. Das Problem der Anarchie zwischen den Staaten ist durch Aufklärung und rationales Handeln lösbar. Weltweiter Wohlstand kann durch ungehinderten Austausch und internationale Arbeitsteilung entstehen. ● ● Das Menschenbild des klassischen Realismus ist skeptisch, wenn nicht negativ; der Mensch mag vernunftbegabt sein, ist aber vorrangig triebgesteuert, also am eigenen Wohl interessiert und nur begrenzt lernfähig. Kooperation wäre damit immer fragil, realistischer ist es, sich auf Selbsthilfe zu verlassen und dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das bedeutet militärische Aufrüstung, die wiederum dank des logisch eingebauten Sicherheitsdilemmas-- die anderen könnten ja jeweils stärker zu rüsten beabsichtigen-- zum Wettrüsten führt. Der Friedensbegriff dahinter ist negativ definiert, nämlich dass kein Krieg ist. Wenn es zum Krieg kommt, muss er gewonnen werden können-- oder zumindest für den Angreifer nicht zu gewinnen sein, was ihn abschrecken soll. Dieselbe Logik gilt auch auf wirtschaftlichem und anderen Gebieten, wo Kontrolle über Ressourcen verlässlicher ist als Kooperation um gemeinsame Güter. ● ● Der Institutionalismus hat ein nicht wesentlich freundlicheres Menschenbild, zieht aber andere Konsequenzen daraus; Kooperation ist prinzipiell sehr wohl möglich und sinnvoll, nur muss sie realistisch und nicht idealistisch fundiert sein: Der Eigennutz kann zur Zusammenarbeit motivieren, nämlich wenn diese sich eindeutig auszahlt. Verlässlich kontrollierte Rüstungsbegrenzung, die das Sicherheitsdilemma neutralisieren kann, macht Ressourcen für produktivere Nutzung frei und mehrt somit den Wohlstand bei allen Kooperationspartnern. Internationale Kooperation braucht internationale Institutionen aller Art zur Friedenssicherung und im Sinne eines weiter gefassten positiven Friedensbegriffs auch zur Wahrung der Menschenrechte, zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sowie zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. ● ● Der Strukturalismus unterlegt den internationalen Beziehungen eine materielle, ökonomische Basis. Im kapitalistischen Weltsystem sind Macht und Wohlstand strukturell ungleich verteilt, wofür Kolonialismus, Imperialismus und Abhängigkeitsbeziehungen, aber auch Krieg verantwortlich zu machen Tab. 3: Vier Traditionen in der Lehre von den Internationalen Beziehungen »subjektiv« (Ideen, Triebstruktur) »objektiv« (materielle Strukturen bzw. Institutionen) interessiert am Allgemeinwohl Idealismus Strukturalismus orientiert am Eigeninteresse Realismus Institutionalismus <?page no="41"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 41 2.2 Theorien über internationale Politik 41 sind. Die am Selbsthilfeprinzip orientierte Politik der Nationalstaaten führt zu Dominanz, Sicherheit und Wohlstand für einen Teil der Welt, aber auch zu Abhängigkeit, Ausbeutung und Unterentwicklung für andere. Zwischenstaatliche Kooperation führt unter diesen Bedingungen nicht zu Frieden und Gerechtigkeit; dazu wäre ein radikaler Wandel der Strukturen der Ungleichheit vorauszusetzen. Tabelle 4 listet gemäß dieser Vierteilung (Spalten) die wichtigsten Annahmen und Argumente (Reihen) der theoretischen Paradigmen der Internationalen Beziehungen auf. Tab. 4: Grundmuster der Paradigmen der Internationalen Beziehungen Realismus Institutionalismus Strukturalismus Idealismus Friedens-Idee Sicherheit Ordnung Gerechtigkeit Freiheit Referenz Hobbes Grotius Marx Kant entscheidende Akteure absolut souveräne Nationalstaaten (trotz Machtgefälle gleichberechtigte, in sich geschlossene Einheiten) eingeschränkt souveräne Nationalstaaten, internationale Organisationen sowie nichtstaatliche Gruppen (transnationale) ökonomische Klassen im kapitalistischen Weltsystem Individuen (bzw. freie Gruppierungen von Individuen) Anthropologische und/ oder gesellschaftstheoretische Prämissen Der Mensch ist nicht immer »gut«, sondern meist auch »schlecht«, nicht nur vernunftbegabt, sondern vor allem triebgesteuert Friedlichkeit und vernünftiger Ausgleich ist innerhalb bzw. mit Hilfe geeigneter Institutionen und Regelungen möglich Die Basis der internationalen Beziehungen ist die materiell-ökonomische Produktion und der Welthandel Der Mensch ist »gut«: vernunftbegabt und friedensfähig Struktur der Internationalen Ordnung vertikal segmentierte internationale Staatengesellschaft von anarchischer Struktur mit der Folge des »Sicherheitsdilemmas« (Billard-Kugeln) anarchische Struktur der Staaten-Welt, die aber innerhalb der interdependenten Weltgesellschaft institutionell zu bändigen ist (Gitter-Netz) horizontal geschichtete interbzw. transnationale Klassengesellschaft auf Basis der kapitalistischen Weltwirtschaft universale Weltgesellschaft als internationale Gesellschaft der Individuen; Freihandel ist wohlfahrtssteigernd Elemente der Ordnung in den Internationalen Beziehungen begrenzte und immer gefährdete Ordnung durch hegemoniale Macht oder allenfalls ein Gleichgewicht der Mächte Völkerrecht als Regelwerk, Internationale Organisationen und Regime als Instrumente zugunsten regelgeleiteten Verhaltens weltweite kapitalistische Strukturen von Produktion und Distribution mit ungleichen Austauschverhältnissen Völkerrecht als Kodex substantieller und universal für alle gültiger Normen wie die Menschenrechte; »Weltethos«? fundamentale politische Prozesse unbegrenztes Nullsummenspiel um den größten Anteil an Einfluss, Ressourcen und Macht, wobei letztlich für die Selbsthilfe alle Methoden erlaubt sind internationale Kooperation im Rahmen eines weltweiten Friedenskonzepts kann erfolgreich sein, wenn sie den realen Anforderungen gerecht wird Klassenkampf, Ausbeutung, Imperialismus führen zur Spaltung der Welt in Zentren und Peripherien Zusammenleben von Individuen als Vorbild für »Weltinnenpolitik« im Rahmen internationaler Organisationen-- oder gar im Weltstaat <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 42 42 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen Realismus Institutionalismus Strukturalismus Idealismus Methoden des Machterwerbs bzw. -erhalts nach dem Selbsthilfeprinzip ist Sicherheit und Frieden (d. h. Abwesenheit von Krieg) nur durch Aufrüstung zu militärischer Stärke zu gewährleisten Angebote und Verhandlungen für Kooperation, deren Vorteile und Nutzen klar erkennbar und kostengünstiger als Selbsthilfe sein müssen Ausbeutung und ständiger sozialer Kampf zur Herstellung und Aufrechterhaltung ungleicher Verteilung von Macht und Wohlstand Friedenspolitik in jeder Form, da Krieg unvernünftig ist, weil seine Verluste und Kosten in jedem Fall höher sind als Vorteile und Gewinne Konsequenz für die Praxis Wettbewerb und Konflikt, jedoch auch harte Verhandlungen in der zwischenstaatlichen Diplomatie Eindämmung von Unsicherheit über vertrauenschaffende Maßnahmen internationaler Institutionen Aufklärung und Kritik als Basis für tiefgreifende strukturelle Veränderung (Revolution, Reform? ) Stärkung/ Einhaltung des Völkerrechts sowie Aufklärung für Demokratisierung und Zivilisierung Forschungsansätze (Beispiele) Spieltheorie Entscheidungstheorie Abschreckungstheorie Hegemonietheorie Neue Geopolitik »Englische Schule« Interdependenztheorie Regimetheorie Theorie Internationaler Organisationen Konstruktivismus Imperialismustheorie Dependenztheorie Weltsystem-Ansatz Internationale Politische Ökonomie Postkolonialismus Neoliberalismus/ Globalismus Konstruktivismus Zu der hier gebotenen Übersichtsdarstellung der IB-Theorien gibt es Alternativen, die nach anderen Unterscheidungskriterien, die ihrerseits logischerweise theoretisch anders fundiert bzw. in unterschiedlichen Perspektiven aufgespannt sind (vgl. u. a. Krell 2009; Meyers 2007, S. 488 ff.; Menzel 2001, S. 50 ff.; Rittberger/ Kruck/ Romund 2010, S. 31 ff.), aufgebaut werden. Eine gewisse Verwirrung kann dadurch entstehen, dass sowohl der Idealismus als auch der Institutionalismus mit »Liberalismus« in Verbindung gebracht oder gar gleichgesetzt werden. Der klassische »weltbürgerliche« Liberalismus und die idealistische Perspektive auf die internationalen Beziehungen entstammen teilweise denselben Quellen. Der Institutionalismus ist auch aus der liberalen Kritik am hobbesianischen Weltbild der realistischen Perspektive auf die internationalen Beziehungen heraus entstanden, setzt aber eben mit seinem Fokus auf Institutionen weitgehend eigenständig an und verzichtet auf Erbstücke wie die Weltstaat-Idee oder die bedingungslose Freihandelsdoktrin. Dass wichtige Strömungen des amerikanischen Institutionalismus auch als Neoliberalismus bezeichnet wurden (z. B. Keohane/ Nye 1987), hat wohl mehr als mit der altliberalen Tradition damit zu tun, dass in den USA »liberal« das Gegenprogramm zur konservativen Grundströmung, die in enger Wahlverwandtschaft zum außenpolitischen »Realismus« steht, bedeutet. Wenn internationale Organisationen und Regime vor allem anderen dazu dienen sollen, ● ● dass sich die Regierungen der existierenden Nationalstaaten kooperativ zeigen, ● ● also dass sie nicht ausschließlich von den als solche wahrgenommenen eigenen Interessen ihrer Staaten ausgehen, um diese um jedem Preis zu verfolgen, ● ● sondern ihre politische Kooperationsbereitschaft und ihre multinationalen Kompetenzen ausbauen, um nicht nur friedlich mit anderen Regierungen (sowie ggf. andersartigen Akteuren) zusammenzuarbeiten ● ● und dabei vielleicht sogar einer Orientierung am globalen »Gemeinwohl« zu folgen, Tab. 4: Fortsetzung <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 43 2.2 Theorien über internationale Politik 43 dann ist zu klären, was die Motivation von Führungseliten und Regierungen sein könnte, sich auf das Instrumentarium der internationalen Kooperation einzulassen. Von den in Tab. 3 präsentierten vier Traditionen im Denken über Internationale Beziehungen sind für die Erklärung von Regimen also die beiden theoretischen Konzepte von Interesse, die bei den Eigeninteressen der Akteure ansetzen: Realismus und Institutionalismus. Das realistische Paradigma ist in den meisten seiner Ausprägungen auf die These von der anarchischen Struktur der internationalen Staatenwelt, die auch die anderen Paradigmen durchaus zugrunde legen oder wenigstens wesentlich berücksichtigen, schon geradezu wie auf ein heiliges Dogma fixiert. ● ● Auch ohne essentielle Annahmen über den Menschen als solchen-- etwa dass er ethische und rechtliche Normen nur einhalten wird, solange er dazu gezwungen wird-- kann die realistische Sichtweise allein mit der vorgegebenen Bedingung der strukturellen Anarchie des internationalen Systems begründet werden: Weil dem internationalen System die übergeordnete Machtinstanz fehlt, die legitimerweise Normeinhaltung einfordern und durchsetzen könnte, verhalten sich die am eigenen Überleben interessierten Staaten, die als souveräne Einheiten in Funktion und Status einander gleich sind, konsequent sicherheits- und nutzenmaximierend. ● ● Die offensiven Versionen des Realismus sehen im maximalen Ausbau der eigenen Macht die einzige Möglichkeit, sich einsam als Staat zu behaupten; defensivere Varianten rechnen auch mit der Chance, ein Machtgleichgewicht im internationalen System zu schaffen und zu wahren, indem Macht und Gegenmacht-- sei es wieder durch einseitige Aufrüstung, sei es durch die Bildung von Allianzen-- sich gegenseitig stabilisieren. ● ● Realisten unterstellen den handelnden Politikern und Militärs, ständig einer alles kontrollierenden Logik zweckrationalen und folgerichtigen Handelns zu folgen, einer Logik, die diszipliniert nach vorgegebenen Präferenzen Kosten und Nutzen einzelner Handlungsoptionen abwägt und daraufhin konkrete Ziele abarbeitet; das gleiche Verhalten wird auf der Seite der jeweiligen Gegner/ Partner angenommen, was entsprechend misstrauisch zu beobachten ist. Diese idealtypische Handlungslogik bestimmt zugleich die wissenschaftliche Methode. ● ● Kooperation zwischen Staaten muss aus dieser Perspektive immer brüchig bleiben, zumal selbst ein hoher Nutzen für die daran Beteiligten kontraproduktiv sein würde, wenn er einen potentiellen Konkurrenten/ Gegner relativ besser stellen würde als den eigenen Staat. Nur ein Staat in unbestrittener hegemonialer Vormachtstellung könnte eine Kooperationsordnung gewährleisten, die allen Staaten nutzt und zu der folglich alle beitragen würden. ● ● Defizite und Schwächen des »realistischen« Ansetzens sind oft theoretisch kritisiert, empirisch beschrieben und-- angesichts der Dauerhaftigkeit der Attraktivität dieses Denkens in der konfliktträchtigen Logik des Sicherheitsdilemmas und wegen seiner gewaltsamen Konsequenzen-- politisch beklagt worden: Der Realismus kann nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten das Funktionieren von Sicherheitsarrangements ohne faktisches Gewaltmonopol oder Hegemon erklären und schon gar nicht die Möglichkeit und Faktizität von internationaler Kooperation in anderen Bereichen; insbesondere beschränkt die gedankliche Fixiertheit auf den souverän-geschlossenen Einzelstaat die Analyse der Bedeutung anderer Akteure sowie der strukturellen Folgen des nun seit vielen Jahrzehnten mehr oder weniger, aber immerhin funktionierenden Multilateralismus der internationalen Kooperation. Das institutionalistische Paradigma zielt genau auf die Möglichkeit und Notwendigkeit multilateraler Kooperation in internationalen Organisationen und durch internationale Regime ab. ● ● Um der Logik und Dynamik des internationalen Systems gerecht zu werden, sind neben der Machtpolitik aus Sicherheitsinteresse auch die Gründe für kooperationsförderliche Interdependenz wahrzunehmen und zu analysieren. <?page no="44"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 44 44 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen ● ● Spätestens seit es aufgrund der technologischen und auch ökonomischen Entwicklung unmöglich geworden ist, einen richtigen Krieg wirklich zu »gewinnen«, kann eine nur auf militärische Aufrüstung aufbauende Sicherheitsstrategie nicht mehr kostengünstiger sein als zivile Alternativen. ● ● Die rapide steigende transnationale Interaktionsdichte und die kaum noch entwirrbare wirtschaftliche Verflechtung (zum Schlagwort »Globalisierung« s.- Kap. 2.1.) machen jede Gewaltexpansion äußerst kontraproduktiv, bieten aber andere Möglichkeiten von Einflussnahme und Zusammenarbeit. ● ● Auch in institutionalistischer Perspektive handeln die Akteure zweckrational und nutzenmaximierend-- aber sie rechnen anders: Die Chance auf absolute Gewinne, für wen auch immer, wird höher bewertet als die Gefahr, selbst relativ nicht so viel zu gewinnen wie andere; in einem interdependenten System ist der Gesamtnutzen wichtiger und durchsetzungsfähiger als der isolierte Einzelnutzen. ● ● Staaten erkennen die Notwendigkeit, problematische, d. h. konflikt- und damit kostenträchtige Situationen, an denen sie beteiligt sind, kooperativ zu entschärfen und dies in verlässlichen und dauerhaften Formen zu tun- - also die Problemlösungsmethoden zu institutionalisieren. Diese Institutionen sind die Internationalen Organisationen und Regime. Sie bereiten für die in ihnen und durch sie kooperierenden Akteure Informationen auf, stimmen Erwartungen und Verhalten ab, moderieren die Verteilung von Vorteilen und Kosten-- halten insgesamt die sog. Transaktionskosten der politischen Praxis gering. ● ● Auch aus institutionalistischer Sicht sind und bleiben die Staaten die ausschlaggebenden Akteure in der internationalen Politik, wobei immer schon auch internationale Organisationen als teilweise eigenständige Akteure konzipiert wurden. In neueren Varianten des Institutionalismus werden auch nichtstaatliche bzw. nichtregierungsamtliche, meist wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure als ernstzunehmend akzeptiert. ● ● Wie und in welchem Ausmaß zivilgesellschaftliche Akteure theoretisch zu begreifen und praktisch in den Griff zu bekommen sind, ist aber eine weiterhin zu klärende Problematik. Gerade aus institutionalistischer Sicht wäre dringlich die Substanz hinter der »global governance«-Rhetorik herauszuarbeiten. Ein besonderes Problem ist die Einordnung des »Konstruktivismus« oder auch »Sozialkonstruktivismus« in ein Ordnungsschema der Theorien der Internationalen Beziehungen. In der hier gebotenen Übersicht ist der Ansatz in seiner puristischen Variante der idealistischen Tradition zugeordnet, während er in seiner pragmatischeren Ausprägung als dem institutionellen Denken verwandt verstanden wird. Wie oft bei schnell und breit Karriere machenden Konzepten, ist zuerst zu fragen, ob es sich bei ihnen wirklich um etwas Neues handelt: Interpretative oder reflexive Ansätze oder zumindest Argumentationskontexte gab es in der Philosophie und entsprechend in den Sozialwissenschaften und auch in der Lehre der Internationalen Beziehungen (z. B. Analysen von Feindbildern und Stereotypen) schon lange, bevor bei einer nachrückenden Gelehrten-Generation das damit nun klassisch gewordene Buch über die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« von Berger/ Luckmann (1969; engl. Original »The Social Construction of Reality« von 1966) populär und zum Schlagwort wurde. Die Autoren wollten eigentlich die klassische europäische Perspektive der phänomenologisch fundierten Wissenssoziologie einem größeren akademischen Publikum in den USA näher bringen, stießen damit aber offenbar auf breiter angelegte geistige Bedürfnisse. Einen eindeutig greifbaren »Konstruktivismus« gibt es nicht, auch dieser Denkansatz variiert in verschiedenen Härtegraden und mit unterschiedlichen Anspruchsreichweiten: Die pragmatischeren Varianten wollen das theoretische Denken zu den Internationalen Beziehungen um eine grundlegende Perspektive erweitern, daraus manche gängigen Lehrsätze substantiell kritisieren und einige wichtige Theoreme hinzufügen; radikale Versionen behaupten mehr oder weniger, die Welt neu erfunden zu haben. ● ● Insoweit die bekannten internationale Institutionen, sobald sie erst einmal etabliert wurden und dann gar erfolgreich arbeiten konnten, erwartungsgemäß eine Eigendynamik anstießen, die auch normawww.claudia-wild.de: <?page no="45"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 45 2.2 Theorien über internationale Politik 45 tive Wirkung zeitigte, also z. B. völkerrechtliche Normen und prozedurale Regeln, Verhaltensstandards und Qualitätskriterien weiterentwickelten oder gar erst hervorbrachten, können konstruktivistische Gedanken an ihnen unmittelbar anknüpfen (vgl. Menzel 2001, S. 22). ● ● Denn konstruktivistisches Argumentieren baut auf folgenden Annahmen auf (vgl. Wendt 1994): Die grundlegende Analyse-Einheit bleibt der Staat, aber die Beziehungen zwischen den Staaten sind sozial konstruiert, zumal die Identität und die Interessen der Staaten auf Selbst- und Fremdbildern aufbauen, die aus der einzelstaatlichen bzw. transnationalen Gesellschaft stammen. ● ● Somit wären die im Realismus aber auch in den anderen Ansätzen gängigen Konzepte von »Akteuren« und »Strukturen« in den Internationalen Beziehungen gründlich in Frage zu stellen. Akteure konstruieren die Staatenwelt und ihre eigene Identität darin einerseits mittels Interpretation ihres eigenen Sinnsystems und der Sinnsysteme anderer Akteure, andererseits durch ihr entsprechendes staatengesellschaftliches Handeln. Folglich wird das internationale System weniger durch materielle als durch ideelle Strukturen bestimmt, also durch Wertvorstellungen, Normen, Identitäten-- und durch Kommunikation darüber (vgl. Wendt 1992). ● ● Ideelle Strukturen wirken nicht bloß regulativ, sondern auch konstitutiv: Sie regeln nicht nur das Verhalten nach bestimmen Kriterien und Standards, sondern sie bringen diese und eine Reihe von Rahmenbedingungen selbst hervor. So beschränken bzw. orientieren soziale Normen nicht nur das Verhalten der Akteure, sondern auch ihre Identitäten und Interessen. Akteursverhalten und ideelle Strukturen beeinflussen und verändern sich gegenseitig; die Agenda und die Prioritäten- und Präferenzenordnung der Akteure wandeln sich in Interaktion durch Kommunikation. ● ● Wie einzelne Menschen trachten demnach auch Staaten als Akteure in der internationalen Politik danach, jeweils das sozial Angemessene in richtiger Weise zu tun, also die an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen, sich somit an soziale Normen zu halten (z. B. keine Menschenrechte zu verletzen) und vielleicht auch an die sie begründenden Wertevorstellungen zu glauben (universale Gültigkeit der Menschenrechte), statt utilitaristisch-strategisch egoistische Ziele zu verfolgen, wenn das im Widerspruch zu diesen Erwartungen stünde. ● ● Es ist aber auch im Konstruktivismus kaum methodisch sauber möglich, Ideen und Normen sowie ihre konkrete Bedeutung für Entscheidungen und Verhalten von Akteuren empirisch zu erfassen- - eigentlich ist man wieder auf die gute alte hermeneutische Interpretation bzw. Max Webers »Verstehen« etwa von »Wahlverwandtschaften« (Weber [1904] 1991, [1904/ 5] 1995) zurückverwiesen. In konkreten Fällen ist jeweils zu fragen, warum sich welches Element welcher Art gegen welches andere Element welcher möglicherweise anderen Art durchsetzt, z. B. welches Kriterium in einem Normenkonflikt; wenn dies auch im Einzelfall plausibel erklärbar sein mag, lässt sich dies jeweils auch generalisieren? Auch das ungeklärte alte Menschheitsproblem von der immer zu erwartenden Diskrepanz zwischen Normanerkennung und Normbefolgung, ein Grundproblem auch für die Erforschung der Wirkung von internationalen Organisationen und Regimen, schmälert die Prognosekraft konstruktivistischer Deutungen beträchtlich. Die Frage nach dem Status des »Konstruktivismus« bleibt ungeachtet seiner Popularität offen: Als Frageperspektive bzw. als Interpretationsrahmen ist er für jede Bemühung, die komplexen und oft chaotisch erscheinenden Welten der internationalen Kooperation zu beschreiben und eben auch zu verstehen, fundamental wertvoll. Aber ist sein Beitrag diese in anderen theoretischen Zugängen fehlende oder vernachlässigte Perspektive, die wesentliche und viel zu oft vernachlässigte Argumente einbringt- - oder begründet er als eigenständige Theorie einen authentischen Zugang zu den Internationalen Beziehungen, der mehr leistet als die früher etablierten Theorien? Die Entwicklung der Nachfrage auf dem wissenschaftlichen Markt zeigt jedenfalls keine gute Konjunktur für die alten »Paradigmen«: der linke »Strukturalismus« ist noch weiter an den Rand gedrängt worden, der klassische »Idealismus« wird teilweise zu »Welt«-Formeln (Weltinnenpolitik, Weltethos) <?page no="46"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 46 46 2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen karikiert, der alte US-»Realismus« ist spätestens mit der zweiten Bush-Administration zumindest als akademischer Hegemon völlig diskreditiert (vgl. Masala 2010), der »Institutionalismus« scheint heillos zersplittert, weswegen viele seiner Vertreter die Nähe des siegreichen »Konstruktivismus« suchen (vgl. Overhaus/ Schieder 2010). Inzwischen ist der »konstruktivistische« Zugang jedenfalls in seiner »Rolle einer neuen Orthodoxie an Universitäten« (Masala 2010, S. 64) derart verbreitet, dass er als eigenständiges Innovativ-Paradigma über die klassischen Theorietraditionen gestellt wird, die dann auf nur zwei Formen alten Denkens wie den »Neorealismus« (über internationale Anarchie) und den »Liberalismus« (über Anarchie und Interdependenz) eingedampft werden können (so z. B. Rittberger/ Kruck/ Romund 2010, S. 36). Oder es werden gar nur noch »Rationalismus« und »Konstruktivismus« gegenübergestellt (so Liese 2006, S. 31 ff.). Wenn die theoretische Sichtweise nicht unabhängig vom Zweck und Gegenstand ihrer Anwendung gewählt werden sollte, kann sich je nach der Erkenntnisabsicht der theoretische Fokus verschieben: So mag die reduzierende Opposition von »Rationalismus« und »Konstruktivismus« fruchtbar sein, wenn es um die Wirkung von internationalen Regimen geht. In diesem Verständnis sind »Rationalisten« nur an kalkulierender Entscheidungs- und Konsensfindung (»rational choice«) interessiert und denken dabei in einer Logik der Konsequenzen, während »Konstruktivisten« resp. »Kognitivisten« engagiert sind für Normbildung und -übernahme und dafür gemäß einer Logik der Angemessenheit vorgehen (vgl. March/ Olsen 1998). Hinter dieser heute wieder gerne gewählten Gegensatzbildung steckt eine alte wissenschaftstheoretische Unterscheidung zwischen dem scheinbar »objektiven« Erklären, das monologisch und belehrend auftritt, und dem subjektiv-reflexiven Verstehen, das sich kommunikativ und dialogisch gibt. Das Problem und seine Scheinlösungen sind klassisch im »Objektivitätsaufsatz« von Max Weber formuliert (Weber [1904] 1991); man kann es im Kern zurückführen bis auf einen philosophischen Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles oder aber auch mit unterschiedlichen Funktionslogiken der linken und rechten Hirnhälfte in Verbindung bringen. Die Funktionsweise unseres Gehirns-- eben auch ein soziales Produkt-- ist eine gute Realmetapher: Nur durch das wohlkoordinierte Zusammenwirken aller Hirnteile kommt Vernunft zustande. Warum kann nicht auch ein in »realistischer« Fasson norm-indifferent agierender Staat durch ein Regime z. B. zum Menschenrechtsschutz normativ beeinflusst werden (obwohl die reine »realistische« Lehre dies ausschließt), wenn ein Verhalten außerhalb des Regimes oder gegen dessen Normen ihm mehr Nachteile (Imageverlust, wirtschaftliche Verluste) als Vorteile (unbeeinflusster Umgang mit Menschenrechten) bringt? Oder anders: Ist es nicht sinnvoll, auch hier zwischen »rationalistischen« und »konstruktivistischen« Aspekten wechselnd und verschiedene kombinierend (wie auch in Liese 2006) mehr Zusammenhänge, vielleicht gar dadurch erst den potentiellen Gesamtzusammenhang zu sehen-- wie es das »institutionalistische« Denken wenigstens teilweise versucht, allerdings mehr rekonstruierend (vgl. Keohane 1988)? Eine anders konstruierte Dreiteilung der Theorien der Internationalen Beziehungen kann orientiert an den Bezügen Sicherheit, Kooperation und Kognition und zugleich an differenzierten Auffassungen vom Staat als Akteur aufgebaut werden (vgl. ähnlich Hartmann 2001, S. 78): ● ● sicherheitsfixierte Theorien (in der realistischen Tradition), die auf den Staat als hermetische Einheit gründen; ● ● kooperationsorientierte Theorien (aus der liberalen bzw. institutionalistischen Gedankenwelt), die den Staat zwar als entscheidende Instanz für die Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen voraussetzen, ihn aber als sowohl komplexen sowie in Interaktion mit anderen Staaten und zumal internationalen Institutionen durchdringbaren Mehrebenen-Akteur sehen; ● ● kognitionsbasierte Theorien (im Sinne des interpretativen bzw. konstruktivistischen Denkens), die Staaten als sozialisierbare und lernfähige Mitspieler neben anderen Akteuren auffassen, die vorrangig die »gelernten« Werte und Normen außenpolitisch durchsetzen sollen. <?page no="47"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 47 2.2 Theorien über internationale Politik 47 Im Kontext der Diskussion über Internationale Regime erwies sich eine weitere Dreiteilung als erfolgreich, die aufgrund einer Unterscheidung des orientierenden Bezuges in Macht, Interessen und Wissen ebenfalls mit zwei traditionellen und einem erneuerten Typ auskommt: ● ● machtbasierte Ansätze, die in realistischer Tradition von den Machtbeziehungen unter Staaten ausgehen, ● ● interessensbasierte Ansätze, die in neoliberaler (bzw. institutionalistischer) Perspektive die Interessenkonstellationen von Staaten, aber auch anderer Akteure, als Bezug nehmen; ● ● wissensbasierte Ansätze, die in kognitivistischer (resp. konstruktivistischer) Interpretation Prozesse der Wissensdynamik, der Kommunikation und der Identitätsbildung zugrunde legen. Diese Typologie begründete auch die gängige Einteilung der drei Denkschulen zu internationalen Regimen in eine realistische, eine neoliberale und eine kognitivistische-- und war so selbst eine Art »Regime« für das Reden über Regime geworden (Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997, bes. S. 3-7). ● ● Machtbasierte Ansätze gestehen internationalen Regimen nur geringe Bedeutung zu, da sie nur in enger Abhängigkeit von der Machtverteilung zwischen den am Regime beteiligten Staaten wirksam und von Dauer sein könnten; jede Änderung dieser Machtverteilung müsste zudem die Kooperation im Regime behindern; den Akteuren wird unterstellt, dass sie kompromisslos ihre relativen Vorteile suchen, damit kein anderer besser gestellt wird. ● ● Interessenbasierte Ansätze verstehen Regime als Instrumente, mit denen staatliche Akteure nach Maßgabe ihrer vorgegebenen Interessen untereinander und auch mit nichtstaatlichen Akteuren kooperieren, um ihre Ziele optimal verwirklichen zu können; den Akteuren wird unterstellt, dass sie absolute Vorteile suchen, auch wenn andere noch besser gestellt werden. ● ● Wissensbasierte Ansätze schreiben Regimen große Bedeutung zu, weil sie Identität, Interessen, Rollen und Normen zumal der staatlichen Akteure durch die Interaktion untereinander und besonders mit nichtstaatlichen Akteure entscheidend zugunsten kooperativen Verhaltens beeinflussen könnten; den Akteuren wird unterstellt, dass sie entsprechend Rollen entwickeln und ausfüllen können. Diese und ähnliche Unterscheidungen sind logisch meist überzeugend, aber zu fragen bleibt jeweils in konkreten Fällen, ob sie am empirischen Material trennscharf bleiben; jedenfalls kann z. B. schon vor aller konstruktivistischer Anleitung bezweifelt werden, dass es möglich ist, nach den eigenen Interessen zu handeln, ohne diese zu »wissen«. Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 2.2 Berger/ Luckmann 1969; Hartmann 2001; Keohane 1988; Keohane/ Nye 1987; Krell 2009; Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997; Menzel 2001; Meyers 1997, 1981, 2007; Schieder/ Spindler 2003; Weber 1904/ 1991; Wendt 1992, 1994; Wight 1991; Wilhelm/ Sauer/ Masala 2010 Tab. 5: Dreiteilungen der theoretischen Zugänge zu »Internationalen Regimen« Typus Denkschulen Fokus Einschätzung von IR/ IO machtbasiert (neo)realistisch Macht-Beziehungen → Sicherheit geringe Bedeutung als Nebenprodukte mit eng begrenztem Nutzen interessenbasiert neoliberal (institutionalistisch) Interessenkonstellationen → Kooperation große Bedeutung als Foren/ Instrumente für Verhandlung/ Kooperation wissensbasiert kognitivistisch (konstruktivistisch) Kommunikation und Identität → Normen sehr große Bedeutung als sozialer Kontext für Lernprozesse/ Verhalten <?page no="48"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 48 <?page no="49"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 49 49 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen Einleitend sind Regime charakterisiert worden als verbindliche Regelung abgestimmten Handelns in einem bestimmten Problembereich; die dafür geltenden Regeln legen auf der Basis von konsensual gewonnenen Kriterien und mit einem legitimen Anspruch auf unbestrittene Zuständigkeit bestimmte Verfahrensweisen und Standards fest. Das ist vage und wird genauer zu fassen sein, doch jede konkretere Definition warf in der Fachdiskussion weitere Fragen auf und stieß auf Kritik oder alternative Definitionen, was normal und oft produktiv ist. Aber im Falle des schwer zu fassenden Phänomens »Internationales Regime«, ist es hilfreich, zunächst Fragen zu stellen, um einzugrenzen, was ein solches sein könnte-- und was nicht: ● ● Welcher Art muss eine Grenzen überwindende und anhaltende Kooperation zwischen politisch organisierten Großgruppen sein, um den Charakter eines Regimes zu haben? War der antike »Attische Seebund« ein die Polis übergreifendes »Sicherheitssystem« unter der hegemonialen Führung Athens, ein Regime, ein Verteidigungsbündnis oder schlicht ein getarntes Imperium? Hat nicht der »Wiener Kongress« unter der glitzernden Oberfläche eine Art internationales Sicherheitsregime erarbeitet, das überraschend lange und gut funktionierte? Ist der »Abolutionismus« des 19. Jahrhunderts, die von England ausgehende weltweite Kampagne gegen die Sklaverei, nicht als ein hegemoniales, jedoch von der »civil society« initiiertes Regime mit nachhaltigem Erfolg zu sehen? ● ● Wenn heute vor einem mächtigen Gebäude wichtige Leute aus aller Welt in edlem Tuch aus großen Limousinen steigen, werden sie dann gleich auf einem »Gipfel« an einem Regime arbeiten? Sind regelmäßige Treffen von Regierungen bestimmter Ländergruppen wie der G7/ 8 oder der G20 als internationale Regime oder Vorformen davon oder im Gegenteil als nicht legitimierte Konkurrenz zu institutionalisierten Regimen einzuschätzen? ● ● Inwieweit wird internationale Kooperation erst durch die öffentliche Wahrnehmung und Benennung zum »Regime«? Wenn vom »Weltwährungssystem«, vom »Weltfinanzsystem« oder vom »Welternährungssystem« zu lesen ist, sind dann bestimmte Regime gemeint oder ganze Regime-Systeme-- oder steht hier das Wort »System« nur für eine irgendwie angenommene, aber nicht so recht erfasste Gesamtheit der Aktivitäten zu dem jeweiligen Thema? ● ● Genügt die Beobachtung, dass regelmäßige Treffen von Fachbeamten oder Experten einzelner Regierungen stattfinden, um ein Regime vermuten zu dürfen, oder bedarf es dazu eines Mindestmaßes an Organisation? Ist der Regime-Begriff überhaupt an das Konzept des modernen Nationalstaats gebunden und wie verhält er sich zum Begriff der internationalen Organisation? Nötig sind also Kriterien, die festlegen, welche Merkmale zu beobachten sein müssen, damit bestimmte Vorgänge als ein Internationales Regime oder etwas Ähnliches oder etwas anderes einzuschätzen sind. Man könnte z. B. fragen, ● ● ob Regime bereichspezifisch und/ oder zweckgebunden sein müssen, ● ● wie eng oder breit und wie komplex ihr Aufgabengebiet sein kann, ● ● welcher Art ihre Rechtsgrundlagen (Völkerrecht, Verträge, Abkommen) sein sollten, ● ● ob bestimmte organisatorische Voraussetzungen und Funktionsmechanismen notwendig sind, ● ● wie Regime von anderen Formen internationaler Kooperation und insbesondere von internationalen Organisationen abzugrenzen sind bzw. ● ● wie sie sich zu anderen Institutionen verhalten, ● ● inwieweit auch tatsächlich reale und dauerhafte Wirksamkeit feststellbar sein muss, damit ein Regime erkennbar ist. <?page no="50"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 50 50 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen »Im Bereich der internationalen Politik sind Regeln und Verfahren nicht annähernd so vollständig oder so gut durchsetzbar wie in wohlgeordneten innerstaatlichen politischen Systemen. Existierende Institutionen besitzen bei weitem keinen vergleichbaren Grad an Macht oder Autonomie. […] Die Schwäche internationaler Organisationen und die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Völkerrechts können den Beobachter manchmal dazu verleiten, internationale Regimes für unbedeutend zu halten oder gar ganz zu ignorieren. Dennoch haben, auch wenn ihr weltweiter Integrationseffekt insgesamt gesehen gering ist, spezifische internationale Regimes häufig wichtige Auswirkungen auf Interdependenzbeziehungen, die wenige Staaten oder viele Länder in einer besonderen Frage berühren. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde beispielsweise ein spezifisches Normen- und Verfahrenssystem entwickelt, um Staaten und transnationale Akteure in einer Vielzahl von Bereichen zu lenken. Hierzu zählen Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Fischereischutz, internationale Ernährungspolitik, Zusammenarbeit im Bereich der Meteorologie, Weltwährungspolitik, Verhaltensregeln für multinationale Konzerne, der Schifffahrts- und Telekommunikationsbereich sowie der Welthandel. In einigen Fällen haben diese Regimes formalen und umfassenden, in anderen informellen und lückenhaften Charakter. Ihre Effektivität variiert von Sachgebiet zu Sachgebiet und von Zeitraum zu Zeitraum. Wahlweise und auf regionaler Ebene haben bestimmte Ländergruppen wie etwa die Europäische Gemeinschaft (EG) oder die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) Regimes entwickelt, die verschiedene Bereiche der gegenseitigen Beziehungen dieser Länder umfassen. Internationale Regimes können entweder in zwischenstaatliche Vereinbarungen oder Verträge gekleidet werden-- so etwa die Vereinbarungen über das internationale Währungssystem von Bretton Woods aus dem Jahre 1944-- oder sie können sich aus geplanten vertraglichen Vereinbarungen entwickeln, die nie in Kraft gesetzt wurden, wie es mit dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) der Fall war, das aus der nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeschlagenen Internationalen Handelsorganisation hervorging. Oder aber sie können eine stillschweigende Übereinkunft darstellen, wie etwa das kanadisch-amerikanische Verhältnis. Diese Regimes variieren nicht nur im Umfang, sondern auch im Grad ihrer Beachtung durch die Hauptakteure. Wenn keine allgemein akzeptierten Normen und Verfahren bestehen oder wenn die Ausnahmen gewichtiger sind als die Fälle, in denen die Regimes befolgt werden, besteht eine Nichtregime-Situation.« Robert O. Keohane/ Joseph S. Nye (1987, S. 85 f.) Schon die Kriterien zur Beschreibung und Einordnung von internationalen Regimen sind nur in einer bestimmten Sichtweise oder im Wechsel zwischen verschiedenen Sichtweisen zu entwickeln. Merkmale zu bestimmen ist jedoch nicht genug; es ist zu klären, warum es internationale Regimen gibt, zu untersuchen, wie bzw. mit welchen Mitteln sie funktionieren, und zu begründen, welche Leistungen von ihnen zu erwarten sind. Die meisten solcher Fragen sind nicht einfach empirisch zu beantworten; nötig ist eine Grundlage von Überlegungen theoretisch-konzeptioneller Natur im Kontext der leitenden Ideen von Interdependenz und Kooperation. Entstehung und Verlauf der politikwissenschaftlichen Debatte über internationale Regime, theoretische Motive und Positionen, die wichtigsten Analyse-Ansätze und einige grundlegende Argumentationsmuster sowie gängige Definitionen müssen bedacht werden, um eine pragmatisch, nicht theoretisch ambitionierte Synopse der Merkmale und Eigenschaften von »Internationalen Regimen« zu bieten. <?page no="51"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 51 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 51 3.1 Regime-Theorie und -Analyse Im philosophischen und völkerrechtlichen Denken über die Beziehungen zwischen Staaten waren deren Aufgehen in einem »Weltstaat« oder aber die Kooperation zwischen den existierenden Staaten schon lange umstrittene Optionen, bevor es als erste umfassende internationale Organisation den Völkerbund gab. Auch noch in den 1940er und 1950er Jahren, also vor, während und gleich nach der Gründung der UNO und explizit unter Bezug auf die neue »Weltorganisation«, diskutierten amerikanische und britische Völkerrechtler, ob eine formale Zentralisierung oder eine Ausweitung der Arbeitsfelder der administrativen und technischen Zusammenarbeit der richtige Weg sei (vgl. Peterson 2007, S. 111). Älter als der Völkerbund sind einige internationale Regelungsmechanismen zu technisch-organisatorischen Fragen (wie zur Abstimmung von Post/ Telekommunikation/ Verkehr; s.-Kap. 5), die aber meist in Form einer internationalen Organisation etabliert wurden. Die wissenschaftliche Behandlung von internationalen Institutionen richtete sich von da an auf formelle internationale Organisationen aus, bis sich in den 1970er Jahren die Einsicht durchsetzte, dass internationale Politik als multilaterale Kooperation auch außerhalb formeller Organisationen und über sie hinaus gemacht wird (vgl. Martin/ Simmons 1998, S. 730 ff.). Die Grundidee zu internationalen Regimen ist wahrscheinlich ungefähr so alt wie der Völkerbundsgedanke aus dem 19. Jahrhundert, den sie komplementär und pragmatisch erweitert. Völkerrechtler jedenfalls haben den Begriff »Regime« wohl schon in den 1920er Jahren eigenständig verwendet (Müller 1993, S. 17), wenn sie die Regelungssysteme, die auf einem internationalen Vertrag oder einem komplexeren internationalen Vertragswerk aufbauen, beschrieben. Diese Vorstellung kooperativer Regelung wurde dann in der politikwissenschaftlichen Regime-Diskussion ausgearbeitet, wobei der Aspekt der rechtlichen Form weniger beachtet wurde. Auch Wirtschaftswissenschaftler sprachen schon zur Mitte des 20. Jahrhunderts von Instrumenten wie »Quasi-Abkommen« (»quasi-agreements«), die dazu dienen, Beziehungen zwischen Staaten so zu organisieren, dass letztlich alle Parteien wirtschaftlich profitieren (so z. B. 1949 der Amerikaner William Fellner; 1949, S. 121). In der Nachkriegszeit ab 1945 und in den aufgrund des Kalten Krieges unkooperativ gestimmten 1950er und 1960er Jahren waren die gegeneinander arbeitenden Hegemonialmächte USA und UdSSR in ihren Blöcken in den großen und wichtigen politischen Fragen mehr oder weniger alleine bestimmend, aber doch funktionierte internationale Kooperation in den alten und neueren Internationalen Organisationen schon zu allen möglichen Fragen und in vielfältigen Formen. In den 1970er und bis in die 1980er Jahren dominierte einerseits eine Dialektik von Entspannung (vgl. die bundesdeutsche Ostpolitik) und Konfrontation zwischen Ost und West (vgl. die Besetzung Afghanistans durch die UdSSR oder die »star wars«-Pläne der USA), anderseits war mit der politischen Dekolonialisierung der vielschichtige Nord-Süd-Gegensatz bis zum meist ökonomisch verstandenen Nord-Süd-Konflikt ausgereift. Zudem regte eine erstaunliche Einsicht die Neuausrichtung der Erforschung internationaler Kooperation an: die Vormachtstellung des westlichen Hegemon schien erschüttert, wozu vor allem die materiellen und ideellen Kosten des verlorenen Vietnam-Krieges geführt hatten. Internationale Regime waren zwar noch kein formuliertes Konzept, aber wichtige reale Bedingungen dafür waren entstanden. Die Motive für das transatlantische Aufgreifen des Regime-Konzepts waren in Amerika und in Deutschland unterschiedlich. Der drohende Verlust an Hegemonie der USA wurde dort als Bedrohung internationaler Ordnung eingeschätzt, worauf eine hegemonietheoretische Diskussion einsetzte, in der Regime als normativ-institutionelle Instrumente zum Ausgleich mangelnder Hegemonie interessant wurden. Als die Debatte in Deutschland aufgegriffen wurde, sorgte man sich vor allem um die Gefahren einer Konflikteskalation in den Ost-West-Beziehungen. Das Regimekonzept stieß zunächst auf einige Skepsis (vgl. Rittberger 1993b, S. 5) und wurde als amerikanische Modeerscheinung kritisiert, die zu <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 52 52 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen sehr an der Fortschreibung des Status quo und am Staat als entscheidenden Akteur orientiert sei; doch wurde durchaus das sicherheitspolitische Potential von Regimen zur Friedenssicherung gesehen. Zumal die aufkommende Friedensforschung erkannte im Regime-Konzept ein vielversprechendes analytisches- - und praktisches- - Instrument: Fokus der westdeutschen Regime-Debatte war sogleich, unter welchen Bedingungen und mit welchem Instrumentarium Regime die Austragung von Konflikten aller Art zivilisieren könnten; so wurde Politikfeld-Forschung auch in den Internationalen Beziehungen angeregt. Die meisten amerikanischen Regimeforscher kümmerten sich konzeptionell um drängende realpolitische Probleme, neben sicherheitspolitischen vor allem weltwirtschaftliche, viele deutsche suchten in akademischem Ehrgeiz die bessere Theorie. Im Verlauf der 1980er Jahre kam es dann zur raschen Entwicklung und breiten Diskussion des Begriffs des Internationalen Regimes in der Politikwissenschaft, theoretisch, konzeptionell und analytisch (vgl. Müller 1993, S. 17 ff., Sprinz 2003, S. 251 ff.). War der Terminus »Regime« im Kontext internationaler Probleme bis dahin in der Literatur kaum gebraucht worden, erschien er bald immer häufiger als drängendes Thema in Zeitschriften und als neues wichtiges Stichwort in den Neuauflagen der Lexika; viele gewichtige Monographien und Sammelwerke wurden dem neu entdeckten Konzept gewidmet (z. B. Krasner 1983a/ 2004, Keohane 1986, Kohler-Koch 1989a, Müller 1993, Young 1983); in Deutschland wurde die Regime-Debatte vor allem von der sog. Tübinger Schule gepflegt und recht eigenständig weiterentwickelt (siehe Efinger/ Rittberger/ Wolf/ Zürn 1990, Hasenclever/ Mayer/ Rittberger1997, Hasenclever/ Wolf/ Zürn 2007, Kohler-Koch 1989a). Das Interesse-- oder die modenabhängige Euphorie-- ließ dann wieder deutlich nach. In den fachtheoretischen Debatten kamen neue Stile, Themen und Schlagworte zu ihrem Recht (wie »Konstruktivismus«, Globalisierung, NGOs/ Zivilgesellschaft, »global governance« usf.). Aber wenn neue erfunden werden, rollen alte Räder dennoch weiter; das Regime-Konzept wurde in praktischer Absicht wieder mehr verwendet, meist im umweltpolitischen Kontext in der Folge des sog. Rio-Prozesses (Ozon- Regime, internationales Klimaregime). Wenn auch »Internationales Regime« kein problemlos gebräuchlicher, in Bedeutung und Nutzwert unumstrittener Fachterminus geworden ist, so hat sich doch als wissenschaftliche Einsicht durchgesetzt, dass unser alltägliches Leben nicht zuletzt von allerlei internationalen Regimen geregelt wird. »We live in a world of international regimes.« Oran R. Young (1980, S. 331) 3.1.1 Die regimetheoretische Debatte Wie die skizzierte Entwicklung des Regime-Konzepts zeigt, haben seine Protagonisten unterschiedliche theoretische und politische Motivationen für ihre Argumentationsziele: »Realisten« sind an der Hegemonie-Frage interessiert, »institutionalistisch« (bzw. auch »idealistisch«) orientierte Autoren wollen klären, was Interdependenz bedeutet und wie Kooperation funktioniert; für »Konstruktivisten« bzw. für alle, die davon ausgehen, dass die kognitiven Bedingungen und Vorgaben internationaler Beziehungen reflexiv interpretiert werden müssen, ist attraktiv, welche hohe Bedeutung im Regime-Denken Wahrnehmung und Wissen, Kommunikation und Normativität zugeschrieben werden können. Die wohlbekannte Einsicht, dass es im Reich der zwischenstaatlichen Beziehungen tatsächlich keine ordnende, lohnende und strafende Zentralinstanz gebe, wurde in den Debatten um internationale Regime immer wieder begründend, stützend oder rechtfertigend herangezogen. Ausgedrückt in den Begriffen der vertragstheoretischen Begründung staatlicher Herrschaft heißt dies, dass zwischen den Staaten der »Naturzustand« und/ oder »Kriegszustand« besteht- - wie zwischen den Menschen, bevor durch einen Herrschaftsvertrag der Staat begründet wird. Auch wenn dies nur als hypothetische Rekonstruktion <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 53 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 53 der Logik der politischen Ur-Situation zu verstehen ist, kann die Analogie vielleicht helfen, das Grundproblem bei der Einschätzung internationaler Regime zu deuten: Sieht man den Zustand vor dem Staat im Sinne der fundamental-realistischen Weise von Hobbes, gilt ohne die Schaffung eines einzigen Staates auf Weltebene, dass keinerlei Regeln gelten, sondern vielmehr das uneingeschränkte Recht aller auf alles herrscht, d. h. also faktisch Rechtlosigkeit: Kooperation zwischen den derart isolierten Staaten ist wenig aussichtsreich. Sieht man aber den Naturzustand in der idealistisch-liberalen Sicht von Locke als einen auch schon vor dem staatsgründenden Vertrag funktionierenden Gesellschaftszustand und daher als keineswegs völlig frei von normativ gültigen Regeln, dann hat Kooperation unter den Staaten die denkbar wichtigsten Funktionen, nämlich diese Regeln zu klären und zu pflegen (vgl. Hartmann 2001, S. 55). Die einschlägigen Fachdebatten waren kompliziert und verliefen entlang unterschiedlicher Konfliktlinien. Die Verbindungen zwischen den oben (s.-Kap. 2.2) kurz dargestellten Grundmustern der Theorien der Internationalen Beziehungen und den regimetheoretischen Diskussionsprofilen ist nur in der »realistischen« Tradition recht übersichtlich, die Entwicklungswege in der »institutionalistischen« und »idealistischen« Tradition sind verschlungener (vgl. die Darstellungen in Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997). Die Position von Robert Keohane z. B., der wesentliche Beiträge zur Interdependenz und Kooperation von Staaten vorgelegt hat (u. a. Keohane/ Nye 1977; Keohane 1984), gehört in der oben (Kap. 2, Tab. 3) zugrunde gelegten Ordnungslogik zum »institutionalistischen« Grundmuster. Sie wird aber auch dem »Funktionalismus« zugerechnet (Mitrany 1966 [1943], Haas, E. 1964; vgl. Conzelmann 2003). Dieser kann als eine Untervariante von Liberalismus bzw. Idealismus verstanden werden, weil er zum einen politisch an der Befriedigung individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse ansetzt und zum anderen von der Möglichkeit der Überwindung selbstzentrierten und aggressiven Verhaltens und also der Schaffung friedlicher Beziehungen zwischen den Staaten ausgeht. Belehrt vom Scheitern von Friedenspolitik in zwei Weltkriegen und vom Erfolg des europäischen Integrationsprozesses, betonen Funktionalisten, dass internationale Kooperation weniger durch die Staaten von oben organisiert werden könne, sondern sich diese eher von unten durch grenzüberschreitende und sachspezifische Zusammenarbeit entwickeln müsse. Entsprechend sei nicht der Ausbau internationaler Organisationen bis hin zu einer supranationalen Zentralinstanz das Ziel, vielmehr müsse die Zwischenstaatlichkeit selbst durch konkrete, eher unpolitische und auf interdependente Sachprobleme bezogene Zusammenarbeit und deren Erfolge überwunden werden. Das Argument der Interdependenz oder wechselseitigen Abhängigkeit und die darauf aufbauenden Überlegungen wiederum konnten verstanden werden als Versuch der Vermittlung zwischen der funktionalistischen und der realistischen Sichtweise (vgl. Müller 1993, S. 13 f.): Tradierte Grundannahmen wie die von der vorrangigen Rolle der souveränen Staaten und ihrer Interessen oder von der Bedeutung asymmetrischer Verteilung von Macht, Ressourcen und militärischer Stärke für die nationale Sicherheit unter den Bedingungen des Sicherheitsdilemmas in einer prinzipiell anarchischen Staatenwelt konnten weiterhin gelten. Aber aufgrund der Einsicht, dass die wachsende transnationale Verflechtung der Wirtschaften und Gesellschaften zu immer komplexerer Interdependenz der Staaten untereinander führt, waren diese Annahmen zumindest gleichgewichtig zu ergänzen mit Annahmen über die Realisierbarkeit und die vielversprechenden Chancen der internationalen Kooperation und ihrer Dynamik-- festgelegt in internationalen Verträgen, geregelt und gesteuert in Regimen und umgesetzt durch internationale Organisationen. Die Bedeutung dieser Mischung aus formellen und informellen Elementen hatten unabhängig von dieser Vorlage durch die Interdependenztheorie u. a. schon John Ruggie (1975) und Oran Young (1980) in bestimmten Politikfeldern untersucht und dabei bemerkt, dass an Kooperation teilnehmende Staaten sich in ihrem Verhalten und in ihrer inneren Organisation entsprechend anpassen-- ein Regime also zur prägenden Umwelt werden kann (Müller 1993, S. 17). <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 54 54 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen Die Debatten um Theorie und Analyse von Internationalen Regimen in den 1980er und noch in den 1990er Jahren waren ausführlich und intensiv, obwohl oder weil nicht alle an diesem damals so angesagten Diskurs Beteiligten ausreichend gründlich argumentierten oder gar forschten (Müller 1993, S. 20; vgl. Strange 1983). Die Literatur (Hunderte von Beiträgen zur Regimetheorie und auch Fallstudien) jedenfalls ist kaum überschaubar (siehe Baldwin 1993, Efinger/ Rittberger/ Wolf/ Zürn 1990, Haggard/ Simmons 1987, Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997, Kegley 1995, Keohane 1986, Krasner 1983a, Levy/ Young/ Zürn 1995, Martin/ Simmons 1998, Oye 1986). Die Auseinandersetzung wurde größtenteils aus einem »(neo)realistischen« und einem »(neo)liberalen« (resp. idealistischen) Lager heraus geführt-- so die gängige Unterscheidung. Das eine hatte mit den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen vor und um 1989 einen realen Anlass zur Klärung der Möglichkeiten internationaler Kooperation als Heilmittel gegen das amerikanische Hegemonie-Problem; das andere lieferte mit der Interdependenz-Diskussion als konzeptioneller Vorlage zugleich kritische Argumente und fruchtbare Anregungen zur Herausbildung eines an Frieden und Wohlfahrt orientierten Ansatzes zur Regime-Analyse. Die Profile der Argumentationen zeigt Tabelle 6 (vgl. Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997, Menzel 2001, S. 172 ff., Müller 1993, S. 9 ff., Zangl 2003). Tab. 6: Regimetheoretische Gegen-Positionen »(neo)realistisches« Profil »(neo)liberales« Profil Reichweite von »Regime« enger Begriff, nur auf wenige wichtige Problemfelder wie Handel, Öl/ Energie, Währungen und Sicherheit bezogen weiter Begriff, der auf (fast) alles anwendbar ist-- eine Welt bestehend aus lauter Regimen Prämissen - anarchische Staatenwelt - Staaten sind die einzigen Akteure von Bedeutung - Die Anarchie ist regelbar - Normen und Institutionen haben eigenständige Bedeutung und Dynamik Kooperation Skepsis: unwahrscheinlich Optimismus: kann funktionieren Funktionen von Regimen Transformation der hegemonial basierten Ordnung nach 1945 in ein auf Kooperation aufbauendes internationales System nach-1989 Herstellung/ Vertiefung von Interdependenz, die wiederum das Verhalten der Staaten verändert Grundfragen Wie entstehen Regime? Wie können Regime weiterhin bestehen trotz Hegemonieverlust? Stützen oder ersetzen Regime die Hegemonieposition der USA? Wie können Regime weiterhin bestehen und sich gar erfolgreich verändern auch ohne Hegemon? Warum überhaupt können Regime fortbestehen und sich verändern? Vorteile der Kooperation relative Gewinne im Nullsummenspiel zur Sicherung eigener Machtpositionen absolute Gewinne in Nichtnullsummenspielen dank Konfliktprävention Staatsziel (militärische) Sicherheit Wohlfahrtssteigerung Potential der Akteure Fähigkeiten (aufgrund von Macht und Ressourcen) Absichten (aufgrund von Lernfähigkeit und-Normen) <?page no="55"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 55 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 55 Die großen Fragen der konzeptionellen Arbeit am Regime waren: ● ● Warum sind Regime möglich, wie entstehen sie? ● ● Wie können Regime von Dauer sein, wie sich wandeln und Zerfall verhindern? ● ● Wie kann Erfolg, Wirkung und Effizienz von Regimen gewährleistet werden? Diese Fragen markieren auch die Phasen der regimetheoretischen Debatte. Zuerst ging es um die Bedingungen der Entstehung und Etablierung von Regimen, dann um das Problem der Einhaltung der in ihnen eingegangenen Verpflichtungen und schließlich bis heute um die Klärung ihrer Wirkung (Sprinz 2003, S. 251). 3.1.2 Macht und Interessen Die Theorie der hegemonialen Stabilität (siehe dazu Keohane 1980, Krasner 1976, 1983b, 1983c, Snidal 1985b; vgl. Müller 1993, S. 14 ff., Zangl 1993, S. 130 f.) nimmt auf Basis der »realistischen« Grundkategorien Macht und Interessen an, dass nur eine starke hegemoniale Macht, also ein allen anderen Akteuren überlegener Staat, Stabilität in den internationalen Beziehungen gewährleisten kann. Ungeachtet der Frage, ob dies auch z. B. zwei oder mehr konkurrierende Hegemonialmächte leisten könnten, ist für einzelne politische und wirtschaftliche Problembereiche in Abhängigkeit von der dort jeweils gegebenen spezifischen internationalen Machtstruktur und der entsprechenden Verteilung der Machtressourcen davon auszugehen, dass nur hegemoniale Akteure in der Lage sind, Regeln zu setzen und durchzusetzen: Sie bilden internationale Regime, um bestimmte Probleme in ihrem Sinne und Interesse zu regeln und übernehmen dabei die meisten Kosten und Lasten zugunsten der anderen Regimeteilnehmer. Instrumente zur Durchsetzung der hegemonialen Regime sind politischer Druck, militärischer Zwang und/ oder die Lockung mit Anreizen; auf freiwillige Kooperationsbereitschaft der anderen Akteure ist nicht verlässlich zu setzen. Folglich wird eine Veränderung der Machtposition oder der Interessenlage des dominanten Akteurs auch die Regime ändern; ein Machtverlust des ein Regime beherrschenden Hegemons bedeutet mindestens einen Bedeutungsverlust des Regimes oder gar seinen Zerfall, wenn die Kosten zu seiner Aufrechterhaltung im Vergleich zu ihrem Nutzen ansteigen. Davon ausgehend, dass die hegemoniale Rolle relativ kostenträchtig ist, kann man darin einen Wettbewerbsnachteil und damit eine Art eingebauten Selbstzerstörungsmechanismus von Regimen sehen (Müller 1993, S. 15 f.). Wenn die Überlegenheit des hegemonialen Staates schwindet und/ oder er das Interesse am Regime verliert und daraufhin versucht, die Kosten auf andere Nutznießer des Regimes abzuwälzen, lässt deren Loyalität nach: Sie werden versuchen, das Regime in ihrem Sinne zu beeinflussen, was gemäß der genannten Prämissen nicht funktionieren kann. Eine am jeweiligen Problembereich interessierte und durchsetzungsfähige hegemoniale Vormacht galt den Verfechtern der »hegemonialen Stabilität« also als die entscheidende Voraussetzung für die Errichtung und Dauerhaftigkeit eines Regimes; auch seine Ziele und Arbeitsweise würden vom Hegemon bzw. von den herrschenden Machtverhältnissen zwischen den beteiligten Staaten bestimmt. Als tatsächlich die US-amerikanische Vormachtstellung ins Wanken geraten zu sein schien, suchten einige »Realisten« andere Konzepte zur Ermöglichung von Regimen; dies wurde um so dringlicher, als sich herausstellte, dass trotz des diagnostizierten »Hegemonieverlusts« einige Regime bestens funktionierten: »Why did things not fall apart during the 70s? « (Krasner1983c, S. 358). Dass dann nach dem weltpolitischen Umbruch von 1989, der gesteigerte »Anarchie« zur Folge hatte, überraschenderweise die internationale Kooperation zunahm und sich besonders im finanz- und handelspolitischen Bereich in Krisen zu bewähren schien, verlangte erst recht nach Erklärungen jenseits der Fixiertheit auf den starken Hegemon. Die »Theorie hegemonialer Stabilität« verstand Regime als Folgeerscheinungen hegemonialer Machtausübung ohne eigenständige Bedeutung, konnte so aber immerhin die Bildung der klassischen <?page no="56"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 56 56 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen internationalen Organisationen und Regime begründen (Zangl 2003, S. 131); aber zur Erklärung dauerhafter internationaler und transnationaler Kooperationsmuster auch in Abwesenheit hegemonialer Führung oder für Konfliktlagen, in denen die gewaltkonfliktträchtige Logik des Sicherheitsdilemmas aufgehoben ist, trug sie nicht bei. Im Rahmen des »realistischen« Denkens schien eine Lösung des hegemonietheoretischen Problems darin zu liegen, dass Hegemonieverlust ausgeglichen werden könnte durch Regime als intervenierende Variable, die zwischen machtunterlegten Interessen der Akteure und diese Interessen übergreifenden Kooperationszielen vermitteln (Krasner 1983b): Aus Eigeninteresse nehmen Staaten an Regimen in gegebenen Machthierarchien teil, weil diese Alternative geringere Kosten und weniger Nachteile mit sich bringt als der dauernde Wettlauf um relative Positionsvorteile. Zwar kommt diese Vorstellung der »neoliberalen« bzw. interdependenztheoretischen Auffassung von Regime ziemlich nahe, aber weil sie immer noch sehr an die Kategorien Macht und Interessen gebunden ist, erlaubt sie internationalen Regimen wenig Eigenleben. »Letzten Endes liegt der Unterschied zwischen Realismus und Regimeanalyse in der entgegengesetzten Perspektive: der Realismus sieht die internationale Struktur als Schranke der Kooperation, die Regimeanalyse die institutionelle Struktur als Schranke der Machtpolitik.« Harald Müller (1993, S. 23) 3.1.3 Interdependenz und Kooperation In der Ära des Kalten Krieges, der scheinbar ausweglosen und das Überleben der ganzen Menschheit bedrohenden Konfrontation zwischen Ost- und Westblock, war das vorherrschende politische Weltbild ein »realistisches«. Gegen dieses teilweise und bei vielen seiner Protagonisten schon zwanghafte Denken gab es aber immer Opposition in Politik, Publizistik und Wissenschaft. Oft sind es einzelne Bücher, die einen Wandel der vorherrschenden Weltsicht zwar nicht schaffen, diesen aber doch formulieren und so wirkungsmächtig markieren. In »Power and Interdependence-- World Politics in Transition« formulierten die US-Amerikaner Robert Keohane und Joseph Nye (Keohane/ Nye 1977) schon geraume Zeit vor dem Ende der Ost-West-Spaltung eine kooperationstheoretische Sichtweise auf die un-»realistischen« Chancen der friedlichen Zusammenarbeit auch zwischen nicht befreundeten Staaten: Nicht Sicherheitsdilemma mit Macht-Konkurrenz bis hin zur militärischen Konfrontation, sondern vielfältige und vielschichtige gegenseitige Abhängigkeit und auch Durchdringung von Staaten, Ökonomien und Gesellschaften- - »komplexe Interdependenz«- - war das leitende Konzept. Besonders die Staaten bzw. ihre Regierungen würden sich wegen dieser wechselseitigen Abhängigkeiten in ihren wirtschaftlichen, kommunikativen und auch sicherheitspolitischen Beziehungen ganz anders verhalten als im »realistischen« Weltbild festgeschrieben. In der politischen Diskussion des Interdependenz-Denkens wurden zu allen Annahmen und Aussagen des realistischen Paradigmas ein Gegenargument vorgebracht; sie sind in Tabelle 7 stark vereinfacht zusammengestellt. Während die »realistische« Sichtweise sich noch als rationalistisch verstehen und darstellen konnte-- also als rein wissenschaftlich, mit rationalen Kalkülen und beobachtbarem Verhalten unter Ausschluss jeglichen Wunschdenkens arbeitend-- hatte die Interdependenztheorie und die von ihr inspirierte Sicht auf Regime schon eine deutliche normative Implikation: eine friedliche internationale Ordnung durch Kooperation ist dem kompromisslosen Beharren auf machtgestützte Selbsthilfe vorzuziehen. Kooperation ist aus interdependenztheoretischer Perspektive jedoch nicht in Wunschdenken gegründet, sondern ergibt sich aus den Interessen der Staaten und der zwischenstaatlichen Machtstruktur: In interdependenten Politikbereichen gibt es meist asymmetrisch differierende Abhängigkeiten- - wenn <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 57 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 57 z. B. der Export eines bestimmten Gutes für ein Land lebenswichtig ist, dessen Import für ein anderes aber nur wünschenswert-- und damit eine spezifische Machtverteilung, die ohne geregelte Kooperation vom jeweils Mächtigeren genutzt werden kann. Staaten müssen in dieser Situation der »komplexen Interdependenz« untereinander ihre Interessen wahren, die sich in Wechselwirkung sowohl widersprechen als auch entsprechen können. Damit Kooperation möglich wird und dauerhaft funktionieren kann, muss der durch sie geschaffene vorteilhafte Nutzen für die Staaten größer sein als die nachteiligen Kosten- - denn nur dann zahlt es sich aus, Probleme gemeinsam und geregelt anzugehen. Aus diesem wohlverstandenen Eigeninteresse wäre auch zu erklären, dass Kooperation gerade ohne einen Hegemon gelingen und Stabilität schaffen kann. Staaten verhalten sich also auch in der interdependenz-orientierten Sichtweise rein zweckrational, ihre Vorteile kalkulierend und optimierend. Aber eine einseitige Fokussierung auf das eigene Interesse und die eigenen Machtposition zu dessen Durchsetzung kann in einer komplex-interdependenten Umwelt sehr kontraproduktiv sein, wenn die Informationen über die anderen Akteure unzureichend sind und/ oder schwer einzuschätzen ist, welches Verhalten von ihnen zu erwarten ist. Aber nicht nur das Wissen über beobachtbare Machtressourcen und nachvollziehbare Interessenkonstellationen kann unzureichend sein, auch ein angemessenes Verständnis von Struktur und Dynamik der Wertorientierungen und Verhaltensnormen anderer Akteure ist schwer zu gewinnen, wenn nicht intensiv kommuniziert oder gar kooperiert wird. Auch mithilfe des spieltheoretischen Gedankenexperiments des »Gefangenendilemmas« (s.-Kap. 3.1.6) ist die These zu stützen, dass es sich für die Staaten lohnt, langfristig zu kooperieren, weil sie sonst Gefahr laufen, durch das Handeln anderer schlechter gestellt zu werden. Aus dem Interdependenz-Denken ergab sich folgerichtig der Regime-Ansatz (weiter ausgearbeitet u. a. in Keohane 1984): Der Nutzen der Teilnahme an einem Regime muss klar größer sein als die Kosten, Tab. 7: Konkurrierende Sichtweisen auf internationale Politik Macht-Realismus Interdependenz/ Kooperation Milieu - »Staaten-Anarchie« ohne übergeordnete Macht bzw. legitime Zentralinstanz - permanenter potentieller Kriegszustand - konstante Gefahr von gewaltsamen Konflikt - Gesellschaften sind in komplexer Weise untereinander verbunden - Friedensordnung ist möglich - konfliktregelnde Institutionen Akteure - Staaten sind exklusiv die relevanten Akteure, andere Akteure sind allenfalls Beiwerk - Staaten sind in sich geschlossene Einheiten und handeln als solche - Souveränität ist unteilbar und stets zu wahren - Auch nichtstaatliche Akteure nehmen aktiv anden internationalen Beziehungen teil - Staaten sind in sich differenziert, ihre Entscheidungen sind komplexe Prozesse - Souveränität ist teilweise abzugeben Zwecke - Hierarchie der Ziele: Militärische Sicherheit ist das wichtigste - Durchsetzung der eigenen Interessen - keine eindeutige Hierarchie der Ziele - Problembereiche und Interessenlagen sind komplex verflochten Mittel - Drohung oder Anwendung von militärischer Gewalt kann nützlich oder notwendig sein - Die wirksamste Ausübung von Macht ist die gewaltsame Durchsetzung eigener Ziele - Militärische Gewalt ist auf Dauer kein wirksames Instrument der internationalen Politik - Gewalt zwischen interdependenten Staaten kann durch Regelung obsolet werden Konsequenzen - Die größere Macht dominiert - Sicherheitspolitik durch militärische Rüstung - Stärkung der eigenen Machtposition, auch durch Bündnisse - hegemoniale Friedensordnung - Kooperation ist möglich und lohnt sich - Sicherheitspolitik durch Abmachungen - Kommunikation und Steuerung in und durch internationale Institutionen - kooperatives Friedenschaffen <?page no="58"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 58 58 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen damit die Kooperation dauerhaft funktioniert. Dazu müssen Regime zwischen der Machtstruktur eines internationalen Systems und dem Prozess politischen und ökonomischen Verhandelns vermitteln (vgl. Keohane/ Nye 1987, S. 86). Selbst organisiert in Abhängigkeit von der vorgegebenen Struktur, sollen Regime den Prozess von Verhandlung und Entscheidungsfindung zur kooperativen Weiterentwicklung dieser Struktur stimulieren, moderieren und regulieren: die Struktur besteht aus Art und Verteilung der Instrumente und Ressourcen zur Machtausübung unter den Akteuren; der Prozess entsteht aus dem Streben der Akteure, diese Verteilungsstruktur zu beeinflussen oder gar zu bestimmen. Innerhalb eines Regimes kann das gewaltfrei ausgehandelt werden, sei es durch Anzeichen und Gesten, sei es in formellen Verhandlungen, außerhalb droht der möglicherweise auch gewaltsame Kampf aller gegen alle. »Nehmen wir das Pokerspiel als Analogie! Der an der Untersuchung der Prozeßebene Interessierte beschäftigt sich damit zu untersuchen, wie die Spieler die ausgeteilten Karten einsetzen. Auf der strukturellen [Ebene] wird dagegen untersucht, wie Karten und Chips zu Anfang des Spiels ausgegeben wurden.« Robert O. Keohane/ Joseph S. Nye (1987, S. 86) Regime sind interdependenztheoretisch zu verstehen als norm- und regelgeleitete internationale Kooperationsformen zur Konfliktlösung und Problembearbeitung. Dafür erbringen sie wesentliche konfliktlösende und wohlfahrtsteigernde Leistungen, indem sie ● ● Rechtssicherheit und damit politische Verlässlichkeit aufbauen, ● ● durch organisierten Informationsaustausch zwischen den Staaten Vertrauen bilden, ● ● Transaktionskosten reduzieren und damit die Kooperation für alle Beteiligen lohnend machen. Ein darin erfolgreiches Regime kann eigendynamisch zu erweiterter und vertiefter Kooperation führen, also auch neue Regime anregen. Es mag zwar schwierig sein, ein internationales Regime zu errichten, aber es ist meist leichter, es zu erhalten und zu erweitern. Ein funktionierendes Regime kann je nach der Eigenart des Arbeitsbereichs auch Verknüpfungen mit anderen Arbeitsbereichen ermöglichen. Veränderungen von Strukturen und Prozessen der internationalen Interdependenz zwingen zur kontinuierlichen Anpassung der internationalen Kooperation. Schließlich- - und hierin zeigt sich eine große Nähe zu reflexiv-kognitiven Ansätzen- - wirken sich funktionierende Regime dank Information, Vertrauensbildung und Erwartungssicherheit zivilisierend auf Wahrnehmung und Verhalten der Akteure aus; wenn diese z. B. lernen müssen, dass kurzfristig realisierte Vorteile durch egozentrisches Verhalten mit mittel- und langfristigen Nachteilen zusammenhängen können, vielleicht sogar in einem ganz anderen Politikbereich, dann dürfte ihre kooperationsorientierte Verhaltendisposition stärker werden. 3.1.4 Wissen und Normen Für die institutionalistisch/ funktionalistisch basierte Interdependenztheorie und die darauf aufbauenden Regime-Analyse hat die Eigendynamik von Institutionen konstitutive Bedeutung, denn sie beeinflussen Information und Wahrnehmung, Wissen und Bewusstsein, Normen und Verhalten der Akteure, die in und durch sie an internationaler Kooperation teilnehmen. Damit ist dieser Denkansatz kein rein rationalistischer, sondern zumindest ergänzend ein reflexiver bzw. interpretativer. Im engeren Sinne kognitive oder »konstruktivistische« Erklärungen gehen weiter, indem sie diese Aspekte wesentlich stärker betonen oder gar zum theoretischen Kern ihres Ansatzes machen (siehe Haas, P. 1992, Keohane 1988, Kratochwil 1989, Kratochwil/ Ruggie 1986, Ruggie 1998, Young 1986, 1989; vgl. Müller 1993, S. 12 ff., Sprinz 2003, S. 256 ff., Zangl 2003, S. 134 f.). Dem entspricht die Unterscheidung in schwache und starke Erscheinungsformen von Kognitivismus bzw. Konstruktivismus (Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997, S. 5). <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 59 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 59 Deren genereller Vorbehalt gegenüber der Regime-Analyse ist, dass sie nur die als vorgegeben unterstellten Interessen beachtet, die von Staaten in Regimen verfolgt werden, aber ignoriert, dass Regime ihrerseits auch die Interessen der Staaten beeinflussen und sogar prägen können. Regime sind nicht nur zweckrational eingesetzte Instrumente, sondern als soziale Institutionen auch Sozialisierungsinstanzen und wirken somit konstitutiv. Also sind Staaten bzw. ihre Vertreter nicht bloß nutzenmaximierende Interessen-Durchsetzer, sondern auch kommunikativ Handelnde. Sie sind somit in der Lage, mit anderen Staaten zusammen Interessen argumentativ zu erarbeiten-- orientiert an den Prinzipien und Normen der jeweiligen Regime. Die »schwache« Variante geht davon aus, dass-- vereinfacht ausgedrückt-- Wissen und Normen schon in der Welt sind, aber in Regime hinein und dort zur Wirkung gebracht werden müssen: ● ● Regierungen von Staaten brauchen zur Bearbeitung komplexer Probleme Wissen und fachliche Expertise. Beides holen sie sich (z. B. zum Klimaschutz) bei transnational arbeitenden professionellen Wissensgemeinschaften (epistemic communities) oder (z. B. beim Menschenrechtsschutz) auch bei NGOs; die Wissenslieferanten sind in der Position, die Bildung und Ausgestaltung von Regimen zu beeinflussen (vgl. z. B. Haas, P. 1992). ● ● Die Wahrscheinlichkeit kooperativer Problembearbeitung hängt aber stärker noch ab vom Grad der Übereinstimmung unter den Regime-Teilnehmern in Bezug auf soziale Normen; je stärker ein Arbeitsfeld durch von den maßgeblichen Akteuren geteilte, möglichst konkrete und allen bekannte Normen bestimmt wird, desto aussichtsreicher ist Zusammenarbeit. Die viel weiter gehende »starke« Variante ist daran interessiert, wie in und durch internationale Kooperation Wissen und Normen überhaupt erst geschaffen bzw. verteilt und verbreitet werden: ● ● Akteure sind normativ orientiert, entwickeln Perzeptionsmuster, erwerben Wissensbestände und erlernen Verhaltendispositionen; damit sind sie selbst keine vorgegebenen festen Größen, sondern variable Faktoren. Oder anders: Regime beeinflussen, verändern oder schaffen bei ihren Akteuren die Wahrnehmung von Problemen und eigenen Interessen und in der Folge das Verhalten. ● ● Zu untersuchen sind also die Prozesse der Identitätsfindung und Interessenbildung bei den (staatlichen) Akteuren, wofür Normen und deren Herausbildung entscheidend sind. Für diese Prozesse sind weniger zweckrationale als kommunikativ-diskursive Kompetenzen nötig (z. B. Ruggie 1998); damit korrespondiert die Unterscheidung in eine Logik der (faktischen) Konsequenzen und eine Logik der (normativen) Angemessenheit (March/ Olsen 1998). ● ● Die zu bildenden und zu erwerbenden Normen, von denen die internationalen Beziehungen beherrscht werden, sind in »konstitutive« und »regulative« einteilbar (Kratochwil 1989): die einen beschreiben die kontextspezifische Bedeutung sprachlicher Symbole und sozialer Handlungen, die erst von den Akteuren selbst konventionell festgelegt werden kann (was z. B. eine Drohung oder ein Versprechen ist und was dessen Konsequenzen sind-- oder auch was ein »souveräner Staat« ist). Die anderen schreiben das jeweils angemessene Verhalten vor. Eine weitere für Regime wichtige Art können »generative« Normen sein, die es erlauben, neue Akteure entstehen zu lassen oder zur Mitarbeit in Regimen zu ermächtigen (wie vor allem NGOs im Menschrechtsschutz; vgl. Liese 2006, S. 34 f.). ● ● Ein wichtiges Argument bietet die (allerdings nicht ganz neue) Erkenntnis, dass gerade in der internationalen Politik immer und überall kognitive Sinnstrukturen ebenso wie von Erwartungshaltungen und soziokulturellen Deutungsmustern geprägte Wahrnehmungs- und Bewertungsperspektiven, aber auch sinnstiftende Verhaltensweisen wie politische Rituale eine wahrhaft fundamentale Bedeutung haben können und »interpretativ« verarbeitet werden müssen (z.B Kratochwil/ Ruggie 1986; vgl. Wesel 1998, 2004). In einer kognitiv orientierten Perspektive entstehen Regime- - zumindest auch- - dank Einsicht und Bewusstseinswandel und führen ihrerseits zu Interessenklärung und Normbildung, worin ihre meist unterschätzte eigentliche Wirkung liegt. Die Mehrzahl der Regime-Analytiker teilt heute die Ansicht, <?page no="60"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 60 60 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen dass Regime nicht nur von den staatlichen Akteuren als Instrumente zur Interessendurchsetzung benutzt werden, sondern dass die Mitarbeit in Regimen für diese Interessen konstitutiv sein kann-- weil sie nicht unwandelbar festgelegt, sondern verhandelbar sind (vgl. Zangl/ Zürn 1996, 1999). Was dies konkret bedeutet und vor allem, wie das herauszufinden ist, wird allerdings nicht so recht klar: Es mangelt an Operationalisierbarkeit, d. h., es fehlen überprüfbare Hypothesen zur konkreten empirischen Erforschung von Entstehung und Veränderung von Perzeption und Lernprozessen. Neben dieser häufig kritisierten methodischen Schwäche wird am Kognitivismus/ »Konstruktivismus« kritisiert: Überbewertung des eigenen konzeptionellen Ansatzes, Vernachlässigung der eigentlich interessanten kooperationsanalytischen Frage, Verdrängung der klassischen Probleme von Macht und Interessen. Manche problematischen Phänomene lassen sich nicht kognitiv in Semantik auflösen oder durch Dekonstruieren erledigen: die meisten der in unserer politischen Sprache hegemonialen kriegerischen Metaphern haben einen recht konkret-realen Erfahrungshintergrund. Kann im Falle von staatlichen Akteuren ernsthaft zwischen »zweckrationalen« und »angemessenen« Lernprozessen unterschieden werden, oder zwischen materieller und moralischer Interdependenz (z. B. Liese 2006, S. 45)? Auch Verständigungs- und Lernprozesse haben Grenzen. Wieso sollte das im Falle inter-/ transnationaler Akteure anders sein als bei innergesellschaftlichen? Ein weiteres kognitiv-kommunikatives Thema, das in allen theoretischen Perspektiven auf internationale Regime und Erklärungsansätzen an irgendeiner Stelle als für das Funktionieren von internationaler Kooperation als relevant, möglicherweise sogar als entscheidend wichtig in den Blick gerät, ist die alte Frage nach der klassischen diplomatischen Kunst internationaler Verhandlungen: In »realistischer« Sicht muss spätestens nach der Abdankung des anweisungsbefähigten Hegemons zur Interessendurchsetzung verhandelt werden; im institutionalistischen/ funktionalistischen/ liberalen Denken ist problemlösende Kommunikation ein tragender Balken jeder internationalen Institution, sei es als rationale Argumentation (Deliberation), als politisches Aushandeln von Kosten und Nutzen (bargaining) oder als manipulative Überredung (Persuasion); für kognitiv/ »konstruktivistisch« inspirierte Analytiker sind Verhandlungsprozesse mit allen ihren vor- und nachgelagerten Operationen und Interaktionen ein reichhaltiger Steinbruch zur Gewinnung von Wissen und zur Generierung von Gültigkeit für Normen und Regeln. Die Bedeutung von Verhandlungen ist für das Verständnis internationaler Kooperation ein zentrales Thema (s.-Kap. 4.4.2). Frühere Untersuchungen waren oft nur »rationalistisch« an kalkulierender Entscheidungs- und Konsensfindung (»rational choice«) interessiert (wie z. B. Young 1975), aber interpretative und kognitive Zugangsweisen wurden durchaus auch erwogen. Im Kontext der Regime-Debatte kamen dann die in Regimen vollzogenen sozialen Praktiken in den Blick des gemäßigten Kognitivismus (z. B. Young 1989, 1994a, 1999)-- etwa das integrative Verhandeln, das anders als das distributive Verhandeln nicht Vorhandenes verteilen, sondern Neues schaffen soll, z. B. eine als Nullsummenspiel aufgefasste Situation auflösen und so die Lösungsmöglichkeit erweitern; integrative Verhandlungen begründen oft auch neue Organisationen und Regime. Gerne wurden die komplexen Verhandlungssituationen im Umweltschutz analysiert, wo sich angesichts der Vielzahl der Mitspieler auch aus der Zivilgesellschaft und des vergleichsweise großen öffentlichen Interesses sowohl der Einsatz rationalistischer wie kognitivistischer Methoden und insbesondere die Anwendung von Mehrebenen- und Mehrphasenmodellen anbietet (siehe vor allem Gehring 1994, 1995, Gehring/ Oberthür 1997). 3.1.5 Wirtschafts- und spieltheoretische Argumentationshilfen Ganz andere Aspekte lassen zwei idealtypische Argumentationsmuster aus der Wirtschaftstheorie bzw. aus der Spieltheorie deutlich werden, weswegen sie als heuristische Denkmodelle für recht unterschiedliche Überlegungen in verschiedenen Varianten der Regime-Theorie bzw. Regime-Analyse dienen. <?page no="61"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 61 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 61 Die aus der Mikroökonomie stammende »Theorie der öffentlichen Güter« basiert auf der Annahme, dass der Markt Güter, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann, nicht zur Verfügung stellt. Niemand hat einen wirtschaftlichen Anreiz, ein solches Gut herzustellen und anzubieten, obwohl ein Bedarf danach besteht; so würde z. B. für kaufkräftige Nachfrage Einzelner privater Schutz durch Sicherheitsdienste angeboten werden, nicht aber öffentliche Sicherheit, derer alle bedürfen, die aber kein Marktteilnehmer alleine insgesamt nachfragen kann. Ein ganz anderer Fall ist, wenn Güter öffentlich angeboten, aber privat ohne Gegenleistung genutzt werden; dann würde-- so das klassisch gewordene Beispiel des Allmende-Gutes-- die Gemeinde-Wiese schnell überweidet werden, weil alle Nutzer möglichst viel Vieh möglichst lange weiden lassen würden. In beiden Fällen führt das kurzfristig interessengeleitete Verhalten einzelner Akteure zu einem für alle Akteure langfristig nachteiligen Ergebnis. Übertragen auf die internationalen Beziehungen wären die öffentlichen Güter u. a.: Sicherheit für Staaten wie für ihre Bürger; funktionierende technische Reglements, Service-Institutionen und auch einzelne infrastrukturelle Angebote für Verkehr, Welthandel und -wirtschaft; Gewährleistung einer intakten, sowohl gesunden wie nutzbaren Umwelt. Herstellung und Angebot dieser öffentlichen Güter werden weder von der Zivilgesellschaft noch von den einzelnen Staaten gewährleistet-- das können nur internationale Institutionen und spezielle internationale Regime (vgl. Müller 1993, S. 32: Oberthür 1997, S. 35 ff.). Um deren Entstehen und Funktionieren zu verstehen, ließen sich Regimetheoretiker immer wieder von Argumenten anregen, die von der sog. Spieltheorie entwickelt wurden (vgl. Snidal 1985a, Stein 1983, 1990, Zürn 1992, 1994). Der spieltheoretische Zugang zu politischen Entscheidungen wird meist mit dem klassischen Denkspiel des sog. Gefangenendilemmas verdeutlicht (vgl. Keohane 1984, S. 68 ff., Menzel 2001, S. 176). Das spieltheoretische »Gefangenendilemma« Zwei Verdächtigen wird ein Raubüberfall mit Waffengebrauch vorgeworfen, doch definitive Beweise gegen sie fehlen. Beide haben die alternativen Optionen: Leugnen oder Gestehen. Beide müssen sich entscheiden, ohne zu wissen, wie sich der andere entscheidet-… Leugnen beide Verdächtigen, haben sie nur eine geringe Geldstrafe für den Waffenbesitz zu erwarten. Gesteht einer der Verdächtigen die gemeinsame Tat, kann er als Kronzeuge mit einem Freispruch rechnen; dem anderen, der weiter leugnet, droht dann die Höchststrafe von drei Jahren Haft. Gestehen beide Verdächtigen, bekommen sie wegen gezeigter Reue nur ein Jahr Haft als Mindeststrafe. Gefangener A leugnet gesteht Gefangener B leugnet Geldstrafe für A Geldstrafe für B Freispruch für A 3 Jahre für B gesteht 3 Jahre für A Freispruch für B 1 Jahr für A 1 Jahr für B <?page no="62"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 62 62 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen Eine Entscheidungssituation unter Unsicherheit-- so die Idee dahinter-- ist auch das Grundmuster für viele internationale Probleme und Konflikte. Die Spieler müssen als rational und strategisch handelnde Akteure vorgestellt werden, die ausschließlich ihren Nutzen zu maximieren bzw. ihre Kosten zu minimieren suchen. Das Spiel soll zeigen, wie für den Einzelnen rationale Entscheidungen zu für die Gesamtheit der Mitspieler schlechteren Ergebnissen führen; daraus ergibt sich die zwingende Einsicht, dass Kooperation nützlich ist. Das Dilemma ist also, dass aus der individuellen und der sozialen Perspektive unterschiedliche, sich widersprechende Handlungsanleitungen entstehen; diese Kluft wird durch keinerlei Verhaltenskodex überbrückt. Das Grundproblem für die Spieler ist, dass mangels Austausch untereinander keiner die Handlungsweise des anderen einschätzen und beeinflussen kann. Von außen gesehen wäre es für beide das Vorteilhafteste, sich gegenseitig zu vertrauen und zu kooperieren. Dazu müssten aber die Spielregeln zulassen, dass erstens kommuniziert und zweitens Vertrauensbruch sanktioniert wird. Ohne diese Voraussetzungen würde gegenseitiges Misstrauen eine Kooperation schon im Ansatz verhindern, weil ein grundsätzlich kooperationsbereiter Spieler befürchten müsste, dass durch sein einseitig kooperatives Verhalten ein anderer Spieler ermuntern werden könnte, zum eigenen Vorteil unkooperativ zu handeln. Da deswegen das für beide optimale Ergebnis also entsprechend unwahrscheinlich ist, werden wohl beide versuchen, den möglichen Schaden zu begrenzen und gestehen. Allerdings, um das Gedankenexperiment fortzuspinnen, wenn das Spiel weiterhin ohne direkte Kommunikation mehrfach hintereinander liefe, könnte jeder Spieler die Entscheidungen des anderen Spielers aus den vorherigen Runden in seine aktuelle Entscheidung einbeziehen. Er könnte dann verschiedene Strategien verfolgen, um Kooperation zu belohnen oder Vertrauensbruch zu bestrafen. Das lohnendste Verhalten ist es dann offenbar, sich in Vorleistung zunächst kooperationswillig zu zeigen, auf Nicht-Kooperation aber mit Bestrafung zu reagieren und, wenn der Mitspieler dann kooperativ wird, nicht nachtragend zu sein, sondern ebenfalls wieder kooperativ zu werden. Die Wahrscheinlichkeit der Kooperation der Spieler wächst, wenn nichtkooperatives Verhalten in der nächsten Spielrunde bestraft werden kann. So könnte sich also mittels indirekter Kommunikation Kooperation entwickeln. Grundsätzlich gilt: In einem Nullsummenspiel, in dem der Gewinn des einen der Verlust des anderen sein muss, ist der Anreiz zu Kooperation gering, aber in einem Variablesummenspiel, in dem jeder Spieler gewinnen kann, ist der Anreiz entsprechend hoch. Aber auch dann bleibt kooperatives Verhalten schwierig, weil erst genügend Informationen und Erwartungssicherheit gewährleistet sein müssen. Die Lehre für die Welt außerhalb des Spiels ist, dass ● ● Verzicht auf Kommunikation nachteilig ist, ● ● konkrete Absprachen entscheidend sein können, ● ● die Strategie, sich egoistisch unkooperativ zu verhalten, zu Kosten und Verlust führen kann, ● ● aber auch dann, wenn unkooperatives Verhalten sich für einen Akteur auszahlt, insgesamt der kollektive Ertrag geringer ist als er bei sozial-kooperativem Verhalten sein könnte. Das Verhalten von Staaten untereinander kann mit Spielen verglichen werden, in denen die Spieler unkooperativ sind, weil sie nicht kommunizieren; selbst wenn Regierungsapparate einander in der Sache und über ihre Standpunkte informieren, sind keine verlässlichen Absprachen möglich, weil unter anarchischen Bedingungen sowohl ein verbindlicher Verhaltenskodex als auch eine die Einhaltung dieser Absprachen überwachende übergeordnete Zentralinstanz fehlt. Aber auch ohne dies, ja sogar ohne eine Hegemonialmacht, die wenigstens einen Teil der Funktionen einer Zentralmacht übernimmt, kann internationale Kooperation dauerhaft erfolgreich funktionieren, wenn internationale Regime Kommunikation und Information sichern, somit konvergente Erwartungen der beteiligten Akteure an ihr gegenseitiges Verhalten stabilisieren und letztlich die Transaktionskosten senken (vgl. Zürn 1994, S. 507). Das Gefangendilemma-Spiel ohne Wiederholungsmöglichkeit bildet die vom »Realismus« modellierte Situation von Staaten in anarchischer Umwelt ab; das modifizierte Spiel (Wiederholung, indirekte <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 63 3.1 Regime-Theorie und -Analyse 63 Kommunikation) illustriert eher die Situation der Interdependenz. Kommen im Gedankenexperiment ungehinderte Kommunikation und geförderter Informationsaustausch hinzu, ist eine Welt konzipiert, die sich auch ohne oberste Gewalt recht gut ordnen kann-- mit Kooperation in Regimen. Zumal wenn das Problem oder der Konflikt kein reines Nullsummenspiel ist, sondern-- wie in einer interdependenten Situation ohnehin wahrscheinlicher-- der zu verteilende Vorteil durch friedliche Zusammenarbeit größer werden kann, liegt Kooperation im Eigeninteresse aller Mitspieler. Fraglich wird der Einsatz spieltheoretischer Modelle, wenn nicht mehr bedacht wird, dass sie notwendig simpel, starr und sinnfrei konstruiert sind, also komplexe soziale und politische Praxis nicht direkt abbilden können. So ist die Annahme, Staaten seien in sich geschlossene einheitliche Akteure, die rational und strategisch handelten, um ihren Nutzen zu maximieren, zwar logisch widerspruchsfrei, aber empirisch kaum zu halten. 3.1.6 Ansätze der Regime-Analyse Das Gefangenendilemma und verwandte Gedankenexperimente spielen naheliegenderweise im »spieltheoretischen« Erklärungsansatz eine Rolle, aber gelegentlich auch in anderen der konkreteren Erklärungs- und Forschungsansätze, in die sich die regimetheoretischen Positionen weiter differenzierten. Nicht alle werden heute noch so verfolgt, sollen aber hier doch erwähnt und im kurzen Überblick charakterisiert werden, weil von ihnen jeweils systematische Fragen gestellt und typische Antworten gesucht wurden, die weiterhin zu klären wären. Die Übersicht (s. Tab. 8) ist zusammengestellt aus unterschiedlichen Darstellungen der regime-analytischen Diskussion (siehe Haggard/ Simmons 1987, S. 398 ff., Menzel 2001, S. 173-ff; für die deutsche Debatte Efinger/ Rittberger/ Wolf/ Zürn 1999, S. 267 ff., Wolf 1994, S. 424-f, Zangl 2003, S. 130 ff.); die Einteilung ist zwar in ihrer Grundstruktur schnell zum Traditionsbestand geworden, aber nicht zwingend systematisch: manche Ansätze überschneiden sich, einige wichtige Debatten-Beiträge wären in mindestens zwei Schubladen einzusortieren. Tab. 8: Ansätze für die Erklärung und Analyse Internationaler Regime Ansatz Fokus der Argumentation, Beispiel, Kritik »machtstrukturell« oder »systemstrukturell« → Theorie der hegemonialen Stabilität Fokus: Hegemonialmächte mit ausreichend politischem Willen und Macht zur Durchsetzungihrer Ordnungsvorstellungen schaffen sich starke Regime im Bereich sachlicher Probleme, um diese in ihrem Sinne und Interesse zu lösen bzw. kollektive Güter international verfügbar zu machen; sie übernehmen dabei meist Kosten und Lasten zugunsten der anderen Regimeteilnehmer. Rahmenbedingungen sind die jeweilige spezifische internationale Machtstruktur und die entsprechende Verteilung der Machtressourcen Beispiele: das britische Freihandelsregime im 19. Jh. oder das 1944 von den USA geschaffene Weltwährungssystem Kritik: Entstehung und Verfall von Regimen nach 1945 sind gut zu erklären, aber nicht Fortbestehen, Weiterentwicklung oder gar Neugründung von Regimen trotz Hegemonialverlust. Argumentationsmuster: hegemonietheoretisch (s.-Kap. 3.1.2) Vertreter: Keohane 1980, Krasner 1976, 1983b, 1983c, Snidal 1985b funktional Fokus: Das Entstehen und Fortbestehen von Regimen kann erklärt werden mit dem Nutzen, den Teilnehmer aus regimekonformem Verhalten ziehen: Regime werden spezifisch für ein Politikfeld nachgefragt, wenn Regulierung Kosten vermindert oder verlagert. Wenn eine Situation aufgrund unkontrollierter Aufrüstung oder ungeregelter Marktmechanismen unbefriedigend ist, kann diese durch die Bildung von Regimen auch ohne die Etablierung einer zentralen Entscheidungsinstanz und auch ohne einen steuernden Hegemon überwunden werden <?page no="64"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 64 64 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen Ansatz Fokus der Argumentation, Beispiel, Kritik Je dichter die Interbzw. Transaktionen in diesem Feld sind, umso wahrscheinlicher ist die Entstehung eines Regimes Beispiel: Rüstungskontrolle kann Sicherheit zu geringeren Kosten als Aufrüstung bieten Kritik: Die Herrschaftsstrukturen in der internationalen Politik werden zu wenig beachtet; auch das Fehlen von Regimen in geeigneten Politikfeldern bleibt zu erklären Argumentationsmuster: interdependenztheoretisch (s.-Kap. 3.1.3) Vertreter: Keohane/ Nye 1977, 1987, Keohane 1984, 1986 »institutionalistisch« (oder auch »normativinstitutionell«) Fokus: Mehr als das Entstehen von Regimen in einer gegebenen Machtstruktur ist ihr dauerhaftes Funktionieren das interessante Problem. In internationalen Institutionen entwickeln sich weitgehend machtunabhängig Prinzipien und Normen der Kooperation, somit wirkt die Teilnahme an Regimen eigendynamisch auf Bewusstsein und Verhalten der Akteure ein, sofern sie in ausreichend dicht verflochtene und interdependente Interaktionen verwickelt sind Beispiele: Welthandelsregime, Menschenrechtsschutz Kritik: Eine konkret empirische Forschung anleitende Operationalisierung ist schwierig Argumentationsmuster: interdependenztheoretisch (s.-Kap. 3.1.3) und reflexiv/ kognitiv (s.-Kap. 3.1.4) Vertreter: Keohane/ Nye 1977, 1987, Keohane 1984, 1986 spieltheoretisch → Spieltheorie Fokus: Mit relativ einfachen Instrumenten sind strategische Entscheidungen rational handelnder Akteure zu analysieren. Wenn ihr Verhalten untereinander als Spiel verstanden wird, in dem sie aus vorgegebenen Handlungsalternativen wählen können, kann Handlungserfolg in einem auf das logisch Notwendige reduzierten Modell an den Zielpräferenzen der Spieler gemessen werden. Durch Dar- und Gegenüberstellung von Kosten/ Nutzen-Abwägungen sollen Entscheidungsoptionen in Konflikten dargestellt und damit Annahmen über das Verhalten von Akteuren plausibel und beurteilbar werden. Kooperatives multilaterales Verhalten erweist sich dabei unilateralem Verhalten überlegen Beispiele: »Gefangenendilemma«, Nullsummenspiel vs. Nicht-Nullsummenspiel Kritik: Die elementare Vereinfachung ist zugleich Vor- und Nachteil der Spieltheorie Argumentationsmuster: spieltheoretisch (s.-Kap. 3.1.5) Vertreter: Snidal 1985a, Stein 1983, 1990, Zürn 1992, 1994 kognitiv bzw. »sozialkonstruktivistisch« Fokus: Interpretative bzw. reflexive Ansätze sehen Regime primär als soziale Institutionen. Akteure sind normativ orientiert, entwickeln Perzeptionsmuster, erwerben Wissensbestände und erlernen Verhaltendispositionen. Damit sind Akteure keine vorgegebenen festen Größen, sondern variable Faktoren; Regime beeinflussen Wahrnehmung und das Verhalten ihrer Teilnehmer. Regime entstehen bzw. entstehen auch dank Einsicht und Bewusstseinswandel Beispiel: Menschenrechtsschutz Kritik: Mangelnde Operationalisierbarkeit; überprüfbare Hypothesen zur konkreten empirischen Erforschung von Entstehung und Veränderung von Perzeption und Lernprozessen fehlen; Überbewertung des eigenen Fokus, Vernachlässigung der eigentlichen kooperationsanalytischen Fragestellungen, Verdrängung der klassischen Probleme von Macht und Interessen Argumentationsmuster: reflexiv/ kognitiv (s.-Kap. 3.1.4) Vertreter: Haas, P. 1992, Kratochwil/ Ruggie 1986, Kratochwil 1989, Ruggie 1998, Young 1989 »problemstrukturell« (oder auch »situationsstrukturell«) Die deutsche Regime-Diskussion (ursprünglich mit dem Schwerpunkt der »Tübinger Schule«) ist viel stärker normativ geprägt als die amerikanische und wurde zumal in den Problembereichen Konflikt/ Frieden, Entwicklungspolitik und Umwelt-/ Klimaschutz aktiv. Regime-Bildung sollte den Ost-West-Konflikt einhegen und dann auf Weltebene zur zivilen, d. h. friedlichen Austragung von Konflikten und Interessengegensätzen beitragen Vertreter: Efinger/ Rittberger/ Wolf/ Zürn 1990, Hasenclever/ Mayer/ Rittberger1997, Hasenclever/ Wolf/ Zürn 2007, Kohler-Koch 1989a, Zangl 2003 Tab. 8: Fortsetzung <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 65 3.2 Begriff und Definitionen 65 Auf diesen mühsam erarbeiteten Grundlagen-- kühn angelegt, aber nicht überall trittfest-- wurde das Regime-Konzept in unterschiedlichsten Varianten weiterverarbeitet und auf alle mögliche Gebiete der beobachtbaren internationalen Kooperation angewendet. Nach den zentralen Problemen der Entstehung und des Fortbestehens von Regimen differenzierten sich die Themen, die nunmehr mit empirischen Forschungen bearbeitet werden: ● ● Die Überlappung von Arbeitsbereichen einzelner Regime kann Probleme machen (z. B. Doppelarbeit), aber die Bündelung oder Verknüpfung (Müller 1993, S. 42: »Regimeverknüpfung«) bietet auch große Chancen (z. B. Synergie-Gewinn, Bedeutungszuwachs); zumindest ist jede wie immer geartete Entwicklung der Interaktion zwischen Regimen zu untersuchen (s.-Kap. 3.5). ● ● Komplementär dazu wird die Bildung von zusammenhängenden Komplexen von Regimen (regime complex oder auch comprehensive regime; siehe Keohane/ Victor 2010) in einzelnen Arbeitsfeldern (wie Umweltschutz), aber auch Arbeitsfelder übergreifend (wie Klimaschutz und Entwicklungspolitik), zu einem beachtenswerten Phänomen (s.-Kap. 3.5). ● ● Schon klassisch ist das Untersuchungsgebiet von Wirkung und Effektivität von internationalen Regimen (Müller 1993, S. 43: »Regimewirkung, Regimeeffizienz, Regimeausstrahlung«), in dem eine große Zahl von Einzelstudien erarbeitet wurde. ● ● Ein andere Dauerthematik sind die Regime-Teilnehmer, also die Frage, wer denn alles »Akteur« ist oder sein sollte und in welcher Weise; zu klärende Fragen sind der Status zivilgesellschaftlicher Akteure, die Rolle von Gruppen und Netzen von Fachexperten und Politikberatern (epistemic communities) und allgemein von sog. Politiknetzwerken, aber auch das Aufkommen neuer Mischformen wie »private« Regime. ● ● Dahinter steckt der Streit um die Rolle des Staates: Wie »staatszentriert« müssen oder dürfen Regime sein? Seit Beginn der Regime-Debatte verliert der Staat an Boden, jedenfalls in der einschlägigen Literatur zu »global governance« bzw. zu Internationalen Organisationen und Regimen; aber es mehren sich gegen diese Mehrheitsmeinung Stimmen für eine staatszentrische Perspektive (vgl. Drezner 2007, S.XII-f.). ● ● Mit dem Akteurswie mit dem Staatsproblem eng verbunden ist die Frage, wie wichtig in Regimen die Rolle von nichthegemonialer Führung (leadership; vgl. Young 1991, Grubb/ Gupta 2000) ist und wie sie funktioniert. Damit schließt sich der Kreis zum Beginn der Debatte: Ohne legitime Zentralinstanz und ohne dominanten Hegemon ist das alles nicht so einfach. 3.2 Begriff und Definitionen Das deutsche Wort Regime kommt vom französischen régime (Herrschaft) und bezeichnet alltagssprachlich eine Regierung oder Regierungsform, meist eine autoritäre oder diktatorische. Aber entsprechend der neutralen Bedeutung von regime im amerikanischen Englisch hat der Terminus in der Lehre von den Internationalen Beziehungen keine negative Färbung; er bezeichnet ein meist als recht konstruktiv eingeschätztes Instrument für die dauerhafte zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Vor einem Missverständnis, das sich aus der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes ergeben könnte, ist vorweg zu warnen: »Internationales Regime« ist keinesfalls so zu verstehen, dass es da irgendwo eine starke Zentralinstanz gäbe, die nationalen oder anderen internationalen Organen verbindliche Anweisungen geben könnte, die diese dann möglichst getreu zu erfüllen hätten; ein internationales Regime sollte im Gegenteil auch mit einem Minimum an Organisationsgrad und Sanktionsmacht funktionieren. <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 66 66 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen Dass Wesen und Leistung von Regimen und zumal das Verhältnis zwischen den Institutionsformen »Internationale Regime« und »Internationale Organisationen« nicht einfach zu konzipieren sind, zeigt sich schon an gern gebrauchten Metaphern. Regimen scheint es auch bildsprachlich an einer klaren Bestimmbarkeit zu mangeln; meist werden sie ein »Umfeld« oder ein »Rahmen« für etwas Konkreteres genannt, etwa ein zwischenstaatliches Abkommen oder eben eine internationale Organisation. Von diesen wird gerne gesagt, dass sie den »harten Kern« von Regimen (z. B. Müller 2008, S. 274) bilden, die folglich als das verderbliche Fruchtfleisch darum herum vorzustellen wären. Aber auch die innere Struktur eines Regimes kann kernig sein, z. B. wenn die Normen und Prinzipien eines Regimes einen »Problemkern« definieren, um den herum flexibel Regeln und Verfahren anwachsen. Alternativ kann man ein Regime wie eine Zwiebel von innen nach außen geschichtet sehen, deren aufeinander aufgesetzte Zwiebelringe (Prinzipien, Normen, Regeln, Verfahren) man einzeln abschälen kann-- aber dann ist die Zwiebel weg. Der Begriff »Regime« wurde nach verbreiteter Meinung im Zusammenhang mit internationaler Politik erstmals von Ruggie (1975, S. 570) verwendet, aber noch nicht im Rahmen eines entfalteten Konzepts. Zu erinnern ist daran, dass der Begriff von Völkerrechtlern jedoch schon seit Langem eigenständig für bestimmte Sachbereiche verwendet wurde (Müller 1993, S. 17), meist auf Abmachungen über Verteilungs- und Nutzungsrechte bezogen, z. B. im Seerecht: »Tiefseebergbauregime«, »Festlandsockelregime«, »Regime der Durchfahrt durch internationale Meerengen« oder auch das »Antarktis -Regime« (vgl. Verdross/ Simma 1984). 3.2.1 Übersicht: Ausgewählte Definitionen Auf drei Ebenen von Fragen hat eine definitorische Klärung des Begriffs Antworten zu liefern: ● ● Status: politischer Charakter und rechtliche Form; ● ● Ziele: zu lösende Aufgaben und Funktionen; ● ● Merkmale: innere Struktur und Funktionsweise. Der Kasten bietet eine Übersicht über verschiedene Definitionen des Begriffs »Internationales Regime«; die Zusammenstellung ist bei Weitem nicht vollständig, liefert aber eine breite Auswahl. Definitionen für »Internationale/ s Regime« (Auswahl, geordnet nach Erscheinungsdatum) »quasi-agreements« (»Quasi-Abkommen«) [die dazu dienen, Beziehungen zwischen Staaten so zu organisieren, dass letztendlich alle Parteien profitieren] William Fellner (1949, S. 121) »[…] a set of mutual expectations, rules and regulations, plans, organizational energies and financial commitments, which have been accepted by a group of states«- - »[…] ein Instrumentarium aus gegenseitigen Erwartungen, Regeln und Bestimmungen, Plänen, organisatorischem Aufwand und finanziellen Verpflichtungen, die von einer Gruppe von Staaten akzeptiert wurden« John Gerard Ruggie (1975, S. 570; Übs. RW) »[…] sets of governing arrangements that affect relationships of interdependence«-- »[…] Gruppen von steuernden Regelungsabsprachen, die auf Interdependenz-Beziehungen einwirken« Robert O. Keohane/ Joseph S. Nye (1977, S. 19; Übs. RW) »Regimes are social institutions governing the actions of those interested in specifiable activities (or meaningful sets of activities). As such, they are recognized patterns of practice around which expectations converge […]. The core of every international regime is a collection of rights and rules […]. <?page no="67"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 67 3.2 Begriff und Definitionen 67 A procedural component encompasses recognized arrangements for resolving situations requiring social or collective choices […]. Rights are not always respected, and even widely acknowledged rules are violated with some frequency […]. Accordingly, it is important to think about the effectiveness of international regimes, and this suggests an examination of compliance mechanisms as a third major component of these regimes.« Oran R. Young (1980, S. 332-338) »Regimes are norms, procedures, and rules agreed to in order to regulate an issue-area. Norms tell us why states collaborate; rules tell us what […] the collaboration is about; procedures answer the question of how the collaboration is carried out.«-- »Regime sind Normen, Verfahrensweisen und Regeln, die vereinbart wurden, um einen Problembereich zu regulieren. Normen zeigen, warum Staaten zusammenarbeiten; Regeln zeigen, wozu […] die Zusammenarbeit dient; Verfahrensweisen klären die Frage, wie die Zusammenarbeit ausgeführt wird.« Ernst Haas (1980, S. 397; Übs. RW) »Regimes can be defined as sets of implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors’ expectations converge in a given area of international relations. Principles are beliefs of fact, causation, and rectitude. Norms are standards of behavior defined in terms of rights and obligations. Rules are specific prescriptions or proscriptions for action. Decision-making procedures are prevailing practices for making and implementing collective choice.«-- »Regime können definiert werden als Instrumentarien aus impliziten oder expliziten Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zur Entscheidungsfindung, durch die vermittelt die Erwartungen der Akteure auf einem bestimmten Gebiet der internationalen Beziehungen konvergieren. Prinzipien sind grundlegende Annahmen über tatsächliche Gegebenheiten, kausale Zusammenhänge und richtige Bewertungskriterien. Normen sind durch Rechte und Verpflichtungen definierte Standards des Verhaltens. Regeln sind spezifische Vorschriften und Verbote zur Anleitung des Handelns. Verfahren zur Entscheidungsfindung geben Praktiken für das Treffen und Umsetzen einer gemeinsamen Auswahl vor.« Stephen D. Krasner (1983b, S. 2; Übs. RW); »Konsensdefinition« »Internationale Regimes sind vermittelnde Faktoren zwischen der Machtstruktur eines internationalen Systems und dem Prozess politischen und ökonomischen Verhandelns, der in seinem Rahmen stattfindet. Die Struktur des Systems (die zwischenstaatliche Machtverteilung) berührt zutiefst die Natur des Regimes. Das Regime-- ein mehr oder weniger loses System, bestehend aus formalen und informellen Normen, Regeln und für das System relevanten Verfahren-- berührt und reguliert wiederum bis zu einem gewissen Grad politisches Verhandeln und tägliche Entscheidungsfindung, die innerhalb des Systems ablaufen.« Robert O. Keohane/ Joseph S. Nye (1987, S. 86) [Internationale Regime sind] »Bearbeitungsmechanismen für Verflechtungsprobleme sektoraler Art, die auf der Grundlage der genannten Elemente (Prinzipien, Normen, Regeln, Entscheidungsprozeduren) eine gewisse Dauerhaftigkeit und Berechenbarkeit aufweisen und deren Funktionsfähigkeit von der Bereitschaft der beteiligten internationalen Akteure abhängt, sich an die gemeinsamen Regeln zu halten.« Michael Zürn (1987, S. 18) [Regimes] »are more specialized arrangements that pertain to well-defined activities, resources, or geographical areas and often involve only some subset of the members of international society.«-- [Regime] »sind stärker spezialisierte Abmachungen, die klar abgegrenzte Aktivitäten, Ressourcen oder geographische Gebiete betreffen und oft auch nur einen kleinen Teil der internationalen Gesellschaft angehen.« Oran R. Young (1989, S. 13; Übs. RW) »[…] international regimes represent the strongest form of cooperation between independent states short of formally giving up part of their sovereignty«.- - »[…] internationale Regime stellen die <?page no="68"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 68 68 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen stärkste Form der Kooperation zwischen unabhängigen Staaten dar-- fast eine förmliche Aufgabe von Teilen ihrer Souveränität.« Volker Rittberger/ Michael Zürn (1990, S. 17; Übs. RW) »Regime sind Muster geregelten Verhaltens […] Regime sind kooperative Institutionen, die durch informelle und formelle, rechtliche und nichtverrechtlichte Strukturen- - Prinzipien, Normen, Regeln und Prozeduren-- gekennzeichnet werden und Konflikte zwischen konkurrierenden Nationalstaaten (gelegentlich unter Einbeziehung anderer Akteure) bearbeiten […]. Regime sind Institutionen, d. h. dauerhafte Ordnungen für interpersonales Handeln und Kommunikation; sie bestehen aus einem Geflecht von Rollen, die durch Regelungen oder Konventionen zusammengehalten werden. […] Regime sind internationale Institutionen. Sie stiften Ordnungen zwischen Akteuren in internationalen Beziehungen. Die Akteure reproduzieren diese Ordnungen durch ihre Interaktionen […] Regime sind spezifische Institutionen; sie regeln Verhalten und Erwartungen in einem bestimmten Politikfeld oder einer Klasse miteinander verknüpfter Politikfelder […]. Regime besitzen eine besondere Zwecksetzung: sie sind kooperative Institutionen. Sie dienen der Erleichterung oder der Ermöglichung von Koordination und/ oder Zusammenarbeit zwischen konkurrierenden Akteuren.« Harald Müller (1993, S. 26 f.) »Gerade weil sich Regime nicht in bindenden Rechtsinstrumenten erschöpfen, sondern eine Mixtur aus formellen und informellen Regelungen für einen Politikbereich bilden, lagert sich um den verrechtlichten Kern ein weiterer Kreis rechtlich nicht geregelter Handlungsmöglichkeiten.« Harald Müller (1993, S. 40) »Internationale Regime können als eine institutionalisierte Form des norm- und regelgeleiteten Verhaltens bei der politischen Bearbeitung von Konflikten oder Interdependenzproblemen in unterschiedlichen Sachbereichen der internationalen Beziehungen definiert werden.« Klaus-Dieter Wolf (1994, S. 423) »Regimes are institutions with explicit rules, agreed upon by governments, that pertain to particular sets of issues in international relations.«-- »Regime sind Institutionen mit ausdrücklichen Regeln, denen Regierungen zugestimmt haben, und betreffen spezielle Problemzusammenhänge der internationalen Beziehungen.« Robert O. Keohane (1995, S. 28 f.; Übs. RW) »Regimes are social institutions that influence the behavior of states and their subjects. They consist of informal and formalized principles and norms, as well as specific rules, procedures and programs. The term is explicitly broad and captures the unwritten understandings and relationships, as well as the formal legal agreements, that influence how states and individuals behave in any given issue area.« Marc A. Levy/ Oran R. Young/ Michael Zürn (1995, S. 267) »[…] defining international regimes as social institutions consisting of agreed-upon principles, norms, rules, procedures, and programs that govern the interactions of actors in specific issue areas.« Marc A. Levy/ Oran R. Young/ Michael Zürn (1995, S. 274) »R. sind institutionalisierte Formen der Kooperation zwischen Staaten und anderen internat. Akteuren, die aus Prinzipien, Normen, Regeln, Entscheidungsverfahren sowie Programmaktivitäten bestehen und das Verhalten internat. Akteure in einem Problemfeld dauerhaft steuern.« Michael Zürn (2002, S. 798) »Die Notwendigkeit, gemeinsame grenzüberschreitende tatsächliche Probleme, die aus internationalen Verflechtungskontexten herrühren, auch gemeinsam zu lösen, führt zur Entwicklung informeller Netzwerke von Übereinkünften, Prinzipien, Regeln, Normen und Entscheidungsverfahren <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 69 3.2 Begriff und Definitionen 69 in bestimmten Politikfeldern, die als Regime bezeichnet werden. Sie ergänzen/ überwölben/ unterlaufen die Kompetenzsphären der klassischen Staatengesellschaft und überlagern als flexible Formen von Kooperation die anarchische Binnenstruktur des internationalen Systems.« Reinhard Meyers (2007b, S. 288) »[…] a regime complex: a loosely coupled set of specific regimes« [is to be expected] »when interests of essentially all the most powerful actors are sufficiently similar, across a broad issue-area, that they ›demand‹ international institutions as ways to achieve their objectives through reducing contracting costs, providing focal points, enhancing information and therefore credibility, and monitoring compliance.« Robert O. Keohane/ David G. Victor (2010, S. 1) »Ein internationales Regime ist ein theoretisches Konstrukt, um die Lösungen der politischen Akteure für die Koordinationsprobleme auf Weltebene zu beschreiben. Unter einem internationalen Regime wird ein sektoral abgegrenztes Bündel von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren verstanden, an dem sich die Erwartungen der Akteure im internationalen System orientieren. Im internationalen System gibt es keine zentrale Steuerungsinstanz. Folglich ist die horizontale Koordination der Akteure erforderlich, wenn Bedarf und Interesse an einem Arrangement besteht, wenn also ein Problem vorliegt, dessen Lösung in aller Interesse liegt. Ein solches Arrangement wird in Verhandlungen geschaffen. Liegt dieses konsensuell verabschiedet vor, beeinflusst es das Handeln der Akteure, gerade auch dann, wenn er seinen Interessen folgt.« Gefunden im Internet (http: / / www. heise.de/ tp/ r4/ artikel/ 6/ 6091/ s25.html) Das letzte (anonyme) Zitat im Kasten mit ausgewählten Definitionen scheint eine sehr brauchbare Zusammenfassung dessen zu sein, was heute als »Internationales Regime« gilt. Wichtig ist zumal die einleitende Bestimmung, dass es sich um ein theoretisches Konstrukt handelt, das-- wie der Weber’sche Idealtypus (Weber [1904] 1991)-- als Hilfsmittel geschaffen wurde, um eine komplexe Situation mithilfe bewusst gewählter Kriterien zu beschreiben. Der Begriff ist also nicht zu verstehen als bloße Wiedergabe einer konkret vorhandenen Realität, sondern als Suchanleitung zu deren Rekonstruktion. Wenn z. B. in regimetheoretischen Auseinandersetzungen umstritten war, ob es ein wesentlicher Bestandteil eines Regimes sei, dass es feststellbare Wirkung zeige, dann ist das eine konzeptionelle Frage des Regimeverständnisses, nicht einfach ein empirisch zu klärendes Problem. Oder: Kann ein Regime nicht nur als wohlgeordnete Institution, sondern auch als ein mehr oder weniger wildwüchsig entstandenes »Bündel« von Vereinbarungen verstanden werden? Ist nicht immer neben den verschiedensten und oft ja widersprüchlichen Absichten und Plänen der Akteure auch die Perspektive des Betrachters nötig, um ein geschnürtes Bündel zu sehen? Diese Frage z. B. bestimmt den Fokus einer neueren Definition, die ganze Regime-Komplexe (regime complex oder auch comprehensive regime) zum Umwelt-/ Klimaschutz erfassen soll (Keohane/ Victor 2010, S. 1 und S. 4)- - was die bewusste, theoretisch begründete Entscheidung voraussetzt, das empirische Material so zuzuordnen. Eine Durchsicht der Definitionensammlung erlaubt eine erste Auflistung von Elementen, die offenkundig zum Grundbestand der Merkmale eines »Internationalen Regimes« gehören: ● ● Regime dienen der möglichst dauerhaften kooperativen Regelung von geteilten Problemen in bestimmten Arbeitsfeldern; dafür sollte bei den teilnehmenden Akteuren ein gewisser Grad an Übereinstimmung der gegenseitigen Erwartungen und an Konsens über die Ziele gegeben sein. ● ● Regime sind soziale Institutionen, verbindlicher und organisierter als bloße Absprachen, weniger organisiert als festgegründete Organisationen; sie geben ihren Teilnehmern Rechte und Pflichten vor; <?page no="70"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 70 70 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen sie berühren oder beschränken einerseits die Souveränität(srechte) der Regime-Teilnehmer, sind andererseits darauf angewiesen, dass diese die Regeln einhalten. ● ● Regime bestehen wenigstens aus Elementen, die Sinn und Zweck vorgeben (Ziele, Prinzipien, Normen-…) und solchen, die Organisation und Durchführung anleiten (Regeln, Standards, Verfahren, Programme usf.); dies gründet auf internationalen Verträgen, ausgearbeitet in internationalen Verhandlungen. 3.2.2 Die Vier-Elemente-Lehre Das mühsame Ergebnis des konzeptionellen Klärungsprozesses der Regime-Debatte ist die die sog. Konsensdefinition (in der Formulierung von Stephen D. Krasner in obiger Übersicht), die zur Grundlage für weitere Diskussionen um eine angemessene und theoretisch wohlbegründete Definition »Internationaler Regime« wurde (vgl. Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997, S. 8-22). In der Konsensdefinition werden vier Elemente als logisch und strukturell notwendig für ein internationales Regime genannt, aber nur kurz in ihren hierarchisch aufeinander bezogenen Funktionen bestimmt: Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren. Die Prinzipien geben die obersten Handlungsziele vor, welche zu allgemeinen Normen als Handlungsmaximen z. B. in Form von Ge- und Verboten führen; sie werden dann in den Regeln als konkrete und detaillierte Verhaltensanweisungen formuliert. Dies alles wird in vorgegebenen bzw. sich erst in der Praxis herausbildenden Verfahrensweisen regime-intern geregelt. ● ● Prinzipien: Prinzipien sind grundlegende Aussagen über die Wirklichkeit im Arbeitsfeld eines Regimes, über Ursachen und Auswirkungen der zu bearbeitenden Probleme sowie über die von den Regime-Teilnehmern geteilten Bewertungskriterien; damit ermöglichen sie eine Bestimmung der Ziele der Kooperation wie auch der dazu passenden Zweck-Mittel-Relationen. Ihre Funktion ist im wörtlichen Sinn grundlegend für das Funktionieren eines Regimes auch unter wechselnden Bedingungen, denn nur aus klaren Prinzipien heraus lassen sich die anderen Elemente flexibel anpassen, ohne dass das ganze Bündel auseinanderzufallen droht (vgl. Müller 1993, S. 39). Lassen sich geeignete Prinzipien nicht im Konsens finden, dann ist eine Kooperation nicht aussichtsreich, da offenkundig Problemsichten und Lösungsbereitschaft der potentiellen Regime-Teilnehmer nicht zusammenpassen. ● ● Normen: Prinzipien und konkrete Regeln sind verbunden durch maßgebliche Standards und verpflichtende Richtlinien für das angemessene Verhalten der Regime-Teilnehmer. Diese Normen definieren soziale Rollen und weisen sie zu, legen Pflichten auf und räumen Rechte ein. Erst Festlegung und Achtung der Normen macht die gemeinsamen Überzeugungen und Ziele zu politisch zu verfolgenden Verpflichtungen. Rechte und Pflichten sind komplementär: das Recht des einen ist die Pflicht des anderen, wenn auch möglicherweise nicht gleichmäßig verteilt, weil Machtpotential, Ressourcen oder auch die Bedrohung durch ein Problem unterschiedlich sind. Die für das Funktionieren eines Regimes entscheidende Leistung der Normen ist, dass sie auch dann Verhaltensrichtlinien geben- - oder einen »Vorrat von generalisierten Vorschriften« (Müller 1993, S. 40) bieten- -, wenn ein noch unbekannter oder unbedachter Teilbereich noch nicht durch konkret ausgeführte Bestimmungen verrechtlicht und formell geregelt ist. ● ● Regeln: Die in konkreten und meist rechtsverbindlichen Regeln ausformulierten spezifischen Vorschriften und Verbote sind das operative Zentrum eines Regimes; sie übersetzen die weiten Prinzipien und generellen Normen in konkrete Handlungsanweisungen. Bei der politisch oft mühsamen Bestimmung der Regeln und mehr noch durch ihre aktive Einhaltung zeigt sich definitiv, dass ein Staat wirklich bereit ist, »Souveränitätsverzichte einzugehen und die Kosten von Kooperation auf sich zu nehmen« (Müller 1993, S. 41). <?page no="71"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 71 3.3 Kritik und Probleme 71 ● ● (Entscheidungs-)Verfahren: Verfahren zur Entscheidungsfindung legen verpflichtend das Vorgehen fest, wenn im Regime kollektiv Entscheidungen gefällt und umgesetzt werden müssen; eine eingespielte prozedurale Routine ermöglicht Flexibilität bei der Anpassung an sich verändernde Situationen, ohne dass sogleich Regeln geändert oder gar Normen angetastet oder Prinzipien beansprucht werden müssten. Meist gibt es diverse Einzelprozeduren für verschiedene Problemlagen (vgl. Müller 1993, S. 41 f.): Revisionsprozeduren zur möglichst konfliktarmen Weiterentwicklung des Regimes, Teilnahmeprozeduren zur Aufnahme (oder auch zum Ausschluss) eines Regime-Teilnehmers, Informationsprozeduren (wie Konsultationsverfahren oder Verifikationsverfahren), Konfliktregelungsprozeduren und Sanktionsprozeduren sowie allgemeine Prozeduren i. S. einer Geschäftsordnung (Vorsitz, Protokoll usf.). Vor allem die Verfahrensweisen für Information, Entscheidung und Streitschlichtung können für den Erfolg des Regimes ausschlaggebend sein, weil sie insgesamt erst verlässliche und dauerhafte Vertrauensbildung unter den Regime-Teilnehmern ermöglichen. Diese Vier-Elemente-Lehre lässt sich auch in einen metaphorischen Merksatz fassen: Verfahren erfüllen die Funktion der ausführenden Hände, Regeln die des Hirns, Normen die des Herzens-- und die Prinzipien sind das Wort Gottes-… 3.3 Kritik und Probleme Wiewohl die »Konsensdefinition« definitionsgemäß weitgehend Zustimmung genießt, wurde vielfach kritisiert (z. B. recht deutlich von Strange 1983), dass die genaue Bedeutung, die trennscharfe Abgrenzung und das gegenseitige Verhältnis der vier Komponenten zu vage gefasst seien und in der Praxis problematisch sein dürften. Ob die angebotene Konzipierung brauchbar ist, kann konkret jeweils nur in einzelnen Politikfeldern festgestellt werden. In einer solchen Lage gibt es zwei Möglichkeiten: ● ● Konzentrierung und Weglassen. In einer kurzen Definitionsvariante (Koehane 1995, S. 28 f.) sind nur noch die von Regierungen akzeptierten Regeln genannt, die anderen Elemente werden erst mal weggelassen, zumindest offengelassen; damit ist ein Minimalbestand konkreter Komponenten vorgeben, von dem ausgegangen werden kann. ● ● Differenzierung und damit Erweiterung- - die übliche Weise. Ein Beitrag gegen Ende der großen Debatte (Levy/ Young/ Zürn 1995, S. 267, 274) definiert Regime als soziale Institutionen, bestehend aus den Elementen Prinzipien, Normen, Regeln, Verfahren und zusätzlich noch aus Programmen; in der dem Aufsatz vorangestellten Zusammenfassung werden Regime aber auch noch als eine Mischung von formalen bzw. verrechtlichten und »ungeschriebenen« informellen Elementen beschrieben. In der Literatur zum Konzept des »Internationalen Regimes« werden viele weitere Probleme und offene Fragen angesprochen, was hier nur sehr kursorisch wiedergegeben werden kann. Ein großer Teil der Kritik bleibt im Rahmen der Auseinandersetzung der theoretischen Lager, z. B. ● ● wurden Regime-Theorien oft als »Schönwettertheorien« geschmäht, weil sie viel zu idealistisch ansetzten; zugleich wurde davor gewarnt, dass starke Staaten sich auf Kooperationen einlassen, die sie längerfristig in eine schlechtere Position bringen müssten: ● ● dagegen gehalten wurde, dass Staaten sich zwangsläufig im Inneren wie nach außen immer wieder verändern, also Interessenlage und Ziele neu definieren müssten, um bestehen zu können. Im Einzelnen zielen die meisten kritischen Vorbehalte auf die Logik des Entstehens, des dauerhaften Funktionierens und des Wandels von Regimen, z. B. ● ● seien die Bedingungen der Entstehung und Entwicklung von Regime nicht eindeutig erfasst; ● ● sei die normative Festlegung, dass Regime vornehmlich dem kooperativen Verhalten der Akteure dienen und nicht etwa auch einseitiger Interessendurchsetzung, nicht zwingend; <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 72 72 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen ● ● sei die schwierige Abgrenzung zwischen den Begriffen »Regime«, »Institution« und »Organisation« kaum gelungen; ● ● müsste die Möglichkeit von fruchtbaren Interaktionen, aber auch von Überschneidungen und Konkurrenzen zwischen einzelnen Regimen geklärt werden; ● ● müsste deutlicher werden, wie sich Regime zum Völkerrecht verhalten, zumal ob ihre Regeln eher rechtlicher Art oder eher sozialer Natur seien; ● ● wäre die Frage zu klären, ob besondere Durchsetzungsmechanismen und Sanktionen nötig seien- - oder wie sich die Anforderungen an die Regime-Teilnehmer von selbst erfüllen würden; ● ● bleibe unklar, wie Wirkung und Effektivität von internationalen Regimen festgestellt werden können. Schließlich gibt es immer wieder Unsicherheit, was denn nun ein Regime ist oder nicht; entsprechende Fragen verweisen nicht nur auf ein theoretisch-typologisches Problem (s.-Kap. 3.4), sondern testen auch die Brauchbarkeit des Konzepts, z. B. ● ● ob es »implizite« oder in stillschweigender Verständigung operierende Regime gibt- - oder man so etwas eher als Konventionen oder Rituale sehen soll, ● ● ob regelmäßig und gruppenweise vollzogene Absprachen, wie auf den »Gipfeln« der G8 oder G20, schon als Regime einzuschätzen sind oder vielmehr als ein Gegenprogramm dazu. Andere kritische Fragen beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Regimen und der politischen Umwelt, aus und in der sie funktionieren, z. B. ● ● ob in der Regime-Theorie nicht eine konservative Tendenz eingebaut sei, weil sie zu sehr auf die Wahrung des Status quo fixiert gewesen sei, ● ● ob nicht eine zu unkritische positive Einstellung zur Praxis von internationalen Organisation zugrunde gelegt sei, ● ● wie festzulegen sei, wer alles »Akteur« sein könne oder solle, nur die Staaten oder auch die »Zivilgesellschaft«, und wenn Letzteres, wie dies organisiert werde, ● ● wie der Zusammenhang zwischen Prozessen im Inneren der Staaten und ihr Verhalten nach außen in Regimen angemessen eingeschätzt werden müsse, ● ● ob Regierungen regimeteilnehmender Staaten nicht Verpflichtungen für internationale Regime und in internationalen Organisationen als Rechtfertigung ausnutzen könnten für Maßnahmen, die innerstaatlich unpopulär und/ oder nicht legitimiert sind, ● ● ob und wie und durch wen internationale Regime überhaupt zum Regeln (gar demokratisch ? ) legitimiert seien, ● ● ob sich die Welt der internationalen Regime nicht auf die Länder des reichen Nordwestens des Globus und einige sich rasch entwickelnde wirtschaftliche Mächte aus dem Süden beschränke, während der Rest der Menschheit einfach mit-geregelt werde. Was für die amerikanischen Debatte kritisch als eine der »Schwächen jedes Modeansatzes in der amerikanischen Politikwissenschaft« vermerkt wurde, dass viele »sich an die laufende Diskussion an[hängten], ohne sich ernsthaft auf die Begriffe und die empirische Überprüfung […] einzulassen« (Müller 1993, S. 20), galt auch für den Regime-Diskurs und die in ihm gebotenen Profilierungschancen bei uns. In mancher Hinsicht ertragreicher, aber auch anstrengender, war die deutsche Diskussion aber gerade durch ihre konsequente Gründlichkeit, wobei nicht jedes Mal die empirische Referenz sogleich plausibel war. »Inspiriert durch allgemeine konflikttheoretische Überlegungen […] werden Wertekonflikte, Mittelkonflikte und Interessenkonflikte (letzte in zwei Untervarianten) unterschieden. Diese Konflikte sind, so wird postuliert, unterschiedlichen Verregelungen zugänglich; sie zeichnen sich also durch eine unterschiedliche Regimeträchtigkeit aus. Am wenigsten sind Wertekonflikte verregimebar; Schwierigkeiten gibt es auch bei Interessenkonflikten über relativ bewertete Güter (der Wert solwww.claudia-wild.de: <?page no="73"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 73 3.4 Synopse: Was sind Internationale Regime? 73 cher Güter liegt darin, dass man mehr davon besitzt als andere); leichter verregimebar sind Mittelkonflikte; und schließlich gelten Interessenkonflikte über absolut bewertete Güter (das sind Güter, deren Wert nicht davon beeinflusst wird, über wieviel die jeweils andere Konfliktpartei verfügt) als am leichtesten einer Verregimung zugänglich.« Dieter Senghaas (1992a, S. 93-f; Hervorhebungen R.W.) in einer Polemik gegen Volker Rittberger/ Michael Zürn 3.4 Synopse: Was sind Internationale Regime? Der Begriff »Internationales Regime« hat sich also wohl eingebürgert, aber er wird doch nicht in einem eindeutigen Verständnis gebraucht; folglich bietet es sich an, nun unter Zurücklassen von Problemstellen und Schmerzpunkten der Theoretiker ohne weitere Skrupel zu versuchen, eine Synopse zusammenzustellen, die einen orientierenden Überblick und pragmatischen Zugang zu den Phänomenen der internationalen Kooperation in Regimen anbietet. Aus den bisher dargestellten Überlegungen und Debatten ergeben sich einige brauchbare Kriterien dafür, was und welcher Art ein »Internationales Regime« sein könnte. Wenn bestimmte Merkmale in möglichst konkreter Form zu erkennen sind, sollte also erstens zu entscheiden sein, ob eine bestimmte Institution oder Interaktion selbst ein »Internationales Regime« ist oder wesentlich damit zusammenhängt, und zweitens, welcher typischen Art dieses Regime ist. Diese Kategorisierung ist kaum zu trennen von der Frage, welche Akteure in welcher Gewichtung an Regimen teilhaben. Welche Funktionen und konkrete Leistungen Regime für diese Akteure erfüllen bzw. auch umgekehrt, was die Akteure für Regime tun müssen, ist die politisch wichtigste Frage, die letztlich zu dem Problem führt, was Regime bewirken oder zumindest, wie effektiv sie arbeiten. Letzteres hängt zusammen mit der Frage, welche Überlappungen oder Verknüpfungen es zwischen Regimen gibt; damit stellt sich sogleich das Problem, wie Regime sich zu anderen Institutionen verhalten, besonders zu »Internationalen Organisationen«. Dies alles kann hier nicht im Einzelnen dargestellt und ausgeführt werden, zumal es sich anbietet, die angesprochenen Themen ggf. an den einzelnen Arbeitsbereichen zu bearbeiten (s.-Kap. 5); die folgenden kurzen Zusammenstellungen von Merkmalen, Funktionen, Akteuren, Abgrenzungen und Typen von Regimen sollen jedoch wenigstens einen Überblick ermöglichen. 3.4.1 Merkmale Tabelle 9 gibt eine Übersicht über die notwendigen oder wenigstens dringend erforderlichen Merkmale und Eigenschaften von Regimen. Sie ist eingeteilt in Aspekte (Bezugsgrößen für die Merkmale), Prämissen (Merkmale, die bei der Regimegründung vorausgesetzt werden, also gegeben sein müssen, oder die zumindest im Laufe der Regimebildung entstehen müssen-- sie erscheinen meist alternativ als Gegensätze oder zumindest als graduelle Abstufungen) und Konsequenzen (Merkmale, die aus der Regime- Arbeit resultieren bzw. sich in deren Verlauf entwickeln). Im Normalfall hat jedes Regime eine formelle Abmachung oder Vereinbarung als Rechtsgrundlage, d. h. einen formellen internationalen Vertrag; dass informelle Absprachen oder eingewöhnte Übung alleine ausreichen, ist nur für sehr spezielle Situationen denkbar (vgl. das Beispiel einer stillschweigenden Übereinkunft als Grundlage für das kanadisch-amerikanische Verhältnis, Keohane/ Nye 1987, S. 85 f.). Mit der gerne beschworenen »Mischung«/ »Mixtur« von formellen und informellen Elementen ist eines der interessantesten Probleme der Regime-Analyse verbunden, zumal angesichts der einleitend erwähnten Tendenz zur Informalisierung der internationalen Kooperation. Wenn Regime »Muster geregelten Verhaltens« (Müller 1993, S. 26 f.) sind, dann können sie aus völkerrechtlicher und politikwissenschaftwww.claudia-wild.de: <?page no="74"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 74 74 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen licher Sicht als die Umsetzung eines »Regelwerks«, also eines »Handbuchs« mit explizit festgelegten und verbindlichen Regeln, betrachtet werden, was zu den formellen Elementen am ehesten passt; komplementär könnten sie aber auch aus soziologischer Perspektive als gelebte »Kultur«, d. h. als ein System kollektiv gewusster und sozial praktizierter Regeln gesehen werden, was den informellen Elementen gerechter würde (vgl. Liese 2006, S. 33). Tab. 9: Merkmale und Eigenschaften von Internationalen Regimen Aspekte Prämissen Konsequenzen entweder / mehr oder / mehr Rechtsgrundlage (Völkerrecht) internationaler Vertrag freiwillige Einschränkung eigener Souveränität(srechte) informell nichtverrechtlicht formell verrechtlicht unterschiedliche Mixturen zwischen Netzwerk und Organisation soziale Institution harmonierende/ konvergierende gegenseitige Erwartungen der Akteure Geflecht von Rollen und damit von Rechten und Pflichten »Kultur« (Regelsystem) »Handbuch« (Regelwerk) »Muster geregelten Verhaltens« Information Ver-/ Aushandeln Vertrauensbildung Aufgabengebiet problemfeld-spezifisch besondere Zwecksetzung ? eng: nur einige geeignete Felder breit: alle möglichen Felder Überschneidungen möglich regional begrenzt global zuständig Abgrenzungen nötig Teilaspekt/ e des Problems das Problem umfassend Extremfälle:  ad hoc-Regime  Regime-Komplexe einfach komplex im Entstehen etabliert/ entwickelt Struktur  Prinzipien Legitimität  Normen Rechte und Pflichten  Regeln Berechenbarkeit  Verfahren Verlässlichkeit → Programme Umsetzung → Sanktionsmechanismen Durchsetzung Wirksamkeit ? Stabilität Wandel → Dauerhaftigkeit Umsetzung Durchsetzung → Effektivität empirisch belegbar nicht nachweisbar _ Forschungsfrage <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 75 3.4 Synopse: Was sind Internationale Regime? 75 Der Arbeits- oder Problembereich, über den sich ein Regime erstreckt, kann sehr unterschiedlich zugeschnitten sein: Er kann ein ganzes thematisches Feld umfassen (wie den Welthandel) oder ein bestimmtes global-interdependentes Problem behandeln (wie den Schutz der Ozonschicht) oder begrenzt sein auf eine spezielle Einzelfrage von regionaler Reichweite, aber globaler Bedeutung (wie den Walfang). Ein Merkmal von wesentlicher Bedeutung, ein entscheidendes Kriterium für die Regime-Qualität eines internationalen Steuerungsvorgangs, könnte sein, ob er Wirkung hat- - oder gar erfolgreich ist, indem er die gewünschte Wirkung zeigt. Das kann man pragmatisch sehen: Wenn die wesentlichen anderen Merkmale zu beobachten sind, wäre erst mal davon auszugehen, dass da so was wie ein Regime da ist-- zumal wenn die beteiligten Akteure das auch so sehen. Denn empirisch Regimewirkungen festzustellen, ist eine schwierige Unternehmung, die zum einen naturgemäß erst nach einiger Zeit möglich ist, zum anderen sich aus Gründen der Methodik und des Aufwandes auf relativ klar und eng definierte Aktivitäten beschränken muss; es wäre also nicht möglich, den Erfolg oder Misserfolg in einem ganzen Arbeitsbereich wie »der Klimaschutz« zu evaluieren-- das wird immer auch eine Frage der politischen Beurteilung sein. 3.4.2 Akteure Nicht nur für ihren Erfolg, sondern für fast alles sind Regime abhängig von Anzahl und Qualität ihrer Teilnehmer. In der Frage, wer in welcher Weise als Akteur anzusehen ist, sind sich die Regimeforscher uneinig, aber auch in der Praxis haben Diplomaten und engagierte »internationals« von Nichtregierungsorganisationen recht abweichende Meinungen dazu. Als »Akteure« in internationalen Regimen sind schon immer auf der Bühne bzw. bewerben sich für eine tragende Rolle: ● ● Staaten bzw. konkret: Regierungen von Staaten, ● ● Internationale Organisationen (IOs), ● ● Internationale Nicht-Regierungs-Organisation ([I]NGOs), ● ● Multinationale Unternehmen (BINGOs), ● ● »epistemic communities« und Politiknetzwerke, ● ● eventuell auch Einzelpersonen. Die Staaten werden auf absehbare Zeit die entscheidenden Akteure bleiben, wie auch immer eingeschränkt oder ergänzt durch andere aus der Zivilgesellschaft (s.- Kap. 2.1). Aber die alte »realistische« Sichtweise auf den Staat als »black box«, als geschlossene Einheit, war immer schon gröblich irreführend: Staaten und ihre Regierungsapparate sind definitiv keine geschlossenen Einheiten, sondern hochkomplexe soziale Institutionen. »Die Institutionen in den internationalen Beziehungen werden nicht zwischen individuellen, sondern zwischen kollektiven Akteuren gestiftet. Staaten haben in ihren Regierungsorganen und ihren Bürokratien eingebaute Organe der Selbstreflexion. Was immer sie tun, wird von Kabinetten, Ministerien, Fachabteilungen auf Zweckmäßigkeit und Stimmigkeit geprüft. Ganz besonders Handlungen gegenüber anderen Staaten unterliegen in der Welt souveräner Staaten einem ständigen Selbstrechtfertigungszwang. Dieser ständige Reflexions- und Selbstrechtfertigungsprozeß setzt dem Entstehen nichtintentionaler Ordnungen zwischen Staaten engste Grenzen.« Harald Müller (1993, S. 27) Wer sich einmal vergegenwärtigt hat, wie komplex und langwierig der außenpolitische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess der USA verläuft (schon innerhalb des Weißen Hauses, dann zwiwww.claudia-wild.de: <?page no="76"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 76 76 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen schen Weißem Haus, Außenministerium, ggf. Verteidigungsministerium einerseits und Kongress andererseits, aber auch dem Nationalen Sicherheitsrat und dem Sicherheitsberater, CIA und anderen Diensten, Militärführung, Ausschüssen usf.-- ganz zu schweigen von den Lobbyisten und der Medienöffentlichkeit), der kann die Idee, dieser Staat sei ein in sich einheitlicher und nach außen geschlossener Akteur, der rein rational nach nationalen Interessen entscheidet, bestenfalls für naiv halten. Die alte Weisheit der Kunst internationaler Verhandlung, dass der Verhandelnde immer mindestens nach zwei Seiten hin verhandeln muss, einmal zur Gegenseite hin, zum andern auf der eigenen (s.-auch Kap. 4.5), findet sich wieder in regime-analytischen Überlegungen, die »nicht nur verschiedene Interessenkonstellationen zwischen Staaten, sondern auch verschiedene Interessenkonstellationen innerhalb von Staaten« unterscheiden (Zangl 2003, S. 132: »Zwei-Ebenen-Ansatz«). Die insofern doppelt strukturierte »transnationale« Verschränkung der Interessen und die daraus entstehende komplexe Dynamik zu analysieren, ist für das Verständnis von internationalen Regimen hilfreicher als Glaubenskämpfe um die Rolle der Zivilgesellschaft. Nichtstaatliche Institutionen, informelle Netzwerke und organisierte Gruppen aller Art werden je nach Arbeitsfeld in unterschiedlicher Intensität allein schon aufgrund der Entwicklung ihrer daten- und kommunikationstechnischen Möglichkeiten immer stärker spezifische Rollen in Regimen übernehmen, sei es die Aufbereitung und Verbreitung von Wissen, sei es das Bemühen um normative politische Einflussnahme, seien es organisatorische oder auch wirtschaftliche Leistungen für einzelne Aufgaben von Regimen (vgl. Sprinz 2003, S. 266 ff.). Sogar einzelne Persönlichkeiten, wenn sie nur bekannt und/ oder reich genug sind, können symbolische wie praktische Bedeutung für die Arbeit in Regimen haben. 3.4.3 Funktionen Internationale Regime »stiften Ordnungen zwischen Akteuren« und diese »reproduzieren diese Ordnungen durch ihre Interaktionen« (Müller 1993, S. 27). Was sind nun die Ordnung stiftenden Leistungen dieser »Muster geregelten Verhaltens« (Müller 1993, S. 26), welche Funktionen und Funktionsweisen sind Regimen zuzuschreiben? Um ein altes Missverständnis noch einmal auszuschließen: Regime sind nicht Elemente eines potentiellen Weltstaats und alle Regime zusammen werden nie die Funktionen einer »Weltregierung« erfüllen. Spekulative Visionen dieser Art können sie gerade wegen ihres Existenzwecks nicht nähren. Mithilfe von und in Regimen sollen ja gerade wegen des Fehlens einer übergeordneten Weltzentralinstanz ● ● globale Regelungen von möglichst hoher Verbindlichkeit für spezielle Probleme von übernationaler Bedeutung politisch auf multilateral-internationaler Ebene entwickelt und normativ abgesichert ● ● sowie praktisch zur Gefahrenabwehr und/ oder Zielerreichung entsprechende Aktivitäten koordiniert und ggf. zu eigenständiger Kooperation ausgebaut werden. Indem in internationalen Verhandlungen im Rahmen eines entstehenden Regimes Gewohnheitspraktiken eingeführt und eingeübt werden, an die sich alle Teilnehmer- - im besten Fall dann als selbstverständlich- - halten, können sich stabile gegenseitige Verhaltenserwartungen entwickeln und belastbare Arbeitsbeziehungen entstehen; die Leistungen, die Regime erbringen sollen, sind also (nach den klassisch gewordenen Bestimmungen in Keohane 1984, S. 89 ff.), ● ● durch organisierten Informationsaustausch zwischen den Staaten Vertrauen zu bilden, ● ● Rechtssicherheit und Verhaltenssicherheit zu gewährleisten und damit politische Verlässlichkeit aufzubauen, ● ● Transaktionskosten zu reduzieren und damit die Kooperation für alle Beteiligen lohnend zu machen. Abhängig von der Art des jeweils zu behandelnden Problems und des Entwicklungsgrads des entsprechenden Regimes sind Dutzende von spezielleren Funktionen zur Erleichterung und Steigerung der <?page no="77"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 77 3.4 Synopse: Was sind Internationale Regime? 77 Kooperation möglich. In den entwickelteren Regimen, zumal wenn sie mit Sicherheits- und Verteilungsfragen zu tun haben, ist oft die politisch wichtigste Funktion das absichernde Management oder gar die entscheidende Lösung von Konflikten durch Institutionalisierung und Verregelung des Konfliktaustrags, sei es durch einen »Blauhelm«-Einsatz, sei es durch ein Schiedsgericht. Weil die meisten Problem- und Arbeitsbereiche interdependent und zumindest in einzelnen Bezügen untrennbar miteinander verbunden sind, kommt es zu Berührungen und Überlappungen von Regimen (s.- auch Kap. 3.5)- - zumal die Staaten als wichtigste Akteure immer dabei sind. Bislang gibt es kein Regime-Regime, das die Vielzahl und Vielfalt dessen, was wir »Internationale Regime« nennen können, wenigstens überschaut oder gar aufeinander abstimmt; Regime entwickeln sich also wegen ihres tendenziell flexibel-informellen Charakters nicht nur gelegentlich intern, sondern auch untereinander oft im Wildwuchs. Das führt zwangsläufig zu Überschneidungen von Arbeitsgebieten und Überlappungen von Aktivitäten und Programmen. Das kann Nachteile haben: ● ● Doppelungen und damit Verschwendung von politischer Energie und Mitteln oder gar gegenseitige Blockade; ● ● Verzögerung der Weiterentwicklung eines Regimes, weil die eines anderen nachhängt; ● ● Störung der Arbeit in einem Regime, wenn es in einem anderen ernste Probleme gibt. Aber auch Vorteile sind zu erwarten: ● ● Stimulierung der Weiterentwicklung und Wirkung eines Regimes durch Fortschritt und Erfolg in einem anderen; ● ● Synergie-Gewinne durch intensivierte Zusammenarbeit; ● ● politischer Bedeutungszuwachs durch mehr Gesamtgewicht; ● ● Erweiterung von Verhandlungsspielräumen durch potentiellen Interessenausgleich in einem anderen Regime. Eindeutig nachteilig ist der Fall einer negativen Regime-Verknüpfung: In der Interessenlage wichtiger Akteure gründende Konkurrenz oder gar Widerspruch zwischen ihren Zielen können zerstörerische Kollisionen von Regimen auslösen, wie das klassische Problem des Gegensatzes zwischen Wirtschaftsentwicklung durch Freihandel und Umweltschutz oft zeigt. Allerdings scheint diese Gefahr im Falle internationaler Organisationen geringer zu sein: Für unvereinbare oder antagonistische Zwecke kann man einfach verschiedene Organisationen gründen, die in verschiedene Richtungen arbeiten oder zumindest argumentieren, z. B. die eine für Wirtschaftswachstum, die andere für Gerechtigkeit; mit ein wenig diplomatischem Gespür ist zu vermeiden, dass sich internationale Organisationen zu sehr ins Gehege kommen-- für Regime scheint das nicht so einfach möglich zu sein. 3.4.4 Abgrenzungen Die Abgrenzung von Internationalen Regimen und Internationalen Organisationen ist theoretisch wie pragmatisch schwierig. Vor einer systematischen Differenzdefinition wäre erst Struktur und Funktion der Organisationen und ihre Merkmale als Vergleichsgrundlage darzustellen (s.-Kap. 4.1). Aber von den Regimen her gesehen, fallen schon auf den ersten Blick wesentliche Unterscheidungsmerkmale auf. ● ● Regime sind flexibler und dynamischer als festgefügte Organisationen; wenn sie gut funktionieren, sind sie eher Prozess als Struktur. ● ● Regime funktionieren auf mehr politischen und gesellschaftlichen Ebenen als Organisationen. ● ● Regime funktionieren mit und in Regimen arbeiten mehr Arten unterschiedlicher Akteure. ● ● Regime sind aber anders als internationale Organisationen keine eigenständigen Akteure. <?page no="78"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 78 78 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen ● ● Wie Regime brauchen Organisationen eine Rechtsgrundlage und eine diese konkretisierende Regelordnung, allerdings muss diese wesentlich klarer und differenzierter, ausgearbeiteter und auch materiell »organisierter« ein als bei Regimen, die schon mit recht wenig davon auskommen können, wenn der politische Wille ausreicht. ● ● Organisationen haben als materielle Basis eine zentral ausgerichtete Organisationsstruktur, einen administrativen Apparat, also eigenes Personal, und meist auch eine eigene operative Infrastruktur, eigene Gebäude und Einrichtungen aller Art und eigene Finanzierungsmechanismen (zumindest die großen Organisationen); das alles haben Regime nicht-- bekommen es aber von den internationalen Organisationen zum Teil gestellt. ● ● Rechtsgrundlage und Akteurstatus sowie Ressourcen in eigener Verfügung machen Organisationen relativ unabhängiger von den Staaten, die zwar als Mitglieder die internationalen Organisationen tragen, aber in der Regel nicht direkt in sie eingreifen können. Als ein aus Sicht der Akteure wichtiger Unterschied gilt schließlich, dass sie ihre Teilnahme an den unorganisierteren Regimen leichter beenden könnten. Abgesehen davon, dass jeder Staat jederzeit aus jeder Organisation austreten kann, ist dieser Gedanke nicht überzeugend, insofern es ja gerade die Stärke von Regimen sein kann, ihre Teilnehmer im Sinne der Teilhabe an einer »Kultur« viel stärker politisch-normativ zu binden als dies eine bloße formelle Mitgliedschaft in einer Organisation bewirken könnte; zudem verpflichten eventuell zugrunde liegende internationale Verträge die Staaten ohnehin zu einer politisch immer heiklen Vertragskündigung, egal ob sie nun ein Regime oder eine Organisation fundieren. Der übliche Weg für Regierungen, ein Regime nicht mitzutragen, ist es, schlicht die eingegangenen Verpflichtungen nicht oder zu wenig zu erfüllen. Regime werden auch nicht formell aufgelöst, sie hören einfach auf zu funktionieren. Organisationen können dagegen durchaus aufgelöst werden, was allerdings schon alleine wegen der Eigendynamik einer vorhandenen Verwaltungsstruktur unwahrscheinlich ist. Falls ihr Gründungszweck hinfällig geworden sein sollte, sucht man sich am besten einen neuen, z. B. ein hilfsbedürftiges Regime; ein Beispiel dafür drohte nach dem Ende des Kalten Krieges die NATO zu werden (… eine Lösung auf der Suche nach dem Problem-…). Organisationen helfen Regimen mit ihrer Logistik und Infrastruktur, aber auch durch ihre Reputation und ihr politisches Gewicht; die einen wurden ja schon bestimmt als der »harte Kern« der anderen (Müller 2008, S. 275 f.). Serviceleistungen können sein: Verwaltung von Verträgen, Überwachung der Einhaltung von Verpflichtungen, Information und Kommunikation, Konferenzen und Tagungen, Beratung und Expertise, Einbindung von nichtstaatlichen Akteuren usf. Die Zusammenarbeit von Regime und Organisation kann soweit gehen, dass sie nahezu eins werden: Das Regime zur Nichtverbreitung von Kernwaffen und die Internationale Atomenergie-Organisation (International Atomic Energy Agency/ IAEA) sind zusammen relativ autark; das Regime beruht auf dem sog. Atomwaffensperrvertrag (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons/ NPT), die Organisation ist mit der UNO nur vertraglich zur Kooperation verbunden und berichtet an Generalversammlung und Sicherheitsrat. Andere Regime bestehen fast ausschließlich aus einzelnen internationalen Vertragswerken, z. B. das Antarktis-Regime aus dem Antarktis-Vertrag von 1959; erst 2004 wurde ein kleines Sekretariat dafür eröffnet. Aus bedeutenden und/ oder erfolgreichen Regimen können wiederum eigenständige internationale Organisationen entstehen, wofür das bekannteste Beispiel die Welthandelsorganisation (WTO) ist, die aus dem Freihandelsregime auf der Basis des GATT-Abkommens entstand und 1995 etabliert wurde, nachdem noch 1950 die Gründung einer Internationalen Handelsorganisation (ITO) gescheitert war. Neben Internationalen Organisationen und Internationalen Regimen können weitere internationale Institutionen identifiziert und differenziert werden (vgl. Müller 1993, S. 27, Overhaus/ Schieder 2010, S. 121-f, Zürn 2002, S. 798): <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 79 3.4 Synopse: Was sind Internationale Regime? 79 ● ● Konventionen im Sinne eingeübter Verhaltensweisen; ● ● klassische internationale Ordnungsprinzipien, wie das »staatstragende« Prinzip der Souveränität, Respekt der Kulturen untereinander oder gegenseitige Toleranz der Religionen; ● ● internationale Netzwerke wie die Serie der »Weltwirtschaftsgipfel« (»G8«, inzwischen auch »G20«), das privat organisierte »Weltwirtschaftsforum« oder die offiziöse »Münchner Sicherheitskonferenz«-- also gewissermaßen einfache Sonder-Ausgaben von Regimen mit rudimentären prozeduralen Regeln, aber ohne festgelegte substantielle Ziel- und Zwecksetzung, dafür mit teilweise recht gemischter Akteurstruktur ohne formale Legitimität. 3.4.5 Typen Damit stellt sich noch das Problem einer Typologie von internationalen Regime und ggf. auch verwandten Formen bzw. Instrumenten internationaler Kooperation wie jene »Netzwerke«. Auch dies soll hier recht pragmatisch dargeboten werden, denn eine umfassende und trennscharfe Aufstellung scheint so wenig machbar wie wirklich hilfreich: Regime zeigen sich nämlich in der Tat in ihren Erscheinungsformen als hoch flexibel und fast grenzenlos kombinierbar mit anderen Institutionen. Schon die Kriterien für eine typologische Einteilung sind keineswegs geklärt, verschiedene Möglichkeiten bieten sich an. ● ● Ein inzwischen politisch nicht mehr so wichtiges, aber im Lichte der regimetheoretischen Debatte systematisch notwendiges Kriterium ist, ob ein Regime von einer oder wenigen Vormächten initiiert und getragen ist; entsprechend gibt es den Typ des hegemonialen bzw. des oligopolischen Regimes und den des nichthegemonialen (Müller 1993, S. 36 f.). ● ● Eine gängige Einteilung unterscheidet Regime nach ihren Rollen in regulative (regulatory), prozedurale (procedural), programmatische (programmatic) und generative (generative) Varianten (vgl. Young 1999), was die Aspekte Aufgabenstellung und Funktionsweise betont. ● ● Denkbar ist auch eine Anordnung nach Prinzipien und Normen hinsichtlich der Ziel- und Zwecksetzung, nach Regeln hinsichtlich des politischen Prozesses, nach Verfahren und Programmen hinsichtlich der konkreten Aktivitäten sowie nach Akteuren und Arbeitsgebieten (nach Levy/ Zürn 1995, S. 274 ff.). Einzelne unverbundene Kriterien könnten sein: ● ● Art und Qualität der Rechtsgrundlagen eines Regimes, ● ● ob und wie es mit einer Organisation verbunden ist, ● ● der Grad seiner thematischen Spezialisierung, ● ● seine geographische Ausdehnung, ● ● Art und Zusammensetzung seiner Teilnehmer. Die zweckmäßigste Möglichkeit ist wohl, Regime nach Art und Zuschnitt ihrer Arbeitsfelder zu ordnen, was logischerweise zum großen Teil den skizzierten Merkmalen der Aufgabengebiete von Regimen (s.-Kap. 3.4.1) entspricht. Demnach wären die häufigsten Regimetypen ● ● vom Problem- und Arbeitsfeld her entweder mehr eng und spezialisiert oder breit und umfassend, ● ● geographisch regional begrenzt oder international/ global grenzenlos, ● ● graduell von geringer bis hoher Komplexität, ● ● in ihrer Arbeitsweise eher formell und explizit auf verbindliche Normen und Regeln festgelegt oder eher informell und implizit von gegenseitigem Verständnis getragen. Zusätzliche Unterscheidungen können immer dazu genommen werden, wenn es von der Sache her dienlich ist; z. B. sind die meisten Regime intern in dem Sinne, dass es um das Verhalten der Regime- Teilnehmer untereinander geht, andere Regime sind dagegen extern, insofern sie sich um das Verhalten der Regime-Teilnehmer gegenüber Dritten kümmern. <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 80 80 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen Wie ein Beispiel aus Arbeitsbereichen, in denen es auch um Verteilungskonflikte geht, zeigt, hängt die sinnvolle Einordnung von Regimen in Typen immer von dem Untersuchungsaspekt ab, unter dem ihre Wirkungen interessieren (Wolf 1994, S. 427, Zürn 1987, S. 43 ff.): Die Einteilung der Regime danach, ob sie mit ihren Aufgaben global auf den (Welt-)Markt, national auf einen Staat oder international auf internationale Organisationen bezogen sind, wird verbunden mit der Frage nach der Verteilungswirkung der drei entsprechenden Regimetypen; dies ergibt ● ● markt-orientierte Regime zur Stabilisierung von Marktprozessen, die eine Tendenz zu polarisierender Verteilung materieller Güter zeigen; ● ● national-orientierte Regime, die die ansonsten nicht angetasteten Befugnisse der Nationalstaaten an international vereinbarte Standards binden und eine ausgewogene Verteilung bewirken; ● ● international-orientierte Regime, die Befugnisse an multilaterale Organisationen übertragen und damit, soweit möglich, zum Ausgleich von Ungleichheiten tendieren. Das typologische Spiel lässt sich auch dahin treiben, Typen nicht existierender Regime (oder Nicht- Regime) oder solcher Regime, denen es gar nicht gut geht, zu finden: Kombiniert man die Kriterien »hohe oder niedrige Erwartungen an ein Regime« und »hoher oder niedriger formaler Organisationsgrad« resultieren daraus folgende Typen: »klassische« Regime (hoch/ hoch), »keine« Regime (niedrig/ niedrig), sowie »stillschweigende« (hoch/ niedrig) oder gar »scheintote« (»dead letter«; niedrig/ hoch) Regime (Levy/ Young/ Zürn 1995, S. 272). 3.5 Aufgabenfelder und Strukturen der Kooperation Die ungelösten theoretischen Konflikte und die ungeklärten konzeptionellen Fragen sowie ernstzunehmende Kritik sollten nicht wirklich ein Hemmnis dafür sein, pragmatisch zu erkennen, dass »Internationale Regime« in großer Zahl tatsächlich existieren und so oder so in der Bearbeitung einer noch größeren Zahl drängender Probleme wirksam werden. Welcher Art sind denn nun die Aufgaben, von denen wir zumindest hoffen, dass Regime sie möglichst zum allseitigen Vorteil erfüllen können? Nehmen wir an, »wir« sei eine beliebige Gruppe von Menschen auf diesem Planeten- - ohne weiteres Wissen darüber, wer und wo wir sind, wie unsere Lage ist und welche Möglichkeiten wir haben, was uns bedroht und wer uns schützen könnte. Und doch werden alle, die als »wir« vorstellbar sind, sich vernünftigerweise folgende elementare Fragen stellen: 1. Können wir Gewalt und Tod entgehen? 2. Können wir uns ausreichend ernähren? 3. Können wir so leben, wie wir wollen? 4. Können wir unsere natürliche Umwelt sichern? Diese Fragen stehen in historischer Abfolge: die ersten beiden stellen sich Menschen seit ihrer Entstehung, die beiden anderen sind spätere Produkte der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Setzt man diese Fragen in Bezug zu den Dimensionen Individuen, Gesellschaft und Wirtschaft sowie zum Staat (in seiner Doppelrolle als Bedrohung und Retter), entsteht eine Vierfeldertafel, in der die Aufgaben der internationalen Kooperation einzuordnen sind: Sicherung des Über-Lebens, der Lebens- Mittel, der Lebens-Möglichkeiten und der (natürlichen) Lebens-Bedingungen (s. Tab. 10). In jedem der Felder ist jeweils ein Konflikt zwischen handelnden und/ oder erleidenden Elementen aus zwei der politischen Dimensionen das Grundproblem: 1. Als Krieg ausgetragene Konflikte zwischen politisch organisierten Großgruppen, meist eben Staaten, bedrohen »unser« Leben. Wenn Staaten im Inneren nicht mehr funktionieren, gefährden »uns« Konwww.claudia-wild.de: <?page no="81"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 81 3.5 Aufgabenfelder und Strukturen der Kooperation 81 flikte zwischen einzelnen Gruppen als Bürgerkrieg und in der Folge möglicherweise auch als Terrorismus. Die Aufgabe wäre, kriegerische Konflikte und Gewalt zu verhindern. 2. Materieller Mangel an Nahrung, Wohnung und anderen Gütern zur Befriedung elementarer Bedürfnisse bedroht »unser« Leben. Gesellschaft und Wirtschaft geben zu wenig und/ oder nehmen zu viel. Die Aufgabe wäre, Hunger und Not zu verhindern. 3. Eine übergeordnete und/ oder stärkere politische Macht bedroht die elementaren Freiheitsspielräume »unseres« Lebens (bis zu dessen Verlust) bzw. vermindert »unsere« Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten. Die Aufgabe wäre, die Beschränkung von Rechten und Chancen zu verhindern. 4. Die kumulierten Folgen der Aktivitäten von Gesellschaft und Wirtschaft bedrohen »unsere« natürlichen Lebensgrundlagen und verändern die Bedingungen für »unser« Leben teilweise dramatisch. Der Unterschied zum materiellen Mangel in (2) ist oft kaum erkennbar- - z. B. im Falle von fehlendem Trinkwasser-- aber die Verursachungszusammenhänge für die Probleme sind andersartig. Die Aufgabe wäre, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu verhindern (oder zumindest auszugleichen). In jedem Aufgabenfeld hätte internationale Kooperation eine wesentliche, wenn nicht die entscheidende Leistung zu erbringen: 1. Gegen einseitige Aggression kann »uns« neben der meist aussichtslosen Selbstverteidigung nur eine überlegene Macht, am besten »unser« Staat, schützen- - mit Gewalt. Sicherheit gegen Aggression unter den Staaten könnte aber auch kooperativ gewährleistet werden-- z. B. durch ein System »kollektiver Sicherheit«. Die Abwehr von Gewalt durch einzelne Gruppen oder Terroristen kann nur noch international koordiniert erfolgreich sein. 2. Marktwirtschaften sollten fähig sein, auch wachsende Bevölkerungen zu ernähren-- sofern die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die Bedingungen der Weltmärkte das nicht verhindern. Eingriffe zur Förderung von spezifischem wirtschaftlichem Wachstum und/ oder zugunsten der ökonomisch Machtlosen könnten deren Lage verbessern- - wenn dies politisch gewollt ist. Internationale »Entwicklungspolitik«-- sofern eindeutig an Armutsverminderung orientiert-- könnte das entscheidend unterstützen. 3. Ist der eigene Staat die Bedrohung für Menschen- und Bürgerrechte, hilft nur ziviler Widerstand und/ oder Hilfe von außerhalb des eigenen Staates- - unter anderem durch internationalen Menschenrechtsschutz. In extremen Fällen können Zwang durch Sanktionen oder gar »humanitäre Interventionen«, auch mit militärischer Gewalt, nötig sein. 4. Grundlegende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Eingriffe zugunsten ökologisch verantwortbarer Ausmaße und Weisen von Produktion und Konsum sind notwendig, die ohne wirksame Vorgaben und konkrete Regelungen auf zwischenund/ oder überstaatlicher Ebene misslingen werden. Hier wäre einzuwenden, dass dies alles nur negativ formuliert ist, also als Bedrohungen, die es abzuwehren gilt, und nicht auch positiv ausgedrückt als Entwicklungschancen für eine friedlichere und bessere Tab. 10: Lebens-gefährliche Konflikt-Felder Staat (als Bedrohung oder Rettung) Gesellschaft (Wirtschaft) (gebend und/ oder nehmend) Staat (als Bedrohung oder Rettung) (1) Sicherung des Über-Lebens (4) Sicherung der Lebens-Bedingungen Individuen (gefährdet und bedürftig) (3) Sicherung der Lebens-Möglichkeiten (2) Sicherung der Lebens-Mittel <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 82 82 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen Welt. Angesichts des Zustands »unserer« Welt scheint zum einen die skeptisch-»realistische« Sicht angemessener als eine hoffnungsfroh-»idealistische«, zum anderen folgt der negativ-skeptischen Bestimmung der Aufgabenstellungen logischerweise der Versuch zur positiven Auseinandersetzung darüber, was über unmittelbare Gefahrenabwehr hinaus zu leisten ist. Die Gruppen von internationalen Regimen lassen sich mit diesen Kriterien nach den Aufgabenbereichen für internationale Kooperation, wie sie sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, ordnen-- von der Vermeidung von Krieg zwischen Staaten bis zum Schutz des Weltklimas (s. Tab. 11). Wie die Beispiele andeuten, gibt es meist eine thematische und funktionale Verbindung zwischen einem »Regime« und einer »Organisation«-- oder mehreren. Fast alle Regime und definitiv alle Organisationen haben eine Rechtsform und eine spezifische Rechtsgrundlage, im Regelfall einen internationalen Vertrag. Regime sind eine Mixtur aus verrechtlichten und nicht verrechtlichten, geschriebenen und ungeschriebenen Regeln (vgl. Müller 1993, S. 29), da aber auch rechtlich klar festgelegte Organisationen nur dank informeller Regeln ihrer Institutionskultur praktisch funktionieren, sind Abgrenzungen oft undeutlich. Das Zusammenspiel dieser Institutionen ist in den meisten Fällen problemlos zu ergänzen durch neuere oder neuerdings stärker beachtete Komponenten wie die inter-/ transnationalen Expertise- und »Politiknetzwerke«; völkerrechtlich bindende Konventionen kann man auch als Manifestationen »internationaler Ordnungsprinzipien« einordnen (vgl. Zangl/ Zürn 2003, S. 88 ff.). Oft zu wenig beachtet werden im Wortsinn entscheidende internationale Institutionen-- die Internationalen Gerichtshöfe: der IGH als Hauptorgan der UNO für die völkerrechtliche Klärung von sicherheitsbedrohenden und grundsätzlichen Konflikten, Schiedsgerichte aller Art und Reichweite für Streitfälle unter Regime-Teilnehmern, Strafgerichtshöfe u. a. Mit den Grundelementen Verträge, Organisationen, Regime und Gerichte lassen sich ein ganzes Universum von Konstellationen kombinieren, mit deren Hilfe dann später in den kooperativen internationalen Beziehungen beobachtete Strukturen und Prozesse ein- und zugeordnet werden können. Tab. 11: Lebens-wichtige Aufgaben für Internationale Regime Bedeutung Aufgaben-- Bereiche z. B. Regime/ Organisationen (1) Sicherung des Über-Lebens  Sicherheit (vor Krieg)  Abrüstung  Terrorismus-Abwehr »collective securitiy«/ UN-SR Atomwaffensperrvertrag/ IAEA Anti-Terror-Maßnahmen/ UN-SR (2) Sicherung der Lebens-Mittel  Wirtschaft  Welthandel  Währungsstabilität  Entwicklung  Armuts-/ Hungerbekämpfung G8/ G20-Konferenzen? Freihandel/ GATT bzw. WTO Währung/ IMF Entwicklung/ UNDP, IBRD Ernährung / WFP, FAO (3) Sicherung der Lebens-Möglichkeiten  Menschenrechts-/ Bürgerrechtsschutz chartabasierte Verfahren/ HRC, HCHR vertragsbasierte Verfahren/ Vertragsorgane (4) Sicherung der Lebens-Bedingungen  Umweltschutz  Artenschutz  Klimaschutz  Bodenschutz Ozonschicht Klima-Komplex »Kyoto-Protokoll«, »Rio«-Folgeprozess/ UNEP Gesundheit/ WHO <?page no="83"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 83 3.5 Aufgabenfelder und Strukturen der Kooperation 83 Dies lässt sich mit allerlei Kombinationen jonglierend weiterspielen, sodass auch ganze Komplexe von kohärenten Regimen (regime complex oder auch comprehensive regime; siehe Keohane/ Victor 2010), die auch Arbeitsfelder übergreifen, abgebildet werden können (vgl. in Kap. 5.7. am Beispiel des Regimekomplexes Umwelt/ Klima). Wenn Regime untereinander verschachtelt sind oder sich teilweise gar IV IO IR IG IR IR IO IV IV IO IG IV IO Elemente IV Ein internationaler Vertrag IO Ein internationaler Vertrag begründet eine Internationale Organisation IR Ein internationaler Vertrag begründet ein Internationales Regime IG Ein internationaler Vertrag begründet einen Internationalen Gerichtshof oder eine Schiedsstelle Kombinationen 1. Ein internationaler Vertrag begründet eine Internationale Organisation und ein Internationales Regime, dessen tragende Struktur die Organisation sein soll 2. Ein internationaler Vertrag begründet eine Internationale Organisation und ein Internationales Regime, dessen tragende Struktur die Organisation sein soll, und zusätzlich für Streitfälle bei der Regimedurchsetzung ein Gericht oder eine Schiedsstelle 3. Mehrere internationale Verträge bzw. ein komplexes internationales Vertragswerk begründen zwei (oder mehrere) Internationale Organisationen (bzw. beauftragen schon existierende Internationale Organisationen) und ein Internationales Regime, dessen tragende Strukturen die Organisationen sein sollen, und zusätzlich für Streitfälle bei der Regimedurchsetzung ein Gericht oder eine Schiedsstelle 4. Mehrere internationale Verträge bzw. ein komplexes internationales Vertragswerk begründen zwei (oder mehrere) Internationale Organisationen (bzw. beauftragen schon existierende Internationale Organisationen) und zwei (oder mehrere) unabhängige Internationale Regime, deren tragende Strukturen die Organisationen sein sollen, und zusätzlich für Streitfälle bei der Regimedurchsetzung ein Gericht oder eine Schiedsstelle 5. Mehrere internationale Verträge bzw. ein komplexes internationales Vertragswerk begründen zwei (oder mehrere) Internationale Organisationen (bzw. beauftragen schon existierende Internationale Organisationen) und zwei (oder mehrere) zusammenhängende Internationale Regime, deren tragende Strukturen die Organisationen sein sollen, und zusätzlich für Streitfälle bei der Regimedurchsetzung ein Gericht oder eine Schiedsstelle Abb. 1: Internationale Verträge, Organisationen, Regime und Gerichte in verschiedenen Kombinationen <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 84 84 3 Interdependenz und Kooperation in-Internationalen Regimen durchdringen, ist zu erwarten, dass zwischen ihnen eine Rangordnung gemäß der politischen Bedeutung oder der einsetzbaren Mittel besteht, was auch die schwächeren Regime in der Regel stärken dürfte, weil sie z. B. Zugriff auf mehr Ressourcen haben könnten oder weil ein Kosten/ Nutzen-Ausgleich unter den Akteuren über die Regimegrenzen erleichtert würde; das wäre aber jeweils im konkreten Fall zu klären. Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 3 Abbott/ Snidal 1998; Axelrod 1984; Baldwin 1993; Breitmeier 2008; Drezner 2007; Efinger/ Rittberger/ Wolf/ Zürn 1990; Haas, E. 1980; Haas, P. 1992; Haggard/ Simmons 1987; Hasenclever/ Mayer/ Rittberger 1997; Hasenclever/ Wolf/ Zürn 2007; Kegley 1995; Keohane 1980, 1983, 1984, 1986, 1988, 1995; Keohane/ Nye 1977, 1987; Keohane/ Victor 2010; Kohler-Koch 1989; Krasner,1983a/ 2004, 1983b, 1983c; Kratochwil/ Ruggie 1986; Levy/ Young/ Zürn 1995; Martin/ Simmons 1998; Mayer/ Rittberger/ Zürn 1995; Meyers 2007; Menzel 2001; Müller 1993, 2000, 2004, 2008; Oye 1986; Rittberger 1993a, 1993b; Rittberger/ Zürn 1990; Ruggie 1975, 1998: Sprinz 2003; Strange 1983; Weber 1904/ 1991; Wolf 1994; Young 1980, 1983, 1986; Zangl 2003; Zürn 1987, 1994, 2002 <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 85 85 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Außenpolitik und Diplomatie sind sehr konservative Künste, deren tradierte Grundsätze und eingelebte Methoden sich nur träge ändern; dennoch entwickelten sich ab dem 19. Jahrhundert mit dem aufkommenden internationalen Konferenzwesen und dem Völkerbund neue Formen multilateraler Diplomatie neben denen der klassischen bilateralen »Geheimdiplomatie«. »Multilateralität« heißt eigentlich nur, das nicht nur zwei Parteien auf zwei Seiten (»bilateral«) miteinander zu tun haben, sondern: viele, potentiell alle. Nach politischer Logik ist darin ein Verhältnis der Teilnehmer zueinander inbegriffen, das es ermöglicht, gemeinsame Probleme kooperativ als prinzipiell gleichberechtigte Staaten nach vereinbarten, für alle verbindliche Regelungen zu behandeln; im Idealfall werden die Interessen aller beteiligten Akteure angemessen berücksichtigt. Wenn eine internationale Organisation (fast) alle existierenden Staaten als Mitglieder gewonnen hat, ist sie nicht nur multilateral, sondern auch (fast) universal. Politisch hat das die Implikation: Alle Regierungen sind dabei und können mitreden, was Legitimation schaffen kann, aber in einer Welt der Ungleichverteilung von Ressourcen aller Art automatisch zu Problemen führt, die ein exklusiver Club von wenigen Mächtigen zwar nicht hätte, der aber wiederum nicht so recht für alle sprechen könnte. Sofern Multilateralität nicht nur eine getarnte Hegemonialität ist-- also hinter den Kulissen des vielfältig-bunten Betriebs eine Vormacht oder auch konkurrierende Führungsmächte verschiedener Block- Konstellationen (wie Ost gegen West, reiche gegen arme Länder o. Ä.) die Entscheidungen treffen und durchziehen- - ist der Vorteil gegenüber dem bilateralem Austrag von Interessenkonflikten, dass die Großen weniger unbekümmert ihre Macht ausüben und die kleineren Mächte besser ihre Interessen verfolgen können, weil alle ein gemeinsames höheres Interesse zumindest grundsätzlich anerkennen. Paradigmatisch zeigt sich der Unterschied zwischen bilateraler und multilateraler Problembewältigung in der Methode zur Verhinderung von Krieg: Während im bilateralen Bezugssystem letztlich nur einseitige Aufrüstung zur Abschreckung und bestenfalls gegenseitige Ausbalancierung der Zerstörungspotentiale realistisch sind, ist in einer multilateral organisierten Welt eine Art Versicherung auf Gegenseitigkeit als Ausweg möglich: alle potentiell kriegführenden Mächte garantieren einander in einem kollektiven Sicherheitssystem verlässlichen Schutz vor einander durch gegenseitigen Beistand. Dafür ist allerdings der Grundsatz der Inklusivität anzuwenden, nach dem möglichst alle Beteiligten einbezogen werden müssen und eventuell auch wichtige nichtstaatliche Kräfte. Multilateralität hat durch den für sie nötigen kommunikativen und organisatorischen Aufwand politisch prägende Auswirkungen: Eigentlich kann sie gar nicht richtig funktionieren, weil es praktisch nicht möglich ist, dass viele oder gar alle so einfach miteinander reden und gemeinsam entscheiden- - was mehr bedeutet als eine bloße Stimmabgabe; es müssen dafür Verfahren und Verhaltensweisen entwickelt werden, die zwangsläufig kompliziert, umständlich und wahrscheinlich oft ineffizient sind. Die bis dahin bedeutendste und wohl auch größte internationale Konferenz der Geschichte, die Gründungskonferenz der UNO 1945 in San Francisco, auf der die endgültige Version der Charta der Vereinten Nationen als Rechtsgrundlage erarbeitet und beschlossen wurde, kann dafür gleich als ein erstes instruktives Beispiel dienen: Obwohl nur (! ) 50 Delegationen teilnahmen, war es nicht möglich, dass alle mit allen und ohne gründliche Vorarbeit reden konnten. Es musste also eine schon weit ausgearbeitete Vorlage geben, die riesige Verhandlungsmaterie wurde auf Ausschüsse und Unterausschüsse verteilt, deren Arbeit ein Lenkungsgremium aus allen Delegationsleitern steuern sollte, das aber aus Gründen der Effizienz die Vorentscheidung über die wichtigsten Fragen wiederum an einen kleineren Rat delegieren musste-- in dem natürlich die wichtigsten Mächte alle vertreten waren. Schon damals bildeten sich wie von selbst Ländergruppen oder zumindest feste Gesprächskreise, die voneinander nach der Logik der einzelstaatlichen Interessen, dahinterstehenden politischen Motiven und sachlichen Gründen abgewww.claudia-wild.de: <?page no="86"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 86 86 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen grenzt waren; einzelne Staaten konnten je nach Gegenstand und dessen politischer Bedeutung bei unterschiedlichen zu verhandelnden Fragen auch in verschiedenen Lagern stehen. Multilateralität funktioniert unterschiedlich gut in Abhängigkeit von der Art des politischen Problems; die Struktur der zu behandelnden Themen und die Zahl und Art der dafür relevanten Akteure gibt die Bedingungen vor, unter denen internationale Kooperation erarbeitet werden kann: Wenn nur wenige Akteure von besonderer Bedeutung miteinander verhandeln müssen- - wie in Fragen der nuklearen Abrüstung- -, wäre ein multilaterales Vorgehen nur von symbolischer Natur, z. B. zugunsten der Stärkung der »Weltgemeinschaft«; wenn sehr viele oder alle Staaten mit einbezogen sein oder gar aktiv mitarbeiten sollen- - wie bei Menschrechtsfragen oder im Umweltschutz- - ist letztlich nur das mühsame multilaterale Geschäft erfolgversprechend. Multilateralität ist also heute in den vielfältigen Dimensionen der Nord-Süd-Konflikte von größerer Bedeutung und Wirksamkeit als sie es im bipolaren Ost-West-Konflikt war. Sie ist logischerweise die den Sach- und Machtlagen angemessene Form internationaler Diplomatie für alle Probleme, zu deren Bearbeitung möglichst viele staatliche und möglicherweise auch diverse zivilgesellschaftliche Akteure beitragen müssen, damit weltweit Fortschritte oder gar Lösungen möglich werden. Das gilt für so schwer fassbare, aber für unser Leben entscheidende Herausforderungen wie die Sicherung bzw. Bereitstellung von sog. globalen öffentlichen Gütern (global public goods): Frieden und Sicherheit, funktionierende Güter- und Finanzmärkte, intakte Umwelt und stabiles Klima sowie Gerechtigkeit, Gesundheitsvorsorge, Freiheit des kulturelles Leben u. v. m., soweit diese Güter im einzelstaatlichen Rahmen nicht zu gewährleisten sind. Neben rahmensetzenden Regelungen für die weltweite Ökonomie sind es also besonders die sog. Entwicklungspolitik sowie Umwelt- und Klimaschutz, die zur Schaffung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine friedlichere Welt multilateral verhandelt und organisiert werden sollten. Das Arbeitsfeld, in dem sowohl hinsichtlich der Entscheidungsfindung als auch vor allem in der Umsetzung von Maßnahmen ein schon klassischer Konflikt zwischen bilateralen und multilateralen Methoden herrscht, ist die sog. Entwicklungszusammenarbeit: Die politischen und wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Regierungen-- der Geber wie meist auch der Nehmer-- werden eher bilateral befriedigt, während unter sach-rationalen Aspekten zumindest langfristig eine multilaterale Durchführung viel sinnvoller wäre, die Entwicklungszusammenarbeit also von internationalen Fachorganisationen und Entwicklungsagenturen-- unter dem Dach des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme/ UNDP)-- konzipiert und koordiniert würde. Dagegen sind akute Fragen der Friedensicherung in konkreten Konfliktfällen und die klassischen Probleme von Sicherheit und Abrüstung, aber auch viele handels- und währungspolitische Angelegenheiten meist leichter unilateral oder wenigstens in einer nur kleinen Gruppe zu behandeln. Denn hier ist die Haltung derjenigen wenigen Akteure ausschlaggebend, die über die realen Machtmittel (wie Atomwaffen) verfügen oder das gewichtigste wirtschaftliche Potential (große Märkte, Rohstoffe, Währungsreserven) haben. »Die Anpassung der Politik an die heutigen Realitäten, insbesondere an die wachsende Bedeutung globaler, grenzüberschreitender Probleme, hat bislang nur zum Teil stattgefunden. Aber erste Ansätze eines neuen Multilateralismus lassen sich erkennen. Dessen Kernstück wird eine neue Rolle des Staates sein: Staaten werden sich mehr und mehr als Vermittler zwischen nationalen und internationalen Politikerwartungen positionieren und so politische Gestaltungskraft wiedergewinnen, um Globalisierung und Souveränität besser miteinander vereinbaren zu können.« […] »In dem Maße, in dem Staaten ihr Verhalten ändern, wird auch deutlich werden, dass unter den Bedingungen größerer Durchlässigkeit nationaler Grenzen und der damit verbundenen wachsenden Bedeutung globaler öffentlicher Güter eine faire, auf win-win ausgerichtete internationale Kooperation die für alle Beteiligten beste Strategie ist. Ein neuer Multilateralismus, der internationale <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 87 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 87 Kooperation national verankert, könnte dies befördern-- und politischen Entscheidungsträgern die Souveränität zurückgeben, die sie aufgrund mangelnder oder ineffektiver Kooperation verloren haben.« Inge Kaul, ehemals UNDP (2010, S. 34 und 39) Oft wurde als ein Vorteil von Multilateralität genannt, dass sie im Gegensatz zur geheimnistuerischen traditionellen bilateralen (Geheim-)Diplomatie zwangsläufig transparenter und somit vielleicht auch legitimer sei; das dürfte aber in den meisten Fällen ein frommer Wunsch bleiben: Eine Lüge wird dadurch nicht wahrer, dass sie öffentlich vorgebracht wird. Bedeutsamer ist, dass die scheinbar transparente Multilateralität andere Formen diskreter Absprachen und Verhandlungen im kleinen und kleinsten Kreis herausbildet. Denn überbeanspruchte Multilateralität kann auch typische Gegenreaktionen provozieren; z. B. führten die in den 1970/ 1980er Jahren in allen zuständigen und auch anderen Gremien der UNO massiv erhobenen Forderungen nach weltwirtschaftlichen Eingriffen zugunsten des Südens dazu, dass einige extrem mulilaterale Foren wie die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) vom westlichen Norden schlicht ignoriert und damit irrelevant wurden; statt sich dem mühsamen multilateralen Geschäft zu unterwerfen, zogen es die Industrieländer vor, ihre Interessen in anderen Organisationen oder auch außerhalb der UNO bilateral oder im kleinen Kreis zu verfolgen-- damals begann die »G6«/ »G7« als Kamingesprächsrunde der Regierungschefs der sieben wichtigsten Wirtschaftsmächte. Spätestens seit sich die »G7« zur »G8« (plus Russland) und dann zur »G8+5« bzw. zur »G20« (plus die wichtigsten »Schwellenländer«, vor allem Brasilien, Indien, China) erweitert haben, stellt sich die Frage, ob die seitdem entwickelte Praxis der führenden Wirtschaftsnationen, sich jenseits der Zwänge des multilateralen Geschäfts regelmäßig zu treffen und weltpolitische Fragen zu besprechen oder gar zu entscheiden, als eine illegitime Konkurrenz zu den Mechanismen der etablierten internationalen Organisationen einzuschätzen ist-- oder als eine informelle Weiterentwicklung zu einer Art korporativen Multilateralismus (s.-Kap. 4.4.1). 4.1 Was sind Internationale Organisationen? In Kap. 1 wurden zwei sich widersprechende, in einer widersprüchlichen Welt aber komplementäre Vorstellungsbilder für Internationale Organisationen skizziert: das »Amt«, das an eine von oben nach unten bzw. von innen nach außen agierende Hierarchie denken lässt, und das »Puzzle«, das ein mehr oder weniger organisierbares Durcheinander assoziiert. Der Wandel von der obrigkeitsstaatlichen »Amts«zur vielfältig-spielerischen »Puzzle«-Vorstellung zeigt sich auch an der Entwicklung des Begriffs der »Internationalen Organisation« (vgl. Rittberger/ Zangl 2008, S. 21 f.). Der Ausdruck selbst ist jünger als die ersten internationalen Organisationen (zu deren Geschichte s.-Kap. 4.2.1); diese wurden in Ausarbeitung der »Amts«-Metaphorik »Internationaler Verwaltungsverein«, »Internationale Verwaltungsunion«, »Internationales Büro« oder »Internationale Kommission« genannt, was deren technisch-organisatorischen, also eher administrativen als politischen Zwecksetzungen durchaus entsprach. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tauchte »Internationale Organisation« als rechtlicher bzw. wissenschaftlicher Terminus in ganz Europa auf. Aber noch die Satzung des Völkerbunds, der ersten internationalen Organisation mit Universalitätsanspruch, kannte die alten »Ämter« und machte zudem einen Unterschied zwischen zu gründenden internationalen Organisationen und dem Völkerbund selbst, der nicht als eine solche bezeichnet wurde. Während des Zweiten Weltkriegs und im Gründungsprozess der UNO (s.-Kap. 4.2.3) setze sich der Ausdruck als Sammelbegriff für alle Arten fester und dauerhafter zwischenstaatlicher Einrichtungen schließlich durch. <?page no="88"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 88 88 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Zwei Verwendungsarten des Begriffs »Internationale Organisation« sind zu unterscheiden: Zum einen wird er gebraucht zur Klassifikation bestimmter Typen von internationalen Institutionen (z. B. in Abgrenzung zu »Internationalen Regimen«) und somit auch als Bezeichnung einzelner konkreter Institutionen (z. B. »die ILO ist eine internationale Organisationen, die […]«). Zum anderen soll der Begriff vor dem Hintergrund einer theoretischen oder gar normativen Vorgabe Entwicklung und Funktionsweise der internationalen Beziehungen erfassen (z. B. »Friede durch internationale Organisationen«), er wird also als ein analytisches Konstrukt verstanden; viele meinen, dass »Internationale Organisation« in diesem Verständnis durch den Terminus »global governance« zu ersetzen sei (vgl. Rittberger/ Zangl 2008, S. 22)-- massive Zweifel an Sinn und Zweck dieser Setzung sind schon vorgebracht worden (s.-Kap. 2.1). Definitionen für »Internationale Organisationen« »Die internationalen Organisationen sind ein Zusammenschluß souveräner Staaten. Was sie erreichen können, hängt von dem Grad der Übereinstimmung ab, den sie untereinander erzielen.« Hans- Albrecht Schraepler (1994, S. IX; Hervorhebung R.W.) »[…] Zusammenschluss von Staaten aufgrund völkerrechtlichen Vertrages zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks.« Stephan Hobe (2008, S. 124) »[…] sowohl problemfeldbezogene als auch problemfeldübergreifende zwischenstaatliche Institutionen, die gegenüber ihrer Umwelt aufgrund ihrer organschaftlichen Struktur als Akteure auftreten können und die intern durch auf zwischenstaatlich vereinbarten Normen und Regeln basierende Verhaltensmuster charakterisiert sind, welche Verhaltenserwartungen einander angleichen.« Volker Rittberger/ Bernhard Zangl (2008, S. 25) [In ihnen können] »[…] Akteure in wiederkehrenden Situationen bestimmten Rollenerwartungen genügen und damit zur Angleichung wechselseitiger Verhaltenserwartungen beitragen, also Erwartungsverlässlichkeit zwischen zwei oder mehr interagierenden Parteien begründen.« Volker Rittberger/ Bernhard Zangl (2008, S. 22) »[…] »konferenzdiplomatische Dauereinrichtungen bzw. intergouvernementale Verhandlungssysteme.« Volker Rittberger/ Bernhard Zangl (2008, S. 23 f.) »[…] soziale Institutionen, die durch mindestens zwei Staaten gegründet wurden und gegenüber ihrer Umwelt als Akteur auftreten können. IO. basieren zum einen auf zwischenstaatlich vereinbarten Normen und Regeln, welche zu einer wechselseitigen Angleichung von Verhaltenserwartungen führen; sie sind zum anderen durch die Verfügung über eigenes Personal gekennzeichnet, das aufgrund eigener Ressourcen im Namen der Organisation handeln kann.« Bernhard Zangl (Lexikon der Politikwissenschaft, Bd. 1, hrsg. v. Dieter Nohlen/ Rainer-Olaf Schultze, München 2002, S. 384) »[…] dienen dem Ziel, Rechts- und Arbeitsgrundlagen für die Zusammenarbeit der Staaten bzw. nationaler Akteure bei grenzüberschreitenden Transaktionen zu gewährleisten. […] Eine IGO ist eine durch multilateralen völkerrechtl. Vertrag geschaffene Staatenverbindung von mindestens drei Staaten mit eigenen Organen und Kompetenzen, die sich als Ziel die Zusammenarbeit von mindestens zwei Staaten auf polit. und/ oder ökonom., militärischem, kulturellem Gebiet gesetzt hat. Eine INGO ist ein Zusammenschluß von mindestens drei gesellschaftl. Akteuren (Parteien, Verbände etc.), der zur Ausübung seiner grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Regelungsmechanismen aufstellt.« Wichard Woyke (Kleines Lexikon der Politik, hrsg. v. Dieter Nohlen/ Florian Grotz, München 2001, S. 242 f.) <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 89 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 89 »Unter einer IGO wird eine durch multilateralen völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Staatenverbindung mit eigenen Organen und Kompetenzen verstanden, die sich als Ziel die Zusammenarbeit von mindestens drei Staaten auf politischem und/ oder ökonomischem, militärischem, kulturellem Gebiet gesetzt hat und die gegenüber ihrer Umwelt als selbständiger Akteur auftreten kann.«- - »Eine INGO ist ein Zusammenschluss von wenigstens drei gesellschaftlichen Akteuren aus mindestens drei Staaten (Parteien, Verbänden etc.), der zur Ausübung seiner grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Regelungsmechanismen aufstellt.« Wichard Woyke (Handwörterbuch Internationale Politik, hrsg. v. Wichard Woyke, Opladen 2007, S. 203) »[…] ein auf Vertrag beruhender, mit eigenen Organen und Kompetenzen ausgestatteter Zusammenschluß von Staaten zur Regelung politischer, wirtschaftlicher, militärischer, sozialer oder kultureller Anliegen. Intern basieren sie auf-- durch zwischenstaatlich vereinbarte Normen und Regeln geschaffenen-- Verhaltensmustern. Extern sind sie durch die Fähigkeit gekennzeichnet, gegenüber ihrem Umfeld, vor allem Staaten und Regierungsvertretern, als eigenständig Handelnde aufzutreten […] Organisationen mit sehr hohem Integrationsgrad werden als überstaatlich (supranational) bezeichnet.« Wörterbuch zur Politik, hrsg. v. Manfred G. Schmidt, Stuttgart 2004, S. 442 f. »Der international-gemeinschaftlichen Regelung von politischen, wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Angelegenheiten dienende Organisationen […] beruhen meist auf einem Vertrag völkerrechtlichen oder privatrechtlichen Charakters, in welchem die Ziele und Prinzipien der Zusammenarbeit sowie i. d. R. Bestimmungen über dauerhaft und regelmäßig arbeitende Willensbildungs- und Beschlussorgane festgelegt sind.« Politik-Lexikon, hrsg. v. Everhard Holtmann, München/ Wien 2000, S. 265 f. »Eine Internationale Organisation im völkerrechtlichen Sinne ist ein Zusammenschluss von mindestens zwei Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten, der auf Dauer angelegt ist, sich in der Regel über nationale Grenzen hinweg betätigt und überstaatliche Aufgaben erfüllt. Wesentliches Merkmal einer solchen Organisation ist, dass sie mindestens ein Organ hat, durch das sie handelt.« Wikipedia (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Internationale_Organisation_(Völkerrecht); Dez. 2010) »Institution drawing membership from at least three states, having activities in several states, and whose members are held together by a formal agreement« http: / / www.answers.com/ topic/ international-organization-1; Dez. 2010 »Auf Dauer angelegte funktionale Zweckverbindungen von Staaten mit eigenen Organen, deren Einrichtung auf völkerrechtliche Verträge zwischen Staaten oder privatrechtliche Vereinbarungen zurückgeht, wobei (in weiter Auslegung) auch die Rechtsform von nationalen Vereinen mit internationaler Mitgliedschaft möglich ist. Eine allg. anerkannte Definition der internationalen Organisationen gibt es bisher nicht.« Gablers Wirtschafslexikon (http: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ Definition/ internationale-organisationen.html; Dez. 2010; Hervorhebung RW) Unumstritten ist nur der letzte Satz im letzten Eintrag der unsystematischen Zusammenstellung im Kasten: Eine allseits anerkannte Definition ist nicht zu finden. Dennoch geistern zumal die zitierten Bestimmungen aus dem Internet durch unzählige studentische Hausarbeiten; auch der so klassisch werdende Definitionsversuch von Volker Rittberger und Bernhard Zangl (2008, S. 25) wird gerne zitiert. Der erste Eintrag ist zwar keine richtige Definition, enthält aber das wichtigste Element zum Verständnis von internationalen Organisationen: Sie sind nur so gut, wie es ihre Mitglieder zulassen. Die gängigsten Kriterien zur Definition einer »Internationalen Organisation« sind: <?page no="90"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 90 90 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ● ● die Beteiligung von mindestens zwei Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten, ● ● grenzüberscheitende bzw. grenzdurchdringende Aufgaben auf zwischenstaatlicher (oder gar überstaatlicher) Ebene, ● ● die Festlegung von Zielsetzung und Prinzipien sowie von Aufgabenstellung und Regeln in einer die Mitglieder bindenden Satzung, ● ● damit zugleich die Festlegung der Rechte und Pflichten der Mitglieder, ● ● die Konkretisierung dessen in einer Geschäftsordnung, die insbesondere die Modalitäten für die Entscheidungsfindung und formale Abstimmungen vorschreibt, wodurch die Stimmrechte der Mitglieder gesichert werden, ● ● Dauerhaftigkeit und ein dafür nötiges Minimum an fester organisatorischer Struktur, ● ● organisationseigene operative Handlungsorgane und -kompetenzen. Diese Kriterien am Einzelfall auszulegen und zu entscheiden, in welcher Kombination sie gegeben sein können oder müssen, damit eine bestimmte Institution als eine internationale Organisation anzusehen ist, gibt einigen Spielraum. Die Union of International Associations (UIA, Brüssel) z. B. zählt nur solche »Zusammenschlüsse« als internationale Organisationen, die wenigstens drei Staaten als Mitglieder haben bzw. deren Mitglieder aus wenigstens drei Staaten kommen (vgl. http: / www.uia.org). Analog ist die Festlegung, dass eine Internationale Nichtregierungsorganisation von mindestens drei gesellschaftlichen Akteuren aus mindestens drei Staaten gebildet sein muss, die sich für ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten Regeln geben. Internationale Organisationen sind greifbarer als die flüchtigeren Regime, weswegen sie leichter anhand ihrer konkreten Merkmale beschrieben und eingeordnet werden können; für Einordnung und Analyse von internationalen Organisationen sind verschiedene Kriterien zur Klassifikation und Typologie vorgeschlagen worden (vgl. Archer 2001, S. 23- ff; Karns/ Mingst 2010, S. 7; Rittberger/ Zangl 2008, S. 159-ff; s.-auch die Typologie der Union of International Associations/ UIA, 2010 bzw. http: / / www.uia.org/ ). Internationale Institutionen Internationale Organisationen Internationale Regime zwischenstaatliche Internationale Organisationen (IGOs) nichtstaatliche Internationale Organisationen (INGOs) Die nichtstaatlichen Internationalen Organisationen (INGOs) sind begrifflich weiter aufzuteilen in international operierende Dachverbände nationaler Verbände (vor allem aus Wirtschaft und Sport, aber auch aus Religion, Wissenschaft und Kultur) und zivilgesellschaftlich basierte Organisationen, die themenbzw. problemspezifisch bestimmte politische Ziele und Programme verfolgen- - diese sind meist gemeint, wenn von den »NGOs« gesprochen wird. An den o. g. Definitionskriterien ist auch der Unterschied zwischen internationalen Organisationen und internationalen Regimen festzumachen: die beiden ersten Kriterien (internationale Mitgliedschaft und Aufgabenstellung) gelten für beide Erscheinungsformen internationaler Institutionen, die beiden letzen (Dauerhaftigkeit durch Organisationsstruktur) nur für Organisationen; die beiden mittleren <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 91 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 91 (Zwecksetzung und Geschäftsordnung) gelten sinngemäß auch für Regime, müssen für diese aber formal nicht so ordentlich festgelegt werden wie für Organisationen. Fast alle internationalen Organisationen sind nach einer evidenten Logik der Struktur ihrer Organe aufgebaut; sie bestehen mindestens aus ● ● einer Versammlung all ihrer Mitglieder, die nicht ständig, aber periodisch tagt, ● ● einem ständig oder zumindest häufig und ggf. kurzfristig tagenden Exekutiv-Rat, ● ● einem ständigen operativen Büro oder Sekretariat, das die Arbeit von Mitgliederversammlung und Rat organisatorisch unterstützt, vorbereitet, protokolliert und dokumentiert usf., aber auch selbständige Aufgaben und Kompetenzen haben kann, ● ● einem Mechanismus zur Streitschlichtung, sei es als Verfahren oder als Schiedsstelle o. Ä. Die Mitgliederversammlung diskutiert und entscheidet Grundsätze und Leitlinien, der Rat exekutiert im alltäglichen Geschäft darauf basierende Entscheidungen mit Hilfe des Sekretariats. Je nach Größe, Aufgabenstellung und Bedeutung der internationalen Organisation kann diese Struktur in Ausschüsse differenziert oder Untergliederungen verfeinert werden; ihre Organe können ausgebaut oder neue geschaffen werden-- so weit Finanzquellen und der politische (oder rituelle) Bedarf reichen. Zur »Theorie internationaler Organisationen« (vgl. Archer 2001, S. 112 f.; Karns/ Mingst 2010, S. 7; Rittberger/ Zangl 2008, S. 159 ff.) ist zu vermerken, dass die grundlegenden Zugänge und Bewertungen denen zu internationalen Institutionen allgemein und internationalen Regimen speziell (s.-Kap. 2.2 und 3.1.2) gleichen; in den verschiedenen theoretischen Perspektiven sind Rolle und Bedeutung internationaler Organisationen unterschiedlich einzuschätzen: ● ● Für »realistische« bzw. auf die Weltwirtschaft bezogene politisch-ökonomische Ansätze (»machtbasiert«) sind internationale Organisationen hauptsächlich Instrumente der militärisch und ökonomisch mächtigsten Ländern zur Herrschaftssicherung; für anarchische und egoistische Staaten dienen sie allenfalls als Steuerungs- und Koordinationsinstrumente. ● ● Für institutionalistische bzw. funktionalistische Ansätze (»interessensbasiert«) sind internationale Organisationen vor allem Medien und tragende Strukturelemente zwischenstaatlicher Kooperation und Konfliktregelung, weil die staatlichen Akteure in ihnen in gegenseitigem Wechselspiel Rollener- Tab. 12: Zum Unterschied zwischen Internationalen Organisationen und Internationalen Regimen Kriterium Internationale Organisationen Internationale Regime Begriff/ Vorstellung weiter enger Akteursstatus sind bedingt eigenständige Akteure sind keine Akteure Zeitlichkeit relativ dauerhaft veränderlich, nicht notwendig von Dauer innere Struktur vertikal: hierarchisch festgefügt horizontal: flexibel formbar Zugänglichkeit eher geschlossen und formell eher offen und informell Problemfeld-Bezug spezifisch, übergreifend oder universal problemfeldspezifisch, themenfokussiert Gründung durch rechtsförmigen zwischenstaatlichen Gründungsakt, mittelbar oder unmittelbar von informeller Absprache bis zu formellem Abkommen ist vieles möglich Verhältnis zueinander bieten Legitimität, organisatorische Serviceleistungen, operative Instrumente, Kapazität usf., ermöglichen so effektive Arbeit von IR sind in einer oder mehrere IO »eingebettet« und werden von diesen unterstützt; können ihrerseits zur Gründung neuer IO führen <?page no="92"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 92 92 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen wartungen entwickeln und regelmäßig erfüllen, somit Verhaltenserwartungen verlässlich machen können. ● ● In einer kognitivistischen bzw. reflexiv-interpretativen Sichtweise (»wissensbasiert«) ist zu betonen, dass internationale Organisationen durch Entwicklung internationaler Verhaltensnormen, durch Überwachung ihrer Einhaltung und notfalls durch die Sanktionierung von Regelverstößen die Zivilisierung der internationalen Beziehungen pflegen. Mit einem instruktiven Bildkomplex (s. Tab. 13) lässt sich das viel pragmatischer einsichtig machen (nach Rittberger/ Mogler/ Zangl 1997, S. 23 bzw. Rittberger/ Zangl 2008, S. 24 f.): Eine internationale Organisation kann als Instrument einzelner mächtiger oder gar hegemonialer Staaten dienen, sie kann allen Staaten eine (Kampf-)Arena oder besser ein (Diskussions-)Forum für zwischenstaatliche Verhandlungen bieten-- oder sie kann sogar als entstehender, teilweise schon autonomer Akteur unabhängig von den Staaten initiativ und aktiv werden. Diese Denkbilder liefern Rollenzuschreibungen: ● ● Als Instrument dienen internationale Organisationen den uneingeschränkt souveränen Staaten, zumal den mächtigsten, zur Verfolgung ihrer eigenen Interessen; sie dominieren die organisationsinternen Entscheidungsprozesse. ● ● Als Forum geben internationale Organisationen allen Akteuren dank ihrer logistisch-technischen Vorleistungen und mittels standardisierter Verfahrensweisen dauerhaft und verlässlich die Gelegenheit zu multilateralen Verhandlungen aller Art und Reichweite-- für Informationsaustausch, technisch-organisatorische Koordination und politischer Kooperation. ● ● Als eigenständig handelnder Akteur können internationale Organisationen nur auftreten, wenn und insoweit sie von den souveränen Staaten dazu bemächtigt sind, was meist eine Abgabe von Souveränitätsrechten nötig macht; wenn sich die Mitgliedstaaten somit bestimmten Regeln und Verfahrensweisen einer Organisation unterworfen haben, kann diese zumindest graduell und/ oder auf bestimmte Politikfelder beschränkt zur »supranationalen« Organisation werden. Hier ist wieder einmal ein skeptischer Vorbehalt einzulegen: Die Konsequenz dieser Akteurs-Vorstellung wäre letztlich, dass über den Staaten regionale oder gar globale bundesstaatliche Strukturen entstünden. Gängige Beispiele dafür wären die Europäische Union (EU) oder der UNO-Sicherheitsrat aufgrund seiner weitreichenden Rechte in bestimmten sicherheitsgefährdenden Situationen (s.- Kap. 4.3.3.2 und 5.2); die EU ist bislang ein einmaliger regionaler Sonderfall und das sicherheitspolitische Mandat der UNO ist eine sehr spezifische und bislang ebenfalls einmalige Regelung. Die supranationale Kompetenz der meisten Organisationen ist wie Goethes Wunsch, der Mensch sei »edel, hilfreich und gut«, nur eine potentielle Variante, wie es mal sein könnte. Tab. 13: Denkbilder von Internationalen Organisationen Problem Bild-… … und Konzept Theoretische Perspektive Staaten-Anarchie, also Machwettbewerb/ -kampf und Kriegsgefahr Instrument-… … hegemonialer Mächte »Realismus« zwischen-/ überstaatlicher Regelungsbedarf »Arena« / »Forum«-… … des internationalen Verhandlungssystems Institutionalismus Problemverflechtung durch-Globalisierung … Akteur Entstehender bundes- (welt)staatlicher-… »Konstruktivismus« »global governance« <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 93 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 93 Auf der Basis der konkurrierenden theoretischen Zugangsweisen, aber auch auf der unterschiedlicher politischer Hoffnungen sind vielfältige Funktionen von internationalen Organisationen beschrieben worden (vgl. Archer 2001, S. 65-ff; Karns/ Mingst 2010, S. 7; Rittberger/ Zangl 2008, S. 159 ff.). Indem sie ● ● Informationen besorgen, aufbereiten und verteilen, ● ● diskret oder öffentlich Gespräche und Verhandlungen politisch anregen, organisatorisch durchführen und durch Verfahrensregeln absichern, ● ● Interessen durch Bündelung artikulieren und durch Konfliktschlichtung ausgleichen, ● ● Normen diskutieren und formales Recht fortentwickeln, ermöglichen oder unterstützen internationale Organisationen die grundlegenden Funktionen von einzelnen oder verbundenen internationalen Regimen (s.-Kap. 3.4.3), nämlich: ● ● Gefahrenabwehr durch vertrauensbasierte Kooperation und ● ● Stiftung von Ordnung durch globale Regelungen. Die Funktionen von zivilgesellschaftlichen INGOs sind oft komplementär, selten konkurrierend; ihre wichtigsten Leistungen sind informationelle (Beschaffung und Verbreitung von konkreten Informationen sowie von Experten- und Anwendungswissen) und zunehmend auch normative (Öffentlichkeitsarbeit zur Erzeugung politischen Willens). Die meisten INGOs verstehen ihre Mission als internationale Interessenvertretung oder »Lobbyismus« aufgrund ihrer speziellen Expertise; sie machen in Medien und Politik Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit für Tab. 14: Funktionen Internationaler Organisationen Aspekt Auftrag/ Leistung Beispiele informationell medial  Sammeln, Auswerten und Verbreiten von Informationen und Daten  Beobachtung und Auswertung von Entwicklungen und Trends  Schaffung von internationaler Öffentlichkeit  Unterstützung für politische Initiativen Menschenrechtsschutz, HRC Klimaschutz, UNEP politisch  Austausch, Verhandlung und Entscheidung  Bündelung nationaler zu Gruppenbzw. multilateralen Interessen  Schaffung von Einflussmöglichkeit für schwächere Akteure  Schaffung von mehr Legitimität für stärkere Akteure UNO, EU normativ rechtlich  Generierung von Normen und Regeln für staatliches Verhalten  Festlegung von Verhaltensstandards  Ausarbeitung von völkerrechtlich bindenden Verträgen UNO, EU regulativ  Konflikt- und Streitschlichtung  Förderung der Anwendung von Normen und Regeln Kontrolle ihrer Umsetzung Sanktionierung ihrer Missachtung Erzwingung ihrer Einhaltung  Bildung und Nutzung von Verifikationsinstrumenten IGH Welthandel, WTO Rüstungskontrolle, IAEA operational organisatorisch/ logistisch  Serviceleistungen aller Art für grenzüberschreitende Kooperation  Durchführung komplexer operativer Aktionen  Umsetzung von umfassenden Arbeitsprogrammen  Ressourcen-Allokation  Not- und Katastrophen-Hilfe  Einsatz von (national gestellten) Truppen Entwicklung, UNDP, IBRD UNHCR SR/ DPKO <?page no="94"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 94 94 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ● ● wirtschaftliche und soziale Interessen (z. B. Internationaler Gewerkschaftsbund, Verbände), ● ● humanitäre Aufgaben (z. B. Internationales Rotes Kreuz, kirchliche Hilfswerke), ● ● Menschenrechtsschutz (z. B. amnesty international, Human Rights Watch), ● ● gesellschafts- und entwicklungspolitische Ziele (z. B. kirchliche Hilfswerke, Oxfam), ● ● Umwelt- und Klimaschutz (z. B. Greenpeace, WWF), ● ● kulturelle oder religiöse Anliegen (z. B. PEN-Club, Kirchen). Manche NGOs übernehmen auch operative Aufgaben (vor allem in der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit vor Ort). Eine pragmatisch motivierte Typologie der Internationalen Organisationen kann auf Dichotomien von Merkmalen aufbauen, die sich auf Größe und Struktur der Mitgliedschaft, Art und Umfang des Arbeitsgebiets, Zielsetzungen und Aufgabenstellung, politisches Potential und politische Beschränkung, Integrationsgrad u. v. m. beziehen (s. Tab. 15). Oft ist eine Abgrenzung zwischen spezifischen technisch-organisatorischen Funktionen und politischen Aufgaben mit allgemeingültigem Anspruch schwierig. Zwar mögen der Internationale Währungsfonds (IMF) und andere internationale Organisationen in weltwirtschaftlichen Problembereichen in einem klassifikatorischen Sinn meist nur technische Dienstleistungsfunktionen erfüllen, viele der in ihnen getroffenen Entscheidungen können aber praktisch von eminent politischer Bedeutung sein-- wenn z. B. handelspolitische Regelungen die Preisstruktur von Rohstoffen und damit Produktions- und Standort- Tab. 15: Merkmale zur Typologie von Internationalen Organisationen (dichotomische Gegenüberstellung) Kriterium entweder-…/ eher z. B. … oder / weniger z. B. Mitgliedschaft/ Bedeutung partikular, regional/ subregional AU, OAS, ASEAN, EU universal, »global« IPU UNO Größe/ Mitglieder wenige (ab 3) NAFTA viele (bis 193) UNO Aufgabengebiet problemfeldspezifisch bzw. sektoral OPEC IAEA alle Bereiche umfassend Kirche UNO Ziele/ Mandat spezialisiert IAEA generell UNO politischer Charakter dienend (administrativ/ technisch/ logistisch) OECD IPU agierend (auch gesellschaftlich/ ökonomisch) NATO WIPO funktionaler Charakter operative Organisation UNICEF Programmorganisation UNO politische Autorität schwach OSCE stark UNO Integrationsgrad »supranational« mäßig: Wahrung von Souveränität UNO NATO intensiv: Abgabe von Souveränität EU Organisationsgrad gering kaum IGOs, viele INGOs hoch fast alle IGOs, aber auch INGOs Struktur einfach komplex Weisungen dezentral hierarchisch Personal ehrenamtlich fest angestellt Finanzierung Spenden Pflicht-Beiträge <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 95 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 95 kosten verändern oder wenn z. B. die Wirtschaftspolitik eines ganzen Landes auf Haushaltssanierung durch Ausgabeneinsparung mit der Folge von sozialen Problemen getrimmt wird. Die unterscheidungsstärksten Kriterien sind in der geographischen Verteilung bzw. Ballung der Mitglieder einer Organisation und in Umfang und Ausrichtung ihrer thematischen Zuständigkeit zu finden; kombiniert ergeben sie zudem eine zur ersten Klassifikation hilfreiche Matrix (s. Tab. 16). Internationale Organisationen können recht provinziell, also auf eine einzige Ecke der Welt orientiert sein oder richtig weltläufig überall auf der Welt aktiv sein; sie können eng auf ein Thema spezialisiert sein oder für alles zuständig sein oder gemacht werden. Um die schräge Analogie zum Menschen weiterzutreiben: Internationale Organisationen haben so etwas wie einen Charakter und zeigen darin Stärken und Schwächen. Einige sind eher Programmorganisationen, die politische und gesellschaftliche Arbeitsprogramme diskutieren, erarbeiten, beschließen und legitimieren, andere haben die Aufgabe zur praktisch-operativen Durchführung solcher Vorhaben; einige sind politisch aus eigener Macht relativ stark oder wie der Sicherheitsrat der UNO sogar sehr stark, andere sind eher schwach und in ihrem Erfolg von anderen Organisationen und dem Wohlwollen von Mitgliedstaaten abhängig. Auch hiermit lässt sich ein Ordnung schaffendes Vierfelderschema konstruieren (s. Tab. 17). Die Unterscheidung in programmatische und operative Organisationen ist empirisch nicht immer sauber zu treffen; so sind viele Organisationen im komplexen UN-System manchmal oder phasenweise beides. Auch die Feststellung der politischen Stärke oder der Effizienz einer Organisation über eine plausible Einschätzung hinaus ist ganz und gar nicht einfach. Wie beim Auspacken einer russischen Puppe sind dennoch weitere Unterabteilungen rekonstruierbar; so kann z. B. unterschieden werden nach der Art der Entscheidungsfindung (Rittberger 1995, S. 32 f.): zentral durch Gremien der Organisation (wie in der UNO) oder dezentral unter den Mitgliedern (wie noch in der EU), wobei die Brauchbarkeit dieser Differenzierung für tatsächliche politische Entscheidungsprozesse zu bezweifeln ist. Tab. 16: Geographische und thematische Reichweiten Internationaler Organisationen (nach Rittberger 1995, S. 31) Zuständigkeit problemfeldspezifisch umfassend Mitgliedschaft partikular regional/ sub-regional z. B. OPEC, OSZE z. B. AU, EU universal global z. B. ILO, WTO z. B. UNO Tab. 17: Funktionaler Charakter und politische Stärke Internationaler Organisationen (nach Rittberger 1995, S. 31) politische Stärke (Bindungskraft, Ressourcen, Durchsetzungsfähigkeit, Effizienz) (eher) niedrig (eher) hoch funktionaler Charakter programmatisch z. B. OSZE z. B. UNO operativ z. B. UN-Sonderorganisationen z. B. OPEC <?page no="96"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 96 96 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Ein schwer zu greifender Sonder- oder Grenzfall ist der Typus der »Supranationalen Organisation«. Die Eigenschaft der Supranationalität einer Organisation wird meist festgemacht am Grad der Integration der Mitgliedstaaten in die Organisation; das politische Kriterium dafür ist das Ausmaß des Kompetenztransfers von den Mitgliedstaaten auf die Organisation: Hat eine Organisation unbestritten eigenständige Kompetenzen, ist sie supranational- - zumindest in dem Sektor, in dem diese Kompetenzen wirken. Konkrete Kriterien für eine Übertragung von Kompetenzen und damit von Souveränitätsrechten von den Mitgliedstaaten auf eine Organisation sind, ● ● ob und wie weit Willensbildung innerhalb der Organisation unabhängig von den Weisungen der Mitgliedstaaten möglich ist, ● ● ob die Entscheidungsfindung innerhalb der Organisation einstimmig erfolgen muss oder nicht, ● ● welche Bindungswirkung Entscheidungen der Organisation für die Mitgliedstaaten haben, ● ● inwieweit der Organisation Finanzautonomie zusteht, ● ● ob sie eine eigene Gerichtsbarkeit zur Absicherung ihrer Kompetenzen einsetzen kann. Derartige Merkmalsbestimmungen und Definitions-Debatten sind viele zu finden, doch als Beispiel für eine (entstehende) supranationale Organisation wird immer nur die EU genannt. Die UNO ist zweifellos in Struktur und Mandat eine konventionelle inter-nationale Organisation, auch wenn ihr Sicherheitsrat unter bestimmten Bedingungen supranational agieren kann (s.- Kap. 4.3.3.2 und 5.2). Dass internationalen Organisationen in mancher Hinsicht politisches Gewicht und Eigendynamik bis hin zu einer eigenständigen Akteursqualität zugesprochen werden kann, macht sie aber noch nicht zu supranationalen Institutionen. »International organization is a process; international organizations are representative aspects of the phase of that process which has been reached at a given time. Inis Claude (1956, S. 4) Internationale Organisation sind politische Institutionen, also als historisch und als wandelbar zu sehen- - von der Gründung einer einfachen zwischenstaatlich-multilateralen über den Aufbau einer komplexen international-universalen bis zu dem Projekt einer integrierten supranationalen Struktur ist ein langer Entwicklungsweg nötig, der nicht gerade sein muss und zwangsläufig auch in Sackgassen führt. An dessen Anfang stehen mindestens zwei-- meist werden drei als Minimum angenommen-- Völkerrechtssubjekte, meist Staaten, aber auch bereits bestehende internationale Organisationen, die durch eine übereinstimmende Willensäußerung eine internationale Organisation gründen können; eine internationale Organisation wird gegründet bzw. eine Institution wird als internationale Organisation etabliert durch einen internationalen Vertrag oder auch durch die Praxis des Handelns von Staaten. Internationale Verträge werden üblicherweise auf einer Staatenkonferenz erarbeitet und ausgehandelt, an der von den Staaten benannte und für sie stimmberechtigte Delegierte teilnehmen; der Vertrag ist zugleich als Satzung oder Charta für die zu gründende Organisation die völkerrechtliche Arbeitsgrundlage, die alle nötigen Strukturen und Regeln festlegt: Name und Sitz, Aufgaben und Kompetenzen, Organe und Arbeitsweisen, Mitgliedschaft und Finanzierung sowie den Status der Mitarbeiter. Klassische vertragsbasierte internationale Organisationen sind die universale Organisation der Vereinten Nationen (UNO) und die mit ihr verbundenen Organisationen oder auch die regionale Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO). Internationale Organisationen können sich in einzelnen Fällen auch aus einer tatsächlichen und regelmäßigen Staatenpraxis entwickeln, so z. B. die internationale Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Fortentwicklung der in der Zeit des Niedergangs der Sowjetunion wichtigen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Doch nicht nur souveräne Staaten insgesamt, auch einzelne staatliche Organe wie übergeordnete Verwaltungen oder Parlamente können durch Willensäußerung und geübte Praxis die Herausbildung <?page no="97"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 97 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 97 internationaler Organisationen bewirken, z. B. im Fall der internationalen Organisation zum polizeilichen Informationsaustausch Interpol, die 1956 aus einer entsprechenden Kommission entstand. Jeweils spezifisch historisch begründete Sonderfälle sind die als solche anerkannten nichtstaatlichen Völkerrechtssubjekte Internationales Komitee vom Roten Kreuz und Malteserorden, die aber formal nicht so recht als internationale Organisationen gelten können. Zum quantitativen Aspekt des modernen Phänomens der Internationalen Organisationen ist zu vermerken, dass weltweite und erschöpfende Kriege jeweils die Entwicklungsschübe des Auf- und Ausbaus international-multilateraler Institutionen motivierten: die napoleonischen Kriege bis zum Wiener Kongress 1815, der Erste Weltkrieg bis zur Gründung des Völkerbunds 1918 und der Zweite Weltkrieg bis zur Gründung der UNO 1945. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Zahl internationaler Organisationen dank der Entkolonisierung und der beschleunigten Globalisierung stark angestiegen; die Zuwächse bei den zwischenstaatlichen Organisationen stagnieren nun schon seit Längerem, während die nichtstaatlichen sich aus der Zivilgesellschaft heraus weiter zu vermehren scheinen (vgl. Rittberger/ Zangl 2008, S. 84-ff; Grande 2009, S. 262; aktuelle Daten der Union of International Associations sind zu finden auf http: / www.uia.or/ ). Je nach angelegtem Maßstab können solche Zahlenangaben stark variieren, aber die Größenordnungen sind deutlich zu erfassen. Die meisten IGOs sind klein und speziell, also in ihrer Mitgliedschaft nur regional oder interkontinental begrenzt bzw. in ihrer Aufgabenstellung spezifisch eingeschränkt; sehr viele sind nach 1945 entstanden; am häufigsten kommen sie in Europa vor. Tab. 18: Anzahl internationaler Organisationen, Verträge, Konferenzen 2001 und 2005/ 2006 bei 192 Staaten 2001 2005/ 2006 Internationale Organisationen/ IGOs [davon universale] 232 [34] 246 [34] Internationale Nichtstaatliche Organisationen/ INGOs [davon universale] 6398 [470] 7308 [474] multilaterale Verträge bzw. Abkommen 2265 2340 autonome Konferenzen bzw. Konferenzserien von IGOs/ NGOs 124/ 569 133/ 582 Quelle: Datenbank der Union of International Associations (UIA), Brüssel, s.-http: / www.uia.org/ bzw. das von der UIA herausgegebene »Yearbook of International Organizations« (z. B. UIA 2010) <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 98 98 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Wichtige selbständige Internationale Regierungsorganisationen (IGOs) Das System der Vereinten Nationen »Kern«-UNO VN UNO Organisation der Vereinten Nationen United Nations Organization »Bretton Woods- System« für Weltwirtschaft/ -handel, Währung und Entwicklung * =-»Weltbank« -Gruppe früher GATT Weltbank IBRD Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung International Bank for Reconstruction and Development *IDA Internationale Entwicklungsorganisation International Development Association *IFC Internationale Finanz-Korporation International Finance Corporation *MIGA Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur Multilateral Investment Guarantee Agency *ICSID Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten International Centre for Settlement of Investment Disputes IMF Internationaler Währungsfonds International Monetary Fund WTO Welthandelsorganisation World Trade Organization weitere UNO-Organisationen für wirtschaftliche, soziale, kulturelle und entwicklungspolitische Aufgaben ILO Internationale Arbeitsorganisation International Labour Organization FAO Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation Food and Agriculture Organization IFAD Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung International Fund for Agricultural Development UNESCO Organisation der VN für Erziehung, Wissenschaft und-Kultur UN Educational, Scientific and Cultural Organization WHO Weltgesundheitsorganisation World Health Organization UNIDO Organisation für industrielle Entwicklung UN Industrial Development Organization <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 99 4.1 Was sind Internationale Organisationen? 99 UNO-Organisationen mit wissenschaftlichen, technischen und logistischen Aufgaben WPV UPU Weltpostverein Universal Postal Union ITU Internationale Fernmeldeunion International Telecommunication Union IMO Internationale Seeschifffahrtsorganisation International Maritime Organization ICAO Internationale Zivilluftfahrt-Organisation International Civil Aviation Organization WMO Weltorganisation für Meteorologie World Meteorological Organization mit der UNO verbundene Organisationen mit wissenschaftlichen und technischen Aufgaben, zumal zur Beobachtung und Überwachung WIPO Weltorganisation für geistiges Eigentum World Intellectual Property Organization UNWTO Weltorganisation für Tourismus UN World Tourism Organization IAEO IAEA Internationale Atomenergie-Organisation International Atomic Energy Agency OPCW Organisation für das Verbot chemischer Waffen Organization for the Prohibition of Chemical Weapons CTBTO Organisation des Nuklearversuchsverbots-Vertrags Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization Die Europäischen Organisationen (EU und andere) europäische Organisationen für Frieden und Sicherheit OSZE OSCE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in-Europa Organization on Security and Co-operation in Europe WEU Westeuropäische Union Western European Union politische Integration europäische Organisationen für Wirtschaft, Handel und Politik EU EG/ EC EWG/ EEC Die Europäische Union/ European Union [Europäische Gemeinschaft] [Europäische Wirtschaftsgemeinschaft] EFTA Europäische Freihandelsassoziation European Free Trade Association BENELUX (Wirtschaftsunion von Belgien, Niederlande, Luxemburg) EBWE EBRD Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung European Bank for Reconstruction and Development MR-Gerichtshof CE Europarat Council of Europe <?page no="100"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 100 100 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen europäische Organisationen mit wissenschaftlichen, technischen und logistischen Aufgaben Europäische Patentorganisation (EPO) Europäische Zivilluftfahrtkonferenz (ECAC) Europäische Organisation für Flugsicherung (EUROCONTROL) Europäische Konferenz der Verwaltungen für Post und Telekommunikation (CEPT) Europäische Weltraumorganisation (EWO/ ESA) Europäisches Laboratorium für Teilchenphysik (CERN) Europäische Organisation für Molekularbiologie (EMBO) Europäische Organisation für astronomische Forschung in der südlichen Hemisphäre (ESO) Europäisches Hochschulinstitut (EUI) regionale europäische Organisationen Rat der Ostseestaaten Nordische Zusammenarbeit Schwarzmeer-Wirtschaftskooperationsregion Zentralkommission für die Rheinschifffahrt Donaukommission Weltweite wirtschaftliche Organisationen nördliche Industrieländer OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und-Entwicklung Organisation for Economic Co-operation and Development † RGW COMECON Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Council for Mutual Economic Assistance »Öl-Kartell« OPEC Organisation Erdölexportierender Länder Organization of Petroleum Exporting Countries Kontinentale und regionale Organisationen † Freihandelszonen bzw. Ansätze dazu und militärische Bündnisse sind hier nicht aufgeführt OAS Organisation Amerikanischer Staaten Organization of American States OAU Organisation für Afrikanische Einheit Organisation of African Unity AU Afrikanische Union African Union OIC Organisation der Islamischen Konferenz Organization of the Islamic Conference LAS Liga der Arabischen Staaten/ Arabische Liga League of Arab States ASEAN Vereinigung Südostasiatischer Nationen Association of Southeast Asian Nations <?page no="101"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 101 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 101 Militärische Bündnisse von globaler Bedeutung »Atlantisches Bündnis« NATO Organisation des Nordatlantikvertrags North Atlantic Treaty Organization »Warschauer Pakt« † (WVO) Warschauer Vertragsorganisation Selbständige Internationale Gerichtshöfe durch internationalen Vertrag der IGH/ ICJ ist UN-Hauptorgan, andere Straftribunale sind nicht selbständig ITLOS Internationaler Seegerichtshof (Hamburg) International Tribunal for the Law of the Sea ICC Internationaler Strafgerichtshof (Den Haag) International Criminal Court Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 4.1 Archer 2001; Barnett/ Finnemore 2004; Claude1956/ 1971; Hobe 2008; Karns/ Mingst 2010; Kaul 2010; Rittberger 1995; Rittberger/ Zangl 2008; Ruggie 1992; Schraepler 1994; Union of International Associations 2010 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation Funktionsspezifische internationale Organisationen entstanden aus pragmatischen Gründen, wenn ein technisches oder logistisches Problemfeld Staatsgrenzen überschreitend abgestimmt geregelt und organisiert werden musste wie in den klassischen Fällen von Post/ Telekommunikation/ Verkehr; universale internationale Organisationen mit nicht spezifisch eingegrenzten, sondern weitreichendem oder gar umfassendem politischen Anspruch entstanden aus Krieg und Zerstörung. Alle internationalen Organisationen und insbesondere der komplexe Kosmos der heutigen UNO sind nur aus ihrer Geschichte und der geschichtlichen Situation zur Zeit ihrer Entstehung heraus zu verstehen (vgl. Eisele 2007, S. 131 ff.). Der Wiener Kongress ordnete die Welt nach der Französischen Revolution und den langen napoleonischen Kriegen neu, der Völkerbund entstand aus dem Ersten Weltkrieg als Versuch, der Unfähigkeit der Nationen zum Frieden eine friedenswahrende Instanz entgegenzusetzen, die UNO wurde aus dem und noch im Zweiten Weltkrieg geschaffen, der die drohende Möglichkeit der Zerstörung der menschlichen Zivilisation aufzeigte- - schon vor dem ersten Einsatz von Atombomben im August 1945. Sogar die Bezeichnung der neuen Organisation als die der »Vereinten Nationen« zeigt, wie sehr sie ein unmittelbares Produkt des Zweiten Weltkriegs ist: Als die gegen Deutschland, Italien und Japan kämpfenden Alliierten Anfang 1942 eine gemeinsame programmatische Botschaft abgaben, nannten sie diese die »Erklärung der Vereinten Nationen« (»Declaration by United Nations«), woher die Bezeichnung »United Nations Organisation« stammt. Internationale Organisationen wurden als »gefrorene Entscheidungen« bzw. als »Geschichte verschlüsselt in Regeln« (Keohane 1988, S. 384, March/ Olson 1984, S. 741) umschrieben, wobei zumal das frostige Bild die unvermeidliche Ambivalenz deutlich macht: Nur jeweils in einer historischen, also einmaligen spezifischen Situation, die nicht auf Dauer so sein wird, sind konkrete Festlegungen möglich, die notwendigerweise immer auch auf Bedingungen dieser spezifischen Situation eingehen und diese somit in Form von bleibenden Regelungen festschreiben; diese organisatorischen Regelungen bleiwww.claudia-wild.de: <?page no="102"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 102 102 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ben aus machtpolitischen Motiven und wegen der Verfahrensprobleme bei einer Änderung oft bestehen, selbst wenn die Entstehungssituation und ihre Zwänge kaum noch erinnerlich sind. Somit kann der historische Glücksfall im epochalen Unglück, dass ein großer Kompromiss wie die Charta der Vereinten Nationen zustande kam, Jahrzehnte später ein Gefühl der Kältestarre bewirken, wenn vom geschichtlichen Prozess politisch überholte Strukturen wie die Verteilung der ständigen Sitze im Sicherheitsrat der UNO geltendes und kaum veränderbares Recht bleiben. Die Einrichtung des sog. Vetorechts für die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats ist in doppeltem Sinne ein historisches Produkt: sie spiegelt nicht nur die Machtstruktur gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wieder, sondern zieht auch eine wichtige Lehre aus dem Scheitern des Völkerbunds; in ihm hatten die damaligen Großmächte keine vergleichbaren, ihrer hegemonialen Stellung entsprechenden Vorrechte und daher-- ganz im Sinne der Theorie der hegemonialen Stabilität (s.-Kap. 3.1.3)-- wenig Interesse an der Organisation als Instrument. Dass die Entstehung der UNO wesentlich vom Verhalten von zwei der schlimmsten Massenmörder der Weltgeschichte geprägt wurde-- von Hitler als Feind der Zivilisation und zu besiegenden Kriegstreiber, von Stalin als notwendigem Alliierten im Krieg und zwangsläufig als Kooperationspartner zur Schaffung einer neuen Friedensordnung-- ist kein Makel, sondern zeigt nur, wie ernst die Aufgabe der Organisation ist. 4.2.1 Ideen und Ansätze zu internationalen Organisationen Der Traum vom Frieden in der Welt ist so alt wie der Krieg-- also so alt wie die Menschheit. Wer immer über die Verwirklichung dieses Traums nachdachte, dem wurde schnell klar, dass dafür nicht nur wenigstens der Kern einer universalen Friedensethik als gültig vorauszusetzen war, sondern die Erfüllung des Friedenswunschs auch politisch gesichert werden musste, sei es durch die übergeordnete Macht eines Imperiums oder Reiches, sei es durch ein verbindliches Regelsystem, das alle potentiellen Friedensstörer zum Wohlverhalten verpflichtet. ● ● In der europäischen Antike gründeten die griechischen Poleis (Stadtstaaten) defensive Bünde zum gegenseitigen Schutz und auch offensive gegen politische Konkurrenten, also eher Militärbündnisse als Friedensorganisationen. Das Römische Imperium war in seiner besten Zeit nicht nur durch die faktische Unterwerfung unter eine Zentralmacht, sondern schon durch die Idee der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens unter dem rechtlichen und politischen Schirm des Kaisertums legitimiert (»pax romana«). ● ● Im Mittelalter sah man das Friedensproblem in Analogie dazu meist nur dann als lösbar, wenn ein universelles Reich unter der weltlichen Herrschaft des Kaisers und/ oder der geistlichen Herrschaft des Papstes die bekannte Welt beherrschte. Das Konzept eines Unterschiede und Gegensätze ausgleichenden »Weltstaats« mit einer aktiv Eintracht erzwingenden einheitlichen »Weltregierung« lässt sich bei dem Mönch Engelbert von Admont im frühen 14. Jahrhundert finden, auch der Dichter Dante Alighieri dachte zu dieser Zeit über eine Gerechtigkeit schaffende Weltmonarchie nach. ● ● Im Übergang zur Neuzeit wurden schon differenziertere Optionen durchdacht: der böhmische König Georg von Podiebrad entwarf z. B. 1462 einen recht konkreten und anspruchsvollen Staatenbundplan, nach dem eine europäische Friedenskonferenz ein Schiedsgericht zur Streitschlichtung einrichten und mit einer gemeinsamen Armee Frieden schaffen sollte. Mit dem Aufkommen der Nationalstaaten als einheitliche Träger der Souveränität im modernen Staatensystem der Neuzeit- - historisch am Ende des Dreißigjährigen Krieges im Vertragswerk des »Westfälischen Friedens« von 1648 zu greifen (s.-Kap. 2.1)-- hatten sich alle Überlegungen zu einer Friedensordnung an den Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten zu halten: Jede Art zentralisierter bzw. hierarchischer Herrschaftsform, die statt der nationalstaatlichen Regierungen bzw. über diese Regelungskompetenz hätte, wie ein <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 103 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 103 Reich oder Imperium mit einer zentralen Weltregierung, war nicht mehr denkbar, wohl aber Staaten- Bünde bzw. zwischenstaatliche Institutionen. Rasch nun wurden die unterschiedlichsten Ideen und Konzepte zur Organisation der internationalen Gemeinschaft vorgeschlagen; Urheber waren »Praktiker« wie der französische König Heinrich IV. oder der Herzog von Sully, vor allem jedoch Gelehrte: Hugo Grotius, Eméric Crucé, William Penn, Abbé de Saint-Pierre, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Jeremy Bentham. Einige Beiträge zeichneten recht konkret die Struktur und Funktionsweise der späteren internationalen Organisationen vor; in »De jure belli et pacis« (”Über das Kriegs- und Friedensrecht«) von 1652 klärte der Jurist Grotius erstmals die Grundsätze des internationalen Rechts; in »Zum ewigen Frieden« gab der Philosoph Kant eine Argumentationsvorlage zu den Möglichkeiten internationaler Organisation, mit der heute noch gerne gearbeitet wird. ● ● Im 19. und 20. Jahrhundert bildeten sich zuerst in den USA und Großbritannien, später in ganz Europa die unterschiedlichsten Friedensgesellschaften als eine Art früher nichtstaatlicher Organisationen; sie waren sowohl intellektuell angeregt von jenen friedenstheoretischen Werken als auch religiös und idealistisch vom Friedenswunsch inspiriert, aber auch materiell motiviert aus Erwägungen von ökonomischen Kosten und Nutzen. Auf diversen internationalen Friedenskongressen wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts Abrüstung, internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts u. v. m. diskutiert; die Ergebnisse wurden mit allen möglichen Werbemitteln in Gesellschaft und Politik hinein propagiert. Wie jede Friedensbewegung als weltfremd und naiv geschmäht, hatte sie angesichts des in den meisten Ländern eher nationalistischen und militaristischen Zeitgeistes überraschend viel Erfolg; einige ihrer Forderungen gingen in die Tagesordnungen der internationalen Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 ein. Der Kampf gegen das Wettrüsten ging verloren, aber wenigstens humanitäre Regeln für die Kriegführung konnten durchgesetzt werden. Erst die nach der anfänglichen Kriegseuphorie als epochale Katastrophe begriffene Erfahrung des Ersten Weltkriegs gab dem Gedanken der Friedensorganisation den nötigen Spielraum. Die USA übernahmen 1917 mit ihrem Eintritt in den Krieg, was diesen entschied, und der Forderung nach einem »Völkerbund«, dessen Gründung ihr Präsident Woodrow Wilson 1918 als letzten seiner »14 Punkte« zum amerikanischen Kriegsziel erhob, die weltpolitische Führungsrolle (was die meisten Europäer erst viel später bemerkten): »Es muss eine allgemeine Vereinigung der Nationen mit bestimmten Vertragsbedingungen gebildet werden, zum Zwecke gegenseitiger Garantieleistungen für die politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen wie der kleinen Staaten.« Einzelne funktionsspezifische internationale Organisationen sind älter als die UNO von 1945, manche älter als der Völkerbund von 1919 und einige stammen gar aus dem 19. Jahrhundert. ● ● Als älteste internationale Organisation gilt die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ZKR/ CCNR), die schon auf dem Wiener Kongress von 1815 gegründet worden war und nach einigen rechtlichen und organisatorischen Änderungen bis heute arbeitet. Der naturwissenschaftliche Fortschritt und die technische Entwicklung zwangen schon im 19. Jahrhundert die sich industriell rasch entwickelnden Nationalstaaten in wichtigen Bereichen zu formeller internationaler Kooperation, damit die rapide technisch-ökonomische Entwicklung auch sozialorganisatorisch ermöglicht und umgesetzt werden konnte. ● ● Noch vor Post und Eisenbahn wurde das Fernmeldewesen grenzüberschreitend koordiniert: Die Internationale Fernmeldeunion in Genf wurde 1865 als »Welttelegraphenverein«/ International Telegraph Union (ITU) gegründet und heißt seit 1934 International Telecommunication Union (ITU); 1949 wurde sie durch Kooperationsverträge eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen-- und ist wohl die älteste der internationalen Organisationen im Rahmen des UN-Systems. ● ● Das Wetter als selbst im klassischen Zeitalter der Nationalstaaten naturgemäß übernationales Phänomen zwang die Meteorologie früh dazu, sich auch international zu organisieren: die UN-Sonderorganisation World Meteorological Organization (WMO) entstand 1950 aus der International Meteorologiwww.claudia-wild.de: <?page no="104"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 104 104 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen cal Organization (IMO), die schon 1873 in Wien gegründet worden war. Ihr Zweck war neben dem fachlichen Austausch die Verbesserung und Standardisierung meteorologischer Methoden. Die IMO war aber keine internationale Regierungsorganisation, sondern eigentlich eine internationale nichtstaatliche Organisation (also ein »INGO«), weil ihre Mitglieder die Chefs einzelner Wetterdienste als Personen waren, nicht ihre Staaten wie dann später bei der WMO. ● ● Eine internationale Postorganisation gibt es seit 1874, als die General Postal Union mit Sitz in Bern/ Schweiz gegründet wurde; wegen ihres raschen weltumspannenden Erfolgs bei der Regelung und Standardisierung des grenzüberschreitenden Postverkehrs konnte sie schon 1878 in Universal Postal Union (UPU) umbenannt werden. 1948 wurde sie durch Kooperationsverträge als Regierungsorganisation eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. ● ● Man sollte erwarten, dass neben den Absprachen und Regelungen im Postwesen besonders die Eisenbahnen in einer fachspezifischen internationalen Organisation koordiniert worden wären. Schließlich mussten sie bald nach ihrem regionalen Aufbau überregional und international technisch und betriebsorganisatorisch aufeinander abgestimmt werden, damit ihre Leistungskraft und ihr Innovationspotential voll genutzt werden konnten. Aber der Internationale Eisenbahnverband (UIC) wurde erst 1922 mit Sitz in Paris gegründet, seine Mitglieder sind Bahnen und Unternehmen, nicht die Staaten, und er ist nie eine formelle Bindung zum UN-System eingegangen. Die frühen internationalen Organisationen erfüllten in der Sache meist unpolitische Aufgaben auf der Ebene grenzüberschreitenden Verwaltungshandelns, indem sie die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten überwachten und die Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungen koordinierten; aber schon allein diese internationale Praxis konnte von politischer Bedeutung sein. Als Folge der Erschütterungen der europäischen Staatenwelt durch den Ersten Weltkrieg wurde die internationale Kooperation dann politischer. ● ● Mit der »sozialen Frage«, die im Zuge der Industrialisierung das 19. Jahrhundert geprägt hatte, wurde 1919 erstmals ein politisch heikler Arbeitsbereich für eine internationale Organisation etabliert; die Versailler Friedenskonferenz, die auch den Völkerbund schuf, gründete die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization/ ILO), oft missverständlich das »Internationale Arbeitsamt« genannt. Sie soll die Bedingungen und Standards menschenwürdiger Arbeit festlegen und sichern. 1946 wurde die ILO zu einer der ersten Sonderorganisationen der UNO. Außerdem gab es einige internationale Gruppen, Zusammenschlüsse und Institutionen, aus denen sich mit der Zeit formelle internationale Organisationen entwickeln konnten; meist waren das, als eine frühe Form der internationalen Zivilgesellschaft, Initiativen von Wissenschaftlern und technischen Experten wie das Internationale Landwirtschaftsinstitut von 1905, aus dem 1945 die Welternährungsorganisation (FAO, Rom) wurde. Eine politische Sonderstellung unter den frühen internationalen Institutionen hatte der Ständige Schiedsgerichtshof zur Beilegung internationaler Streitigkeiten (in Den Haag); er war von der ersten Haager Friedenskonferenz von 1899 geschaffen worden, wurde dann allerdings wenig genutzt (bis 1914 gerade mal in einem guten Dutzend Fällen). 4.2.2 Die verwirklichte Idee des Völkerbunds und sein Scheitern Der Völkerbund war die erste internationale Organisation mit universalem Anspruch, in der also möglichst alle Staaten neben der Hauptaufgabe der Friedenswahrung auch tendenziell das ganze Spektrum internationaler Probleme bearbeiten konnten. Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde 1919 die Nachkriegsordnung festgelegt; eines ihrer wesentlichen Elemente wurde der Völkerbund, dessen Satzung und Gründung US-Präsident Woodrow Wilson persönlich vorantrieb. Die neuartige internationale Organisawww.claudia-wild.de: <?page no="105"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 105 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 105 tion hatte 42 Gründungsmitglieder; als ihr Sitz wurde Genf bestimmt. Entsprechend der logischen Grundstruktur internationaler Organisationen, die fast allen auch tatsächlich gemeinsam ist, waren die Organe des Völkerbunds: ● ● eine nicht ständig tagende Versammlung aller Mitgliedstaaten als Diskussionsforum und Entscheidungsgremium: die Bundesversammlung, die nie mehr als 57 Staaten gleichzeitig umfasste; ● ● ein ständig bzw. auf kurzfristige Einladung tagender Exekutiv-Ausschuss, der dank seiner geringen Mitgliederzahl noch ein arbeitsfähiges Gremium ist und die eigentliche politische Arbeit leistet: der Völkerbundrat mit vier bis fünf ständigen und vier bis elf nichtständigen Mitgliedern; ● ● ein ständiges Sekretariat mit einer unabhängigen, nur der internationalen Organisation verpflichteten Beamtenschaft unter Leitung eines Generalsekretärs für die Verwaltungsaufgaben und zur Koordination der Arbeit der Organisation: das Sekretariat; ● ● Nebenorgane mit unterschiedlichem Status für besondere Aufgaben: Ständige Mandatskommission, Abrüstungsausschuss u. a.; ● ● ein Gerichtshof als Schiedsstelle für Streitigkeiten unter den Mitgliedern: der Ständige Internationale Gerichtshof (Den Haag) seit 1920, der allerdings formal eine autonome Organisation war. Die wichtigste Aufgabe des Völkerbunds sollte es sein, den Frieden zunächst durch eine allgemeine Abrüstung zu gewährleisten. Seine Mitglieder waren einerseits zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten verpflichtet, anderseits hatten sie bei Verstößen dagegen auch die Pflicht zum gegenseitigen Beistand, um Aggressoren abzuschrecken (nach dem Konzept der »kollektiven Sicherheit«, s.-Kap. 5.2.); die gegenseitige Schutzverpflichtung sollte wiederum das Abrüsten möglich machen. Darüber hinaus sollte der Völkerbund den alltäglichen Verkehr der Staaten untereinander nachhaltig konfliktmildernd prägen. Das konnte aber schon allein deswegen nicht gelingen, weil einige, auch wichtige Staaten nie oder zeitweise nicht Mitglieder des Völkerbunds waren und Universalität also nie erreicht wurde. Das besiegte Deutschland wurde erst 1926 unter Schwierigkeiten aufgenommen und trat bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1934 wieder aus. Das infolge der Revolution von 1917 stark mit sich selbst beschäftigte Russland wurde erst 1934 aufgenommen. Das am schwersten wiegende Problem war, dass sich in den USA ungeachtet des Engagements der Wilson-Administration politisch wieder die isolationistische Doktrin, sich nicht in den Streit der europäischen Mächte hineinziehen zu lassen, durchsetzen konnte: 1920 lehnte der amerikanische Senat den Versailler Friedensvertrag und damit den Eintritt der USA in den Völkerbund definitiv ab. Damit standen Großbritannien und Frankreich als liberal verfasste Großmächte allein gegen die erstarkenden faschistischen Kräfte in Europa. Um die historische Leistung des Völkerbunds einzuschätzen, braucht man angemessene Kriterien; zumal die ihm gegebenen Bedingungen und von den Staaten zugestandenen Kompetenzen sollte man fairerweise betrachten, bevor man leichtfertig der gängigen Rede von seinem »Scheitern« folgt. Sofern dies nur meint, dass der Völkerbund kein ausreichendes Instrumentarium hatte, um seine Aufgaben erfüllen zu können, ist zuzustimmen: ● ● Er hatte generell zu wenig Kompetenzen, ● ● insbesondere hatte er keine eigenen Streitkräfte bzw. nicht die Autorität, Aufgaben an Streitkräfte der Mitgliedstaaten zu delegieren, ● ● insgesamt hatte er faktisch keinerlei Sanktionsmacht gegen Staaten, die gegen seine Satzung verstießen. Dass der Völkerbund als politische Organisation so wenig Einfluss auf die Staaten ausüben konnte, lag wohl an einem Konstruktionsfehler: Die Großmächte hatten satzungsgemäß bzw. institutionell keinen besonderen Einfluss (wie dann später z. B. durch das berüchtigte sog. Veto im Sicherheitsrat der UNO; s.-Kap. 4.3.3.1), sondern alle Mitglieder konnten rechtmäßig ihre Kooperation verweigern. Beschlüsse des Völkerbundsrats konnten nur einstimmig gefällt werden, also mit Zustimmung aller fünf ständigen (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Deutschland 1926-1933 bzw. UdSSR 1933-1939) wie aller <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 106 106 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen neun nichtständigen Mitglieder, was insofern allen ein »Veto«-Recht gab; nur direkt beteiligte Konfliktparteien hatten bei entsprechenden Abstimmungen kein Stimmrecht. Sofern dem Völkerbund aber mit dem Vorwurf des »Scheiterns« die Verantwortung dafür zugeschoben werden soll, dass der Frieden nicht gewahrt werden konnte, ist das falsch, denn die Schuld ist vielmehr in Gesellschaft, Politik und Militär seiner Mitgliedstaaten zu suchen: Wie jede internationale Organisation konnte auch der Völkerbund nur so gut sein wie seine Mitglieder es zulassen wollten. Insbesondere die hehre und oberste Aufgabe, eine allgemeine Abrüstung zu verwirklichen, bekam seitens der Staaten keine Chance. Wiewohl der Völkerbund in kleineren Streitfällen erfolgreich vermitteln konnte, erwies sich sein Mechanismus als ungenügend, wenn parteilich interessierte und/ oder mitentscheidende Mitgliedsregierungen die Kooperation verweigerten. So konnte Japan 1931 als ständiges Ratsmitglied durch geschicktes Taktieren Maßnahmen gegen seine illegale Invasion der Mandschurei verzögern und schließlich ganz verhindern; 1936/ 37 konnte Italien einen Eroberungskrieg gegen Abessinien (heute Äthiopien) führen, ohne dass sich die Großmächte Frankreich und Großbritannien von ihren alten machtpolitischen und geheimdiplomatischen Verhaltensmustern lösen und sich auf ein kollektives Vorgehen im Völkerbund einigen konnten. Diese krassen Misserfolge bei der friedlichen Streitbeilegung und der kollektiven Sicherheit diskreditierten die Organisation bis zur faktischen Einstellung ihrer Arbeit zu Beginn des Zweiten Weltkriegs; im April 1946 wurde der Völkerbund auch formal aufgelöst. Wie viel sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts im Verhalten souveräner Staaten zueinander gewandelt hat, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass damals Krieg unbestritten als ein taugliches Instrument der internationalen Politik galt und auch völkerrechtlich noch durchaus legitim war-- egal ob Verteidigungs- oder Angriffskrieg, sofern er nur formell erklärt war. Nach der Völkerbund-Satzung waren die Staaten lediglich gehalten, nach einem ihnen nicht genehmen Schiedsspruch durch den Internationalen Gerichtshof nicht vor Ablauf einer Frist von drei Monaten einen Krieg zu beginnen- - das bloß relative Kriegsverbot bot immer noch die Möglichkeit, legal Krieg zu führen. Die Kooperation der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert war nur phasenweise gelungen, ohne Kontinuität. Der Völkerbund war ein erster auf Dauer und Verlässlichkeit gerichteter Versuch, internationale Sicherheit zu schaffen: Das mit bilateraler Geheimdiplomatie austarierte Gleichgewicht der Mächte wäre zu überformen gewesen durch das in multilateralen Verhandlungen gepflegte Prinzip der kollektiven Sicherheit durch gegenseitige Kooperation. Der erste Anlauf dazu endete allerdings in der Tat ohne Erfolg, die Hürden des alten Denkens in nationalen Egoismen und Weltbildern waren noch zu hoch. Die Haager Friedenskonferenzen und die Schaffung des Völkerbunds waren von idealistischen Befürwortern und kämpferischen Aktivisten propagiert worden, aber diejenigen, die das neue Instrumentarium praktisch umsetzen und seine Chancen nutzen sollten, waren traditionell-- also »realistisch« und zumal nationalistisch-- eingestellte Militärs, Diplomaten und Politiker gewesen. Auch die UNO entstand aus dem laufenden mörderischen Geschehen des Zweiten Weltkriegs heraus auf Initiative von Regierungen späterer Siegermächte, nicht als kühner Entwurf für eine bessere Weltorganisation aus der Mitte der »Völker«. Aber immerhin setzten nach den Erfahrungen der Weltkriege jeweils politische Lernprozesse ein; der Völkerbund war als lehrreicher Vorläufer der heutigen UNO ein wichtiges Element einer Zivilisierung der internationalen Politik, in der wir noch mitten drin stecken und die sicherlich noch lange Zeit brauchen wird. <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 107 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 107 4.2.3 Die Entstehung der UNO aus dem Zweiten Weltkrieg Der Kampf gegen Deutschland und Japan wurde ohne den Völkerbund gewonnen. Die Alliierten im Zweiten Weltkrieg sahen in der gescheiterten ersten Weltorganisation kein geeignetes Instrument mehr gegen staatliche Aggression. Gleichwohl schien es schon mitten im größten und schlimmsten Krieg der Geschichte selbstverständlich, dass mit seinem Ende auch eine neue, umfassendere und bessere internationale Organisation zu gründen sei, die diesmal dauerhaft in der Lage sein sollte, Krieg und Kriegsverbrechen zu verhindern. Obwohl bei Aushandlung und Gründung der neuen Organisation jeder explizite Bezug auf den Völkerbund vermieden wurde, gleichen sich beide in Ansatz und Struktur so sehr, dass von Kontinuität gemäß der Idee einer internationalen Friedensorganisationen auszugehen ist. Die USA, nicht nur die nun militärisch stärkste Macht, sondern auch der aktivste Protagonist der Neugründung, setzten offenbar voraus, dass allein schon ihre tragende Rolle genügen würde, um diesmal den Erfolg zu sichern. Aus Rücksicht auf diesen machtunterlegten Optimismus monierte niemand, dessen Stimme ins Gewicht fiel, dass ohne eine grundsätzliche konzeptionelle Debatte die Gefahr bestand, dass lediglich die alten Rezepte ein wenig modifiziert fortgeschrieben würden. Völkerbund und seine Nachfolgerin UNO zeigen-- in unterschiedlicher Mischung machtpolitischer Motive und pazifistischer Losungen-- beide diese Merkmale: ● ● Institutionalisierung des im vorausgegangenen Krieg siegreichen Bündnisses in einem System der »kollektiven Sicherheit« unter Vorrang der Großmächte als den einzigen Staaten, die als »ständige Mitglieder« ohne zeitliche oder andere Einschränkung im wichtigsten Gremium Sitz und Stimme haben; ● ● Bemühen um Rüstungsbegrenzung, beschworen als »Abrüstung«; ● ● weitere rhetorische Formeln und Bekenntnisse zu hohen moralischen Prinzipien und Zielen, insbesondere zur Achtung der Normen des Völkerrechts, in Präambel und Vertragstext; ● ● Entwicklung und Ausbau der Beziehungsgeflechte zwischen den Staaten im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich; ● ● friedliche Streiterledigung; Einsatz einer Schiedsgerichtsbarkeit; ● ● Einrichtung von (eigenständigen) Fachorganisationen. »Auf diese Weise wurde die einmalige Gelegenheit versäumt, eine an den Bedürfnissen der Staatengemeinschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgerichtete Weltorganisation zu schaffen. Erfahrene Politiker hätten durchaus vorhersehen können, daß sich die weltpolitische Lage weiter verändern würde. […] Es hätte somit nicht eines Systems bedurft, das den noch zu definierenden Status quo bewahren konnte, sondern vielmehr institutioneller Mechanismen, die einen kontrollierten Wandel ermöglicht hätten. Die Staatengemeinschaft hätte 1945 in erster Linie zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten (Siegern und Besiegten) andere Institutionen benötigt als die, deren Streitigkeiten die beiden Weltkriege ausgelöst hatten, und erst in zweiter Linie ein praktisches Instrument für dauerhafte Verhandlungen auf internationaler Ebene zwischen Staaten und Völkern mit gegenläufigen Interessen und Ideologien. Dies hätte Institutionen vorausgesetzt, die sich grundlegend vom Völkerbund unterschieden, der gerade erst versagt hatte. […] Auf diese Weise hätte die Weltorganisation eine ganz andere Struktur erhalten: mit regionalen Kooperationsbündnissen, einem System der regionalen Vertretung auf Weltebene und einem mit wirtschaftlichen und militärischen Befugnissen ausgestatteten Sicherheitsrat als echtem Verhandlungsforum für die Großmächte und die großen regionalen Bündnisse. Stattdessen führten das Gemenge althergebrachter Vorstellungen über die absolute Souveränität und die kollektive Sicherwww.claudia-wild.de: <?page no="108"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 108 108 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen heit sowie die Hoffnung, die bestehenden Vormachtstellungen in den Einflußgebieten und die Kolonialreiche zu erhalten […], zu einem im Bereich der kollektiven Sicherheit nur unwesentlich veränderten ›zweiten Völkerbund‹.« Maurice Bertrand (1995, S. 37 ff.) Die Entstehung der UNO verlief in vier Phasen: ● ● Überlegungen, klärende Gespräche und erste konzeptionelle Absprachen (Dezember 1941 bis Sommer 1944), ● ● konkrete Verhandlungen zur Festlegung der Struktur (August/ September 1944), ● ● verbindliche Entscheidungen in Interessenkonflikten (Februar 1945), ● ● Konsenssuche und Gründungs-Beschluss (April-Oktober 1945). Schon im August 1941, als die USA noch gar nicht in den Krieg eingetreten waren, berieten der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill über Pläne zu einer Nachkriegsordnung. Die Abschlusserklärung, veröffentlicht als »Atlantik-Charta«, weil das Treffen an Bord des britischen Schlachtschiffs »Prince of Wales« mitten im atlantischen Ozean stattfand, betonte als wesentliche Prinzipien der zukünftigen Weltordnung das Selbstbestimmungsrecht der Völker, den internationalen Freihandel, aber auch internationale Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und sozialen Fragen und zumal den Gewaltverzicht der Staaten untereinander. Über die Schaffung einer neuen internationalen Organisation anstelle des Völkerbunds wurde zwar gesprochen, doch vorerst lediglich die Absicht zur »Errichtung eines weiteren und dauernden Systems der allgemeinen Sicherheit« verkündet. Die Idee der Amerikaner war wohl, dass sie und die Briten nach dem Krieg als hegemoniale Ordnungsmächte die internationale Sicherheit garantieren könnten, während die anderen Staaten abrüsten sollten. Doch der Fortgang des Krieges zeigte schnell, dass dies nicht realistisch sein würde, da zur Bezwingung von Deutschland, Italien und Japan eine breitere Koalition von Alliierten nötig war. Zum Beginn des Jahres 1942 beschloss dieses um viele weitere Staaten erweiterte Kriegsbündnis die (für die spätere UNO namengebende) »Erklärung der Vereinten Nationen« (»Declaration by United Nations«). Vor allem aber sollte auch die Sowjetunion (UdSSR) unter ihrem Diktator Josef Stalin als alliierte Großmacht gewonnen werden, wofür ihr eine mit der amerikanischen und britischen gleichberechtigte Stellung als Schutzmacht für die spätere internationale Ordnung zugestanden werden musste: Aus der atlantischen Zweier-Hegemonie wurden durch die Dynamik des Weltkriegs rasch zunächst die »großen Drei« und dann sogar die »großen Vier«, als die drei Großen auf ihrer Außenministerkonferenz in Moskau im Oktober 1943 beschlossen, auch China als Garantiemacht für den Weltfrieden anzusehen; mit dem befreiten Frankreich waren es 1945 dann fünf. Auf der Moskauer Konferenz und in deren Abschlusserklärung wurde deutlich, dass also aus dem hegemonialen Denken und Vorgehen heraus nun doch ein stärker multilaterales Moment entstanden war: Erstmals wurde offiziell und explizit die Absicht erklärt, eine neue Weltorganisation als Ersatz für den Völkerbund zu gründen. Das sollte in einem eigenen Konsultations- und Verhandlungsprozess vorbereitet werden. Ungeachtet der Aufwertung (des noch lange über das Kriegsende hinaus vor allem mit sich selbst beschäftigten) Chinas und des Zuwachses der Bedeutung der mittleren und kleineren Alliierten machten die »großen Drei« die Grundsatzentscheidungen unter sich aus, wobei ihre Vorstellungen zunächst oft sehr kontrovers waren: Die UNO ist von ihrer Entstehung an durchweg ein Verhandlungskompromiss. Eine erste wichtige Struktur-Entscheidung fiel auf der Konferenz in Teheran im November 1943 zwischen ● ● einer regionale Konzeption, nach der die USA, Großbritannien und die Sowjetunion jeweils in ihren verschiedenen Weltregionen Amerika, Europa und dem Fernen Osten unabhängig voneinander als Hegemonialmächte den Frieden sichern sollten, was Churchill und Stalin bevorzugten, <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 109 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 109 ● ● und einer universalen Konzeption, nach der die Großmächte mit einer gemeinsamen weltweiten Zuständigkeit die Verantwortung für den Weltfrieden übernehmen müssten, was Roosevelt vertrat und gegen die beiden anderen durchsetzen konnte. »The United Nations might eventually turn out to be the most resplendent gift the United States had given the world.« Schlesinger, Stephen C. (2003, S. 279) Die USA spielten auch im weiteren Gründungsprozess die tonangebende und oft die entscheidende Rolle. Im Geiste einer alten Verhandlungsmaxime (»always control the paper«) übernahmen sie die Federführung bei der Ausarbeitung der Charta, also der völkerrechtlichen Vertragsgrundlage, in der Aufbau und Auftrag der zu gründenden Organisation festgelegt werden mussten. Der Entwurf dazu wurde vom US-Außenministerium formuliert und war die Grundlage für die weichenstellenden Verhandlungen einer wochenlangen Expertenkonferenz im Landsitz Dumbarton Oaks bei Washington im Spätsommer 1944; vertreten waren die »großen Vier«-- USA, Großbritannien, UdSSR und China. Dieser Konferenz gelang es tatsächlich, die Struktur der zu gründenden Organisation in ihren wesentlichen Elementen zu fixieren; die wichtigste politische Vorgabe war die Einrichtung eines- - gegenüber der Versammlung aller darin gleichberechtigten Mitgliedstaaten in allen Fragen von Krieg und Frieden vorrangigen-- operativen Sicherheitsrats mit begrenzter Mitgliedschaft und mit privilegierenden Vorrechten für die Großmächte: ständige Mitgliedschaft und eine Art Vetorecht. Eine weitere Vorfestlegung von Dumbarton Oaks war, dass auch dem bislang von Deutschland besetzten Frankreich als fünfter Großmacht ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat zukommen sollte. Offengeblieben waren zwei Fragen, die Roosevelt, Churchill und Stalin dann auf ihrer Konferenz in Jalta im Februar 1945 klärten: Das Ansinnen der Sowjetunion, alle 16 Sowjetrepubliken als selbständige Mitglieder aufzunehmen, was einen gewichtigen Stimmenblock für Stalin bedeutet hätte, konnte auf die Aufnahme von nur zwei (Weißrussland, Ukraine) abgemildert werden. Problematischer war die Einigung auf einen Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat, wofür der als »Jalta-Formel« bekannte Kompromiss gefunden wurde: die Großmächte bekamen ein indirekt formuliertes Vetorecht, indem nicht nur eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern des Rates, sondern darunter auch alle ständigen Mitglieder den Entwurf einer Resolution zustimmen müssen, damit sie wirksam verabschiedet werden kann. Seit 1941 waren die Verhandlungen zur Planung der neuen internationalen Organisation entlang von drei Konfliktlinien verlaufen, ● ● zunächst zwischen den USA unter Roosevelt und Großbritannien unter Churchill, ● ● dann zwischen diesen beiden und der Sowjetunion unter Stalin, ● ● und schließlich zwischen den Großmächten und dem Rest der Kriegsalliierten. Der Verhandlungsprozess war stets von Konkurrenz um Macht und die dynamische Entwicklung ihrer Verteilung im Krieg geprägt; Großbritanniens Macht schwand im Abwehrkampf gegen Deutschland während das Machtpotential der hilfreichen USA trotz ihres Engagements auf zwei Kriegsschauplätzen rasch und zumal deutlich wahrnehmbar wuchs; gleichzeitig musste die vormals randständige Sowjetunion immer stärker in Entscheidungen eingebunden werden, um den Krieg in Europa gewinnen zu können. Hatten die Regierungen von Roosevelt und Churchill anfangs noch unterschiedliche Vorstellungen, wurden diese dann der gemeinsamen Linie gegenüber dem erfolgreichen Diktator Stalin untergeordnet. <?page no="110"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 110 110 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Chronologie der Gründung der UNO Datum Ort Erklärungen, Verhandlungen, Konferenzen 1941 6. 1. Washington (USA) Verkündung der »Vier Freiheiten« durch Präsident Roosevelt vor dem US-Kongress 14. 8. im Atlantik (GB) Beratungen von Präsident Roosevelt (USA) und Premierminister Churchill (GB); Erklärung der »Atlantik- Charta« 1942 1. 1. Washington (USA) »Erklärung der Vereinten Nationen« der Vertreter von 26 gegen Deutschland und Japan alliierte Staaten 1943 10. 10. Moskau (UdSSR) Auf einer Außenministerkonferenz fordern die Alliierten die Einrichtung einer internationalen Organisation zur Friedenssicherung (»Moskauer Deklaration«) 1. 12. Teheran (Iran) Dies wird von Roosevelt (USA), Churchill (GB) und Stalin (UdSSR) bestätigt (»Konferenz von Teheran«) 1944 1.-23. 7. Bretton Woods (USA) Ein (nach dem Tagungsort benanntes) Weltwährungs- und Weltwirtschaftssystem wird von 44 alliierten Staaten ausgehandelt 21.8.-7. 10. Washington (USA) Im Landhaus »Dumbarton Oaks« verhandeln die Vertreter Chinas, Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion über Satzung und Institutionen einer neuen-Weltorganisation 1945 4.-11. 2. Jalta (UdSSR) Die Großmächte (USA, GB und die UdSSR) einigen sich definitiv auf die Gründung der UNO (»Konferenz von Jalta«) 25.4.-26. 6. San Francisco (USA) Auf der Gründungskonferenz verhandeln die Vertreter von 50 Staaten die Struktur und Aufgabenstellung der-UNO-… 25. 6. … und verabschieden die »Charta der Vereinten Nationen« 24. 10. Die »Charta der Vereinten Nationen« tritt in Kraft nach-Hinterlegung der 51. Ratifikationsurkunde (»Tag der Vereinten Nationen«) 27. 12. »Bretton Woods«-Abkommen zur Gründung der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (»Weltbank«/ IBRD) und des Internationalen Währungsfonds (IWF/ IMF) tritt in Kraft <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 111 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 111 Nach den Klärungen von Jalta wollten alle Beteiligten die Gründung der neuen Organisation so schnell wie möglich vollziehen, zumal das Meinungsklima in den USA noch günstig genug erschien, um ein erneutes Desaster einer Ablehnung durch den Kongress vermeiden zu können. Schon Anfang März luden die »großen Vier« zur Gründungskonferenz (United Nations Conference on International Organization/ UNCIO) ein, die vom 25. April bis 26. Juni 1945 in San Francisco (USA) abgehalten wurde. Eingeladen waren zunächst die 45 alliierten Länder, die mit Deutschland und Japan im Kriegszustand waren und die »Erklärung der Vereinten Nationen« unterschrieben hatten; zusätzlich wurden das eben erst militärisch befreite Dänemark, ferner Argentinien, Libanon und Syrien sowie die Sozialistischen Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland in den Kreis der insgesamt 50 an der Konferenz teilnehmenden Staaten aufgenommen; Polen konnte seine Delegation zwar nicht rechtzeitig anmelden, gilt aber als Signatarstaat der Erklärung als 51. Gründungsmitglied. Somit waren in San Francisco zumindest staatsrechtlich ca. 80 % der Weltbevölkerung vertreten-- alle Kontinente, alle Rassen, alle Religionen; dominiert war das Vorhaben von den USA und ihrem nächsten Verbündeten Großbritannien einerseits und anderseits von der Sowjetunion: der die nächsten Jahrzehnte beherrschende »Kalte Krieg« zwischen Ost und West hatte schon längst begonnen. Aktiv teil nahmen 850 Delegierte, ihre Mitarbeiter und Berater sowie das Konferenz-Sekretariat, insgesamt ca. 3 500 Personen; etwa 2 500 politische Beobachter und Journalisten kamen dazu, sodass UNCIO damals möglicherweise die größte nichtkriegerische internationale Versammlung der Geschichte war. Im Vorsitz der Versammlung wechselten sich die Leiter der Delegationen der vier Großmächte (USA, GB, UdSSR, China) ab. Arbeitsweise und Verhandlungsmethoden waren grundsätzlich die gleichen, wie sie in allen großen multilateralen Konferenzen üblich geworden sind: Vollversammlungen dienten zu Beginn der öffentliche Darstellung und am Ende zur formellen Beschlussfassung-- das Opernhaus von San Francisco war dafür also ein angemessener Ort. Die eigentliche Arbeit der Aushandlung der konkreten Formulierungen wurde aufgeteilt und in verschiedenen Ausschüssen geleistet-- offiziell oder informell durch Gruppen und Zirkel organisiert. Ein Lenkungsausschuss aus allen Delegationsleitern entschied in allen wesentlichen grundsätzlichen und politischen Fragen; aber da auch dieses Gremium mit 50 Teilnehmern für die Behandlung der Masse der Fragen zu schwerfällig war, bereitete ein gewählter 14-köpfiger Vorstand aus den Delegationsleitern Empfehlungen an den Lenkungsausschuss vor. Verhandlungsgrundlage zur Ausarbeitung einer Satzung der neuen Organisation waren die Vorschläge von »Dumbarton Oaks«. Der Entwurf der Charta wurde in vier Abschnitte aufgeteilt, die jeweils von einer eigenen Kommission geprüft wurden. Die erste Kommission beriet allgemeine Ziele der Organisation, Grundsätze, Mitgliedschaft, Sekretariat, Frage der Charta-Änderungen; die zweite Kommission die Generalversammlung und ihre Kompetenzen; die dritte Kommission den Sicherheitsrat und seine Kompetenzen; die vierte Kommission die Satzung des Internationalen Gerichtshofs, die von Juristen aus 44 Ländern vorbereitet worden war; die vier Kommissionen waren weiter in zwölf Fachausschüsse unterteilt. Nur zehn Vollversammlungen mit allen Delegierten, aber fast 400 Sitzungen der Ausschüsse wurden abgehalten, in denen der Text der Charta detailliert bis ins letzte Komma ausformuliert wurde. Eine Vielzahl von Fragen war trotz der schon recht definitiven Vorgaben durch die Abmachungen der Großmächte in San Francisco noch zu klären; teilweise ging es dabei um sich neu stellende oder noch nicht bedachte Probleme, wo Lösungen durchaus noch offenstanden, meist aber um Konfliktstoffe, die sich zwingend aus den Interessengegensätzen zwischen Großmächten und anderen Staaten ergaben, aber zunehmend auch aus Problemen zwischen der Sowjetunion und dem sich formierenden westlichen Lager. Wichtige Streitpunkte waren: ● ● der Status der »regionalen Organisationen«, also Abkommen über regionale Verteidigung und gegenseitigen Beistand, von denen es z. B. schon die Arabische Liga gab; beschlossen wurde, geeignete Regionalorganisationen an der friedlichen Beilegung von Konflikten sowie ggf. sogar an Zwangsmaßnahmen zu beteiligen; <?page no="112"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 112 112 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ● ● die Kompetenzen des Internationalen Gerichtshofs; beschlossen wurde, sie sehr begrenzt zu halten: die Staaten werden nicht verpflichtet, die Zuständigkeit des Gerichtshofs anzuerkennen, aber sie können sich seiner dann allerdings verbindlichen Rechtsprechung jeweils freiwillig unterwerfen; ● ● zukünftige Ergänzungen der Charta; beschlossen wurde eine sehr restriktive Lösung mit hohen Hürden für Änderungen und Ergänzungen; ● ● das Recht jedes der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, gegen Vorschläge für dessen Handeln ein »Veto« einzulegen und so deren Beschließung zu verhindern- - was derart umstritten war, dass die Konferenz wegen des zähen Widerstands vieler mittlerer und kleiner Länder dem Scheitern nahe schien; beschlossen wurde im Sinne der Großmächte deren Vorschlag der weitestgehenden »Veto«- Regelung nach der »Jalta-Formel«. Neben den Vorstellungen der mächtigen und der weniger mächtigen Regierungen gab es noch andersartige Elemente in den Debatten von San Francisco: Viele amerikanische Nichtregierungsorganisationen und engagierte Einzelpersonen waren in den Wochen der Gründungskonferenz dabei-- und zwar aktiv, sei es als Lobbyisten oder auch als Delegationsmitglied (wie die Literatur-Professorin und Frauenrechtlerin Virginia Gildersleeve). Erst ihr Druck machte es möglich, dass die Menschenrechte als Ziel der Vereinten Nationen in den Text der Charta aufgenommen wurden. Schon bei deren Konzipierung, noch vor ihrer formellen Gründung, mischten sich also zivilgesellschaftliche Akteure in die Arbeit der neuen internationalen Organisation ein-- obwohl damals als selbstverständlich galt, dass ihre Grundstruktur zwischenstaatlich und ihre Arbeitsebene regierungsamtlich sein sollte. Die darin schon angelegte Ambivalenz, die in den heutigen Debatten um eine zivilgesellschaftlich geprägte »global governance« zumindest rhetorisch ausufert, zeigt sich an der Präambel zur Charta: War der Textentwurf des eigentlichen internationalen Vertrags als hart errungener Kompromiss das Ergebnis der zwischenstaatlichen Verhandlungen der mächtigsten Regierungen der Welt mitten in einem mörderischen Krieg, bot die eher nebenbei formulierte, nicht rechtsverbindliche, aber »tonangebende« Präambel viel Spielraum für idealistische Expression und symbolische Beschwörung einer besseren Zeit: Sätze wie in Marmor gemeißelt stehen als »ein erratischer Block neben der Charta« (Eisele 2007, S. 138). In der feierlichen letzten Plenarsitzung am 25. Juni in der Oper von San Francisco musste der vorgelegte Entwurf der Charta mindestens eine Zwei-Drittel-Mehrheit erhalten; die Delegierten aller teilnehmenden Länder stimmten nicht nur per Handzeichen ab, sondern nahmen die Charta der Vereinten Nationen einstimmig an, indem sie sich von ihren Plätzen erhoben. Am Tag darauf versammelten sich die Delegierten zum Ritual der Unterzeichnung: Symbolisch passend im Auditorium der Veterans’ Memorial Hall unterschrieben sie nacheinander die Bände mit den Texten der Charta der Vereinten Nationen und der Satzung des Internationalen Gerichtshofs; als erstem Opfer eines Angriffs seitens eines der Kriegsgegner der alliierten »Vereinten Nationen« kam China die Ehre zu, zuerst zu unterzeichnen - im Pazifik war der Krieg gegen die Achsenmacht Japan ja noch nicht zu Ende. In Kraft treten konnte die Charta jedoch erst, nachdem die Prozedur der Schaffung internationalen Vertragsrechts vollständig durchlaufen war: Sie musste in der Mehrzahl der unterzeichnenden Länder (»Signatarstaaten«), darunter in allen ständigen Mitgliedgliedern des künftigen Sicherheitsrats, von den legislativen Instanzen, meist den Parlamenten, angenommen, also »ratifiziert« werden. Zudem musste die offizielle Bekanntgabe der Ratifizierung hinterlegt werden, im Fall der UNO-Charta beim Außenministerium der USA; am 24. Oktober 1945 war dies erreicht-- dieses Datum wurde dann von den Vereinten Nationen zum Tag der »Vereinten Nationen« erklärt. »[D]ie Vereinten Nationen sind eine Organisation, in der die Großmächte einen beherrschenden Einfluß ausüben, in der sie vor allem jede Aktion verhindern können, die sie nicht billigen.« <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 113 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 113 »Die Charta war […] zum Zeitpunkt ihrer Entstehung das Maximum dessen, was als Kompromiß zwischen den Großmächten einerseits und den Mittel- und Kleinstaaten andererseits für eine internationale Organisation an Kompetenzen zu erreichen war.« Helmut Volger (1995, S. 27 f.) Bei der Konzeption der neuen universalen Organisation war ein grundlegendes Dilemma zu bewältigen gewesen: ● ● Einerseits sollten anders als beim Völkerbund alle Großmächte dauerhaft eingebunden sein; diese sollten an einer aktiven und möglichst konstruktiven Mitarbeit selbst interessiert sein, oder anders: die internationale Kooperation im Rahmen der neuen »Vereinten Nationen« sollte mehr Nutzen als Kosten bringen und insgesamt auch nützlicher sein als Nicht-Kooperation; ein besonderes Problem war dabei wieder die öffentliche Meinung und außenpolitische Stimmungslage in den USA, die nach dem Weltkrieg erneut in Isolationismus hätte umschlagen können, worauf schon 1941 der Text der »Atlantik-Charta« Rücksicht nahm. ● ● Andererseits sollte die neue Organisation eine universale werden, also möglichst alle Staaten als aktive Mitglieder haben; diese sollten daher nicht nur mitlaufende Statisten oder gar passive Zuschauer sein, sondern mussten ungeachtet der Machtposition der Großen oder gar gegen diese ihren Einfluss ausüben können. Befürchtet wurde also einerseits, dass die neue Organisation ohne eine Vormachtstellung der Großmächte nicht wirksam werden könnte, andererseits, dass diese ihre Vormachtstellung zur Verfolgung eigener Interessen nutzen würden; beide Befürchtungen ließen prophezeien, dass auch die UNO aufgrund ihrer inneren Machtarchitektur dem Frieden nicht würde dienen können. Dieses Dilemma konnte auch auf der Gründungskonferenz 1945 in San Francisco bis zuletzt nicht befriedigend gelöst werden: die gefundene Lösung begünstigt durch die Sonderstellung der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat die Großmächte; der in vielen entscheidenden Fragen vorrangige Sicherheitsrat steht immer in einem institutionellen Spannungsverhältnis zur Generalversammlung, in der die »souveräne Gleichheit« aller Mitglieder zelebriert wird. Die Großmächte, bald eigentlich nur noch die den Westblock anführenden USA und die Sowjetunion für den Ostblock, haben ihre privilegierte Stellung ● ● sowohl destruktiv zur Blockade der Funktionsfähigkeit der UNO ● ● als auch konstruktiv zur Unterstützung ihrer konkreten Arbeit genutzt-- im Einzelnen jeweils abhängig von der allgemeinen politischen Lage und der konkreten Situation; oft haben sie Regeln und Prinzipien der Vereinten Nationen missachtet, selten aber explizit misshandelt. »[…] the veto issue did finally come to dominate the Security Council, as most small nations had predicted. […] however, absent the veto, neither of the two leading nations of the time, the United States and the Soviet Union, would have ever joined the U. N. […] It should also be noted that even in the Security Council, nonpermanent members could still, if united, constitute a sixth veto and, in any event, they did have to form part of a voting majority […].« Schlesinger, Stephen C. (2003, S. 284) 4.2.4 Die Entwicklung der UNO in sieben Jahrzehnten Von 1945 bis heute hat sich die Welt wesentlich verändert, sie scheint uns größer und dichter geworden zu sein, aber auch verletzlicher. Die Grundstruktur der UNO hat sich in diesen bald sieben Jahrzehnten als ziemlich robust erwiesen: sie ist stark gewachsen (manche sagen aufgebläht) und ist in vielerlei Hinwww.claudia-wild.de: <?page no="114"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 114 114 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen sicht differenzierter geworden, wurde im Kern aber nie gründlich geändert; angesichts des rapiden Wandels der inter- und transnationalen Probleme und Beziehungen zeigte sich das natürlich als hochproblematisch und Reformbedarf ist nun überall zu entdecken-- aber interessanterweise hat es sich auch als Stärke erwiesen, dass die Grundstruktur und besonders die Charta der Vereinten Nationen so veränderungsresistent sind: Man lernte, kreativ und flexibel damit umzugehen. »Um die gesamte Bandbreite der Errungenschaften der Vereinten Nationen besser einschätzen zu können, müssen diese im Zusammenhang gesehen werden. Nach den Greueln und dem Elend des Zweiten Weltkriegs standen bei den Gründern der UN der Wunsch und die Vision im Mittelpunkt, ein nochmaliges Versagen, wie das der ersten Generation der Weltorganisation-- des Völkerbunds- -, eine weitere Weltwirtschaftskrise wie 1929 sowie vor allem zukünftige Weltkriege zu vermeiden. Auf dieser Vision aufbauend wurden die Strukturen der UN bereits während des Zweiten Weltkriegs entwickelt und im Laufe der ersten beiden Jahrzehnte nach dem Krieg ausgebaut. Was jedoch die Vereinten Nationen so einzigartig machte, waren ihre ehrgeizigen Ziele- - Menschenrechte, Souveränität, Freiheit und Demokratie sowie eine Verbesserung des Lebensstandards in allen Teilen der Welt. Nicht weniger erstaunlich ist, dass, obwohl diese anspruchsvollen Ziele seinerzeit als schierer Humbug abgetan wurden, ein Großteil dieser frühen Vision mittlerweile Wirklichkeit geworden ist.« Louis Emmerij/ Richard Jolly/ Thomas G. Weiss (2005, S. 232) Nach der Gründungsphase 1941-1945 kann man pragmatisch folgende Phasen einteilen (nach Volger 2008): ● ● erste Bewährungsproben 1945-1954, ● ● Konflikt und Kooperation zwischen Ost und West 1955-1963, ● ● Umsetzung des Universalitätsanspruchs dank der Entstehung neuer Staaten 1964-1973, ● ● Aufbrechen des Gegensatzes zwischen Nord und Süd 1974-1986, ● ● die Eröffnung neuer Chancen mit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1987-1995, ● ● neue Herausforderungen, Reformbemühungen und Enttäuschungen seit 1997. Die wohl wichtigsten der vielen entscheidenden Momente, Prozesse und Themen in der nie endenden Entwicklungsgeschichte der UNO und ihrer Funktionsweise waren die Blockade des Sicherheitsrats im Kalten Krieg, die Dekolonisierung der »Dritten Welt« und die Frage ihrer »Entwicklung« und Eingliederung in die Weltwirtschaft, dann als neue Arbeitsgebiete die Gefährdung der natürlichen Umwelt und des Weltklimas und mit diesen auch das Aufkommen von immer mehr neuartigen Akteuren, sodann die Hoffnungen auf eine »neue Weltordnung« und eine »Friedensdividende« nach dem Ende des Ost-West- Konflikts, die bis zur Jahrtausendwende meist enttäuscht wurden, schließlich der problematische »Krieg gegen den Terror« seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Ohne die verlässliche Einbindung der mächtigen Staaten schien ihren Gründern eine funktionierende UNO nicht denkbar. Aber diese besondere Machtstellung der Großmächte wurde-- wie die Gegner der Veto-Regelung befürchtet hatten-- in den folgenden Jahren immer wieder zum Blockieren des Funktionierens der UNO und insbesondere des Sicherheitsrats genutzt. Nur selten haben die ständigen Mitglieder Großbritannien und Frankreich oder gar China ihre Machtstellung in eigener Regie genutzt; in der Palästina-Frage und in der Suez-Krise 1956 haben die beiden absteigenden westeuropäischen Großmächte noch einmal versucht, ein eigenständiges Spiel zu führen. Aber im sich weltweit verbreitenden und vertiefenden Konflikt zwischen dem kapitalistischen und größtenteils demokratisch verfassten Westen und dem staatswirtschaftlich-kommunistischen und straff-diktatorisch geführten Osten spielten bald nur noch die Hegemonialmächte der beiden Blöcke die entscheidende Rolle. Der Kampf zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Imperium wurde auf ideologischer, wirtschaftlicher und politischer Ebene mit diplomatischen und militärischen Mitteln geführt; die meist <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 115 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 115 beachtete Bühne für den rhetorischen und symbolpolitischen Austrag der Gegensätze war die neue Weltorganisation, aber sie war nicht eigentlich Kampfarena, denn bindende Entscheidungen wurden nicht gefällt, weil die mit dem Veto-Recht ausgestatten Protagonisten jederzeit eine Patt-Situation herbeiführen konnten. Da aber der Westen in Sicherheitsrat und Generalversammlung noch klar die Mehrheit hatte, blieb dem Osten innerhalb der UN-Gremien notfalls nur eine konsequente Verweigerungshaltung, indem ein Veto eingelegt oder wenigstens angedroht wurde oder schlicht durch eine »Politik des leeren Stuhls« Sitzungen boykottiert wurden. Dennoch waren die UN-Gremien schon in ihren ersten Jahren mit einer Reihe von internationalen Konflikten befasst: Klassische Krisen und Kriege, die durch den Ost-West-Konflikt verursacht oder zumindest auf ihn bezogen wurden, waren die Berlin-Blockade 1948/ 49, der Korea-Krieg 1950-1953, der Ungarn-Aufstand 1956, die Kuba-Krise 1962 sowie der Indochina-Krieg 1946-1954 bzw. Vietnam- Krieg 1964-1975; vom Ost-West-Gegensatz zumindest stark beeinflusst waren u. a. die Problemsituationen Iran 1946, Griechenland 1946-1950, Palästina 1947-1949, Indien/ Pakistan 1948, Suez 1956 und Kongo 1960 (s.-Volger 2008, Kap. 2 und 3). Da den Blöcken ein direkter, gar militärischer Konfliktaustrag wegen der Gefahr der gegenseitigen Vernichtung mit Atomwaffen nicht möglich war, lieferten sie sich wenigstens einige politische und militärische Kämpfe (»Stellvertreterkriege«) in abgelegeneren, meist südlichen Weltregionen; dort bot der Prozess der Entkolonialisierung und der politischen Emanzipation reichlich Konfliktstoff. Die ersten beiden Jahrzehnte der UNO wurden also wie zu erwarten vor allem von den Streitfragen der klassischen Sicherheitspolitik zwischen hochgerüsteten Großmächten bestimmt, aber es zeigten sich auch Probleme der Friedenswahrung, die von den Autoren der UNO-Charta nicht vorhergesehen werden konnten; schon früh wurden die zu behandelnden Konfliktstoffe komplexer und schwieriger als es die herkömmlichen zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen gewesen waren: Koloniale Verteilungskämpfe und anti-koloniale Befreiungsbewegungen sorgten unter der eingefrorenen Schlachtordnung des zeitweise eisig Kalten Krieges für einige heiße Stellen und auch größere Brände. In dieser schwierigen und gefährlichen Ära bis Mitte der 1960er Jahre bildeten sich in der die politischen Praxis Muster für Handlungsmöglichkeiten in und durch die UNO heraus, die dann in der Folgezeit ihre Arbeit zum Teil stärker prägen sollten als die Absichten der Gründungsphase. Die meisten dieser pragmatischen Lösungen halten einer kritischen formalen Betrachtung nicht stand-- aber sie funktionierten und wurden dadurch als gängige Übung im Lauf der Zeit zur allseits akzeptierten Regel, z. B.: ● ● Ein Veto gilt nur durch eine explizit abgegebene Nein-Stimme eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats als eingelegt, während nach dem Text der Charta schon eine Enthaltung dafür ausreicht. ● ● Wegen des militärischen Patts und der politischen Blockade zwischen den Blöcken boten nicht der von der Charta mit der Sicherung der kollektiven Sicherheit beauftragte Generalstabsausschuss-- und schon gar nicht ein der UNO eigenes Militärpotential-- das Instrumentarium zur Kanalisierung und Eindämmung von Konflikten, sondern unkonventionelle und in der Charta in dieser Weise keineswegs vorgesehene »friedenserhaltende« Maßnahmen wie der Einsatz von Militärbeobachtern (»Blaumützen«) und Friedenstruppen (»Blauhelmen«). ● ● Ein konsolidierender UNO-interner Machtkampf um Rolle und Kompetenzen der einzelnen Hauptorgane zeigte, dass die Rollenverteilung zwischen Sicherheitsrat und Generalversammlung nicht eindeutig zu klären ist; jedenfalls kann die Generalversammlung durchaus weiter gehende Ansprüche erheben, wenn der Sicherheitsrat nicht so recht funktioniert (s.- zur »Uniting for Peace«-Resolution von 1950 Kap. 4.3.2). ● ● Die Bildung von Ländergruppen zur politischen Strukturierung der staatlichen Akteure, zur Kanalisierung und Artikulation ihrer Interessen sowie zur Bündelung ihres Machtpotentials und ihrer <?page no="116"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 116 116 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Handlungsfähigkeit erwies sich spätestens mit dem raschen Anstieg der Mitgliederzahl als geeignetste und inzwischen prägende Methode zur Organisation multilateraler Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse. Durch den oft unfriedlichen Prozess der Dekolonisierung- - die wichtigsten untergehenden Kolonialmächte waren pikanterweise neben Belgien, Holland und Portugal die zwei ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats Großbritannien und Frankreich-- waren eine Vielzahl »junger Staaten« entstanden, die in der allseitigen politischen Wahrnehmung bald die sog. Dritte Welt neben der ersten (Nordwest) und der zweiten (Nordosten) bilden und später den Ost-West-Gegensatz durch einen vor allem wirtschaftlich verstandenen Nord-Süd-Konflikt erweitern und dann ersetzen sollten. Die Aufnahme Dutzender neu entstandener Staaten vor allem in Asien und Afrika veränderte die UNO und generell die multilaterale Diplomatie schnell und gründlich; zwischen 1945 und 1965 gewann die Weltorganisation zu ihren 51 Gründungsmitgliedern 66 neue Mitgliedstaaten von sehr unterschiedlicher Art: Größe und Bevölkerungszahl, Ressourcenausstattung und wirtschaftliches Potential, Kulturen und Religionen, politische Traditionen und Verfassungen variierten in vielfältigen Konstellationen. Damit wurde die UNO erst wirklich universal-- und zugleich differenzierten und erweiterten sich die Interessen der Mitglieder. Schon Anfang der 1970er Jahre hatten alleine die beiden Ländergruppen der afrikanischen Staaten (über 40 Mitglieder) und der asiatischen Staaten (etwa 30) zusammen die Stimmenmehrheit in der Generalversammlung; die Gruppe der sog. Entwicklungsländer wuchs bis Ende der 1970er Jahre auf über zwei Drittel der Mitglieder an. Die Schwerpunkte der angewachsenen Vereinten Nationen verlagerten sich entsprechend mehr und mehr auf die Probleme wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und insbesondere auf die Frage nach den dafür schädlichen oder günstigen Strukturen des Welthandels. Die Führungsmächte der Blöcke bemühten sich, die neuen Staaten in die Ost-/ West-Konfrontation auf ihrer Seite einzubinden, diese versuchten oft, den Ost-West-Gegensatz zum eigenen Vorteil zu nutzen. Elemente und Streitpunkte der Ära des in den vielfältigen Foren des UN-Systems mit großer Rhetorik und viel politischer Energie geführten Nord-Süd-Konflikts waren u. a. ● ● die Konkurrenz zwischen den westlichen und östlichen Modellen als entwicklungspolitische Orientierung für die aufbzw. auszubauenden Wirtschaften und Gesellschaften, ● ● der Wunsch nach »nachholender Entwicklung« und deren Finanzierung (»Entwicklungshilfe«), ● ● internationale wirtschaftliche Gerechtigkeit und Ausgleich kolonialer Beschädigungen (Struktur des Welthandels, Fragen der Rohstoff-Preise, Forderung nach einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung«), ● ● die politische Nutzung der Knappheit bestimmter Rohstoffe, bes. des Erdöls (OPEC-Kartell), ● ● Apartheid und Rassismus, die von der neuen südlichen Mehrheit in der UNO nicht nur Südafrika, sondern auch Israel vorgeworfen wurden, ● ● womit auch das westliche Eintreten für die Menschenrechte im Osten und im Süden problematisch wurde, da angezweifelt werden konnte, dass immer mit demselben Maßstab beurteilt würde. Das alles provozierte bei der westlichen Führungsmacht, die bis 1975 in den nicht mehr legitimierbaren und militärisch aussichtslosen Vietnamkrieg verstrickt war und sich wirtschaftlich bedroht sah, wachsende Frustration über den multilateralen Betrieb. Die meisten dieser Punkte sind nicht erledigt, aber sie sind in den Hintergrund geraten: Zum einen ist nach 1989 mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums die konkurrierende System-Alter- Tab. 19: Vollmitglieder der UNO Ende 1945 1955 1965 1975 1985 1995 2006 Anzahl 51 76 117 144 159 185 192 <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 117 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 117 native zur kapitalistischen Marktwirtschaft und zum potentiell unbegrenzten Freihandel weggefallen, zum anderen haben die ungelösten Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung im Süden schon seit den 1970er Jahren wachsende Konkurrenz bekommen durch die globale Bedrohung für Umwelt und Klima eben aufgrund der effizienten wirtschaftlichen Entwicklung des Nordens. Die Forderung nach »nachholender Entwicklung« ist längst bedrängt von der Losung der »nachhaltigen Entwicklung«. In den in der Charta verankerten Arbeitsbereichen Menschenrechtsschutz und Zusammenarbeit in wirtschaftlich-sozialen Fragen, die durch die Expansion der »Staatenwelt« in ihren Problemstellungen und im Ausmaß wesentlich anspruchsvoller wurden als zuvor gedacht, zunehmend aber auch im neuartigen Bereich der Umwelt- und Klimafragen haben nichtstaatliche Akteure aller Art aus der »Gesellschaftswelt« bedeutenden und manchmal entscheidenden Einfluss gewonnen (vgl. Czempiel 1994); zwar waren schon ab der Gründungskonferenz bei der UNO zivilgesellschaftliche Elemente vertreten, aber seit den 1980er Jahre sind verschiedene Typen neuartiger Akteure immer stärker zumindest auf den großen thematischen »Weltkonferenzen« der 1990er Jahre (wie »Rio 1992«) in Erscheinung getreten-- wobei ihre Einschätzung kontrovers bleibt (s.-Kap. 2.1). Mit der Zerrüttung und dem Zusammenbruch des sowjetrussischen Imperiums kam Ende der 1980er Jahre weitere Bewegung in die Arbeit der UNO, auch in die Beratungen der Generalversammlung; zunächst gab es fast überschwängliche Hoffnungen auf eine entscheidende Rolle der UNO in einer »neuen Weltordnung« und-- dank der Einsparung von Rüstungskosten-- auf eine »Friedensdividende« zugunsten wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung. Doch zeigten sich bald ernüchternd auch die neuen Probleme: Neue Mitgliedstaaten aus der Konkursmasse der Sowjetunion kamen zwar dazu, aber scheinbar vergessene alte Konflikte brachen wieder aus (wie auf dem Balkan) und neuer Konfliktstoff entwickelte sich. Nicht in allen Fällen gelang es den Mitgliedern des Sicherheitsrats erfolgreich einzugreifen, auch spektakuläre Misserfolge (wie in Somalia) oder schlichtes Versagen (wie in Ruanda durch Nichtbehandlung) sind zu vermerken. Viele Länder der sich mit der rasch wachsenden und vernetzenden Weltwirtschaft (»Globalisierung«) weiter ausdifferenzierenden »Dritten Welt« waren aus unterschiedlichen Gründen enttäuscht über die Zugeständnisse und Leistungen der entwickelten reichen Länder. Wichtige Mitgliedstaaten wie in erster Linie die USA, aber auch die VR China, verhielten sich selten wie vorbildliche Multilateralisten. Die Vereinten Nationen wurden also wieder vom Hoffnungsträger zum Sündenbock; Forderungen und Überlegungen zu einer Reform der Organisation begleiten die UNO zwar seit ihrer Gründungskonferenz, doch ab Mitte der 1990er Jahre wurde vor allem auf Druck der USA eine anhaltende Reformdebatte geführt, die von der Verwaltungseffizienz über die »Blauhelm«-Einsätze bis zu einer Erweiterung des Sicherheitsrats alles Denkbare und auch viel Irrationales aufgriff. Und schon lange vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde auch hinsichtlich der Arbeit der UNO eine interkulturelle Konfrontation zwischen den westlichen Staaten und vor allem der islamischen Welt (»clash of civilizations«) im Zusammenhang von Menschenrechtsfragen und der Legitimität »humanitärer Intervention« diskutiert-- oder auch inszeniert. Im »Krieg gegen den Terror« seit 2001 wurden Völkerrecht und auch die UNO mehrfach beschädigt-- ausgerechnet von ihrem Gründungspaten, den USA. Von den erste Plänen für eine neue Weltorganisation mitten im Zweiten Weltkrieg an hatten Politik und Öffentlichkeit in den USA und deren jeweilige Haltung zu international-multilateraler Zusammenarbeit grundlegende und entscheidende Bedeutung für die UNO: Ob idealistische Zustimmung (»One World«) oder verschwörungstheoretische Ablehnung, es handelt sich meist um ein prekäres Verhältnis, das ● ● rational gesteuert wird durch die klassische Dynamik der Doktrinen der Außenpolitik der USA, die zwischen an der UNO desinteressiertem Isolationismus und die UNO offensiv instrumentalisierenden hegemonialen Interventionismus schwankt, und <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 118 118 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ● ● in der kognitiven Wahrnehmung und in der emotionalen Bewertung geprägt ist von den Medien und von populistischen Politikern, sodass die öffentliche Meinung zwischen Liebe und Hoffnung einerseits und Frustration und Angst anderseits balanciert. Weil das Interesse an internationaler Politik bei der US-amerikanischen Wahlbevölkerung traditionell recht gering und das Wissen darüber noch geringer ist, dominieren Vorbehalte gegen die UNO vor allem bezüglich ihrer Effizienz, aber zugleich auch hinsichtlich ihrer angeblichen Machtansprüche, die befürchten ließen, die amerikanische Souveränität könnte beschnitten werden. Tatsächlich bietet asymmetrischer Unilateralismus einer Hegemonialmacht- - zumindest auf kurze und mittlere Sicht- - viel mehr Vorteile als mühsamer Multilateralismus, weswegen es selten zu erwarten ist, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich in ihrer eigenen Politik substantiell von den Vereinten Nationen beeinflussen lassen. Doch haben die USA einen speziellen Sonderweg zwischen Unilateralismus und Multilateralismus gefunden: Ihr schwieriges Verhältnis zur UNO ist nach dem Versickern des Idealismus der Gründertage seit langer Zeit gekennzeichnet von einer »Strategie des instrumentellen bzw. selektiven Multilateralismus«, die das Ziel verfolgt, dass multilaterale Organisationen den Interessen der USA dienen, ihre politischen Absichten legitimieren und ihre Maßnahmen unterstützen. Sollte die internationale Kooperation in diesem Verständnis nicht funktionieren, versuchen es alle US-Regierungen mit einer Koalition mit gleichgesinnten Regierungen oder im Alleingang; dies macht den selektiven Multilateralismus aus der Sicht der internationalen Organisationen zu einem »kompetitiven Multi-Multilateralismus«, in dem verschiedene Optionen (UNO, NATO, »coalitions«) um das Interesse der einzigen verbliebenen militärischen Weltmacht konkurrieren, die unter den verschiedenen Angeboten je nach Bedarf das günstigste auswählen kann (Braml 2009b, S. 374). Dies gilt nicht nur für Sicherheitsfragen, sondern für alle Arten multilateraler Dienstleistungen. Chronologie der Entwicklung der UNO und anderer internationaler Organisationen seit 1945 Jahr Gründungen, Konferenzen, Erklärungen 1945 Welternährungsorganisation (FAO) 24. Okt.: Die Charta der Vereinten Nationen tritt mit der Hinterlegung der 51. Ratifikationsurkunde in Kraft. Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) »Bretton Woods«-Abkommen in Kraft: Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (»Weltbank«/ IBRD) und Internationaler Währungsfonds (IWF/ IMF), beide Washington (USA) 1946 10. Jan.: erste Sitzung der UN-Generalversammlung (GA) und Konstituierung des Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) in London (GB), beide ab 1951 New York (USA) 17.Jan.: Konstituierung des Sicherheitsrats (SC) in London (GB), ab 1951 New York (USA) Trygve Lie (Norwegen) Generalsekretär der UNO Weltgesundheitsorganisation (WHO) UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) von 1919 wird UN-Sonderorganisation. Auflösung des Völkerbunds <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 119 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 119 1947 Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT) unterzeichnet 1948 Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), wird später zur OECD Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« durch die GV der UNO 1949 Europarat (CE) Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) [»West-Block«] Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) [»Ost-Block»] 1950 Resolution »Uniting for Peace« der UN-Generalversammlung Weltorganisation für Meteorologie (WMO) Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der UNO (UNHCR) 1952 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1953 Dag Hammerskjöld (Schweden) Generalsekretär der UNO 1954 Friedensnobelpreis für das Amt des Hochkommissars der UNO für Flüchtlinge (UNHCR) Westeuropäische Union (WEU) 1955 Warschauer Pakt [»Ost-Block«] 1956 Internationale Finanz-Korporation (IFC) 1957 Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) 1958 Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) 1960 Internationale Entwicklungsorganisation (IDA) Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) BENELUX 1961 Dag Hammerskjöld stirbt bei Flugzeugabsturz in Afrika; Sithu U Thant (Burma) Generalsekretär 1963 Erklärung der GV der UNO gegen alle Formen der Rassendiskriminierung Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) 1964 Erste Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD); Konstituierung der-»Gruppe der 77« <?page no="120"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 120 120 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen 1965 Änderung der UNO-Charta: Der Sicherheitsrat wird auf 15 Mitglieder erweitert, der-ECOSOC auf 27 UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) Friedensnobelpreis für das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF.) Fusionsvertrag: Gemeinsamer Rat und gemeinsame Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1966 Menschenrechtsabkommen (»Zivilpakt«, »Sozialpakt«) beschlossen, treten erst 1976 in-Kraft 1967 Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO) UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) 1969 Friedensnobelpreis für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 1970 Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) Erklärung der GV der UNO zum Völkerrecht (»Friendly Relations Declaration«) 1971 Die Volksrepublik China übernimmt Chinas Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat Die Republik China (Taiwan) verliert die Anerkennung als Staat und die Mitgliedschaft in-der UNO 1972 Kurt Waldheim (Österreich) Generalsekretär der UNO UN-Umweltprogramm (UNEP), Nairobi (Kenia) 1973 Änderung der UNO-Charta: Der ECOSOC wird auf 54 Mitglieder erweitert 18. Nov.: Beide deutsche Staaten werden Vollmitglieder der UNO 1974 Internationale Energie-Agentur (IEA) Südafrika wird wegen seiner Rassenpolitik von der GV der UNO suspendiert (bis 1994) 1975 UN-Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in-Europa (KSZE) 1977 Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) Die USA treten wegen deren »Politisierung« aus der ILO aus (Wiedereintritt 1980) 1981 Friedensnobelpreis für das Amt des Hochkommissars der UNO für Flüchtlinge (UNHCR) 1982 Javier Pérez de Cuéllar (Peru) Generalsekretär der VN UN-Seerechtsübereinkommen (UNCLOS) (in Kraft 1994) 1984 Die USA treten wegen deren »Politisierung« aus der UNESCO aus (Wiedereintritt 2003) <?page no="121"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 121 4.2 Zur Geschichte internationaler Organisation 121 1985 Großbritannien tritt wegen deren »Politisierung« aus der UNESCO aus (Wiedereintritt 1997) Die UNIDO wird zur Sonderorganisation der UNO 1987 Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht Einheitliche Europäische Akte 1988 Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur (MIGA) Friedensnobelpreis für die UN-Friedenstruppen 1990 Ende der UNO-Mitgliedschaft der DDR mit der Vereinigung beider deutscher Staaten Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE/ EBRD) 1991 Auflösung der UdSSR, Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Die Russische Föderation übernimmt in der UNO Mitgliedschaft und SR-Sitz der-ehemaligen UdSSR Auflösung des Warschauer Pakts und des COMECON Parlamentarische Versammlung der OSZE 1992 Boutros Boutros-Ghali (Ägypten) Generalsekretär der UNO Verschiedene Umwelt- und Klima-Abkommen auf der »Rio-Konferenz« (UNCED) beschlossen 1993 Hochkommissar der UNO für Menschenrechte (UNHCHR) Europäische Union (EU) 1994 Suspendierung des Treuhandrats der UNO Internationaler Seegerichtshof (ITLOS) NATO-Nordatlantikrat beschließt »Partnerschaft für den Frieden« (»Partnership for Peace«) 1995 Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) [bis 1994: Allgemeines Zollund-Handelsabkommen/ GATT] 1997 Kofi Annan (Ghana) Generalsekretär der UNO; umfassendes Programm zur Reform der-UNO »Kyoto-Protokoll« zum Klima-Rahmenabkommen (UNFCCC) von den Vertragsstaaten beschlossen Büro des UNHCHR (OHCHR) Großbritannien tritt wieder der UNESCO bei (1985 ausgetreten) Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 122 122 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Organisation des Nuklearversuch-Verbots-Vertrags (CTBTO) NATO-Russland-Rat 1998 »Römisches Statut« zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (2002 in Kraft) 1999 Ehemalige Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts treten der NATO bei-(Tschechien, Polen, Ungarn) 2000 Verabschiedung der Millennium-Entwicklungsziele 2001 Friedensnobelpreis für die UNO und ihren Generalsekretär Kofi Annan Anschläge vom 11. Sept. 2001: UN-Sicherheitsrat beginnt Resolutions-Serie zum Terrorismus Anschläge vom 11. Sept. 2001: Erstmals Bündnisfall auf Grundlage Art. 5 des NATO- Vertrags 2002 Internationaler Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag (Niederlande) 2003 Die USA treten wieder der UNESCO bei (1984 ausgetreten) 2004 EU-Erweiterung durch Beitritt ehemaliger Ostblock-Staaten (auf 25 Mitglieder; 2007 auf 27) 2005 »Kyoto-Protokoll« zur Implementation des Klima-Rahmenabkommens (UNFCCC) tritt-in Kraft Friedensnobelpreis für die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) 2006 Menschenrechtsrat (HRC) statt der diskreditierten Menschenrechtskommission 2007 Ban Ki Moon (Südkorea) Generalsekretär der UNO Friedensnobelpreis für das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2009 EU-Vertrag von Lissabon in Kraft Für eine Übersicht über Einsätze von UN-Friedenstruppen (»Blauhelme«) s.-Kap. 5.2 Für eine Liste mit wichtigen Berichten/ reports der bzw. für die UNO s.-Kap. 4.4.3 Für eine Liste wichtiger Konferenzen/ »Gipfel« der UNO s.-Kap. 4.4.3 Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 4.2 Albrecht 1998; Bertrand 1995; Blätte 2002; Emmerij/ Jolly/ Weiss 2001, 2005; Höffe 1995; Luard 1982, 1989; Müller, J. B. 1996; Ostrower 1996; Pfeil 1976; Schlesinger 2003; Tavares de Sá 1966; Ter Meulen 1917, 1929, 1949, Den Haag; Traz 1935; Valentin 1920; Volger, Helmut 2008; Weber 1987, 1991, 1998; Wesel 2000a; Yoder-1997 <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 123 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 123 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) »This organization is created to prevent you from going to hell. It isn’t created to take you to heaven.« (»Diese Organisation wurde geschaffen, um Euch davor zu bewahren, zur Hölle zu fahren. Sie wurde nicht gemacht, um Euch in den Himmel zu bringen.«) Henry Cabot Lodge Jr., amerikanischer Politiker und 1953-1960 Ständiger Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen (Übs. nach Williams 2004, S. 119) 4.3.1 Was ist »die UNO«-- und was nicht ? Der Bezug auf Himmel und Hölle ist so abwegig nicht, wenn es um die Vereinten Nationen geht. Keine große politische Institution außer der katholischen Kirche wurde je so viel mit Heilshoffnungen und Verwünschungen bedacht wie diese erste funktionierende »Weltorganisation«. Schon ihr gescheiterter Vorgänger, der Völkerbund, war an seinen realen Möglichkeiten und Machtmitteln gemessen völlig überfrachtet worden mit Erwartungen, die er von vorneherein nicht erfüllen konnte. Die UNO ist ein mühsam und nur dank vieler fragwürdiger Kompromisse ausgehandeltes Produkt des Zweiten Weltkriegs-- von Anfang an ein Ergebnis der neuen internationalen Machtkonstellation, wie sie sich im Krieg herausbildete und sich bei der Ausarbeitung und Aushandlung der Charta der Vereinten Nationen immer deutlicher zeigte. Zugleich und eben aus der verstörenden Erfahrung des Krieges heraus wuchsen ihr symbolpolitische Funktionen als Garantin des Weltfriedens und Agentin des allgemeinen Fortschritts der Menschheit zu, die mehr zu einem Bittgottesdienst passten als zu einem kontrollierten Mechanismus zur zwischenstaatlichen Konfliktaustragung bzw. zum Ausgleich nationaler Interessen. Ob das Idealisieren der UNO nur der Ausdruck von Friedenssehnsucht in eben naivem Idealismus war oder auch scheinheilig zu frommen Ersatzhandlungen funktionalisiert oder gar zynisch zur Manipulation genutzt wurde, in jedem Fall glauben immer noch viel mehr Menschen-- und auch Politiker-- über die UNO als sie über sie wissen. Die also notwendige Entmystifzierung der UNO- - hin zu der banalen Einsicht, dass sie weder himmlisch noch höllisch, sondern einfach weltlich ist, d. h. politisch funktioniert- - mag durch den Rückgriff auf einen heidnisch-griechischen Topos angestoßen werden: In Abwandlung der Sentenz des Sophisten Gorgias aus seinem Essay »Über das Nicht-Seiende« ist über »die UNO« zu sagen, dass sie nicht existiert; wenn sie existieren würde, wäre sie nicht begreiflich; und wenn sie begreiflich wäre, wäre sie nicht zu vermitteln. Heute wäre hinzuzufügen, dass wenn sie vermittelbar wäre, dies kein Privatsender bringen würde. »Die Vereinten Nationen sind nur ein sehr bescheidenes Element im Gesamtgefüge der Institutionen, die die Beziehungen zwischen den Staaten regeln sollen. Dennoch provoziert sie heftige Emotionen und völlig gegensätzliche Meinungen. Dieses Paradox bedarf einer Erklärung. […] Es mag […] verwundern, daß gerade diese Organisation stets leidenschaftliche Zustimmung und Ablehnung, Bewunderung und Spott erregt hat und noch immer erregt, und daß über ihre Interventionen, ihre Arbeitsweise, ihre Leistungsfähigkeit und über die erforderlichen Reformmaßnahmen tagtäglich die gegensätzlichsten Meinungen vertreten werden. Dieses Paradox hat einen einfachen Grund: Im Gegensatz zu allen übrigen Elementen des aus staatlichen und privaten Organisationen geknüpften Geflechts der internationalen Beziehungen wurde die UNO nicht gegründet, um bestimmte, genau umrissene Aufgaben zu erfüllen. Sie sollte vielmehr einen Traum Wirklichkeit werden lassen. Da überrascht es nicht, daß jeder seine Wunschwww.claudia-wild.de: <?page no="124"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 124 124 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen vorstellungen, seine Enttäuschungen und Illusionen auf sie projiziert. Dieser Traum ist der Traum vom Frieden. Träume vom Frieden sind aber nicht neutral. Jeder Friede basiert auf einer Ordnung, genauer: einer Weltordnung.« Maurice Bertrand (1995, S. 9 f.) Man muss unterscheiden zwischen der Ebene, auf der versucht wird, die UNO als ziemlich komplexes Phänomen und zugleich als vielschichtigen Prozess zu betrachten und zu verstehen, und der Ebene, auf der ohne hemmende Rücksicht auf Sachverhalte über »die UNO« geredet wird, um Weltsichten und Projektionen auszudrücken, die mit der konkreten internationalen Organisationen nichts oder nicht viel zu tun haben. Die gängigen Vorstellungen über »die UNO« in der Öffentlichkeit schwanken zwischen ● ● der vagen, aber zählebigen Idee (oder kontrafaktischen Hintergrundvorstellung), sie sei eine Art »Weltregierung« und ● ● der abgeklärt-skeptischen Einsicht, sie sei lediglich eine institutionalisierte »permanente Botschafterkonferenz«. Auch ungeachtet besseren Wissens werden überzogene Erwartungen an »die UNO« zumindest implizit gehegt und gepflegt: Sie soll jedes irgendwie denkbare politische, soziale und kulturelle Problem erkennen, klären, aufgreifen und lösen. Da das nicht so schön funktioniert, erheben sich Enttäuschung und Pauschalkritik, die zumal in der breiten Medien-Öffentlichkeit oft sehr undifferenziert und weit entfernt von der Materie schwadroniert und leitartikelt werden. So wird »der UNO« gerne vorgeworfen, sie sei untätig, unfähig und uneffizient-- und das oft von den gleichen Leuten, die ungeachtet möglichen besseren Wissens jene irrealen Erwartungen geschürt haben. Der häufig in den USA, aber auch bei uns zu hörende pauschale Vorwurf, »die UNO« sei zu teuer und letztlich Verschwendung, ist auch nicht durch den Hinweis wirkungslos zu machen, dass pro Kopf der Weltbevölkerung für das ganze UN-System jährlich weniger als 2 US-Dollar aufgewendet werden, für Rüstung aber weit über 150 US-Dollar. Meinungsstarke Gegner multilateraler Politik, ebenfalls besonders in den USA, beschwören gerne die Gefahr, die von »der UNO« als einer Weltverschwörung oder gar einer sich Allmacht anmaßenden »Weltregierung« ausgingen. Die bei uns gängigere Variante, nach der »die UNO« verstanden wird als hoffnungsvolles Projekt einer Weltregierung, die als solches dann versagt und enttäuscht, ist zwar weniger absurd, aber auch nicht hilfreich. »Die UNO ist keine Weltregierung und behauptet auch nicht, es zu sein.« Andrew Boyd (1967, S. 21) »Die Vereinten Nationen sind keine Weltregierung und waren auch nie dazu vorgesehen.« UN Information Service Vienna (http: / / www.unis.unvienna.org/ unis/ de/ faq/ wassind.html, 2010) »Die UNO ist eine Internationale Organisation, keine Weltregierung […]. Auch wenn sie manchmal als ›Parlament der Staaten‹ bezeichnet wird, ist die UNO weder ein supranationaler Staat noch eine Regierung der Regierungen. Sie hat keine Armee und erhebt keine Steuern. Es hängt vom politischen Willen ihrer Mitglieder ab, ob ihre Entscheidungen umgesetzt werden, und sie ist auf den Beitrag der Mitgliedstaaten angewiesen, um ihre Aktivitäten auszuführen.« UN Information Service Vienna (http: / / www.unis.unvienna.org/ pdf/ This_is_the_UN_2008g.pdf.) »[…] wäre es verfehlt, sich unter der Generalversammlung eine Art ›Weltparlament‹ vorzustellen oder den Sicherheitsrat als ›Exekutive‹ zu betrachten. Erst recht wäre es falsch, das Sekretariat als ›Weltregierung‹ zu verstehen.« Andreas Blätte (2002, S. 32) Gegen all dies hilft nichts anderes als darzustellen zu versuchen, ● ● dass es »die [eine] UNO« nicht gibt, sondern allenfalls ein komplex differenziertes und vielschichtig verflochtenes, aber auch widersprüchliches »System« der Vereinten Nationen, dessen Kern die Hauptwww.claudia-wild.de: <?page no="125"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 125 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 125 organe und dessen Grundlage die vielfach veraltete, aber funktionierende Charta der Vereinten Nationen sind; ● ● wer »die UNO« ist bzw. wer die in ihr und durch sie handelnden maßgeblichen Akteure sind-- und wer allenfalls am Rande mitspielt oder lediglich als schmückendes Beiwerk dienen darf; ● ● was die UNO im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen nicht ist und nicht leisten kann; ● ● als was sie jedoch analytisch zu konzipieren, wie sie zu verstehen ist, ● ● was zu Recht und real von ihr zu erwarten ist, ● ● welche Arbeitsweise(n) und Methoden in ihr konkret eingesetzt werden (können). Wenn die Charta der Vereinten Nationen keine Verfassung eines Weltstaats, die Generalversammlung kein Weltparlament, der Sicherheitsrat keine Weltregierung oder der Generalsekretär kein Weltpräsident ist, dann findet sich in der UNO auch keine Welt-Gesetzgebung: Keine weltverfassungsgebende Versammlung von Vertretern eines Weltvolkes, kein Weltparlament oder ein anderer legitimer Gesetzgeber sind irgendwo in Sicht, nicht einmal als virtuelles Netzwerk der Zivilgesellschaft zur Fundierung ihrer »global governance«. Entsprechend kann weder »die UNO« noch eines ihrer Organe die Legitimation zu Legislativfunktionen haben; diese bleiben den (mehr oder weniger) legitimen Gesetzgebungsinstanzen in den Mitgliedsländern vorbehalten. Allerdings gibt es jene spezifische Ausnahme, der künftig größere Bedeutung zukommen könnte: In bestimmten Lagen kann der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für die Regierungen der Mitgliedstaaten rechtlich verbindliche Entscheidungen für den Einzelfall treffen; nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat der Sicherheitsrat seine Kompetenz nicht nur auf einen Einzelfall beschränkt ausgeübt, sondern erstmals beansprucht, in einer Resolution abstrakte Normen als verbindlich zu formulieren (S/ RES/ 1373 (2001)). Ob sich auf diese höchst indirekte Weise eine legitime globale Regelungskompetenz konstruieren lässt, ist stark zu bezweifeln-- aber ein Ansatzpunkt scheint gegeben. »Doch auch Fachleuten- - seien es Wissenschaftler, Diplomaten oder sonstige Experten- - fällt es nicht viel leichter als dem Mann auf der Straße, die Bedeutung und die Aktivitäten dieser Institution zu beurteilen und sich über die zur Steigerung ihrer Effizienz erforderlichen Reformmaßnahmen zu einigen. Wer regelmäßig an Kolloquien über internationale Organisationen teilnimmt, weiß um die prinzipiell unterschiedliche Wahrnehmung der UNO: Alles, was über die Weltorganisation geschrieben wird, basiert seit jeher entweder auf einem »Realismus« (bzw. Neorealismus), der jeglichen Wandel leugnet und behauptet, die internationalen Beziehungen würden weiterhin ausschließlich von nationalen Interessen beherrscht, so daß die Weltorganisationen wenig mehr seien als die Austragungsorte von Propagandafeldzügen; oder auf einem »Funktionalismus«, der, oftmals mit einer gewissen Naivität, behauptet, die Kontakte zwischen Experten brächten eine gemeinsame Kultur des Friedens hervor, die den endgültigen Sieg der westlichen Wertvorstellungen sicherstelle; oder auf einem im allgemeinen konservativen und rein deskriptiven Legalismus; oder auf theoretisch nicht weiter untermauerten Thesen von einer wechselseitigen Verflechtung der Einzelstaaten, oder auch auf-- in unterschiedlichem Grade-- utopischen Diskursen über die Kraft der Menschenrechte, der sittlichen Werte und der Demokratie, die letztlich zu einer Art föderaler Weltordnung führen werde; auf sie stützte sich schon der Idealismus des ehemaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson.« Maurice Bertrand (1995, S. 11) Wenn die UNO keine Agentin des Weltgeistes in operativer Absicht ist, wie wäre sie dann griffig zu charakterisieren? Sinnvoller als die Alternative Weltregierung vs. Botschafterkonferenz ist die schon dargestellte (s.- Kap. 4.1) Dreiteilung der möglichen Funktionen von Internationalen Organisationen in Anwendung auf das UN-System (nach Rittberger/ Mogler/ Zangl 1997, S. 23; vgl. Rittberger/ Zangl 2008, S. 23 und Wolf 2005, S. 30 f.). Die Leistungen, die von der UNO zu erwarten wären, nämlich <?page no="126"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 126 126 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ● ● als politisches Instrument für die Interessendurchsetzung von Hegemonialmächten zu dienen, ● ● das Gesprächsforum oder die Kampfarena für ein international-multilaterales Verhandlungssystem für die kooperative Bearbeitung globaler Probleme zu bieten, ● ● als ein entstehender welt(bundes)staatlicher Akteur der Souveränität der alten Nationalstaaten immer engere Grenzen zu setzen und sie letztlich aufzulösen, sind sinnvollerweise als emergent aufeinander aufbauende Schichten, nicht als sich ausschließende Alternativen zu verstehen. […] »drei Rollen, welche die VN im Prozess der Zivilisierung der internationalen Beziehungen einnehmen können: (1) Die VN fungieren als Instrument einer hegemonialen Macht oder eines Konzerts von eng miteinander zusammenarbeitenden hegemonialen Mächten. Sie dienen dazu, deren ›privates Monopol‹ der Verfügung über die Mittel physischer Gewalt in den internationalen Beziehungen zu fördern, abzusichern oder zum Einsatz zu bringen. (2) Die VN stellen eine entstehende überstaatliche Autorität dar, die welt(bundes)staatliche Aufgaben erfüllt. Diese Autorität beruht auf einem zwischen den VN und ihren Mitgliedstaaten verteilten ›öffentlichen (Gewalt-) Monopol‹ in den internationalen Beziehungen. Die VN treten in dieser Sichtweise zunehmend als (›zusammengesetzter‹ oder ›korporativer‹) welt(bundes) staatlicher Akteur in der internationalen Politik auf. (3) Die VN konstituieren ein globales Verhandlungssystem in der Gestalt eines Netzwerks von Verhandlungsforen, durch welche die Selbstkoordination und Selbstregulierung zwischen formal unabhängigen Staaten, anderen internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen gefördert wird. Insoweit bilden sie die obere Ebene eines Mehrebenensystems globalen Regierens in Abwesenheit einer voll entwickelten welt(bundes)staatlichen Regierung.« Volker Rittberger/ Martin Mogler/ Bernhard Zangl (1997, S. 23) Die mittlere Schicht der Funktion des Verhandlungssystems könnte noch differenziert werden mit den bewährten Leistungen von Internationalen Organisationen (s.-Kap. 4.1): die UNO bzw. ihre Untergliederungen ● ● besorgen und bewerten Informationen und beobachten und analysieren Entwicklungen, ● ● bündeln Einzelinteressen zu denen von Gruppen oder gar zum Gemeininteresse, ● ● verschaffen schwächeren Akteuren mehr Einfluss und stärkeren mehr Legitimität, ● ● organisieren Meinungsaustausch, Verhandlungen und Entscheidungen, ● ● fördern die Fortentwicklung von Standards, Normen und Völkerrecht, ● ● schaffen und mobilisieren Öffentlichkeit. »[1.] Die Vereinten Nationen an [der Vorstellung] einer Weltregierung im Werden zu messen, geht in der Regel mit der Vorstellung einher, Frieden könne auch in den internationalen Beziehungen nur durch eine quasi staatliche Herrschaftsordnung dauerhaft gewährleistet werden. Dazu bedürfe es einer Übertragung des Gewaltmonopols auf einen über den Staaten stehenden ›Welt-Leviathan‹, der allein autorisiert und in der Lage sein soll, Gewalt einzusetzen, um den Frieden zu erhalten. Auch wenn einem dabei schnell der Sicherheitsrat als eine Art ›kollektiver Leviathan-Ersatz‹ in den Sinn kommt, wäre es sicher irreführend, bereits von einem ›Gewaltmonopol der UNO‹ zu sprechen oder gar von einer bevorstehenden Entwaffnung der Staaten durch die Vereinten Nationen. [2.] […] werden die Vereinten Nationen nicht […] als ein Ort des Regierens ohne eine übergeordnete Regierung verstanden. Aus dieser governance-Perspektive wird das UN-System als ein instituwww.claudia-wild.de: <?page no="127"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 127 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 127 tionalisiertes Geflecht von Verhandlungsforen betrachtet. Darin werden die Staaten nicht ›von oben‹ regiert, sondern sie regieren sich auf dem Wege der freiwilligen Selbstbindung an gemeinsam ausgehandelte Normen und Regeln untereinander selbst. [3.] […] stehen die Vereinten Nationen weder als Weltregierung über den Staaten noch als Verhandlungssystem zur Verfügung der Staaten. Sie können aus dieser realpolitischen Sicht die staatliche Machtpolitik überhaupt nicht wirksam einschränken, da sie selbst nur ein Spiegelbild der weltpolitischen Kräfteverhältnisse sind […] Welche Auffassung den Wesenskern der UNO am besten trifft, ist leider nicht eindeutig zu beantworten. Dafür bietet das UN-System ein zu uneinheitliches Bild, das mit der zunehmenden Öffnung gegenüber nichtstaatlichen Akteuren noch bunter geworden ist. Angesichts der institutionellen Vielfalt und der Breite der Aufgabenfelder kann aber jedes der Deutungsangebote für bestimmte Bereiche Verständnishilfen liefern, ohne allerdings allein ein vollständiges und widerspruchsfreies Gesamtbild zu vermitteln. Gleichwohl lassen sich die Organisationen des UN-Systems wohl noch am besten als eine Inselgruppe der Zivilisation in einem Meer von Anarchie beschreiben. Deren Existenz überwindet den regellosen Naturzustand zwischen den Staaten zwar nicht grundsätzlich, aber sie leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass immer mehr Spielregeln eingeführt werden, die auch die Logik der Machtpolitik auf längere Sicht verändern.« Klaus Dieter Wolf (2005, S. 30-f; Hervorhebungen R.W.) Schon die offiziellen Bezeichnungen der Organisation, das mächtige englische »United Nations« oder auch das »diplomatisch«-vornehme deutsche »Vereinte Nationen«, sind immer schon ein Euphemismus gewesen und geblieben. Real ist, dass »die UNO« wie jede intergouvernementale Organisation in ihrer konkreten Gestalt immer ein Gremium von Vertretern von Regierungen von Staaten ist-- was nicht in jedem Fall gleichbedeutend ist mit Vertretern von Ländern und Völkern. Das »Sekretariat« der UNO ist als weisungsabhängige Service-Agentur kein Staatengremium; es bzw. das Amt des Generalsekretärs hat eine eigenständige Stellung, die einige Generalsekretäre politisch ausbauen konnten; neben der »Staaten- UNO« arbeiten die Mitarbeiter des Sekretariats als eine Art innerer Kern der Organisation, dessen Aktivitäten und Positionen von den souveränitätsfixierten Staatenvertretern aber genau beobachtet werden. Der Internationale Gerichtshof ist naturgemäß auch kein Staatengremium, aber die Richter werden von zwei Staatengremien der UNO gewählt. Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) ist bis tief in ihre Struktur hinein eine unmittelbare Folge des Zweiten Weltkriegs (s.- Kap. 4.2): Sie spiegelt die internationale Machtstruktur der Zeit des endenden Krieges und deren Widersprüche wider, aber auch die Erfahrungen mit dem machtlosen Völkerbund; was in den Aufbau und in das formale Mandat der UNO aber nicht eingeschrieben sein kann, sind die Entwicklungen von der Nachkriegszeit bis heute, zumal die »Versüdlichung« der Staatenwelt und das Aufkommen neuartiger Probleme. Ungeachtet der allgegenwärtigen »Globalisierung« ist die UNO aber keine globale politische Institution, denn es gibt dafür heute wie zur Zeit ihrer Gründung keine tragende globale politische Struktur (eines Weltstaats? ) oder gar eine Legitimation (durch eine Weltvolksversammlung? ); aber die UNO ist, da nun nahezu alle Staaten der Erde in ihr mitarbeiten, eine multilateral-universale Institution. Den Auftrag der UNO prägt also von Beginn an ein fundamentaler Widerspruch zwischen ● ● dem-- historisch zwangsläufigen und funktional notwendigen-- Dogma der unantastbaren Souveränität des (Mitglied-)Staats (»keine Einmischung in innere Angelegenheiten! «), und ● ● dem über die Zeit immer stärker gewordenen Anspruch auf ein Recht der »Staatengemeinschaft« oder gar der »Völkerfamilie« auf Intervention in die politischen Verhältnisse eines Mitgliedstaats aus besonderem Anlass, etwa bei systematischen Menschenrechtsverletzungen und/ oder aus zwingenden humanitären Gründen. <?page no="128"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 128 128 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Dieses Problem wird sich vielfach verschärfen, die Entwicklung des Völkerrechts herausfordern und zu neuen Formen des zwischenstaatlichen Verhaltens führen. Das Einmischungsverbot wird wohl im Grundsatz bestehen bleiben, aber das Ausmaß des ausschließlichen Zuständigkeitsbereichs des einzelnen Staates-- inwieweit kann er z. B. über das Leben seiner Bürger verfügen? -- wird zu diskutieren sein. Und wenn ein Recht auf Einmischung zu begründen ist, folgt daraus nicht gleich auch die Pflicht dazu (s.-in Kap. 5.2. die Ansätze zu einer »responsibility to protect«)? Der Auftrag der UNO ist aber ungeachtet der immensen Bedeutung dieser Frage viel komplexer und inzwischen über alle Lebensbereiche hin gestaffelt. In der Welt der Internationalen Organisationen heißt ein Auftrag »Mandat«-- dies ist regelrecht ein Zauberwort: Nichts passiert in der UNO und in anderen multilateralen Institutionen, ohne dass ein formelles und explizites- - wenn auch keineswegs immer eindeutiges- - »Mandat« dafür vorliegt, nichts Großes wie ein Truppeneinsatz, nichts Kleines wie die Beschaffung von Büromaterial. Die »Mandate« werden von einem für das Problem oder den Handlungsbedarf zuständigen Gremium beschlossen und vergeben, entsprechen also der Hierarchie der Instanzen in einer Organisation. Das Mandat der UNO ist in der Charta der Vereinten Nationen (United Nations Charter) formuliert. 4.3.2 Das »Mandat« der UNO: Die Charta der Vereinten Nationen Die Charta der Vereinten Nationen ist nicht die »Verfassung« oder das »Grundgesetz« der UNO, sondern sie ist als ein internationaler Vertrag die rechtliche Grundlage für Aufbau und Arbeit der Organisation-- eben nicht mehr als das ihr vorgegebene Mandat; doch damit ist die Charta zugleich als der wichtigste internationale Vertrag das Kernstück des geltenden Völkerrechts. Das ist wiederum in traditioneller Sicht eigentlich kein Recht der Völker, sondern ein zwischenstaatliches Recht (»international law«)-- die UNO ist kein Staat (mit »Verfassung«), aber von Staaten durch Vertrag als Subjekt des »Völkerrechts« als internationalem Recht gegründet. Eine korrespondierende Verwirrung- - auf englisch wie deutsch- - findet sich gleich am Anfang des Textes der Charta; bereits beim ersten Lesen fällt schon sprachlich ein deutlicher Unterschied zwischen der »Präambel« und den ersten Artikeln des Vertrags auf: Die Vorrede ist in feierlicher Hochsprache im Kontrast zum folgenden nüchternen Vertragstext verfasst; sie beginnt mit »Wir, die Völker-…« (»We the peoples-…«), was auch bewusst an den Beginn der Verfassung der USA erinnert; während die folgenden Bestimmungen nur »Nationen«, »Staaten«, »Regierungen« bzw. schlicht »Mitglieder« kennen. Wie im letzten Satz der Präambel deutlich formuliert, sind als Autor dieser feierlichen Versprechungen und Ankündigungen »die Völker« zu verstehen, die ihre Regierungen mit der Gründung der UNO im Geiste künftiger friedvoller und fortschrittlicher Zusammenarbeit beauftragen. Das ist eine Art politischer Heilsbotschaft der Völker an sich selbst aus der Höllen-Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Aber mit dem ersten Satz des eigentlichen, d. h. rechtsverbindlichen Textes der Charta ändert sich das Subjekt: nun schließen Staaten, vertreten durch ihre Regierungen bzw. deren Delegierte, einen Vertrag untereinander-- von den »Völkern« als ausschlaggebenden Akteuren wird nun nicht mehr die Rede sein. <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 129 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 129 Die Charta der Vereinten Nationen (United Nations Charter) Kapitel Artikel Bestimmungen, die inzwischen durch die historische Entwicklung (wie die nun fast universale Mitgliedschaft aller Staaten) hinfällig geworden sind, werden allenfalls in kleinerer Schrift genannt, die meisten aber nicht erwähnt; besonders wichtige oder problematische Bestimmungen sind wörtlich in »…« zitiert VN=Vereinte/ n Nationen, GV=Generalversammlung, SR=Sicherheitsrat, ECOSOC =Wirtschafts- und Sozialrat, IGH=Internationaler Gerichtshof, GS=Generalsekretär  wesentliche Bestimmungen _ Bedeutung → Arbeitsbereich(e) Präambel • »WIR, DIE VÖLKER« • »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren« • »Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein« • »Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts« • »sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit« • »Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander« • »unsere Kräfte zu vereinen […] Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse « • »wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker« _ feierliche Hochsprache vor dem nüchternen Vertragstext _ »Wir, die Völker-…« im Kontrast zum eigentlichen Vertrag, der nur »Nationen«, »Staaten«, »Regierungen« bzw. schlicht »Mitglieder« kennt I Ziele und Grundsätze 1  Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit  Wirksame Kollektivmaßnahmen gegen Bedrohungen des Friedens bzw. Angriffshandlungen und Friedensbrüche  Beilegung internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel  freundschaftliche Beziehungen unter den Nationen aufgrund der Achtung des Grundsatzes der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker  internationale Zusammenarbeit bei Problemen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art  Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion  für das alles »ein Mittelpunkt zu sein« _ die Reihenfolge ist beabsichtigt _ Konzept der »Kollektiven Sicherheit« _ »Selbstbestimmung der Völker« → politische Konsequenzen? _ allgemeine Bekräftigung der Menschenrechte und Grundfreiheiten _ »Mittelpunkt« → Generalklausel zu umfassender Zuständigkeit (Generalkompetenz)? 2  Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Mitglieder  Erfüllung aller Verpflichtungen aus der Charta  Einsatz friedlicher Mittel im Streitfall  keine Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates  Beistandsverpflichtung für alle Maßnahmen  kein Eingreifen in Angelegenheiten, die zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören <?page no="130"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 130 130 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen _ oberste Maßgabe ist nicht das Prinzip der Souveränität an sich, sondern die »souveräne Gleichheit« aller Mitgliedstaaten _ wohl aber aufgrund des Souveränitätsprinzips ein Nicht-Einmischungsgebot, das auch als ausdrückliches Interventionsverbot verstanden werden kann _ Gewaltverbot und zugleich Beistandsverpflichtung II Mitgliedschaft 4  Mitglied können alle friedliebenden Staaten werden, die fähig und willens sind, die Verpflichtungen laut Charta zu erfüllen  Aufnahme auf Empfehlung des SR durch GA 5  Entzug der Mitgliedsrechte auf Empfehlung des SR durch die GV 6  Ausschluss auf Empfehlung des SR durch GV III Organe 7  sechs Hauptorgane (GV, SR, ECOSOC, Treuhandrat, IGH, Sekretariat [GS])  und Nebenorgane nach Bedarf _ keine Vorschriften über Struktur, Zusammensetzung, Funktionen und Kompetenzen von subsidiären Organen aller Art 8  Gleichberechtigung Mann/ Frau für alle Stellen (UN-Personal) _ Grundsatz der Nichtdiskriminierung IV Generalversammlung → alle Arbeitsbereiche 9 Zusammensetzung  alle Mitgliedstaaten (maximal fünf Vertreter pro Staat) 10 Aufgaben und Befugnisse  Aufgaben und Befugnisse umfassen alle Bestimmungen und Organe der Charta  Empfehlungen an Mitglieder und/ oder den SR- - vorbehaltlich Art. 12 11  Befassung mit den Grundsätzen der Zusammenarbeit zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie für die Abrüstung und Rüstungsregelung  Erörterung aller die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Fragen auf Aufforderung eines Mitglieds oder des SR (oder nach Art. 35 Abs. 2); ggf. Verweisung an den SR  »[…] kann die Aufmerksamkeit des SR auf [friedens- oder sicherheitsbedrohende] Situationen lenken« _ Ansatzpunkt für die umstrittene »Uniting for Peace«-Resolution (die GV kann eine Angelegenheit behandeln, wenn der SR seine Hauptverantwortung nicht wahrnimmt) 12  Solange der SR mit einer Angelegenheit entsprechend der Charta befasst ist, darf die GV dazu keine Empfehlung abgeben, außer auf Ersuchen des SR  Unterrichtung über die Arbeit des SR durch den GS _ Einschränkung der Kompetenz der GV <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 131 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 131 13  Untersuchungen und Empfehlungen zur internationalen politischen Zusammenarbeit und zur Entwicklung des Völkerrechts sowie seiner Kodifizierung  Untersuchungen und Empfehlungen zur internationalen Zusammenarbeit in Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung und Gesundheit sowie zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten  weitere »Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Befugnisse« der GV« zu diesen Arbeitsfeldern in Kap. IX und X _ Problem der Kompetenz-Abgrenzung zwischen GV und ECOSOC 14  Empfehlung von Maßnahmen zur friedlichen Bereinigung jeder Situation, die das allgemeine Wohl oder die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Nationen beeinträchtigen könnte oder in der die Bestimmungen über Ziele und Grundsätze der VN verletzt werden-- vorbehaltlich Art. 12 15  Die GV erhält und prüft Jahresberichte und Sonderberichte des SR  Die GV erhält und prüft Berichte der anderen Organe der VN _ formal hat die GV damit die Oberaufsicht über alle Organe der VN 17  Genehmigung und Prüfung des Haushaltsplan der Organisation und aller Finanz- und Haushaltsabmachungen mit den Sonderorganisationen nach Art. 57  Festsetzung des Verteilungsschlüssels für die Finanzierung der Ausgaben durch die Mitglieder _ praktisch die wichtigste ungeteilte Kompetenz der GV 18 Abstimmung  Jedes Mitglied der GV hat eine Stimme  In wichtigen Fragen (Frieden und Sicherheit, Wahlen in SR und ECOSOC, Aufnahme von Mitgliedern, Entzug von Mitgliedsrechten, Haushalt) ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder nötig  andere Fragen (einschließlich der Bestimmung weiterer Fragen, über die mit Zwei-Drittel-Mehrheit zu beschließen ist) bedürfen der Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder _ Gleichheitsgrundsatz ungeachtet des politischen und/ oder ökonomischen Gewichts _ Zwei-Drittel-Mehrheit bei wichtigen Fragen → auch bei Sachthemen? 19  kein Stimmrecht, wenn ein Mitglied mit der Zahlung seiner finanziellen Beiträge zwei Jahre oder mehr im Rückstand ist  Ausübung des Stimmrechts kann aber gestattet werden, wenn nach Überzeugung der GV der Zahlungsverzug auf Umständen beruht, die das Mitglied nicht zu vertreten hat _ dennoch ist Zahlungsverweigerung ein politisches Druckmittel wichtiger Mitglieder wie der USA 20 Verfahren  Die GV tritt zu ordentlichen Jahrestagungen und zu außerordentlichen Tagungen zusammen, wenn die Umstände dies erfordern  Außerordentliche Tagungen hat der GS auf Antrag des SR oder der Mehrheit der Mitglieder der VN einzuberufen _ weiterer Ansatzpunkt für die »Uniting for Peace«-Resolution [vgl. Art. 11] <?page no="132"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 132 132 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen 21  Die GV gibt sich eine Geschäftsordnung  Die GV wählt für jede Tagung einen Präsidenten 22  Die GV kann Nebenorgane einsetzen, soweit sie dies für erforderlich hält _ die Einsetzung von Nebenorganen ist möglich und wurde ausgiebig genutzt V Sicherheitsrat → Frieden und Sicherheit 23 Zusammensetzung  Der SR besteht aus 15 Mitgliedern (je ein Vertreter pro Land)  -Ständige Mitglieder des SR sind »die Republik China, Frankreich, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika«  Die GV wählt zehn weitere Mitglieder der VN zu nichtständigen Mitgliedern des SR; sie berücksichtigt dabei den Beitrag zu Wahrung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit und zur Verwirklichung der anderen Ziele »sowie ferner eine angemessene geographische Verteilung der Sitze«  Die nichtständigen Mitglieder des SR werden für zwei Jahre gewählt [jedes Jahr je fünf ]; ausscheidende Mitglieder können nicht gleich wiedergewählt werden _ die Liste der ständigen Mitglieder wurde nie geändert (→ China, Russland) _ »angemessene geographische Verteilung« nur bei den nichtständigen Sitzen 24 Aufgaben und Befugnisse  Dem SR wird die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen  Der SR handelt bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung im Namen der Mitglieder der VN  Der SR handelt dabei im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der VN  Der SR handelt aufgrund der ihm hierfür eingeräumten besonderen Befugnisse nach Kapitel VI, VII, VIII und XII  -Der SR legt der GV Jahresberichte und Sonderberichte »zur Prüfung« vor _ weitgehend exklusive Zuständigkeit des SR für Frieden und Sicherheit 25  Die Mitglieder der VN sollen die Beschlüsse des SR annehmen und durchführen _ Gewaltmonopol des SR, vgl. die Beistandsverpflichtung [Art. 49] 26  Der SR ist beauftragt, Pläne zu einem System der Rüstungsregelung auszuarbeiten, damit weltweit möglichst wenig Ressourcen für »Rüstungszwecke abgezweigt« werden _ weitgehend nicht erfüllt 27 Abstimmung  Jedes SR-Mitglied hat eine Stimme  In Verfahrensfragen ist die Zustimmung von neun Mitgliedern nötig  Beschlüsse über alle sonstigen Fragen »bedürfen der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständigen Mitglieder«  -Streitparteien sollen sich der Stimme enthalten _ das sog. Veto-Recht gibt den ständigen Mitgliedern einzeln eine unbedingte Verweigerungsmacht und als Gruppe eine Vormachtstellung: Sie müssen zustimmen, doch als »Veto« gilt in der Praxis nur eine Ablehnung (Nein-Stimme), nicht schon eine Enthaltung oder gar ein Fernbleiben von der Sitzung _ kollektives «6.« Veto möglich durch sieben Neinstimmen nichtständiger Mitglieder <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 133 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 133 28 Verfahren  Der SR muss seine Aufgaben ständig wahrnehmen können; alle Mitglieder müssen jederzeit am Sitz der UNO vertreten sein  -Der SR tritt regelmäßig zu Sitzungen zusammen  Vertretung eines Mitglieds durch ein Regierungsmitglied oder durch einen eigens hierfür bestellten Delegierten ist möglich  Der SR kann auch an anderen Orten als dem Sitz der UNO zusammentreten 29  Der SR kann Nebenorgane einsetzen, soweit er dies für erforderlich hält _ diese Möglichkeit nutzte er im Gegensatz zu GV und ECOSOC nur mäßig 30  Der SR gibt sich eine Geschäftsordnung, die auch die Wahl seines Präsidenten regelt 31  Ein VN-Mitglied, das nicht Mitglied des SR ist, kann an einer Erörterung des SR ohne Stimmrecht teilnehmen, wenn dieser Interessen des Mitglieds besonders betroffen sieht 32  Staaten, die nicht Mitglieder des SR sind, werden eingeladen, an einer Erörterung des SR ohne Stimmrecht teilzunehmen, wenn sie Streitpartei sind VI friedliche Beilegung von Streitigkeiten → Frieden und Sicherheit 33  Streitparteien »bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl«  Der SR fordert die Parteien dazu auf, »wenn er dies für notwendig hält« 34  Der SR »kann jede Streitigkeit sowie jede Situation, die zu internationalen Reibungen führen oder eine Streitigkeit hervorrufen könnte, untersuchen, um festzustellen, ob die Fortdauer der Streitigkeit oder der Situation die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte« _ der SR hat Definitionsmacht, was »Bedrohung« oder gar »Bruch« des Friedens ist 35  Jedes VN-Mitglied »kann die Aufmerksamkeit« des SR oder der GV (nur im Rahmen von Art. 11 und 12) auf jede Streitigkeit bzw. auf jede Situation nach Art. 34 »lenken« _ einzelne Mitgliedstaaten können Befassung des SR anregen, aber nicht erzwingen 36  Der SR kann in jedem Stadium einer Streitigkeit Empfehlungen geben und soll alle von den Parteien schon angewandten Verfahren in Betracht ziehen  die Parteien sollen Rechtsstreitigkeiten dem IGH unterbreiten 37  Können die Parteien eine Streitigkeit nicht nach Art. 33 beilegen, legen sie die Streitigkeit dem SR vor  Wenn der SR durch die Fortdauer der Streitigkeit eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit befürchtet, kann er nach Art. 36 tätig werden oder ihm angemessen erscheinende Empfehlungen für eine Beilegung abgeben _ keine Maßnahmen zum peace-keeping (»Blauhelm«-Einsätze) vorgesehen 38  Wenn alle Parteien einer Streitigkeit dies beantragen, kann der SR Empfehlungen zur friedlichen Beilegung an diese richten (unbeschadet der Art. 33 bis 37) _ Ansatzpunkt für das in der Charta nicht vorgesehene peace-keeping (»Blauhelm«-Einsätze) mit Zustimmung der Konfliktparteien <?page no="134"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 134 134 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen VII Maßnahmen bei der Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen → Frieden und Sicherheit 39  Der SR »stellt fest, ob eine Bedrohung, ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt«  Der SR gibt Empfehlungen ab oder beschließt Maßnahmen nach Art. 41/ 42 zur Wahrung oder Wiederherstellung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit _ der SR hat Definitionsmacht, was »Bedrohung« oder gar »Bruch« des Friedens ist 40  Der SR kann die Konfliktparteien zu vorläufigen Maßnahmen auffordern, die die Rechte der Parteien nicht berühren, um einer Verschärfung der Lage vorzubeugen  »Wird den vorläufigen Maßnahmen nicht Folge geleistet, so trägt der SR diesem Versagen gebührend Rechnung« 41  Der SR kann zur Durchsetzung seiner Beschlüsse die Mitglieder der VN auffordern, Maßnahmen »unter Ausschluss von Waffengewalt« durchzuführen (Unterbrechung von Wirtschaftsbeziehungen, Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen, Abbruch der diplomatischen Beziehungen) _ der SR hat das Recht, »Sanktionen« zu verhängen _ keine Maßnahmen zum peace-keeping (sog. Blauhelm-Einsätze) vorgesehen 42  Ist der SR der Auffassung, dass Maßnahmen nach Art. 41 nicht ausreichen, »so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen«, durch »Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der VN« _ der SR hat das Recht zu militärischen Zwangsmaßnahmen (die »Lizenz zum Töten«) 43  Alle Mitglieder der VN verpflichten sich, dass sie dazu »dem SR auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen, Beistand leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts gewähren«  -und zwar »nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen« (über Zahl und Art der Streitkräfte usf.), die baldmöglichst zwischen dem SR und Einzelmitgliedern oder Mitgliedergruppen ausgehandelt und beschlossen werden _ solche Sonderabkommen i. e. S. kamen nie zustande, allenfalls freiwillige Zusagen 44  Teilnahme eines im SR nicht vertretenen Mitglieds, bevor es nach Art. 43 zur Stellung von Streitkräften aufgefordert wird, an Beschlüssen über deren Einsatz 45  Die Mitglieder der VN halten Kontingente ihrer Luftstreitkräfte zum sofortigen Einsatz bereit gemäß der Sonderabkommen nach Art. 43 46  Bei der Anwendung von Waffengewalt unterstützt der Generalstabsausschuss den SR 47  Ein Generalstabsausschuss, zusammengesetzt aus den Generalstabschefs der ständigen Mitglieder, soll den SR in allen militärischen Fragen (auch Rüstungsregelung und Abrüstung) beraten und unterstützen  -Der Generalstabsausschuss soll unter der Autorität des SR die strategische Leitung aller dem SR zur Verfügung gestellten Streitkräfte haben <?page no="135"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 135 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 135 _ der Generalstabsausschuss konnte nie ernsthaft zu arbeiten beginnen 48  Maßnahmen [nach Art. 42] »werden je nach dem Ermessen des SR von allen oder von einigen Mitgliedern« durchgeführt,  unmittelbar oder »in den geeigneten internationalen Einrichtungen«, in denen sie Mitglieder sind _ somit können auch Militärbündnisse wie die NATO beauftragt werden 49  »Bei der Durchführung der vom SR beschlossenen Maßnahmen leisten die Mitglieder der VN einander gemeinsam handelnd Beistand« _ Beistandsverpflichtung für die »kollektive Sicherheit« 50  Jeder andere Staat, der wegen Vorbeugungs- oder Zwangsmaßnahmen wirtschaftliche Probleme bekommt, kann zu deren Lösung den SR konsultieren 51  Im Falle eines bewaffneten Angriffs ist »keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung« beeinträchtigt, so lange »bis der SR die erforderlichen Maßnahmen […] getroffen hat«  Maßnahmen in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts sind dem SR sofort anzuzeigen; sie beschränken nicht seine Befugnis und Pflicht zur Friedenswahrung _ das Gewaltmonopol des SR ist dadurch nicht eingeschränkt VIII Regionale Abmachungen → Frieden und Sicherheit 52  »Regionale Abmachungen oder Einrichtungen«, die mit Zielen und Grundsätzen der VN vereinbar sind, können zur Wahrung von Frieden und internationaler Sicherheit geeignete Maßnahmen regionaler Art ausführen  Durch solche Abmachungen oder Einrichtungen sollen Mitglieder der VN örtlich begrenzte Streitigkeiten friedlich beizulegen versuchen, bevor sie den SR einschalten  Der SR fördert dies auf Veranlassung der beteiligten Staaten oder durch Überweisung seinerseits  Art. 34/ 35 werden dadurch nicht beeinträchtigt 53  Der SR kann regionale Abmachungen oder Einrichtungen bei Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität einsetzen  Ohne seine Ermächtigung sind Zwangsmaßnahmen aufgrund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht erlaubt _ der SR kann Aufgaben an Regionalorganisationen delegieren, behält aber die übergeordnete Kompetenz 54  Der SR ist über entsprechende Maßnahmen oder Absichten zu informieren IX Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet → Menschenrechte/ Entwicklung/ Wirtschaft/ Umwelt 55  Die VN fördern Stabilität und Wohlfahrt, »damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen« können  Aufgabenbereiche sind: • Verbesserung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung, Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg • Lösung internationaler wirtschaftlicher, sozialer und gesundheitlicher Probleme sowie internationale Zusammenarbeit in Kultur und Erziehung • Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten <?page no="136"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 136 136 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen _ Grundlage dafür ist ein positiver Friedensbegriff-- umfassender als kein Krieg 56  Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit für diese Ziele 57  Dazu werden verschiedene durch zwischenstaatliche Übereinkünfte errichtete »Sonderorganisationen« mit den VN »in Beziehung gebracht« (nach Art. 63) _ die Sonderorganisationen sind rechtlich und finanziell selbständig und werden mit der Kern-UNO durch Verträge als Teile des Systems der VN verbunden 58  Die VN geben Empfehlungen zur Koordination der Sonderorganisationen 59  Die VN veranlassen ggf. Staaten zur Errichtung neuer Sonderorganisationen 60  Verantwortlich sind »die GV und unter ihrer Autorität der ECOSOC« (nach Kap. X) _ Problem der Kompetenz-Abgrenzung zwischen GV und ECOSOC X Wirtschafts- und Sozialrat → Menschenrechte/ Entwicklung/ Wirtschaft/ Umwelt 61  Der ECOSOC besteht aus 54 von der GV gewählten Mitgliedern der VN  Jährlich werden 18 Mitglieder des ECOSOC für drei Jahre gewählt, wobei ein ausscheidendes Mitglied unmittelbar wiedergewählt werden kann  Jedes Ratsmitglied hat einen Vertreter 62  Untersuchungen und Berichte über internationale Angelegenheiten zu Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung, Gesundheit u. Ä.  -Empfehlungen an die GV, die Mitglieder der VN und die Sonderorganisationen  Empfehlungen zur Förderung der Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle  Entwurf von Übereinkommen zur Vorlage für die GV  Einberufung internationaler Konferenzen zu diesen Fragen _ Problem der Kompetenz-Abgrenzung zwischen GV und ECOSOC _ der neue Arbeitsbereich Umwelt gehört analog auch zur Kompetenz des ECOSOC _ Zuständigkeit für öffentlichkeitswirksame »Welt-Konferenzen« und »Gipfel« 63  Abkommen mit Sonderorganisationen zur Zusammenarbeit (nach Art. 57), die von der GV zu genehmigen sind  Koordination der Tätigkeit der Sonderorganisationen durch Konsultationen mit ihnen und Empfehlungen an sie, die GV und die Mitglieder der VN _ der ECOSOC verhandelt und regelt die Zusammenarbeit mit den selbständigen Sonderorganisationen im System der VN 64  Anspruch auf regelmäßige Berichte von den Sonderorganisationen  Der ECOSOC »kann der GV seine Bemerkungen zu diesen Berichten mitteilen« _ der ECOSOC teilt das Recht auf Berichterstattung mit der GV 65  Auskünfte an den SR und Unterstützung für ihn »auf dessen Ersuchen« 66  Durchführung von Empfehlungen der GV  der ECOSOC leistet »mit Genehmigung der GV« alle Dienste, um die Mitglieder der VN oder Sonderorganisationen ersuchen  -Der ECOSOC erfüllt alle sonstigen Aufgaben nach der Charta oder im Auftrag der GV <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 137 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 137 _ Problem der Kompetenz-Abgrenzung zwischen GV und ECOSOC 67  Jedes Mitglied im ECOSOC hat eine Stimme  Beschlüsse bedürfen der Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder 68  Der ECOSOC setzt Kommissionen für wirtschaftliche und soziale Fragen und für die Förderung der Menschenrechte »sowie alle sonstigen zur Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlichen Kommissionen« ein _ das Recht zur Einsetzung von Kommissionen wurde ausgiebig genutzt 69  Betroffene Mitgliedstaaten können zu Beratungen ohne Stimmrecht eingeladen werden 70  Der ECOSOC kann Abmachungen treffen, damit Vertreter von Sonderorganisationen ohne Stimmrecht an seinen Beratungen und Kommissionen teilnehmen und vice versa 71  Der ECOSOC kann Konsultationen mit internationalen und nationalen nichtstaatlichen Organisationen vereinbaren, die sich mit Angelegenheiten seiner Zuständigkeit befassen _ Zuständigkeit für die Zulassung von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs/ INGOs) zu Beobachtung, Anhörung und Mitarbeit in der UNO bzw. im System der VN 72  Der ECOSOC gibt sich eine Geschäftsordnung, die sein Zusammentreten nach Bedarf oder auf Antrag der Mehrheit seiner Mitglieder und die Wahl seines Präsidenten regelt XI Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung _ historisch erledigt 73  Prinzip der Selbstregierung und Entwicklung abhängiger Gebiete _ Entkolonialisierungsgrundsatz XII Das internationale Treuhandsystem → ehemalige Mandatsgebiete _ historisch erledigt XIII Der Treuhandrat → ehemalige Mandatsgebiete _ historisch erledigt XIV Der Internationale Gerichtshof → Streitschlichtung und Völkerrechtsentwicklung 92  Der IGH ist das Hauptrechtsprechungsorgan der VN  Der IGH arbeitet nach Maßgabe seines Statuts, das Bestandteil dieser Charta ist 93  Alle Mitglieder der VN sind Vertragsparteien des Statuts des IGH 94  Jedes Mitglied der VN muss als Streitpartei die Entscheidung des IGH befolgen  Tut dies eine Streitpartei nicht, kann sich die andere Partei an den SR wenden, der dann zur Durchsetzung des Urteils Empfehlungen geben oder Maßnahmen beschließen kann _ zumindest prinzipiell gibt es eine Möglichkeit zur Durchsetzung von Urteilen 95  Aufgrund bestehender oder künftiger Abkommen können Mitglieder der VN die Beilegung ihrer Streitigkeiten auch anderen Gerichten zuweisen _ … oder auch anderen Streitschlichtungsmechanismen (z. B. der WTO) <?page no="138"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 138 138 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen 96  Die GV und der SR können über jede Rechtsfrage ein Gutachten des IGH anfordern  -Auch andere Organe der VN und Sonderorganisationen können mit Erlaubnis der GV Gutachten des IGH über Rechtsfragen aus ihrem Tätigkeitsbereich anfordern _ der IGH produziert in der Praxis eher Rechtsgutachten als Urteile XV Das Sekretariat → alle Arbeitsbereiche 97  Der GS als höchster Verwaltungsbeamter und die »sonstigen von der Organisation benötigten Bediensteten« bilden das Sekretariat  Der GS wird auf Empfehlung des SR von der GV ernannt _ das Sekretariat ist nicht nur ein Hilfsorgan, sondern vollwertiges Hauptorgan 98  Bei allen Sitzungen von GV, SR, ECOSOC und Treuhandrat ist der GS »tätig und nimmt alle sonstigen ihm von diesen Organen zugewiesenen Aufgaben wahr«  Der GS berichtet jährlich der GV über die Tätigkeit der Organisation 99  Der GS »kann die Aufmerksamkeit des SR auf jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist«, Frieden und Sicherheit international zu bedrohen _ der GS hat also auch genuin politische Aufgaben, was immer stärker genutzt wurde 100  Der GS und die Bediensteten dürfen von keiner Regierung oder »Autorität außerhalb der Organisation« Weisungen erfragen oder erhalten  Sie dürfen nichts tun, was »ihrer Stellung als internationale, nur der Organisation verantwortliche Bedienstete abträglich sein könnte«  Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den »ausschließlich internationalen Charakter der Verantwortung« des GS und seiner Mitarbeiter »zu achten und nicht zu versuchen, sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen« _ die Mitarbeiter des Sekretariats sind unmittelbar dem GS unterstellt und nur den VN verpflichtet, nicht einzelnen Mitgliedsländern-- dieses Gebot ist für eine internationale Organisation essentiell, aber meist unrealistisch 101  Der GS ernennt die Bediensteten nach den von der GV beschlossenen Regeln  Sekretariatsangehörige werden dem ECOSOC und erforderlichenfalls anderen Organen als ständige Bedienstete zugeteilt  Bei Einstellung und Dienstverhältnis ist »ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit, fachlicher Eignung und Ehrenhaftigkeit zu gewährleisten«  »Der Umstand, dass es wichtig ist, die Auswahl der Bediensteten auf möglichst breiter geographischer Grundlage vorzunehmen, ist gebührend zu berücksichtigen« _ möglicher Widerspruch zwischen der Forderung nach Unabhängigkeit bzw. Qualität des Personals und geographischem Proporz ? XVI Verschiedenes → Bestimmungen für die Arbeit der UNO 102  Registrierung und Veröffentlichung internationaler Verträge durch das Sekretariat  -Dies gewährleistet deren Gültigkeit innerhalb der VN 103  Vorrang der Verpflichtungen aus der VN-Charta vor Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, falls sie sich widersprechen <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 139 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 139 _ völkerrechtlicher Vorrang der VN-Charta vor allen anderen internationalen Verträgen, z. B. hinsichtlich des Anspruchs auf das Gewaltmonopol des SR 104  Rechts- und Geschäftsfähigkeit der VN im Hoheitsgebiet jedes Mitglieds _ obwohl kein Staat ist die UNO Völkerrechtssubjekt 105  Vorrechte und Immunitäten der VN im Hoheitsgebiet jedes Mitglieds  Vorrechte und Immunitäten ihrer Vertreter und Bediensteten ebendort  Zuständig ist die GV XVII Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit → Kriegssituation _ historisch erledigt 106  Übergangsregelungen bis zur vollen Arbeitsfähigkeit der VN 107  Feindstaatenklausel: Maßnahmen gegenüber einem Staat, »der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war«, sind weder außer Kraft gesetzt noch untersagt XVIII Änderungen → Charta-Änderungen (→ UN-Reform) 108  Beschluss der GV mit Zwei-Drittel-Mehrheit und  Ratifizierung »nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts« durch zwei Drittel der Mitgliedstaaten, inkl. aller ständigen Mitglieder des SR _ hohe Hürden für Charta-Änderungen und also große Hemmnisse für Reformen 109  Eine Konferenz der Mitglieder der VN zur Revision der Charta ist möglich auf Beschluss einer Zwei-Drittel-Mehrheit der GV und von neun Mitgliedern des SR  Jedes Mitglied der VN hat auf dieser Konferenz eine Stimme  Von der Konferenz mit Zwei-Drittel- Mehrheit empfohlene Charta-Änderungen treten in Kraft, wenn sie »von zwei Dritteln der Mitglieder der VN einschließlich aller ständigen Mitglieder des SR nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts ratifiziert worden« sind  Möglichkeit einer von der 10. Jahrestagung der GV einzuberufenden Konferenz _ eine Konferenz zur Revision der Charta kam nie zustande XIX Ratifizierung und Unterzeichnung 110  Ratifizierung »durch die Unterzeichnerstaaten nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts«  Die Charta tritt in Kraft, wenn alle ständigen Mitglieder des SR und die Mehrheit der anderen Unterzeichnerstaaten ihre Ratifikationsurkunden hinterlegt haben bei der Regierung der USA, die dies protokolliert und notifiziert  Unterzeichnerstaaten, die danach ratifizieren, werden mit der Hinterlegung Mitglieder 111  Verbindlicher Text der Charta auf chinesisch/ französisch/ russisch/ englisch/ spanisch »ZU URKUND DESSEN haben die Vertreter der Regierungen der Vereinten Nationen diese Charta unterzeichnet. GESCHEHEN in der Stadt San Francisco am 26. Juni 1945.« <?page no="140"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 140 140 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Die wichtigsten Elemente und Probleme sind im Kasten jeweils kurz beim entsprechenden Artikel kommentiert; einige Aspekte sind hervorzuheben: Ziele und Grundsätze: Die Reihenfolge der Ziele ist so beabsichtigt, man kann sie also als Prioritätenliste lesen. Oberstes Prinzip ist nicht Souveränität an sich, sondern die »souveräne Gleichheit« aller Mitgliedstaaten; dieser Gleichheitsgrundsatz gilt ungeachtet des politischen und/ oder ökonomischen Gewichts der Staaten, von denen jeder einen Sitz und eine Stimme hat-- eingeschränkt durch die Sonderstellung der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat. Aufgrund des Souveränitätsprinzips ergibt sich das Nicht-Einmischungsgebot bzw. das Interventionsverbot. Daraus entsteht eine Spannung vor allem zum Anspruch auf Gültigkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten in allen Staaten. Ein allgemeines Gewaltverbot wird ausgesprochen, das konsequenter als das vorher gültige relative Gewaltverbot nur noch Selbstverteidigung und von der Charta festgelegte kollektive Maßnahmen zulässt; komplementär dazu ist die Verpflichtung der Staaten zur friedlichen Streitbeilegung. Eine »Selbstbestimmung der Völker« wird als gegeben gesetzt, ohne dass die politischen Konsequenzen erwogen werden (für Kolonialmächte wie auch für Separationsbestrebungen von Minderheiten). Krieg und Frieden: Ein Konzept der »Kollektiven Sicherheit« ist die Grundlage für die Friedensicherung durch die UNO. Das Gewaltverbot in Verbindung mit der Beistandsverpflichtung schafft ein spezifisches Gewaltmonopol des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, der eine weitgehend exklusive Zuständigkeit für Frieden und Sicherheit erhält: Er allein hat das Recht zu definieren, was »Bedrohung« oder gar »Bruch« des Friedens ist, und die Macht festzustellen, ob dies in einer Situation gegeben ist. Er allein hat das Recht, verschiedene Maßnahmen von der friedlichen Streitbeilegung über Sanktionen bis hin zu militärischer Zwangsgewalt zu verhängen; in der Charta sind Maßnahmen zum peace-keeping (sog. Blauhelm-Einsätze) nicht ausdrücklich vorgesehen, aber sie sind auch nirgends ausgeschlossen. Dahinter steht-- im Gegensatz zum traditionellen negativen Friedensbegriff (kein Krieg)-- ein positives Friedensverständnis, das sich umfassend und anspruchsvoll auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen von Frieden richtet; deswegen hat in der Charta der Arbeitsbereich des Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) so große Bedeutung erhalten. Den Groß- und Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wird ein Sonderstatus eingeräumt: Das sog. Veto-Recht (»Ich verbiete-…«) gibt den ständigen Mitgliedern als Einzelnen eine unbedingte Verweigerungsmacht und als Gruppe eine Vormachtstellung: Sie müssen laut Charta-Text zustimmen, damit eine Vorlage durch Abstimmung zur gültigen Resolution des Sicherheitsrats werden kann, doch als »Veto« gilt in der Praxis nur noch eine Ablehnung (Nein-Stimme), nicht schon eine Enthaltung oder gar ein Fernbleiben von der Sitzung. Es gibt aber auch ein oft übersehenes kollektives «6.« Veto, das eingelegt werden kann durch sieben Neinstimmen nichtständiger Mitglieder. Die Liste der ständigen Mitglieder wurde nie geändert, wie wohl die gemeinten Staaten sich wesentlich änderten (Volksrepublik China an Stelle der Republik China [Taiwan], die Russische Föderation statt der aufgelösten UdSSR). Eine »angemessene geographische Verteilung« ist nur bei den nichtständigen Sitzen erforderlich. Die ausschließliche Zuständigkeit des Sicherheitsrats für sicherheitspolitische Fragen kann aber durchaus angefochten werden-- und zwar von der Generalversammlung, die 1950 mit ihrer umstrittenen »Uniting for Peace«-Resolution (A/ RES/ 377(V)) beanspruchte, dass sie eine entsprechende Angelegenheit an sich ziehen kann, wenn der Sicherheitsrat seine Hauptverantwortung nicht wahrnimmt. Schutz und Durchsetzung der Menschenrechte: Die Menschenrechte und Grundfreiheiten werden nachdrücklich, aber nur sehr allgemein bekräftigt, doch es gibt kein gesondertes Kapitel der Charta dazu, kein spezielles Hauptorgan ist für ihre Pflege und ihren Schutz vorgesehen; Kompetenzen dafür haben die Generalversammlung (vgl. deren »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« 1948) und der ECO- SOC, im Konfliktfall natürlich der Sicherheitsrat und auch der Internationale Gerichtshof (IGH). Zur Auflösung der erwähnten Spannung zum Interventionsverbot gibt die Charta keine Anleitung. <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 141 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 141 Struktur und Arbeitsweise: Die Charta gibt keine Vorschriften über Struktur, Zusammensetzung, Funktionen und Kompetenzen von subsidiären (Neben-, Unter-, Spezial-)Organen aller Art. Die Sonderorganisationen sind rechtlich und finanziell selbständig und werden mit der Kern-UNO durch Verträge als Teile des UN-Systems verbunden; der ECOSOC verhandelt und regelt mit ihnen die Zusammenarbeit im UN-System. Er ist auch zuständig für die Zulassung von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs/ INGOs) zu Beobachtung, Anhörung und Mitarbeit in der UNO bzw. im UN-System. Das Sekretariat ist nicht etwa nur ein untergeordneter interner Dienstleistungsapparat, sondern vollwertiges Hauptorgan; der Generalsekretär hat auch genuin politische Aufgaben, was immer stärker genutzt wurde; die Mitarbeiter des Sekretariats sind unmittelbar dem Generalsekretär unterstellt und nur der UNO verpflichtet, nicht einzelnen Mitgliedsländern-- dieses Gebot ist für eine internationale Organisation essentiell, aber meist unrealistisch. Status und Revision der Charta: Als Vertrag hat die Charta der Vereinten Nationen völkerrechtlich Vorrang vor allen anderen internationalen Verträgen, z. B. hinsichtlich des Anspruchs auf das Gewaltmonopol des Sicherheitsrats; obwohl kein Staat, ist die UNO Völkerrechtssubjekt. Die Anforderungen für jede Änderung der Charta sind sehr hoch und bilden also große Hemmnisse für Reformen, sofern sie einer solchen Änderung bedürfen (Zwei-Drittel-Mehrheit in der Generalversammlung und Ratifikation seitens der Gesetzgeber in zwei Dritteln der Mitgliedsländer inklusive aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats); eine Konferenz als weitere Möglichkeit zur Revision der Charta kam nie zustande. Obsolete und unzureichende Bestimmungen: Einzelne Bestimmungen oder gar ganze Passagen des Vertrags sind von der historischen Entwicklung überholt oder obsolet gemacht worden, sei es, dass Bestimmungen gar nicht erst umgesetzt wurden (wie der Generalstabsausschuss und Sonderabkommen zur Truppenstellung), sei es dass die Aufgabe erledigt wurde (wie der ganze Treuhand-Bereich). Vielfach schafft der Charta-Text Probleme durch unklare Kompetenz-Abgrenzung zwischen Generalversammlung und Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) oder auch anderen Organen. »Established in 1945 by sovereign states seeking to protect themselves against external aggression, the UN was not built to confront many of the challenges that face the world today.« Thomas G. Weiss (2009, S. 19) Die Charta der Vereinten Nationen ist also weder perfekt noch allen aktuellen Problemen angemessen-- aber sie ist praktisch nicht zu ändern. Zwar ist sie bisher zweimal geändert worden: ● ● 1963/ 1965 wurde die Zahl der Mitglieder des Sicherheitsrats von elf auf 15 erhöht, indem die Sitze der nichtständigen Mitglieder von sechs auf zehn vermehrt wurden; die Zahl der Mitglieder des ECOSOC wurde von 18 auf 27 erhöht; die Änderungen wurden von der Generalversammlung 1963 beschlossen und traten 1965 in Kraft. ● ● 1971/ 1973 wurde die Zahl der Mitglieder des ECOSOC noch einmal von 27 auf 54 erhöht; die Änderung wurde 1971 beschlossen und trat 1973 in Kraft. Doch beide Änderungen waren politisch nicht umstritten und fanden leicht die Zustimmung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats; einerseits hatte die UNO damals noch weniger Mitglieder, andererseits machte der rasche Anstieg der Zahl der UN-Mitglieder die Vergrößerung der Gremien einfach notwendig. Die in den letzten Jahren diskutierten Reformvorschläge zur Erweiterung des Sicherheitsrats für eine global gerechtere Sitzverteilung werden dagegen von der Mehrheit der Mitglieder politisch nicht gleich bewertet-- zumal die etablierten Inhaber der mit dem Veto-Recht bewehrten ständigen Sitze die Idee, so ihre Vormacht zu mindern, ungeachtet manch ermunternder Worte gleichermaßen skeptisch beurteilen. <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 142 142 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Zudem sind ja eine Reihe von globalen Problemen und Arbeitsgebieten neu entstanden, von denen man mitten im Weltkrieg kaum etwas ahnen konnte und die in der Charta natürlich nicht ausdrücklich vorgesehen sind; als neue Kompetenzbereiche für die UNO lassen sie sich aber gut aus den Zuständigkeiten von Generalversammlung und ECOSOC heraus entwickeln (wie Entwicklungspolitik und Umwelt-/ Klimaschutz)- - auch wenn dabei die Kompetenzabgrenzung zwischen eben diesen Organen prekär bleibt; schließlich kann letztlich sogar der Sicherheitsrat in gravierenden Problemen aller Art eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sehen und entsprechend initiativ werden (wie im Falle von HIV/ AIDS). Eine weitere Möglichkeit einer stillen Revision der Charta ist, durch Resolutionen von Hauptorganen und gewohnheitsrechtliche Einübung Lücken einfach auszufüllen; so gilt ein virtuelles »Kapitel VI½« zwischen Kapitel VI (friedliche Beilegung von Streitigkeiten) und Kapitel VII (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen), das die schon früh als notwendig erkannten peace-keeping-Aktivitäten (»Blauhelm«-Einsätze) begründet. Eine letzte Möglichkeit ist es, eine Veränderung gar nicht erst als Abweichung vom Text der Charta zur Kenntnis und somit stillschweigend hin zu nehmen (z. B. der Konsens, dass als »Veto« nur eine Nein-Stimme gilt oder dass ein Sicherheitsratsmitglied zwar ausgetauscht wurde, aber doch dasselbe bleibt). 4.3.3 Struktur der UNO: Haupt- und Neben-Organe In der Charta ist als Grundstruktur der UNO festgelegt: ● ● Unter sechs Hauptorganen (principal organs) sind Aufgaben und Funktionen arbeitsteilig verteilt; ihre Kompetenzen, also Arbeitsbereiche und Zuständigkeiten, sind voneinander abgegrenzt-- wobei der Vorrang nicht immer eindeutig geklärt ist. ● ● Vier der Hauptorgane können sich als Untergliederungen Nebenorgane (subsidiary bodies) bzw. Spezialorgane (programmes and funds) schaffen, um sie einzusetzen zum einen als arbeitsteilig beratende Ausschüsse, zum anderen als besondere Arbeitsprogramme oder Finanzierungsfonds. ● ● Mit schon existierenden oder zukünftig zu schaffenden Sonderorganisationen (specialized agencies)-- das sind autonom-eigenständige internationale Fach-Organisationen- - kann die UNO Kooperationen vereinbaren und somit insgesamt eine Art »UN-System« bilden. Der Sitz der Hauptorgane ist New York (USA), nur der IGH hat seinen Sitz in Den Haag (Niederlande). 4.3.3.1 Die Generalversammlung Die Generalversammlung (General Assembly/ GA; s.- VN-Charta Art. 9-22; s.- Peterson 2006, 2007, Smith 2006, Smouts 2000) ist formell das zentrale Hauptorgan der Vereinten Nationen, weil in ihr alle Mitglieder der Organisation gleichberechtigt vertreten sind. Als einziges Plenar-Organ der UNO ist sie aber dennoch definitiv kein »Weltparlament«, wie sie oft unbedacht oder aus Unwissen bezeichnet wird: Sie ist eher so etwas wie die Mitgliederhauptversammlung eines Vereins-- wobei der Verein ein weltumspannender Club ist, dessen Mitglieder ausschließlich Staaten sind, vertreten durch ihre Regierungen; und diese Hauptversammlung tagt mehrere Monate lang. Die Generalversammlung verkörpert bis in ihre Arbeitsprozeduren die Universalität der UNO: Inzwischen sind in ihr nahezu alle Staaten der Erde vertreten und alle genießen gemäß dem Prinzip der souveränen Gleichheit (VN-Charta Art. 2) formal die gleichen Rechte: Bei Abstimmungen und Wahlen haben alle Staaten gleichermaßen eine Stimme nach dem Prinzip »ein Staat-- eine Stimme«-- ohne Rücksicht auf Größe, Bevölkerungszahl und wirtschaftliches Potential, auf politisches und militärisches <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 143 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 143 Abb. 2: Die Hauptorgane der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) Generalversammlung aller (193) Mitgliedstaaten Nebenorgane und Spezialorgane Nebenorgane Sonderorganisationen »Spezialorgane« Programmes und Funds selbständige Internationale Organisationen IO IO IO IO Treuhandrat obsolet - Internationaler Gerichtshof 15 Richter Sekretariat Generalsekretär ca. 5000 Mitarbeiter Wirtschafts- und Sozialrat 54 Mitglieder für drei Jahre Sicherheitsrat 5 ständige Mitglieder 10 Mitglieder zwei Jahre <?page no="144"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 144 144 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Gewicht oder geostrategische Lage o. Ä. Der Vielzahl und Vielfalt der Entscheidungsträger in der Generalversammlung entspricht die Vielfalt und Vielzahl der in ihren Debatten und Beschlüssen verarbeiteten Themen. Beide Elemente bewirken zusammen, dass die konkreten Ergebnisse der Arbeit der Generalversammlung meist noch unverbindlicher sind als ihre ohnehin mangelnde völkerrechtliche Bindungskraft nach der UNO-Charta erwarten lässt. Darin liegt auch die Schwäche der Generalversammlung im Vergleich mit dem Sicherheitsrat begründet. Dessen im internationalen System privilegierte 15 Mitglieder, unter denen die fünf ständigen dank ihres sog. Veto-Rechts eine besondere Machtstellung einnehmen, beschäftigen sich mit einem vergleichsweise klar eingegrenzten Problembereich und können bislang einmalige Rechte ausüben und effektiv Machtmittel einsetzen-- sofern sie sich einig werden. Es gibt nichts, das im weiten System der UNO auch nur von geringster Bedeutung ist, das nicht in der Generalversammlung vorgebracht und wenigstens prinzipiell und kursorisch besprochen wird-- sie deckt insofern tatsächlich alle großen Probleme der Welt und auch eine Unzahl kleinerer ab. Die Schwerpunkte sind die Fortentwicklung des Völkerrechts, Fragen der Entwicklungszusammenarbeit und der Schutz der Menschenrechte, aber auf ihrer Tagungsordnung stehen auch immer wieder Themen, die nur für den einen Staat, der sie vorbringt, bzw. dessen Führung wichtig sind. Jedoch ist der Sicherheitsrat im Vergleich politisch in der stärkeren Position, insofern die universelle Zuständigkeit der Generalversammlung in den entscheidenden sicherheitspolitischen Fragen von Krieg und Frieden stark zu seinen Gunsten eingeschränkt ist: Zwar kann sich die Generalversammlung generell und abstrakt mit der Materie befassen, nicht aber konkret und speziell mit bestimmten Konflikten, sofern der Sicherheitsrat sich darum kümmert. Nur falls dieser nicht willig oder in der Lage ist, so wenigstens der Anspruch der Generalversammlung in ihrer »Uniting for Peace«-Resolution von 1950, kann sie die Kompetenz an sich ziehen und ersatzweise tätig werden. Um die auf den ersten Blick nicht recht überzeugende Konstruktion der Generalversammlung zu verstehen, muss man ihre Entstehungsgeschichte (s.-Kap. 4.2.3) bedenken. Sie ist in ihrem Mandat und ihren Rechten der Bundesversammlung des früheren Völkerbunds sehr ähnlich, doch die Kompetenz- Abgrenzung zwischen Generalversammlung und Sicherheitsrat wurde in der UNO klarer geregelt als zwischen Bundesversammlung und Völkerbundsrat-- und zwar in entscheidenden Fragen zugunsten des dadurch wesentlich effektiveren Sicherheitsrats. Jeder Staat kann fünf Repräsentanten (natürliche Personen, normalerweise meist Berufsdiplomaten) in die Generalversammlung entsenden (sowie weitere fünf Ersatzleute benennen); bislang haben auch immer alle fünf aus einem jeden Staat Platz in der »Grand Hall«, dem Kuppelsaal der Generalversammlung gefunden, allerdings nur knapp und auf Kosten von Plätzen auf der Besucher-Tribüne. Bis auf besondere Einzelfälle sind alle Staaten Mitglieder (193 seit 2011). Nur einen Beobachterstatus in der Generalversammlung haben Staaten aus speziellen Gründen (wie derzeit nur der Heilige Stuhl/ Vatikan wegen seines komplizierten Doppelwesens) und Regierungen von nicht von allen UN-Mitgliedern anerkannten Staaten (wie Kosovo oder Palästina), sowie Sonderorganisationen und andere eigenständige internationale Organisationen wie die Europäische Union (EU); auf Beschluss der Generalversammlung können auch nationale Befreiungsbewegungen Beobachterstatus erhalten. Über Aufnahme und Ausschluss von Mitgliedern entscheidet die Generalversammlung formell selbst-- allerdings nur nach einer sie verpflichtenden »Empfehlung« des Sicherheitsrats, dem damit dieses wesentliche Recht eigentlich zusteht. Die Generalversammlung hat also die Aufgaben und das Recht, zu beraten, zu kontrollieren und zu wählen; zusätzlich leitet sie die innere Verwaltung der Organisation an. Meist wird unterschieden in interne Kompetenzen (zu Struktur und Funktionieren sowie Finanzierung der Organisation) und externe Kompetenzen (zu allen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufgabenfeldern der Organisation); verbindliche Beschlüsse kann die Generalversammlung nur intern für die UNO selbst fassen, <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 145 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 145 an die Staaten kann sie extern nur Empfehlungen abgeben. Ihre Beratungsfunktion kann sie aufgrund ihrer umfassenden Zuständigkeit zu allen in der UNO behandelten Fragen ausüben-- mit einer wesentlichen Einschränkung allerdings im Bereich Frieden/ Sicherheit, in dem eindeutig der Sicherheitsrat Vorrang hat. Für interne Angelegenheiten der UNO hat die Generalversammlung eine umfassende, aber ebenfalls nicht exklusive Kompetenz; bei einigen zentralen Entscheidungen, wie der Auswahl des Generalsekretärs, oder bei Änderungen der Charta hat der Sicherheitsrat maßgeblich mitzureden. Doch die Grenze zwischen extern und intern ist nicht bei allen Aufgaben der Generalversammlung so sauber zu ziehen, etwa bei ihren Kontrollfunktionen. Ihre Aufgaben und Rechte sind besser in drei Kategorien zu ordnen, und zwar nach den Aspekten: ● ● sachpolitische Kompetenzen: alle möglichen Themen, Probleme und Konflikte, bezogen auf die Staaten bzw. Regierungen; ● ● machtpolitische Kompetenzen: Fragen der Mitgliedschaft, der Sitz- und Ämterverteilung, Mandat (Charta), bezogen auf die Staaten bzw. Regierungen einerseits und auf die UNO und ihre Organe andererseits; ● ● administrative Kompetenzen: Struktur, Regeln, Verwaltung, Finanzen, Personal, interne Kontrolle u. Ä., bezogen auf die UNO und ihre Organe. Tab. 20: Kompetenzen der Generalversammlung Kompetenzen → gegenüber Einschränkungen VN-Charta Art. sachpolitisch a Themen/ Probleme/ Konflikte → Staaten (Regierungen) Beratung zu allen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen Vorrang des SR bei Fragen von Frieden/ Sicherheit problematische Abgrenzung der Kompetenzen im ECOSOC-Bereich 10 11 Abgabe von Empfehlungen zu allen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen 10 12 14 Entgegennahme und Prüfung von Berichten in allen Arbeitsgebieten der UNO; Beauftragung von Berichten 13 15 Fortentwicklung des Völkerrechts und seine Kodifizierung Resolutionen des SR 13 Anrufung des IGH in offenen Rechtsfragen 96 machtpolitisch a Mitgliedschaft, Wahlen → Staaten, UNO intern Entgegennahme und Prüfung der Berichte aller Organe problematische Abgrenzung 15 Aufnahme/ Ausschluss von Mitgliedern nur auf Empfehlung des SR 4-6 Wahl der Mitgliedstaaten in Hauptorgane und Gremien → SR, nichtständige Mitglieder (5 ständige M.) 23 → ECOSOC, alle 54 Mitglieder 61 → Treuhandrat, nichtständige Mitglieder (5 ständige M.) 86 <?page no="146"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 146 146 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Kompetenzen → gegenüber Einschränkungen VN-Charta Art. → neu geschaffene UN-Gremien/ Institutionen sofern der GV zugeordnet 22 Wahl von Amtsträgern → Ernennung des GS nach Nominierung durch SR nur auf Empfehlung des SR 97 → Wahl der Richter des IGH SR gleichberechtigt, separate Wahlgänge 92 → Verantwortliche neuer Institutionen sofern der GV zugeordnet 22 Änderung der VN-Charta mit 2/ 3-Mehrheit bzw. Einberufung einer Revisionskonferenz Ratifizierung durch 2/ 3 der Mitglieder inkl. aller ständigen 108 109 administrativ a Struktur/ Regeln/ Verwaltung → UN-Organisation Genehmigung der Abkommen mit Sonderorganisationen im UN-System Verhandlungen durch den ECOSOC 63 Schaffung neuer UN-Nebenorgane (und anderer untergeordneter Gremien/ Institutionen) SR und ECOSOC gründen eigene Untergliederungen 22 Regelung der Beziehungen der UNO zu ihren Mitgliedstaaten (Vorrechte und Immunitäten) 105 Finanzen der Organisation, bes. Beratung und Beschluss des Budgets und Festlegung der Höhe der Beiträge Aushandlung mit wichtigen Beitragszahler- Staaten 17 Kontrolle der Arbeit des Sekretariats 98 Personalwesen der Organisation (Einstellung und Führung nur nach den Maßstäben der UNO selbst) (also keine Beeinflussung erlaubt, aber-…) 100 101 Die Generalversammlung ist also für alle Themen der UNO zuständig, kann dazu Beratungen anregen und Berichte beauftragen und Empfehlungen abgeben-- aber sie muss sich sehr zurückhalten, wenn es um Fragen von Frieden und Sicherheit geht, deren Beratung und Behandlung weitestgehend dem Sicherheitsrat vorbehalten sind. Sie darf sich (nach VN-Charta Art. 11) nur mit den »Grundsätzen der Zusammenarbeit« in diesem Feld befassen; allerdings kann sie auf Aufforderung eines Mitglieds oder des Sicherheitsrats alle Fragen zu Frieden und Sicherheit »erörtern« und ggf. an den Sicherheitsrat verweisen sowie dessen Aufmerksamkeit auf bedrohliche Situationen lenken. Aber die Generalversammlung darf keine Empfehlung in einer Sache abgeben, solange sich der Sicherheitsrat mit ihr befasst (VN-Charta Art. 12). Das Recht und damit die Macht, neue Mitglieder aufzunehmen oder alte auszuschließen, hat letztlich der Sicherheitsrat, denn die Generalversammlung muss dessen »Empfehlung« vollziehen. Ähnlich ist es bei der Auswahl des Generalsekretärs: die Generalversammlung muss ihn aufgrund des Vorschlags des Sicherheitsrats »ernennen«. Die Richter am Internationalen Gerichtshof (IGH/ ICJ) wählt die Generalversammlung mit dem Sicherheitsrat zusammen, aber in getrennten Wahlgängen. Nur die zehn nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrats und alle 54 Mitglieder des ECOSOC darf die Generalversammlung ganz alleine wählen. Tab. 20: Fortsetzung <?page no="147"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 147 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 147 Die Generalversammlung hat weitere exklusive Kompetenzen: ● ● Schaffung neuer UN-Gremien/ Institutionen als Nebenorgane; ● ● Regelung der Beziehungen der UNO zu ihren Mitgliedstaaten, vor allem hinsichtlich von diplomatischen Vorrechten und Immunitäten, sowie weiteren administrative Regelungen (z. B. mit »Sitzstaaten«, d. h. Staaten in denen UN-Institutionen ihren Sitz haben); ● ● Verwaltung der Finanzen der Organisation, also Beratung, Beschluss, Genehmigung und Prüfung des Budgets der UNO sowie aller Finanz- und Haushaltsabmachungen mit den UN-Sonderorganisationen. Die Beschlussfassung über Haushaltsfragen bedarf einer Zwei-Drittel-Mehrheit, ist also praktisch nur im Konsens möglich; doch ist die Haushaltskompetenz die macht- und organisationspolitisch wichtigste Funktion der Versammlung. Weitere Funktionen sind die Aufstellung der Grundsätze des Personalwesens, während das UN-Personal dienstlich dem Generalsekretär als Vorgesetztem unterstellt ist. Dessen Arbeit und die seines Sekretariats zu überwachen und kontrollieren, ist wiederum Aufgabe der Generalversammlung, die ja auch die politischen Rechenschaftsberichte aller UN-Organe »entgegennimmt«. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Arbeitsweisen der Generalversammlung wegen ihrer Größe und ihrer tragenden Funktionen in der UNO kompliziert. ● ● Sie gab sich selbst eine Geschäftsordnung (rules of procedure) und entwickelte diese durch Resolutionen fort; sie schuf sich sechs Hauptausschüsse und weitere Nebenorgane, an die sie Arbeit wie Berichtsprüfungen, Beratungen und Verhandlungen bis zur Beschlussreife delegiert. ● ● Sie tritt im Herbst zu ordentlichen Jahrestagungen und jederzeit zu außerordentlichen Tagungen zusammen, wenn dies die Umstände erfordern; die Generaldebatte einer ordentlichen Versammlung ist zugleich der Laufsteg der Staaten und ihrer Regierenden. ● ● Sie gibt ihre »Empfehlungen« in formellen Beschlüssen als Resolutionen oder in ihrer Bedeutung hervorgehoben als Deklarationen zu grundsätzlichen Fragen (z. B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948); ihre Beschlüsse sind politisch oft wichtig, rechtlich aber (außer in organisationsinternen Fragen) nicht bindend. Am dritten Dienstag (exakt: am Dienstag nach dem zweiten Montag) im September tritt jedes Jahr die Generalversammlung zu ihrer ordentlichen Jahrestagung zusammen. Sie dauerte anfangs nur einige Wochen und endete spätestens kurz vor Weihnachten. Eine Fortsetzung der Versammlung bis weit ins folgende Jahr hinein ist möglich, aber die Mitgliedsregierungen vermieden dies lange Zeit; seit den 1990er Jahren erzwang die weiter steigende Mitgliederzahl und die anschwellende Agenda, dass meist noch in großem Umfang Sitzungen nach dem Jahreswechsel stattfanden. Inzwischen wird die Versammlungsperiode offiziell erst am Tag vor dem Tag der Eröffnung der neuen Jahrestagung beendet. Die Generalversammlung gibt sich einen Präsidenten, 21 stellvertretende Vorsitzende sowie die Vorsitzenden ihrer Ausschüsse, wie immer in der UNO nach einem bestimmten Regionalschlüssel. Das formell wichtigste Element der ordentlichen Jahrestagung ist die Generaldebatte. Üblich ist es, dass die Staats- oder Regierungschefs oder wenigstens die Außenminister der Mitgliedstaaten zu ihrer feierlichen Eröffnung anreisen. Dabei gilt die Regel, dass Rang vor Größe und Macht geht: Die Reihenfolge der Redner hängt ab vom staatsrechtlichen Status der redenden Person, so hat z. B. ein deutscher Außenminister Vorrang vor dem russischen, sofern er zusätzlich Vize-Kanzler, also stellvertretender Regierungschef ist; aber beide kommen erst lange nach Staatsoberhäuptern und Regierungschefs an die Reihe, egal wie unbedeutend der Staat ist, den diese präsidieren oder regieren. Je nach Weltlage und vorherrschender Stimmung zur Rolle der UNO kann die Generaldebatte ein politisches Großereignis sein oder eine Pflichtübung für Diplomaten. Nach der Generaldebatte wird die immer sehr umfangreiche Tagesordnung abgearbeitet, im Plenum und in den sechs parallel tagenden thematisch spezialisierten Hauptausschüssen und ggf. weiteren <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 148 148 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Unterausschüssen. Wegen des riesigen Problemstoffs in einer Unzahl von Tagungsordnungspunkten, die sich die Generalversammlung aufbürdet, und weil die eigentliche Generaldebatte vor allem auch politisch wichtige repräsentativ-symbolische Funktionen zu erfüllen hat, werden die fachliche Beratung der meisten Themen und die Aushandlung von Entscheidungen in Ausschüsse ausgelagert. Die sechs Hauptausschüsse zu den wichtigsten Arbeitsfeldern der UNO sind »committees of the whole«, d. h. in ihnen sind alle Mitgliedstaaten vertreten; obwohl also Mini-Generalversammlungen, sind sie wesentlich weniger mit Formalia und Ritualen befrachtet-- und funktionieren deswegen als Arbeitsgremien. In allen Ausschüssen haben sich typische Interessen- und Konfliktmuster herausgebildet: Im Ersten Ausschuss z. B. war früher der Ost-West-Gegensatz bestimmend, inzwischen ist es eher einer zwischen den derzeitigen Atomwaffenmächten, die eine nukleare Proliferation in weitere Länder verhindern wollen, und anderen, die auf eine bessere Kontrolle von Waffensystemen abzielen; im Fünften Ausschuss liegt die wichtigste Konfliktlinie zum Haushalt der UNO zwischen Entwicklungsländern, die sich mehr Mittel für die UNO und ihre Programme wünschen, und den Industrieländern, die auf Effizienz und Sparen drängen. Politisch interessant ist die Funktion der Hauptausschüsse, Projekte vorzusortieren und auszulesen; zwar reicht in ihnen formal eine einfache Mehrheit aus, um dem Plenum einen Beschlussantrag vorzulegen, aber es ist verpflichtende Übung geworden, nur solche Vorlagen zur Abstimmung zu stellen, die schon eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Hauptausschuss haben. Zusätzlich hat die Generalversammlung zwei kleinere Ausschüsse für Verfahrensfragen; zentral wichtig ist ● ● der Präsidialausschuss (General Committee oder Bureau) mit 28 Mitgliedern, der die Arbeit der Generalversammlung regelt und steuert, u. a. durch Festlegung der Tagesordnung und der Sitzungsperiode. Seine »geborenen« Mitglieder sind der Präsident und die Vizepräsidenten der Generalversammlung sowie die Präsidenten der Hauptausschüsse. Damit ein multilaterales Gremium überhaupt rechtlich begründet zusammentreten kann, müssen die konkreten Vertreter seiner Mitglieder in ihm erst einmal formal akkreditiert werden. Für die Generalversammlung erledigt dies und verwandte Fragen ein weiterer Verfahrensausschuss, ● ● der Vollmachtenprüfungsausschuss [so die amtliche deutsche Bezeichnung] (Credentials Committee) mit neun Mitgliedern, der die Akkreditierung der Gesandten der Mitgliedstaaten zur Generalversammlung prüft. Politisch interessant wird das bei Unklarheiten oder Streit über die Legitimität einer Regierung. Tab. 21: Die sechs Hauptausschüsse der Generalversammlung Committee Themen bzw. Zuständigkeit Probleme/ Konflikte Erster-… First-… Abrüstung und internationale Sicherheit Disarmament & International Security früher Ost / / West Atommächte / / andere Zweiter-… Second-… Wirtschafts- und Finanzfragen Economic & Financial Überlastung Überschneidung mit ECOSOC Nord / / Süd Dritter-… Third-… soziale, humanitäre, kulturelle Fragen Social, Humanitarian & Cultural Vierter-… Fourth-… bes. politische Fragen/ Entkolonialisierung Special Political & Decolonization Nahost-Konflikt Fünfter-… Fifth-… Verwaltungs- und Haushaltsfragen Administrative & Budgetary große Beitragszahler, bes. USA; Nord / / Süd Sechster-… Sixth-… Rechtsfragen Legal völkerrechtliche Ausarbeitung <?page no="149"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 149 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 149 Dem Fünften Ausschuss arbeiten als ständige Ausschüsse zu Haushaltsfragen zu ● ● der Beratende Ausschuss für Verwaltungs- und Haushaltsfragen (Advisory Committee on Administrative and Budgetary Questions, ACABQ) mit 16 Experten, ● ● der Beitragsausschuss (Committee on Contributions) mit 18 Experten, der bei der Aufstellung der Beitragsskala und zur Frage ausstehender Beitragszahlungen berät. In diesen beiden beratenden Ausschüssen sitzen also Fachleute oder verdiente Personen als Individuen, nicht als Staaten-Vertreter; allerdings ist eine ausgeglichene regionale Verteilung ihrer Herkunft zu sichern. Im UN-System gibt es viele solcher Beratergremien oder Kommissionen, die den formell zuständigen Staatengremien zuarbeiten; einige sind sogar recht einflussreich, weil in ihnen nicht unmittelbar einzelstaatliche Interessen vertreten werden, sondern sachliche Kriterien ausschlaggebend sein können-- so die den Sechsten Ausschuss beratende ● ● Völkerrechtskommission (International Law Commission, ILC) mit 34 Rechtsexperten, die schon den Völkerbund beriet (ab 1924) und 1946 von der UNO als Nebenorgan übernommen wurde. All diese Haupt- und Unterausschüsse arbeiten also im Rahmen der ordentlichen Tagungen der Beschlussfassung im Plenum der Generalversammlung zu. Neben den regulären Jahrestagungen sind auch Notstands-Sondertagungen möglich, die in Krisensituationen einberufen werden können, z. B. im Sinne der »Uniting for Peace«-Resolution bei einer Blockade des Sicherheitsrats; da die ordentliche Tagung inzwischen sowieso fast das ganze Jahr dauert, ist diese Möglichkeit nicht mehr so spektakulär. Schließlich kann die Generalversammlung für spezifische Themen zu Sondertagungen zusammentreten (bisher u. a. zu Abrüstung, Neue Weltwirtschaftsordnung, finanzielle Situation der Organisation und HIV/ AIDS). Große medienorientierte »events« wie der sog. Millennium-Gipfel im Jahr 2000 müssen weder eine eigenständige Konferenz noch eine Sondertagung sein, sondern können einfach ein besonders hervorgehobenes Segment der ordentlichen Jahrestagung sein. Für formelle Abstimmungen über die der Generalversammlung vorgelegten Beschlussanträge gilt (VN-Charta Art. 18): ● ● Jeder Mitgliedstaat der UNO hat nach dem Prinzip der »souveränen Gleichheit« eine Stimme. ● ● Entscheidungen werden mit einfacher Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder getroffen. ● ● Aber »wichtige Fragen« müssen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder beschlossen werden; wichtig sind: Frieden und Sicherheit, Wahlen in Sicherheitsrat und ECOSOC, Aufnahme von Mitgliedern, Entzug von Mitgliedsrechten sowie der Haushalt. ● ● Verfahrensfragen werden mit einfacher Mehrheit beschlossen, wobei die Frage, welche weiteren Fragen ggf. »wichtig«, also auch mit Zwei-Drittel-Mehrheit zu beschließen sind, selbst mit einfacher Mehrheit zu entscheiden ist. Weder in der Charta noch in der Geschäftsordnung der Generalversammlung vorgesehen, aber inzwischen praktisch höchst relevant geworden ist das Konsensus-Verfahren, im Plenum wie in den Ausschüssen: Beschlüsse werden ohne förmliche Abstimmung gefasst; der Vorsitzende eines Gremiums stellt mündlich die Übereinstimmung der anwesenden Staaten fest und erklärt den entsprechenden Beschluss als gefasst. Das kann nur funktionieren, wenn jeweils zuvor ein tragfähiger Konsens erarbeitet worden ist-- oder zumindest alle bereit sind, das so zu sehen. In den kämpferischeren Zeiten des Ost-Westbzw. des Nord-Süd-Konflikts nahmen gelegentlich Mehrheiten in einer Art Kampfabstimmung Resolutionen oder gar Deklarationen an (wie z. B. die »Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten« von 1974), die schon zum Zeitpunkt des Protokollierens des Beschlusses politisch hinfällig waren, weil diejenigen Staaten, denen die Umsetzung vielleicht möglich gewesen wäre, klar dagegen waren. <?page no="150"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 150 150 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Zudem sind die von der Generalversammlung als Resolutionen abgegebenen Empfehlungen ja wirklich nur Empfehlungen und nicht völkerrechtlich bindend. Angesichts ihrer hohen Zahl-- Hunderte im Jahr-- würde das die Staatenwelt auch heillos überfordern. Dennoch sind sie nicht alle sinnlos: ● ● Resolutionen der Generalversammlung drücken die Ansichten der Regierungen der Staaten der Welt aus ● ● und können damit eine übergreifende moralisch-normative Autorität beanspruchen; ● ● sie können öffentliche Aufmerksamkeit wecken und politischen Druck ausüben, ● ● insbesondere zu Fragen der Weiterentwicklung politischer und völkerrechtlicher Standards. Es gilt, dass Beschlüsse der Generalversammlung in ihrer Summe das Völkerrecht als Gewohnheitsrecht weiterentwickeln; dass dies dann im Einzelnen jeweils lange umstritten bleibt, liegt in der Natur der Sache. Immerhin ist der sechste Hauptausschuss der Generalversammlung ausschließlich mit der Weiterentwicklung des Völkerrechts befasst. Sicherlich ist die Generalversammlung als jährlich zusammentretende, nun fast schon ständige Weltkonferenz trotz aller Differenzen zwischen den Mitgliedsländern und der rechtlich nicht bindenden Wirkung ihrer Resolutionen ein unersetzliches politisches Kommunikationsforum. Jede Regierung kann mit jeder anderen Regierung ins Gespräch kommen, auch zu bilateralen Fragen; insbesondere den kleineren Staaten, die sich keine eigenen diplomatischen Vertretungen in allen Ländern der Welt leisten können, bieten sie eine gute Gelegenheit, drängende außenpolitische Fragen zu diskutieren und zu klären. Nicht zuletzt erfüllt die Versammlung eine Reihe symbolpolitischer Funktionen, indem sie es ermöglicht, dass ● ● auch kleinere oder randständige Staaten bzw. deren Regierungspersonal ihre eigene Würde erfahren und zelebrieren können, ● ● die fromme Fiktion von der souveränen Gleichheit aller Staaten beglaubigt wird, ● ● die Wahrnehmung gewisser Unterschiede und resultierende Verletzungsgefühle zwischen Ländergruppen von verschiedenem Status im Ritual kompensiert werden kann. Dazu passt sehr schön der Ort, in dem zelebriert wird: Der große Kuppelsaal der Generalversammlung, die »Grand Hall« hat die Anmutung eines Doms: Der Raum vermittelt eine ehrfurchtgebietende ernste Atmosphäre und verspricht zugleich doch helle Freude; an ihrem, einem Altar nachempfundenen, erhabenen Tisch vollziehen die Vorsitzenden heilige Handlungen, während von der Rednerkanzel Predigtbotschaften an die Weltgemeinde ausgehen (zur Architektur des Hauptquartiers der UNO »am East River« s.-Dudley 1994). Die gängige Meinung, dass im Sicherheitsrat die Musik spiele, während aus der Generalversammlung nur das Hintergrundrauschen endloser Reden zu hören sei, verkennt also die Arbeitsteilung zwischen den beiden Hauptorganen. Für die größeren Mitgliedstaaten ist die Generalversammlung gegenüber dem Sicherheitsrat zweitrangig, während die große Zahl der kleineren Mitgliedstaaten die Generalversammlung als das wichtigste Organ ansieht und dort angemessen zu Wort kommen will. Doch gibt es klar die ständige Konkurrenz zwischen ihnen, wobei der Sicherheitsrat in der besseren Position ist, was von den Autoren der Charta ausdrücklich so gewollt wurde. Die USA verfolgten im Kalten Krieg und vor der politischen Emanzipation der Dritten Welt einige Zeit lang die gegen die Blockadepolitik der Sowjetunion gerichtete Strategie, die Befugnisse der Generalversammlung auf Kosten des Sicherheitsrats zu erweitern, was mit der Änderung der Mehrheitsverhältnisse in der rasch angewachsenen Generalversammlung hinfällig wurde. Die Generalversammlung und die Qualität ihrer Arbeit werden häufig und hart kritisiert: ● ● Sie sei nicht fähig, sich auf Kern- oder Schlüsselthemen zu konzentrieren; ● ● formale Rituale und endlose schlechte Reden behinderten die Arbeit und den Verlauf der Debatten; <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 151 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 151 ● ● viel zu viele und meist bedeutungslose Tagesordnungspunkte stünden auf der Agenda, meist nur auf Betreiben und im Interesse einer einzelnen Regierung; ● ● sie produziere hemmungslos Papiere, die kaum jemand lese; ● ● ihre Resolutionen seien politisch ohne Biss und fast immer ohne konkrete Folgen. Grundsätzlichere Kritik zielt auf die Konstruktion der Generalversammlung-- und damit der UNO: ● ● Ihre Kompetenzen seien nicht klar genug gegenüber dem Sicherheitsrat und dem ECOSOC abgegrenzt; ● ● wegen der mangelnden rechtlichen Bindekraft ihrer Beschlüsse sei sie ein politischer Debattierklub, aber kein politisch relevantes Gremium; ● ● überhaupt fehle ihr die demokratische Legitimation, weil die wenigsten der in ihr vertretenen Regierungen ihrerseits ausreichend demokratisch legitimiert seien. Der letzte Kritikpunkt wird gerne verbunden mit der Forderung nach einem echten Weltparlament hilfsweise nach einer globalen Versammlung der »Zivilgesellschaft«-- was beides das Problem in demokratietheoretischer Hinsicht eher verwirrt als erhellt. Die Generalversammlung sollte jedenfalls dringend versuchen, sich in die Lage zu versetzen, die zentrale Rolle, die ihr die Charta der UNO zuschreibt, ausfüllen zu können. Dazu müsste sie ihre Strukturen und vor allem ihre Arbeitsmethoden anpassen. Die Diskussion darüber läuft nun auch schon seit Jahrzehnten: Während Anstrengungen für mehr Effizienz immer wieder beschworen wurden, wurden konkrete Vorschläge nur in sehr geringem Umfang umgesetzt. Doch besteht Hoffnung, dass zwar keine großen strukturellen Änderungen, wohl aber viele graduelle Anpassungen der Verfahrensweisen die Arbeit der Generalversammlung revitalisieren können. Die alte Weisheit, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, ist für die Generalversammlung mit der Metapher vom kleinsten gemeinsamen Nenner zu differenzieren: ● ● Sie ist mehr als eine Summe ihrer Mitglieder, insofern als sie im Sinne des Konzepts der internationalen Kooperation überstaatliche und globale Fragen beantworten kann. ● ● Sie ist weniger, insofern als sie in vielen Angelegenheiten maximal so gut wie die schwächsten oder unwilligsten ihrer Mitglieder sein kann. 4.3.3.2 Der Sicherheitsrat Der Sicherheitsrat (Security Council/ SC; s.-VN-Charta Art. 23-32, vgl. Art. 33-54; s.-Malone 2004, 2007, Thakur 2006, Winkelmann 2000) ist das wichtigste und mächtigste Gremium der UNO; allenfalls vielleicht der Internationale Währungsfonds (IMF) hat in seinem Arbeitsfeld vergleichbare Bedeutung. Der Sicherheitsrat hat 15 Mitglieder. Ihm gehören als ständige Mitglieder an: die Vereinigten Staaten von Amerika, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, die Russische Föderation (als eine Art Fortsetzung der UdSSR), die Republik Frankreich und China (bis 1971 durch die Republik China [Taiwan], seither durch die Volksrepublik China vertreten). Neben diesen »ständigen Fünf« (»permanent five«/ »P5«) sitzen weitere zehn (bis 1965 sechs) nichtständige Mitglieder auf begrenzte Zeit im Rat; sie werden für jeweils zwei Jahre von der Generalversammlung nach einem regionalen Verteilungsschlüssel (Afrika, Asien, Lateinamerika/ Karibik, Westeuropa und andere, Osteuropa) gewählt- - jedes Jahr fünf, sodass sich die Zusammensetzung des Sicherheitsrat immer wieder ändert. Die Mitgliedschaft ist für Regierungen aufwändig, bringt aber Prestige und Einfluss; deswegen bildete sich ein Muster der Häufigkeit der Mitgliedschaften entsprechend der Konkurrenz um einen regionalen Vormacht- oder wenigstens Mitmacht-Status (z. B. Indien und Pakistan, Argentinien und Brasilien, Ägypten, Italien, Polen), während etwa ein Drittel der Staaten noch nie dem Sicherheitsrat angehört hat. <?page no="152"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 152 152 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Seine fünf ständigen Mitglieder dominieren sowohl die Funktionsweise als auch die Entscheidungen des Sicherheitsrats. Mehr noch als im Vorrecht zur »Veto«-Option ist dies schlicht darin begründet, dass diese fünf Staaten immer dabei sind und immer schon dabei waren, somit routiniert die Kommunikations- und Arbeitsabläufe beherrschen und vor allem bestens erschlossene Informationsquellen haben, womit Länder, die nur zwei Jahre im Rat sitzen, nicht mithalten können. Schließlich verstehen sich die P5 offenkundig als exklusiver Club, dem anzugehören im Zweifel trotz aller Differenzen untereinander klar Vorrang hat gegenüber anderen Bindungen und Verpflichtungen-- wie z. B. der Zusammenarbeit in der Europäischen Union (EU). Der Sicherheitsrat ist das eigentliche Zentrum der Macht in der UNO: ● ● Er ist nicht ausschließlich, aber mit Vorrang zuständig für alle Fragen von Krieg und Frieden und zur Behandlung akuter Konflikte, in die er auch operativ eingreifen kann; der Rat ist der Kern des Systems der »kollektiven Sicherheit«. ● ● Wenn eine Instanz im System der UNO völkerrechtlich und politisch potent genug ist, den Regierungen der souveränen Staaten normative Vorgaben zu geben, dann der Sicherheitsrat. Sowohl seine Zusammensetzung als auch seine Arbeitsweise ist von Anfang an kritisiert worden; Reformvorschläge und -debatten sind fast so zahlreich wie die Krisen, mit denen sich der Rat befasst hat. Der Sicherheitsrat hat die vorrangige Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, um schnelles und wirksames Handeln der UNO zu gewährleisten, während die Mitverantwortung der schwerfälligeren Generalversammlung stark eingeschränkt bleibt; für effektive und verbindliche Maßnahmen, besonders für Zwangsmaßnahmen wie wirtschaftliche Sanktionen und militärische Gewalt, hat der Rat das Monopol, das insofern an das innerstaatliche Gewaltmonopol erinnert, diesem aber nicht gleichzusetzen ist. Maßnahmen aller Art vorgeschaltet ist ein anderer Akt, den zu vollziehen der Sicherheitsrat das alleinige Recht hat: Er stellt fest, ob in einer gegebenen Situation überhaupt ein Bruch des Friedens oder eine Sicherheitsbedrohung vorliegt; oder anders: Ein Problem, das der Rat nicht sieht, gibt es politisch nicht-- auch wenn wie 1994 in Ruanda ein Völkermord geschieht. Neben diesem zentralen sachpolitischen Zuständigkeitsbereich hat der Sicherheitsrat machtpolitische Kompetenzen bei der Aufnahme bzw. dem Ausschluss von Mitgliedern, der Auswahl des Generalsekretärs und bei Änderungen der Charta sowie administrative Aufgaben für seine Nebenorgane. Der Sicherheitsrat hat auch Aufgaben, die er bislang kaum oder gar nicht erfüllt hat: Er ist beauftragt, mit Hilfe des Generalstabsausschusses Pläne zu einem allgemeinen System der Rüstungsregelung zur Ressourcenersparnis auszuarbeiten, was bis heute nicht geschehen ist; auch der vorgesehene Generalstabsausschuss aus Militärs der P5-Staaten hat nie seine Arbeit aufnehmen können. Andererseits hat der Rat sich schon früh Aufgaben gegeben, mit denen er im Text der Charta gar nicht betraut ist: friedenssichernde Militäreinsätze (»Blauhelme«), die man kreativ im Niemandsland zwischen Kapitel VI und VII begründet sehen kann, da es um neuartige, meist nicht »zwischenstaatliche« Konfliktsituationen geht. Zur Erfüllung seiner Aufgaben und zur Umsetzung seiner Beschlüsse hat der Sicherheitsrat recht zurückhaltend einige wenige Nebenorgane eingesetzt: ● ● ständige Ausschüsse (Ausschuss für die Aufnahme neuer Mitglieder, Ausschuss für Sitzungen des Rates außerhalb des Amtssitzes, Sachverständigenausschuss für die Geschäftsordnung); ● ● Ad-hoc-Ausschüsse und Sonderkommissionen wie die Sanktionsausschüsse zu jedem Sanktionsregime; ● ● den Generalstabsausschuss aus den Stabschefs der fünf Ständigen Mitglieder; er tagt zwar formell, ist aber ohne militärische und politische Bedeutung geblieben, da die Nutzung dieses Instruments nicht im Interesse seiner Mitglieder sein kann, die ihre militärischen Angelegenheiten selbst oder allenfalls in einem Militärbündnis regeln wollen. <?page no="153"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 153 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 153 Tab. 22: Kompetenzen des Sicherheitsrats Kompetenzen → gegenüber Vorrechte, Einschränkungen VN-Charta Art. sachpolitisch a Themen/ Probleme/ Konflikte → Staaten (Regierungen) Recht zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit Vorrang des SR in Sicherheitsfragen 24 Befugnisse gegenüber Mitgliedstaaten; diese müssen die Beschlüsse des SR durchführen Verbindlichkeit der Entscheidungen des SR 25 Definitionsmacht zur Feststellung von Bruch des-Friedens/ Bedrohung der Sicherheit Monopol auf Problemdefinition 34 39 Handeln im Namen aller Mitgliedstaaten nach-Kap. VI-VIII Monopol auf Zwangsmaßnahmen 24 aKap. VI → friedliche Beilegung von Streitigkeiten 33-ff aKap. VII → Zwangsmaßnahmen Beistandsverpflichtung der Mitgliedstaaten 39-ff  wirtschaftliche Sanktionen 41  militärische Gewalt 42  mittels Mitgliedstaaten/ Bündnisse 48  kollektive Sicherheit 49 aKap. VIII → Delegation von Maßnahmen an Regionalorganisationen 53 a »Kap. VI ½« → Friedenseinsätze flexible Regelungen durch Resolutionen - Nutzung eines Generalstabsausschusses - nicht erfolgt-- 47 Schaffung eines Rüstungsregelungssystems - nie geschehen-- 26 Anrufung des IGH in offenen Rechtsfragen 96 machtpolitisch a Mitgliedschaft, Wahlen → Staaten, UNO intern Aufnahme/ Ausschluss von Mitgliedern der UNO nur auf Empfehlung des SR Vorrang des SR 4-6 Wahl der Mitgliedstaaten in Organe und Gremien der UNO → neu geschaffene Gremien/ Institutionen sofern dem SR zugeordnet 29 Wahl von Amtsträgern → Nominierung des GS, nur Ernennung durch GV Vorrang des SR 97 → Wahl der Richter des IGH GV gleichberechtigt, separate Wahlgänge 92 → Verantwortliche neuer Institutionen sofern dem SR zugeordnet 29 Änderung der VN-Charta Zustimmung und Ratifizierung durch alle ständigen Mitglieder 108 109 administrativ a Struktur/ Regeln/ Verwaltung → UN-Organisation Schaffung von eigenen Nebenorganen 29 <?page no="154"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 154 154 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Zu den Nebenorganen zählen auch die Ad-hoc-Gerichtshöfe für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien. Diese Tribunale zur Aburteilung der Verbrechen von Einzelpersonen dürfen nicht verwechselt werden mit dem generell zuständigen Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court/ ICC), der erst 1998 auf einer Staatenkonferenz in Rom als eigenständige internationale Institution beschlossen wurde; das sog. Rom-Statut (UN Doc. A/ CONF.183/ 9) sieht allerdings eine Kooperation mit dem Sicherheitsrat vor, dem Rechte wie die Überweisung von Fällen oder ein Verfahrensaussetzungsrecht gegeben wurden. Die Charta gibt dem Sicherheitsrat (wie der Generalversammlung) das politisch durchaus bedeutsame Recht, die eigene Arbeit im Einzelnen selbst zu regeln und zu organisieren. Der Rat beschloss nach erheblichem Streit 1946 eine rechtlich verbindliche »provisorische« Geschäftsordnung (provisional rules of procedure), die seine Arbeitsweise regelt: die Aufgaben des Präsidenten, der monatlich aus dem Kreis der Mitglieder des Rates bestimmt wird-- also hat jeder nichtständige Mitgliedstaat in seiner Wahlperiode mindestens einmal den Vorsitz; weiter die Einberufung von Sitzungen, die Einrichtung von Nebenorganen, die Beteiligung von nicht dem Sicherheitsrat angehörigen Mitgliedstaaten der UNO, die Organisation der Beratungen und das Abstimmungsverfahren im Einzelnen. Aber weil diese Regelungen als nur provisorisch gelten, kann bei Bedarf auch davon ausgegangen werden, dass sie in konkreten Fällen informell abgewandelt oder gar ignoriert werden können. Insofern sind oft die weitreichenden Befugnisse des Präsidenten des Rates für die konkrete Arbeit ausschlaggebend; da der Vorsitz monatlich rotiert, muss der jeweilige Präsident kooperativ agieren. Er entscheidet über Agenda und Terminstruktur in enger Abstimmung mit den Ratsmitgliedern; meist wird die vom UN-Generalsekretär vorgeschlagene provisorische Tagesordnung gebilligt. Schließlich informiert der Präsident die Mitgliedstaaten und die Öffentlichkeit über die Arbeit des Rates und deren Ergebnisse. Die vorläufige Geschäftsordnung erwähnt keinerlei informelle Konsultationen, die aber praktisch aus beiläufigen Kaffeerunden zum unverbindlichen Meinungsaustausch schnell zum regelmäßigen und zum wohl wichtigsten Arbeitsinstrument wurden: Vor einer offiziellen Sitzung treffen sich Mitglieder des Rates in einem eigens dafür eingerichteten sehr kleinen Raum unter dem Sitzungssaal, um sich zu beraten und die späteren Entscheidungen auszuhandeln; diese werden dann in der eigentlichen offiziellen Sitzung, die allen UN-Mitgliedern und der Öffentlichkeit zugänglich ist, meist nur noch formal beschlossen und verkündet, was diese zu einer bloß noch zeremoniellen Handlung oder auch zur Inszenierung für die Medien reduziert. Die Intensität der informellen Konsultationen hat immer weiter zugenommen; man trifft sich fast täglich am Vormittag. Da diese Konsultationen geheim sind und auch nicht protokolliert werden, ist die wirkliche Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht transparent; auch die Kriterien und Motive der entscheidenden Regierungen werden selten klar deutlich. Diese Entwicklung relativiert ein wenig, aber keinesfalls grundsätzlich die Sonderstellung der ständigen Mitglieder. Formal gesehen (nach VN-Charta Art. 27) haben die P5 gar nicht die Möglichkeit zu sagen, »ich verbiete«, sondern es ist lediglich so, dass sie eine Ja-Stimme abgeben müssen, jeder einzelne; wenn sie das nicht tun, auch nur einer, dann müsste eine Vorlage als abgelehnt gelten. Nach schlechten Erfahrungen in einer Zeit der Blockadepolitik durch die damalige Sowjetunion ist es inzwischen zur üblichen Praxis geworden, dass ein Veto nur dann als ausgeübt verstanden wird, wenn ausdrücklich eine Nein-Stimme abgegeben wurde (s.-Kap. 4.3.2); so kann es zu Ergebnissen kommen wie: »Der Resolutionsentwurf wurde mit 14 Ja und einem Nein abgelehnt.« Nicht vergessen werden sollte die weitere, »sechste« Veto-Option: mit mindestens sieben Neinstimmen nichtständiger Mitglieder kann ein kollektives Veto eingelegt werden, denn nach UN-Arithmetik sind neun Stimmen die Mehrheit von 15 (VN- Charta Art. 27). <?page no="155"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 155 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 155 Bei Abstimmungen über Verfahrensfragen gelten die Veto-Regelungen nicht, die Zustimmung von neun Mitgliedern ist ausreichend. Aber eben darüber, ob sich eine Sachfrage (»substantial«) oder eine formale Verfahrensfrage (»procedural«) stellt, ist wieder unter der Bedingung der Möglichkeit des Vetos abzustimmen, was das Vetorecht gewissermaßen verdoppelt. In der Praxis ist das Veto-Recht längst nicht mehr so dramatisch; es wird seit Ende der Ost-West-Konfrontation viel seltener eingesetzt und oft auch aus Anlässen oder in Situationen, die nicht so ernst sind für die Wahrung des »Weltfriedens«: Seit Gründung der UNO bis 2008 hielt sich China (mit sechs eingelegten Vetos) am meisten zurück, Frankreich (mit 18) und Großbritannien (mit 32) waren bescheiden, die USA (mit 82) waren es nicht, können aber den der alten Sowjetunion zu verdankenden russischen Rekord (von 124) nicht gefährden (nach Global Policy Forum/ www.globalpolicy.org). Politisch ist das Veto ohnehin am wirksamsten, bevor bzw. ohne dass es eingesetzt wird: Wenn eine P5-Regierung signalisiert, diesen Punkt nicht akzeptieren oder jenes Maß nicht überschreiten oder eine andere Forderung unbedingt aufnehmen zu wollen, wird die Frage meist schon im Vorfeld erledigt und ist dann im Resolutions-Entwurf gar nicht mehr zu bemerken-- es sei denn, andere Regierungen wollten dieses »versteckte Veto« bloßstellen. Der Sicherheitsrat beschließt seine verbindlichen Empfehlungen in Form von Resolutionen, die einen festen formalen Aufbau haben (Eröffnungssatz, einleitende Absätze, operative Absätze); schwächere Formen sind förmliche Erklärungen des Präsidenten (»Präsidentschaftserklärung«/ »Statement of the President of the Security Council«) mit einem konsensual ausgearbeiteten Text und nichtförmliche Verlautbarungen des Präsidenten an die Medien, für deren Formulierung er nur Leitlinien erhält. Mit den formellen Abstimmungen oder sogar Kampfabstimmungen verlor auch das Instrument des Vetos an praktischer Bedeutung an das Konsens-Verfahren, wodurch eine Resolution ohne förmliche Abstimmung verabschiedet werden kann, indem der Präsident mündlich die Übereinstimmung der Mitglieder des Rates erklärt. Von Beginn an ist in der Arbeit des Sicherheitsrats die Tendenz festzustellen, Regeln und Arbeitsweisen so wenig wie möglich zu formalisieren, um sich nicht daran zu binden. Zumal seine ständigen Mitglieder haben ein ausgeprägtes Interesse, das lückenhafte »vorläufige« Regelwerk pragmatisch und flexibel auszulegen, was allerdings nicht der breiten Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten gefallen kann, die als Rest der Welt das mächtige Gremium lieber transparenter und berechenbarer hätten. Der Drang nach Informalität und pragmatischer Flexibilität kann aber auch konstruktive Reaktionen auf die seit den 1990er Jahren immer stärker vorgebracht Kritik an Struktur und Arbeitsweise des Rates auslösen: Im Prinzip ändern wir nichts, aber wir machen es anders. Die Debatten um eine dringend nötige Reform des Gremiums sind seit 1945 regelmäßig wiederkehrend, aber bislang folgenlos, jedenfalls hinsichtlich eines institutionellen Umbaus (etwa eine Erweiterung der Sitzanzahl), der nur aufgrund einer Änderung der Charta möglich wäre. Gegen das stillschweigende Einverständnis der P5, ihre Privilegien weder schmälern zu lassen noch sie mit jemand zu teilen, wird kein anderer Staat seinen Drang in dieses Machzentrum verwirklichen können. Äußerungen von ständigen Mitgliedern, dass sie den Wunsch des einen oder anderen nichtständigen Mitglieds, ein ständiges zu werden, gutheißen würden, sind völlig wertlos, da sich mit Sicherheit ein anderes ständiges Mitglied finden wird, das dies ganz anders sieht. Doch haben die Kritik an der Funktionsweise des Rates und die endlosen Reformdebatten sehr wohl Wirkungen, indem sich allmählich, aber nachhaltig die konkreten Arbeitsformen und -methoden ändern, nicht formal-offiziell beschlossen, sondern halt in der UNO-spezifischen evolutionär-informellen Weise inkrementalistischer (oder: Schritt für Schritt und aus Versuch und Irrtum lernend sich »durchwurstelnder«) Veränderungen. Der Rat hat das Spektrum seiner Methoden und Instrumente deutlich erweitert (s.- Hulton 2004; Prantl 2006, 2007; Volger 2010): ● ● Für die Mitgliedstaaten der UNO und die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit attraktiv sind vor allem offene thematische Sitzungen, in denen ein breiteres Themenspektrum (z. B. die Beseitigung und <?page no="156"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 156 156 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Abschaffung von Personenminen) unter einem größeren Kreis daran interessierter Regierungen und NGOs diskutiert werden kann. ● ● Nach der sog. Arria-Formel und in anderen Formaten gibt es nun ein abgestuftes System von Möglichkeiten, außerhalb einer formellen Sitzung und der internen Konsultationen mit Einzelpersonen und Gruppen sowie Mitgliedstaaten inner- und außerhalb des Sicherheitsrats zu Meinungsaustausch und Beratung einzuladen. ● ● Einzelne wichtige, aber mangels P5-Status nicht ganz wichtige Staaten, können in die Arbeit des Rates weitgehender als Mitglied einer »Kontaktgruppe« integriert werden (wie z. B. Deutschland bei den Problemen auf dem Balkan oder in der Frage der nuklearen Option des Iran)-- damit ist zumindest diplomatische Energie von der Bemühung um eine ständigen Sitz abgezogen. Ungeachtet dieser zivilisatorischen Fortschritte in den Arbeitsformen des Rates ist und bleibt festzuhalten: Der Status der ständigen Ratsmitglieder stellt sie faktisch außerhalb der Reichweite der Empfehlungen, Sanktionen und Zwangsmaßnahmen des Rates; wenn z. B. Russland keine Friedensbedrohung im Tschetschenien-Konflikt sehen will, darf sich der Rat mit diesem innerstaatlichen polizeilichen Problem gar nicht beschäftigen. Dies ist nach Meinung vieler Kritiker mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit aller UN-Mitglieder nicht vereinbar, womit wieder an das Dilemma bei Gründung der UNO (s.-Kap. 4.2.3) erinnert ist. Ceterum censeo: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist nicht das Kabinett oder der Exekutivausschuss einer »Weltregierung«; schon die schlampige Bezeichnung »Weltsicherheitsrat« ist insofern grundfalsch: Die UNO ist und bleibt nach ihrer Rechtsgrundlage und eigenem Verständnis eine internationale, d. h. zwischenstaatliche Organisation mit möglichst universaler Mitgliedschaft, aber keine »Welt«-Instanz über den Staaten. Allerdings ist der Sicherheitsrat tatsächlich die einzige internationale Institution, die unter bestimmten Umständen das Recht hat, souveränen Staaten vorzuschreiben, was sie in einer bestimmten Situation zu tun oder zu lassen haben. Logischerweise-- aber das ist bislang keine sonderlich politische Logik-- könnte der Sicherheitsrat zu einem ersten Kern einer globalen Zentralinstanz werden, wenn der alte Grundwiderspruch der UNO zwischen Souveränität und Intervention sich weiterhin in die Richtung entwickelt, wie es die erwähnte Resolution (S/ RES/ 1373 (2001)) nach den Terroranschlägen 2001 mit der verbindlichen Formulierung abstrakter, nicht nur fallbezogener Normen oder das seit einem »Gipfel« 2005 und einer Resolution des Sicherheitsrats (S/ RES/ 1674 (2006)) wenigstens in der Diskussion existierende Prinzip der »Schutzverantwortung« (»responsibility to protect«; s.-Kap. 5.1.3) andeuten. 4.3.3.3 Der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) Mehr noch als Kriege und gewaltsame Konflikte gefährden Armut und soziale Probleme das Leben der meisten Menschen auf der Welt; das wiederum bedroht Frieden und Sicherheit. Schon in der Charta war ein positiver Friedensbegriff zugrunde gelegt und ausdrücklich sehr weit gefasst worden, damit es auch zum Mandat der UNO werden konnte, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Voraussetzungen für ein Leben in Frieden und Sicherheit zu schaffen,. Der Wirtschafts- und Sozialrat (Economic and Social Council/ ECOSOC; s.-VN-Charta Art. 62-72, vgl. Art. 55-60; s.- Rosenthal 2007) koordiniert die Aktivitäten der UNO auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, allerdings unterliegt er dabei der Oberaufsicht der Generalversammlung. Ihm gehören (seit 1973) 54 gewählte Mitglieder mit je einem Delegierten an; jedes Jahr wählt die Generalversammlung nach einem Regionalschlüssel 18 neue Mitglieder für drei Jahre; ein ausscheidendes Mitglied kann unmittelbar wiedergewählt werden. Da sehr viele und zumal die großen UN-Institutionen in den Arbeitsfeldern des ECOSOC eigenständige Sonderorganisationen im sog. UN-System sind, müssen <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 157 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 157 ● ● vertragliche Abkommen mit den Sonderorganisationen ausgehandelt und geschlossen werden, die Bereiche und Konditionen der Zusammenarbeit festlegen, und ● ● für die Praxis alle Aktivitäten abgestimmt und koordiniert werden. Doch weil die Aktivitäten besonders in den Bereichen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung rapide angewachsen und immer stärker differenziert worden sind, scheint der ECOSOC mit den ihm zugewiesenen Koordinationsaufgaben überfordert zu sein: Im Laufe der phasenweise ungebremsten institutionellen Evolution der UNO sind immer neue Gremien und Organe mit oftmals ähnlichen oder fast gleichen Aufgaben entstanden. Dem ECOSOC fehlen aber die Durchsetzungsmöglichkeiten, um den institutionellen Wildwuchs zu lichten und eine wirksame Koordination herbeizuführen. Ärgerlich ist dabei, dass auch die Kompetenzabgrenzung zur Generalversammlung zu vage geblieben ist, sodass im schlimmsten Fall beide ihren Aufgaben nicht nachkommen. Der ECOSOC hat schließlich noch eine politisch immer wichtigere Kompetenz: Er prüft Anträge von nichtstaatlichen Organisationen auf Konsultativstatus bei der UNO, der in verschiedenen Graden verliehen werden kann und regelt, welche Beteiligungsrechte eine NGO hat. Die Arbeitsweise des ECOSOC ist der in der Generalversammlung ähnlich. Der Rat tagt in einer vierwöchigen Sitzungsperiode im Juli jährlich abwechselnd in New York und Genf. Zur Bewältigung des großen Arbeitsgebiets hat er eine große Zahl von Nebenorganen eingerichtet: zwei Sitzungsausschüsse Tab. 23: Kompetenzen des ECOSOC Kompetenzen → gegenüber Einschränkungen VN-Charta Art. sachpolitisch a Themen/ Probleme/ Konflikte → Staaten (Regierungen) Untersuchung, Beratung und Empfehlungen zu allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen problematische Abgrenzung-… 62 Abkommen mit Sonderorganisationen, die zu diesen Fragen mit Maßnahmen/ Programmen beauftragt werden 63 Entgegennahme, Prüfung und Kommentierung von Berichten; Beauftragung von Berichten … der Kompetenzen zur GV 64 Anrufung des IGH in offenen Rechtsfragen mit Zustimmung der GV 96 machtpolitisch a Mitgliedschaft, Wahlen → Staaten, UNO intern Anerkennung von NGOs Zuteilung des Konsultativstatus 71 administrativ a Struktur/ Regeln/ Verwaltung → UN-Organisation Verhandlung und Abschluss der Abkommen mit Sonderorganisationen im UN-System im Auftrag der GV 63 Schaffung von UN-Nebenorganen (und anderer untergeordneter Gremien u. Ä.) GV & SR gründen eigene Nebenorgane 68 interne und externe administrative Regularien 72 Haushaltsplanung (Ausschuss für Programmplanung/ CPC) von GV eingeräumt GV-Res. <?page no="158"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 158 158 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen (sessional committees) für Wirtschaft und Soziales und eine große Zahl »ständiger Ausschüsse« (standing committees): ● ● sog. funktionale Kommissionen: Insbesondere die Arbeit des Menschenrechtsrats (früher Menschenrechtskommission) in Genf findet breitere Beachtung; ferner gibt es die Statistische Kommission, die Bevölkerungskommission, die Kommission für gesellschaftliche Entwicklung, die Kommission für Nachhaltige Entwicklung, die Kommission für die Rechtsstellung der Frau und die Suchtstoffkommission; ● ● fünf regionale Wirtschaftskommissionen für Europa, Asien und den Pazifik, für Westasien, Lateinamerika und die Karibik und für Afrika; sie unterstützen durch Beratung und Information den Entwicklungsprozess auf regionaler Ebene; ● ● der Ausschuss für Programmplanung (CPC), der für die Arbeitsplanung und Koordinierung im gesamten UN-System eine zentrale Rolle spielen soll und von der Generalversammlung auch Kompetenzen in der Haushaltsplanung bekommen hat; ● ● als spezieller Ausschuss der Verwaltungsausschuss für Koordinierung (ACC), in dem sich unter dem Vorsitz des Generalsekretärs die Leiter aller Spezialorgane und Sonderorganisationen mit den Fragen der Koordinierung im UN-System befassen; ● ● der Ausschuss für nichtstaatliche Organisationen. Daneben gibt es noch beratende Expertengremien. 4.3.3.4 Das Sekretariat unter dem Generalsekretär Wenn die Generalversammlung kein Weltparlament ist und der Sicherheitsrat keine Weltregierung, dann ist das Sekretariat erst recht keine Weltregierungskanzlei. Aber das Sekretariat unter dem Generalsekretär (VN-Charta Art. 97-101; s.-Chesterman 2007, Newmann 2007, Fröhlich 2005) ist nicht nur die zentrale Verwaltung der UNO, sondern hat-- als eines ihrer Hauptorgane-- auch eigenes politisches Gewicht weit über rein administrative und Service-Leistungen hinaus. Der Generalsekretär wird auf Empfehlung des Sicherheitsrats von der Generalversammlung für eine Amtsperiode von fünf Jahren ernannt-- seine Auswahl ist also das politische Vorrecht des Sicherheitsrats und kein Vorschlag kann gegen den Willen auch nur eines ständigen Mitglieds durchgesetzt werden; eine Wiederwahl ist möglich. Das Personal des Sekretariats wird vom Generalsekretär ausgewählt und ernannt, wobei dieser nach einem Quotensystem sicherstellt, dass allen Staaten eine bestimmte Anzahl von Posten zukommt. In der Praxis gibt es, wie nicht anders zu erwarten, immer wieder Versuche der Staaten, mittels der Besetzung zumal der höheren Ränge ihren Einfluss zu vergrößern, obwohl das internationale Personal nur der UNO verpflichtet sein darf. Das »Sekretariat« hat nach der Charta deutlich mehr Funktionen als die veraltete Bezeichnung vermuten lässt; sie stammt aus der Zeit, als den ersten Ansätzen zu internationaler Organisation nur einfachste administrative Mittel beigegeben wurden. Wie immer, wenn Politiker und Fachbeamte zusammenarbeiten, liegt die praktische Macht der Mitarbeiter des Sekretariats darin, dass sie anders als die meisten delegierten Regierungsvertreter längerfristig in der Organisation und in ihrem Arbeitsfeld tätig bleiben und so einfach mehr und kontinuierlichere Erfahrung haben, wie was gemacht wird. Die bürokratischen Strukturen von UN-Sekretariaten-- des Hauptorgans wie der Sekretariate von Sonderorganisationen-- garantieren Beständigkeit des Funktionierens und die Weitergabe von Erfahrungswissen; dem können allenfalls die größeren Mitgliedstaaten mit ihren differenzierten Ständigen Vertretungen bei der UNO entsprechende Expertise entgegensetzen. Politische wichtige Hauptabteilungen des Sekretariats sind: das Büro des Generalsekretärs (OSG), das Amt für interne Aufsichtsdienste (OIOS), die Hauptabteilung Politische Angelegenheiten (DPA), die <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 159 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 159 Hauptabteilung Friedenssicherungseinsätze (DPKO), das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), die Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (DESA), die Hauptabteilung Presse und Information (DPI) und das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR). Das Sekretariat ist unbelassen von sich abwechselnden Managementreformen hierarchisch auf den Generalsekretär als obersten Funktionsträger bezogen. Er ist als Person mit Zuständigkeiten und Weisungsbefugnissen versehen und er unterliegt den Weisungen der Führungsgremien (Generalversammlung und Sicherheitsrat); die Staaten in diesen Gremien haben ihm gegenüber keine unmittelbare Befugnis. Allerdings haben sie Interessen, politische wie personalpolitische, über die sie den Generalsekretär und die Führung des Sekretariats durchaus nicht im Unklaren lassen; mit solchem Beeinflussungsdruck angemessen umgehen zu können, ist wohl die wichtigste Anforderung an die persönliche und politische Qualifikation des Generalsekretärs. Der Generalsekretär kann eine prägende politische Rolle spielen, wenn er die Aufträge, die ihm die Charta ein wenig schwammig zuweist, offensiv aufgreift, auch als Rechte versteht, und seinen Spielraum dann klug nutzt. So hat er dem Sicherheitsrat gegenüber eine Art Initiativrecht, da er dessen Aufmerksamkeit auf etwas lenken kann; er kann eine Befassung des Rates damit zwar nicht erzwingen, aber dessen Mitglieder müssten dann schon sehr aktiv weghören wollen. Somit hat er auch Anteil an der entscheidenden politischen Deutungsmacht, festzustellen, was den überhaupt ein Problem ist. In allen Krisen und Tab. 24: Kompetenzen des Generalsekretärs Kompetenzen → gegenüber Einschränkungen VN-Charta Art. sachpolitisch _ Themen/ Probleme/ Konflikte → Staaten (Regierungen) Initiativrecht: GS kann die Aufmerksamkeit des SR auf jede bedrohliche Situation lenken Definitionsmacht des SR (Art. 34, 39) 99 diplomatische Aktivität; Vermittlung 98-f Anrufung des IGH in offenen Rechtsfragen mit ›Zustimmung‹ der GV 96 machtpolitisch _ Mitgliedschaft, Wahlen → Staaten, UNO intern Sekretariat ist vollwertiges Hauptorgan 97 Zuarbeiten für alle Sitzungen der Hauptorgane (außer des IGH) Aufträge von GV, SR und ECOSOC 98 Berichtspflicht (und Recht): GS berichtet jährlich der GV über die Tätigkeit der UNO 98 Verpflichtung auf die Organisation: GS darf keine Weisungen von-Regierungen erfragen oder erhalten wird oft zu unterlaufen versucht 100 administrativ _ Struktur/ Regeln/ Verwaltung → UN-Organisation GS leitet die Arbeit des Sekretariats für Verwaltung, Koordination, Management 97 Personalwesen der Organisation (Einstellung und Führung nur nach den Maßstäben der UNO selbst) (also keine Beeinflussung erlaubt, aber-…) 100 101 Registrierung und Veröffentlichung internationaler Verträge 102 <?page no="160"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 160 160 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Katastrophen kann der Generalsekretär beauftragt werden, als diplomatischer Vermittler oder Nothilfe- Organisator seine »guten Dienste« auszuüben; oft muss eine Situation auch erst gründlich geklärt werden (»fact finding«). Um die vielfältigen Arbeitsaufträge überhaupt erfüllen zu können, braucht der Generalsekretär ein exzellentes Informationssystem, das ständig ausgebaut und gepflegt werden muss. Die Generalsekretäre der Vereinten Nationen 1946-- 1953 Trygve Lie Norwegen 1953-- 1961 Dag Hammarskjöld Schweden 1961-- 1971 Sithu U Thant Burma 1972-- 1981 Kurt Waldheim Österreich 1982-- 1991 Javier Pérez de Cuéllar Peru 1992-- 1996 Boutros Boutros-Ghali Ägypten 1997-- 2006 Kofi Annan Ghana 2007-- 2016 Ban Ki-moon Südkorea Der Generalsekretär, der die UNO am stärksten und entschiedensten geprägt hat, ist immer noch der zweite Amtsträger, ihr eigentlicher Gründungs-Generalsekretär: Dag Hammarskjöld (s.-Fröhlich 2002). Er schaffte es, unter immer widriger werdenden Umständen, die UNO als vielfach behinderten und gehemmten, aber doch eigenständigen Akteur in der Weltpolitik zu etablieren; es gelang ihm, wenigstens einen Teil der irrationalen Hoffnungen auf die neue »Weltorganisation« in ihre Fähigkeit zu kanalisieren, gelegentlich auch als moralische Instanz gegenüber den Mächtigen der Welt gelten zu können; er entwickelte zudem frühzeitig zusammen mit kreativen Mitstreitern ein Konzept der friedenssichernden Operationen, wie es so nie vorgesehen war-- und lehrte die UNO damit ihre oft erfolgreiche Methode zur evolutionär-informellen Veränderung jenseits der formalen Festlegungen. In der Person seines fünften Nachfolgers Kofi Annan (s.- Bauer 2005) zeigt sich die ganze Widersprüchlichkeit des Amtes und der UNO selbst: Der langjährige Sekretariatsmitarbeiter aus Ghana war charismatisch und grundsolide, innovativ und beharrlich, überraschend erfolgreich, doch nicht so wie erhofft; er erhielt als Person den Friedensnobelpreis, wurde oft gar nicht so ironisch »weltlicher Papst« genannt-- und doch hat er sich zu seinem Abschied mit Sisyphos verglichen, dem tragischen Helden des alten Mythos, der immer wieder aufs Neue einen Felsen den Berg hinauf schaffen muss, nur um erleben zu müssen, wie der dann wieder herunterrollt. 4.3.3.5 Der Internationale Gerichtshof (IGH) Alle Mitglieder der Vereinten Nationen sind automatisch (nach VN-Charta Art. 93) Vertragsparteien des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH, International Court of Justice/ ICJ; s.- VN-Charta Art. 92-96; Crawford/ Grant 2007) mit Sitz in Den Haag/ Niederlande. Der Gerichtshof ist zusammengesetzt aus 15 hochqualifizierten Richtern, die aus 15 verschiedenen Ländern stammen und alle Kulturen und Rechtssysteme repräsentieren sollen; sie sind nur dem Völkerrecht und nicht ihren Heimatstaaten verpflichtet. Ihre Amtszeit dauert neun Jahre, Wiederwahl ist möglich; sie werden von der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat in separaten Wahlgängen gewählt. <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 161 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 161 Mandat des IGH ist es, internationale Streitigkeiten rechtlicher wie politischer Art auf der Basis des Völkerrechts zu entscheiden und dies damit ggf. weiterzuentwickeln. Seine Entscheidungen sind verbindlich-- allerdings ist diese weitreichende Macht durch kritische Einschränkungen in Frage gestellt: Die Staaten sind nicht schon allein wegen ihrer Zustimmung zum Statut des IGH dessen Gerichtsbarkeit unterworfen, vielmehr müssen sie einem Verfahren jeweils vorher zustimmen; zudem gibt es keinen automatisch greifenden Mechanismus, der gefällte Urteile durchzusetzen und Nichtbeachtung zu sanktionieren ermöglicht. Staaten können zwar durch eine entsprechende »Unterwerfungserklärung« die obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH generell anerkennen, also sich verpflichten, ihre Streitigkeiten immer dem IGH zur Entscheidung zu überlassen; dies hat aber nur eine Minderheit der UN-Mitglieder (auch Deutschland) getan, die meisten bestimmen erst im konkreten Fall, ob sie ihre Sache dem IGH zur Entscheidung übergeben. Daher ist die Zahl der Streitfälle vor dem IGH gering geblieben. Die Frage nach der Durchsetzungsmacht ist politisch noch fallenreicher; sie war ebenfalls schon im Gründungsprozess der UNO höchst umstritten, wurde aber dann auch im Sinne der Großmächte gelöst: Die einzige Instanz, die das Recht hat, verpflichtend Durchsetzungsmaßnahmen anzuordnen, ist und bleibt der Sicherheitsrat; aber er muss das nicht unmittelbar auf ein Urteil hin tun, sondern behält sein Vorrecht, überhaupt erst einmal festzustellen, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens durch die Nichtbeachtung des Urteils vorliegt. Wegen dieser politischen Restriktion hat der IGH in seinem universalen Zuständigkeitsbereich viel weniger Bedeutung erringen können als die regional definierten europäischen Gerichtshöfe in dem ihrigen, der Europäische Gerichtshof (EuGH) für die Europäische Union (EU) oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) des Europäischen Rates (CE) (s.-Grabenwarter 2009, Oppermann/ Classen/ Nettesheim 2009, Peters 2003). Neben der Streitschlichtung ist die zweite, wichtiger gewordene Aufgabe des IGH die Erstellung von Rechtsgutachten. Er erstellt diese auf Anforderung des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung, ggf. auch von Spezialorganen oder Sonderorganisationen; darin kann er nicht nur verbindlich zu einer Frage des Völkerrechts Stellung nehmen, sondern dies dadurch auch weiterentwickeln. 4.3.3.6 Der Treuhandrat (suspendiert) Der Treuhandrat ist historisch obsolet geworden: Nachdem er sein Mandat erfolgreich erledigt hat, wurde seine Tätigkeit 1994 offiziell beendet; funktionslos existiert er nur noch formell als völkerrechtlicher Geist ohne politisches Leben. Angesichts der hohen Hürden für eine Änderung der UNO-Charta wäre der Aufwand für die Streichung der entsprechenden Artikel (Art. 86-91; vgl. Art. 73-85 zum Treuhandsystem) zu groß. Vorschläge, ihn für neue Aufgaben umzuwidmen-- etwa zu einem Umweltrat der UNO, worin sich eine treuhandschaftliche Verpflichtung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ausdrücken könnte-- zeigten sich bisher nicht als praktikabel. Die Aufgabe des unter anderem mit den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats besetzten Rates war es gewesen, die sog. Treuhandgebiete verwalten zu lassen und sie in die Unabhängigkeit zu führen; es ging dabei nur um die ehemaligen Kolonien Deutschlands und des Osmanischen Reiches, die als Gebiete des Mandatssystems der UNO-Vorgängerorganisation Völkerbund aus dem Ersten Weltkrieg übriggeblieben waren und als Erbmasse des Zweiten Weltkriegs um die Kolonien Italiens und Japans. Bei dieser aus heutiger Sicht nebensächlichen Aufgabe hatte sich schon bei der Gründung der UNO deren Grundwiderspruch zwischen dem herrschenden Prinzip der Wahrung von Souveränität und dem Anspruch auf Einmischung gezeigt, und zwar konkret am Punkt des Rechts auf »Selbstregierung« bzw. des Selbstbestimmungsrechts der Völker (vgl. VN-Charta Art. 1 und Art. 73). Denn die alten Kolonialmächte, darunter mit Frankreich und Großbritannien zwei ständige Mitglieder des Sicherheitswie des <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 162 162 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Treuhandrats erklärten ihre Kolonien zum nicht antastbaren Teil ihres souveränen Staatsgebiets und verbaten sich eine weitere Befassung mit dem Thema der Gewährung der Unabhängigkeit an die Kolonien im Rahmen der UNO. Erst 1960 erklärte die Generalversammlung, dass alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung haben und die Unterwerfung unter Fremdherrschaft völkerrechtswidrig ist. 4.3.3.7 Nebenorgane und Spezialorgane Nebenorgane - unvollständig - - unvollständig - übergeordnetes Hauptorgan Generalversammlung Wirtschafts- und Sozialrat Sicherheitsrat Sekretariat »Spezialorgane« Programmes und Funds � Hauptausschüsse (sechs) � Menschenrechtsrat (HRC) � Ständige Ausschüsse � Ad-hoc-Organe � Kommision für Friedenskonsolidierung (PBC) - u. a. - � Fachkommissionen z. B. CND (Suchtstoffkommission) CSD (Nachhaltige Entwicklung) � Regionale Wirtschaftskommissionen ECA (Afrika) ECE (Europa) ECLAC (Lateinamerika/ Karibik) ESCAP (Asien/ Pazifik) ESCWA (Westasien) � Foren/ Beratungsorgane/ Expertengremien � Tagungs-/ Konferenz-Ausschüsse - u. a. - � Generalstabsausschuss � Sanktionsausschüsse � Friedenstruppen � Internationale Strafgerichtshöfe ICTJ (Jugoslawien) ICTR (Ruanda) � Fachabteilungen, z. B. DKPO (Friedenstruppen) OIOS (interne Aufsichtsdienste) DPI (Information/ Öffentlichkeit) OHCHR (Menschenrechte) UNCTAD Handel/ Entwicklung UNDCP Drogen UNEP Umwelt UNICEF Kinder UNDP Entwicklung UNIFEM Frauen UNV Freiwilligendienst UNCDF Kapitalentwicklung UNFPA Bevölkerung UNHCR Flüchtlinge WFP Welternährung UNRWA Palästinaflüchtlinge UNCHS Siedlung UNAIDS AIDS/ HIV UNOPS Büro Projektdienste UNU UNO-Universität Forschungs-/ Ausbildungsinstitute: UNICRI Kriminalität/ Recht UNITAR Ausbildungsinstitut UNRISD soziale Entwicklung UNIDIR Abrüstung INSTRAW Frauen-Forschung - u. a. - selbständige Sonderorganisationen IO IO IO IO � � Abb. 3: Nebenorgane und Spezialorgane der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 163 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 163 Die Hauptorgane Generalversammlung und Wirtschafts- und Sozialrat haben sich geradezu verschwenderisch mehrere Dutzend Nebenorgane und Spezialorgane geschaffen; der Sicherheitsrat-- wohl weil er der Ort der Macht ist-- war dabei bescheiden. Eine Quelle häufiger Missverständnisse ist der auf den ersten Blick nicht leicht verständliche Unterschied zwischen Neben- und Spezialorganen einerseits und Sonderorganisationen anderseits: Erstere sind untergeordnete Teile der eigentlichen UNO, Letztere sind eigenständige internationale Organisationen im UN-System (s.-dazu Kap. 4.3.4). Schon bei den Neben- und Spezialorganen ist es nicht schwer, den Überblick zu verlieren; die verschiedenen Arten und Formen zu typologisieren, ist eine Herausforderung. In allen diesen Gremien, Ausschüssen, Kommissionen u. a. sitzen entweder Vertreter von Mitgliedstaaten der UNO oder beratende Experten von außen; je nach Aufgabe und Zuschnitt des Gremiums sind auch Mitarbeiter des Sekretariats beteiligt; ein Sonderfall sind die beiden Straftribunale. Die meisten Neben- und alle Spezialorgane sind auf Dauer gegründet und arbeiten permanent; aber es gibt zunehmend auch Adhoc-Gremien, die aus bestimmten Anlass zu einem begrenzten Zweck auf Zeit eingerichtet werden. Die Spezialorgane oder- - der englischen Bezeichnung entsprechend- - die Programme und Fonds bilden eine eigene Klasse. Rechtlich nicht anders gestellt als die Nebenorgane, sollen sie nach dem Willen der Generalversammlung relativ selbständig operative Aufgaben erfüllen, von der Entwicklungsfinanzierung über die Durchführung von bereichsbezogenen Programmen bis zu konkreten humanitären Hilfsmaßnahmen. Dabei haben sie aber kein eigenes Budget, sondern nur die ihnen aus dem ordentlichen Haushalt zustehenden Mittel; umsatzstarke Programme wie das Entwicklungsprogramm (UNDP) erhalten darüber hinaus freiwillige Beiträge der Mitgliedstaaten. Spezialorgane wie das Kinderhilfswerk UNICEF haben einen komplexen Aufbau und ein vielfältiges Arbeitsprogramm. Wenn dann wie in diesem Fall noch ein hoher öffentlicher Aufmerksamkeitswert dazukommt, erklärt sich, warum solche Organe gelegentlich, aber fälschlich als »quasi-autonom« bezeichnet werden. Alle Spezialorgane sind der Generalversammlung gegenüber berichtspflichtig; einige berichten direkt (UNRWA, UNI- TAR), die anderen indirekt über den ECOSOC. Ein Sonderfall nach eigenem Recht und nicht Teil der UNO im engeren Sinne sind sog. Vertragsorgane (treaty bodies), die nicht als Unterorgan von einem Hauptorgan geschaffen wurden, sondern unmittelbar durch einen internationalen Vertrag begründet sind-- etwa durch die verschiedenen Menschenrechtskonventionen (s. Kap. 5.2.2). 4.3.4 »System« der UNO: Sonderorganisationen Die erwähnte Quelle häufiger Missverständnisse ist der zunächst nicht so eingängige Unterschied zwischen Neben- und Spezialorganen und Sonderorganisationen; er ist hauptsächlich (völker-)rechtlicher Natur-- also politisch wichtig: Spezialorgane sind untergeordnete Organe von Hauptorganen der eigentlichen (Kern-)UNO, Sonderorganisationen sind rechtlich, politisch und finanziell selbständige internationale Organisationen im UN-System. Für die Kooperation der UNO mit anderen internationalen Organisationen, insbesondere den klassischen UNO-blauen Sonderorganisationen, aber auch den eher Dollar-grünen »Bretton Woods«-Institutionen ist der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) zuständig; er handelt und arbeitet die entsprechenden Abkommen aus, die allerdings abschließend von der Generalversammlung genehmigt und beschlossen werden müssen. Eine funktionierende Koordinierung des so entstandenen, ziemlich locker geknüpften und sicherlich nicht zentral konzipierten UN-Systems erwies sich dann aber recht schwierig. Die Gründung unabhängiger UN-Organisationen folgte ursprünglich einem bestimmten funktionalistischen Konzept (s.-Kap. 3.1.2), dessen Grundidee es u. a. war, durch die Errichtung einer internationalen Zivilgesellschaft mit Expertengemeinschaften als Kern eine globale Identität hervorbringen zu <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 164 164 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen können. Um eine einseitige Politisierung ihrer Arbeit leichter vermeiden zu können, sollten Sonderorganisationen auf verschiedene Länder dezentral verteilt werden. Dass ungeachtet dessen die wichtigsten Institutionen für Finanzen und Weltwirtschaft in Washington ziemlich wenig mit der UNO oder gar dem ECOSOC verbunden arbeiten würden, war schon seit der »Bretton Woods«-Konferenz 1944 klar. »Letztlich bewirkte die 1943-45 verwirklichte Version des Funktionalismus mit ihrer Trennung von Bretton-Woods-Institutionen vom übrigen System, daß die politische Organisation, konkret: die UNO, über keinerlei ernstzunehmende Handlungsmittel im wirtschaftlichen Bereich verfügt. Ungeachtet der ehrgeizigen Formulierungen in der UN-Charta und der Errichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates wurden die Sicherheitsfragen dadurch sowohl auf konzeptioneller wie auf praktischer Ebene von ihrem wirtschaftlichen und sozialen Kontext getrennt.« Maurice Bertrand (1995, S. 34) Ungeachtet des positiven Friedensbegriffs der Charta ist es offenkundig nicht gelungen, dieses konstruktive Denken in wirtschafts- und sozialpolitische Kompetenzstrukturen für die UNO in der Welt und innerhalb der UNO umzusetzen-- was sich später auch deutlich in der Herausbildung von UN-fernen Steuerungsgremien wie G8/ G20 (s.- Kap. 4.4.1) zeigte. Es drängen sich umso mehr die Fragen auf, warum es denn inzwischen so viele Sonderorganisationen gibt und ob die sich nicht gegenseitig behindern oder Aufgaben doppelt/ dreifach angehen. Der politischer Hintergrund ist, dass die in den 1960er und 1970er Jahren gewachsene südliche Mehrheit in der Generalversammlung ihre Themen in ihrer Weise behandelt sehen wollte, in erster Linie Entwicklung durch multilaterale Entwicklungszusammenarbeit und deren Finanzierung durch die reichen Länder. Der Anspruch auf Umverteilung von Norden nach Süden und dirigistische Handelpolitik zugunsten der Rohstoffproduzenten traf hart auf die strukturkonservativen resp. wirtschaftsliberalen Positionen der reichen Länder, während der Ostblock glaubte (oder so tat), den Süden gegen den Klassenfeind zu unterstützen würde dem Weltkommunismus nützen. Damals war das noch revolutionäre China eine Hoffnung für die Emanzipation des Südens, Brasilien war ein großes Land mit viel Natur aus Tab. 25: Unterschied zwischen Neben-/ Spezialorganen und Sonderorganisationen Nebenorgane Spezialorgane Sonderorganisationen Subsidiary Bodies Programmes and Funds Specialized Agencies Aufgaben Zuarbeit, Aufträge, Beratung thematisch/ programmatisch thematisch/ programmatisch mit unabhängiger Durchführungskompetenz Status weisungsgebundenes Unterorgan selbständige internationale Organisation Rechtsgrundlage internationaler Vertrag: Charta der Vereinten Nationen jeweils ein eigener internationaler Vertrag Mitgliedschaft potentiell in der Mitgliedschaft der UNO enthalten; aktuell durch Wahl/ Regionalproporz eigenständiges Aufnahmeverfahren und UNO-unabhängige Mitgliedschaft Finanzierung UN-Haushalt aus Mitgliedsbeiträgen bzw. Mittel aus gesonderter Umlage eigenständige Mittel aus Mitgliedsbeiträgen/ Fonds Aufbau zweckangepasstes Instrumentarium ggf. eigene Expertise eigene Organe, Struktur, Personal und-Expertise <?page no="165"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 165 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 165 Regenwäldern und einer Menge sozialer Probleme, Indien war eigentlich immer noch ziemlich britisch und sehr vom Hunger bedroht. Für alle Beteiligten war es letztlich weniger aufwändig, der Gründung einer neuen Organisation zur Problembehandlung zuzustimmen als die Konflikte direkt anzugehen. Und zudem ist nicht zu vergessen: Einige der späteren »Sonderorganisationen« gab es schon (lange) vor der UNO. Der Verdacht, dass in diesem weiten »System« Arbeit uneffizient, möglicherweise sich überlappend oder gedoppelt geleistet wird, liegt nahe. Manche Sonderorganisationen operieren in den gleichen Aufgabenfeldern wie manche Spezialorgane, was schwerlich in jedem Fall ausreichend zu koordinieren ist. Aber schon die Hauptorgane kommen sich ins Gehege: der zweite und dritte Hauptausschuss der Generalver- Die Sonderorganisationen im System der Vereinten Nationen »Bretton Woods«-Institutionen für Weltwirtschaft/ -handel, Währung und Entwicklung (* =-»Weltbank-Gruppe«) Weltbank IBRD Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung International Bank for Reconstruction and Development Washington 1945 *IDA Internationale Entwicklungsorganisation International Development Association Washington 1960 *IFC Internationale Finanz-Korporation International Finance Corporation Washington 1956 *MIGA Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur Multilateral Investment Guarantee Agency Washington 1988 *ICSID Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten International Centre for Settlement of Investment Disputes Washington 1966 IMF Internationaler Währungsfonds International Monetary Fund Washington 1945 WTO Welthandelsorganisation [früher GATT (1947)] World Trade Organization Genf 1995 Sonderorganisationen mit wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und entwicklungspolitischen Aufgaben ILO Internationale Arbeitsorganisation International Labour Organization Genf (1919) 1946 FAO Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation Food and Agriculture Organization Rom (1905) 1945 IFAD Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung International Fund for Agricultural Development Rom 1977 UNESCO Organisation der VN für Erziehung, Wissenschaft und Kultur UN Educational, Scientific and Cultural Organization Paris 1946 <?page no="166"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 166 166 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen sammlung befassen sich mit den gleichen Fragen wie der ECOSOC, was dessen ohnehin vage Stellung schwächt. Für Probleme des Welthandels und seiner Regulierung sind mindesten ein Dutzend Haupt- und Nebenorgane sowie Sonderorganisationen zuständig. Lehrreich ist hier besonders die Konstellation zwischen dem Spezialorgan UNCTAD und der Sonderorganisation für den Welthandel (WTO) bzw. dessen Vorgänger GATT; nach der Intention bei ihrer jeweiligen Gründung hatten sie diametral entgegengesetzte Positionen zu vertreten: entwicklungs- und gerechtigkeitspolitisch motivierte Eingriffe in den Handel besonders von Rohstoffen vs. radikale Durchsetzung des Freihandels. Beide Institutionen erfüllten jedoch durch ihr souveränes Aneinandervorbeifunktionieren die spezifischen Bedürfnisse ihrer jeweiligen Klientel und trugen insofern zur Entschärfung des Nord-Süd-Konflikts bei; das war sicher produktiv. WHO Weltgesundheitsorganisation World Health Organization New York 1946 UNIDO Organisation der VN für industrielle Entwicklung UN Industrial Development Organization New York 1967 Sonderorganisationen mit wissenschaftlichen, technischen und logistischen Aufgaben WPV UPU Weltpostverein Universal Postal Union Bern (1874) 1948 ITU Internationale Fernmeldeunion International Telecommunication Union Genf (1934) 1949 IMO Internationale Seeschifffahrtsorganisation International Maritime Organization London 1958 ICAO Internationale Zivilluftfahrt-Organisation International Civil Aviation Organization Montreal 1947 WMO Weltorganisation für Meteorologie World Meteorological Organization Genf (1873) 1950 WIPO Weltorganisation für geistiges Eigentum World Intellectual Property Organization Genf 1970 UNWTO Weltorganisation für Tourismus UN World Tourism Organization Madrid 1975 Mit der UNO verbundene Organisationen mit wissenschaftlichen bzw. technischen Aufgaben, zumal zur Beobachtung und Überwachung IAEO IAEA Internationale Atomenergie-Organisation International Atomic Energy Agency Wien 1957 OPCW Organisation für das Verbot chemischer Waffen Organization for the Prohibition of Chemical Weapons Den Haag 1997 CTBTO Organisation des Nuklearversuchs-Verbots-Vertrages Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization Wien 1997 <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 167 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 167 Der Unterschied zwischen dem Status eines Spezialorgans und dem einer Sonderorganisation ist groß und prinzipiell, aber nicht unüberwindbar: Die 1966 als Spezialorgan gegründete UNIDO wurde ab 1975 zu einer Sonderorganisation umgewandelt, was dann 1985 gelungen war. In den letzten Jahren wurde häufig vorgeschlagen, das Umweltprogramm (UN Environment Programme/ UNEP) zu einer starken Sonderorganisation (UN Environment Organization/ UNEO? ) umzubauen. Abgesehen vom dafür nötigen Aufwand bleibt abzuwägen, welcher Status für einen Arbeitsbereich mehr Vorteile bietet. Eine Sonderorganisation kann mehr Bedeutung beanspruchen und autonomer agieren, aber ein Spezialorgan ist verlässlicher finanziert und weniger erpressbar, also auch geschützter gegen hegemoniale Akteure: Die Erfahrungen der UNESCO mit der massiven Kritik seitens der USA, die in deren Austritt aus der Organisation kumulierte, was diese wiederum in ernste Finanzschwierigkeiten brachte, zeigen, dass eigenständige Sonderorganisationen leichter unter Druck zu setzen und zu isolieren sind. Schließlich gilt noch das alte Argument, dass wichtige »Querschnittsaufgaben« besser auf verschiedenen Ebenen und in allen Dimensionen erfüllt werden und nicht in eine isolierte Struktur abgelagert werden sollten. 4.3.5 Verwaltung und Finanzierung Von der politischen Funktion des Generalsekretärs ist-- zumindest im Prinzip. wenn auch nicht immer in der politischen Praxis-- seine andere tragende Rolle als oberster Verwaltungschef der Organisation zu trennen. Denn »die UNO« mit ihren Hauptsowie Nebenbzw. Spezialorganen, wird hauptsächlich vom Hauptorgan Sekretariat aus verwaltet; die Sonderorganisationen im »UN-System« tun dies autonom, meist aber in ähnlicher Weise. Je nach Stimmungskonjunktur und Sinnprovinz ist es populär, die UNO zu schelten als eine viel zu groß gewordene unkontrollierbare Bürokratie, die sich zwar in alles einmische, aber dabei nicht effizient arbeite oder angeblich gar riesige Finanzmittel (z. B. für Personal) und Ressourcen (z. B. durch ausufernden Papierausstoß) verschwende. Zahlen-Spiele: »Was kostet die UNO? « Zur ersten Abwehr von aus Klischees und Vorurteilen gespeisten Vorwürfen versuchen Mitarbeiter und zivilgesellschaftliche Freunde der UNO immer wieder, durch plakative Vergleiche, in denen die realen Größenverhältnisse gezeigt werden, die Kirche wieder ins Dorf zu rücken. Klassisch geworden sind Hinweise, dass ● ● pro Kopf der Weltbevölkerung für das ganze UN-System jährlich weniger als 2 US-Dollar aufgewendet werden (für Rüstung aber weit über 150 US-Dollar), ● ● die Militär-Operation »Wüstensturm« zur Befreiung Kuwaits im Jahr 1991 pro Tag 1,5 Mrd. US-$ gekostet hat, was damals ausgereicht hätte, den gesamten ordentlichen Haushalt der UNO ein Jahr lang zu finanzieren. Komplementär dazu sind Feststellungen wie die, dass ● ● die UNO in fast allen 193 Mitgliedsländern dient, aber insgesamt nicht mehr Leute beschäftigt als eine große europäische Stadtverwaltung, ● ● die UNO nicht mehr kostet als eine mittelgroße deutsche Universität, <?page no="168"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 168 168 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ● ● der Finanzaufwand der UNO im engeren Sinne ungefähr so groß ist wie die Etats der New Yorker Feuerwehr und Polizei-- oder auch von Tokio usf., oder auch hinsichtlich ökologischer Kritik, dass ● ● eine Sonntagsausgabe der New York Times mehr Papier verbraucht als die ganze UNO im Jahr. Polemischer gegen die Meinung »der Völker« richten sich Sprüche, dass ● ● die Ausgaben der UNO eines Jahres ungefähr der Summe entsprechen, die die Briten in einem guten Dutzend Wochen für Alkohol ausgeben, ● ● die jährlichen Einnahmen der Bundesrepublik Deutschland aus Steuern auf das klassische Kolonialprodukt Kaffee deutlich höher sind als der Jahreshaushalt der UNO, ● ● die Kosten und Folgekosten des privaten Waffenbesitzes in den USA ungleich höher sind als die für die UNO. Sinnvoll sind Vergleiche mit Ausgaben, die mit dem Auftrag der UNO konkurrieren, wie vor allem die weltweiten Militärausgaben, die zusammen mit weiteren Kosten für internationalen Sicherheitsaufwand inzwischen das Hundertfache der Kosten für die UNO ausmachen dürften. Hilfreich zum Verständnis der Arbeitssituation in den »Vereinten Nationen« sind auch Beschreibungen, wie und auf welch schmaler materieller Basis »die UNO« wirklich arbeitet: ● ● Dem Generalsekretär steht kein eigenes Flugzeug zur Verfügung, sondern er bedient sich in der Regel normaler Linienflüge; wenn ihn nicht ein Staats- oder Regierungschef oder gar nur ein Außenminister in sein Flugzeug zum Mitfliegen einlädt, ist er dem Flugplan der Verkehrsmaschinen unterworfen; dies gilt auch für alle anderen hochrangigen Amtsträger der UNO. Eine längere Afrika-Reise von US- Präsident Clinton kostete 1998 inklusive Flugzeuge, mitgebrachten Autos und Entourage ca. 40 Mio. US-$; für eine vergleichbar ausgedehnte Reise durch den afrikanischen Kontinent gab der Generalsekretär insgesamt knapp 110 000 US-$ aus (vgl. Bauer 2005, S. 109). ● ● Weltweit werden weit über 5 000 Sprachen gesprochen, doch die UNO beschränkt ihren offiziellen Sprachendienst (für das Dolmetschen und für Übersetzungen der Dokumente) auf ihre sechs Amtssprachen; der Kostenaufwand dafür lag Ende des letzten Jahrzehnts bei weit unter 10 % des ordentlichen Haushalts der UNO, während die EU-Kommission etwa 35 % oder das Europäische Parlament über 50 % brauchte (vgl. Paqué 2000, S. 498). Auch die allgemeine Öffentlichkeitsarbeit der UNO war verglichen mit der der EU recht bescheiden ausgestattet. Wenn es ums Geld geht, zeigt sich, wer wirklich das Sagen hat. Diese so klassische wie unerfreuliche Banalität gilt für die UNO ungemindert. »Der UNO« fehlt wie den meisten Staaten immer vor allem dort das Geld, wo weitere Ausgaben zur besseren Zielerfüllung wünschenswert wären; aber oft genug war die Finanzlage der Organisation auch hinsichtlich der laufenden Kosten äußerst prekär, wie an den über Jahre vernachlässigten Gebäuden des Hauptquartiers in New York zu sehen ist. »Art und Weise sowie Umfang der finanziellen Ressourcen-Zuteilung der Mitgliedstaaten an die Vereinten Nationen (UN), deren Spezialorgane und Sonderorganisationen zeigen auf realistische Weise die Wertschätzung der Arbeit der Organisation an, d. h. ob und in welchem Umfang die Mitgliedstaaten bereit sind, den UN und ihren Sonderorganisationen die für die Erfüllung ihrer immer umfangreicher gewordenen Aufgaben notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. In der Vergangenheit hat eine Reihe von Mitgliedstaaten, darunter auch ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, durch Zahlungsverzögerungen und -verweigerungen ihre Unzufriedenheit mit der Arbeit der UN ausgedrückt-- übrigens unter Bruch der bindenden völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sie bei der Ratifizierung der UN-Charta eingegangen sind.« Klaus Hüfner (2007, S. 417) <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 169 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 169 Unterschiedliche Interessen und Prioritäten der Staaten machen alle Verhandlungen zur Finanzierung der UNO (Hüfner 2007; Laurenti 2007) immer schwierig, manchmal kommt es offen zum Streit; regelmäßige Gelegenheiten dafür bieten: ● ● Festsetzung der Beitragstabelle (scale of assessments): Wer zahlt wie viel? ● ● Festlegung von Umfang und Inhalt des ordentlichen Haushalts (regular budget): Wofür wird das Geld ausgegeben? ● ● Einzahlung der Pflichtbeiträge: Wer zahlt rechtzeitig, wer-- warum-- (noch) nicht? Die UNO-Charta besagt zwar, dass die Mitgliedstaaten die Finanzierung der Ausgaben der Organisation nach einem von der Generalversammlung festzusetzenden Beitragsschlüssel leisten müssen (Art. 17 Abs. 2), gibt aber keine Kriterien dafür vor. Ein Beitragsausschuss (committee on contributions) erstellt für jeweils drei Jahre eine Beitragstabelle, die den prozentualen Anteil festlegt, den jeder Staat zum ordentlichen UN-Haushalt beizutragen hat; die Verhandlungen darüber sind hart, ihr Scheitern droht immer wieder bis zum letztmöglichen Zeitpunkt. Der Anteil jeden Staates wird berechnet nach seiner finanziellen Kapazität (aufgrund seines Sozialprodukts bei großen Abschlägen für bevölkerungsreiche arme Länder) und mit einigen anderen Faktoren; schließlich wird ein Höchstsatz (22 %) und ein Mindestsatz (0,001 %) festgelegt. Die Auseinandersetzungen darüber verlaufen größtenteils entlang der klassischen Konfliktlinie reiche Länder in Nord vs. arme Länder in Süd, wobei den USA wie fast immer bei UNinternen Entscheidungsprozessen eine besonders prononcierte Rolle zukommt. Die drei größten Beitragszahler USA, Japan und Deutschland trugen nach diesem Verteilungsschlüssel den ordentlichen Haushalt über Jahrzehnte etwa zur Hälfte, während ein Viertel der Mitgliedstaaten nur den Mindestsatz in Höhe von 0,001 % (ca. 20 000 US-$) einzahlen mussten; nur knapp ein Zehntel der Mitgliedstaaten trugen über 1 % bei. Deutschland ist der größte Zahler unter den EU-Staaten, die zusammen gut ein Drittel der Finanzierung aufbringen. Dank der rapiden wirtschaftlichen Entwicklung von neuen Ökonomien wie insbesondere der VR China zeichnen sich schon spannende neue Verteilungsauseinandersetzungen ab. Zu bedenken ist dabei immer: Wenn Angaben über das Budget der UNO gemacht werden, ist meist der aus den Pflichtbeiträgen der Mitgliedstaaten gespeiste »ordentliche Haushalt« gemeint, also die Mittel für die eigentliche »Kern«-UNO: die der Hauptorgane inkl. des Sekretariats sowie die für die Verwaltung ihrer Unterorgane-- nicht die gesondert aufgebrachten Mittel der großen operativen Programme einiger Spezialorgane (programmes and funds), nicht die Haushalte der selbständigen Sonderorganisationen (special agencies) und schon gar nicht die Kosten für militärische und humanitäre Friedensoperationen aller Art, die wiederum gesondert aus Pflichtbeträgen aufgebracht werden. ● ● Umfang und Zusammensetzung des aus Pflichtbeiträgen aufgebrachten »ordentlichen Haushalts« werden in einem komplexen, mehrstufigen und langwierigen Verfahren erarbeitet und schließlich von der Generalversammlung für ein Doppeljahr auf US-$-Basis beschlossen; 1998+1999 betrug er ca. 2,5 Mrd. US-$, 2008+2009 ca. 4,2 Mrd. US-$ und 2010+2011 ca. 5,1 Mrd. US-$. Tab. 26: Haushalte der UNO/ des UN-Systems Ausgaben von/ für Finanzierung durch 1 Ordentlicher Haushalt der (»Kern«-) UNO Pflichtbeiträge der Mitgliedstaaten nach Beitragsschlüssel 2 Friedensmissionen (»Blauhelme«) Pflichtbeitragsumlagen mit modifiziertem Beitragsschlüssel 3 Programme/ Fonds von Neben-/ Spezialorganen freiwillige Beiträge (auf pledging conferences eingeworben) 4 Sonderorganisationen eigenständig, durch Pflichtbeiträge u. a. <?page no="170"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 170 170 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen ● ● Friedensoperationen werden mit wenigen Ausnahmen gesondert aus Pflichtbeiträgen-- oder besser: Umlagen nach Einsatzbedarf-- finanziert, die sich wiederum nach dem allerdings zulasten der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats modifizierten Beitragsschlüssel bemessen; den Staaten, die Truppen und Gerät stellen, werden zumindest ein Teil der Kosten dafür nach festen Sätzen erstattet. ● ● Programme und Fonds, zumal solche mit humanitären und entwicklungspolitischen Aufgaben, haben Budgets zur Verfügung, die zusammen ein Mehrfaches des ordentlichen Haushalts erreichen können; das Welternährungsprogramm (WFP), die Flüchtlingshilfe (UNHCR), das Entwicklungsprogramm (UNDP) und das Kinderhilfswerk (UNICEF) erhalten das meiste Geld. Diese Mittel gehen als freiwillige Beiträge der UN-Mitgliedsländer ein, die damit einerseits starken Einfluss auf die Schwerpunkte der Spezialorgane nehmen, andererseits deren Arbeit sehr gefährden können durch für die Empfänger unkalkulierbare Schwankungen der Höhe der Beiträge. Oft werden Zuwendungen auf sog. Vergabe- oder Geberkonferenzen (pledging conferences) regelrecht ausgehandelt, wobei die freigiebigsten Geberländer eher kleiner und nordeuropäischer sind, während die führenden EU-Länder, auch Deutschland, auf den hinteren Plätzen zu finden sind; die USA liegen deutlich hinter Kanada oder sogar Australien. ● ● Die Sonderorganisationen haben ihre eigenen Haushaltsordnungen und Finanzierungsmechanismen, die denen der UNO ähneln: Die Grundlage der Arbeit sichern Pflichtbeiträge (z.T. nach der UN- Beitragstabelle), aber auch freiwillige Mittel in bedeutendem Umfang können eingehen; die größten Budgets haben die zentralen thematischen Organisationen wie WHO, FAO oder UNESCO mit Haushalten zwischen 0,5 und 1 Mrd. US-$, während spezialisierte oder technische Organisationen wie IMO, UPU oder WMO mit einem Zehntel davon auskommen. Sonderfälle sind natürlich die Währungs- und Finanzorganisationen (Weltbank-Gruppe und der Internationale Währungsfonds), die sich aus den Einlagen ihrer Mitglieder und auf dieser Basis gewissermaßen aus dem eigenen Geschäft finanzieren. Allgemein lässt die Zahlungsmoral der UN-Mitgliedstaaten zu wünschen übrig; viele, auch Deutschland, waren oder sind mit ihren Zahlungen gelegentlich oder ständig im Verzug. Einzelne große Beitragszahler haben mit ihrem finanziellen natürlich auch ein korrespondierendes politisches Gewicht, was sich auch in Deutschlands und Japans allerdings erfolglosem Bemühen zeigt, als neue ständige Mitglieder in den Sicherheitsrat zu kommen; wenn ein großer Beitragszahler auch noch eine militärische und politische Großmacht ist, kann er seine Vorrangstellung unbekümmert ausspielen, indem er mit Zahlungsver- oder gar -entzug droht: Die USA haben diese Karte in den letzten Jahrzehnten immer wieder gegen die Mehrheit ihrer Mit-Mitglieder ausgespielt, um politische Zugeständnisse und Reformanstrengungen zu erzwingen; teilweise haben sie erst im letzten Moment, kurz vor Verlust ihres Stimmrechts in der Generalversammlung, das Nötigste nachbezahlt. Auch deswegen wurde schon oft über alternative Finanzierungsmöglichkeiten für die UNO nachgedacht, über Abgaben auf Finanztransfers, auf den Flugverkehr oder auf Waffenexporte, aber auch über eine intensivere »zivilgesellschaftliche« Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Doch bleiben die meisten Staaten unter Führung der USA auch hier skeptisch oder gar ablehnend, auch weil sie keine unmittelbare Kontrolle mehr hätten über Aktivitäten, die anderweitig finanziert wären. Mit Finanzautonomie und eigenen Finanzierungsquellen wäre die UNO nicht mehr eine klassische zwischenstaatliche Organisation. Ein großer Posten in den meisten internationalen Haushalten ist das Personal. Im System der UNO arbeiten weltweit ca. 44 000 Menschen aus allen Ländern und Kulturen im internationalen öffentlichen Dienst an mehreren Hundert Dienstorten. Sie sollen auf das Gemeinwohl aller Völker gerichtete Aufgaben erfüllen, also keinen wirtschaftlichen Gewinn schaffen und nicht die Interessen eines einzelnen Staates, auch nicht ihres Herkunftslands, bevorzugt verfolgen. Sie sind zur Loyalität gegenüber ihrer Organisation verpflichtet und dürfen keine Weisungen von einer nationalen Regierung entgegennehmen. <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 171 4.3 Die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) 171 Dieses Gebot ist für eine internationale Organisation zwar essentiell, aber meist unrealistisch: Regierungen nehmen Einfluss- - direkt oder indirekt. Und sie achten zumindest immer darauf, dass eine ausreichende Anzahl von Stellen mit ihren Bürgern besetzt wird; der Konflikt zwischen dem »geographischen Prinzip« und dem Leistungs- und Eignungsprinzip ist ein bleibendes Problem für den internationalen Dienst. »Trotz der widrigen Rahmenbedingungen- - wie unklare Weisungen der Aufsichtsorgane, mangelnde Ressourcen, fehlende Verwaltungstradition, mangelnde Homogenität des Personals und Defizite im Management-- wird der internationale öffentliche Dienst des UN-Systems seinen Aufgaben gerecht. Davon zeugen die weltweiten Einsätze unter Zeitdruck und in Gefahrensituationen zur Friedenssicherung und humanitären Hilfe sowie die kontinuierliche Fortentwicklung rechtlicher und technischer Normen auf den verschiedensten Gebieten, die besonders in einer interdependenten Welt von Wichtigkeit sind. Oft wird der internationale öffentliche Dienst zum Prügelknaben der Politik und Medien, die ihm die Versäumnisse der Mitgliedstaaten anlasten. Doch selbst unter den schwierigsten Umständen haben die Mitarbeiter der Vereinten Nationen ihre internationale Loyalität bewahrt.« Dieter Göthel (2007, S. 464) Doch insgesamt scheint es dem Sekretariat gelungen zu sein, eine echte international-multikulturelle Unternehmenskultur zu schaffen. Ein altmodisches, aber wirksames Mittel dafür war der verbindliche und umfassende Verhaltenskodex der UNO, der internationalen Bediensteten detaillierte Richtlinien für ihr Verhalten in dienstpraktischen und lebensnahen Situationen gibt, u. a. wie mit Regierungsvertretern, Journalisten und der Öffentlichkeit umzugehen ist. Mitarbeiter von internationalen Organisationen genießen Privilegien und Immunitäten wie sie sonst nur nationalstaatlichen Diplomaten zukommen, die sie natürlich nicht eigennützig einsetzen dürfen. Sie müssen anderseits oft genug darauf vertrauen, dass Regierungen und andere ihren internationalen Status respektieren, wobei sie in Krisengebieten immer ein persönliches Risiko eingehen, manchmal ein zu hohes. Das in Hauptquartieren und Sekretariaten wirkende UN-Personal sieht sich andersartigen Gefahren ausgesetzt, vor allem den regelmäßig anbrandenden Reform-Wellen und den wechselhaften Konjunkturen der Management-Moden. Sprachliche und kulturelle Hürden machen ihre Arbeit schwierig, aber dafür auch interessant; sie müssen nicht nur fremdsprachensicher sein, sondern von ihnen wird wirklich und ernsthaft »interkulturelle Kompetenz« gefordert. Mehr noch als bei nationalen Behörden stellt sich in internationalen Organisation die Frage, in welchen Maß sie gefährdet sind, von ihren eigenen Mitarbeitern ausgenutzt zu werden, sei es durch Inkompetenz und Unfähigkeit, sei es durch Mittelmissbrauch oder gar Korruption, und wie dem entgegengewirkt werden kann. Vertrauen in Verhaltenskodex und Organisationskultur ist gut, aber besser ist die Gewährleistung von Kontrolle, zumal wenn es um die Verteilung von materiellen Werten geht. Die Verwaltung der UNO unterliegt einer doppelten Kontrolle, der externen durch die Mitgliedstaaten und der internen durch erst in jüngerer Zeit wesentlich ausgebaute eigene Überwachungsmechanismen (s.-Paschke 2007). Die externe Kontrolle wird von Staatenvertretern (im fünften Hauptausschuss der Generalversammlung), einem Ausschuss mit 16 gewählten Experten (ACABQ) und einem »Board of Auditors« aus drei Chefs nationaler Rechnungskontrollbehörden ausgeübt; zusätzlich prüft eine 11-köpfige »Gemeinsame Inspektionsgruppe« (Joint Inspection Unit / JIU) die Effizienz des Managements und berät die Dienststellen dazu. Die organisationsinternen Kontrollfunktionen wurden besonders auf Druck des traditionell »regierungsbürokratie«-feindlichen US-Kongresses verstärkt: 1994 richtete die Generalversammlung <?page no="172"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 172 172 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen eine neue Sekretariatsabteilung ein, das »Amt für interne Aufsichtsdienste« (Office of Internal Oversight Services/ OIOS), dessen Gründungschef im Rang eines Under Secretary General der deutsche Diplomat Paschke wurde. Damit erhielt die UNO eine innovative Instanz zur Innenrevision, die sich zweifellos vor allem deswegen bewährt hat, weil sie aufgrund ihrer Struktur und ihres Mandats (Audit, Monitoring und Inspektion, Programmevaluierung, Disziplinar-Untersuchungen) tatsächlich ziemlich unabhängig und ohne Zwang zu Rücksichtnahme arbeiten kann. »Bürokratien im allgemeinen und multilaterale, multikulturelle Bürokratien im besonderen zeigen eben eine gewisse Resistenz, sich zu verändern, solange auf sie nicht ein entsprechender Druck ausgeübt wird. Die Mitgliedstaaten haben weder den langen Atem noch die gemeinsame politische Überzeugung, immer wieder für solchen Druck zu sorgen. […] Die über 190 Mitgliedstaaten haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was die UNO ist und was sie leisten kann und soll. In den seltensten Fällen schaffen es die Vereinten Nationen, alle ihre Mitglieder zufrieden zu stellen. Die häufig bemühte Sentenz, dass ›die UNO nur so gut sein kann, wie es die Mitgliedstaaten wollen bzw. zulassen‹, ist zweifellos richtig. Darin drückt sich die Erkenntnis aus, dass die Staaten an die Organisation immer wieder hohe, manchmal zu hohe Anforderungen stellen, ihr aber die dafür erforderlichen Machtmittel und Ressourcen allzu oft verweigern.« Karl Theodor Paschke, Under Secretary General (1994-1999), OIOS (2007, S. 472 f.) Nicht nur die Staaten haben unterschiedliche Vorstellungen über die UNO, auch in den »Zivilgesellschaften«, mehrheitlich vertreten durch die öffentlichen Meinungen in den Mitgliedsländern, ist ihr Bild zumindest verschwommen. Die Wertschätzung »der UNO« in einer breiteren Öffentlichkeit schwankt zwischen hoffnungsfroher Erwartung und harscher Enttäuschung, die verbreiteten Kenntnisse über die komplexen Probleme und Vorgänge in einer internationalen Organisation sind gering oder lückenhaft, oft einfach falsch. Damit die Arbeit der/ in der UNO in der Öffentlichkeit bekannt und so wirksamer wird, müssen zunächst ihre Dokumente und Berichte zugänglich sein, und zwar über das hinaus, was Regierungen als ihre Sicht verlautbaren oder Nachrichtenagenturen und Medien im täglichen Geschäft in nach medialer Logik redigierter Form vermitteln. Noch bis in die Zeit der großen »Weltkonferenzen« der 1990er Jahre war es oft recht schwierig, in Deutschland an UN-Dokumente zu kommen, zumal wenn es sich nicht um Resolutionen des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung oder Stellungnahmen des Generalsekretärs handelte, sondern um Papiere und Materialien aus den vielfältigen Arbeitsbereichen der UNO. Am besten hatte man direkten Kontakt zur zuständigen Stelle in der UNO oder ihren Mitarbeitern, die so nett waren, einem das Gewünschte zu schicken, oder man kannte jemanden z. B. in Genf, der bereit war, das Material vor Ort zu besorgen. Was nicht beim Department of Public Information (DPI) im Sekretariat in New York oder bei einer seiner Außenstellen oder einer UNA (United Nations Association, in Deutschland die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen/ DGVN) zu erhalten war, musste mühsam recherchiert und erbettelt werden. Zwar gab (und gibt) es in Deutschland Deposit-Bibliotheken der UNO; diese waren jedoch personell meist nicht in der Lage, die immensen Papiermengen zu verwalten und zugänglich zu machen, konnte diese also schlicht nur lagern. Das hat sich mit dem Internet und dessen zunehmend offensiverer Nutzung durch die UNO radikal gewandelt: Nun findet man nicht mehr kaum etwas, sondern meist viel zu viel, in Teilbereichen sogar alles, was als »blaues« Dokument mal in die Welt gesetzt wurde. Wer heute Stunde um Stunde sich durch die Seiten hinter der UNO-Homepage (http: / / www.un.org/ ) klickt, erfährt die chaotische Komplexität internationaler Organisation. <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 173 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 173 Die rapide Entwicklung eines globalen Mediensystems regte Diskussionen um neue Formen der »public diplomacy« an. Damit ist gemeint, dass einerseits Vertreter von Staaten, meist verantwortliche Politiker selbst, in den und durch die Medien kommunizieren und verhandeln und dass andererseits Verhandlungen nicht mehr beschränkt sind auf Staatenvertreter, dass also auch Teile der Bevölkerungen, z. B. NGOs, mit Regierungen und Teilen der Bevölkerungen anderen Länder direkt kommunizieren können. Dank dieser scheinbar viel transparenteren Prozesse verliere Diplomatie den Charakter des Geheimnisvollen-- und tatsächlich zelebriert sich die multilaterale Verhandlungsdiplomatie immer öfter öffentlich als »Event«. Diese und parallele Entwicklungen in der Zivilgesellschaft stellen die UNO als klassische international-multilaterale Staaten-Organisation vor ein ernstes strukturelles Problem- - und sei es nur auf der Ebene der »Öffentlichkeitsarbeit«. Unter Generalsekretär Kofi Annan wurde spät, aber doch versucht, die dafür zuständige Sekretariatsabteilung (Department of Public Information/ DPI; s.- Lehmann 2003, 2006) von einer betulichen Dokumentenverwaltung in eine offensive Medienagentur umzuwandeln. Image-Politik durch Selbstdarstellung/ Inszenierung oder entsprechende Bemühungen, das Bild von Partnern und Gegnern zu beeinflussen, sowie die klassische »PR-Arbeit« haben im Rahmen der »public diplomacy« in der vernetzten globalen »civil society« neue Möglichkeiten und Spielräume erobert. Die kommunikative Interessenvermittlung zwischen politischen und/ oder wirtschaftlichen Akteuren wird aber weiterhin großenteils über interne oder abgeschirmte Kanäle nichtöffentlich verlaufen, sofern es ernsthaft um relevante Probleme und Projekte geht, denn den meisten solcher Fragen und Interessen ist-- zumindest nach Ansicht der klassischen Akteure-- eine öffentliche Behandlung nicht dienlich. Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 4.3 Bailey/ Daws 1995, 1998; Bauer 2005; Bertrand 1995; Boyd 1967; Chesterman 2007; Crawford/ Grant 2007; Dudley 1994; Franda 2006; Freuding 2005; Fröhlich 2002, 2005; Gareis/ Varwick 2006; Göthel 2002, 2007; Grabenwarter 2009; Herren 2009; Hüfner 1997, 1995, 1997, 1992, 2007; Hulton 2004; Krasno 2004; Laurenti 2007; Lehmann 2003, 2006; Luard/ Heater 1994; Malone 2004, 2007; Muldoon/ Aviel/ Reitano/ Sullivan 1999; Newmann 2007; Nicholas 1975; Oppermann/ Classen/ Nettesheim 2009; Paqué 2000; Paschke 2003, 2007; Peters 2003; Peterson 2006, 2007; Prantl 2006, 2007; Rosenthal 2007; Ruggie 1992; Smith 2006; Smouts 2000; Thakur 2006; Weiss/ Daws 2007; Wesel 2002b, 2004; Winkelmann 2005; Volger 2007, 2010; Ziring/ Riggs/ Plano-2005 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden Historische Wandlungsprozesse wie die Entwicklung des Mediensystems vom Radio über das Fernsehen zum Internet verändern die Arbeitsweisen und Methoden der internationalen Kooperation; oft bleibt dabei aber lange unklar, was nun substantiell neu oder folgenreich anders ist und was lediglich greller präsentiert wird. Epochale Prozesse wie die Ausdifferenzierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems bis zu seiner Globalisierung und die Entstehung des Nationalstaats verbunden mit dem modernen Souveränitätsdenken geben den großen Rahmen, den Entwicklungstrends wie die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ohne eine zentrale Instanz ausfüllen, aber auch belasten und biegen können-- wenn etwa die Verrechtlichung das Souveränitätsprinzip schwächt. Diese Tendenz zur Verrechtlichung scheint ihrerseits eine Gegentendenz zur Informalisierung zumindest einiger Elemente und Methoden der internationalen Politik ausgelöst zu haben. Multilateralität in ihrer typischen Mischung von Starrheit und Chaos ist dafür ein sehr fruchtbarer Humus: Wenn die Charta der Vereinten Nationen praktisch kaum <?page no="174"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 174 174 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen mehr zu ändern ist oder der politische Aufwand dafür in keinem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag stünde (s.- Kap. 4.3.2), dann werden gewisse Dinge einfach im Konsens anders gesehen und anders gemacht; sofern das auf ein begrenztes Teilproblem beschränkt bleibt, mag das unproblematisch und weise sein: Die reale multilaterale Praxis hat immer schon flexible und spezifische Lösungen ge- oder erfunden, um pragmatisch voranzukommen- - und sei es schlicht durch scheinbar konzeptionsloses Durchwursteln (»muddling through«). Wenn allerdings festgegründete, aber eben auch festgefahrene multilateral-universale Strukturen durch ein pragmatisch-evolutionäres Vorgehen ohne breiten Konsens flexibel genutzt oder manipuliert werden, um hauptsächlich oder ausschließlich partiale Eigeninteressen zu verfolgen, könnte das die mühsam aufgebaute multilaterale Kooperation nicht nur ändern, sondern grundsätzlich gefährden. Diese Gefahr deutet sich an, wenn die klassische mulilaterale Methode der Bildung von Ländergruppen ohne formale rechtliche Grundlage und deren exklusiver Kooperation so weit ausgedehnt wird, dass die offiziellen Strukturen und formalen Verfahren internationaler Organisationen zu leeren Verhüllungen entwertet werden. Andere konstitutive Elemente der mulilateralen Arbeitspraxis sind die Künste von Rhetorik und Verhandlung, das Instrumentarium aus Berichten, Kommissionen und Konferenzen, die Abgrenzung zur und Einbeziehung der »Zivilgesellschaft« sowie Konsens als tragendes Prinzip und Ritualität als Allheilmittel. 4.4.1 Gruppenbildung Die Bildung von Gruppen von Staaten ist für die multilaterale Diplomatie angesichts der großen Zahl der agierenden und verhandelnden Staaten schlicht eine logistische Notwendigkeit, um die Kooperation zu strukturieren und zu organisieren (vgl. Freuding 2005; Prantl 2006; Schorlemer 2005; Smith 2006, S. 53 ff.). Nach welchen Unterscheidungskriterien auch immer sich Staaten in Gruppen sortieren, ihre Anführer können nun wenigstens auf ein Thema und meist zeitlich beschränkt für die anderen sprechen und so das Geschehen überschaubarer machen. Neben diesem Aspekt des Komplexitätsmanagements ist politisch wichtiger noch: Die Bildung von informellen Vereinigungen von Staaten, die sich aufgrund ihrer gleichartigen Interessen und/ oder entlang bestimmter Konfliktlinien und Problemstellungen gruppieren, ist eine pragmatisch-evolutionäre Methode, mit der sich festgegründete, aber auch festgefahrene multilateral-universale Strukturen gemäß den eigenen Interessen flexibel nutzen lassen. So entwickelt sich eine Vielfalt von Gesprächskreisen und »Freundeskreisen« von »gleichgesinnten Staaten« (»group of like-minded states«), Ad-hoc-Gruppen, Arbeits- und Kontaktgruppen, regelmäßig tagenden dauerhaften Gruppen oder gar »Koalitionen« (»coalition of the willing«) usf. Das kann politisch motiviert sein wie z. B. bei der »Blockfreienbewegung« zur Zeit der Ost-West-Konfrontation oder dem Versuch der »G4« (s. Tab. 27), gemeinsam auf eine Reform des Sicherheitsrats zugunsten ihrer politischen Aufwertung hinzuarbeiten; die meisten Gruppen bilden sich jedoch aus wirtschaftlichen Motiven. Doch auch ihre besondere geographische oder geopolitische Lage kann die unterschiedlichsten Länder gemeinsame Interessen verfolgen lassen, so z. B. die große Gruppe der kleinen Länder, die Gruppe der vom Zugang zu einem Seehafen ausgeschlossenen Länder (»landlocked countries«) oder komplementär die Gruppe der Inselstaaten, die ein besonderes Problembewusstsein hinsichtlich des Klimawandels verbindet. Eine Gruppierung hat in den letzten Jahrzehnten dynamisch an Gewicht gewonnen, was an ihrer wachsenden Mitgliederzahl, aber vor allem an ihrer überraschend gut funktionierenden und sehr eng abgestimmten Zusammenarbeit liegt: die nun 27 Regierungen der Europäischen Union (EU) sprechen dank der »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) zumindest in den vielen Gremien der <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 175 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 175 Tab. 27: Gruppenbildung: Ländergruppen in-- und außerhalb-- der UNO (Auswahl) Art der Länder/ des Interesses Mitglieder G4 2004/ 2005 »Gruppe der Vier«: Bewerber um neue ständige Sitze für den Fall einer Erweiterung des Sicherheitsrats Brasilien, Deutschland, Indien, Japan G5 ab 1973 Treffen der Finanzminister und der Zentralbankchefs der weltwirtschaftlich stärksten und führenden Länder bzw. der weltpolitisch wichtigsten Staaten des Westblocks Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, USA G6 ab 1975 erst »Kamingespräch«, dann regelmäßig organisierte »Gipfel«-Treffen der Regierungschefs der weltwirtschaftlich stärksten/ führenden Länder für Konsultation, Kooperation und Abstimmung besonders, aber nicht ausschließlich ihres wirtschaftspolitischen Handelns Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, USA G7 ab 1976 wie G6 G6 plus Kanada G8 ab 1998 wie G7, aber die sich erholende Großmacht einbeziehend G7 plus Russland * G8+5 2007 wie G8, aber erweitert um fünf Schwellenländer/ neue Industrieländer G8 plus Brasilien, China, Indien, Mexiko, Südafrika G20 seit 1999, bes. ab 2008 regelmäßige Arbeits- oder »Gipfel«-Treffen der Finanzminister/ Zentralbankchefs oder auch der Regierungschefs der weltwirtschaftlich stärksten/ führenden alten Industrieländer zusammen mit den wichtigsten Schwellenländern/ neuen Industrieländern v. a. des Südens (19-Staaten und EU) zum Zweck der Konsultation, Kooperation und Abstimmung besonders, aber nicht ausschließlich ihres wirtschafts- und finanzpolitischen Handelns G8 plus Argentinien, Australien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei plus EU ** G77 seit 1964 »Gruppe der 77«: Vereinigung der Entwicklungsländer; soll die wirtschaftlichen Interessen des Südens bündeln, artikulieren und politisch vertreten durch ihre koordinierte Verhandlungsmacht und ihr gemeinsames Stimmpotential, zudem auch die Süd-Süd-Zusammenarbeit stärken anfangs 77 in der UNO vertretene Staaten der sog. Dritten Welt, inzwischen 130 BRIC/ BRICS lose Absprachen der neuen wachstumsstarken Ökonomien, auch Untergruppe der G20 Brasilien, Russland, Indien, China bzw. auch Südafrika EU Mitgliedstaaten der Europäischen Union 27 Staaten »p5« »Permanent Five«: Die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats USA, RF, VR-Ch, F, GB Daneben gibt es die fünf regionalen Blocks nach dem geographischen Verteilungsschlüssel der UNO (Afrika, Asien, Osteuropa, Lateinamerika/ Karibik, Westeuropa und andere) sowie Regionalorganisationen (AU, OAS, OIC usf.) * die Russische Föderation galt anfangs nicht als regelmäßiger, sondern als zusätzlicher Teilnehmer (»G7/ 8«) ** da die G20 formal keine internationale Organisation ist, kann die EU teilnehmen, obwohl sie kein Staat ist <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 176 176 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen UNO inzwischen mit einer Stimme (praktisch mit der des Vertreters des Landes, das gerade den EU- Vorsitz innehat); die EU als supranationale Organisation hat in der UNO Beobachterstatus, kann aber ohne eigene Staatlichkeit nicht Mitglied sein. Allerdings hat für die führenden EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien im Zweifelsfall ihr ständiger Sitz im Sicherheitsrat eindeutig den politischen Vorrang vor den Interessen der EU. Denn die wichtigste und schon in der Charta gegründete Gruppe ist der letztlich definitiv im Wortsinn exklusive Club der P5, also der der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Andererseits ermöglicht es der Pragmatismus multilateraler Diplomatie, sich flexibel und informell passende Arbeitsformen zurechtzulegen, wozu häufig die Bildung von speziellen Gruppierungen zu einem speziellen Problem oder Vorhaben dient. So arbeitet eine »G5+1« (die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats plus Deutschland) als Kontaktgruppe zum Problem der atomaren Rüstung des Iran; das Engagement Deutschlands gilt in der Iran-Frage als wertvoll. Oft bilden sich auch Gruppen als »Freunde des Generalsekretärs«, um auf dessen Initiative oder in Absprache mit ihm besondere Vorhaben, z. B. einzelne Reformen, anzugehen. Schließlich gibt es in großen Gruppen Untergruppierungen; innerhalb der politisch so rasch aufgewerteten »G20« sind die alten »G7« und die neuen »BRIC«bzw. »BRICS«- Staaten« (s. Tab. 27) ihre eigenen Interessen artikulierende »pressure groups«. Zwar ist die Gruppenbildung offiziell weder in der UNO-Charta noch in den Geschäftsordnungen (»rules of procedure«) von Generalversammlung und Sicherheitsrat vorgesehen, aber in der Praxis ist sie ein alltägliches Arbeitsinstrument, das auch durch die Kommunikationskanäle und Serviceleistungen des UNO-Sekretariats organisiert wird. Denn die Gruppen haben meist keinen eigenständigen organisatorischen Unterbau, zumindest nicht am Anfang der Zusammenarbeit; nötige administrative, infrastrukturelle und kommunikative Service-Leistungen stellen die Regierungen einzelner beteiligter Staaten oder eben auch die UNO, so konnte z. B. die Gruppe der 77 (G77) die Strukturen der UN- Handels- und Entwicklungskonferenzen (UNCTAD) nutzen. Sollte die Kooperation sich auf Dauer bewähren, können eigene Arbeitsstrukturen wie kleinere Verbindungsbüros oder Sekretariate eingerichtet werden; selten organisieren sich interessendefinierte Ländergruppen als eine formelle internationale Organisation wie z. B. die Organisation der erdölexportierenden Staaten (OPEC) schon in den 1960er Jahren. Viele »Group of«-Auftritte (z. B. eine G15, die G20+, eine oder gar zwei G33, usf.) sind nur kurzfristig oder in sehr speziellem Kontext zu sehen, einige kommen kaum über das Benanntwerden hinaus. Andere werden über lange Zeit hin zu festen Institutionen; dann können sie die oft parallel zuständigen Strukturen der multilateral-universalen und deswegen immer schwerfälligeren UNO, innerhalb derer und auf die bezogen sie meist entstanden sind, als Konkurrenz sogar gefährden: Sind die G8/ G8+5/ G20 zu verstehen als informell-evolutionäre Herausbildung von so etwas wie einem oft schon geforderten UN-Sicherheitsrat für Wirtschaft und Finanzen-- oder sind sie ein nur durch die faktische wirtschaftliche Macht der Teilnehmer nicht ausreichend legitimiertes »Direktorium«, das sich anmaßt, die Welt zu regieren? Darin wäre auch eine Ironie der Geschichte zu erkennen: Hatten die reichen Staaten des Nordens sich ursprünglich auch deswegen in der G7 zusammengetan, um so den politischen Anmaßungen und wirtschaftlichen Begehrlichkeiten vieler Staaten des Südens zu entgehen, müssen sie nun zumindest mit den Aufsteigern aus dem Süden ihr Privileg teilen. Eine Form der Kooperation in festen Gruppen ist allerdings schon durch die Charta in die Struktur der UNO eingebaut: geographisch definierte regionale und sub-regionale Ländergruppen vertreten nicht nur die regionsspezifischen politischen und wirtschaftlichen Interessen, sondern organisieren vor allem die Kandidaturen einzelner Länder für die in der UNO so häufigen Wahlen in einzelne Organe (z. B. den Sicherheitsrat und den ECOSOC), Nebenorgane (wie den Menschenrechtsrat/ HRC) oder auch einzelne Ämter (wie das des Generalsekretärs), bei denen formal oder wenigstens informell bestimmte Verteilungsschlüssel nach Weltregionen vorgesehen sind: für den Sicherheitsrat »eine angewww.claudia-wild.de: <?page no="177"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 177 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 177 messene geographische Verteilung der Sitze« (VN-Charta Art. 23), was nicht die ständigen Sitze betrifft, deren Inhaber ja gesondert benannt sind; für das Sekretariat eine »Auswahl der Bediensteten auf möglichst breiter geographischer Grundlage« (VN-Charta Art. 101). Daneben gibt es für wichtige Ämter einige (ungeschriebene) Regeln: Die Weltregionen, aus denen der Generalsekretär stammt, sollen ausgewogen einander folgen (nach drei »afrikanischen« Amtsperioden durch Boutros-Ghali und Kofi Annan nun wieder eine »asiatische« mit Ban Ki-Moon); aus dem Kontext des Kalten Krieges stammt die Weisheit, dass der Generalsekretär kein US-Amerikaner oder (Sowjet-)Russe sein sollte; dagegen ist der Weltbank-Chef traditionell US-Amerikaner, der IMF-Chef Europäer-- solange die BRICS-Staaten dies noch mitmachen. Wenn nun (wie 2011 beim IMF) auch Frauen in diese Positionen einrücken, bleibt ihre Eignung dafür dennoch vorrangig durch ihre geopolitische Herkunft definiert, dann erst durch ihre Kompetenz oder ihr Geschlecht. 4.4.2 Rhetorik und Verhandlung Die politische Rhetorik vor und bei der UNO hat einen doppelten eigenen Charakter, einen zeremoniellen für Reden an die »Weltgemeinschaft«, gehalten von Staatsmännern und Staatsfrauen vor der Generalversammlung bei der Eröffnung der jährlichen Generaldebatte oder anlässlich einer großen Konferenz, und einen profanen für das alltägliche multilaterale Geschäft der Delegierten in Gesprächen und Verhandlungen. Der Inhalt ist bei den Staatsreden selten von weiterer Bedeutung; sie sind festlich und epideiktisch, dienen also dem eigenen Lob und dem aller, die wie man selbst guten Willens sind. Geboten werden zu nichts verpflichtende Erklärungen, oft recht pathetische Beschwörungen, Appelle an alle und also an niemanden, vage generelle Absichtserklärungen, unverbindliche Bereitschaftsversicherungen und sehr gerne »Wir«=Weltgemeinschafts-Anrufungen; in vielen dieser Reden häufen sich Hochwertwörter und Edelfloskeln derart, dass sich die Assoziation sakraler Predigten aufdrängt. Die Bedeutung solcher Rituale der staatlichen wie persönlichen Selbstdarstellung und der feierlichen Beschwörung einer besseren gemeinsamen Zukunft ist unter den UN-Diplomaten wenig umstritten, die Ansprachen werden vielmehr professionell erlitten. Auch in der multilateralen Diplomatie wird konkret und ernstlich meist in kleineren Gruppen oder gar im Vier-Augen-Gespräch gearbeitet, doch werden in alltäglichen Arbeitssituationen vor Gremien der UNO ebenfalls offizielle Reden gehalten; zwar sind dabei kulturspezifische Eigenarten festzustellen, wie im Vergleich »westlicher«, besonders amerikanischer, und asiatischer Reden deutlich gemacht werden kann, aber die meisten Sprecher folgen bestimmten ungeschriebenen Regeln, von denen abzuweichen oder die gar zu verletzen meist selbst eine Botschaft bedeutet: ● ● Zu Beginn ist die direkte persönliche Anrede an den/ die sitzungsleitende/ n Vorsitzende/ n üblich, etwa in Form von Glückwünschen zu seiner/ ihrer Wahl, ● ● dann folgt gerne die Bekräftigung von Notwendigkeit und Bedeutung der wertvollen Arbeit der Vereinten Nationen, generell und vor allem in eben diesem Gremium, ● ● worauf das Einstreuen von Betrachtungen und Beobachtungen zu regionalen und globalen Fragen die Ausrichtung der eigenen Position andeuten kann, ● ● bevor man je nach Situation und Verhandlungslage möglicherweise zur Sache Stellung nimmt. In Gestik und Wortwahl muss das alles respektvoll und höflich vollzogen werden, schließlich spricht man letztlich zu souveränen Staaten. Warum dieser formelle Redestil in der Regel penibel gepflegt wird und warum dies so wichtig ist, wird einsichtig, wenn er einmal bei stürmischen Auseinandersetzungen z. B. auf einer »Klimakonferenz« weniger eingehalten wird oder dann weniger wichtige Staaten die Macht eines wichtigen auch im Umgangston erfahren dürfen. Dann misslingt das diplomatische Ritual, ein möglicher Konsens wird zur Fiktion und die Unfähigkeit, das Problem zu lösen, tritt zutage. <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 178 178 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Diese Situation erklärt auch viele der Eigenheiten der in der UNO üblichen Sprache bzw. des Sprechverhaltens: ● ● Die Diplomatie ist in der Formulierung geschmeidiger und im Ton verbindlicher als die vertrauteren nationalen Politikersprachen; ● ● zunächst ist im multilateralen Verkehr immer zu versuchen, eine gemeinsame Interessenlage und mögliche Übereinstimmungen auch sprachlich herauszuarbeiten; ● ● wozu die feine Kunst der Nuancierung ein angepasstes und fein abgestuftes Instrumentarium von Begriffen bietet, das es erlaubt, die eigenen Interessen und Ziele darzulegen, ohne zugleich Interessen und Zielen anderer zu widersprechen; ● ● wobei sowohl die Option verbaler Eskalation als auch die des diskreten Rückzugs offen bleiben sollten, ● ● was alles nach einer äußerst flexiblen Sprech- und Ausdrucksweise verlangt, die aber wahrscheinlich selten sehr präzise sein wird. Die Absicht beim Reden muss es sein, sich seinen Spielraum zu erhalten oder gar zu erweitern, sich also nicht vorzeitig festzulegen oder zu viele Angriffsflächen zu bieten, aber dabei vor allem anderen doch das Gespräch aufrechtzuerhalten. Natürlich finden sich auch in der multilateralen Sprache und vor allem in Texten immer wieder klassische Befunde der politischen Sprachkritik: Scham- und Verhüllungssprache, um mit Euphemismen Hässliches schön zu reden (»Frage des erzwungenen oder unfreiwilligen Verschwindens von Personen«); Übertreibungen, um Bedeutsamkeit und Wichtigkeit vorzutäuschen; Superlativismus, pleonastische Verstärkung oder Wiederholungen von Selbstverständlichem, um mit der so hervorgehobenen Dringlichkeit die eigentlich mangelnde Ernsthaftigkeit zu tarnen (»Umfassende Überprüfung« […] »unverzichtbarste Anliegen […] vorwärtsgerichteter Strategien […] in allen miteinander verbundenen Aspekten […] mit größter Dringlichkeit […] baldmöglichst«). Aber selbst solche rhetorische Elemente dienen dem Verhandlungserfolg. Verhandlungen jeder Art zu jeder Zeit zwischen Staaten bzw. Staatengruppen sind selbstverständlich das Arbeitsmedium in der Praxis multilateraler Diplomatie. Seit Thukydides’ »Melierdialog« sind Theorie und Praxis von internationalen Verhandlungen ein faszinierender und changierender Gegenstand für theoretische Überlegungen und empirische Forschung. Die Methoden gerade von »internationalen« Verhandlungen- - d. h. hier zwischen zumindest prinzipiell gleichgestellten Herrschenden-- werden seit der antiken Rhetoriklehre politisch diskutiert, wissenschaftlich analysiert und als Kunst gelehrt (s.- Kremenyuk 2002; Mautner- Markhof 1989; Pruitt 1981). »Verhandlungen bei den Vereinten Nationen sind selten geeignet für zart besaitete Naturen. Meist dauern die Prozesse lange, oft bis spät in die Nacht oder sogar in die Morgenstunden, und nicht selten kreist der Streit um wenig mehr als scheinbar belanglose Einzelformulierungen. Da können Unterhändler stundenlang darüber debattieren, ob etwas nicht gelingt, weil es den Einzelstaaten am entsprechenden ›Engagement‹ mangelt, oder ob nicht vielmehr der ›unzulängliche politische Wille‹ dafür verantwortlich ist. Für Außenstehende sind solche Haarspaltereien kaum noch zu verstehen; und wenn selbst Diplomaten im Eifer der Debatten den Überblick verlieren, bleibt doch eines sicher: Wie klein der Unterschied einzelner sprachlicher Wendungen auch immer scheinen mag, die Beteiligten erkennen den entscheidenden Unterschied darin.« Friederike Bauer (FAZ- Reportage vom 19.6.2000) Neben einer eher »harten« Auffassung von Verhandlungen, die nur klar bestimmte Interessen und Verhandlungsziele, Kalkül und Taktik, Techniken und Tricks ernst nimmt, wurde immer schon und zunehmend wieder in jüngerer Zeit in einer eher »weichen« Auffassung deren symbolische, rhetorische wie <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 179 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 179 kommunikative Dimension untersucht. Beide Perspektiven haben ihren spezifischen Sinn, jedoch greift für multilaterale Verhandlungssituationen und besonders im Falle der UNO ein einseitig »harter« Zugriff viel zu kurz, um die vielschichtigen Abläufe verstehen zu können. Rationalistische Analysen kalkulierender Entscheidungs- und Konsensfindung (»rational choice«) z. B. mit den beliebten spieltheoretischen Modellen (z. B. noch Young 1975) sind zwar hilfreiche logische Hilfsmittel, erfassen aber nur einen Ausschnitt des Verhandlungsgeschehens, insoweit dieses überhaupt ausreichend formal beschreibbar ist. Wenn solchen Analysemodelle dann noch von den Annahmen ausgehen, dass zwei in sich einheitliche »Seiten« (meist »A« und »B«) sich in einem Problem-»Feld« (also auf einer Ebene) einander gegenüber finden, um- - vielleicht gar noch zu einem klar abgrenzbaren Thema-- zu verhandeln, kann das der multi-komplexen Arbeitsweise multilateraler Diplomatie kaum gerecht werden. Sinnvoll sind dafür aber kognitive und interpretative Zugänge (z. B. Müller 1995; Young 1989, 1994a, 1999a; Ruggie 1992; Zangl/ Zürn 1996) sowie Ansätze, die sich auf verschiedene Ebenen und Phasen eines Verhandlungsgeschehens beziehen (z. B. Gehring 1995; Gehring/ Oberthür 1997; Hawden/ Kaufmann 1960; Putnam 1988; Zangl 2003; Zartman 1994, 2008). Denn es geht ja nicht um den effizienten Verkauf von Gebrauchtwagen, sondern immer auch darum, eine Situation zu sichern, in der Verhandlungen stets möglich bleiben, selbst wenn momentan und im Konkreten definitiv kein Fortschritt möglich ist und/ oder die Gegenseite ohnehin eigentlich unerträglich ist. Was oft übersehen wurde, von jedem Verhandlungspraktiker aber als Erstes beachtet wird, ist die schlichte, aber möglicherweise schon entscheidende Frage, wie diese Gegenseite oder politisch korrekter der »Verhandlungspartner« aufgestellt ist, was er weiß, was er kann, was er darf, wem gegenüber er sein Verhalten rechtfertigen und ein mögliches Ergebnis als akzeptabel vermitteln muss; die meisten internationalen Verhandlungen sind in mindestens zwei Richtungen zu führen, in die der anderen Seite aber-- oft nicht minder wichtig-- auch in die der eigenen (Regierung, Parlament, Öffentlichkeit). Man sollte nicht erwarten, dass eine Regierungsdelegation ernsthaft einer Position oder Maßnahme zustimmt, wenn deren Umsetzung ihr zuhause Probleme machen würde; demokratisch gewählte Regierungen sind naturgemäß besonders empfindlich bei unpopulären Vorhaben. Dies bedeutet oft ein echtes Dilemma, aber meist auch einen Schutz für Regierungen, weil sie sich auf der einen Ebene auf Zwänge auf der anderen berufen können. Auch mancher Theaterdonner auf der Bühne UNO war nur an ein heimisches Publikum gerichtet. Eine Regierung kann mit den »balances of power« auch taktische Manöver fahren-- z. B. als US-Regierung dem Kyoto-Protokoll zustimmen, wohl wissend, dass es nicht durch den Kongress kommen wird. Eine globalisierte Zivilgesellschaft hätte eine entscheidende Funktion, indem sie solche doppelte Spiele unterliefe. Eine verwandte, aber ganz andere Frage ist, inwieweit internationale Verhandlungen zugleich Lernprozesse sind, ob also im Verlauf von gelingenden Verhandlungen und durch die dabei zu machenden Erfahrungen die Ausgangspositionen differenzierter und rationaler, das Verständnis der Situation flexibler und konstruktiver werden kann. Eine Konzeption, nach der es um Verteilungskämpfe in Nullsummenspielen geht (s.-Kap. 3.1.6.) wird nur die Möglichkeit des distributiven Verhandelns sehen, als dessen Ergebnis der eine hat, was der andere nicht hat. Die den meisten multilateralen Interessenlagen und ihren Zwängen und Verfahrensweisen angemessenere kommunikativ und auch normativ belehrte Konzeption wird die Chancen der Formen integrativen Verhandelns herausarbeiten, in Nullsummenspielen gefrorene Situationen aufzulösen und Lösungsmöglichkeiten zu erweitern (»den Kuchen größer machen«)-- und damit nicht nur zu einem besseren Ergebnis für alle zu kommen, sondern vor allem den Verhandelnden eine befriedigende und weiter motivierende Erfahrung zu bieten. Dahingestellt, inwieweit Staaten und ihre Delegierten nach dem Modell lernfähiger Organismen zu verstehen sind, lässt sich an konkreten Verhandlungsprozessen zeigen, dass die zweite Konzeption schlicht realistischer ist (vgl. Spector/ Sjöstedt/ Zartman 1994; Spector/ Zartman 2003; Watkins/ Rosegrant 2001). <?page no="180"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 180 180 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen US-Diplomaten könnten sich wegen der immer noch vormächtigen Bedeutung ihres Landes durchaus ruppiger benehmen und tun das auch gelegentlich, meist aber nicht zum Vorteil ihrer Position; die Vertreter der VR China scheinen ihnen darin nachzueifern. Gerade der Vertreter einer dominanten oder gar hegemonialen Regierung sollte den anderen und zumal denen von wesentlich kleineren und unwichtigeren Ländern signalisieren, dass sie respektiert und ihre Positionen ernst genommen werden. Denn erstens gibt es immer wieder Situationen, wo der Abstimmungsmodus »ein Land =-eine Stimme« politisch entscheidend wird und folglich jede einzelne Stimme zählt; zweitens will oft auch die Regierung eines dominanten Staates in der »Puzzle«-Welt möglichst viel Zustimmung für die eigene Linie mobilisieren. 4.4.3 Berichte, Kommissionen und Konferenzen Argumente in Gesprächen und Reden sind die klassischen Arbeitsmittel der mulilateralen Diplomatie; das fundamental-ultimative Arbeitsmittel internationaler Organisation ist der Bericht-- in Form, Entstehung und Verbreitung meist rituell wohlgeregelt; das multilaterale Berichtswesen ist sehr lebendig, neigt aber stark zu Übergewicht. Fast alle Haupt- und Nebenorgane und alle Sonderorganisationen der UNO legen jährlich einen Bericht über ihre Arbeit und die Entwicklungen in ihrem Arbeitsfeld vor- - eine kaum vorstellbare Menge Text. Einige dieser Berichte finden wegen ihrer politischen und fachlichen Bedeutung über den multilateralen Betrieb, interessierte Experten und NGOs hinaus große Beachtung, vor allem der »Weltentwicklungsbericht« (World Development Report der Weltbank/ IBRD seit 1978) und der »Bericht über die menschliche Entwicklung« (Human Development Report des Entwicklungsprogramms/ UNDP seit 1990), aber auch der »Weltbevölkerungsbericht« (State of the World Population der UNFPA seit 1969), der »Welternährungsbericht« (World Food Report der FAO seit 1969) oder die periodischen Berichte von GATT/ WTO und IMF über Welthandel und Weltwirtschaft. Eine komplementäre und politisch oft noch bedeutendere Art von Berichtswesen in der UNO sind die Staaten-Berichte in kaum erfassbarer Vielzahl und verschiedensten Variationen, die an diverse UN- Gremien zu liefern die Mitgliedsregierungen sich-- prinzipiell durch die Charta, konkretisiert in einzelnen Abkommen-- verbindlich verpflichtet haben. Diese Berichtspflicht beschäftigt nicht nur unzählige Mitarbeiter in nationalen Ministerien und Behörden, sondern kann in bestimmten sensiblen Bereichen politisch hochbrisant sein; für den internationalen Menschenrechtsschutz z. B. ist sie oft das einzige und manchmal überraschend wirksame Instrument zur Beeinflussung des Verhaltens von Regierungen. Die dritte und politisch oft eine Ära zumindest rhetorisch prägende Art von Berichten sind thematisch auf ein bestimmtes Problem und/ oder konkreten Handlungs- oder Reform-Bedarf gerichtete große Sonderberichte, die die Situation analytisch klären und zugleich programmatische Konsequenzen zeigen sollen-- damit zwangsläufig häufig normativ Ziele und Standards vorgeben. Verfasser solcher Berichte kann sein der Generalsekretär der Vereinten Nationen selbst, wenn er wenigstens hinsichtlich der zu behandelnden Frage persönlich wie politisch in einer starken Position ist; wirkungsvoller ist es aber, wenn eine Kommission aus hochrangigen/ hochangesehenen Staatsmänner/ -frauen oder auch ein Expertengremium unter Federführung eines/ einer oder zweier solcher Staatsmänner/ -frauen oder eines/ einer international renommierten Experten/ in den Bericht vorlegt. Oft haben solche Berichte internationale Konferenzen zu ihrem Thema angeregt oder dienten explizit zur Vorbereitung der Teilnehmer solcher Konferenzen; so war der Brundtland-Bericht von 1987 zur Umweltgefährdung die Grundlage für die berühmte »Rio«-Konferenz von 1992. Internationale Konferenzen aller Art sind das klassische Arbeitsmittel international-multilateraler Diplomatie; es gibt sie in vielfältigen Arten und Formen mit unterschiedlichsten Aufgaben und Kompewww.claudia-wild.de: <?page no="181"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 181 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 181 Tab. 28: Bedeutende Berichte/ Reports der bzw. für die UNO Jahr Bericht, Kommission (Vorsitz) bzw. UN-Organ Themen 1969 Pearson-Bericht: »Partners in Development«, Commission on International Development (Lester B. Pearson) Entwicklungspolitik 1980 Brandt-Bericht: »North-- South: A Programme for Survival«, Report of the Independent Commission on International Development Issues [»North-South Commission«] (Willy Brandt) Nord-Süd-Gegensatz, Entwicklungspolitik 1982 Palme-Bericht: »Common Security: A Blueprint for Survival«, Report of the Independent Commission on Disarmament and Security Issues (Olof Palme) Abrüstung und Sicherheitspolitik 1987 Brundtland-Bericht: »Our Common Future«, Report of the World Commission on Environment and Development (Gro Harlem Brundtland) Umweltgefährdung und-Umweltschutz 1992 Agenda für den Frieden: »An Agenda for Peace-- Preventive diplomacy, peacemaking and peace-keeping«, Report des Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali Friedens-Erhaltung/ Missionen 1994 Agenda für Entwicklung: »An Agenda for Development«, Report des Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali Entwicklungspolitik 1995 »Our Global Neighborhood: The Report of the Commission on Global Governance«, Report of the CGG (Ingvar Carlsson/ Shridath Ramphal) »Global Governance« 1995 »The United Nations in its Second Half-Century: A Report of the Independent Working Group on the Future of the United Nations« (Moeen Qureshi/ Richard von Weizäcker) Reformen der/ in der UNO 1997 UN-Reform: »Renewing the United Nations: A Programme for Reform«, Report des Generalsekretärs Kofi Annan Reformen der/ in der UNO 2000 Brahimi-Bericht: »Report of the Panel on United Nations Peace Operations. A-far-reaching report by an independent panel«, Panel on United Nations Peace Operations (Lakhdar Brahimi) Reformen der Friedensmissionen 2001 »Report of the High Panel on Financing for Development«, High Level Panel on Financing for Development (Ernesto Zedillo) Entwicklungsfinanzierung 2001 »Responsibility to Protect«: Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty (Gareth Evans/ Mohamed Sahnoun) Intervention vs. Souveränität 2002 »Strengthening of the United Nations: An agenda for Further Change«, Report des Generalsekretärs Kofi Annan Reformen der/ in der UNO 2004 Cardoso-Bericht: »We the peoples: civil society, the United Nations and Global Governance«, Report of the Panel of Eminent Persons on United Nations-Civil Society Relations (»Hochrangige Gruppe«) (Fernando Henrique Cardoso) Civil Society/ INGOs in der UNO 2004 »A more secure world. Our shared Responsibility«, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change (Anand Panyarachun) Gefahren und Krisen 2005 Sachs-Bericht: »Investing in Development. A practical Plan to achieve the Millennium Development Goals« (Jeffrey Sachs) Entwicklungspolitik/ MDGs 2005 »In larger Freedom. Towards Development, Security and Human Rights for all«, Report des Generalsekretärs Kofi Annan Menschliche Entwicklung <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 182 182 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen tenzen, manche haben hohe politische Bedeutung, die meisten sind Arbeitskonferenzen mit eher fachlichem und/ oder technischem Charakter, manche gelten in der Medienöffentlichkeit als sehr wichtig, manche sind es; der Status einer Konferenz ist also nicht unbedingt an der Wichtigkeit seiner Teilnehmer zu erkennen: Auch hochgejubelte »Welt-Gipfel« mit Teilnahme von Staats- und Regierungschefs wurden zu Recht schnell vergessen. Wenigstens grob sind zu unterscheiden: ● ● Die plan- und regelmäßigen Arbeitskonferenzen der Gremien der UNO, vom Hauptorgan bis zum spezialisierten Ausschuss; sie können aufgewertet werden, indem man ein Segment von ihnen zum Gipfel-Treffen erklärt, wie z. B. den »Millennium-Gipfel« im Jahr 2000, der eigentlich ein Teil der normalen Sitzung der Generalversammlung war. ● ● Thematische Konferenzen zu allen denkbaren Fragen, die im UN-System bearbeitet werden, finden jedes Jahr zu Hunderten statt, die großen gerne als »Weltkonferenzen«; teilweise sind auch sie formal nur die turnusgemäßen Vollversammlungen eines UN-Organs oder einer Sonderorganisation, die aus gegebenem Anlass zu einer »Weltkonferenz« aufgewertet werden, z. B. eine Jahrkonferenz der FAO als »Welternährungskonferenz«. ● ● Regelmäßig abgehaltene thematische Konferenzen können sich als eine feste Institution erweisen; die Konferenzserie zu Handel und Entwicklung (UNCTAD) mit zwölf Konferenzen von 1964 (Genf/ Schweiz) bis 2008 (Accra/ Ghana) ist ein Nebenorgan der Generalversammlung mit eigenen Organisationsstrukturen. ● ● Schließlich gibt es noch Konferenzserien, die unmittelbar aufgrund internationaler Verträge zu politikfeldspezifischen Abkommen abgehalten werden als regelmäßig vorgesehene Konferenzen der Staaten, die diese Verträge unterzeichnet haben; die sog. Weltklima-Konferenzen oder »Klimagipfel«, die Medien und Öffentlichkeit aus gutem Grund so bewegen, sind nichts anderes als solche »Vertragstaatenkonferenzen« der auf dem »Rio«-Umwelt-»Gipfel« (1992) zustande gekommenen Klimaschutz- Konvention (United Nations Framework Convention on Climate Change/ UNFCCC)- - und das »Kyoto-Protokoll« ist das Ergebnis einer dieser Konferenzen (1997 eben in Kyoto/ Japan). Zumal thematische Konferenzen können die multilaterale Bearbeitung eines Problems ernsthaft voranbringen, indem sie es ermöglichen, ● ● sowohl Informationen und Expertise als auch Sichtweisen und Meinungen auszutauschen und zu vermitteln, ● ● internationalen Handlungsbedarf gemeinsam festzustellen sowie allgemeinen Konsens über gemeinsame Werte und Normen für Lösungsstrategien herzustellen, ● ● Lösungsstrategien und entsprechende Handlungsempfehlungen zu formulieren oder gar verbindliche Entscheidungen voranzubringen, ● ● ein völkerrechtliches Vertragswerk zu verhandeln und auszuarbeiten und damit womöglich ein Internationales Regime zu etablieren, ● ● finanzielle und andere Mittel zu mobilisieren, ● ● für die behandelte Thematik Öffentlichkeit und Problembewusstsein in den Gesellschaften der Teilnehmerstaaten zu schaffen. Jedoch sind »Weltkonferenzen« und »Weltgipfel« ungeachtet ihres tatsächlichen Ertrags auch als politisch wirksame Inszenierungen zu verstehen, die in der Sache durchaus schädlich wirken können: Allein durch den ordentlichen Vollzug von politischen Ritualen und der damit dargebotenen medial vermittelten Show kann der Ernst der Lage beschönigt, vom konfliktträchtigen Kern des Problems abgelenkt oder durch den Nachweis, es werde ja hier und jetzt etwas getan, schlechtes Gewissen beruhigt werden. <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 183 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 183 Thematische Konferenzen/ »Gipfel« der UNO/ im UN-System (Beispiele) 1972 Stockholm Erste Umwelt-Konferenz UN Conference on the Human Environment Umweltgefährdung und Umweltschutz 1974 Rom Welternährungskonferenz World Food Conference Hunger und Welternährung 1979 Rom World Conference on Agrarian Reform and Rural Development Agrarreform und ländliche Entwicklung 1990 UNO New York Kinder-Gipfel World Summit for Children Erziehung, Gesundheit, Ernährung 1992 Rio de Janeiro »Erdgipfel«/ »Rio«-Umweltkonferenz UN Conference on Environment and-Development (UNCED) Umwelt und nachhaltige Entwicklung 1993 UNO Wien Menschenrechtskonferenz World Conference on Human Rights Menschenrechtsschutz 1994 Kairo Weltbevölkerungskonferenz International Conference on Population and Development Bevölkerungswachstum und--planung 1995 Kopenhagen Weltsozialgipfel World Summit for Social Development soziale Entwicklung, Armut/ Arbeitslosigkeit/ soziale Integration 1995 Peking Weltfrauenkonferenz Fourth World Conference on Women Frauenrechte und -partizipation, Gewalt gegen Frauen 2000 UNO New York »Millennium-Gipfel« Millennium Assembly [Teil der 55. Generalversammlung] Rolle und Aufgaben der UNO im-21. Jahrhundert 2001 Durban Rassismus-Konferenz World Conference against Racism-… Rassismus/ Fremdenfeindlichkeit/ Intoleranz 2002 Johannesburg World Summit on Sustainable Development nachhaltige Entwicklung 2002 Monterrey International Conference on Financing for Development Entwicklungsfinanzierung 2005 Kobe World Conference on Disaster Reduction Risikoreduzierung und Katastrophenschutz 2006 Rom World Congress on Communication for-Development Kommunikation im Entwicklungsprozess <?page no="184"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 184 184 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen 4.4.4 Zivilgesellschaft Viele Beobachter neigen zu der Ansicht, die teilweise sehr medienwirksam vollzogene »Einbeziehung der Zivilgesellschaft« (Volger 2003, S. 751) in das multilaterale Konferenzwesen, namentlich der großen Weltkonferenzen und Gipfel, habe etwas vom Charakter der Verabreichung von Placebos an unruhige Patienten. Vor den übertriebenen Hoffnungen, die transnationale Zivilgesellschaft vertreten durch »NGOs« würde demnächst qua »global governance« die Weltprobleme regeln, wurde schon (s.-Kap. 2.1) gewarnt, zugleich aber die Bedeutung betont, die neuere Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Instanzen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die Bedürfnisse, Interessen und normative Maßstäbe artikulieren und ihr spezifisches Wissen einbringen, gerade auch auf der international-multilateralen Politikebene haben. Der Wert des zivilgesellschaftlichen Engagements wird auf den Arbeitsfeldern verschiedener Regime zu zeigen sein, besonders z. B. beim Menschenrechtsschutz (s.-Kap. 5.3). Vertreter der Zivilgesellschaft konnten immer schon an Sitzungen und Konferenzen der UNO teilnehmen, wenn eine nationale Delegation sie als offizielle Regierungsdelegierte aufgenommen hatte; dieses Huckepackverfahren erlaubte natürlich keine unabhängige Vertretung der Zivilgesellschaft. Grundsätzlich haben inter- oder transnational operierende NGOs nicht die Stellung in internationalen Organisationen wie sie Vertreter einer aktiven Zivilgesellschaft in nationalen Kontexten haben können: In den entscheidenden Phasen von Gremiensitzungen und Konferenzen, bei den eigentlichen Verhandlungen zu Konsensfindung und Textformulierung sowie bei Abstimmungen sind sie ausgeschlossen. Immerhin hat die UNO, wiewohl strikt eine zwischenstaatliche Organisation, eine bis in ihre Gründungsphase zurückreichende Tradition des Umgangs mit nichtstaatlichen Organisationen; seit den 1990er Jahren wurden ihnen im Rahmen der durch die Charta gesetzten Grenzen größere Beteiligungsmöglichkeiten und -rechte eingeräumt, allerdings nur für Einzelfälle wie Konferenzen oder in spezifischen Arbeitszusammenhängen. 1996 wurde ihr Status in der UNO generell und formell neu geregelt: NGOs können einen erweiterten Konsultativstatus erhalten, haben aber weiterhin kein formelles Rederecht, dürfen keine Textentwürfe als offizielle Dokumente im Arbeitsprozess präsentieren und keine offizielle Rolle im Verhandlungsprozess spielen sowie selbstverständlich auch nicht mit abstimmen. Jenseits dessen sind besonders unter Generalsekretär Kofi Annan Formen und Ausmaß der Zusammenarbeit ausgeweitet worden. ● ● Für den Arbeitsbereich des ECOSOC, also für entwicklungs-, gesundheits-, sozialpolitische und humanitäre Programme und Fonds dienten nichtstaatliche Organisationen von Beginn an als konkrete Träger der Durchführung vor Ort; ohne ihre Kapazitäten und Erfahrungen wäre konkrete Projektarbeit gar nicht möglich, weswegen viele von ihnen auch offiziell als Vertreter gesellschaftlicher Interessen mit Konsultativ-Status und begrenzten Partizipationsmöglichkeiten anerkannt sind. ● ● Zivilgesellschaftliche Akteure-- Verbände Organisationen, Gruppen und auch Einzelpersonen-- wurden darüber hinaus immer stärker für Informationsgewinnung, in konzeptionelle Überlegungen und auch einzelne konkrete Verhandlungen einbezogen, besonders im Menschenrechtsschutz und zu Umweltfragen. ● ● Nichtstaatliche Organisationen erhielten auf einigen jener spektakulären globalen Konferenzen eigene »NGO«-Foren, was allerdings den entscheidenden Unterschied zwischen den stimmberechtigten Staaten-Delegierten und freischwebenden Aktivisten erst recht deutlich machte. ● ● Wirtschaftsunternehmen wurden eingebunden mit innovativen Instrumenten wie dem »Global Compact« (zur kontrollierten Selbstverpflichtung auf menschenrechtliche, soziale und ökologische Standards) und »private public partnerships« (PPPs), die konkrete Projekte durch unkonventionelle Zusammenarbeit privater Wirtschaftssubjekte und (zwischen-)staatlicher Stellen ermöglichen. <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 185 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 185 Kooperation zwischen dem UN-System und der »Zivilgesellschaft« bietet neben den etablierten Arbeitsfeldern zusätzliche Experimentierfelder, auf denen ● ● Regierungen und UN-Stellen auch ohne substantielle Zugeständnisse ausprobieren können, in welchen Formen, in welchem Ausmaß und mit welchen Problemen es sich mit nichtstaatlichen Akteuren arbeiten lässt; ● ● diese testen können, inwieweit bzw. mit welchen Mitteln sie mit ihren Themen bei den Staaten und der Weltöffentlichkeit ankommen, um unverzichtbar und damit auch substantiell einbezogen zu werden, ● ● die diese Öffentlichkeit bedienenden Medien neue Formen der Wahrnehmung und Vermittlung entwickeln können, die wiederum den Anliegen von NGOs wie von UNO-Mitarbeitern nützen können. Der letzte Aspekt darf nicht unterschätzt werden: Der wichtigste Vorteil der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft für eine internationale Organisation kann darin liegen, dass die knappe Ressource »politischer Wille« bei den Regierungen mobilisiert wird. Darin ist auch das Interesse von Mitarbeitern des Sekretariats, die Beteiligung der Zivilgesellschaft in der für sie strukturell unwirtlichen UNO zu verbessern, begründet. Die Staaten bzw. ihre Regierungen dagegen kooperieren meist nur so weit, wie es unbedingt sein muss; sie nehmen gerne und teilweise sehr intensiv nichtstaatliche Expertise auf und schätzen mobilisierende Unterstützung, versuchen aber ansonsten die NGOs möglichst draußen zu halten. 4.4.5 Konsens und Ritualität »Das Ergebnis der UN-Klimakonferenz in Cancún zeigt, dass das Konsensprinzip der UNO kaum für eine Neugestaltung der weltweiten Klimapolitik geeignet ist. Konkrete Beschlüsse waren in Cancún wie erwartet rar.« Die Presse, Wien (12.12.2010) Nicht tatsächliche Übereinstimmung der Absichten oder gar widerspruchsfreie Abstimmung des Handelns sind das erste Ziel der multilateralen Diplomatie, sondern Konsens über Formulierungen. Vielleicht ist ein Konsens nicht immer das oberste und wichtigste Ziel jeder verhandelnden Delegation, aber er ist das, was immer als Mindesterfolg erreicht werden muss, es sei denn man wolle »scheitern«. Das mag zynisch klingen, ist aber durchaus sinnvoll: Wenn bis zu fast 200 Delegationen aus Ländern, die in Kultur und Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft, politischem System und außenpolitischer Interessenlage unterschiedlich strukturiert und orientiert sind, zusammenarbeiten müssen, sind Ergebnisse fast nur in kleinen Schritten durch komplexe Kompromisse zu erreichen, mit denen möglichst alle sich einverstanden erklären können. Ergebnisse, die formal gelten, weil sie als Beschlüsse durch Mehrheitsentscheidungen nach Kampfabstimmungen nach streitiger Debatte zustande kommen, sind politisch meist völlig wertlos bzw. folgenlos, eben weil keine weltstaatliche Instanz jenseits der Souveränität der Staaten ihre Umsetzung auslösen, erzwingen, überwachen könnte. Und auch wenn es keine konkreten Konsequenzen hätte, lassen sich die Regierungen souveräner Staaten auf Dauer ungern überstimmen. Damit Regierungen bereit sind, wenigstens ein wenig ihrer heiligen Souveränität an überstaatliche Instanzen oder globale Regelungsregime abzugeben, müssen sie dem jeweiligen Vorhaben zumindest einmal prinzipiell und möglichst dann rituell noch öfter zugestimmt haben. Wenn dann ein von der Zivilgesellschaft, anderen Regierungen, auch internationalen Organisationen usf. ausgeübter normativpolitischer Druck ausreichend stark und lange anhält, kann auch eine anfangs widerwillig gegebene Zustimmung oder nur vorgetäuschte Unterstützung eine gewisse Eigendynamik auslösen. Aus einem nur »symbolisch«-rhetorischen Konsens kann tatsächliche entsprechende Aktivität erwachsen- - muss aber nicht. <?page no="186"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 186 186 4 Multilateralität in Internationalen Organisationen Die Alternative, die umständlichen, mühseligen und so selten rasch zu befriedigenden Ergebnissen führenden multilateralen Spielregeln und den Zwang zum Konsens gemäß dem kleinsten gemeinsamen Nenner nicht zu beachten, also als einzelner Staat oder als Gruppe (»coalition of the willing«) voranzugehen und so eventuell andere zum Nachziehen zu zwingen, kann in bestimmten Lagen und für besondere Probleme erfolgreich sein, aber nur, ● ● wenn das zumindest hinsichtlich des anstehenden Problems wichtige und mächtige Staaten tun, und ● ● wenn dies nicht ein wirklich globales (wie Klimawandel oder Atomwaffen), sondern ein räumlich und zeitlich unterschiedlich behandelbares Problem (wie Standards für Kinderarbeit) ist. Wenn es nicht ausreicht, nur die mächtigen Regierungen einzubinden, sondern wenn bei Problemen wie der Durchsetzung der Menschenrechte oder dem Umweltschutz auch möglichst viele schwächere Staaten mitmachen sollen, hat das seinen Preis. Das Ringen um Konsens oder wenigstens widerwillige Zustimmung kann gerade dann ausschlaggebend sein-- und das ist nicht zynisch gemeint-- wenn es wie bei der Bestandsaufnahme von Menschenrechtsverletzungen darauf ankommt, dass auch die Vertreter der Regierungen, in deren Verantwortungsbereich diese geschehen, das Ergebnis absegnen können. Der immanente Zwang zum Konsens lässt die multilaterale Arbeit häufig unsinnig erscheinen-- macht sie aber auch erst möglich. Denn oft stellt sich nur die Alternative: lautstark scheitern oder leise weitermachen. Im Gegensatz zu innerstaatlichen politischen Prozessen der Meinungsbildung und Willensbildung zur Entscheidungsfindung ist in der international-multilateralen Politik die Meinungsbildung das wichtigere Moment: Wenn ein innenpolitischer Gegner seine Haltung partout nicht aufgeben will, gibt es immer noch die Hoffnung, dass er- - möglicherweise eben deswegen- - abgelöst oder abgewählt wird und man ihn ersetzen kann; aber Staaten und Gesellschaften dauern gewöhnlich länger als Parteien und Regierungen. Der Zwang und Drang zum Konsens erfordert seinerseits eine Reihe von rituellen Handlungen, durch die Konsens hergestellt, bestätigt und fortwirkend gesichert werden kann-- auch und gerade dann, wenn »in der Sache« eine Einigung nicht möglich ist (vgl. Wesel 2004): ● ● In der Generalversammlung gilt bei formellen Abstimmungen, dass ein knappe Mehrheit politisch wertlos ist, und auch ein große Mehrheit muss nicht überzeugend sein, wenn nennenswerte Gegenstimmen abgegeben werden; daher entwickelte sich die Tendenz, Abstimmungen möglichst zu vermeiden und Beschlüsse per Akklamation anzunehmen, auch wenn Gegenstimmen zu erwarten wären-- womit keine Regierung um des lieben Friedens willen zustimmen muss, ihre Ablehnung aber nicht so auffällt: Diese paradoxe Konsens-Pflege ist nötig, damit der Arbeitsprozess vorankommen oder zumindest weitergehen kann. ● ● Der Konsenszwang fördert auch die außerhalb internationaler Organisationen verbreitete, in der UNO aber schon erratisch genutzte Methode der Problemverschiebung durch Auslagerung in neu zu gründende Institutionen- - sei es nur eine Kommission oder ein kleiner Fachausschuss, sei es eine ganze Sonderorganisation; das neue Instrument hat sich dann um den störenden Ärger zu kümmern oder ihn wenigstens dauerhaft zwischenzulagern. ● ● Denselben Dienst kann spektakulärer auch eine schöne »Weltkonferenz« oder ein auffälliger »Gipfel« mit internationalem Spitzenpersonal leisten: Wenn wir in der Problemlösung oder auch schon in der Definition des Problems nicht so recht weiterkommen, zeigen wir wenigstens: Wir tun was. Derartige politische Rituale vermeiden chancenlose Anstrengungen in unproduktivem Streit und bieten oft einen Ausweg aus blockierten Situationen, wenn in der Sache sich nichts bewegen lässt. Ob dies in der Folge ● ● sich als sinnvoll erweisen wird, weil es so möglich ist, eine Situation offen zu halten, bis sich neue Möglichkeiten entwickeln können, oder ob solche rituellen Heilungsversuche <?page no="187"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 187 4.4 Charakteristische Arbeitweisen und Methoden 187 ● ● ein Problem nur verschleiern, eine echte Lösung behindern und uns allenfalls ablenken und unterhalten, bis es zu ohnehin zu spät ist, kann nur im konkreten Fall beurteilt werden. […] »der für eine Untersuchung der Vereinten Nationen notwendige Zynismus muss an einigen Stellen der Reverenz an eine Institution weichen, die ein Gebet der Menschheit an sich selbst und um Schutz vor sich selbst darstellt. Dieses Gebet ist oft ein absurdes und sogar unehrenhaftes Schauspiel: der Zuschauer muss sich vor Augen halten, dass hinter all dem Unsinn die Dimension des Sakralen bestehen bleibt. Wie die Liturgie nach den Worten Guardinis ist auch das UN-Schauspiel ›zwecklos, aber doch sinnvoll‹.« [Dieser Sinn entsteht im Ritual. Die Zufriedenheit, die durch die Phrasen der UN-Rhetorik hervorgerufen werden könne, entspricht] »tatsächlich der Zufriedenheit von Gläubigen im Gebet: das Empfinden einer gemeinsamen Sehnsucht, der Appell an eine höhere Gewalt, symbolisiert in diesem Fall durch den Sicherheitsrat und die Vollversammlung. Damit verbindet sich das Versprechen, sich immer wieder zum gemeinsamen Glaubenszeremoniell zu versammeln, ferner das Gefühl, das Befürchtete könne abgewendet werden und das erhoffte Ziel durch die feierliche und gemeinsame Wahl passender Worte erreicht werden. Dieses Gebet konzentriert sich immer dann auf die Vereinten Nationen-- wie auf eine heilige Stätte--, wenn […] wieder einmal die Geißel des Krieges droht. Erst das Gebet macht das Drama sakral.« Conor Cruise O’Brien (1971, S. 11 und 18-f; Hervorhebungen R. W.) »It is basically a spiritual-political institution in the line of descent from the ancient shrine at Delphi and the medieval papacy. As with those institutions, the powerful have recourse to the UN in times of crisis […]« Conor Cruise O’Brien (1993) Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 4.4 Berridge/ Jennings 1985; Bosco 2009; Boyd 1967; Brühl/ Debiel/ Hamm/ Hummel/ Martens 2001; Brunnengräber/ Klein/ Walk 2005; Clark/ Friedman/ Hochstetler 1999; Claude 1956/ 1971; Daase 2009; Fomerand 1999; Freuding 2005; Gareis/ Varwick 2006; Hawden/ Kaufmann 1960; Anheier/ Toepler 2010; Kaufmann 1980, 1988; Kremenyuk 2002; Mautner-Markhof 1989; Messner/ Nuscheler 1996; Müller 1995; O’Brien 1971; Prantl 2006; Pruitt 1981; Putnam 1988; Schechter 2001; Schorlemer 2005; Smith 2006; Spector/ Sjöstedt/ Zartman 1994; Spector/ Zartman 2003; Tietje 2005; Touval/ Zartman 2010; Watkins/ Rosegrant 2001; Weiss 1986; Wesel 2004; Winkelmann 2005; Zangl/ Zürn 1996; Zartman 1994, 2008 <?page no="188"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 188 <?page no="189"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 189 189 5 Internationale Regime Unter einem »Internationalen Regime« wird meist ein thematisch umfassendes und global wirksames Regelungssystem verstanden, wie das angebliche »Klimaregime« oder das Regime des Atomwaffensperrvertrags. Praktisch gibt es jedoch eher selten klar geschnittene und in sich geschlossene Regime, die Mehrzahl der Regime ist thematisch spezialisiert und/ oder regional begrenzt wie das klassische Rheinregime-- oder aber ausgefranst: Wie in Kap. 3.5 ausgeführt, sind konkrete Regime oft Teil eines größeren und/ oder komplexeren Zusammenhangs von internationalen Regelungssystemen, z. B. das Artenschutzabkommen im Rahmen der Bemühungen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Andererseits können durch öffentlich-politischen Druck zivilgesellschaftlicher Kampagnen und/ oder die Dynamik der öffentlich-medialen Wahrnehmung einzelne Teilregime oder Regime-Aspekte eine besondere oder gar ausnehmende Bedeutung erhalten, z. B. im Artenschutzregime das »whaling«: Bilder vom Kampf zwischen Schiffen von Walfängern und von Wal-Schützern bringen mehr Aufmerksamkeit als die Informationen über die Arbeit des Zolls an Flughäfen zur Kontrolle der Einfuhr von geschützten Tierarten. Ein Regime oder ein Regimezusammenhang kann also in verschiedenen politischen Bezugssystemen unterschiedliche Bedeutung haben; man kann sogar spekulieren, ob Regime wenigstens zeitweise besondere Funktionen erfüllen, die nicht unmittelbar der Regelung und Umsetzung praktischer Maßnahmen dienen, sondern rhetorische oder symbolpolitische Wirkungen erreichen-- und damit auch sehr wichtig sein können. Es wäre daher nicht sinnvoll, zu versuchen, alle möglichen Regime aufzulisten, zu klassifizieren und für sich zu beschreiben, zumal dafür keine brauchbare Typologie von Internationalen Regimen genutzt werden kann, wiewohl bestimmte Muster erkennbar sind (s.- Kap. 3.4.5 und 3.5). Besser dient dem informativen Überblick und dem politischen Verständnis also eine an den Feldern der sachlichen Probleme und des entsprechenden globalen Handlungsbedarfes orientierte Darstellung der klassischen Arbeitsbereiche internationaler Regime einschließlich der sie stützenden Strukturen internationaler Organisationen: ● ● Frieden/ Sicherheit/ Abrüstung (peace and security), ● ● Menschenrechtsschutz (human rights), ● ● Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen (world economy), ● ● Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development), ● ● Umwelt-/ Klimaschutz (environment) und ● ● speziellere thematische Bereiche wie Gesundheitsschutz/ Seuchenabwehr, Not- und Katastrophenhilfe, Sport oder Internet, ● ● die Arbeit in diesen Feldern stützende und steuernde »Regime-Regimes« wie die Weiterentwicklung des Völkerrechts (international law), die Ausarbeitung globaler Bewertungs- und Verhaltensstandards oder Regelungen zur Schaffung und Reform von internationalen Regimen und Organisationen. Jede Zuordnung von Regime-Aktivitäten zu den einzelnen Bereichen verlangt aufgrund von Überschneidungen und Widersprüchen sachlich fragwürdige Entscheidungen, z. B.: ● ● Gehören die nicht nur sozioökonomisch zu fassenden Fragen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zum großen Bereich Wirtschaftspolitik oder kann »Entwicklung« wegen ihrer reichhaltigen nichtwirtschaftlichen Aspekte als eigenständiger Arbeitsbereich konzipiert werden? ● ● Gibt es wirklich schon ein »Weltwährungsregime« oder gar ein »Weltfinanzregime«, gestützt auf internationale Organisation wie IMF und Weltbank-- oder ist lediglich eine erhöhte internationale Kommunikation und Aktivität in einer Krise zu beobachten? Oder ist damit schon ein neuer Kompetenzbereich gemeint, den die informell-exklusiven Staaten-Clubs G7/ 8 bzw. G20 (s.- Kap. 4.4.1) inzwischen beanspruchen? <?page no="190"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 190 190 5 Internationale Regime ● ● Gehört der Klimawandel (climate change) natürlicherweise zum Arbeitsbereich Umweltschutz? Der Regime-Komplex zum Klimaschutz hat eine recht eigenständige politische Dynamik, die oft wenig mit anderen Umweltregimen zu tun zu haben scheint, doch die meisten Umweltprobleme wie Artenschutz oder auch Boden-Erosion/ -Degration und die entsprechenden Regime hängen direkt mit dem Klimawandel zusammen. ● ● Begründet der Vertrag von 1998 über den Internationalen Strafgerichtshof in Rom ein internationales Strafrechtsregime (International Criminal Law Regime), was die einzelnen fallbezogenen Tribunale noch nicht leisten konnten? ● ● Wozu gehört Bevölkerungspolitik, die das Wachstum der Weltbevölkerung kontrollieren oder mindern soll: zu den wichtigsten Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, zum Gesundheitsschutz, insofern Verhütung medizinische Aspekte hat- - oder gar zur Friedenssicherung, weil die »Bevölkerungsbombe« tickt? Nicht die sachliche, sondern die politische Zuordnung wird fraglich, wenn ein bei seiner Gründung als rein technisches Service- und Überwachungsinstrument gedachtes Regime zu einem Momentum von höchster sicherheitspolitischer Bedeutung wird-- so dem von der IAEA umzusetzenden Regime für die technische Sicherheit der Kernenergie widerfahren (Irak 2002, weiterhin Iran und Nordkorea). Oft ist auf den ersten Blick schwer zu unterscheiden, ob von einem konkret greifbaren und tatsächlich funktionierenden Regime die Rede ist oder eher von einem als regimebedürftig erkannten Problembereich, in dem zwar einzelne internationale Kooperationen oder auch nur Konsultationen beobachtbar sind, aber kein kohärentes Regelungssystem etabliert ist. Noch schwerer ist generell zu sagen, ob und inwieweit regionale wirtschaftliche Organisationen (wie EWG/ EG/ EU, ASEAN, NAFTA, Mercosur) nur Freihandelszonen sind oder weiter reichende Regime-Funktionen haben. All diese inter-/ trans-/ supranationalen Arbeitsbereiche sind verwoben durch ihre rechtlichen Grundlagen, also durch internationale Verträgen aller Art. Kaum vorstellbar ist, welche große Zahl und Vielfalt international-multilateraler Verträge zwischen Staaten bzw. auch internationalen Organisationen es inzwischen gibt- - Auflistungen und Sammlungen geben für die jeweils als »wichtig« erachteten eine vierstellige Zahl an. Nicht in jedem Außenministerium dürfte genau bekannt sein, welchen internationalen Abkommen der eigene Staat beigetreten ist bzw. welchen Status diese Abkommen erreicht haben, z. B. wie viele Staaten sie schon unterzeichnet oder gar ratifiziert haben. Auch hier bietet die UNO unterstützende Dienstleistungen an (s.- http: / / treaties.un.org), denn ihr Sekretariat ist ohnehin beauftragt, internationale Verträge zu registrieren und zu veröffentlichen (VN-Charta Art. 102). Das UN-Sekretariat übt darüber hinaus auf die meist recht trägen Staaten politischen Druck zur Umsetzung abgeschlossener, aber noch nicht wirksamer Verträge aus, indem es am Rande der jährlichen Generalversammlung eine sog. Vertragsveranstaltung (Treaty Event) anbietet, bei dem eine Anzahl meist nach einem thematischen Schwerpunkt ausgewählter Abkommen zur Unterzeichnung und Ratifizierung ausliegt. Als Nebenveranstaltung des »Millenniumsgipfels« der Generalversammlung wurde 2000 die Vertragsveranstaltung erstmals angeboten; die Idee war, dass die feierlich versammelten Staatsoberhäupter und Regierungschefs, wenn sie denn schon mal da waren, auch gleich »Vertragshandlungen« (Unterzeichnungen, Ratifizierungen, Anerkennungen, Annahmen, Beitritte und vertragliche Zustimmungen usf.) am Hauptsitz der Vereinten Nationen vollziehen könnten. Unter den ausgelegten Verträgen können neben politisch wichtigen aktuellen auch ältere, aber noch nicht in Kraft getretene Abkommen sein; manche haben auch nach Jahren erst eine sehr geringe Quote der Ratifizierung. Alle diese internationalen Verträge haben gemeinsam, dass sie (innerhalb oder auch außerhalb der Strukturen der UNO) unter den Staaten ausgehandelt und von deren Regierungsvertretern als politische Willenserklärung unterzeichnet worden sind; damit die Verträge rechtlich in Kraft treten, müssen allerdings erst die Staaten-- meist nur eine bestimmte Anzahl von Staaten (Quote)-- sie ratifizieren, d. h. die gesetzgebenden Instanzen (meist ein Parlament) der einzelnen Staaten müssen entsprechend ihrer Verwww.claudia-wild.de: <?page no="191"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 191 5 Internationale Regime 191 fassungsbestimmungen die Vertragsinhalte als eigenes Recht übernehmen; dann muss noch die Ratifikationsurkunde (bei einer federführenden Regierung oder auch bei der UNO) hinterlegt werden. Die Terminologie zum Gegenstand »internationaler Vertrag« ist nicht eindeutig, die vorliegenden Definitionen für Variationen wie Konvention, Abkommen, Übereinkunft, Pakt usf. (oder treaty, agreement, convention, charter, protocol etc.) bieten keine sauberen Abgrenzungen; allerdings ist die Bezeichnung eines internationalen Vertrags kaum von Bedeutung für seine Wirksamkeit: Neben den eingespielten Verfahrensregeln wie dem Ratifikationsprozess kommt es rechtlich darauf an, was drin steht-- und politisch auf den Willen, ihn umzusetzen. »In spite of this diversity of terminology, no precise nomenclature exists. In fact, the meaning of the terms used is variable, changing from State to State, from region to region and instrument to instrument. Some of the terms can easily be interchanged: an instrument that is designated ›agreement‹ might also be called ›treaty‹. The title assigned to such international instruments thus has normally no overriding legal effects. The title may follow habitual uses or may relate to the particular character or importance sought to be attributed to the instrument by its parties. The degree of formality chosen will depend upon the gravity of the problems dealt with and upon the political implications and intent of the parties.« United Nations, Office Of Legal Affairs, Treaty Section (http: / / treaties.un.org) Tab. 29: Treaty Event 2009 (zur 64. Generalversammlung) Beispiele aus den über 40 vom Sekretariat ausgewählten internationalen Verträgen von Staaten, die ratifiziert haben/ Quote Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen 1992 192 99 % Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen 1997 184 98 %- Seerechtsübereinkommen 1982 159 81 % Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen 1946 157 80 % Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen 1996 149 76 % Übereinkommen über die Privilegien und Immunitäten der Sonderorganisationen 1947 116 60 % Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 1998 110 56 % Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen 1954 63 32 % Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2006 66 34 % Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer 1990 42 21 % Internationales Tropenholz-Übereinkommen 2006 25 13 % Übereinkommen über Streumunition 2008 17 9 % Übereinkommen über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens 2004 6 3 % <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 192 192 5 Internationale Regime 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) Sicherheit und Abrüstung sind die klassischen Arbeitsbereiche für internationale Regime (s.- Karns/ Mingst 2010, S. 289 ff.; Müller 1993, S. 122 ff., 2004; Rittberger/ Zangl 2008, S. 185 ff.; Thakur 2006; Weiss/ Daws 2007, Part V, S. 287 ff.); hier wurden die ersten politischen Erfahrungen mit internationalen Regimen gemacht und daraus Ansätze, Theorien und Analysen entwickelt, die den Kern der politikwissenschaftlichen Debatte über Entstehung und Funktionsweise internationaler Regime bildeten. Drei Konzepte multilateraler Sicherheitspolitik sind idealtypisch denkbar (Horn 2005), ● ● die kollektive Verteidigung aufgrund des Rechts eines jeden Staates auf Selbstverteidigung (militärische Allianz-Organisationen wie die NATO), ● ● die kollektive Sicherheit (Völkerbund, UNO) und ● ● die kooperative Sicherheit (KSZE/ OSZE, aber auch UNO). Das klassische mulilaterale Konzept der kollektiven Sicherheit verbindet drei korrespondierende Elemente (Opitz 2009, S. 179): das Gewaltverbot, ein Instrumentarium zur friedlichen Streitbeilegung und einen realistischen Mechanismus zur kollektiven Verteidigung für den Fall, dass gegen das Gewaltverbot verstoßen wird und eine Streitbeilegung nicht mehr möglich ist. Das hat im besten Fall den erwünschten Effekt, dass alle Staaten zusammen jedem einzelnen Staat gegen jede Aggression eines anderen Staates sicheren Schutz garantieren können, sodass kein Staat mehr so weit aufrüsten muss, dass er sich in jedem Fall alleine verteidigen könnte. Das erste Problem eines Systems der kollektiven Sicherheit ist die Bedrohungsperzeption: Nur wenn die Problemwahrnehmung der beteiligten Akteure wenigstens grundsätzlich übereinstimmt, ist gemeinsames Handeln denkbar. Weitere entscheidende Probleme sind die Gewährleistung gegenseitiger Vertrauensbildung und die Organisation konkreter Zwangsmaßnahmen im Ernstfall. Das Konzept der kooperativen Sicherheit geht wesentlich weiter, indem es auf eine möglicherweise gar vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Akteure miteinander und nicht mehr auf deren Wettstreit gegeneinander setzt; die Kooperationsbereitschaft müsste aus Einsicht in die eigentlichen eigenen Interessen entstehen-- gerade auch bei den mächtigen Staaten; Ziel ist Prävention und Deeskalation von Konflikten mit einer klaren Präferenz für Dialog und gewaltlose Maßnahmen seitens der Staatengemeinschaft und vor allem vieler nichtstaatlicher Akteure. Angewandt auf die UNO hieße dies, Kapitel VI der Charta (s.-Kap. 4.3.2) kooperationstheoretisch aufgeladen anzuwenden, aber möglichst auf gewaltsame Zwangsmaßnahmen zu verzichten; doch auch »robuste« Elemente des peace keeping auf der Basis von Kapitel VII (s.-Kap. 5.1.2) scheinen integrierbar. Praktisches Vorbild für die kooperative Sicherheit ist der erfolgreiche KSZE-Prozess: die »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« trug in den 1980er Jahren wesentlich zur friedlichen Auflösung des sowjetischen Imperiums bei; diesen Ansatz setzt die aus der KSZE entstandene OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) fort, indem sie z. B. Demokratisierungsprozesse unterstützt. Die Wahrung des (Welt-)Friedens und die Sicherheit vor Krieg bzw. militärischer Gewalt sowie die Schaffung der Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben sind Hauptaufgaben der UNO als System der kollektiven Sicherheit; die Vielfalt und Vielzahl der entsprechenden Probleme bilden ihren vorrangigen klassischen Arbeitsbereich. Schon zur Zeit des Völkerbunds sah man diese Hauptaufgabe einer universal-politischen internationalen Organisation eng verbunden mit der Bemühung um Abrüstung-- eine der klassischen Sisyphos-Arbeiten der Menschheit. Leider kann die kritische Betrachtung der Ergebnisse der multilateralen Abrüstungspolitik seit dem Völkerbund gleichermaßen zu idealistischen Durchhalteappellen wie zu resignierten oder gar zynischen Untergangsprognosen motivieren. Die wirklich ernsten Dinge wie die sensibelsten Kernfragen der Beschränkung oder Reduzierung der Atomwaffenarsenale der Supermächte USA und Sowjetunion/ Russische Föderation wurden und werden in bilateraler Interaktion beider Regierungen bzw. Militärapparate verhandelt und entschieden-- außerhalb <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 193 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 193 der UNO und ohne multilaterale Beteiligung. So sind der wichtigste Vertrag zur Eindämmung der atomaren Aufrüstung mit strategischen Offensivwaffen (Strategic Arms Reduction Treaty/ START) und seine Nachfolgeabkommen bilateral und exklusiv zwischen den beiden Großmächten geschlossen und überwacht worden; auch der zur Aufrechterhaltung der gegenseitigen Abschreckung zwischen den östlichen und westlichen Nuklearwaffen-Potentialen entscheidend wichtige Vertrag zum Verzicht auf großräumige Verteidigungssysteme zur Abwehr von ballistischen Raketen (Anti-Ballistic Missile Treaty/ ABM) war ein Ergebnis der bilateralen Kooperation der Supermächte. Im Sicherheits- und Abrüstungsfragen gab es nie eine große »Weltkonferenz« oder gar einen »Weltgipfel« mit Regierungs- und Staatschefs außerhalb der Sitzungen der Generalversammlung; auch im UN-Sicherheitsrat ist Abrüstung kein politisch erwünschtes Thema. Allerdings hat wenigstens die Genfer Abrüstungskonferenz als Diskussionsforum einige konkrete Abrüstungsmaßnahmen angeregt. »Kollektive Sicherheit muss eher Anspruch denn Wirklichkeit bleiben, da das einigende Moment einer gemeinsamen Bedrohungsperzeption doch sehr begrenzt ist. Die Vereinten Nationen sind zuallererst eine politische Institution, deren Resolutionen und Statements die divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten reflektieren.« Jochen Prantl (2007, S. 272) Im Arbeitsbereich Frieden und internationale Sicherheit sind zwei Typen von Problemen zu erkennen: ● ● anhaltend-strukturelle Probleme in einer waffenbezogenen Dimension, in der entgegen der Logik des »Sicherheitsdilemmas« (s.-Kap. 2.2.) durch Rüstungskontrolle und Abrüstung die durch die vorhandenen militärischen Potentiale gegebene grundsätzliche Gefährdung verringert werden muss; ● ● spezifisch-aktuelle Probleme in einer konfliktbezogenen Dimension, in der durch Maßnahmen der Friedenssicherung und Konfliktkontrolle die Verhinderung oder wenigstens Linderung von gewaltsam ausgetragenen Konflikten in konkreten Problem- und Krisensituationen aller Art durchgesetzt werden muss. Internationale Regime sind in beiden Dimensionen in großer, aber keinesfalls die Probleme abdeckender Vielfalt zu finden (Müller 2004, S. 106 ff.): ● ● In Sicherheitsregimen vereinbaren die Staaten in bi- und auch multilateralen Abkommen bestimmte Verhaltensregeln für Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen; konstruktive Maßnahmen können sein, dass die Staaten Waffensysteme quantitativ und/ oder qualitativ begrenzen, bestimmte Waffen bzw. möglicherweise schon die Forschung für sie und ihre Entwicklung verbieten, von anderen Staaten als Bedrohung verstehbare militärische Aktionen (wie Manöver oder Waffentests) unterlassen oder sie wenigstens überwachen lassen, durch Transparenz und gegenseitige Information Vertrauen schaffen oder gar sich Überwachungs- und Verifikationsverfahren unterziehen. ● ● In Krisenregimen wird versucht, vor einem Ernstfall kurz- und längerfristige Konflikt- und Krisenprävention zu ermöglichen, im Ernstfall Konfliktmanagement und Konfliktbeilegung zu organisieren, im Notfall dann den Frieden auch militärisch zu sichern und wiederherzustellen und gegebenenfalls-- durch Friedenskonsolidierung und Versöhnungsmaßnahmen oder gar einen systematischen Neuaufbau staatlicher Strukturen-- konfliktnachsorgend aufzuräumen. Die beiden Dimensionen sind nur analytisch zu trennen, sie sind im konkreten Gefährdungsfall tatsächlich eng verwoben; so wäre eine substantielle Abrüstung von Angriffswaffen oft die beste Krisenprävention gewesen-- andererseits kann man auch mit bloßen Händen töten. Die Friedenssicherung scheint im Verlauf des 20. Jahrhunderts einige echte Fortschritte gemacht zu haben, wenn man die durch zwei mörderische Weltkriege gekennzeichnete erste Hälfte mit der zweiten Hälfte vergleicht, die keineswegs ohne Kriege und Gewalt, aber immerhin fast ohne die Benutzung der in absurder Menge produzierten Massenvernichtungswaffen auskam. Aber an eben dieser Menge der <?page no="194"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 194 194 5 Internationale Regime vorhandenen Waffen und deren ständiger Weiterentwicklung gemessen, hat Abrüstung dagegen weniger Erfolg gehabt. Immerhin hat sich nicht zuletzt dank der ständigen politischen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit und Praxis internationaler Regime zu Abrüstung und Friedenswahrung die Einstellung der meisten Gesellschaften und Regierungen zum Krieg als brauchbarem Mittel der Politik gewandelt zugunsten einer Zivilisierung internationaler und globaler Beziehungen. 5.1.1 Rüstungskontrolle und Abrüstung Die Sicherung des Friedens und die Lösung von Konflikten sind ständig zu leistende Aufgaben, doch dahinter steht als oberstes Ziel für eine internationale Friedensorganisation die Abrüstung von Waffen aller Art (s.-Krause 2007; Müller 1993, S. 122 ff.; Thakur 2006): Ohne Waffen kein Krieg, so zumindest die Hoffnung; richtig ist jedenfalls, dass militärische Abschreckung durch sich gegenseitig bedrohende hochgerüstete Kriegsapparate ein höllischer Ritt auf des Messers Schneide bleibt. Seit der Entwicklung und dem erstem Einsatz der Atombombe-- noch während des Zweiten Weltkriegs und nach Gründung der UNO-- ist die Verhinderung der nuklearen Apokalypse die größte Aufgabe, doch auch chemische und biologische Waffen haben Potential zur endgültigen Zerstörung alles menschlichen Lebens auf der Erde. Mit konventionellen Waffen wird ständig Leben zerstört und Leid zugefügt- - am schlimmsten sind meist vergleichsweise einfache und billige, also sehr verbreitete Mordinstrumente wie Landminen und Streumunition, die oft die Zivilbevölkerung stärker schädigen als Kampftruppen, möglicherweise noch Jahre nach dem Ende eines Krieges. In der klassisch-realistischen Problemsicht (s.- Kap. 2.2) erzwingt das aus der anarchischen Machtstruktur der Staatenwelt resultierende Sicherheitsdilemma, dass jeder einzelne Staat für seine Sicherheit selbst sorgen muss: Er setzt sich durch militärische Rüstung in die Lage, andere Staaten von gewaltsamen Übergriffen wirksam abzuschrecken; er kann dazu auch die Bildung von Allianzen (Beistandspakte etc.) nutzen. Eine solche Politik der militärischen Stärke zur Abschreckung werden andere Staaten allerdings als Bedrohung ihrer Sicherheit wahrnehmen, was sie zu Gegenmaßnahmen motivieren wird. Dazu kommen weitere den Frieden destabilisierende Elemente wie die Eigendynamik von Angst, Misstrauen und Feindbildern, die verstärkt wird durch den geringen Grad an Transparenz aufgrund der nötigen Geheimhaltung über die eigenen Optionen sowie möglicherweise manipuliert durch von Rüstung profitierenden Wirtschaftsinteressen. Gegen Bedrohungsperzeption und Rüstungsdruck hilft nur Vertrauensbildung durch glaubwürdige Verhaltensregeln und Kontrollmechanismen, die internationale Regime mit Hilfe internationaler Organisationen bieten können. War dem Völkerbund 1918 noch ein weitreichender, aber mit den ihm zugestandenen Kompetenzen nicht erfüllbarer Auftrag zur allgemeinen Abrüstung gegeben worden, wurde angesichts der schlechten Erfahrung mit einer derart unrealistischen Vorgabe in der UNO-Charta (Art. 26) das Mandat zur »Errichtung eines Systems der Rüstungsregelung« recht vage gehalten. Die UNO war bisher nicht in der Lage, dies wenigstens durch die Schaffung einer formalen Grundstruktur zur multilateralen Rüstungsbegrenzung zu erfüllen; allenfalls in der Genfer Abrüstungskonferenz gab es nennenswerte Aktivitäten. Erfolgreiche Abrüstungsbzw. Rüstungskontrollverhandlungen waren bisher meist bilateral oder in kleineren Staatengruppen organisiert. Die wirksamen internationalen Regime zur Rüstungsbegrenzung und -kontrolle sind mit internationalen Organisationen nur in einzelnen Fällen verbunden; die UNO und ihr zuständiges Hauptorgan Sicherheitsrat spielen kaum eine Rolle. Das die Konstruktion der UNO zwangsläufig prägende Dilemma, dass die mächtigsten Staaten auch die meisten Vorrechte bekamen (s.- Kap. 4.2.3), erklärt die Sterilität des Sicherheitsrats in Fragen der Abrüstung: Gerade als ohnehin schon am stärksten bewaffnete Mächte haben dessen ständige Mitglieder vordergründig das geringste Interesse an Abrüstung, eher schon an der Nichtweiterverbreitung von Wafwww.claudia-wild.de: <?page no="195"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 195 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 195 fen-- sofern dem nicht ihre wirtschaftlichen Interessen als größte Exporteure von Waffen aller Art widersprechen. Wegen des deutlichen Desinteresses seiner ständigen Mitglieder hat sich der Sicherheitsrat sehr selten Abrüstung zum Thema gestellt; eine der Ausnahmen ist die in einem langen Verhandlungsprozess ausgearbeitete Resolution 1540 (S/ RES/ 1540 (2004)) gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Rahmen terroristischer Bedrohung: Die Zielsetzung allgemeiner Abrüstung wird darin zwar beschworen, aber nicht durch Fortentwicklung von Abkommen und Mechanismen zwischenstaatlicher Rüstungskontrolle weiter umgesetzt; dafür werden allgemein verbindliche Rechtsgrundsätze aufgestellt, die Staaten verpflichten zu verhindern, dass »nichtstaatliche Akteure« Zugriff auf Massenvernichtungswaffen erlangen. Somit konnte die UNO über lange Phasen ihrer durch den »Kalten Krieg« geprägten Geschichte auf einen in die Geheimnisse von Gewaltmonopol nach innen und Souveränität nach außen nicht eingeweihten außerirdischen Beobachter eher wie ein Dachverband von bis an die Zähne bewaffneten kriminellen Vereinigungen und Räuberbanden wirken-- dennoch sind seit dem Zweiten Weltkrieg durchaus internationale Abrüstungsregime entstanden, die angesichts der Umstände sogar recht wirksam wurden; aber meist wurden sie nur lose oder gar nicht verbunden mit den internationalen Organisationen und Mechanismen des UN-Systems: Rüstungskontrolle blieb als überlebenswichtige Frage nahezu völlig in der politischen Kompetenz der blockführenden Groß- und Atommächte. Es gibt nur ein allgemein und weltweit für Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung zuständiges multilaterales Forum, das aber ungeachtet seiner Bezeichnung UN Conference on Disarmament (UNCD) und der engen Zusammenarbeit mit den zuständigen Abteilungen des UN-Sekretariats kein ordentliches Nebenorgan oder ein formelles UN-Gremium ist, sondern sich in Genf aus der Praxis von Abrüstungsgesprächen aller Art über verschiedene Stufen speziellerer und kleinerer Gremien entwickelt hat; Mitglieder der Abrüstungskonferenz und Teilnehmer an ihren jährlichen Sitzungsperioden sind auch heute nur weniger als die Hälfte der UN-Mitgliedstaaten. Immerhin befasst sich die Konferenz inzwischen mit allen relevanten Aspekten, vom Umgang mit bestimmten Waffen über die Reduzierung von Militärhaushalten bis hin zu Fragen des Zusammenhangs von Rüstung und Entwicklung. Ihre unmittelbaren Ergebnisse bleiben aber überschaubar, ihr Fortschreiten eher gemächlich-- entsprechend dem geringen politischen Willen der meisten Staaten, ernsthaft abzurüsten. Immerhin wurden auf der Abrüstungskonferenz z. B. im Bereich der A-Waffen (Atom) der Kernwaffenteststoppvertrag, für die B-Waffen (biologische) und C-Waffen (Chemie) die Verbots-Konventionen ausgearbeitet und verhandelt, bevor sie jeweils von der UN-Generalversammlung angenommen wurden. UNCD und andere multilaterale Verhandlungsmechanismen wie regelmäßige Vertragsstaaten-Konferenzen für die Fortentwicklung einzelner schon gültiger Abrüstungsabkommen bieten einen legitimatorischen und organisatorischen Rahmen für die stetigen Bemühungen einer Minderheit von Regierungen, wirksame Abrüstungsregelungen zu schaffen und umzusetzen. Atomwaffen: Über Atomwaffen verfügen nur wenige Staaten, die auch kein Interesse daran haben können, dass ihr exklusiver Club größer wird. Deswegen und wegen der Apokalypse, die der Einsatz dieser Waffen über die Menschheit bringen kann, sind die internationalen Regelungen für die »A-Waffen« am dichtesten-- und insgesamt insofern erfolgreich, als ein Atomkrieg bisher ausgeblieben ist. Aber das immer wieder auch von höchsten Instanzen wie dem US-Präsidenten erklärte Ziel, »Global Zero« zu erreichen, also weltweit alle Atomwaffen definitiv abzurüsten, wird noch ein bisher kaum vorstellbares Ausmaß an politischem Willen und einen immensen Aufwand internationaler Zusammenarbeit verlangen. Die wichtigsten Verträge zur Kontrolle und Begrenzung von Atomwaffen waren bisher bilaterale Übereinkommen zwischen den USA und der UdSSR als den blockführenden Großmächten mit den großen Vernichtungspotentialen und entsprechenden Trägersystemen: <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 196 196 5 Internationale Regime Tab. 30: Wichtige internationale Verträge zu Rüstungskontrolle/ Abrüstung/ Nichtverbreitung Zweck Abkommen/ Konvention ([Jahr] =-in Kraft seit) Mitgliedschaft Atom-/ Kernwaffen (A-Waffen) Kontrolle/ Begrenzung INF-Vertrag zur Eliminierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty/ INF) von 1987 [1988], 2001-erfüllt bilateral (USA und UdSSR) Vertrag zur Eindämmung strategischer Waffen (Strategic Arms Reduction Treaty/ START), ab 1982 verhandelt, in Kraft 1994 und gültig bis 2009, sowie seine Nachfolgeabkommen START II, 1993 ausgehandelt, nie in Kraft getreten, aber de facto wirksam, und »New START« von 2010 bilateral (USA und UdSSR/ Russische Föderation) Vertrag zum Verzicht auf Verteidigungssysteme zur Abwehr von ballistischen Raketen (Anti-Ballistic Missile Treaty/ ABM) von 1972, von den USA 2001 gekündigt, aber de facto noch wirkend bilateral (USA und UdSSR/ Russische Föderation) Tests »Atomteststoppabkommen« oder »Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser« (Treaty Banning Nuclear Weapon Tests in the Atmosphere, in Outer Space and Under Water-- oder Nuclear Test Ban Treaty/ NTBT bzw. Partial Test Ban Treaty/ PTBT abgrenzend zum Nachfolgevertrag) von 1963 [1963] universal (zunächst Atomwaffen- Staaten, inzwischen fast alle, aber nicht: VR China, Frankreich und Nordkorea) »Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen« oder »Kernwaffenteststopp-Vertrag« (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty/ CTBT) von 1996, bisher mangels Ratifizierung durch bestimmte Staaten mit Kern- Reaktoren, u. a. die USA, noch nicht in Kraft a Überwachung durch die Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization (CTBO) universal (fast alle unterschrieben, aber einige noch nicht ratifiziert) Nichtverbreitung »Nichtverbreitungsvertrag« oder « Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen« (Non-Proliferation Treaty/ NPT) von 1968 [1970], zu Nichtweitergabe von Atomwaffen, zu Abrüstung von Atomwaffen und zu Zusammenarbeit zur friedlichen Nutzung von Atomenergie a Überwachung durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO; International Atomic Energy Agency/ IAEA) universal (fast alle Staaten, auch alle ständigen Mitglieder des SR, nicht aber Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea) »atomwaffenfreie Zonen« »Antarktis-Vertragssystem« (Antarctic Treaty System/ ATS) von 1959, von zwölf Signatarstaaten begründet [1961]; verbietet die Militarisierung der Region südlich des 60. Breitengrads und regelt deren friedliche Nutzung universal mit Einschränkungen (48 Staaten, nur z. T. stimmberechtigt) »Weltraumvertrag« (Outer Space Treaty) oder »Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper« von 1967 [1967]; verbietet die Stationierung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen im Weltraum, auch auf dem Mond universal (Mehrheit der Staaten, nicht nur die Weltraumfahrt betreibenden) »Meeresboden-Vertrag« oder »Vertrag über das Verbot der Anbringung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen auf dem Meeresboden und am Meeresgrund« (Seabed Arms Control Treaty) von 1971 [1972] universal (gut zwei Drittel der-Staaten) Lateinamerika (Vertrag von Tlatelolco [1968]), Südpazifik (Rarotonga [1986]), Südostasien (Bangkok [1997]), Afrika (Pelindaba [2002]), Zentralasien (Semei [2009]) regional <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 197 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 197 ● ● Der Vertrag zur vollständigen Abrüstung von Kurz- und Mittelstrecken-Raketen (INF) von 1987 ist eines der wenigen Abkommen, die erfolgreich und voll erfüllt wurden und also historisch erledigt sind. Erstmals wohl in der Weltgeschichte wurden zwei Arten von Waffen (bestimmte Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper einschließlich Trägersystemen) und deren Produktionskapazität völlig abgeschafft-- zumindest seitens der Vertragspartner. ● ● Die Abkommen zur Reduzierung strategischer Waffen sind das Kernstück der bilateralen Atomwaffenkontrolle. Der erste Vertrag (START I) wurde ab 1982 verhandelt und 1991, kurz nach dem Ende der Sowjetunion/ UdSSR, unterzeichnet; er trat 1994 in Kraft und war gültig bis 2009; das Nachfolgeabkommen (START II) wurde 1993 ausgehandelt; trat jedoch, weil die Russischen Föderation ihn aus politischen Gründen (US-Interventionen, NATO-Osterweiterung, Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA) nicht ratifizierte, nie in Kraft, wurde allerdings de facto weitgehend eingehalten; 2010 wurde ein weiteres Abkommen (»New START«) ausgearbeitet, das schon Anfang 2011 in Kraft treten konnte. Ziel ist eine verifizierte massive Reduzierung der Zahl der strategischen Atomwaffen (Sprengköpfe) bzw. ihrer Trägersysteme (Interkontinentalraketen, strategische Bomber); trotz der beeindruckenden Größenordnung der vorgesehenen Verminderung-- z. B. Reduzierung der Sprengköpfe von 2 200 auf 1 550 bzw. der Trägersysteme von 1 600 auf 800 auf jeder Seite noch in diesem Jahrzehnt-- bleibt den beiden Supermächten ein ausreichendes nukleares Potential, um die Welt zu zerstören. Zweck Abkommen/ Konvention ([Jahr] =-in Kraft seit) Mitgliedschaft B-Waffen (biologische) und C-Waffen (chemische) Verbot »B-Waffen-Konvention« oder »Vertrag über das Verbot biologischer Waffen« (Biological Weapons Convention/ BWC oder Convention on the Prohibition of the Development, Production and Stockpiling of Bacteriological (Biological) and Toxin Weapons and on their Destruction) von 1972 [1975] universal (über 160 Staaten) »Chemie-Waffen-Konvention« oder »Vertrag über das Verbot chemischer Waffen« (Chemical Weapons Convention/ CWC oder Convention on the Prohibition of the Development, Production, Stockpiling and Use of Chemical Weapons and on their Destruction) von 1993 [1997] a Überwachung durch die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) universal (fast alle Staaten) konventionelle Waffen besonders inhumane Waffen »Waffenübereinkommen« (Convention on Certain Conventional Weapons/ CCW oder Convention on Prohibitions or Restrictions on the Use of Certain Conventional Weapons Which May Be Deemed to Be Excessively Injurious or to Have Indiscriminate Effects) von 1980 [1983]; besteht aus fünf Protokollen zu spezifischen Problembereichen universal (fast 120 Staaten unterschrieben, z. T. aber nicht alle Protokolle)  Landminen »Vertrag zum Verbot von Anti-Personen-Minen« oder »Ottawa-Konvention« (Convention on the Prohibition of the Use, Stockpiling, Production and Transfer of Anti-Personnel Mines and on Their Destruction oder kurz Mine Ban Treaty) von 1997 [1999] - kein Teilabkommen des CCW, wozu aber weiterhin verhandelt wird-- universal (drei Viertel der Staaten, nicht aber VR China, Russische Föderation, USA)  Streumunition »Vertrag über Streumunition« (Convention on Cluster Munitions/ CCM) von-2008 [2011], auch als »Oslo-Prozess« bekannt - kein Teilabkommen des CCW, wozu aber weiterhin verhandelt wird-- universal (gut über 100 Staaten) Tab. 30: Fortsetzung <?page no="198"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 198 198 5 Internationale Regime ● ● Der Vertrag zum Verzicht auf großräumige Raketenabwehrsysteme (ABM) von 1972 wurde von den USA 2001 gekündigt, wirkt aber de facto noch fort; Überlegungen und Versuche zur Errichtung einer wie immer gearteten satellitengestützten Abwehr von Raketen gefährden logischerweise die immer noch gültige Abschreckungsdoktrin der drohenden gegenseitigen Vernichtung. Die anderen Vertragswerke zur Kontrolle und Reduzierung der Entwicklung und Verbreitung von nuklearen Waffensystemen sind zumindest potentiell multilateral und universal offen für die Teilnahme aller Staaten. Wünschenswert wäre es zumal, dass in erster Linie die offiziellen (USA, UdSSR/ Russische Föderation, VR China, Großbritannien, Frankreich) wie auch in zweiter Linie die sich als solche nicht erklärenden Atomwaffen besitzenden Staaten (Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea) den entsprechenden Regimen beiträten. Die Staaten ohne Atomwaffen bekräftigen mit der Teilnahme ihre Selbstverpflichtung, weiterhin auf nukleare Rüstung zu verzichten, und richten zugleich die politische Botschaft an die Besitzer von Atomwaffen: Benutzt sie nicht, schafft sie ab. ● ● Mit dem Atomteststoppabkommen (NTBT oder PTBT) von 1963 gelang es schon früh, Kernwaffenversuche nur noch-- relativ-- sicher unterirdisch zuzulassen; das Ziel war es, eine weitere Freisetzung nuklearer Strahlung durch Atomwaffentests (»fallout«) zu verhindern, was trotz ungehinderten Wettrüstens erreicht wurde. Allerdings sind nicht nur die VR China und Nordkorea, sondern auch Frankreich, für dessen Souveränitätsbewusstsein die eigene Atomstreitmacht eine besondere Quelle zu sein scheint, dem Abkommen bisher nicht beigetreten. ● ● Dem folgte der Kernwaffenteststopp-Vertrag (CTBT) zum umfassenden Verbot von Nuklearversuchen, der seit 1996 bereitliegt, aber noch nicht in Kraft ist; das Abkommen war in der Abrüstungskonferenz (UNCD) ausgearbeitet und mit sehr großer Mehrheit von der UN-Generalversammlung angenommen worden- - allerdings sind 44 Kerntechnologie betreibende Staaten aufgelistet, die alle den Vertrag ratifizieren müssen, damit er in Kraft treten kann: Bislang fehlen neben anderen die Atommächte VR China und die USA, Indien und Pakistan, Nordkorea sowie der Iran. Die Einhaltung der Bestimmungen des Vertrags soll überwacht werden durch eine eigens dafür eingerichtete internationale Organisation (CTBO), die seit 1996 aufgebaut wird. ● ● Der Nichtverbreitungsvertrag (NPT) von 1968, seit 1970 in Kraft, ist das wichtigste internationale Abkommen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von nuklearen Waffen; weitere Ziele sind die Abrüstung von Atomwaffen und die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie. 189 Staaten sind beigetreten, darunter alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die ja zugleich die klassischen Atommächte sind-- nicht Mitglied sind die Staaten, die de facto, aber nicht offiziell Atomwaffen besitzen: Indien und Pakistan, Israel, Nordkorea. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, nukleare Waffen und Waffentechnologien nicht an andere Staaten weiterzugeben, um zu verhindern, dass diese als zusätzliche Atommächte auftreten können; gefährdet ist diese Absicht durch den Versuch einzelner Staaten in Außenseiterposition, sich eben diesen Machtstatus mit nuklearer Waffentechnologie zu verschaffen. Das Nichtverbreitungsregime wäre viel glaubwürdiger und effizienter, wenn die Kernwaffen besitzenden Staaten ernsthaft begönnen, ihre eigenen Potentiale abzurüsten (Müller 2010; Thränert 2010). Überwacht wird die Einhaltung der Bestimmungen des NPT durch die IAEA. ● ● Ein am Nichtverbreitungsvertrag anschließender Vertrag zum Verbot der Herstellung spaltbaren Materials (Fissile Material Cut-off Treaty/ FMCT), der die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung und Produktion von Kernwaffen eliminieren soll, wird seit 1996 in der Abrüstungskonferenz (UNCD) verhandelt, aber ein Erfolg ist nicht abzusehen; entscheidend ist die Frage, ob (bei den Kernwaffen besitzenden Staaten schon reichlich) vorhandene Vorräte waffenfähigen spaltbaren Materials davon unberührt bleiben. Internationale Regime gegen Atomwaffen setzen aber nicht nur an den Waffensystemen an, sondern versuchen auch, bestimmte Weltgegenden und -räume davor zu schützen, als Waffenbasis oder Schlachtfeld militärisch genutzt zu werden: <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 199 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 199 ● ● Der Antarktis-Vertrag (Antarctic Treaty System/ ATS) soll sichern, dass die Region südlich des 60. Breitengrads ausschließlich friedlich genutzt wird, insbesondere durch wissenschaftliche Forschung, während eine Militarisierung jeder Art verboten ist; der ursprüngliche Vertrag wurde 1959 auf einer Antarktiskonferenz von zwölf Signatarstaaten ausgehandelt, trat 1961 in Kraft, hat inzwischen 48 Mitglieder, von denen nur die, die in der Antarktis aktiv wissenschaftlich forschen, einen stimmberechtigenden Konsultativstatus haben. ● ● Die korrekte Bezeichnung des Meeresboden-Vertrags (Seabed Arms Control Treaty) von 1971, in Kraft seit 1972, gibt exakt seinen Zweck an: »Vertrag über das Verbot der Anbringung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen auf dem Meeresboden und im Meeresuntergrund«; gut zwei Drittel der Staaten sind beigetreten. ● ● Der Weltraumvertrag (Outer Space Treaty) von 1967 verbietet die Stationierung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen im Weltraum, auch auf dem Mond; dem Abkommen ist inzwischen die große Mehrheit der Länder auf dem Planeten Erde beigetreten, von denen die meisten nicht Weltraumfahrt betreiben. ● ● Über dem Meeresspiegel und nördlich der Antarktis haben sich Großregionen und ganze Erdteile-- fast die ganze südliche Hemisphäre der Erde-- in regionalen Verträgen zu »atomwaffenfreien Zonen« erklärt: Lateinamerika (Vertrag von Tlatelolco 1967/ 1968), Südpazifik (Rarotonga 1985/ 1986), Südostasien (Bangkok 1995/ 1997), Afrika (Pelindaba 1996/ 2002), Zentralasien (Semei 2006/ 2009)- - und die Mongolei (2000); der Vorschlag Ägyptens, auch die Nahost-Region zur kernwaffenfreien Zone zu erklären, ist politisch eher nicht umsetzbar. Biologische und chemische Waffen: Nicht ganz so apokalyptisch bedrohlich wie die Atom- oder »A-Waffen«, aber grundsätzlich auch geeignet, alles menschliche Leben auf der Erde auszulöschen oder dauerhaft zu schädigen, sind biologische »B-Waffen« und chemische »C-Waffen«. ● ● Die Biowaffenkonvention (BWC) von 1971 soll die Herstellung und die Verbreitung von biologischen Waffen verhindern, indem sie die schon gültigen Bestimmungen des Genfer Protokolls von 1925 über das Verbot des Einsatzes von biologischen und chemischen Waffen aktualisiert und erweitert. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, biologische Waffen weder zu entwickeln, herzustellen noch vorzuhalten bzw. vorhandene Bestände zu zerstören und diese keinesfalls an andere Staaten in irgendeiner Form weiterzugeben. Allerdings fehlen konkrete Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle, sodass eine Überwachung der Einhaltung der Bestimmungen kaum möglich ist. ● ● Die Chemiewaffenkonvention (CWC) von 1993 verbietet Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz chemischer Waffen, indem sie ebenfalls die schon gültigen Bestimmungen des Genfer Protokolls von 1925 über das Verbot des Einsatzes von biologischen und chemischen Waffen aktualisiert und erweitert. Dieses Abkommen legt umfassende und konkrete Abrüstungsschritte fest; die Einhaltung der Bestimmungen überwacht eine eigens dafür eingerichtete internationale Organisationen (OPCW); das Problem dabei ist, dass sich viele der alltäglich in der chemischen Industrie gebrauchten Stoffe auch zur Herstellung von Chemiewaffen eignen. Konventionelle Waffen: Ungeachtet des apokalyptischen Potentials der A-, B- und C-Waffen starben und sterben Menschen in gewaltsamen Konflikten fast immer durch »konventionelle Waffen«-- von Messer und Säbel über Handfeuerwaffen und Maschinengewehren bis zu Kanonen, Bomben und vor allem Raketen mit immer effektiveren und »intelligenteren« Sprengsätzen, die von Fußsoldaten, Fahr- und Flugzeugen, Schiffen und Unterseebooten oder »Drohnen« abgefeuert werden; wegen ihrer komplexen Vielfalt und der grenzenlos weiten Verbreitung besonders der simpleren Typen sind konventionelle Waffen am schwersten einzuschränken oder abzurüsten. ● ● Doch gerade gegen einige der schlimmsten dieser Waffen gibt es wenigstens den Versuch eines internationalen Kontroll- und Abrüstungsregimes auf der Basis des Waffenübereinkommens (Convention on Certain Conventional Weapons/ CCW) von 1980, in Kraft seit 1983, dessen volle deutsche Bezeichwww.claudia-wild.de: <?page no="200"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 200 200 5 Internationale Regime nung »Übereinkommen über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können« seinen Zweck zusammenfasst; es ist aus einer kurzen Grundvereinbarung und bisher fünf Protokollen zu spezifischen Waffenarten und Problemen zusammengesetzt. In den kontinuierlich fortgeführten Verhandlungen unter den CCW-Vertragsstaaten muss konsensuale Einstimmigkeit erreicht werden. Also müssen auch die Staaten, die von einer bestimmten Art die meisten Waffen besitzen/ produzieren/ exportieren jeder Regelung für diese Waffen zustimmen, damit ein Teilprotokoll der Konvention erweitert oder ein neues Protokoll hinzugefügt werden kann. Meist sind es also militärische Großmächte wie die VR China, die Russische Föderation und die USA oder militärisch sehr aktive Staaten wie Indien, Pakistan oder Israel, die sich gegen Fortschritte beim Bann bestimmter Waffen sperren, also den Verhandlungsprozess im Rahmen dieser Konvention behindern oder blockieren. So bietet das CCW zwar eine Grundlage, um bestimmte Waffen international zu bannen, ist aber auch ein gutes Beispiel für die programmierte Ineffizienz von multilateralen Abrüstungsbemühungen unter den Staaten: Einer oder einige sind immer gegen klare Schritte, sodass ständig auf Vertragsstaatenkonferenzen durch das Aushandeln weiterer Protokolle zum Abkommen versucht werden muss, die Regeln zu erweitern, zu konkretisieren oder gar ihre Umsetzung zu organisieren-- und dabei auch noch den waffentechnischen Entwicklungen nachzukommen. Politische Fortschritte sind gelegentlich dadurch zu machen, dass diese vorgegeben Bahnen-- wenigstens zeitweise-- verlassen werden und sich Initiativen außerhalb der UN-Routinen und mit Hilfe von viel öffentlichem bzw. zivilgesellschaftlichem Druck durchsetzen können. So sind zwei wichtige Abkommen gegen besonders heimtückische Waffenarten, Landminen und Streumunition, gerade deswegen entstanden, weil einzelne Regierungen gegen die Trägheit der Abrüstungsdiplomatie gerichtet, aber diese nach Art eines Judo-Kampfgriffs auch nutzend, engagiert und nachhaltig die Initiative ergriffen haben: ● ● Die sog. Ottawa-Konvention zum Verbot von Anti-Personen-Minen/ Landminen (kurz Mine Ban Treaty) von 1997, in Kraft seit 1999, wurde möglich aufgrund einer Initiative Kanadas, das in den Verhandlungen im Rahmen des CCW keine Perspektive mehr sah und zu einer gesonderten Konferenz 1997 in Ottawa einlud, die einen Bann von Landminen durch möglichst viele Staaten zum Ziel hatte. Landminen sind in Absicht und Wirkung heimtückische Waffen, die- - wenn sie nach Ende eines Konflikts nicht aufwändig gesucht und geräumt werden-- noch nach Jahrzehnten jede unbeteiligte Person töten oder verletzen kann, die auf sie tritt. Überraschend hatte diese Initiative breiten Erfolg, wozu neben internationalen Organisationen wie Rotes Kreuz/ Halbmond und UNICEF auch nichtstaatliche Aktionsgruppen entscheidend beitrugen, indem sie mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit den nötigen politischen Willen zur Durchsetzung dieser Initiative erzeugten, international koordiniert in der International Campaign to Ban Landmines (ICBL), die dafür 1997 den Friedensnobelpreis erhielt-- die Rolle der Zivilgesellschaft als internationaler Akteur war in diesem Fall nicht mehr zu übersehen. Allerdings haben zwar die meisten Staaten den Vertrag ratifiziert, nicht aber die großen Landminen- Besitzer und Inhaber ständiger Sitze im UN-Sicherheitsrat VR China, Russland und die USA. Die Ottawa-Konvention ist auch kein Teil des CCW, dessen Protokoll II das Landminen-Problem behandelt, aber nicht löst. ● ● Das Übereinkommen über Streumunition (Convention on Cluster Munitions/ CCM; s.-Hertwig 2011) wurde 2007/ 2008 ausgehandelt und trat 2011 in Kraft, als es 108 Staaten unterzeichnet und 50 ratifiziert hatten. Auch Streumunition ist eine besonders bösartige Art konventioneller Waffen: Sie werden zur Bekämpfung von Flächenzielen aus der Luft abgeworfen, wobei viele einzelne Sprengkörper breit verstreut werden; dabei explodieren einige »Blindgänger« nicht, können aber lange Zeit scharf bleiben- - und dann Landarbeiter oder spielende Kinder zerreißen. Auch dieser unerwartet rasche Fortschritt wurde nicht eigentlich durch und in UN-Gremien erreicht, sondern im »Oslo-Prozess«: Parallel zu den festgefahrenen Verhandlungen im Rahmen des Waffenübereinkommens (CCW) der <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 201 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 201 UNO zogen Norwegen und einige wenige gleichgesinnte Staaten die Sache an sich. Auch hier aber zeigt sich das strukturelle Problem: Die VR China, Israel, Russland und die USA besitzen die meisten Streubomben und sind wenig geneigt, das Thema zu verfolgen oder gar das Problem zu lösen. Ein größeres Problem scheint noch schwerer zu bearbeiten zu sein: Kleine und leichte Waffen, besonders die herkömmlichen Handfeuerwaffen, sind die am weitesten verbreiteten Mordinstrumente; da sie fast überall massenhaft verfügbar sind, sind sie in ihrer Gesamtheit auch eine Massenvernichtungswaffe. Seit längerer Zeit wird im Rahmen der UNO versucht, Regelungen zur Kontrolle der »small arms and light weapons« (SALW) auszuarbeiten und in einem Abkommen verbindlich zu machen. Die UN-Generalversammlung hat eine einschlägige Resolution beschlossen (A/ RES/ 50/ 70 (1996)), Abteilungen und Gremien der UNO arbeiten daran, eine Konferenz zum illegalen Waffenhandel wurde 2006 abgehalten, viele NGOs sind engagiert, doch ein Abkommen ist nicht in Sicht. Verifikationsinstrumente: Aus komplexen Abrüstungsabkommen können eine Art Service-Organisationen als Instrumente zur Beobachtung und Überwachung bzw. Verifikation (monitoring, verification) entstehen, die Einhaltung und Umsetzung der Verträge durch ihre Unterzeichner kontrollieren sollen; allein der Zwang, bei ihnen regelmäßig sog. Staatenberichte über den Stand der Vertragserfüllung einzureichen, kann schon die Disziplin zur Regeleinhaltung entscheidend fördern. ● ● Die Organisation des Nuklearversuchverbot-Vertrags (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization/ CTBO) in Wien soll den Kernwaffenteststopp-Vertrag (CTBT) überwachen. Mithilfe eines technischen Systems, das weltweit Erschütterungen und verwandte Phänomene registrieren und messen kann, werden ständig Daten erhoben und daraufhin ausgewertet, ob sie auf eine Kernwaffenexplosion und damit auf einen möglichen Verstoß gegen das Abkommen hinweisen. ● ● Die Internationale Atomenergie-Organisation (International Atomic Energy Agency/ IAEA, dt. auch IAEO) in Wien ist die wichtigste und komplexeste Überwachungsagentur, die nicht nur die Einhaltung der Bestimmungen der Atomwaffen beschränkenden Abkommen (Nichtverbreitungsvertrag/ NPT, Kernwaffenteststopp-Vertrag/ CTBT u. a.) überwachen, sondern im Geiste der 1950er Jahre auch technisch die friedliche Nutzung der Kernenergie unterstützen soll. Zumal in politischen Streitfällen, ob und inwieweit ein bestimmter Staat Atomwaffen entwickelt oder schon weitgehend entwickelt hat oder zumindest in der Lage dazu ist, wird die Aufgabe der IAEA politisch extrem heikel, da ihre Überwachungsergebnisse nicht nur oft schwierig zu erheben und/ oder zu interpretieren sind, sondern auch entscheidend sein bzw. als entscheidend gesehen werden können für schwerwiegende Gegenmaßnahmen bis zu kriegerischer Gewalt; Irak, Iran und Nordkorea waren bislang die umstrittensten Fälle. ● ● Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (Organization for the Prohibition of Chemical Weapons/ OPCW) in Den Haag soll anhand eines Anhangs zur Chemiewaffenkonvention (CWC), der konkret die einzelnen zu erfüllenden Kriterien und umzusetzende Maßnahmen auflistet, die »Verifikation« der tatsächlichen Umsetzung der Konvention ermöglichen; wenn Verpflichtungen nicht nachgekommen wird, kann die OPCW Organe der UNO informieren, damit diese die Erfüllung fordern oder gar erzwingen können. Auch Regionalorganisationen wie NATO, OSZE, AU oder SCO (s.-Kap. 5.1.2) können bei Abrüstungsverhandlungen und der Umsetzung von Rüstungskontrollregimen in ihrem geopolitischen Wirkungsbereich stützende Funktionen erfüllen. <?page no="202"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 202 202 5 Internationale Regime 5.1.2 Friedenssicherung und Konfliktbewältigung Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 ist es weltweit zu über 200 kriegerischen Konflikten gekommen. Die Problem-Dimension der Friedenssicherung, durch die gewaltsam ausgetragene Konflikte verhindert oder wenigstens gelindert, kontrolliert oder gar gelöst werden sollen, bestimmt viel stärker als die Abrüstungsdimension das Arbeitsfeld der international-multilateralen Organisationen, besonders der UNO (s.-Doyle/ Sambanis 2006, 2007; Eisele 2007; Müller 1993, S. 122 ff., 2004; Thakur 2006; Weiss/ Daws 2007, Part V, S. 287 ff.). Die politische Formulierung und die völkerrechtliche Festlegung der Ziele Frieden und Sicherheit sowie die entsprechenden organisatorischen und prozeduralen Bestimmungen nehmen in der UNO- Charta den meisten Raum ein. Die Rechtsgrundlagen für den Aufgabenbereich der Friedenssicherung sind aber nicht eindeutig: ● ● In der Charta der UNO (s.-Kap. 4.3.2) ist erstmals in der Geschichte des menschlichen Streitens ein grundsätzliches Verbot der Anwendung von Gewalt zwischen Staaten und sogar schon der Drohung damit verbindlich festgelegt (Art. 2)-- zwingend gültig für alle Mitgliedstaaten der UNO, weil sie die Charta als internationalen Vertrag unterschrieben und ratifiziert haben. Ausgenommen vom generellen Gewaltverbot ist die jedem Staat jederzeit erlaubte Selbstverteidigung gegen Akte der Aggression gegen ihn (Art. 51); was darunter im Einzelnen zu verstehen ist, hat die Generalversammlung gesondert festgestellt (A/ RES/ 3314 (XXIX) (1974)). ● ● Doch die Charta räumt das Recht auf Selbstverteidigung nicht nur einzelnen Staaten oder Verteidigungsbündnissen von Staaten ein, sondern auch allen Mitgliedstaaten zusammen als einem Kollektiv (Art. 51), was die Rechtsgrundlage gibt für ein System der »kollektiven Sicherheit« (collective security), insbesondere für Frieden erzwingende Maßnahmen nach Kapitel VII. Zugleich stellt die Charta ein klares Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten von Staaten auf (ebenfalls in Art. 2), das von der Mehrheit der Regierungen der Mitgliedstaaten in Resolutionen der Generalversammlung immer wieder betont und so noch gestärkt wurde. Allerdings wurde spätestens mit den Auseinandersetzungen über den Umgang mit rassistischen Regierungen im südlichen Afrika in den 1970er Jahren, stärker dann nach dem Ende des Kalten Krieges immer umstrittener, was innere Angelegenheiten (»within the domestic jurisdiction«) sind und was nicht mehr: Gehen z. B. grobe Menschenrechtsverletzungen oder die militärische Bekämpfung von Separatisten die Welt außerhalb des Staates, in dem sie geschehen, nichts an-- oder hat diese nicht im Gegenteil die Verpflichtung, sich einzumischen? In der UNO-Charta ist eine Begründung für eine Intervention dann am leichtesten zu finden, wenn eine akute Situation den Weltfrieden und die internationale Sicherheit bedroht. Der Sicherheitsrat hat ja das exklusive Vorrecht, überhaupt erst verbindlich festzustellen, ob eine solche bedrohliche Situation gegeben ist, die Frieden erzwingende Maßnahmen nach Kapitel VII rechtfertigt (VN-Charta Art. 39)-- etwa dass Folgewirkungen auf Nachbarstaaten durch Flüchtlingsströme oder grenzüberschreitende Operationen zu befürchten seien. Hier zeigt sich zugleich die Bedeutung der Dominanzverhältnisse im Sicherheitsrat zugunsten der ständigen Mitglieder: Diese können eine Befassung des Rates mit einem derartigen Problem in ihrem Staatsgebiet schlicht verhindern, indem sie einer Feststellung der Bedrohung nicht zustimmen. Aber mit dem Willen der ständigen Mitglieder kann eine Mehrheit des Sicherheitsrats sehr wohl auch Situationen als bedrohlich erkennen und feststellen, die beteiligte Staaten gerne ungestört als innere Angelegenheiten behandeln würden. Fast schon instinktiv bemühen sich besonders die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, dessen Spielraum möglichst offen zu halten und sich selbst durch seine Entscheidungen möglichst nicht dauerhaft festlegen oder auch nur das eigene Verhalten bemessen zu lassen. Das erklärt neben den immer möglichen Interessendisharmonien das oft beklagte Zaudern des mächtigsten UN-Gremiums. Das gilt <?page no="203"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 203 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 203 umso mehr für jede Art des Eingreifens in die Souveränität des Staates, die ihnen als Prinzip natürlich allen heilig ist. Wenn der Sicherheitsrat sich konsequent und dauerhaft einig wäre-- also alle sechs Träger einer Veto-Option, die fünf ständigen und zusätzlich die Mehrheit der nichtständigen Mitglieder-- dann könnte der Rat womöglich die Welt politisch aus den Angeln heben. Weil er immer nur gelegentlich und punktuell einer Meinung ist oder gar geschlossen eine konsequente Absicht verfolgt, sonst aber die Interessendisharmonie seiner Mitglieder keine gemeinsame Linie im Konflikt zwischen Souveränität und Intervention erlaubt, wird das nicht geschehen-- und eben deswegen wird der Sicherheitsrat weiterhin gebraucht: damit er wenigstens die nötigsten Kompromisse findet. Der erste harte Test für den Sicherheitsrat und das neue Systems der kollektiven Sicherheit war der Koreakrieg (1950-1953), den eine von den USA geführte Militärallianz unter der blauen Flagge der Vereinten Nationen führte. Nordkoreanische Truppen waren in Südkorea einmarschiert; nur weil die Sowjetunion länger als die erste Hälfte des Jahres 1950 den Sicherheitsrat mit ihrer »Politik des leeren Stuhles« boykottiert hatte, konnten dort-- unter pragmatischer Missachtung der Regel, dass alle ständigen Mitglieder zustimmen müssen (Art. 27 der VN-Charta)- - Resolutionen beschlossen werden, die diese Invasion verurteilten und alle Mitgliedstaaten ermächtigten, sie mit allen notwendigen Mittel zurückzuschlagen (nach Art. 42 der VN-Charta); China wurde damals noch durch das pro-westliche Taiwan vertreten. Damit waren sogleich gravierende Schwächen der kollektiven Friedenssicherung deutlich geworden: ● ● Der Beschluss zum Krieg zur Verteidigung Südkoreas konnte nur wegen des fragwürdigen Fehlens der Delegation einer Veto-Macht und unter Dehnung der Charta gefasst werden, seine Legitimität war also nicht eindeutig. ● ● Die in der Charta vorgesehenen eigenen Truppen der UNO konnten nicht eingesetzt werden, weil es sie nicht gab-- und nie geben sollte. ● ● Die ersatzweise beauftragte Militärallianz verfolgte ihre eigene Kriegspolitik, die von der UNO kaum noch zu beeinflussen war. Um die Handlungsfähigkeit der UNO zu sichern, versuchten noch im Jahr 1950 die USA mit der Mehrheit der westlichen Länder, die Bestimmungen der Charta mittels einer Resolution der Generalversammlung de facto zu modifizieren. Eine Charta-Änderung de jure wäre nicht nur zu umständlich, sondern wegen des zu erwartenden Widerstands der Sowjetunion unmöglich gewesen (s.-Kap. 4.3.2). Die »Uniting for Peace«-Resolution (A/ RES/ 377(V)) beanspruchte, dass die Generalversammlung eine Angelegenheit an sich ziehen und- - gegebenenfalls auch in einer Notstandssitzung- - darüber beschließen kann, wenn der Sicherheitsrat seine unbestrittene Hauptverantwortung nicht wahrnimmt, z. B. weil er durch das Verhalten eines ständiges Mitglieds blockiert ist. Zwar finden sich in der Charta einige Ansatzpunkte für die Resolution (Art. 11 und Art. 20) und auch der Internationale Gerichtshof (IGH bzw. ICJ) stärkte (beiläufig in Urteilen von 1962 und 1970) die Auffassung der Generalversammlung, aber doch bleibt die Resolution umstritten, insofern sie ein aktives Eingreifen der UNO auch dann ermöglichen würde, wenn die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats sich nicht einig sind-- was eben mit der Veto-Regelung ausgeschlossen sein sollte. Unterlaufen wäre damit die politische Logik im Sinne des Dilemmas bei Gründung der UNO (s.-Kap. 4.2.3), verhindern zu müssen, dass eine Großmacht sich nicht mehr an der Arbeit der Organisation beteiligt und sie wie den Völkerbund irrelevant macht. Andererseits könnte »Uniting for Peace« als ein früher Beispielsfall gesehen werden für die Fähigkeit der UNO, sich bei ernsthaftem Bedarf politisch, also flexibelpragmatisch auch informell zu ändern. Dass das problematische Instrument schon lange nicht mehr genutzt wurde, liegt wohl vor allem daran, dass die USA und die westlichen Länder bald ihre Mehrheit in der Generalversammlung an die neuen Staaten des Südens verloren, es also nicht mehr opportun war, diesem Hauptorgan mehr Macht zuzubilligen. <?page no="204"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 204 204 5 Internationale Regime 5.1.2.1 Streitbeilegung nach Kapitel VI und Friedenserzwingung nach Kapitel VII Wenn auch die Rechtsgrundlagen der multilateralen Friedenssicherung nicht immer eindeutig zu erfassen sind, gibt die Charta doch Abfolge und Beziehungsstruktur, in der Sicherheitsrat und andere Organe im Konfliktfall vorgehen, klar vor: 1. Staaten haben ein Problem miteinander oder schaffen sich eines, von einer Seite aus oder gegenseitig. 2. Der Generalsekretär, die Generalversammlung oder auch dritte Staaten können den Sicherheitsrat auf das Problem aufmerksam machen. 3. Der Sicherheitsrat stellt fest, dass es ein Problem gibt und untersucht es. 4a. Der Sicherheitsrat fordert die Streitbeteiligten zu Verhandlungen und/ oder zu einem bestimmten Verhalten auf und empfiehlt weitere Maßnahmen zur Lösung des Problems: friedliche Streitbeilegung nach Kapitel VI der UNO-Charta, oder: 4b. Der Sicherheitsrat beschließt Maßnahmen zur Erzwingung einer Lösung des Problems, zu deren Durchführung alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind: Erzwingung des Friedens nach Kapitel VII der UNO-Charta. Unter Kapitel VI zur friedlichen Streitbeilegung sind alle Maßnahmen möglich, die in irgendeiner Weise einen akuten Konflikt zu entschärfen oder gar zu lösen geeignet sind, von der vermittelnden Mediation über die klassische diplomatische Verhandlung bis zum streitigen Gerichtsentscheid, wobei oft schon die Organisation von Gesprächen zwischen Konfliktbeteiligten ein erster Fortschritt ist. Es hat sich als hilfreich erwiesen, dass der Generalsekretär der UNO selbst oder ein vom ihm persönlich Beauftragter rasch in »stiller Diplomatie« vermittelnd eingreift; dies wurde seit Dag Hammarskjöld auch zur wichtigsten politischen Funktion der Generalsekretäre (Chesterman 2007; Fröhlich 2005). Unter Kapitel VII zur unfriedlichen Erzwingung des Friedens (peace enforcement) ist dann auch der Einsatz gewaltsamer Methoden möglich, die einen oder mehrere Konfliktbeteiligte zum Einlenken oder zur Aufgabe nötigen können. Frieden erzwingende Maßnahmen sind zum einen die Verhängung von Sanktionen, zum anderen Drohung mit und Ausführung von militärischen Gewaltmaßnahmen-- vulgo »Krieg«. Die UNO-Charta sieht (in Kap. VII Art. 41) Sanktionen als letztes Zwangsmittel vor dem Einsatz gewaltsamer militärischer Maßnahmen (nach Art. 42) vor (s.-Schaller 2003). Sie gehören schon zu den gewaltsamen Mitteln zur Erzwingung eines bestimmten Verhaltens: teilweise müssen sie militärisch durchgesetzt werden, Blockaden z. B. durch Seestreitkräfte. Sanktionen können in den verschiedensten Formen wirksam werden; die wichtigsten sind ● ● diplomatisch: abgestufte Methoden der Druckausübung bis hin zur völligen Isolierung; ● ● militärisch: Waffen-Embargo, Seeblockaden, Flugverbotszonen; ● ● wirtschaftlich: Unterbrechung der Luft- und Seeverbindungen, Öl-Embargo, Handelsbeschränkungen wie konkrete Import-/ Export-Verbote, Finanzrestriktionen; ● ● auf konkrete Personen bezogen: Reisebeschränkungen für Regierungsmitglieder o. Ä., Beschlagnahme von Konten und Geldern, individuelle Strafverfolgung. Da die Verhängung von Sanktionen schon ein weitreichender Eingriff in die Souveränität eines Staates ist und dabei immer eine Eskalation droht, sollte sie der Sicherheitsrat einmütig beschließen. Auch deswegen richtete die UNO in der langen Zeit der Ost-West-Konfrontation nur in zwei Fällen ein Sanktionsregime ein: 1966-1979 wirtschaftliche Beschränkungen wegen der rassistischen Unterdrückung der schwarzen Mehrheit gegen Südrhodesien (heute Simbabwe) und 1977-1994 ein Waffenembargo gegen Südafrika wegen seiner rassistischen Apartheid-Politik. Seit den 1990er Jahren setzte der Sicherheitsrat das Instrumentarium unterschiedlichster Sanktionen dann in fast einem Dutzend Fällen ein, vor allem in den Konflikten auf dem Balkan und wegen der andauernden Probleme im Nahen Osten: Sanktionen wurden verhängt über den Irak, Jugoslawien, Haiti und eine Reihe afrikanischer Staaten, darunter auch <?page no="205"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 205 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 205 Ruanda und Sudan, sowie über Afghanistan; Libyen stand schon zweimal auf der Liste, ab 1992 wegen der Unterstützung von Terrorismus und 2011 zum Schutz der aufständischen Opposition. Schutz der Bevölkerung oder von Minderheiten in Bürgerkriegen und Terrorismusabwehr waren bisher die Begründungen für den Einsatz von Sanktionen. Neuere Fälle von UN-Sanktionsregimen, zu deren Errichtung der UN-Sicherheitsrat in mindestens einer Resolution das Mandat beschlossen und für die er jeweils einen gesonderten Sanktionsausschuss (sanctions committee) zur Regelung und Überwachung eingerichtet hat (s.- http: / / www.un.org/ sc/ committees), sind Al Qaida/ Taliban (in Afghanistan), Elfenbeinküste, Republik Kongo und Volksrepublik Kongo, Iran, Irak, Libanon, Liberia, Libyen, Sierra Leone, Somalia und Sudan. Alle unterliegen militärischen Einschränkungen (Waffenembargo, keine technische Unterstüt- Staat A Staat B »Streitigkeiten« Art. 34: der SR kann jede Streitigkeit und jede strittige Situation untersuchen, um festzustellen, ob deren Fortdauer die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte Art. 33: der SR fordert die Parteien auf, ihre Streitigkeit beizulegen durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl Art. 36: der SR gibt Empfehlungen zum Verfahren Sicherheitsrat Art. 24: hat die »Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« Generalsekretär Art. 99: der GS kann die Aufmerksamkeit des SR auf jede Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit lenken Staat C Art. 35: kann die Aufmerksamkeit des SR oder der GV auf jede Streitigkeit oder Konfliktsituation lenken UN-Generalversammlung Art. 11: die GV kann Empfehlungen an die betreffenden Staaten oder den SR richten Art. 12: die GV darf keine Empfehlungen abgeben, sofern der SR befaßt ist → »Uniting for Peace« Abb. 4: Der politische Prozess der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten nach Kapitel VI der UNO-Charta <?page no="206"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 206 206 5 Internationale Regime zung u. Ä.); Elfenbeinküste, Volksrepublik Kongo, Iran, Irak müssen Einschränkungen ihres Handels hinnehmen; mit Ausnahme von Somalia sind in alle Fällen Reisebeschränkungen und Finanzsanktionen für aufgelistete Einzelpersonen und Institutionen angeordnet. Sanktionen werden in der Regel vom Sicherheitsrat ausgesprochen, der dafür nach der UNO-Charta die Hauptkompetenz hat (Art. 41); Sanktionen können aber auch von einzelnen Ländern oder Regionalorganisationen wie der EU verhängt werden, sofern sie nicht wie z. B. Seeblockaden Gewaltmaßnahmen im Sinne von Kapitel VII der UNO-Charta umfassen; ein einseitiges »Embargo« kann z. B. bedeu- Art. 39: der SR gibt Empfehlungen ab oder beschließt Maßnahmen nach Art. 41 und 42 → Art. 41: Sanktionen »unter Ausschluss von Waffengewalt« → Art. 42: Maßnahmen »mit Luft-, See- oder Landstreitkräften« Art. 39: der SR »stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt« Art. 51: der angegriffene Staat hat das Recht zur (auch gewaltsamen) individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der SR die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat Sicherheitsrat Art. 24: hat die »Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« Generalsekretär Art. 99: der GS kann die Aufmerksamkeit des SR auf jede Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit lenken andere UN-Mitgliedstaaten Art. 43: sollen dem SR auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen Art. 49: leisten dabei einander gemeinsam handelnd Beistand Staat A Agressor Staat B Opfer der Aggression »Angriffshandlungen« »Bedrohung oder Bruch des Friedens« Abb. 5: Der politische Prozess zu Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen nach Kapitel VII der UNO-Charta <?page no="207"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 207 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 207 ten, dass ein Staat dem sanktionierten Staat keine Waffen mehr liefert und/ oder jede technische Unterstützung für frühere Lieferungen einstellt. Zumal alle wirtschafts- und handelspolitischen Sanktionsmaßnahmen können jeweils auch in Konflikt geraten mit internationalen Abkommen und Regimen, die entsprechende einseitige Restriktionen grundsätzlich verhindern sollen-- wobei im Einzelfall abgewogen werden muss, was Vorrang hat. Sanktionen scheinen also ein probates Mittel zu sein, um Regierungen von Fehlverhalten abzubringen, formal leicht zu verhängen, einfach umzusetzen und praktisch potentiell sehr wirkungsvoll-- wenn sie der Lage angemessen konzipiert und politisch ernst gemeint auch von allen Staaten mitgetragen werden. Das größte Problem bei schnell und effizient wirkenden wirtschaftlichen Sanktionen ist meist, dass sie die breite Bevölkerung eines Landes viel härter treffen als die herrschenden Eliten und das Regierungspersonal; manche Staatsfunktionäre können unter bestimmten Umständen sogar von Sanktionsmaßnahmen profitieren. Eine ähnliche Gefahr ist, dass zu vage zugeschnittene Sanktionen auch Nachbarländer stark schädigen, manchmal sogar mehr als den Staat, den sie treffen sollten. »[…] Sanktionen haben sich bislang als unterschiedlich wirkungsvoll dabei erwiesen. […] In einigen Fällen wurden bestenfalls nur geringfügige Anstrengungen unternommen, um den Sanktionsvollzug zu überwachen und durchzusetzen. In vielen Fällen hat es die internationale Gemeinschaft verabsäumt, Nachbarländern Hilfe zu gewähren, die dadurch, dass sie den Sanktionsvollzug sicherstellen, den Löwenanteil der Verluste hinnehmen müssen und daraufhin die Sanktionsordnung durchlässig werden ließen. […] Richten sich massive und umfassende Wirtschaftssanktionen gegen autoritäre Regime, […] leidet […] gewöhnlich das Volk unter den Sanktionen und nicht die politischen Eliten, deren Verhalten sie überhaupt ausgelöst hat. Oft ist es konträrerweise sogar so, dass die Machthaber Nutzen aus solchen Sanktionen ziehen, weil sie die Schwarzmarkttätigkeit kontrollieren und davon profitieren können und weil sie die Sanktionen als Vorwand benutzen, um im Inland die politischen Oppositionsherde auszuschalten. […] Da sich Wirtschaftssanktionen als ein so stumpfes und sogar kontraproduktives Werkzeug erwiesen haben, [ist zu fragen] wie diese Sanktionen gezielter und damit intelligenter eingesetzt werden können.« Kofi Annan, Generalsekretär der UNO, 1997-2006 (Millenniumsbericht, UN Doc. A/ 54/ 2000, § 230 f.) Besonders die langjährigen Sanktionen gegen den despotisch geführten Irak nach dem zweiten Golfkrieg (1990/ 91) ließen massive Zweifel entstehen, ob derart undifferenzierte und flächendeckende Maßnahmen überhaupt zielführend sein können; zumal das berüchtigte »Ölembargo«, das Förderung und Export regulierte, wurde scharf kritisiert, auch als korruptionsgefährdet: Die eigentlich gemeinten Täter würden meist verfehlt, andere Gruppen und die breite Bevölkerung fälschlicherweise bestraft und in die Armut getrieben (s.-Sponeck 2005). Aber auch für andere Fälle ist zu bezweifeln, dass breite und undifferenzierte Sanktionsregime zu verantworten sind, zumal wenn nicht nur die Rechte, sondern auch das Selbstwertgefühl der Bevölkerung dauerhaft verletzt werden-- das Vertrauen in internationale Zusammenarbeit und gegenüber deren Institutionen schwindet dann rasch. Wenn die Verhängung von Sanktionen faktisch wirkungsvoll sein soll und nicht nur ein-- möglicherweise für sich schon politisch wichtiger-- symbolischer Akt, müssen sie zielgenau gewählt und kombiniert werden und ihre Einhaltung muss konsequent überwacht werden: Das meint keineswegs nur den Staat, gegen dessen Regierung sich die Maßnahmen richten, sondern auch andere Regierungen, damit sie nicht die Sanktionsmaßnahmen unterlaufen oder es zulassen, dass ihre Staatsbürger das tun, um wirtschaftlich Profit zu machen. Unter dem Schlagwort der »smart sanctions« wird versucht, differenzierte und treffgenaue Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen; das Mandat des Sicherheitsrats (S/ RES/ 1306 (2000)) zu Sierra Leone gilt als erster Versuch, »intelligente« Sanktionen zu verhängen, durch die der Diamantenhandel und seine Profiteure, also direkt die am Konflikt Interessierten, getroffen werden. <?page no="208"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 208 208 5 Internationale Regime Ein möglicherweise entscheidendes Instrument, um Sanktionen glaubwürdig zu verstärken und zu ergänzen, kann die sich rasch entwickelnde internationale Strafgerichtsbarkeit werden (s.- Kap. 5.2.3): Wenn Individuen nun vor einem ordentlichen Gericht persönlich haftbar gemacht werden können für Verbrechen, die sie als Staatsfunktionäre begangen oder zu verantworten haben, steigert dies das Risiko für das herrschende Personal deutlich. Wenn Sanktionen nicht ausreichen, bleiben noch die härteren militärischen Optionen, von punktuellen Luftschlägen zur Ausschaltung spezieller Ziele über systematische Luftangriffe zur Durchsetzung einer Flugverbotszone oder der Bekämpfung von Raketenstellungen bis zum breiten Kampfeinsatz von Bodentruppen. Aber der UNO wurden dafür keine eigenen Truppen in eigenständiger rechtlicher und faktischer Verfügung gegeben; sie hat selbst weder Ausrüstung und Waffen noch die nötigen Kommando- und Kommunikationsstrukturen. Zwar dachten die kriegsgeprägten Verfasser der UNO-Charta bei der Sicherung des Friedens zuallererst an militärische Mittel, doch wurden deren Bestimmungen (Art. 43-47: Sonderabkommen, Generalstabsausschuss u. a.) über eigenständige militärische Strukturen der UNO nie realisiert, was zunächst am rasch eskalierenden Ost-West-Gegensatz lag. Aber letztlich würde bis heute kein mächtiger Staat einen Vorteil darin sehen, offenkundig auch nicht die den Sicherheitsrat führenden ständigen Mitglieder: Die meisten Staaten wollen ihr Militär unter der eigenen Kontrolle halten. Also gibt es keine eigentlichen »UN-Soldaten« und schon gar keine irgendwie geartete »Weltarmee«, es gibt nur-- und das ist manchmal schon ein großer Erfolg-- nationale Truppen souveräner Staaten, die von diesen für einzelne Einsätze der UNO auf Zeit zur Verfügung gestellt werden, aber nicht einmal unmittelbar von UN-Instanzen kommandiert werden. Zur Durchführung seiner Mandate hat der Sicherheitsrat nur zwei Möglichkeiten: Er kann eine Gruppe von Staaten, die dazu von sich aus bereit sind (»coalition of the willing«), beauftragen oder auch eine Regionalorganisation wie die Europäische Union (EU), die Afrikanische Union (AU) oder die als Militärbündnis ohnehin dafür prädestinierte NATO; diese Optionen zum Delegieren der Verantwortung für die Erfüllung eines UN-Mandats sind auch in Kombination oder in zeitlicher Abfolge möglich. Bei Einsätzen, die insgesamt von einer solchen »Koalitionen der Willigen«, einem Bündnis oder einer Regionalorganisation übernommen werden, bleiben die einzelnen Truppen unter dem Kommando des Truppen stellenden Staates, das sich bestenfalls dem des jeweiligen anführenden Staates unterstellt. Kriegseinsätze nach Kapitel VII gab es entsprechend wenige, nur den Krieg in Korea 1950-1953 und den Einmarsch in den Irak nach dessen Aggression gegen Kuwait 1991; der Luftkrieg gegen Jugoslawien 1999 ist umstritten, weil er nicht rechtzeitig vom Sicherheitsrat mandatiert war; die seit 2001 anhaltende Intervention in Afghanistan ist ein besonderer Fall, weil sie weniger gegen den betroffenen Staat gerichtet war als gegen eine bestimmte Machtgruppe in einer Bürgerkriegssituation; für den Krieg gegen den Irak 2003 versuchten die USA vergeblich, ein Mandat des UN-Sicherheitsrats zu erhalten. Der Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien im Herbst 1999 war nicht durch ein Mandat des Sicherheitsrats (oder der Generalversammlung i. S. von »Uniting for Peace«) legitimiert, war also schlicht ein Bruch des Völkerrechts, nämlich des Gewaltverbots und des Interventionsverbots. Der Einsatz war als »humanitäre Intervention« begründet in massiven Menschenrechtsverletzungen an der albanischen Bevölkerung im Kosovo, aber im Sicherheitsrat war wegen prinzipieller Bedenken der Russischen Föderation und der VR China, denen ja ihrerseits systematische Menschenrechtsverletzungen gegen Minderheiten vorzuwerfen sind, keine Mehrheit für ein militärisches Eingreifen zu erreichen gewesen; ein denkbarer Umweg über »Uniting for Peace« hätte gedauert. Ungeachtet des Bemühens, die Rechtsverletzung nachträglich mit einem Mandat des Sicherheitsrats zu heilen (Eisele 2007, S. 151), hat diese politische, rechtliche und moralische Zwangslage die weltweite Debatte über die Notwendigkeit humanitärer Intervention (humanitarian intervention) oder dann das Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect) motiviert und beschleunigt (s.-Kap. 5.1.3). <?page no="209"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 209 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 209 Der Militäreinsatz durch eine Koalition unter Führung der USA in Afghanistan nach den Terroranschlägen in den USA von 2001 beseitigte die Regierung der sog. Taliban; der Sicherheitsrat hatte dazu die ISAF-Schutztruppe (International Security Assistance Force) als Sicherheits- und Aufbaumission autorisiert (S/ RES/ 1386 (2001)). Seitdem wird unter NATO-Führung und mit aktiver Beteiligung der deutschen Bundeswehr und in Zusammenarbeit mit der anerkannten afghanischen Regierung versucht, das Land zu stabilisieren. Die komplementäre UN-Mission in Afghanistan (UNAMA/ United Nations Assistance Mission in Afghanistan; S/ RES/ 1401 (2002)) soll seit 2002 humanitäre Hilfe, sozioökonomische Entwicklung und den Aufbau politischer Strukturen unterstützen. Auch wenn dies alles rechtlich mit Kapitel VII begründet wurde, handelt es sich nicht um ein klassisches Mandat zur Friedenserzwingung, sondern um eine eigene Form des Eingreifens, die zum Teil auf Konzepten und praktischen Erfahrungen der sogenannten Friedenswahrung (peace keeping) aufbaut, die sich bald nach Gründung der UNO gewissermaßen zwischen Kapitel VI und VII zu entwickeln begonnen hatten. 5.1.2.2 Friedenswahrung/ peace keeping (nach »Kapitel Sechseinhalb«) Von den weit über 200 kriegerischen Konflikten seit 1945 waren nur ein knappes Fünftel klassische internationale Kriege (z. B. wegen Grenzstreitigkeiten); viele waren Entkolonialisierungskriege, die meisten waren und sind innerstaatliche Kriege, die als religiös, ethnisch und/ oder sezessionistisch motiviert gelten oder sich gegen eine Regierung bzw. gegen die sie beherrschende Gruppe richten. In Europa und auch in Lateinamerika fanden kaum noch Kriege statt, einige im Nahen Osten, viele in Afrika und kaum weniger in Asien (http: / / www.sozialwiss.uni-hamburg.de/ publish/ Ipw/ Akuf ). »Once synonymous with the defence of territory from external attack, the requirements of security today have come to embrace the protection of communities and individuals from internal violence.« Kofi Annan, Generalsekretär der UNO, 1997-2006 (Bericht des GS; Doc. A/ 54/ 2000, 27. März 2000; S. 194) Für diese neue Art kriegerischer Konflikte bieten das klassische Konzept der kollektiven Sicherheit und also auch die UNO-Charta kaum Regeln und Instrumente. Um dieses Defizit zu verstehen, muss man wieder die historischen Ausgangsbedingungen von 1945 und die folgenden Entwicklungen bedenken: In der Gründungsphase der UNO, zeitgleich mit der entscheidenden Phase des bis dahin schlimmsten und größten konventionellen Krieges zwischen vielen Staaten, dachte kaum jemand an die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von gewaltsam und mit militärischen Waffen ausgetragenen Konflikten von internationaler Bedeutung, die nicht oder nicht nur zwischen Staaten geführt werden. Zwar kannte man Revolutions- und Bürgerkriege, aber die waren eher Sonderfälle, die auf das betroffene Land begrenzt blieben; so hatte z. B. der spanische Bürgerkrieg 1936-1939 aus ideologischen Gründen und wegen der aktiven Beteiligung ausländischer Kämpfer eine starke internationale Komponente, blieb aber doch ein spanisches Problem. Aber schon die bald nach der Gründung der UNO einsetzenden gewaltsamen Konflikte zur Abschüttelung überkommener kolonialer Herrschaft (z. B. in Indien), die aus der Dekolonisation resultierenden Konflikte zur Machtabgrenzung und -konsolidierung nach innen und außen (Indien/ Pakistan/ Bangladesh und die vielen Konflikt im postkolonialen Afrika) oder die aus anderen Motiven gespeisten Bürgerkriege/ »neuen Kriege«/ »asymmetrischen Kriege« u. Ä. passen nicht mehr in das alte Schema des internationalen Krieges. Wenn die Konflikte gar zur andauernden Schwächung oder sogar zum völligen Versagen eines Staates führen, dessen Funktionen von konfliktbeteiligten Gruppen privatisiert werden (z. B. Somalia, Afghanistan), stellen sich ganz andere Sicherheitsprobleme als z. B. im Falle einer Besetwww.claudia-wild.de: <?page no="210"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 210 210 5 Internationale Regime zung eines konventionell besiegten Staates. Noch andere Herausforderungen liefern transnational operierende Terroristen, die im Extremfall Kriege auslösen können (und sei es nur als Vorwand), aber mit Krieg nicht erfolgreich bekämpft werden können. Doch die UNO-Charta basiert mit ihren klassischen Kapiteln VI und VII auf der alten Vorstellung des Konflikts bzw. des Krieges zwischen souveränen Staaten; sie bietet vermittelnde »weiche« Maßnahmen zur friedlichen Streitbeilegung (Kap. VI: Art. 33-38) einerseits, abgestufte »harte« und auch gewaltsame Maßnahmen zur Erzwingung des Friedens im Sinne des Gedankens der kollektiven Sicherheit (Kap. VII: Art. 39-51) andererseits-- aber alles ausgerichtet auf streitende Staaten. Dazwischen fehlen also Optionen, wie bald in der Praxis der Verhandlungen und Resolutionen im Sicherheitsrat deutlich werden sollte. Es war jedoch ein eher noch herkömmlicher Konflikt, der aber schon Merkmale der neu entstehenden Probleme zeigte, in dem begonnen wurde, diese Lücke pragmatisch auszufüllen. Im Suez-Konflikt 1956 (Volger 2008, S. 104 ff.) war der Weltfriede äußerst gefährdet, weil neben den Kontrahenten Ägypten und Israel die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, beide ja auch Atommächte und ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, mit eigenen Truppen engagiert waren; die Sowjetunion drohte sogar mit einem Einsatz von Atomwaffen. Der kanadische UN-Delegierte Lester Pearson griff einen von den Briten nebenbei vorgebrachten Vorschlag auf, dass UN-Truppen statt der britischen und französischen die israelischen und ägyptischen Truppen trennen könnten, und arbeitete diese Idee mit Generalsekretär Dag Hammarskjöld und anderen Delegationen aus; die Initiative hatte durchschlagenden Erfolg: Die Notstandsitzung der Generalversammlung beauftragte Hammarskjöld, schleunigst ein Konzept vorzulegen und stimmte der Idee (A/ RES/ 1000 (ES-I), 1956) und dem Konzept (A/ RES/ 1001 (ES-I), 1956) ohne Gegenstimmen zu, allerdings unter Enthaltung der Sowjetunion. Für die weitere Entwicklung bedeutsam war weniger, dass der Beschluss als einer der wenigen Anwendungsfälle von »Uniting for Peace« (s.- Kap. 5.1.2) am von Frankreich und Großbritannien blockierten Sicherheitsrat vorbei erfolgte, sondern dass die Generalversammlung eine neuartige, in der Charta nicht vorgesehene Maßnahme beschloss-- den ersten Einsatz von »Blauhelmen« (»blue helmets«): Das Mandat der UNEF-Mission war es, mit Zustimmung der Konfliktparteien den Waffenstillstand zu sichern, die Ordnung aufrechtzuerhalten und eine friedliche Streitbeilegung zu fördern; sie sollte jedoch keine politischen oder administrativen Funktionen ausüben. Diese erste internationale Noteinsatz-Truppe wurde von Staaten gestellt, die nicht Mitglieder des Sicherheitsrats waren; die Truppen stellenden Staaten sollten Ausrüstung und Sold übernehmen, die übrigen Kosten waren außerhalb des regulären Haushalts der UNO gesondert von den UN-Mitglieder zu tragen. Das Konzept, Soldaten nicht zum Kämpfen, sondern zum Verhindern des Kämpfens einzusetzen, war neu; seither versteht man unter UN-Friedenstruppen oder »Blauhelmen« militärische Formationen aus multinational zusammengesetzten Truppenkontingenten, die mit Zustimmung der am Konflikt Beteiligten in einem Krisengebiet stationiert werden, um dort kurzfristig einen Waffenstillstand zu sichern oder den Ausbruch von Feindseligkeiten zu verhindern; der Aufgabenkatalog wurde fast mit jedem späteren Mandat-- normalerweise vergeben vom Sicherheitsrat-- erweitert, sodass sie inzwischen auch längerfristig ein sicheres Umfeld für den Einsatz weiterer multinationaler Instrumente zur Sicherung und Wiederherstellung des Friedens schaffen sollen (Eisele 2007, S. 136). Als Grundlage für das peace keeping-Konzept nannten seine Entwickler ein fiktives »Kapitel Sechseinhalb«, weil es sachlogisch zwischen Kapitel VI und VII hängend Elemente aus beiden kombiniert, dadurch aber ein eigenständiges Instrumentarium begründet. Ungeachtet dieser von Generalsekretär Dag Hammarskjöld selbst geprägten Redeweise vom dazwischen-gedachten und ungeschriebenen »Kapitel Sechseinhalb« mussten sich die Resolutionen des Sicherheitsrats zwangsläufig an konkrete Artikel der geltenden Kapitel VI und VII halten. Die entscheidende Rechtsgrundlage für die Autorität des Sicherheitsrats und seine Kompetenz zur Verhängung von Maßnahmen bleibt dessen Definitionsmacht zur Feststellung der Bedrohung des Weltfrieden oder der internationalen Sicherheit (nach Art. 34 bzw. 39). <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 211 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 211 Nach den Bestimmungen von Kapitel VI darf die UNO politisch wie militärisch in einem Krisengebiet nur dann unter strikter Einhaltung von Unparteilichkeit und Neutralität aktiv werden, wenn die Konfliktparteien zuvor zugestimmt haben. Das führte zu der Regel, dass »Blauhelme« fast ungeschützt gegen Feindseligkeiten irgendeiner Konfliktpartei arbeiteten, weil sie nur leicht bewaffnet und mit ungepanzerten Fahrzeugen unterwegs waren. Gewalt durften sie nur als letztes Mittel zur Selbstverteidigung anwenden, denn für ein härteres Vorgehen wäre ein Beschluss des Sicherheitsrats auf der Grundlage von Kapitel VII nötig gewesen. Die Kriterien für die Maßnahmen und für Art und Ausmaß der Mandate für den Frieden wahrende Operationen (peace keeping) sind in der Charta jedoch nicht festgelegt und blieben also der evolutionären Entwicklung mittels der Resolutionen des Sicherheitsrats überlassen, sodass das virtuelle »Kapitel Sechseinhalb« in jeweils neuen Konfliktfällen durch neue Resolutionen des Sicherheitsrats weiterentwickelt werden konnte. Dies geschah allerdings keineswegs zielstrebig aufgrund eines kohärent geplanten Konzepts, sondern wurde meist in einer akuten Situation kurzfristig in Kompromissen ausgehandelt, oft aus politischen Interessenlagen und Machtkonstellationen heraus, die zudem nicht einmal mit dem zu lösenden Problem zu tun haben mussten. »Der Sicherheitsrat beweist seine generelle Scheu, auf militärische Mittel zur Friedenssicherung zurückzugreifen häufig, indem er zu Beginn eines Engagements zumeist nur wenige »Blauhelme« in das jeweilige Krisengebiet entsendet. Erst unter dem Druck der Verhältnisse, wenn sich klar abzeichnet, dass eine lediglich symbolische Präsenz der UN keine Wirkung im Sinne einer Eindämmung des Konfliktes oder einer De-eskalation der Krise bewirken kann, bemüht sich der Rat zögerlich um quantitative Nachbesserung.« Manfred Eisele, beigeordneter UN-Generalsekretär (Peace-Keeping Operations) 1994-1998 (2007, S. 141) Die UN-Präsenz in Sierra Leone z. B. stieg von 210 Militärbeobachtern in 1999 (UNOMSIL/ UN Observer Mission in Sierra Leone) im selben Jahr weiter auf 6 000 überforderte »Blauhelm«-Soldaten (UNAMSIL/ UN Assistance Mission in Sierra Leone) bis auf letztlich 17 500 in 2001, die sich dann endlich durchsetzen und den Krieg beenden konnten. Der Sicherheitsrat tastete sich wie in diesem Fall meist vorsichtig und anfangs oft zaudernd an problematische Situationen heran, was aus militärischer Perspektive die Missionen durchaus schwieriger machte, ihren Erfolg mindern konnte und vor allem das eingesetzte Personal gefährdete (Eisele 2007, S. 140 ff.). Statt den politischen Auftrag und den militärischen Aufwand stückchenweise zu erweitern, wäre oft ein entschiedeneres und kraftvolleres Mandat von Anfang an zu empfehlen gewesen. Nachträgliche Verstärkungen einer Einsatztruppe können noch rasch entschieden und wirksam werden, politisch-inhaltliche Nachbesserungen des Mandats zugunsten einer höheren Flexibilität des Einsatzes sind schon schwieriger. »Die Annahme des Sicherheitsrates, man könne im Falle einer krisenhaften Entwicklung der Lage im Einsatzgebiet nachträglich den Schutz der ›Blauhelme‹ verstärken und ihnen außerdem mit gleicher Verspätung die Befugnis erteilen, ihre leichten Waffen zur Durchsetzung ihres Auftrages zu verwenden, hat sich in allen Krisengebieten als unhaltbar erwiesen. Auch die Zuführung schwerer Waffen, um im Nachhinein die Erfolgsaussichten der Friedensmission zu verbessern, schlug fast immer fehl. Die unverzichtbare vorherige Ausbildung der jeweiligen ›Blauhelm‹-Kontingente an solchen Waffen konnte im Einsatz nicht geleistet werden. Das Versagen der UN in Ruanda und Srebrenica stehen als traurigste Beispiele für solche schwerwiegenden Fehler des Sicherheitsrates.« Manfred Eisele, beigeordneter UN-Generalsekretär (Peace- Keeping Operations) 1994-1998 (2007, S. 141) <?page no="212"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 212 212 5 Internationale Regime Auch wenn die Fehler und Schwächen von Friedensmissionen fast immer auf politische Gründe und dahinter auf die Interessen der einflussreichen Mitglieder des Sicherheitsrats zurückzuführen sind, beobachten die für die Organisation und Durchführung von »Blauhelm«-Einsätzen verantwortlichen UN- Mitarbeiter (zumal in der zuständigen Abteilung DPKO im Sekretariat) die erkannten (Fehl-)Entwicklungen sehr genau, um sie zumindest für weiterführende Empfehlungen (wie oft in internationalen Kooperationen gerne als »lessons learned«-Listen zusammengefasst) auszuwerten. Nach einigen problematischen und z.T. schon traumatischen Erfahrungen (auf dem Balkan und in Afrika) erschien im Jahr 2000 der gewichtige und vielbeachtete »Brahimi-Bericht« (Report of the Panel on United Nations Peace Operations, UN Doc. A/ 55/ 305-S/ 2000/ 809) zur Reform des peace keeping; seine zahlreichen, meist detaillierten und mit erfahrenen Praktikern abgesprochenen Empfehlungen richteten sich an den Sicherheitsrat: ● ● Die Mandate für die Friedensmissionen sollen sich auf eindeutig formulierte und mit den der UNO zur Verfügung stehenden Mitteln auch erreichbare Handlungsziele konzentrieren; konkrete Mandate müssen entsprechend klar formuliert sein und die operativen Ziele deutlich machen. ● ● Ein Versuch zur Friedenssicherung muss im jeweils gegebenen Konflikt und dessen Problemstruktur eine realistische Möglichkeit mit konkreten Erfolgschancen sein. ● ● Insbesondere müssen alle wichtigen am Konflikt beteiligten Parteien dem Auftrag an die UNO zustimmen und deren Mandat und Rolle bei der Konfliktbewältigung politisch akzeptieren. ● ● Der Sicherheitsrat muss für die Durchführung des Mandats ausreichende Mittel (Truppen, Gerät, Logistik und Transport) genehmigen; insbesondere muss der Ausbildungstand des Personals (Soldaten, aber auch zivile Polizisten) wie auch deren persönliche Ausrüstung ihrer Aufgabe angemessen sein. ● ● Dies alles muss für eine ausreichend lange Zeit gewährleistet sein. Empfehlungen zu Reform und Ausbau von Organisation, personeller Ausstattung und Führungsstruktur des peace keeping-Apparats der UNO unterlegen diese politischen Forderungen. Die Ergebnisse des Brahimi-Berichts sind von den meisten Mitgliedstaaten begrüßt und-- verglichen mit dem Schicksal der Empfehlungen anderer hochrangiger politischer Berichte-- in hohem Maß umgesetzt oder wenigstens als Kriterien für Korrekturen der Praxis wirksam geworden; der Sicherheitsrat zeigt seitdem zumindest eine bessere Disziplin bei der Ausgabe und Bestimmung von Mandaten im Sinne des so wieder weiter entwickelten »Kapitels Sechseinhalb«. Wie schon zu ihrer Entstehung ist für eine Weiterentwicklung der Methoden der internationalen Friedenseinsätze manchmal eine unkonventionelle oder gar regelverletzende Entscheidung nötig: 1994 hatte sich Dänemark entschlossen, gegen die UN-Richtlinien zum Schutz seines Kontingents in Bosnien- Herzegowina eine Kompanie Leopard-I-Kampfpanzer einzusetzen, die sich sehr rasch Respekt verschaffen und damit der Mission entscheidend zum Erfolg verhelfen konnten (nach Eisele 2007, S. 143 ff.); der dänische Alleingang wurde zwar vielfach gescholten, markiert aber einen sehr wichtigen Wandel zu Friedensmissionen mit »robusten« Mandaten, die nur mehr auf der Basis von Kapitel VII vergeben werden konnten: Den »Blauhelmen« wurde nun erlaubt, sich selbst und auch gefährdete Dritte mit wirksamen Waffen zu verteidigen, notfalls auch offensiv; damit war eine lange Zeit eingehaltene Schamgrenze durchbrochen, indem akzeptiert wurde, dass auch UN-Friedenstruppen in bestimmten Situationen nicht nur neutral Konflikte abpuffern, sondern auch aktiv eingreifen dürfen; damit entsteht immer die Gefahr, dass die »Blauhelme« entgegen ihrem eigentlichen Auftrag der schlichtenden Friedenssicherung zur Konflikt- und Kriegspartei werden, was auch staatliche Souveränitätsrechte verletzen kann. Immerhin mussten die Truppen der ersten »robusten« Friedensmission (UN Transitional Administration for Eastern Slavonia, Baranja and Western Syrmium, UNTAES, 1996-1998) keinen einzigen Schuss abgeben, um erfolgreich die von Serben kriegerisch besetzte Provinz friedlich in den Staatsverband Kroatiens zurückzuführen. <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 213 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 213 Ein weiteres Instrument der aktiven Friedenssicherung, das die Charta nicht vorsieht, ist der Einsatz ziviler Polizeikräfte; dies vertieft das Sicherheitskonzept der komplexer werdenden Friedensmissionen wesentlich. Erstmals wurden fast 200 zivile Polizeibeamte 1964 auf Zypern (UNFICYP) stationiert; in Bosnien-Herzegowina verfügte die International Police Task Force (IPTF) z. B. über mehr als 2 000 unbewaffnete Zivilpolizisten. Die Aufgabe ziviler Polizei ist es, in enger Zusammenarbeit mit den »Blauhelmen« Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, Hilfe zu leisten oder zu vermitteln, frühere Kämpfer zu entwaffnen und wieder in das zivile Leben zu integrieren, Flüchtlinge und Vertriebene zurückzuführen, die Räumung von Minen zu organisieren; aber auch über die eigentliche polizeiliche Arbeit hinausgehende Aufgaben können ihnen zugemutet werden, z. B. rechtsstaatliche Grundsätze vor Ort einzuführen und durchzusetzen, freie Wahlen vorzubereiten und ihre korrekte Abhaltung zu überwachen, Wiederaufbauprogramme zu sichern u. v. m. Ein einziges Mal wurde bislang ein weiteres innovatives Instrument eingesetzt, das potentiell geeignet wäre, Krieg, Zerstörung und Verluste von Menschenleben zu vermeiden, allerdings hohe Kosten bringt-- auch politisch: Die präventive Stationierung von Friedenstruppen in einem oder um ein Krisengebiet, um die gewaltsame Eskalation eines Konflikts von vorneherein zu verhindern. Ein solches Mandat setzt den klaren und einvernehmlichen politischen Willen des Sicherheitsrats voraus, um schon vor einem manifesten Bruch des Friedens eine Mission oder gar eine Intervention durchzusetzen und durchzuhalten. In Mazedonien funktionierte das 1995-1999 als Abwehr serbischer Eingriffe nur durch die Anwesenheit von ca. 1 500 »Blauhelmen« gut (UN Preventive Deployment Force in the Former Yugoslav Republic of Macedonia/ UNPREDEP)- - bis die Vetomacht VR China eine Verlängerung des Mandats ablehnte, weil die mazedonische Regierungen diplomatische Beziehungen zur Republik China (Taiwan) aufgenommen hatte, die aus Pekinger Sicht nur eine abtrünnige Provinz ist. Grundsätzlich wäre präventive Diplomatie bzw. präventives peace keeping vor der Ausbreitung einer Konflikt- und Gewaltdynamik langfristig die richtige, sinnvolle und schonende Strategie, ihre Nutzen liegt aber in einer möglichen Zukunft und deren Antizipation gelingt im kurzfristigen politischen Geschäft der Gegenwart selten. Auch für eine Beurteilung der Anstrengungen der UNO zur »Friedenswahrung« erweist sich selten diese selbst oder ihre immer »reformbedürftigen« Strukturen und Arbeitsweisen als das Problem, meist ist es die Regierungspolitik ihrer-- zumal der wichtigsten-- Mitgliedstaaten. Die peace keeping-Einsätze konnten zu oft die hohen Erwartungen, die in sie und damit in »die UNO« gesetzt wurden, nicht erfüllen: Das lag aber fast immer an der unzureichenden Beurteilung, Konsensfindung und Handlungsbereitschaft des Sicherheitsrats und seiner Mitglieder, zumal der ständigen (Eisele 2007, S. 139 ff.)-- also nicht am Instrumentarium und selten an Fehlern der »blauen« Einsatztruppen: ein »Blauhelm«-Einsatz kann nur so erfolgreich sein, wie es sein Mandat und seine Ausstattung erlauben. »Während die militärisch organisierte Verteilung der Nothilfe tatsächlich ein Ende der Hungersnot herbeiführte, weshalb UNOSOM I als voller Erfolg anzusehen ist, scheiterte der weiter gehende Versuch, aus Somalia einen demokratischen Rechtsstaat zu machen so total, dass der Sicherheitsrat sein eigenes Engagement schließlich abbrach und die Mission UNOSOM II beendete. Die Ursache des Versagens dieser Friedensoperation lag weitgehend bei mächtigen Mitgliedstaaten. Statt sich aber zu ihren eigenen offensichtlichen Fehlern zu bekennen, beschuldigen sie seither zumeist die UN, gescheitert zu sein und versagt zu haben. Dieser Vorwurf des Scheiterns belastet seither das Bemühen der UN um erfolgversprechende Friedenssicherung.« Manfred Eisele, beigeordneter UN- Generalsekretär (Peace-Keeping Operations) 1994-1998 (2007, S. 140 f.) Zwei reine Beobachtungs-Missionen (durch »Blaumützen«/ »blue berets«) ohne Einsatztruppen waren die ersten den Frieden schützenden Aktivitäten im Namen der UNO: 1948 UNTSO in Palästina/ Israel und 1949 UNMOGIP in Indien/ Pakistan; beide relativ kleine Missionen scheinen ihre Aufgaben stetig und <?page no="214"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 214 214 5 Internationale Regime vielleicht durch ihre bloße Existenz zu erfüllen, denn sie sind bis heute aktiv. Seit jenem ersten Einsatz (UNEF in 1956) sind Dutzende »Blauhelm«-Missionen mehr oder weniger erfolgreich eingesetzt und vollzogen worden: Nur knapp 20 in den vier Jahrzehnten bis zum Ende der Ost-West-Konfrontation, seit dem schon über 40 weitere. Von den abgeschlossenen »Blauhelm«-Einsätzen haben die meisten ihr Mandat erfüllt, wenn auch nicht immer die mit ihnen verbundenen Erwartungen; einige wie der in Namibia (UN Transition Assistance Group/ UNTAG, 1989/ 1990) gelten als vorbildlich erfolgreich, sehr wenige wie der zweite in Somalia von 1992 (UNOSOM II) als katastrophal gescheitert. Die »UN Peacekeeping Missions« werden administrativ vom DPKO (Department of Peacekeeping Operations) des UN-Sekretariats geführt, das folgende Daten gibt (UN Doc. DPI/ 1643/ Rev. 122- - July 2011 unter http: / / www.un.org/ en/ peacekeeping/ resources/ statistics/ factsheet.shtml; vgl. auch http: / / www.zif-berlin.org): ● ● Seit 1948 wurden bei 65 peace keeping-Missionen zusammen 99 609 uniformierte Militärbeobachter (2 199), Soldaten (83 177) und Polizisten (14 233) aus 115 Ländern eingesetzt, dazu noch 5 707 internationale und 13 856 lokale Zivilisten; davon starben 2 914 im Einsatz. Die Kosten betrugen von 1948 bis Juni 2010 ca. 69 Mrd. US-$. ● ● Die 15 aktuellen peace keeping-Einsätze der UNO im Jahr 2011 brauchen ca. 121 500 Einsatzkräfte bei jährlichen Kosten von knapp 8 Mrd. US-$. Wenige Einsätze dauern sehr lange, aber dann richtig: UNTSO von 1948 und UNMOGIP von 1949 beobachten mit nur gut 150 bzw. gut 40 Militärbeobachtern unter blauen Mützen immer noch; UNDOF kontrolliert die Lage auf den Golanhöhen (Syrien/ Israel) seit 1974 mit über 1 000 Soldaten unter blauem Helm; von nahezu folkloristischer Dauerhaftigkeit ist auch UNFICYP auf Zypern, das seit 1964 mit knapp 900 Soldaten und Beobachtern die streitenden türkischen und griechischen Bevölkerungen an einer »grünen Linie« mitten durch die Hauptstadt Nikosia trennt. Die laufenden Einsätze sind ● ● in Europa neben der altehrwürdigen zypriotischen UNFICYP noch die kleine Beobachtungs- und Aufbau-Mission UNMIK im Kosovo seit 1999, die wahrscheinlich auch wesentlich länger dauern wird als gedacht, ● ● in Afrika, wo die meisten der aktiven Friedenstruppen arbeiten, darunter fast alle sehr großen mit Tausenden Soldaten und Beobachtern, am größten MONUSCO seit 2010 in der Demokratischen Republik Kongo mit ca. 19 000 Uniformierten und UNAMID seit 2007 im Sudan (Darfur) mit 23 000 Einsatzkräften, des Weiteren UNOCI seit 2004 in der Elfenbeinküste, UNMIL seit 2003 in Liberia, UNISFA von 2011 ebenfalls im Sudan (Abyei), UNMIS seit 2005 im jetzigen Südsudan, sowie MINURSO seit 1991 in der westlichen Sahara, ● ● im Nahen Osten, einem anderen traditionellen Schwerpunkt, neben den alten Missionen UNTSO und UNDOF auch schon seit 1978 noch UNIFIL im Libanon, ● ● im asiatisch-pazifischen Raum neben UNMOGIP noch UNMIT in Osttimor seit 2006, ● ● im amerikanisch-karibischen Raum die Mission MINUSTAH in Haiti mit immerhin über 14 000 Einsatzkräften. Rein formal gehört auch die Mission UNAMA seit 2002 in Afghanistan zu den peace keeping-Einsätzen der UNO, aber sie ist insofern ein Sonderfall als sie zum Prototyp einer neuen Art von Maßnahmen zur Friedenswahrung geworden ist, die über das klassisch gewordene peace keeping im Sinne von »Kapitel Sechseinhalb« hinausgehen (s.-Kap. 5.1.2.3). Wie jene kalkulierte Eigenmächtigkeit der Dänen bei der Durchsetzung des »robusten« peace keeping zeigt, sind auch die Beobachter, »Blauhelm«-Truppen und Polizisten der UNO gleichsam nur geliehen. Anders als bei Kampfeinsätzen zum peace enforcement hat bei »Blauhelm«-Missionen im Prinzip der UN- Generalsekretär das Kommando über die ihm für den jeweiligen Einsatz unterstellten nationalen Kontingente-- allerdings behalten sich viele Truppen stellende Regierungen die letzte Verfügung über ihre Soldaten vor; , wahrgenommen wird diese im Einsatzland von einem eigenen Befehlshaber, der im Zweiwww.claudia-wild.de: <?page no="215"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 215 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 215 fel erst zuhause nachfragen muss, was die Führung des Einsatzes nicht erleichtert. Zwar hat die UNO also auch für »Blauhelm«-Missionen keine eigenen militärischen Ressourcen; aber ein bescheidener pragmatischer Schritt zugunsten ihrer stärkeren Handlungsfähigkeit waren immerhin die ab 1994 zwischen dem DPKO im Generalsekretariat der UNO und vielen Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkommen, nach denen die Staaten bestimmte militärische, aber auch zivilpolizeiliche Kontingente in Bereitschaft für einen »Blauhelm«-Einsatz halten (»stand-by forces« im UN Stand-By Arrangements System/ UNSAS); diese kann die UNO aber keinesfalls von sich aus abrufen, ihr Einsatz würde vielmehr erst im Einzelfall vom bereitstellenden Staat beschlossen-- aber die Truppen wären abrufbar, ausgerüstet und ausgebildet; jedenfalls wissen die Planer im DPKO wenigstens, mit welchen Kräften sie gegebenenfalls rechnen könnten. Die Friedenseinsätze werden aus Pflichtbeiträgen finanziert, die als Umlagen je nach Einsatzbedarf erhoben werden, wobei der übliche Beitragsschlüssel zu Lasten der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats verändert wird (s.-Kap. 4.3.5). Die Kosten für Truppen und Gerät werden den sie stellenden Staaten nach festen Sätzen erstattet. Dies erklärt zugleich, warum die größte Zahl an »Blauhelmen« aus armen Ländern mit dennoch gut organisiertem Militär kommen-- sowohl für die UNO wie für die Truppensteller ist dies wirtschaftlich reizvoll. Die beiden wichtigsten der 115 Truppen stellenden Staaten sind Pakistan und Bangladesh mit jeweils weit über 10 000 Mann, gefolgt von Indien, Nigeria, Ägypten und Nepal; die VR China, Italien und Frankreich sind unter den ersten 20 Staaten in der Liste (Stand 2011), Deutschland mit ungefähr 300 Uniformierten und Großbritannien sind im vorderen Mittelfeld, aber immer noch vor Russland und den USA. Diese Zahlen sind unabhängig zu sehen von dem Truppenpersonal, das Staaten für die militärischen Einsätze zur Friedenserzwingung und -stabilisierung im Irak und in Afghanistan stellen. »Obwohl die ›Blauhelme‹ auch nach beinahe fünfzig Jahren ihrer De-facto-Existenz nicht in der Charta verankert sind, stellt der vom Sicherheitsrat mandatierte Einsatz von Soldaten und zunehmend auch ziviler Polizei neben der Schaffung internationaler Gerichtshöfe die wichtigste Weiterentwicklung der kollektiven Sicherheit im System der Vereinten Nationen seit ihrer Gründung dar. Dass man den ›Blauhelmen‹ 1988 den Friedensnobelpreis verlieh, dokumentierte außer dem Respekt für ihre Leistungen vor allem die weltweite Hoffnung auf die friedliche Lösung zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Konflikte mit Hilfe der UN.« Manfred Eisele, beigeordneter UN- Generalsekretär (Peace-Keeping Operations) 1994-1998 (2007, S. 137) Nach der Phase der vergleichsweise großen Begeisterung für die neuen Chancen der internationalen Kooperation dank des Endes der Ost-West-Konfrontation ließ nach den ernüchternden Erfahrungen mit einigen Missionen die Bereitschaft gerade der reicheren Länder nach, Militär und Polizei zu stellen. Die Aufgaben der Friedenstruppen und der ergänzenden Polizeikräfte waren vielfältig und anspruchsvoll, aber auch widersprüchlich geworden: Waffenstillstandsbestimmungen überwachen, Truppenentflechtungen kontrollieren, Ruhe und Ordnung herstellen, Eskalation von Gewalt verhindern, Kombattanten entwaffnen, sich um ehemalige Kombattanten kümmern, humanitäre Hilfe schützen, Menschenrechte sichern, Flüchtlinge zurückführen, Wahlen durchführen, Kommunikation und Versöhnung fördern u. v. m. Die Liste war immer länger geworden, sodass Skeptiker warnten, die UNO übernehme sich, wenn sie über die eigentliche Friedenswahrung hinaus immer mehr Staatsfunktionen im Rahmen von »Blauhelm«-Einsätzen ersatzweise erfülle. Doch dann wurden nach den Terroranschlägen von 2001 in den USA militärische Verwicklungen ganz anderer Art eingegangen, was auch die Bedingungen für das peace keeping in solchen Situationen gründlich ändern sollte. Terroristische Aktivitäten und deren Bekämpfung passen noch weniger in das System der internationalen Sicherheitsregime als interne Konflikte wie Bürgerkriege zwischen nichtwww.claudia-wild.de: <?page no="216"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 216 216 5 Internationale Regime staatlichen Akteuren: Terroristen sind normalerweise nichtstaatliche Akteure (Terror-Gruppen oder Terror-»Netzwerke«, eventuell von einer freundlich-geneigten Regierung eines »Schurken«-Staates diskret unterstützt), aber sie bedeuten keine Sicherheitsbedrohung, wie sie vom Militärpotential von Staaten ausgeht kann. Die von den USA vorangetriebenen Invasionen in Afghanistan und den Irak muten insofern auch wie der Versuch an, wieder einen klaren Gegner zu finden. Der Kampf gegen den Terrorismus war schon vor den spektakulären Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 ein heikles Arbeitsfeld für die internationale Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich (Boulden 2007; Kaim 2011): Obwohl auch hier nicht Konflikte zwischen Staaten die eigentlich zu lösenden Probleme sind, liegt zum einen zumindest der Kampfideologie einiger terroristischer Gruppen der Nahostkonflikt als Auseinandersetzung zwischen »dem Westen« und ihrer Weltvorstellung zugrunde, zum anderen wird einzelnen Staaten vorgeworfen, dass in ihnen terroristische Aktivitäten nicht ernstlich behindert oder von ihnen gar unterstützt werden-- so in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban. Im Falle konkreter Terrorgefahr kann der Sicherheitsrat diese als Bedrohung von Frieden und internationaler Sicherheit feststellen und dann zur Abwehr nach Kap. VII auch Gewaltmaßnahmen legitimieren; zur nachhaltigen Bekämpfung des Terrorismus können Sanktionen gegen unterstützende Staaten verhängt werden. Die Resolution 1373 (S/ RES/ 1373 (2001))- - die auch für die Weiterentwicklung des Völkerrechts hinsichtlich des Konflikts zwischen Souveränität und Intervention von grundsätzlicher Bedeutung war (s.-Kap. 4.3.1, 4.3.3.2)-- verpflichtet alle Staaten auf einen umfassenden Katalog sehr weitreichender Maßnahmen, die sich u. a. gegen Finanzierungsquellen, Informations- und Kommunikationswege oder Bewegungsspielräume von Terroristen richten, den Missbrauch des Flüchtlingsstatus einschränken und politische Motive als Begründung von Terror diskreditieren sollen (zu weiteren Rechtsgrundlagen s.-www.eda.admin.ch). Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel bleibt grundsätzlich umstritten, vor allem zwischen den USA und vielen europäischen Regierungen: Kann ein noch so schlimmer Anschlag mit Tausenden Toten und schwerem Sachschaden wirklich den Bruch des Gewaltverbots in dem Ausmaß rechtfertigen, dass ganze Länder mit Krieg überzogen werden? Für Afghanistan hat der Sicherheitsrat als Sachwalter der kollektiven Sicherheit mit der Einsetzung der International Security Assistance Force/ ISAF Gewaltmaßnahmen legitimiert (S/ RES/ 1386 (2001), aber gegen den Irak haben die USA und ihre »Koalition der Willigen« 2003 kein Mandat auf der Basis der Terrorismusabwehr erhalten; es blieb ihnen also nur noch der Alleingang unter manifestem Bruch des Völkerrechts. 5.1.2.3 Friedensaufbau (i. S. eines »Kapitel Siebenplus« ? ) Die Lage im jugoslawischen Kosovo 1999 und mehr noch die problematischen Entwicklungen im Irak und in Afghanistan bis heute zeigen ein ganz konkretes Problem für jeden gewaltsamen Eingriff von außen, das Interventionen in der Praxis viel stärker behindern dürfte als völkerrechtliche Bedenken zugunsten des Souveränitätsprinzips: Was passiert nach der Intervention? Schon vor den rapiden Verwerfungen der internationalen Lage durch die Terroranschläge und die Reaktion der USA darauf hatte die Logik des dynamischen Gegensatzes zwischen Souveränität und Einmischungsanspruch in der Praxis zu einer weiteren Vertiefung der Zielsetzung von Friedensmissionen geführt: Sie sollten in bestimmten Fällen nicht nur gewaltsamen Konfliktaustrag verhindern oder beenden und unmittelbare Kriegsfolgen lindern, sondern den Wiederaufbau im Krisengebiet als Grundlage für einen anhaltenden Frieden anregen oder gar direkt organisieren- - politisch, rechtlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich. Wo ein zerfallender Staat seine Grundfunktionen nicht mehr erfüllen kann, wäre eine militärisch erfolgreiche Mission auch in der Pflicht und-- so die Hoffnung-- in der Lage, dies zu übernehmen. <?page no="217"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 217 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 217 Der Gedanke, dass jede Intervention als Herausforderung des völkerrechtlich tief verankerten Souveränitätsdenkens weniger von ihren Motiven als von ihren Ergebnissen her gerechtfertigt werden muss, ist zumindest politisch überzeugend: Nicht eine gute Absicht, nur eine nachhaltig bessere humanitäre Situation als zurechenbare Folge des Eingriffs gibt Rechtfertigungsgründe. Also wäre nach der rein militärischen Phase die entscheidende Phase das politische peace building durch innere Befriedung, Sicherung der Geltung des Rechts, Wiederaufbau staatlicher Strukturen sowie Schaffung und Sicherung von Anreizen für Wirtschaft und Gesellschaft. Nach den NATO-Luftangriffen auf Serbien zum Schutz der Albaner im Kosovo, beide damals noch Teile der Bundesrepublik Jugoslawien, ergab sich 1999 die Frage, wie das Gebiet weiterhin politisch beherrscht und verwaltet werden sollte; die Antwort des Sicherheitsrats war, eine Art Protektorat der UNO einzurichten (S/ RES/ 1244 (1999); Eisele 2007, S. 151). Die Option, das alte Treuhandsystem der UNO zu reaktivieren, wurde aber nicht ernstlich erwogen, sondern es wurde gleich eine andere Richtung eingeschlagen, obwohl manche Mitgliedstaaten mit uneinheitlicher Bevölkerung die Ermunterung ihrer Minderheiten zu Sezessionsbestrebungen befürchteten: Eine von der UNO, konkret ihrem Sekretariat zu errichtende Übergangsverwaltung sollte auf Zeit das Nötige organisieren sowie Institutionen demokratischer Selbstverwaltung schaffen und überwachen, bis für alle Einwohner die Bedingungen für ein friedliches und normales Leben gesichert wären. Diese UN Mission in Kosovo (UNMIK) bedeutete eine substantielle Neuerung für das peace keeping, das dadurch zu etwas anderem werden sollte, eben dem peace building. Da die UNO weder personell noch materiell für diese Aufgabe genügend vorbereitet und ausgestattet war, mussten andere internationale Organisationen aushelfen; problematisch war und ist dabei die Koordination von sehr ungleich strukturierten und verschieden funktionierenden Apparaten wie die von OSZE, EU, weiteren UN-Programmen und Sonderorganisationen-- und auch die von der UN-Mission formal sauber getrennte militärische Komponente KFOR (Kosovo Force) der NATO als Sicherheitsgarant. Wichtige Regionalorganisationen OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa/ Organization for Security and Co-operation in Europe/ OSCE) Entstanden aus der im späten Ost-West-Konflikt wichtigen KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) hat sie die zwischenstaatliche Krisenprävention am weitesten entwickelt. Durch ihre militärischen und politischen Mechanismen für Krisenfälle ist ein hohes Maß an Vertrauensbildung und deeskalierender Kommunikation möglich geworden; zudem bietet sie ein formales Streitbeilegungsverfahren an. Die Organisation ist auch zur Ermöglichung und Durchsetzung politischer Bürgerrechte sehr aktiv, indem sie technische Hilfe beim Aufbau der nötigen Strukturen anbietet und Wahlbeobachtungsmissionen durchführt. Der Osten Europas ist in der Tradition der KSZE ihr Schwerpunkt, wo sie auch ein Gegengewicht zur NATO darstellt AU (Afrikanische Union/ African Union) 2002 folgte sie der wenig geschätzten OAU (Organisation für Afrikanische Einheit) nach; sie arbeitet durch den »AU-Sicherheitsrat« (gemäß Art. 52 der VN- Charta) und mit einer Eingreiftruppe aktiv an den zahlreichen Konflikten des Kontinents; sie stellt Friedenstruppen in regionalen Konflikten, z. B. die Friedensmission der AU in Somalia (AMISOM) Arabische Liga/ League of Arab States Die »Liga der arabischen Staaten« ist seit 1945 hauptsächlich mit dem Palästina-Problem im israelisch-arabischen Dauerkonflikt beschäftigt bzw. dadurch blockiert, sodass sie ihr großes Potential als regionale Instanz zur Friedenssichewww.claudia-wild.de: <?page no="218"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 218 218 5 Internationale Regime rung wenig nutzen konnte. Ihr Votum kann aber entscheidend sein für die politische Legitimation von Beschlüssen des Sicherheitsrats zu den wachsenden Problemen der Region (z. B. zu Libyen 2011) OIC (Organization of the Islamic Conference) Die »Islamische Konferenz« von 1972 ist nicht eigentlich eine Regionalorganisation, weil sie nicht geographisch, sondern religiös definiert ist: Sie versteht sich als die Organisation der islamischen Welt und wendet sich gegen die Diffamierung der Religionen. Ihr vorrangiges sicherheitspolitisches Thema ist Palästina im Nahost-Konflikt. Ihre Erklärung der Menschenrechte von 1990 basiert in bewusster Abgrenzung auf dem islamischen Recht OAS (Organization of American States) Die älteste der Regionalorganisationen dient der sicherheitspolitischen Vermittlung zwischen ihren Mitgliedern und deren Kooperation in Sicherheitsfragen mit dem Schwerpunkt des Drogenhandels NATO (North Atlantic Treaty Organization) Obwohl ein militärisches Verteidigungsbündnis, erfüllt die NATO, seitdem der Ostblock als Gegner weggefallen ist, auch Aufgaben der mulilateralen sicherheitspolitischen Kooperation. Immer umstritten, aber vergleichsweise wirksam, fungiert das nordwestliche Militärbündnis als Trägerstruktur für die militärische Umsetzung des Mandats von internationalen Interventionen, so vor allem in Afghanistan EU (Europäische Union) Die EU sollte im Rahmen ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als Regionalorganisation mit vielen reichen Mitgliedsländern in der Lage sein, eine führende Rolle in der multilateralen Friedenssicherung zu spielen, leidet aber weiterhin an der mangelnden politischen Einigkeit ihrer Mitgliedsregierungen. Aktiv wurde die EU z. B. in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten) Aus den Bruchstücken der ehemaligen Sowjetunion entstand die GUS unter russischer Führung; sie regelt eine Reihe regionaler Kooperationen für Sicherheit und Terrorismusbekämpfung. Durch die »Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit« von 2002 versucht Russland, Zentralasien unter seiner Führung sicherheitspolitisch und auch militärisch- - gegen den Einfluss der NATO-- zu integrieren SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit/ Shanghai Cooperation Organization) Zukünftig bedeutend sind die Möglichkeiten der SCO von 2001, in der zentralasiatische Länder und Russland mit der VR China in militärischen und Sicherheitsfragen, aber auch wirtschaftlich und kulturell kooperieren; diese bei uns kaum bekannte Regionalorganisation unter Führung der beiden alten Antagonisten des »Westens« vertritt immerhin neben einer gewaltigen militärischen Macht die größte Landmasse der Erde, gut ein Viertel der Weltbevölkerung und ein riesiges ökonomisches Potential ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) Die Organisation bleibt ein Kommunikationsforum mit vergleichsweise geringen Regelungsmöglichkeiten. Das ASEAN Regional Forum (ARF) soll zusätzlich der Konfliktbehandlung und Vertrauensbildung zwischen den ASEAN-Mitgliedern und den für ihre Sicherheit wichtigsten Dritten wie die USA und die VR China dienen <?page no="219"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 219 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 219 Die komplexere und multidimensionale Friedenswahrung funktioniert nun nach dem auch am speziellen Fall Afghanistan weiter entwickelten Modell: Der Sicherheitsrat gibt-- wie als eine Option vorgesehen (VN-Charta Art. 52 und 53)- - weitreichende »robuste« Mandate i. S. eines peace enforcement an regionale Organisationen oder Allianzen (z. B. NATO, EU), während arbeitsteilig parallel dazu eigene UN-Missionen die Aufgaben des peace keeping bzw. des (post-conflict) peace building übernehmen. Für die UNO bzw. für UN-Friedensmissionen liegt in dieser Doppelstrategie die große Gefahr, dass sie nach militärischen Einsätzen lediglich als »Putztruppe« die Trümmer wegräumen und die Not lindern oder nach schiefgegangen Aktionen anderer Akteure als »Ausputzer« herhalten dürfen. Nach Problemen oder gar dem Scheitern einer Mission könnte »die UNO« sogar wieder zum schuldigen »Sündenbock« gemacht werden; unvergessen sollte z. B. bleiben, wie US-Präsident Bill Clinton nach dem verunglückten Einsatz in Somalia (UNISOM II), den ein US-Amerikaner kommandiert hatte, verkündete, nie wieder solle ein amerikanischer Soldat unter UN-Kommando kämpfen müssen. Um den steigenden Anforderungen zum peace building gewachsen zu sein und sie nicht nur jeweils im konkreten Fall auf kurze Sicht ohne konzeptionellen Zusammenhang erfüllen zu müssen, setzten Generalversammlung und Sicherheitsrat der UNO eine Kommission für Friedenskonsolidierung (Peacebuilding Commission/ PBC; A/ RES/ 60/ 180 (2005)) ein, um nach Krieg systematisch Frieden begründen zu helfen: Als Nebenorgan des Sicherheitsrats ist die PBC weniger ein Beschlussgremium als ein Instrument zur Beratung und Koordinierung der Maßnahmen von Sicherheitsrat, Generalversammlung, ECOSOC und insbesondere der Hilfs- und Finanzinstitutionen in komplexen Friedensmissionen der UNO. Zur raschen Konfliktnachsorge und dem Wiederaufbau von gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen nach gewaltsamen Konflikten soll die PBC die internationale Kooperation-- und deren Finanzierung-- zwischen allen relevanten Akteuren (internationale Organisationen, Regierungen und Zivilgesellschaft/ NGOs) anregen, anleiten, integrieren und koordinieren; sie soll nicht zuletzt Erfahrungen sammeln und auswerten, um künftig vor Fehlern und Defiziten warnen und bewährte Handlungsvorschläge weitergeben zu können (»best practices«). In der Konflikt-Nachsorge zur Bewältigung von Unrecht und Leid sind zusätzlich von der internationalen Strafgerichtsbarkeit (s.-Kap. 5.2.3) wichtige Beiträge zur sachlichen Aufklärung des Geschehens, aber auch zu dessen symbolischer und psychischer Verarbeitung zu erwarten. Oft werden die von der UNO-Charta vorgesehen Möglichkeiten zur Streitbeilegung und Friedenssicherung als eine Art Stufenfolge der Eskalation dargestellt (Gareis/ Varwick 2007, S. 105: »Eskalationsstufen im System kollektiver Sicherheit«); demnach könnte man sich die einschlägigen Artikel der Charta zu den möglichen Maßnahmen aufgereiht auf einer Treppe vorstellen, bis hinauf zur »Lizenz zum Töten« für militärische Zwangsmaßnahmen. Sofern dieses Bild von den »Eskalationsstufen« einen automatischen Verlauf des Eskalationsprozesses suggeriert- - etwa als Vorstellung eines »escalators« (Rolltreppe)-- ist es gefährlich falsch: Es gibt keinen Automatismus in der Ausübung der dem Sicherheitsrat gegebenen und über viele Krisen hinweg allmählich veränderten und erweiterten Optionen. Er kann an jedem Punkt der Eskalationsskala einsetzen und Aktivitäten wieder beenden bzw. auslaufen lassen. Gerade das neue Modell der Kombination von parallelen Mandaten zum peace enforcement und zum peace building zeigt ja, wie flexibel der Sicherheitsrat mit den Bestimmungen von Kapitel VI und VII kreativ neue Instrumente schaffen kann-- sofern seine Mitglieder es nur einmütig wollen. Diese neueren Entwicklungen sind inzwischen auch nicht mehr so recht unter dem virtuellen »Kapitel Sechseinhalb« zu fassen, sodass spekulativ anzunehmen ist, dass sich so etwas wie ein »Kapitel Siebenplus« herausbildet. Komplementär zum militärischen Einsatz der ISAF-- vom Sicherheitsrat 2001 als peace enforcement beauftragt sollte die NATO die Taliban und vermutete Terroristen-Lager bekämpfen- - war 2002 die politische Aufbaumission UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan; S/ RES/ 1401 (2002)) mandatiert worden. UNAMA ist die letzte Mission, die formal noch vom DPKO geführt wird; für die »UN Political and Peacebuilding Missions« ist nun das DPA (Department of Political Affairs) des <?page no="220"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 220 220 5 Internationale Regime UN-Sekretariats zuständig, von dem die folgenden Angaben stammen (UN Doc. DPI/ 2166/ Rev. 95-- May 2011 unter http: / / www.un.org/ wcm/ content/ site/ undpa/ main/ about/ field_operations; vgl. auch http: / / www.zif-berlin.org): 2011 (Stand Ende Februar) wurden bei zwölf peace building-Missionen zusammen 4 141 Mitarbeiter eingesetzt, davon 281 Uniformierte, 1 134 internationale und 2 628 lokale Zivilisten. Die meisten Missionen können unter 100 Mitarbeiter haben, weil sie nur Verbindungs- und Koordinationsbüros (»Office«/ O, »Political Office«/ PO, »Special Coordinator«/ SCO, »Integrated Peacebuilding Office«/ IO) sind. Nur die eigentlichen »Assistance Missions« (AM) haben mehrere Hundert Einsatzkräfte; das Regionalbüro UNOCA besteht sogar nur aus dem Chef. Die laufenden Einsätze sind ● ● in Afrika UNPOS (Somalia), UNOWA (Westafrika), UNIPSI (Sierra Leone), BINUCA (Zentralafrikanische Republik), UNIOGBIS (Guinea-Bissau), BNUB (Burundi), UNOCA (Zentralafrika); ● ● im Nahen Osten UNSCO (Naher Osten), UNSCOL (Libanon); ● ● in Asien UNAMA (Afghanistan), UNAMI (Irak), UNRCCA (Zentralasien). Als erste dieser Art Missionen beendet wurde in 2011 UNMIN (Nepal). Die beiden für die praktische Umsetzung von peace keeping und peace building zuständigen Abteilungen des UN-Sekretariats, das Department of Peacekeeping Operations (DPKO) und das Department of Field Support (DFS), bemühen sich seit 2009 unter Berufung auf den früheren Brahimi-Bericht einen »neuen Horizont« (»new horizon«) für die zukünftigen Friedens- und Aufbau-Missionen einzuziehen (http: / / www.un.org/ en/ peacekeeping/ operations/ newhorizon.shtml): Die Kriterien und Bedingungen für die Mandate sollen klarer gefasst, Kommunikations- und Kooperationsformen erweitert, Finanz- und Ressourcen-Management verbessert, insgesamt alle Kapazitäten und Abläufe evaluiert und rationalisiert werden, um zugleich leistungsfähiger und realistischer die anstehenden Aufgaben angehen zu können. Die sich von ihren Anfängen an zwangsläufig ständig wandelnde UN-Friedenssicherung wurde oft und vielfach begutachtet und zumindest in gut ausgearbeiteten Vorschlägen reformiert-- und ein Teil dessen ging auch tatsächlich in die Entscheidungen des Sicherheitsrats über konkrete Mandate und die Praxis der zuständigen Stellen in der UNO ein-- aber: Entscheiden, und zwar rein politisch, wird weiterhin der Sicherheitsrat. Tab. 31: Die erweiterten Möglichkeiten von Erzwingung und Sicherung von Frieden durch die UNO Kapitel VI (VN-Charta VI, 33-38) »Kapitel Sechseinhalb« Kapitel VII (VN-Charta VII, 39-51) »Kapitel Siebenplus« 33, 34 → 36, 37/ 38 Streitbeilegung Resolutionen SR, GV Friedenssicherung (peace keeping) 39 → 40 → 41→ 42 Friedenserzwingung (peace enforcement) Resolutionen SR, GV Wiederaufbau (peace building) Konflikte zwischen Staaten Bürgerkriege, »neue Kriege«, Völkermord Konflikte zwischen Staaten »neue Kriege«, »failed states«, Terrorismus Art. 33: Verpflichtung zu friedlichen Mitteln Anspruch auf Interventionen aus humanitären Gründen [Schutzverantwortung] Art. 39: Feststellung des-Bruchs des Friedens [Anspruch auf Interventionen aus humanitären Gründen] Schutzverantwortung (responsibility to protect) Art. 34: Feststellung des Bruchs des Friedens Art. 40: Aufforderungen an die Konfliktparteien Art. 36: Verfahren, u. a. Einschaltung des IGH Art. 41: Sanktionen, u. a.-wirtschaftliche Art. 37/ 38: Empfehlungen zur Streitbeilegung Art. 42: militärische Zwangsmaßnahmen <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 221 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 221 5.1.3 »Humanitäre Intervention« und »Schutzverantwortung« Die meisten der vom Sicherheitsrat der UNO seit 1945 mandatierten Missionen reagierten nicht auf zwischenstaatliche Streitigkeiten, sondern auf Konflikte auf dem Territorium souveräner Staaten, was von der Charta gar nicht vorgesehen war. Aber jeder der häufiger werdenden peace keeping-Einsätze relativierte de facto den Anspruch der Staaten auf unbeschränkte Souveränität zugunsten des Anspruchs auf internationale Einmischung. Die Geschichte der internationalen Kooperation unterliegt Konjunkturen: Mal entwickeln sich die Probleme und die Methoden schnell, mal scheint sich lange Zeit weniger zu tun. Zumal Friedensmissionen der UNO sind von vielen Faktoren abhängig, nicht etwa nur von Zahl und Ausmaß der realen Konflikte, sondern meist nicht weniger davon, wie diese in den Hauptstädten der wichtigen Staaten gesehen werden. So waren die vom Sicherheitsrat vergebenen Mandate mal offensiver und anspruchsvoll, mal defensiver und zurückhaltend. Sicherlich werden aber die Anforderungen an internationale Friedeneinsätze weiter wachsen, quantitativ wie qualitativ. Diese werden meist multidimensional, komplex und langfristig sein müssen und vor allem werden sie konsequent die breite Bevölkerung einbeziehen müssen, für deren Wohl die Missionen schließlich legitimiert sind. Der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan hat genau diese Entwicklung gemeint, als er seinen Millenniumsbericht mit einem Zitat aus der Präambel der Charta betitelte, die ja deklamatorisch bedeutsam, aber rechtlich unverbindlich ist (s.-Kap. 4.3.2): »We the people« (A/ 54/ 2000 vom 27. März 2000). Internationale Regime und Organisationen brauchen die Fähigkeit, sich und ihre Arbeitsweise rasch, unaufwändig und am besten auch unauffällig zu verändern, weil die Staaten in immer noch sehr geringem Ausmaß einer verbindlichen Rechtsordnung und globalen Steuerungsmechanismen unterworfen sind. Gerade die oft als starr und schwerfällig gescholtene UNO zeigt auffällig diese Fähigkeit, sich bei ernsthaftem Bedarf politisch, also flexibel-pragmatisch und auch informell zu wandeln. Das hat wenigstens die Vorteile, dass ● ● man sich einen langwierigen, umständlichen und immer gefährdeten Prozess einer formellen Reform, also z. B. einer Änderung UNO-Charta, ersparen kann und ● ● die Handlungsoptionen gerade der mächtigen Staaten so offen wie möglich bleiben-- was gerade in einer Zeit internationaler Machtverschiebungen aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen hilfreich sein kann. Die Ausarbeitung des offenen »Kapitels Sechseinhalb« war so ein evolutionärer Prozess, der in inkrementalistischer Art Neuerungen auf der Grundlage bestehender Regelungen und Strukturen Stück für Stück ausbaute, aber insgesamt doch eindeutig in eine bestimmte Richtungen führte. Viele einzelne konkrete Schritte und Fortschritte- - wie die Einrichtung von Straftribunalen, die Verbrechern in Staats- und Regierungsämtern die Sicherheit ihrer persönlichen Unantastbarkeit nimmt-- erschütterten allmählich die Bastion der unantastbaren Staatlichkeit. Solche Veränderungsprozesse haben immer mehrere Urheber; einzelne Staaten, der Generalsekretär, auch die Zivilgesellschaft und die Meinung der »Weltöffentlichkeit« können vieles bewirken; aber verbindlich festmachen kann die einzelnen Veränderungen nur der Sicherheitsrat durch seine Beschlüsse und Resolutionen. Die Evolution der Praxis der multilateralen Friedenswahrung hin zu immer stärkerer Einmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten ist auch aus der Terminologie abzulesen, die sich für die wandelnden Typen und Formen von Missionen eingebürgert hat. Der Begriff des peace keeping setzte sich erst durch, als die Praxis von »Blauhelm«-Einsätzen längst begonnen hatte; als kohärente Doktrin ist ein Konzept des peace keeping nirgendwo theoretisch formuliert oder gar rechtsverbindlich niedergelegt: Ständige Improvisation und Fortentwicklung in kleinen tastenden Schritten steuern seine Evolution. Anhand des eingesetzten Personals lassen sich zwei Arten von Missionen unterscheiden: <?page no="222"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 222 222 5 Internationale Regime ● ● Entsendung militärischer Beobachter, meist nur einiger weniger sachkundiger Offiziere, die nichts tun sollen als Informationen zu sammeln und Aktionen zu beobachten (»Blaumützen«/ »blue berets«); ● ● Einsatz einer wesentlich größeren Zahl von Soldaten einer ordentlichen Streitmacht eines oder mehrerer UN-Mitgliedstaaten als Friedenstruppe (»Blauhelme«/ »blue helmets«), die in erster Linie die Streitparteien trennen und einen Waffenstillstand organisieren und überwachen sollen. Diese zweite Einsatz-Art ist meist mit »peace keeping« gemeint. Aber die Terminologie des peace keeping ist keinesfalls einheitlich; weder in der Praxis noch in der wissenschaftlichen Literatur werden die Begriffe trennscharf und systematisch verwendet. Zwei UN-Dokumente bieten wenigstens authentische Sprachregelungen, die allerdings auch nicht eindeutig bzw. schon veraltet sind: die »Agenda für den Frieden« (An Agenda for Peace-- Preventive diplomacy, peacemaking and peacekeeping, Report des Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali, UN Doc. A/ 47/ 277-S/ 24111 (1992)) und der »Brahimi-Bericht« (Report of the Panel on United Nations Peace Operations, UN Doc. A/ 55/ 305-S/ 2000/ 809 (2000)), dazu der Bericht des Generalsekretärs (UN Doc. A/ 55/ 502 (2000)). Darin wie in vielen Darstellungen des komplexer gewordenen Konzepts des peace keeping der UNO sind diese oder ähnliche Bestimmungen seiner Elemente und Methoden zu finden: ● ● die preventive diplomacy zur Vermeidung eines drohenden Konflikts durch Prävention, sei es durch Eindämmung und möglichst Schlichtung einer Streitigkeit, sei es durch Begrenzung der Ausbreitung eines möglichen gewaltsamen Konflikts; ● ● das peacemaking zur Einstellung von gewaltsamen Feindseligkeiten durch Eindämmung und möglichst Schlichtung eines Konflikts mit den gewaltlosen Mitteln nach Kapitel VI (z. B. Aushandlung eines Waffenstillstands); ● ● das klassische peace keeping zur dauerhaften Beendigung eines ausgebrochenen Konflikts durch ausreichende und längerfristige Präsenz im Konfliktfeld mit militärischen, polizeilichen oder zivilen Einsatzkräften, die unter Zustimmung aller Konfliktparteien noch im Rahmen von Kapitel VI bleiben kann (z. B. Organisation und Überwachung eines Waffenstillstands); ● ● das peace building oder post-conflict peace building zum nachhaltigen politischen und gesellschaftlichen Aufbau des Friedens nach einem Konflikt (z. B. militärische Abrüstung, humanitäre Hilfe, Aufbau von politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen), und ● ● das peace enforcement zur gewaltsamen Erzwingung von Frieden, das als letzte und weitestreichende Option sich nur auf Kapitel VII berufen kann und nur sehr bedingt zum Gedanken des peace keeping passt. Meist ist es für praxisbezogene Unterscheidungen hilfreicher, sich an die konkreten Einsatzformen für Friedenstruppen und deren Rechtsgrundlagen zu halten; im Sinne des virtuellen »Kapitel Sechseinhalb« waren dies: 1. das klassische peace keeping der Zeit des Ost-West-Konflikts, das den politischen Geist von Kapitel VI (friedliche Streitbeilegung) als neutral-passive Pufferung umzusetzen versucht und dabei nur in geringem Maße der rechtlichen Basis von Kapitel VII (Erzwingungsmaßnahmen) bedarf: nur mit Zustimmung der Konfliktbeteiligten-- ohne den Einsatz von Gewalt, abgesehen von sehr eng definierter Selbstverteidigung der »Blauhelme« (nur mit leichten Waffen im Falle eines Angriffs); 2. das »multidimensionale« oder »multifunktionale« peace keeping, das im Sinne des Brahimi-Berichts als aktiv-gestaltendes Programm versuchen soll, neben den militärischen Sicherungsmaßnahmen auch zivile Aufgaben zu lösen: Neben der allgemeinen Verwaltung und Polizeifunktionen vor allem Vorbereitung, Durchführung und Beobachtung von freien Wahlen, aber auch militärische Demobilisierung und soziale Reintegration von Soldaten und Kämpfern, Organisation humanitärer Hilfe u. v. m.- - also nahezu die Übernahme der Funktionen eines souveränen Staates; das bedarf der Kooperation mit internationalen Organisationen aller Art, mit Hilfsorganisationen wie mit politischen Regionalorganisationen. <?page no="223"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 223 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 223 Diese beiden Formen wurden oft auch »erste« und »zweite Generation« genannt. Darüber hinaus sind auch innerhalb der UNO die Bezeichnungen »dritte« und »vierte Generation« zu finden, die nach weiteren Kriterien unterschieden werden: 3. Die Ausweitung der bloßen Selbstverteidigung hin zu einer militärisch angemessenen aktiven Abwehr von Angriffen auf »Blauhelme« wie auf die Zivilbevölkerung auf der Basis eines entsprechend »robusten« Mandats schuf eine neue Form von Einsätzen: Das robust peace keeping basiert allerdings notwendigerweise auf Kap. VII, weil es die restriktive Erlaubnis von Maßnahmen nur zur Selbstverteidigung im engsten Sinne ausdehnt bis hin zu einer Erzwingung des Friedens mit militärischer Gewalt (peace enforcement). 4. Was oft als angeblich »vierte Generation« die Liste vervollständigen soll, könnte vielleicht besser als ein neues Kapitel »Siebenplus« (s.- Kap. 5.1.2.3) verstanden werden: Eine UN-Mission erhält das Mandat, neben den Funktionen des klassischen peace keeping vor allem solche des peace building zu übernehmen, meist in Kombination mit einem politisch vorrangigen Mandat zum peace enforcement an Staatenkoalitionen oder Regionalorganisationen. Weil derart die Kriterien für die Bedrohungsfeststellung wie für die Ausgestaltung der Mandate Schritt für Schritt geändert und erweitert wurden, war es in den 1990er Jahren möglich, dass ● ● auch rein interne Konflikte in einem Staat ohne unmittelbare internationale Auswirkungen als ausreichend angesehen werden, ● ● um wegen fortgesetzter schwerer Menschenrechtsverletzungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ● ● nötigenfalls eine »humanitäre Intervention« (humanitarian intervention) zu veranlassen, ● ● also auch die innere Souveränität eines Landes anzutasten. »Grundsätzlich gilt das Gewaltverbot der UN-Charta; die Anwendung von militärischer Gewalt ist beim Sicherheitsrat monopolisiert. Eine humanitäre Intervention, also der Einsatz militärischer Gewalt durch einzelne oder eine Gruppe von Staaten zum Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen vor einer rücksichtslosen Verletzung ihrer Menschenrechte, stellt nach weitverbreiteter Auffassung keine Rechtfertigung für den Gewalteinsatz einzelner Staaten oder Staatengruppen dar. Liegt dem Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte allerdings eine Entscheidung des Sicherheitsrates zugrunde, so beruht die Rechtfertigung auf dieser Grundlage und nicht auf dem ›Rechtstitel‹ der humanitären Intervention.« Norman Weiß (2007, S. 185) Angesichts einer schlimmen Hungersnot im Bürgerkrieg in Somalia hatte der Sicherheitsrat 1992 die Verletzung von Menschenrechten als internationale Bedrohung von Frieden und Sicherheit eingestuft und damit erstmals beschlossen, ein Mandat für einen robusten »Blauhelm«-Einsatz als einer humanitär begründeten Intervention zu geben (S/ RES/ 794 (1992); UNITAF). Damit hatte der Sicherheitsrat mit seiner politischen Definitionsmacht (VN-Chart Art. 39) gegenüber den völkerrechtlichen Bedenken, ob innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen überhaupt ein internationales Problem sein dürften (VN- Chart Art. 2), die Legitimität von humanitären Interventionen faktisch durchgesetzt. Allerdings wurde die ungeachtet der Warnungen von UN-Experten zu forsch vorgetragene Mission zu einem Desaster, was wiederum zu nachhaltiger Desillusionierung hinsichtlich der praktischen Möglichkeiten von humanitären Interventionen führte, die nun wieder als militärisch schwierig, politisch problematisch und weiterhin als völkerrechtlich fragwürdig kritisiert werden konnten. Den Preis für diese Enttäuschung bezahlten dann die Menschen in Ruanda, wo 1994 ein Völkermord vom Sicherheitsrat nicht bzw. viel zu spät wahrgenommen wurde. Aber auch diese unterlassene Intervention machte die Absichten der Akteure hinter Interventionen unglaubwürdig, weil ihnen vorgeworfen werden konnte, vergleichbare Situationen von Menschenrechtsverletzungen und Not mit unterschiedlichen <?page no="224"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 224 224 5 Internationale Regime Tab. 32: Evolution der Friedensmissionen: Wichtige Resolutionen des UN-Sicherheitsrats UN Doc. (Jahr) Staat/ Ort Maßnahme/ Zweck; Bedeutung S/ RES/ 15 (1946) Griechenland zivile Untersuchungskommission; erste UN-Friedensmission ? S/ RES/ 48 (1948) Israel u. a. Überwachung des Waffenstillstands mit den arabischen Nachbarstaaten S/ RES/ 85 (1950) Korea militärischer Beistand für Südkorea; erster legitimierter Kriegseinsatz Generalversammlung/ Notstandssitzung: A/ RES/ 1000 (ES-I) (1956) und A/ RES/ 1001 (ES-I) (1956) Im Suez-Konflikt wurde das Instrument der Friedenstruppen (»Blauhelme«) über die Charta hinaus entwickelt: Sicherung von Waffenstillstand und friedlicher Streitbeilegung mit beidseitiger Zustimmung (UNEF). S/ RES/ 143 (1960) Kongo neuartige Konfliktlage eines postkolonialen Bürgerkriegs: erster Einsatz von Friedenstruppen (»Blauhelmen«) durch den Sicherheitsrat (ONUC) S/ RES/ 186 (1964) Zypern Konfliktschlichtung und Invasionsschutz durch Friedenstruppe UNFICYP diverse in den 1970/ 80er Jahren In Afghanistan, Indien, Pakistan, Libanon, Syrien, Angola, Namibia, West-Sahara, Mittelamerika u. a. wurden Beobachter- oder Friedensmissionen flexibel eingesetzt. S/ RES/ 668 (1990) Kambodscha umfassendes und aufwendiges Aufbau-Programm (UNTAC/ UNAMIC) S/ RES/ 678 (1990) Irak Befreiung Kuwaits; umfassende militärische Aktionen, Bodentruppen S/ RES/ 688 (1991) Irak nach Giftgaseinsatz erstmals eine »humanitäre Intervention« autorisiert S/ RES/ 733 (1992) S/ RES/ 794 (1992) Somalia Bei Feststellung der Bedrohung von Frieden und Sicherheit hat sich damit grundsätzlich eine Relativierung der inneren Souveränität durchgesetzt; Mandat für UNITAF als erste rein humanitär begründete Intervention. S/ RES/ 827 (1993) Jugoslawien Einsetzung eines Kriegsverbrechertribunal ermöglicht, einzelne Personen wegen schwerer Verletzungen des internationalen Rechts anzuklagen S/ RES/ 864 (1993) Angola Mandat erstmals ausschließlich mit der Situation im Land begründet S/ RES/ 955 (1994) Ruanda wieder Einsetzung eines Kriegsverbrechertribunals S/ RES/ 1244 (1999) Serbien (Kosovo) nachträglich die »humanitäre Intervention« der NATO zum Schutz des-Kosovo zwar nicht de jure, so doch de facto gebilligt S/ RES/ 1373 (2001) alle Staaten Terrorismusbekämpfung (nach den Anschlägen von «9/ 11«); erstmals verbindliche Formulierung abstrakter, nicht nur fallbezogener Normen S/ RES/ 1386 (2001) Afghanistan ISAF; Versuch der Terrorismusbekämpfung S/ RES/ 1493 (2003) Kongo erstmals ausdrücklicher Auftrag, Zivilpersonen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zu schützen S/ RES/ 1674 (2006) alle Staaten Prinzip der »Schutzverantwortung« (»responsibility to protect«) erstmals vom Sicherheitsrat anerkannt S/ RES/ 1973 (2011) Libyen Flugverbotszone; nur Luftangriffe, keine Bodentruppen; erstmals das-Prinzip der »Schutzverantwortung« in ein Mandat umgesetzt <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 225 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 225 Maßstäben zu beurteilen und Probleme, die aus ihrer Interessenlage gesehen von geringerer Bedeutung sind, zu ignorieren. Alle Phasen und Entwicklungen des peace keeping, vom passiven Puffern bis hin zum aktiven Einmischen, waren jeweils strikt an den jeweils vorliegenden Einzelfall-- und damit auch an sein Ergebnis bzw. dessen politischer Wahrnehmung-- gebunden, sodass also nicht etwa ein allgemeines Recht auf Intervention grundsätzlich postuliert worden wäre. Doch dann hat der Sicherheitsrat 2001 für die Terrorismusbekämpfung erstmals nicht nur fallbezogene, sondern abstrakte Normen verbindlich beschlossen; in jener Resolution (S/ RES/ 1373 (2001)) hat er nicht nur die Mitgliedstaaten der UNO darauf verpflichtet, insbesondere die Finanzierung und jede sonstige Form der Unterstützung terroristischer Aktivität zu verhindern, sondern das entsprechend gebotene Verhalten als generell bindende Regeln formuliert und nicht als Einzelmaßnahmen. Wenn dies möglich geworden war, schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Sicherheitsrat auch in unspektakuläreren Problemlagen sich würde durchringen können, ein bestimmtes Verhalten von Regierungen auch in ihrem staatlichen Souveränitätsbereich einzuschränken oder zu verordnen. Somalia 1992 war der erste große Fall einer humanitären Intervention, die der Sicherheitsrat mandatiert hatte; Kosovo wurde 1999 zum ersten große Fall einer humanitäre Intervention, die der Sicherheitsrat nicht mandatiert hatte, die also unter Bruch des Völkerrechts durchgezogen wurde: Die auch politisch stark umstrittene NATO-Operation durch Luftangriffe auf Serbien zum Schutz der albanischen Bevölkerung in der damals noch serbischen Provinz stellte die Legitimität von humanitären Interventionen wieder grundsätzlich in Frage. Die politische, rechtliche und moralische Zwangslage, dass man sich entscheiden musste, eine massiv bedrohte Bevölkerungsgruppe nicht zu schützen oder mangels der Möglichkeit eines Mandats des Sicherheitsrats eine rechtswidrige Militäraktion zu verantworten, hat die weltweite Debatte um die Notwendigkeit humanitärer Interventionen motiviert und beschleunigt. Schon 2006 hat der Sicherheitsrat das vorher bereits von der Generalversammlung erklärte Prinzip der »Schutzverantwortung« (»responsibility to protect«) anerkannt: Jede Regierung ist verpflichtet, ihre Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen, »ethnischen Säuberungen«, Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen; will oder kann sie das nicht, sind die Mitgliedstaaten der UNO in der Pflicht, durch den Sicherheitsrat die Schutzverantwortung wahrzunehmen. Der Gedanke, dass es so etwas wie eine verpflichtende Schutzverantwortung für die Staaten-- einzeln wie kollektiv-- gebe, war nicht unbedingt neu, wurde aber doch interessant modifiziert. Das Konzept wird recht unterschiedlich, ja widersprüchlich beurteilt: Einerseits verspricht es ein großer Fortschritt zu sein in Richtung einer wirklich verantwortungsvollen »global governance«-- andererseits kann es als Vorwand dienen für hegemoniales oder gar imperialistisches Handeln. Die politische Karriere des völkerrechtlich schwer zu fassenden Konzepts der Schutzverantwortung ist für Veränderungsprozesse der Arbeitsweise der UNO typisch (nach Schaller 2008): Auf Initiative der kanadischen Regierung erarbeitete eine unabhängige »Internationale Kommission über Intervention und Staatensouveränität« (International Commission on Intervention and State Sovereignty/ ICISS; http: / / www. iciss.ca/ pdf/ Commission-Report.pdf ) 2001 einen Bericht mit dem programmatischen Titel »Responsibility to Protect«. Während bisher ausgehend vom altbekannten Spannungsverhältnis zwischen meist humanitär begründeter Einmischung von außen und der unantastbaren Staatensouveränität diese beide Ansprüche gegeneinander in Stellung gebracht wurden, um einen unversöhnlichen Widerspruch zu konstatieren, stellte die neue Argumentationsstrategie klar heraus, welche Verantwortung den Staaten aus ihrer Souveränität erwächst: Um diese als legitim zu wahren, müssen Staaten ihrer klassischen Pflicht zum Schutz ihrer Bürger nachkommen - oder: Souverän zu sein bedeutet, die eigenen Bürger schützen zu wollen und zu können. Also ist eine denkbare Einmischung von außen vom Schutzbedürfnis dieser Bürger her zu begründen und nicht von irgendeinem Recht auf Intervention; denn die internationale Gemeinschaft hat dann-- aber eben nur dann und nur deswegen-- eine Schutzverantwortung, wenn ein <?page no="226"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 226 226 5 Internationale Regime verantwortlicher Staat nicht willens oder in der Lage ist, seine Schutzverpflichtung für seine Bürger wahrzunehmen. Der Bericht schlug auch Kriterien für Entscheidungen zu militärischen Interventionen vor: Die Bedrohung durch schwerste Menschenrechtsverletzungen müsse extrem sein; die Intervention müsse vorrangig darauf gerichtet sein, das menschliche Leiden zu beenden; Gewalt dürfe nur die letzte Option sein; die Maßnahmen müssten auf ein Minimum begrenzt bleiben; und-- ein vernünftiges, aber konfliktträchtiges Kriterium-- die Mission müsse Aussicht auf Erfolg haben bzw. das Eingreifen dürfe die Situation nicht schlimmer machen als sie ohne Intervention wäre. Für den Fall, dass der Sicherheitsrat für eine notwendige Entscheidung blockiert ist, wurde die Verantwortung der Generalversammlung oder das Eingreifen von Regionalorganisationen in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich diskutiert. »Eine der Grundfunktionen des Staates besteht seit jeher darin, die Sicherheit seiner Angehörigen zu gewährleisten. Diese Verantwortung spiegelt sich auch in zahlreichen Verpflichtungen wider, insbesondere im Rahmen des Menschenrechtsschutzes und des humanitären Völkerrechts. Gerade in diesen Bereichen und bei der Friedenssicherung dringt das Völkerrecht immer tiefer in die staatliche Domäne vor und wird zu einem begrenzenden Faktor für die Ausübung von Souveränität. Denn der Staat wird damit für sein Verhalten auch gegenüber den anderen Mitgliedern der Staatengemeinschaft verantwortlich. Je umfassender und konkreter die aus dem Völkerrecht erwachsenden Bindungen sind, desto kleiner wird der Bereich ausschließlicher nationaler Zuständigkeit. Insoweit zeichnet sich durchaus ein Paradigmenwechsel ab. Der allmähliche Wandel in der Konstruktion staatlicher Souveränität wurde in den vergangenen Jahren auch durch den UN-Sicherheitsrat befördert.« Christian Schaller (2008. S. 9 f.) Die »hochrangige Gruppe« zur Reform der UNO griff diese Vorschläge dann für ihren Bericht (Highlevel Panel on Threats, Challenges and Change: »A More Secure World: Our Shared Responsibility«, UN-Doc. A/ 59/ 565 von 2004, S. 201 ff.) auf, um damit das Instrumentarium der kollektiven Sicherheit (nach VN-Charta Kap. VII) auszubauen. Generalsekretär Kofi Annan arbeitete das neue Konzept daraufhin politischer gefasst ein, indem er den kooperativen Aspekt der »Herrschaft des Rechts« stärker betonte als den militärischen Sicherheitsaspekt (»In Larger Freedom«, UN-Doc. A/ 59/ 2005 von 2005, § 135). So gelang es, das Prinzip der »Responsibility to Protect« auf einem »Weltgipfel« behandeln und beschließen zu lassen, also zu einer Position der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu machen (A/ 60/ 1 von 2005); der Sicherheitsrat bestärkte den Gedanken der Schutzverantwortung kurz darauf im Zusammenhang mit dem Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten (S/ RES/ 1674 (2006)). Massive Vorbehalte bleiben bestehen. Viele Staaten, darunter gegenüber der Möglichkeit von Einmischungen von außen recht sensible wie Iran, Kuba, Pakistan, auch die VR China, kritisierten, das Konzept sei viel zu vage und lade geradezu zu missbräuchlichen Interventionen ein. Überdies wurde vielfach betont, das Argument der Schutzverantwortung verlange gar nicht nach neuen Regelungen, da die Autorität des Sicherheitsrats und seine Möglichkeiten nach Kapitel VII der UNO-Charta ohnehin ausreichend seien, um entsprechende Situationen in diesem Sinne zu bewältigen. Andere Staaten, zumal die USA, wollen dem Sicherheitsrat seinen großen Bewertungs- und Handlungsspielraum bewahren, ihn also rechtlich und politisch möglichst wenig binden. Zumal alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats misstrauen der Entwicklung weiterer Kriterien, sofern diese die in erster Linie politische und immer interessengeprägte Entscheidungsfindung im Rat irgendwie im Voraus festlegen würden. Sie sehen in der Schutzverantwortung lieber ein Gebot der politischen Ethik als eine Norm des Völkerrechts. <?page no="227"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 227 5.1 Friedenssicherung: Sicherheit und Abrüstung (security) 227 »Diese Norm […] erhebt den Schutz des Menschen zur obersten Aufgabe staatlichen Handelns. Zeigt sich die politische Führung eines Staates nicht fähig oder willens, ihre Bürger vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, oder begeht sie diese Verbrechen gar selbst, geht die Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung auf die internationale Staatengemeinschaft über-- im äußersten Fall dürfen dafür auch militärische Mittel angewendet werden.« Wolfgang Ischinger, ehem. Botschafter (Süddeutsche Zeitung vom 27.5.2011) Der Gedanke der Schutzverantwortung muss aber-- wenn sie nicht nur ein schmückendes Moment für Sonntagsreden sein soll-- so oder so in das Friedenssicherungssystem der UNO integriert werden, denn wenn sich, wie auch immer, eine völkerrechtliche Norm entwickeln sollte, die Staaten erlaubt, im Falle extremer humanitärer Probleme gewaltsam ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat zu intervenieren, wäre die Politik der multilateralen kollektiven Sicherheit am Ende-- zugunsten von, möglicherweise konkurrierenden, »Weltpolizisten«. Völkerrechtlich sind jedenfalls weitere Präzisierungen und politisch klarere Regeln nötig, damit aus dem Argument der Schutzverantwortung ein operatives Instrument werden kann. Wahrscheinlich wird sich auch hier im Sinne des skizzierten inkrementell-evolutionären Durch- und Weiterwurstelns in politischem Pragmatismus eine Sicht- und Arbeitsweise herausbilden, die zwar die geheiligte Staatensouveränität weiterhin respektiert, aber diese trotz des Unbehagens der meisten ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats doch auch stärker relativiert. Dabei zeichnet sich ab, dass die Linie, die zum multidimensionalen peace keeping und peace bulding führte, fortgesetzt wird, indem auch das Konzept der Schutzverantwortung unter präventiven, reaktiven und (re)konstruktiven Aspekten ausgearbeitet wird: Konfliktvorsorge und Streitschlichtung, Konflikteindämmung bzw. Friedenserzwingung und schließlich mehr Konfliktnachsorge und Aufbau. Die größte Gefahr ist dabei, dass auch die Verpflichtung zum Schutz nur selektiv erfüllt werden könnte, dass also die Souveränitätsrechte eines Staates in schwacher Außenseiterposition rasch übergangen werden oder-- wahrscheinlicher-- dass eine als begründet und notwendig zu erachtende Intervention unterbleibt, weil es aufgrund der Interessenlagen im Sicherheitsrat politisch nicht genehm oder möglich ist, sich auf ein Eingreifen zu einigen. Nicht zuletzt deswegen ist die öffentliche politisch-ethische Diskussion um das Recht zur humanitären Intervention oder die Verpflichtung zum Schutz von Bevölkerungen bzw. zur Schutzverantwortung zumal in Deutschland schwierig, anhaltend und teilweise quälend- - es vermischen sich darin Interessen, Erfahrungen und Motive der unterschiedlichsten Art (Müller 2011; Stelzenmüller 2011). »Wer das Gewaltmonopol besitzt, ohne Greueltaten zu verhindern, muss sich nicht wundern, wenn andere an seine Stelle treten […].« Thomas Schuler, Journalist (2002, S. 118 f.) »Einer der Gründe für meine Skepsis ist, dass ein Teil der Interventionen nicht allein aus humanitären, sondern auch aus politischen Gründen erfolgt ist. Ein politisches Motiv kann zwar humanitär oder völkerrechtlich bemäntelt sein; aber es bleibt Politik-- und schnell können sich machtpolitische und auch imperiale Instinkte einmischen.« Helmut Schmidt, Bundeskanzler a. D. (DIE ZEIT, Nr. 45, 30.10.2008) Als übergeordnete Kriterien für ein Mandat zur Ausübung der Schutzverantwortung gelten, dass die Bedrohung sehr ernst, der Zweck zweifellos legitim, ein Eingreifen als Mittel verhältnismäßig und dessen Folgen abgewogen sein müssen; als konkretere politische Kriterien, um die Berechtigung und Möglichkeit eines militärischen Einsatzes zu beurteilen, sind zu formulieren (hier nach Ischinger 2011): ● ● Es muss ein eindeutiges Mandat, gemäß dem Völkerrecht nur durch den UNO-Sicherheitsrat zu vergeben, vorliegen, das den Einsatz rechtlich-politisch legitimiert und klare politische Ziele vorgibt (bzw. den Einsatz auf solche einschränkt). <?page no="228"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 228 228 5 Internationale Regime ● ● Die anderen Staaten der betroffenen Region müssen den Einsatz politisch unterstützen, am besten durch eine Regionalorganisation (wie die Arabische Liga oder die Afrikanische Union). ● ● Die Ziele des militärischen Einsatzes müssen möglichst klar definiert und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln auch tatsächlich erreichbar sein. ● ● Speziell für Deutschland muss der Einsatz aus deutschen und europäischen Interessen- - durchaus auch an der Durchsetzung von politischen Werten-- heraus begründet werden können. Damit ist der alte Widerspruch in der Konstruktion der UNO zwischen dem Souveränitätsprinzip, das Einmischung verpönt, und dem Recht oder gar einer Pflicht zur Intervention, die gegen massive Friedens- und Rechtsbrüche vorgehen soll, nicht gelöst-- aber es ist doch ein klarer Trend in der Praxis und in der völkerrechtlichen Diskussion zugunsten des Interventionsprinzips gegeben. Dass seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre die Neigung zu Interventionen wieder deutlich nachgelassen hat, ist wohl keine grundsätzliche Entwicklung, sondern dürfte besonders durch die zwiespältigen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan motiviert sein. Wie andererseits die Diskussionen über die Aufstände in nordafrikanischen und arabischen Ländern gegen die etablierten Machthaber im Jahr 2011 und zumal die Einrichtung einer Flugverbotszone in Libyen durch den Sicherheitsrat zeigen, ist der Gedanke der Schutzverantwortung recht lebendig: Der Einsatz in Libyen von 2011 kann als erster Anwendungsfall der »Schutzverantwortung« gesehen werden; entscheidend für den Beschluss (S/ RES/ 1973 (2011)) war die Forderung der Arabischen Liga als zuständiger Regionalorganisation, eine Flugverbotszone zum Schutz der Aufständischen einzurichten. Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 5.1 Aghayev 2007; Bellers/ Porsche-Ludwig 2010; Blumenwitz 1994; Boulden 2007; Chesterman 2007; Cortright/ Lopez/ Gerber-Stellingwerf 2007; Debiel/ Nuscheler 1996; Doyle/ Sambanis 2006, 2007; Efinger/ Rittberger/ Zürn 1988; Eisele 2007; Evans 2009; Fröhlich 2005; Goldstone 2007; Horn 2005; Isensee 1995; Kaim 2011; Karns/ Mingst 2 2010, S. 289 ff.; Krause 2007; Kühne 2003; Mani 2007; Müller 1993, S. 122 ff., 3 2004, 2005, 2008a; Opitz 2009; Pape 1997; Paris 2007; Pugh 2007; Rittberger/ Zangl 2008, S. 185 ff.; Schaller 2003, 2008; Sidhu 2007; Thakur 2006, 2007; Verlage 2009; Weiss/ Daws 2007; Zangl 3 2004; Zygojannis 2003 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) Die internationalen Regime zum Schutz der Menschenrechte gründen in einer Vielfalt von Wurzeln: in einer langen Tradition von philosophisch/ ethisch/ rechtlichen Diskursen und in zivilgesellschaftlichen Gruppen von schon früh international kommunizierenden Friedens- und Menschenrechtsaktivisten, aber auch im Selbstverständnis rechtsstaatlich verfasster politischer Systeme und in der Entwicklung internationaler Organisationen. Krieg verletzt immer die elementaren Rechte von Menschen, aber selbst das planvolle Morden von Bevölkerungen gilt spätestens seit Cäsars gallischem Krieg als Element der politischen Evolution unserer Zivilisation. Im 20. Jahrhundert wurde der Völkermord durch Türken an den Armeniern (1915/ 16) jedoch auch mitten im Ersten Weltkrieg als untragbares Verbrechen erfahren, bevor dann der systematische Völkermord an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland die vom Zweiten Weltkrieg erschütterte Zivilisation in einen Abgrund einzigartiger Dimension blicken ließ. Somit schien klar, dass der erweiterte Friedensbegriff für die neu zu gründende internationale Organisation den Schutz der Menschenrechte als Priorität bestimmen würde-- dies wurde sogleich beeindruckend symbolisch-rhetorisch als Zielsetzung ausgedrückt (VN-Charta Präambel und Art. 1; s.- Kap. 4.3.2), in der organisatorisch-politischen Praxis jedoch musste sich der Menschenrechtsschutz erst mühsam entwickeln. <?page no="229"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 229 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 229 Dennoch ist neben der Friedenswahrung der Menschenrechtsschutz der zweite klassische Arbeitsbereich der UNO: kaum ein internationaler Mechanismus zum Schutz von Menschenrechten ist völlig unabhängig von ihr, fast alle sind irgendwie in das »UN-System« integriert. Auch wo es starke regionalinternationale Regime für den Menschenrechtsschutz gibt (wie in Europa durch den Europarat und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte/ EGMR) bleibt die universal-multilaterale Zusammenarbeit zwingend. Auch für die meisten Menschenrechts-INGOs, zumal für die führenden wie amnesty international oder Human Rights Watch, sind die zuständigen Gremien und Abteilungen der UNO meist die wichtigsten Kooperationspartner in der Staatenwelt. Das Konfliktpotential zwischen Staaten in Menschenrechtsfragen muss jeden »realistischen« Betrachter überraschen, denn es gibt ja hierbei keine Differenzen in den materiellen Interessen, wie sie bei sicherheits- oder wirtschaftspolitischen Problemen typisch sind; letztlich geht es nur um moralische oder gar nur symbolische Fragen- - weswegen auch demokratisch-menschenfreundliche Regierungen sich gerne geneigt zeigen, die Kosten für eine in Menschenrechtsfragen aktive Außenpolitik gering zu halten (Rittberger/ Zangl 2006, S. 193 f.). Der Widerwillen vieler Staaten bzw. ihrer Regierungen, die Menschenrechte zu achten und zu schützen, muss in länderspezifischen Gründen zu suchen sein, sei es, dass die Legitimität oder Funktionsfähigkeit der eigenen Herrschaft z. B. durch potentiell separatistische Minderheiten bedroht sein könnte, sei es dass aus speziellen wirtschaftlichen Gründen die Gewährung von Menschenrechten unerwünscht ist, z. B. wegen Kinderarbeit. Nicht gering zu achten ist aber auch die Möglichkeit, dass in andern Teilen der Welt ein anderes Menschen- und Gesellschaftsbild vorherrscht als dasjenige, das sich in den nordwestlichen Ländern mühsam-- und gewaltsam-- entwickelt hat. Zwei Konfliktlinien begrenzen den Spielraum des internationalen Menschenrechtsschutzes: ● ● das Ringen um die große Frage, ob das Souveränitätsprinzip oder ein Recht auf Einmischung Vorrang hat, was sich schon als das kritische Problem der Berechtigung der humanitären Intervention bzw. der Schutzverantwortung gezeigt hatte (s.-Kap. 5.1.3); ● ● der Streit um den normativen Status der Menschenrechte zwischen Universalismus und (Kultur-) Relativismus. Für beide Konflikte gibt es keine einfachen Lösungen auf der Basis richtiger Einsichten-- es bleibt wieder einmal nur das multilaterale Spiel des fortdauernden Verhandelns. Beide Konflikte durchziehen die politische Praxis der internationalen Kooperation: Alle rechtlichen und politischen Instrumente sind entsprechend der eigenen Position interpretierbar und recht unterschiedlich zu verwenden im jeweils gerade gegebenen Spielraum. Der dafür notwendige Pragmatismus ist dadurch zu rechtfertigen, dass in einer internationalen Umwelt ohne zentrale Instanz zur effektiven Ahndung von Menschenrechtsvergehen jedes noch so geringe positive Ergebnis erstrebenswert ist. Kleinere, aber wahrscheinlich entscheidende Schritte zu mehr globaler (Menschen-)Rechtssicherheit waren in den letzten Jahren die Gründung von Strafgerichtshöfen zur Ahndung individuell zurechenbarer Menschenrechtsverletzungen. Eine besondere Problematik, in der die Arbeitsbereiche Friedenssicherung, Menschenrechtsschutz und sozioökonomische Entwicklung sich überschneiden, ist Flucht und Migration; das Recht auf Asyl wird selbst immer wieder zum bedrohten oder eingeschränkten Menschenrecht-- gerade in den reichen Ländern. <?page no="230"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 230 230 5 Internationale Regime Das internationale Menschenrechtsregime (nach Liese 2006, S. 70) Prinzipien Souveränität vs. universelle Menschenrechte Normen Menschenrechtsverständnis der-Allgemeinen Erklärung der-Menschenrechte Regeln Völkervertragsrecht (Pakte und Konventionen) Völkergewohnheitsrecht Verfahren Konventionsgestützter Menschenrechtsschutz durch Vertragsgremien: Staatenberichte, Individualbeschwerden, Staatenbeschwerden, eigenständige Untersuchung Chartagestützter Menschenrechtsschutz durch UNO-Organe: Öffentliche und vertrauliche Prüfung von Mitteilungen (1235- und 1503- Verfahren), Arbeitsgruppen, Sonderberichterstatter, Technische Hilfe 5.2.1 Der Anspruch der Menschenrechte Die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« (UN Doc. A/ RES/ 217/ A-(III)) von 1948 formuliert unseren Glauben an die Gültigkeit fundamentaler Menschenrechte, mit denen »alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren« seien-- aber dieser Standpunkt ist nicht von vorneherein und ohne Weiteres zwingend für alle historischen Zeiten und für alle Kulturen (Buergenthal/ Thürer 2010; Höffe 1992; Kälin/ Künzli 2005; Kühnhardt 1991). Man kann die universelle Gültigkeit der Menschenrechte, so wie sie in Europa unter größten Mühen und Kosten erkämpft worden sind, durchaus mit Verweis auf historische, kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen relativieren-- auch ohne damit den mit ihnen verbunden humanistischen oder emanzipatorischen Anspruch aufzugeben. Zumal aus den Kulturen und Religionen des mittleren und fernen Ostens, aber auch aus Afrika, kommt-- oft auch als Abwehr imperialistischer Bevormundung verstanden-- die Kritik an der Verwendung der Menschenrechte als Kampfmittel gegen soziale und politische Verhältnisse, die »dem Westen« missliebig sind. Die theoretisch wie politisch brisante Kontroverse zwischen Universalismus und Kulturrelativismus ist unausweichlich: In kulturrelativistischer Perspektive ist jedes moralische Prinzip nur innerhalb eines gegebenen kulturellen-- oder auch historischen-- Bezugsystems zu verstehen und als wirksam zu erwarten. Verschiedene Kulturen haben nicht nur verschiedene moralische Prinzipien, sondern auch verschiedene Weisen der Sozialisation, durch die Verhaltensnormen gelernt werden. Verschiedene Grundhaltungen zeigen sich schon darin, ob das Individuum oder eine Gruppe bzw. ein größeres Kollektiv die Bezugsgröße für Rechte und Pflichten ist. Die wichtigste Frage ist wohl, ob religiöse Glaubensätze, etwa zum Verhältnis von Mann und Frau, nicht Vorrang haben vor dem menschenrechtlichen Gleichheitsideal. Die universalistische Position besteht auf der kulturübergreifenden natürlichen, vor-kulturellen und vor-staatlichen Gültigkeit der Menschenrechte für jeden Menschen überall auf der Welt, sodass sie also nicht zur Disposition der Politik stehen dürfen. Dem Relativismus wird vorgehalten, er weiche geistig der Ablenkungsrhetorik und politisch der Gewalt von Menschenrechte verletzenden Regierungen statt die eigene Position durchzusetzen. Der Universalismus ist skeptisch zu befragen, woher denn eine unbestreitbare »Letztbegründung« für die <?page no="231"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 231 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 231 Gültigkeit der Menschenrechte zu nehmen sei, wenn nicht aus philosophischen und gesellschaftstheoretischen Argumenten, die ihrerseits in einer kulturell und historisch spezifischen Entwicklung gründen. Der hier gerne vorgebrachte Einwand, dass der überkulturelle Gültigkeitsanspruch ungeachtet spezifischer religiöser oder kultureller Traditionen völlig unabhängig von seiner Entstehung in der westlichen Moderne zu erheben sei, übergeht den Unterschied zwischen einem anthropologisch/ sozialphilosophisch begründeten theoretischen Geltungsanspruch und dessen historischer und gesellschaftlicher Bedingtheit, die sich und ihn entwickelt und verändert: Unsere Menschenrechte sind das historische Produkt eines langen geistigen und politischen Kampfes mit hohen menschlichen und materiellen Kosten, die in unseren Köpfen und sozialen Ordnungen bestimmte Strukturen und Ressourcen entstehen ließen, die Wirkung und Wahrung dieser Menschenrechte erlauben; sie sind also nicht mehr nur Ideen, sondern institutionalisierte Normen. Der mit diesen Erfahrungen erworbene universale Geltungsanspruch kann und muss erhoben werden, ohne seine faktische Durchsetzung unvermittelt zu fordern oder gar zu erzwingen-- daran ändert auch die berechtigte Unterstellung nichts, dass die kulturrelativistische Haltung von Menschenrechte verletzenden Regierungen oft nur vorgeschützt wird. Der Respekt vor der-- auch menschenrechtlich zu schützenden-- Würde anderer Kulturen und deren Menschenbildern verlangt, die eigenen Erfahrungen nur als Angebot weiterzugeben, nicht als Wahrheit zu missionieren-- Menschenrechte kosten, sie müssen und können sich in einer Gesellschaft nur von innen her durchsetzen. Wie sehr einzelne Rechte auch als historische Errungenschaften zu verstehen sind, zeigt allein schon die Redeweise von verschiedenen »Generationen« von Menschenrechten. Diese ist allerdings insofern fragwürdig, als die damit ausgedrückte zeitliche Abfolge auch als eine Rangordnung empfunden werden kann, nach der die erste »Generation« die wichtige Grundlage wäre, auf der die nachrangigen aufbauen. Verbreitet ist die Einteilung in erstens die bürgerlichen und politischen Rechte, also die liberalen Schutz- oder Abwehrrechte und die Mitwirkungsrechte, zweitens die gesellschaftlichen Anspruchsrechte auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe, die entsprechende Leistungen verlangen, und drittens so etwas wie globale Solidaritätsrechte. Tab. 33: Kategorien von Menschenrechten »Generation« Bezeichnungen/ Schlagworte Rechte auf (Beispiele) Anspruch auf gerichtet gegen erhoben von »erste« Abwehrrechte → civil and political rights Leben Unversehrtheit Freiheit/ Freizügigkeit Gerichtsverfahren Schutz vor Gewalt und Willkür »Obrigkeit« Staat Individuen Freiheitsrechte »rights to do« → civil and political rights Meinungsfreiheit Versammlungsfreiheit Vereinigungsfreiheit Wahlfreiheit politische Freiheiten Staat Individuen Gruppen Parteien »zweite« Anspruchsrechte »rights to claim« → social, economic and cultural rights Arbeit soziale Absicherung Gesundheitsschutz Bildung und Kultur wirtschaftliche und soziale Teilhabe Wirtschaft Gesellschaft (Staat) Individuen Gruppen Schichten »dritte« Solidaritätsrechte → group and collective rights Selbstbestimmung Entwicklung intakte Umwelt Zugang zu Wasser globale öffentliche Güter internationale Gemeinschaft? Kollektive »Völker« <?page no="232"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 232 232 5 Internationale Regime Im Ost-West-Konflikt wurden die Menscherechte oft als rhetorische Waffen eingesetzt-- von beiden Seiten. Die liberalen Schutz- und Freiheitsrechte der »ersten Generation« waren naturgemäß das Anliegen des freien Westens, während der kommunistische Osten beanspruchte, die »zweite Generation« der sozialen Rechte nicht nur im eigenen System verwirklicht zu haben, sondern im internationalen Klassenkampf weltweit durchsetzen zu wollen; Länder aus der sog. Dritten Welt, die von beiden Lagern mit ihren Errungenschaften beglückt werden sollten, propagierten dann ihrerseits seit Mitte der 1960er Jahre mit dem »Recht auf Entwicklung« erstmals ein Menschenrecht der »dritten Generation«. »Anstatt nur die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen, sollten westliche Staaten vielmehr kollektive Solidaritätsrechte dem globalen Süden gegenüber garantieren, um so effektiv bei der Gewährleistung der Menschenrechte zu helfen. Die elementarsten kollektiven Rechte sind das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das damit verknüpfte Recht auf Entwicklung, das Recht auf Frieden, auf eine saubere Umwelt, auf Kommunikation sowie auf einen gerechten Anteil an den Schätzen von Natur und Kultur. Beim Streit um die Anerkennung des Rechts auf Entwicklung und anderer kollektiver Rechte muss in Betracht gezogen werden, dass die Wirkung nationaler Politik grundsätzlich kaum mehr an einer Grenze halt macht.« Wikipedia (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Menschenrechte) Problematisch ist jenseits der Begründung einzelner Rechte jeweils die Frage, an wen sie sich genau richten und wie sie konkret verwirklicht und durchgesetzt werden sollen. Für die klassischen bürgerlichen und politischen Schutzbzw. Freiheitsrechte ist das noch relativ einfach: Adressat ist der Staat, der als Obrigkeit gewisse Akte nicht mehr vollziehen (wie Folter und willkürliche Hinrichtung) bzw. als Gewaltmonopolist nicht mehr dulden (wie Versklavung und Verfolgung) darf. Die sozialen Anspruchsrechte richten sich an Gesellschaft und Wirtschaft, die allenfalls wieder der Staat zu den entsprechenden Leistungen verpflichten könnte, was den alten Zielkonflikt von freier Marktwirtschaft vs. staatlich gelenkter Verteilung aufbricht. Völlig vage müssen zwangsläufig die Ansprüche kollektiver Solidarität wie das »Recht auf Entwicklung« bleiben, weil nicht nur ihr Urheber praktisch schwer zu bestimmen ist, sondern vor allem weil ihr Adressat »internationale Gemeinschaft« mangels Weltregierung allenfalls über internationale Regime zu Entwicklung, Umwelt usf. indirekt zu erreichen ist; für deren Stärkung können die Kollektivrechte auf globale öffentliche Güter wie Luft und Wasser allerdings wichtige Argumente sein. 5.2.2 Abkommen und Mechanismen zum Menschenrechtsschutz Die internationalen Regime zum Menschenrechtsschutz haben denn auch ihren Arbeitsschwerpunkt in der Sicherung der bürgerlichen und politischen Schutzbzw. Freiheitsrechte; soziale Anspruchsrechte werden in erster Linie im Rahmen von Regelungen zum spezifischen Schutz bestimmter sozialer Gruppen (Frauen, Kinder, Wanderarbeiter, Behinderte) bearbeitet. Die Abkommen und Mechanismen zu Durchsetzung und Schutz der Menschenrechte sind inzwischen recht umfangreich und funktionieren auf verschiedenen Ebenen (Alston 1992; Buergenthal/ Thürer 2010; Kälin/ Künzli 2005; Opitz 2002; Ramcharan 2007; Weiß 2007). Funktionierende regionale Regime zum Menschenrechtsschutz oder zumindest Ansätze dazu gibt es im Rahmen von Regionalorganisationen (s.-Kap. 5.1.2.3) vor allem in Europa (Europarat, OSZE), aber auch in Amerika (OAS) und Afrika (OAU/ AU), der ehemaligen Sowjetunion (GUS) und der islamischen Welt (Arabische Liga, OIC). Ihre Basis sind regionale bzw. regionalspezifische Erklärungen der Menschenrechte und als Instrument haben sie z.T. auch eigene Menschenrechtsgerichtshöfe. Aber die <?page no="233"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 233 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 233 wichtigsten Rechtsgrundlagen, Institutionen und Instrumente für den internationalen Menschenrechtsschutz gehören wieder zur UNO oder sind mit ihr verbunden. In der UNO-Charta werden die Grundfreiheiten und Menschenrechte nachdrücklich, aber nur sehr allgemein bekräftigt, ohne dass konkrete Bestimmungen formuliert oder spezielle Organe und Instrumente für ihre Pflege und ihren Schutz vorgesehen sind. Kompetenzen dafür haben vorrangig die Generalversammlung und auch der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), im Fall eines ernsten Konflikts natürlich der Sicherheitsrat-- und für Streitschlichtung und Rechtsfragen der Internationale Gerichtshof (IGH). Zur Auflösung der Spannung des Menschenrechtsanspruchs zum Interventionsverbot gibt die Charta keine Anleitung. Die Fragen der Menschenrechte und ihres internationalen Schutzes konnten bis zur Gründung der UNO 1945 nicht fertig verhandelt werden, sodass dieser symbolisch sehr hoch gewertete Aufgabenbereich vage formuliert bleiben musste. Die schon vor 1945 massiven Differenzen zwischen den Positionen der Sowjetunion unter Stalin und den USA wurden in der Ausarbeitung der »Allgemeinen Erklärung« nicht geringer, sondern verschärften sich mit dem »Kalten Krieg«, sodass die Hoffnung auf einen völkerrechtlich bindenden internationalen Menschenrechtsvertrag mit umfassendem Rechtekatalog enttäuscht wurde. Die Lücken in der UNO-Charta wurden nur durch eine gesonderte Menschenrechts-»Erklärung« (»declaration«) geschlossen, die zwar 1948 von der Generalversammlung als »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« (AEMR/ Universal Declaration of Human Rights/ UDHR; UN-Doc. 217/ A/ III; oft auch unkorrekt »UN-Menschenrechtscharta« genannt) feierlich beschlossen wurde, aber kein verbindlicher Vertrag ist. »Die inhaltliche Breite der Erklärung ist hervorzuheben. Sie garantiert die klassischen bürgerlichen und politischen Freiheiten, die seit der französischen Revolution diskutiert wurden. Darunter findet sich auch das Eigentum (Art. 17 AEMR), welches etwa im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte nicht geschützt wird. Daneben formuliert die AEMR wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Eine solche Einheit von Menschenrechten dieser beiden Gruppen ist später nicht wieder erreicht worden. [Deutlich ist der] Kompromisscharakter der Erklärung […]: Jeder stimmte Wünschen der jeweils anderen Seite zu, um im Gegenzug eigene Vorstellungen hineinschreiben zu können. Und die Bereitschaft aller zum Kompromiss wurde durch die allseits bekannte fehlende rechtliche Bindungswirkung der AEMR als Resolution der Generalversammlung erhöht. Doch mindert dies nicht die Bedeutung der Erklärung […] als Aufbruchssignal in ein wertegeleitetes Völkerrecht [und als einem] vitalen Bestandteil des Menschenrechtsschutzsystems der Vereinten Nationen. […] ein Teil der in der AEMR formulierten Rechte [hat sich] inzwischen zu Völkergewohnheitsrecht verfestigt […].« Norman Weiß (2007, S. 166 f.) Den Protagonisten eines verbindlichen Menschenrechtsschutzregimes im Rahmen der Vereinten Nationen blieb also nur der andere Weg, der ohnehin einer UNO-typischen Methode folgte: In kleineren Schritten und jeweils auf einen abgrenzten Bereich von Menschenrechten gerichtet, dort wo ein besonderer Bedarf oder die aktuelle Gelegenheit zu Fortschritten zu sehen war, wurden einzelne Vertragsentwürfe formuliert und diskutiert-- und mit der Zeit sogar als Abkommen geschlossen. Die rahmenden Konfliktlinien in diesen langwierigen und verschlungenen Verhandlungsprozessen waren neben der Ost- West-Konfrontation sehr bald der Interessengegensatz zwischen Nord und Süd-- und dann immer mehr zwischen »dem Westen« und »dem Islam«, beides sicherlich durch politische Interessen geprägte Konstrukte, aber wirksam. Die eigentlichen Rechtsgrundlagen für den Menschenrechtsschutz wurden also in einer Reihe differenzierter internationaler Verträge festgelegt- - in diesem Arbeitsbereich gern »Pakte« (»covenant«) und <?page no="234"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 234 234 5 Internationale Regime »Konventionen« (»convention«) genannt. Diese Abkommen sehen meist bestimmte Verfahren und Mechanismen zur Überwachung ihrer Einhaltung vor, sodass auch im Menschenrechtsbereich eine reiche Vielfalt von Institutionen und Gremien zu finden ist. Internationaler Menschenrechtsschutz: die wichtigsten völkerrechtlichen Grundlagen des-Menschenrechtsschutzes Charta der Vereinten Nationen (UN Charter), 1945 → Kein gesondertes Kapitel zu Menschenrechten, auch keine Bestimmungen zu Organen und Verfahren eines aktiven Menschenrechtsschutzes → Aber: Nichteinmischungsgebot, das eine Durchsetzung von Menschenrechten in souveränen Staaten von außen prinzipiell ausschließt (Art. 2) Präambel »Glaube an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau«/ »sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit« Art. 1 Ein Ziel der UNO ist die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion Art. 13 Kompetenz der GV zu Untersuchungen und Empfehlungen zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten Art. 55 Aufgabe der internationalen Zusammenarbeit ist die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten Art. 56 Verpflichtung aller Mitgliedstaaten der UNO zur Zusammenarbeit für dieses Ziel Art. 62 Kompetenz des ECOSOC zu Empfehlungen zur Förderung der Achtung und-Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Art. 68 Kompetenz des ECOSOC zur Einsetzung von Kommissionen für die Förderung der Menschenrechte [→ 1946 Menschenrechtskommission (CHR) / → 2006 Menschenrechtsrat (HRC)] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, AEMR (Universal Declaration of Human Rights/ UDHR), 1948 → Kein internationaler Vertrag, sondern eine Resolution, beschlossen ohne Gegenstimmen von der Generalversammlung der UNO am 10. Dezember 1948 (UN-Doc. 217/ A/ III) nach Ausarbeitung durch die Menschenrechtskommission (HRC) als Fachkommission des ECOSOC Art. 1 »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Art. 2 Diskriminierungsverbot Art. 3-20 Bürgerliche Freiheitsrechte (u. a. auf Leben und Freiheit, Verbot von Sklaverei und Folter, Rechtsstaatlichkeit, Freizügigkeit und Asyl, Staatsangehörigkeit, Ehe und Familie, Eigentumsgarantie, Gedanken-/ Gewissens-/ Religionsfreiheit, Meinungs-/ Informationsfreiheit, Versammlungs-/ Vereinigungsfreiheit) <?page no="235"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 235 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 235 Art. 21 Recht auf politische Betätigung und Teilhabe Art. 22-28 wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (u. a. auf soziale Sicherheit, Arbeit und gleichen Lohn, Koalitionsfreiheit, Erholung und Freizeit, angemessenen Lebensstandard, Bildung, Erziehungsziele, Elternrecht, freies Kulturleben, angemessene Sozialordnung, angemessene internationale Ordnung) Art. 29 Einschränkung dieser Rechte, Grundpflichten Art. 30 Auslegungsvorschrift zur Begrenzung dieser Einschränkung Internationaler Pakt (I) über bürgerliche und politische Rechte → »Zivil-Pakt« (International Covenant on Civil and Political Rights), CCPR, 1966 → »erste Generation« der Menschenrechte: Freiheitsrechte (»rights to do«) Art. 6-8 Schutz der individuellen Freiheit (protection of individual liberty) Art. 21-22 Schutz des Menschen in der Gesellschaft (protection of the human being in the society) Art. 25 Schutz der politischen Rechte (protection of political rights) Art. 27 Schutz der Rechte sozialer Gruppen (protection of rights of social groups) → Überwachung der Umsetzung durch das Vertragsorgan (treaty body) Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee) aus 18 unabhängigen Experten Internationaler Pakt (II) über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte → »Sozial-Pakt« (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights), CESCR, 1966 → »zweite Generation« der Menschenrechte: Anspruchsrechte (»rights to claim«) Art. 6-8 wirtschaftliche Rechte (economic rights) Art. 9-12 soziale Rechte (social rights) Art. 13-15 kulturelle Rechte (cultural rights) → Überwachung der Umsetzung durch das Vertragsorgan (treaty body) CESCR (Committee on Economic, Social and Cultural Rights) aus 18 unabhängigen Experten a die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« und die beiden Menschenrechtspakte (sowie zwei Fakultativ-Protokolle zum CCPR) zusammen gelten auch als »International Bill of (Human) Rights« Weitere internationale Verträge bzw. »Menschenrechts-Konventionen« zu speziellen Bereichen CERD (1965) Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination) CEDAW (1979/ 1999) Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women) CAT (1984) Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe / »Anti-Folterkonvention« (Convention against Torture and other Cruel, Inhuman and Degrading Treatment or Punishment) <?page no="236"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 236 236 5 Internationale Regime CRC (1989/ 2000) Übereinkommen über die Rechte des Kindes / »Kinderrechtskonvention« (Convention on the Rights of the Child) CMW (1990) Internationales Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (International Convention on the Protection of the Rights of all Migrant Workers and Members of their Families) CRPD (2006) Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen / »Behindertenrechtskonvention« (Convention on the Rights of Persons with Disabilities) ICAPED (2010) Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance) → Zu einigen Konventionen gibt es ein oder mehrere Fakultativprotokolle → Überwachung der Umsetzung durch einzelne »Vertragsorgane« (treaty bodies) Verwandte Konventionen mit hoher Bedeutung für den Menschenrechtsschutz CPPCG Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide,), CPPCG, 1948 [1951] Genfer Flüchtlingskonvention Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, auch »Genfer Flüchtlingskonvention« (United Nations Convention Relating to the Status of Refugees), 1951 → begründet den UNHCR als Organ zur Überwachung und Umsetzung Rom-Statut Vertrag zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (Rome Statute of the International Criminal Court [ICC], 1998 [2002] (UN Doc. A/ CONF.183/ 9) Regionale Erklärungen der Menschenrechte als Ergänzung oder Kontrastierung zur AEMR (UDHR) Europa Europäische Menschenrechtskonvention bzw. Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), 1950 [1953] Amerika American Convention on Human Rights, 1969 [1978] Afrika African Charter on Human and Peoples’ Rights, 1981 [1986] Islam arab. Raum Kairoer Erklärung der Menschenrechte durch die Islamische Konferenz (OIC), 1990 Arabische Charta der Menschenrechte, 2004 [2008] Asien Eine asiatische Menschenrechtscharta wird zumindest diskutiert Ú Einzelne Resolutionen von GV, SR und ECOSOC oder auch Schlussdokumente von (Welt-) Konferenzen entwickelten die Rechtsgrundlagen für den internationalen Menschenrechtsschutz z.T. substantiell weiter z. B. 1963 die GV gegen Rassismus mit der »Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung« (A/ RES/ 1904 (XVIII), 1963) <?page no="237"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 237 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 237 z. B. 1963/ 1970 der ECOSOC die Charta-basierten »Verfahren nach 1235« mit E/ RES/ 1235 (XLII), 1967, und »Verfahren nach 1503« mit E/ RES/ 1503 (XLVIII), 1970 z. B. 2005/ 2006 die GV mit A/ RES/ 60/ 1, 2005 und der SR mit S/ RES/ 1674 (2006) das Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect) Ú Weiter gibt es meist aus dem UN-System eine Vielzahl speziellerer Resolutionen, Deklarationen und offizieller Kataloge mit Prinzipien, Standards und Regeln zu Menschenrechtsfragen (s.-z. B. unter »international law« auf der Internet-Seite des OHCHR) Die wichtigste formale und organisatorische Unterscheidung, die sich durch den gesamten Regime- Komplex des Menschenrechtsschutzes zieht, sowohl hinsichtlich der Rechtsgrundlagen wie der Institutionen/ Gremien, weniger noch hinsichtlich derer Arbeitsweisen, ist der zwischen ● ● den charta-basierten Organen wie Menschenrechtsrat und Hochkommissariat für Menschenrechte und ● ● den vertrags-basierten Organen, den einzelnen »Vertragsorganen«. Die in der UNO-Charta gründenden Organe, Räte und Kommissionen der UNO sind für den Menschenrechtsschutz hinsichtlich aller Mitgliedstaaten der UNO zuständig. Die durch einzelne internationale Verträge gegründeten Ausschüsse dienen dagegen nur der Beobachtung der Umsetzung der zugrunde liegenden Konventionen durch diejenigen Staaten, die den jeweiligen internationalen Vertrag unterzeichnet und auch ratifiziert haben. Der Unterschied zwischen diesen beiden Ebenen wird noch deutlicher an den internationalen Strafgerichtshöfen: Die sog. Ad-hoc-Tribunale sind Gerichte, die der Sicherheitsrat aufgrund seiner ihm von der UNO-Charta verliehenen Kompetenzen für bestimmte Fälle einrichtet; der neue Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court/ ICC) in Rom gründet dagegen in einem eigenständigen internationalen Vertrag (»Rom-Statut«). Im Menschenrechtsschutz waren zivilgesellschaftliche Elemente von Anfang an besonders engagiert; seit den 1960er Jahren entstanden große internationale nichtstaatliche Organisationen (INGOs), die sich aktiv immer mehr in die internationalen Regime einmischten. Sie sind inzwischen als Informationsquellen und Lobbyisten wichtige und anerkannte Akteure, auch wenn ihr politischer Status weiterhin umstritten bleibt; ihre formale Akkreditierung regelt jeweils der ECOSOC. Die Menschenrechtskommission (Human Rights Commission) war ab 1946 als funktionale Fachkommission des ECOSOC das für den charta-basierten Menschenrechtsschutz zuständige Arbeitsgremium der UNO. Weil aber in ihr Staaten (zuletzt 53 nach dem üblichen Proporz auf Zeit gewählt) Sitz und Stimme hatten, deren eigene Menschenrechtspolitik nicht vorbildlich sein musste oder gar verbrecherisch sein konnte, verlor die Kommission immer mehr an Glaubwürdigkeit. Auch die von ihr untersuchten Probleme schienen immer einseitiger ausgewählt; sie wurde unter anderem als Kampfmittel im Nahost-Konflikt gebraucht. Die Menschenrechtskommission war zu einem so großen Ärgernis geworden, dass sie-- und das war ein einmaliger Vorgang bei einer so wichtigen Institution-- auf Vorschlag des Generalsekretärs von der Generalversammlung 2006 aufgelöst und durch ein anders konstruiertes und zusammengesetztes Gremium ersetzt wurde, dem Menschenrechtsrat (Human Rights Council/ HRC; A/ RES/ 60/ 251) als einem Nebenorgan der Generalversammlung selbst. Die Kritiker der alten Menschenrechtskommission, vor allem die USA, verlangten eine härtere Regelung für den Zugang zu dem neuen Gremium als schließlich erreichbar war. Immerhin müssen die Kandidaten nun die Zustimmung der Hälfte der Mitglieder in der Generalversammlung finden; damit mag man eine Kandidatur z. B. des Sudan oder Nord-Koreas verhindern, aber was geschieht, wenn die VR China gewählt werden will? <?page no="238"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 238 238 5 Internationale Regime Dem neuen Menschenrechtsrats wurden grundsätzlich dieselben Aufgaben wie der Menschenrechtskommission gegeben, deren Arbeit er transparenter und effizienter fortführen sollte; dabei konnte er die entwickelten Verfahrensweisen und Instrumente des multilateralen Menschenrechtsschutzes übernehmen, sollte sie aber kritisch überprüfen und verbessern. Der Rat schuf sich ein neues Gremium unabhängiger Berater (HRC Advisory Committee). Als eine echte Neuerung entwickelte der Rat das Instrument der »allgemeinen regelmäßigen Überprüfung« (universal periodic review/ UPR) aller Staaten daraufhin, ob sie ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen erfüllen; dem müssen sich auch alle Ratsmitglieder während ihrer Mitgliedschaft stellen. Die Staaten selbst müssen berichten; beigezogen werden Generalversammlung Menschenrechtsrat (Human Rights Council) HRC [seit 2006] Menschenrechtskommission CHR [bis 2006] Hochkommissar für Menschenrechte HCHR Amt des HCHR OHCHR UNHCR Tribunale ICTR ICTY u. a. ECOSOC Sekretariat Sicherheitsrat Dritter Haupt-Ausschuss für soziale, humanitäre und kulturelle Fragen chartabasiert UN- Institutionen vertragsbasiert Vertragsorgane (GV/ Dritter Ausschuss) (ECOSOC) (Sicherheitsrat) CCPR [HRC] CERD CEDAW CESCR CAT CRC CMV CRPD CED Internationaler Strafgerichtshof (International Criminal Court) ICC (Rom-Statut) Nichtregierungsorganisationen (International/ Non-governmental Organizations) NGO/ INGO (zivilgesellschaftlich) Abb. 6: Internationaler Menschenrechtsschutz: UNO-Institutionen und Vertragsorgane <?page no="239"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 239 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 239 Informationen und Dokumente weiterer UN-Instanzen, etwa des Hochkommissars für Menschenrechte (HCHR), und auch aus der Zivilgesellschaft (Menschrechtsorganisationen, Forschungsinstitute, Journalismus). »Die Bedeutung der früheren Kommission (und so auch jene des heutigen Rates) darf nicht unterschätzt werden: sie hat maßgeblich zur Entwicklung universeller Menschenrechtsstandards beigetragen, und durch ihre Arbeit ist auch das Bewusstsein der Regierungen für die Verbindlichkeit von Menschenrechtsnormen gewachsen. Staaten können sich nicht mehr unter Berufung auf das Nichteinmischungsgebot der UNO-Charta der öffentlichen Kritik an ihrer Menschenrechtspolitik entziehen. Sie sind vielmehr verpflichtet, sich mit entsprechenden Vorwürfen öffentlich auseinanderzusetzen. Zudem hat sich eine besonders enge Zusammenarbeit mit hunderten von NGOs etabliert, welche in dieser Weise einzigartig ist.« Thomas Buergenthal/ Daniel Thürer (2010, S. 81) Der konkrete Menschenrechtsschutz bzw. schon die Bestandsaufnahme von Problemen und Verletzungen kann zwangsläufig auf massive politische Widerstände von Staaten treffen, die kritisiert werden oder werden könnten. Darum sind auch Umgehungsmanöver nötig wie die Methode, in »besonderen Verfahren« thematische Schwerpunkte »weltweit« zu untersuchen, weil unabhängige Länderbeobachter nicht immer zugelassen werden. Die Informationen von NGOs können dabei sehr hilfreich sein, haben aber natürlich keinen offiziellen Charakter. Nach den Erfahrungen der ersten Jahre scheint sich der Eindruck zu verfestigen, dass der HRC im Grunde die gleichen Probleme hat wie sein Vorgängergremium, wegen derer seine Arbeit politisch nicht neutral sein kann, aber selektiv sein muss: Seine Mitglieder sind immer noch Staaten, von denen die meisten die Menschenrechte nicht auf ihrer Prioritätenliste stehen haben, diese aber für andere politische Fragen-- wie den Konflikt mit Israel-- im eigenen Interesse funktionalisieren, während sie zugleich an vielen konkreten Menschenrechtsverletzungen anderswo aktiv desinteressiert sind. »Der Menschenrechtsrat spiegelt ein weitgehend repräsentatives Bild der politischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Heterogenität der internationalen Gemeinschaft wider, in der sehr unterschiedliche Auffassungen und Haltungen zu den Menschenrechten und ihrem Schutz bestehen. Diese Realität kann nicht durch den Zuschnitt eines Gremiums überwunden werden, auch nicht durch Konfrontationen, Sanktionen oder Boykotte. Vielmehr bleibt der internationale Menschenrechtsschutz angewiesen auf die Bereitschaft der Staaten und ihrer Gesellschaften, sich in kleinen Schritten und zähen Verhandlungen über die grundlegenden Normen und Verfahren zu verständigen und diese in ihren politischen Ordnungen und Rechtssystemen zu verankern. Um diesen internationalen Diskurs nicht abreißen zu lassen, bedarf es gemeinsamer Foren, unter denen der Menschenrechtsrat eine zentrale Arena ist. Bei allen genannten Schwächen verfügt der Rat doch über die erforderlichen Verfahren und Instrumente, um die Menschenrechtsituation in kooperativer Weise weltweit zu verbessern. Es sind die Staaten, die diese Möglichkeiten nutzen können. Tun sie dies nicht, könnte den Menschenrechtsrat rasch das Schicksal seiner Vorgängerin ereilen.« Sven Gareis (2008, S. 20 f.) Neben dem Menschenrechtsrat arbeitet als zweite wichtige Instanz des charta-basierten Menschenrechtsschutzes der »Hohe Kommissar für Menschenrechte« (HCHR, mit dem OHCHR als zugeordnetem Büro); das Amt wurde 1993 durch eine Resolution der Generalversammlung (A/ RES/ 48/ 141) eingerichtet und inzwischen mehrfach von einer Kommissarin wahrgenommen. Als ein/ e Untergeneralsekretär/ in (under secretay general) unmittelbar nur der Weisung des Generalsekretärs unterworfen, kann sich der/ die HCHR große Handlungsspielräume erarbeiten, zumal die Zuständigkeiten des Amtes weit <?page no="240"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 240 240 5 Internationale Regime Der Menschenrechtsrat (HRC) - gegründet 2006 mit GV-Resolution A/ RES/ 60/ 251 Mitgliedschaft 47 auf drei Jahre von der GV mit einfacher Mehrheit gewählte Mitglieder: 13-afrikanische, 13 asiatische, sechs osteuropäische, acht lateinamerikanische/ karibische, sieben westeuropäische/ andere Staaten; einmalige Wiederwahl ist möglich; die Mitgliedschaft kann mit Zwei-Drittel-Mehrheit von der GV suspendiert werden; der Beitrag der Kandidaten zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte soll bei der Auswahl bedacht werden Verpflichtungen Die Mitglieder sollen den höchsten Ansprüchen bei Förderung und Schutz der Menschenrechte gerecht werden, mit dem Rat zusammenarbeiten und freiwillige Verpflichtungen zusagen; auch sie müssen sich der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung (universal periodic review/ UPR) ihrer Menschenrechtsbilanz unterziehen Aufgaben Förderung der allgemeinen Achtung und des Schutzes aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen; Verbesserung und Straffung der Arbeitsweise des Menschenrechtsschutzes der UNO; Koordinierung und Integration der Menschenrechtsarbeit im System der UNO; Beobachtung und Prüfung von groben und systematischen Verletzungen der Menschenrechte und Empfehlungen dagegen Sitzungen in Genf mindestens drei Sitzungsperioden im Jahr, eine als Haupttagung von mindestens zehn Wochen; Sondersitzungen sind möglich Verfahren und Instrumente  Bestandsaufnahme der Menschrechtssituation weltweit und in einzelnen Ländern  UPR-Verfahren zur turnusmäßigen Überprüfung der Menschenrechtspolitik in allen UN-Mitgliedstaaten anhand der eingegangenen Verpflichtungen (Charta, Verträge) und einzelner Zusagen auf der Grundlage einer Zusammenstellung menschenrechtsrelevanter Informationen aus allen verfügbaren Quellen; mit dem Ergebnis können Empfehlungen ausgesprochen werden, die allerdings nicht rechtlich verpflichtend sind  Resolutionen und Stellungnahmen zu konkreten Menschenrechtsverletzungen  Einsatz von unabhängigen Experten/ -gruppen als »Sonderberichterstatter« in »Sonderverfahren« (special procedures) mit dem Mandat, entweder die Lage in bestimmten Staaten (country mandates) oder eine bestimmte Art von Menschenrechtsverletzungen (thematic mandates, z. B. Folter, Kinderhandel, willkürlichen Hinrichtungen) weltweit zu beobachten und zu untersuchen, durch Länderbesuche und die Nutzung aller verfügbaren Quellen, insb. mit Hilfe von NGOs  Verfahren der alten Menschenrechtskommission zu Individual- und Gruppenbeschwerden über schwere Menschenrechtsverletzungen waren die »nach 1235« und »nach 1503« auf der Grundlage von Resolutionen des ECOSOC; der HRC hat seit 2007 ein modifiziertes Beschwerdeverfahren (complaint procedure), das auf substantielle »Mitteilungen« (communications) reagiert, wenn die innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sind  Beratergremium aus 18 als Personen gewählte Experten (HRC Advisory Committee) zur Ausarbeitung von Studien und fachlichen Empfehlungen <?page no="241"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 241 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 241 gefasst sind: Es soll die-Menschenrechte nicht nur fördern und schützen, sondern auch die internationale Kooperation dazu auf Ebene der UNO wie zwischen einzelnen Staaten verstärken, das System und die Mechanismen des Menschenrechtsschutzes der UNO koordinieren und effizienter machen-- und schließliche Hemmnisse für die Durchsetzung von Menschenrechten mindern und deren Verletzung verhindern. Damit hat das OHCHR die Möglichkeit, Menschenrechte nicht nur als grundsätzliche Normen zu pflegen, sondern den Menschenrechtsschutz in seinen »Feldmissionen« aktiv und präventiv zu propagieren-- nicht nur als technische Dienstleistungsagentur für Staaten (z. B. für die Ausbildung von Polizisten), sondern auch als politisches Gegenüber von Regierungen. Viel älter als das Amt des HCHR ist das des Hochkommissars für Flüchtlinge (UN High Commissioner for Refugees/ UNHCR), seit 1950 ein der Generalversammlung berichtspflichtiges Spezialorgan, dessen Aufgaben- und Tätigkeitsbereich eng mit dem Menschenrechtsschutz zusammenhängt: Schutz und Hilfe für Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, in deren Situation fast alle Menscherechte gefährdet sind; für die meisten Flüchtlinge und Vertriebene ist das Menschrecht auf Asyl die Überlebensgrundlage. Eine zusätzliches Element des charta-basierten Menschenrechtsschutzes sind große Weltkonferenzen, die sowohl die Diskussion als auch die Wertschätzung der Menschenrechte in Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft voranbringen können: die erste Weltkonferenz für Menschenrechte/ World Conference on Human Rights von 1968 in Teheran (Iran) und die zweite von 1993 in Wien (Österreich) sowie die Weltkonferenz gegen Rassismus/ World Conference Against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance von 2001 in Durban (Südafrika). Völkerrechtlich und menschenrechtspolitisch war die zweite Weltkonferenz für Menschenrechte von 1993 bedeutsam, weil durch sie die Universalität der Menschenrechte, die Gleichwertigkeit und Unteilbarkeit aller Arten von Menschenrechten sowie die Einsicht, Frauenrechte seien Menschenrechte, betont wurde. Der vertrags-basierte Menschenrechtsschutz funktioniert nicht außerhalb der UNO, aber auf eigenständigen Rechtsgrundlagen und mit eigenen Strukturen, eben den »Vertragsorganen«, die durch den jeweiligen Vertrag eingerichtet worden sind. Jeder Ausschuss soll die Einhaltung seines Vertrags überwachen und die praktische Umsetzung seiner Ziele durch die Mitgliedstaaten beobachten. Die Umsetzung der völkerrechtlichen Grundlagen zum Schutz der Menschenrechte hängt von der Bereitschaft der Staaten ab, diese selbst zu achten und Rechtsverletzungen anderer zur Kenntnis zu nehmen und zu ahnden-- am besten durch multilaterale Schutzregime. Ab 1948 wurden dafür die verschiedensten Verfahren und Mechanismen entwickelt, um auch ohne die utopischen Durchgriffsmöglichkeiten einer Weltregierung diese Bereitschaft nennenswert zu erhöhen. Zunächst gibt es die Möglichkeit, mit Argumentation und Rhetorik Regierungen zu Wohlverhalten zu bringen, z. B. durch die Vermittlung der klassischen regimetheoretischen Einsicht, dass sich konstruktive Zusammenarbeit stärker lohnt als Konfrontation. Dies mag als »stille Menschenrechtsarbeit« bei Staatsbesuchen im Einzelfall gelingen und solche Überzeugungsarbeit ist auch eine wichtige Aufgabe für den Generalsekretär der UNO. Über Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft kann die UNO ihrerseits Einfluss auf Regierungen ausüben, was seit Kofi Annans Amtszeit vermehrt und in verschiedenen Formen versucht wurde; der durchaus umstrittene »global compact« z. B. sollte große Wirtschaftsunternehmen zur Einhaltung menschen- und arbeitsrechtlicher Normen auch ohne oder sogar gegen staatliche Vorgaben animieren. All dies sind aber keine verlässlichen und auf ihren Erfolg leicht überprüfbare Methoden. Das extreme Gegenteil dazu ist der gewaltgestützte Zwang durch Sanktionen oder humanitäre Interventionen (s.-Kap. 5.1.2), der aber nur selten und keinesfalls immer mit Erfolg eingesetzt werden kann. Dazwischen bleibt die UNO-typische Methode der Produktion von Berichten und deren Auswertung in Gremien-- in der Hoffnung, dies allein könnte schon viel bewirken: Erstens kann so Transparenz und Publizität hergestellt werden, zweitens können daraufhin erhobene Anklagen und drohender Gesichtswww.claudia-wild.de: <?page no="242"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 242 242 5 Internationale Regime verlust ein Anreiz für die kritisierte Regierung sein, ihr Verhalten zu ändern, selbst wenn außer der Blamage keine weiteren politischen und materiellen Kosten zu befürchten sind. Dieser oft beschworene Effekt des Beschuldigens und Beschämens (»blaming and shaming«) ist schwer verifizierbar, aber offenkundig nicht irreal (Liese 2006): Für eine Regierung kann schon die bloße Tatsache sehr ärgerlich werden, dass sie Probleme nun nicht mehr einfach »souverän« ignorieren darf, sondern die eigenen Informationen dazu aufbereiten muss, um diese dann in einen wie immer geschönten Bericht hinein oder diesen darum herum schreiben zu müssen, möglicherweise wohl wissend, dass NGOs kritische Gegenberichte vorlegen können, die wiederum in die Prüfung des eigenen Berichts eingehen. Selbst eine abgeschottete Diktatur wird sich auf Dauer schwer tun, die Inhalte ihres Berichts und das Ergebnis seiner Prüfung vor der eigenen Bevölkerung geheim zu halten. Zumal die Vertragsorgane haben die Aufgabe, die von ihren Mitgliedern meist in regelmäßigen Abständen vorzulegenden Staaten-Berichte über die Erfüllung der Pakte und Konventionen zu prüfen, also zu beobachten und zu überwachen; sie können dann Beurteilungen und Empfehlungen zur Verbesserung der Situation abgeben. Im Menschenrechtsschutz haben nichtstaatliche Organisationen (s.-Kap. 2.1 u. 4.4.4)-- die großen internationalen (INGOs) wie amnesty international oder Human Rights Watch, aber auch kleine nationale/ regionale Menschenrechtsorganisationen für ein Land oder eine Weltregion-- eine Bedeutung wie sonst in kaum einem Arbeitsbereich internationaler Regime. Die klassischen Funktionen von NGOs-- und die Probleme dabei-- sind besonders in diesem Regime-Bereich untersucht und diskutiert worden (Heinz 2006; Liese 1998; Martens 2008). Die Funktionen von I/ NGOs können sein: Information und Dokumentation über bzw. von Gewährung oder Verletzung von Menschenrechten in einzelnen Ländern und Situationen; »anwaltschaftliche« Vertretung von bedrohten oder in ihren Rechten verletzten Personen, Gruppen und Völkern; Herstellung von Öffentlichkeit und Mobilisierung der öffentlichen Mei- Die Vertragsorgane der Menschenrechts-Pakte und -Konventionen CCPR Ausschuss für Menschenrechte [»Menschenrechtausschuss«] (Human Rights Committee) → darf nicht verwechselt werden mit dem Menschenrechtsrat (Human Rights Council/ HRC) oder gar dem Dritten Haupt-Ausschuss der GV CESCR Ausschuss für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte [»Sozial-Ausschuss«] (Committee on Economic, Social and Cultural Rights) CERD Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination) CEDAW Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (Committee on the Elimination of Discrimination Against Women) CAT Ausschuss gegen Folter (Committee against Torture) CRC Ausschuss für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child) CMW Ausschuss für die Rechte von Arbeitsmigranten (Committee on Migrant Workers) CRPD Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Committee on the Rights of Persons with Disabilities) CED Ausschuss über das Verschwindenlassen (Committee on Enforced Disappearances) <?page no="243"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 243 5.2 Internationaler Menschenrechtsschutz (human rights) 243 nung, also Ausübung von politischem Druck; Anregung und Weiterentwicklung der menschenrechtlichen Diskussion; Menschenrechtserziehung/ -bildung. Auch wenn die formale Stellung und die konkreten Rechte von NGOs in den einzelnen Gremien und Verfahren unterschiedlich und insgesamt weiterhin vage-ungesichert sind, werden die zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsorganisationen doch von den meisten Staaten zumindest in der Praxis des Menschenrechtsschutzes als ernstzunehmende Akteure gesehen und behandelt-- denn vor allem ihre Dienstleistung bei Recherche und Aufbereitung von Informationen ist inzwischen ein funktionsnotwendiges Element für das Berichtswesen und dessen politische Auswertung. Nationale und internationale nichtstaatliche Organisationen sind besonders stark engagiert für bestimmte Gruppen, die in hohem Maß von der Missachtung ihrer Menschenrechte betroffen sind: zum Instrumente des Menschenrechtsschutzes chartabasiert Generalversammlung Resolutionen zur Menschenrechtssituation in einzelnen Staaten und zu Menschenrechten und deren Schutz allgemein, z. B.-Grundsatzkataloge ECOSOC Empfehlungen zur Förderung der Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundrechte; Einsetzung von Sonderberichterstattern; Resolutionen zur Festlegung von Untersuchungsverfahren, z. B. »nach 1503« von 1970 (Verfahren für die Behandlung von Mitteilungen über Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten) Menschenrechtsrat Resolutionen zum Menschenrechtsschutz; Überprüfung der Menschenrechtspolitik aller UN-Mitgliedstaaten; Beschwerdeverfahren bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen; Einberufung von Arbeitsgruppen und Ernennung von Sachverständigen, z. B. Einsatz von Sonderberichterstattern Sicherheitsrat Feststellung von menschenrechtsrelevanter/ m Friedensbedrohung/ -bruch oder Aggression; Beschluss über Maßnahmen dazu, z. B. die Schaffung internationaler Straftribunale oder Ermächtigung zur Gewaltanwendung zur Schaffung eines sicheren Umfelds für humanitäre Hilfeleistung vertragsbasiert Vertragsorgane: unabhängige Ausschüsse aus Fachleuten zu den einzelnen Pakten bzw. Konventionen Berichterstattung: - das wichtigste Instrument-- periodische Prüfung und Auswertung der von den Mitgliedstaaten vorgelegten Berichte → »blaming and shaming« Staatenbeschwerde: - kaum genutzt-- Prüfung der Klagen eines Staates, dass ein anderer Vertragsstaat seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt Individualbeschwerde: - nur in drei Ausschüssen-- Prüfung auch von anklagenden Mitteilungen von Privatpersonen, sofern der betreffende Vertragsstaat die Kompetenz des Vertragsorgans dazu anerkennt <?page no="244"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 244 244 5 Internationale Regime einen Minderheiten aller Art, besonders indigene Völker, zum anderen Flüchtlinge und Migranten, zu denen verfolgte Minderheiten schnell werden können, wobei weitere Fluchtursachen kriegerische Konflikte, natürliche und/ oder ökologische Katastrophen und materielle Not sein können. Für den auch präventiven Schutz von Minderheiten und den Schutz von Flüchtlingen sind komplexe Teilregime entwickelt worden, die allerdings den Problemen schon quantitativ nicht gerecht werden können (Lange 2008; Lam 2007; Opitz 1997); neben dem Menschenrechtsschutz sind daran entwicklungspolitische Organisationen und Regionalorganisationen wie die OSZE beteiligt, aber-- insofern es um die Gewährung und Ausgestaltung des Asylrechts geht-- auch die Staaten unmittelbar. Aber auch hier ist wieder vor Illusionen zu waren: Selbst Nothilfe und Schutz für Minderheiten und Flüchtlinge sind fast immer stark von politischen Interessen und Positionen motivierte und durchdrungene Aktivitäten, die sich im engen Markt der öffentlichen Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung erst einmal durchsetzen müssen-- was ja selbst für die Ausübung der Deutungsmacht des Sicherheitsrats eine Vorbedingung ist. Bedeutung und Zuwendung und folglich alle Maßnahmen werden nach politischen Kriterien selektiv zugemessen, gerechte bzw. objektiv gültige Standards dafür sind nicht zu sehen. So gibt es unterschiedlich wichtige oder erwünschte Flüchtlinge und somit unterschiedlichen Aufwand für sie; z. B. hat der UNHCR für die von ihm mehr oder weniger betreuten über 30 Mio. Flüchtlinge (von über 40 Mio. internationalen Flüchtlingen und dazu weit über 20 Mio. Flüchtlingen innerhalb eines Landes) weltweit etwa 7 200 Mitarbeiter, während das UN-Hilfswerk für Palästina (UNRWA) knapp 30 000 Mitarbeiter für ca. 5 Mio. Flüchtlinge einsetzen kann. 5.2.3 Internationale Strafgerichtsbarkeit Selektivität auf der Basis einseitiger politischer Vorgaben wurde auch allen Straftribunalen vorgehalten, die bisher (wie die »Nürnberger Prozesse« ab 1945 gegen das nationalsozialistische Führungspersonal) nach einem Krieg oder Konflikt versucht haben, individuelle Schuld für schwere Verbrechen gegen die Menschenrechte festzustellen und zu bestrafen. Der Vorwurf der »Siegerjustiz« wird hinfällig, wenn nicht Tribunale ad hoc für konkrete Einzelfälle berufen werden, sondern ein ordentlicher und ständiger internationaler Gerichtshof auf klarer völkerrechtlicher Vertragsgrundlage zuständig ist. Ab 1948 war mit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (Convention an the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, CPPCG) die Schaffung eines internationalen Strafgerichts für solche Taten vorgesehen, vor dem gegen einzelne Personen individuell verhandelt werden könnte. 1993 richtete der Sicherheitsrat erstmals auf der Basis von Kapitel VII (Art. 41) der UNO- Charta ein Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia/ ICTY) und ein Jahr darauf ein anderes für Ruanda (ICTR) ein; weitere fallspezifische Ad-hoc-Tribunale wurden in Sierra Leone, Kambodscha und im Libanon eingesetzt. Die Arbeit dieser Tribunale lieferte die entscheidenden konstruktiven Erfahrungen dafür, dass es 1998 nach langem diplomatischen Ringen gelang, den Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court/ ICC) als eigenständiges internationales Gericht durch einen eigenen internationalen Vertrag zu gründen (»Rom-Statut«, Rome Statute of the International Criminal Court, UN Doc. A/ CONF.183/ 9) (Fassbender 2002; Goldstone 2007). Der Gerichtshof hat 18 Richter, die für maximal neun Jahre von der Vertragsstaaten-Versammlung gewählt werden; besonders wichtig ist das Amt des Anklägers (prosecutor), der- - ähnlich wie ein Staatsanwalt- - dafür verantwortlich ist, dass es zu einer aussichtsreichen Anklage für eine Strafverfolgung kommt. Dieser Internationale Strafgerichtshof (ICC) mit Sitz in Den Haag (Niederlande) darf nicht verwechselt werden mit dem Internationalen Gerichtshof (IGH bzw. ICJ) am gleichen Ort, der keine eigenständige Institution ist, sondern ein Hauptorgan der UNO (s.-Kap. 4.3.3.5). Nicht richtig ist-- wenn auch bei Journalisten sehr beliebt-- den ICC »UNO-Gerichtswww.claudia-wild.de: <?page no="245"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 245 5.3 Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen (world-economy) 245 hof« zu nennen, denn er ist ja eben nicht Teil der UNO, sondern eine eigenständige internationale Institution; es gibt allerdings zwischen dem ICC und der UNO und speziell dem Sicherheitsrat Abmachungen zur Zusammenarbeit. Der ICC soll das humanitäre Völkerrecht in bewaffneten Konflikten zum Schutz der Opfer wahren, die in bewaffneten Auseinandersetzungen Verantwortlichen für (Kriegs-)Verbrechen zur Verantwortung ziehen, die Verursacher von bewaffneten Konflikten identifizieren und nötigenfalls anklagen, somit die Herrschaft des Rechts gegen die Willkür von Machthabern und die Bereitschaft zu Gewalt weltweit durchsetzen- - oder abstrakter: die oft beschworene Verrechtlichung der internationalen Beziehungen stark beschleunigen. Über 150 Staaten sind Vertragsparteien des Rom-Statuts. Die USA sind es-- wie einige andere Staaten- - nicht, weil sie es u. a. strikt ablehnen, dass Angehörige ihrer Streitkräfte vor ein internationales Gericht gestellt werden könnten; das wäre aber ohnehin leicht zu verhindern, wenn die USA Anschuldigungen selbst verfolgen und nötigenfalls vor einem US-Gericht anklagen würden, denn dann hätte der ICC keine Handhabe mehr. Nach dem Komplementaritätsprinzip wird er nämlich nur dann zuständig, wenn einzelstaatliche Gerichte, deren Strafverfolgung den Vorrang behält, nicht aktiv wurden. Die Bedeutung internationaler Straftribunale und des ICC als Ergänzung der Möglichkeit der Verhängung von Sanktionsregimen ist immens: Die bloße Möglichkeit, Einzelpersonen international zu verfolgen und zu verurteilen, nimmt jedem Verbrecher im Staatsdienst die Gewissheit, dass er und sein Vermögen geschützt seien durch den eigenen Status als Staatschef, Regierungsmitglied oder Militärführer in seinem souveränen Land. Der ICC kann also durch eine konsequente gerichtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einem wirksamen präventiven Instrument zur Verhinderung von kriegerischer Gewalt gegen eine Zivilbevölkerung werden. Eine funktionierende internationale Strafverfolgung auch längere Zeit nach den begangenen Taten kann sogar als Alternative zu einer humanitären Intervention gesehen werden (Rittberger/ Zangl 2006, S. 202). Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 5.2 Alston 1992; Boekle 1998; Bungarten 1994; Buergenthal/ Thürer 2010; Dias 2001; Dicke 2004; Fassbender 2002, 2008; Gareis 2008; Goldstone 2007; Hamm 2003; Heinz 2006; Höffe 1992; Hüfner/ Reuther 2 2004; Kälin/ Künzli 2005; Klein 1999; Kühnhardt 1991; Kunig/ Uerpmann 1994; Lam 2007; Lange 2008; Lenhart 2003; Liese 1998, 2006; Mahler/ Weiß 2004; Martens 2008; Nuscheler 2003; Opitz 1997, 2002; Ramcharan 2007; Raue/ Rudolf 2006; Riedel 2006, Ruffert/ Walter 2009; Strauss 2006; Stuby 1998; Wapner 2007; Weiß-2007 5.3 Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen (world-economy) Wirtschaft bestimmt unser Leben: »Erst kommt das Fressen und dann die Moral« (Bert Brecht, Dreigroschenoper). Wirtschaftliche Krisen und materielle Versorgungsprobleme beeinträchtigen und bedrohen das Leben fast aller Menschen, das der Armen wie der relativ Reichen-- ob sie verstehen, was vorgeht, oder nicht. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war die Einsicht verbreitet, dass im Bedingungsgeflecht der Ursachen des Krieges die Weltwirtschaftskrise der 1920/ 30er Jahre ein massiver Strang war; im Sinne eines erweiterten Friedensbegriffs ist eine zumindest erträgliche wirtschaftliche Situation und eine aussichtsreiche Entwicklung der Länder die grundlegende Voraussetzung für deren künftige Friedfertigkeit. So <?page no="246"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 246 246 5 Internationale Regime war die leitende Idee der westlichen Alliierten auf der Konferenz von »Bretton Woods« 1944 die Schaffung von drei komplementären weltwirtschaftlichen Regimen zur kooperativen Neuordnung und Sicherung einer liberalen, also durch den ungehinderten Wettbewerb in freien Märkten funktionierenden Weltwirtschaft sowie zur Regelung dabei absehbarer Konflikte (Müller 1993, S. 56): ● ● ein Weltwährungsregime unter Hegemonie der USA als Hauptgläubiger, institutionalisiert im Internationalen Währungsfonds (IMF); ● ● ein internationales (Frei-)Handelsregime zum Abbau von Handelshemmnissen und zur Schaffung fairer Marktbedingungen, was aber nach dem Scheitern der Pläne für eine Internationale Handelsorganisation (ITO) nur durch ein Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (GATT) geregelt wurde; dieses wurde inzwischen durch die Welthandelsorganisation (WTO) abgelöst; ● ● ein Regime für wirtschaftliche Entwicklung, das durch die Kredite und die Expertise der Weltbank (IBRD) getragen werden sollte (s.-Kap. 5.4). Für diese drei Regime wurden mit dem »Weltwährungsfonds« (IMF) und der »Weltbank« (IBRD) tragende Internationale (»Bretton Woods«-)Organisationen geschaffen, die einen entscheidenden Unterschied zu klassischen multilateralen Organisationen zeigen (Woods 2007; Tietje 2005): In ihnen gilt nicht das gleiche Recht für alle Staaten im Sinne des Prinzips »Ein Staat =- eine Stimme«, sondern die Mitgliedstaaten haben-- wie in einer Aktiengesellschaft-- so viele Stimmanteile wie sie Anteile am Organisationskapital eingezahlt haben bzw. garantieren. Die organisatorische Grundstruktur ist bei den »Schwesterorganisationen« IMF und IBRD-- ein Staat muss IMF-Mitglied sein um Mitglied der Weltbank zu werden-- ähnlich: Eine Mitgliederversammlung (Board of Governors) ist das oberste Entscheidungsorgan gemäß der besonderen Stimmrechtsverteilung, ein Exekutivrat (Executive Board/ Boards of Executive Directors) setzt deren Entscheidungen zusammen mit einem Direktor/ Präsidenten (Managing Director/ President) und seinem Sekretariat in Regelungen und Programmen um. Neuere Ausgründungen (»Weltbank-Gruppe«; s.-die Übersicht in Kap. 4.3.4) funktionieren ähnlich; um ihnen beizutreten, muss ein Staat Weltbank- und IMF-Mitglied sein. Anders als in diesen geldnahen internationalen Organisationen hat in der WTO jeder Staat eine Stimme, aber de facto gilt das Prinzip der Konsensentscheidung; der organisatorische Aufbau der WTO ist dem von IBRD und IMF vergleichbar. Das Regime für wirtschaftliche Entwicklung war als Kompensation für die schlechteren Chancen von wirtschaftlich und politisch schwächeren Ländern gedacht, damit deren Regierungen sich nicht einem offenen Welthandel durch Protektionismus verweigerten oder die Bevölkerung politischen Extremisten folgte. Dabei war zunächst nur die Lage in den souveränen Staaten im Blick, an die große Herausforderung der sozioökonomischen Entwicklung in den damals noch abhängigen Kolonialgebieten und bald neuen Staaten der »Dritten Welt« dachte noch kaum jemand. Noch weniger wurde damals an einen grundlegenden Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz gedacht. Diese Problemkomplexe kamen erst in den 1950/ 60er bzw. ab den 1970er Jahren ins öffentliche Bewusstsein. Ähnlich wie bei der Sicherheitspolitik (s.- Kap. 2.2.) stellt sich auch in den außenwirtschaftlichen Beziehungen das Dilemma, dass jeder beteiligte Staat für sich das Maximum sichern will, gerne auf Kosten anderer, wenn nur der eigene Anteil gewahrt oder gesteigert werden kann: Ein solches nur auf die eigenen unmittelbaren Interessen bezogenes Verhalten kann, auch wenn es gelingt, dazu führen, dass alle Staaten insgesamt einen geringeren Effekt erreichen als wenn sie kooperiert hätten (Rittberger/ Zangl 2006, S. 145). Allerdings ist diese Logik in der Ökonomie nicht so hermetisch wie beim Militär-- Verhandeln und Kompromisse gehören zum Geschäft. Wenn weltweit Wachstum und Wohlstand gefördert werden sollen, dann ist dafür nach vorherrschender Meinung die Sicherung eines freien und ungehinderten Handels, der nicht durch Wertabschöpfungen vermindert oder durch administrativ-bürokratische Eingriffe eingeschränkt wird, die wichtigste und produktivste Voraussetzung. Freier Handel und seine Folgeeffekte sind aber nur möglich, wenn das <?page no="247"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 247 5.3 Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen (world-economy) 247 Geldwesen funktioniert bzw. international der Austausch der Währungen gewährleistet ist, wofür definitiv der Staat bzw. internationale Regime zum Rahmen- und Durchsetzen nötig sind. Dazu wiederum müssen die Finanzen der Staaten ausreichend und verlässlich sein, wofür wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden müssen, die immer weniger eine innere Angelegenheit souveräner Staaten sein können. 5.3.1 Weltweiter Handel ohne Hemmnisse Heute noch für viele von Euro-Krisen gebeutelte Stammtische intuitiv plausibel und alltäglich griffig sind die Vorstellungen des frühmodernen Merkantilismus des 16. und 17. Jahrhunderts: Man muss unbedingt eine aktive Handelsbilanz durch Exportüberschuss haben (»Exportweltmeister« sein), dafür niedrige Ausfuhrzölle, aber hohe Einfuhrzölle ansetzen, um die Fremden zugleich draußen zu halten und ihnen die eigenen Produkte (ohnehin die weltbesten) zu verkaufen, notfalls muss man die anderen auch erobern und kolonisieren, um Rohstoffeinfuhr und Absatzmärkte zu sichern. Die Grundidee dieses Weltbilds ist purer selbstbezogener Protektionismus: Schutz des eigenen Marktes nach außen, zugleich Öffnung aller anderen Märkte. Dieses Denken widerspricht allen Grundsätzen friedlicher internationaler Kooperation (s.-Kap. 3.1.4.); vor allem aber wäre es unproduktiv gewesen für die Entwicklung einer funktionierenden Weltwirtschaft. Produktiver für die führenden Wirtschaftsmächte wie England und dann die USA und nicht zuletzt auch Deutschland erwies sich ein freier Welthandel. Nach der klassischen Freihandelstheorie bringt eine Spezialisierung von einzelnen Volkswirtschaften auf den Export von Gütern, zu deren Produktion sie natürliche Kostenvorteile haben, allen am Handel Beteiligten insgesamt Vorteile. Die Freihandelstheorie war und ist umstritten; fraglich ist z. B., ob bedingende Annahmen des Freihandelsmodells wie Auslastung und Immobilität der Faktoren Kapital und Arbeit heute dank globaler Kommunikation und Mobilität noch gegeben sein können; besonders hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf Handelspartner mit sehr unterschiedlichen Strukturen ist das Modell der komparativen Vorteile und Nutzen eines Handels mit unvergleichbaren Gütern fragwürdig, denn auf Zeit regen Exporte von anspruchsvollen Produkten Entwicklungsfortschritte an, während die Ausfuhr unveredelter Rohstoffe nur Löcher im Boden hinterlässt, was wenig positive Auswirkungen auf schon arme Menschen und Länder erhoffen lässt. Bringt unbeschränkter Handel unter allen mit allem letztlich für alle Wohlstand oder nutzt er immer nur den schon leistungsfähigeren Bessergestellten, während die anderen systematisch ins Abseits geraten? Diese schwierige, aber entscheidende Frage verweist auf Zielkonflikte, die durchaus mit binnenwirtschaftlichen Widersprüchen zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik vergleichbar sind. Jedenfalls gilt bei der großen globalen Mehrheit der Wirtschaftsexperten und der Regierenden ein möglichst unbehinderter freier Handel mit Gütern und Dienstleistungen (auch Finanzdienstleistungen), also eine konsequente Liberalisierung des Weltmarkts, als ein immer und für alle Wirtschaften erstrebenswerter Zustand. Weil allerdings dank der weltweiten Durchsetzung der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsweise sowie wegen der faktischen Zwänge und Chancen der »Globalisierung« (s.-Kap. 2.1) inzwischen sowieso kaum mehr Entscheidungsspielraum gegeben ist, scheint die Debatte, ob globaler Handel prinzipiell wünschenswert ist oder nicht, historisch überholt und hinfällig. Vielmehr geht es nun um die höchst kontroverse Frage, welcher Handel mit welchen Gütern zu welchen Bedingungen sinnvoll ist, wie ungehemmt frei oder geregelt er sein darf-- ungeachtet von sozialen und ökologischen Folgen; konkret ist umstritten, inwieweit staatliche, internationale wie supranationale Instanzen in den freien Welthandel eingreifen dürfen und/ oder gar müssen, um übergeordnete Güter wie Klimaschutz oder Ernährungssicherung zu gewährleisten. <?page no="248"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 248 248 5 Internationale Regime Bisher sind die zuständigen internationalen Regime gemäß ihres historischen Auftrags Instrumente zur Durchsetzung von Freihandel im Sinne der exportstarken Industrieländer; sie könnten aber zukünftig auch als Instanzen zur Regelung des Handels unter sozialen und ökologischen Aspekten agieren- - wenn ihre Mitgliedstaaten dies wollen. Klar für Marktöffnung generell und gegen jeden Protektionismus in Form von Zöllen oder nichttarifären Handelshemmnissen arbeitet das Welthandelregime auf der Rechtsgrundlage verschiedener Handelsabkommen mit der WTO als organisatorischem Kern. Die drei wichtigsten Arbeitsbereiche und die dafür zuständigen Regelungssysteme sind der Warenhandel und das natürlich auch nach der WTO- Gründung fortbestehende General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), der Handel mit Dienstleistungen und das General Agreement on Trade in Services (GATS) sowie die geistigen Eigentumsrechte und das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS). Die WTO hat (nach den letzten Beitritten in 2008) 153 Mitgliedstaaten, darunter auch die VR China, und 29 Staaten mit Beobachter-Status, darunter auch die Russische Föderation. Die Entscheidungsgewalt hat als Versammlung aller Mitgliedstaaten die Ministerkonferenz (Ministerial Conference), unter der ein Allgemeiner Rat (General Council) als Exekutivorgan auch zur Streitbeilegung dient; die laufenden Geschäfte führt ein Sekretariat unter einem von der Ministerkonferenz gewählten Generaldirektor (Director-General). Zwar können Beschlüsse bei einer Stimme für jeden Mitgliedstaat mit einfacher Mehrheit gefasst werden, doch wird über Grundsatzfragen immer im Konsens und also meist über Kompromisse entschieden. Für Handelskonflikte, die nicht bilateral gelöst werden können, ist ein zweistufiges Schlichtungsverfahren vorgesehen; Sanktionen kann die WTO nicht selbst verhängen, wohl aber die eines Mitglieds gutheißen. Seit Beginn des Handelsregimes werden in oft mehrjährigen Verhandlungs-»Runden« (z. B. die »Tokyo-Runde« 1973-1979, die »Uruguay-Runde« 1986-1994 und seit 2001 die »Doha-Runde«) mit wechselnden Schwerpunkten handelspolitische Themen abgearbeitet und verbindlich geregelt. Die noch aktuelle »Doha-Runde« sollte auch einen Schwerpunkt auf die Probleme der Entwicklungsländer legen; auf der »Doha-Agenda« stehen 21 sehr unterschiedliche und vielfältige Verhandlungsgegenstände, Baumwolle und Agrarprodukte allgemein, Dienstleistungen, Weine und Spirituosen, Wettbewerbspolitik, regionale Handelsvereinbarungen u. v. m. Immer bedeutsamer wird die umstrittene Frage des Schutzes der geistigen Eigentumsrechte (intellectual property rights), die vom globalisierten Handel täglich beeinträchtigt oder verletzt werden, aber auch nicht ihrerseits zu Handelsbarrieren werden sollen; die Frage des Patentschutzes bzw. Handelsverbots mit geschützten Medikamenten kann für die öffentliche Gesundheit in ärmeren Ländern lebenswichtig sein; die biologische Vielfalt und das traditionelle Wissen darüber sind unerschöpfliche Potentiale nachhaltiger Entwicklung, die aber auch patent- und handelsrechtliche Fragen aufwerfen können. Die Grundregel des Welthandelsregimes bleibt: Jegliche Diskriminierung von Waren und Dienstleistungen aus welchen Gründen auch immer ist zu unterbinden, auch ihre Herkunft und ihre Produktionsmethode dürfen keine Handelshemmnisse sein; ausgenommen sind bisher nur in Zwangsarbeit hergestellte Produkte und für die Gesundheit von Menschen und anderen Lebewesen akut gefährliche Waren, was allerdings konkret und in jedem Fall nachgewiesen sein muss. Hier können-- und werden zweifellos verstärkt-- massive Zielkonflikte zwischen Menschenrechts- oder Umweltschutz und dem freien Handel auftreten. <?page no="249"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 249 5.3 Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen (world-economy) 249 5.3.2 Stabile und austauschbare Währungen Alle Länder hatten im Zweiten Weltkrieg verloren, Menschenleben und materielle Güter; allerdings war die schon aus dem Ersten Weltkrieg entstandene wirtschaftliche Vormachtstellung der USA vor allem gegenüber Europa stark gewachsen; die westlichen Alliierten waren bei den USA hoch verschuldet, die Kriegsverlierer auf deren Hilfe (wie den »Marshall-Plan«) angewiesen. Das System von Bretton Woods war entsprechend orientiert am US-Dollar als Leitwährung, an die alle anderen Währungen in einem System fester Wechselkurse gebunden waren; der Wert der Währungen basierte auf dem sog. Goldstandard, wodurch garantiert war, dass sie in Gold umtauschbar waren. Die antiquierte Goldbasierung und die unflexible Kursbindung funktionierten bis Anfang der 1970er Jahre, als die weltwirtschaftliche Entwicklung und zumal die Verzerrungen durch die Kosten des Vietnamkriegs dieses Regime sprengten. Das alte System fester Wechselkurse wurde abgelöst von einer Mischung aus flexiblen und fixen Wechselkursen; grundsätzlich konnten sich nun die Kurse aller Währungen im freien Spiel der Märkte bilden, aber schnell wurden einzelne regionale Wechselkursregime geschaffen, wie 1972 der Europäische Wechselkursverbund bzw. 1979 das Europäische Währungssystem (EWS), das die Wechselkursschwankungen zwischen den Mitgliedswährungen innerhalb bestimmter Bandbreiten beschränkte, während außerhalb des Systems die Kurse der großen Währungen untereinander frei schwanken konnten. Der IMF (Conrady 2006; Woods 2007) hatte das alte System organisiert und das Verhalten der Regierungen abgestimmt; mit der Freigabe der Wechselkurse änderten sich seine Funktionen, aber seine Bedeutung ist seither mit jeder Verschuldungs- und Finanzkrise (Enderlein 2009; Stiglitz 2011) gewachsen. Währungen erleiden wirtschaftlich gefährliche Kursverluste, wenn die Finanzmärkte das Vertrauen in die Leistungskraft der Wirtschaft und/ oder die Finanzstabilität des meist überschuldeten Staates verlieren, der die Währung emittiert-- Geld ist immer auch ein Glaubensphänomen. Der IMF, soll notleidende Regierungen mit Krediten und Garantien unterstützen, um das Vertrauen schnell wieder aufzubauen. Da die meisten Staaten Mitglied sind, ist das Währungsregime eine Art Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Die Hilfe wird aber im Regelfall nicht bedingungslos gegeben, sondern unter zum Teil harten Auflagen; die zunächst rein ökonomische Konditionierung wurde zunehmend politisch (»good governance«) akzentuiert. Kreditabhängigen Staaten können radikale Sparmaßnahmen und sog. Strukturanpassungsprogramme verordnet werden, die tief in deren Wirtschafts- und Sozialpolitik eingreifen und fast immer die breite Masse der Bevölkerung schwer treffen. Selbst wenn die Auflagen z. B. zur Haushaltskonsolidierung auf längere Sicht zielführend sein können, sind sie politisch natürlich gefährlich und umstritten, sofern sie hohe sozialen Kosten bringen und Wirtschaftswachstum vermindern. Das technische Instrumentarium des IMF (Quoten, Sonderziehungsrechte, Kreditfazilitäten u. v. m.) ist kompliziert (Rowohl 2007): Als Kapital hat er (Stand Anfang 2011) 383 Mrd. US-$ aus den Länderquoten, zusätzlich 600 Mrd. US-$ zugesagte bzw. genehmigte Reserven; als Kredite sind zugesagt 282 Mrd. US-$, davon 213 Mrd. nicht abgerufen; das Kapital aus den Länderquoten wird wegen der Finanzkrisen deutlich erhöht werden auf bis zu 767 Mrd. US-$ (www.imf.org). Die offiziellen Aufgaben des IMF sind neben der Organisation des finanziellen Beistandssystems für Staaten in Zahlungsbilanzschwierigkeiten u. a. multilaterale Zusammenarbeit in der Währungspolitik, Abbau von Zahlungsbilanzungleichgewichten, Ausweitung des Welthandels, Stabilisierung internationaler Finanzmärkte, Sicherung des internationalen Zahlungsverkehrs und Technische Hilfe. Der IMF hat 187 Mitgliedstaaten, deren Stimmenanteil ihrem Anteil am Kapital des Fonds, den sog. Quoten, entspricht; die größten Stimmanteile haben (Stand 2011) die USA mit 16,74 %, Japan mit 6,01 %, Deutschland mit 5,87 %, Frankreich mit 4,85 %, Großbritannien mit 4,85 % und die VR China mit 3,65 %. Damit haben sowohl die USA als auch die EU-Staaten zusammen eine Sperrminorität in den wichtigen Fragen, die nach Satzung (Articles of Agreement) mit einer 85 %-Mehrheit entschieden werden müssen. Weil die weltwirtschaftlichen Schwerpunkte sich verschieben, ist 2009 im Rahmen <?page no="250"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 250 250 5 Internationale Regime eines G20-Treffens eine neue Machtverteilung beschlossen worden, nämlich 5 % aus dem Anteil der Europäer auf die VR China, Indien und andere Schwellenländer zu übertragen. Die Quoten sind nicht nur als Stimmen in Abstimmungen entscheidend, sondern bestimmen auch die Höhe der einzuzahlenden Summen und der »Ziehungsrechte« im Falle der Kreditaufnahme. Kritik an der wirtschafts- und besonders der entwicklungspolitischen Ausrichtung des IMF an den Interessen der reichen Industrieländer im Geiste der »neoliberalen« Liberalisierung kommt nicht nur von sog. Globalisierungsgegnern, sondern auch von renommierten Wirtschaftswissenschaftlern- - wie dem ehemaligen Berater des US-Präsidenten und vormaligen Chefökonomen der Weltbank sowie Träger des Wirtschaftsnobelpreises Joseph Stiglitz (Stiglitz 2004, 2011). 5.3.3 Globale Finanz- und Wirtschaftspolitik? Die seit den 1980er Jahren wieder häufiger eintretenden internationalen Verschuldungs- oder Finanzkrisen-- oder Kater-Phasen nach geplatzten Spekulationsblasen-- zeigen nach Meinung einer wachsenden Zahl von Beobachtern den Bedarf nach einer globalen Finanz- und Wirtschaftspolitik oder wenigstens einer verlässlicheren Abstimmung der einzelstaatlichen Politik. Doch wer soll das weltweit machen, wenn noch nicht einmal die EU mit nur 27 Mitgliedstaaten in der Lage ist, entsprechende Regelungen im Sinne einer europäischen »Wirtschaftsregierung« zu treffen und durchzusetzen? Der Hegemon USA aus den Zeiten der Bretton Woods-Konferenz ist relativ viel schwächer geworden und hat u. a. mit der VR China starke Konkurrenz mit anders gelagerten Interessen bekommen. Eine multipolare Wirtschaftswelt braucht multilaterale Kooperation-- die Frage wird sein, ob selektiv oder universal. »Man kann der Theorie anhängen, dass die Finanzmärkte dazu da sind, die Fehler der Politik zu korrigieren […]. Man kann aber auch zu der Erkenntnis kommen, dass es noch dringlicher ist, die Fehler der Finanzmärkte zu korrigieren. Denn da hat die Politik bislang kläglich versagt. Was an Reformen beschlossen wurde: größere Kapitalpuffer für Banken, bessere Risikosysteme, Stresstests, war richtig und notwendig. Nur: Es reicht nicht aus, um die Märkte in die richtigen Bahnen zu lenken. Wenn die Welt aus dieser Krise die richtigen Konsequenzen ziehen will, müssen die Staaten nicht bloß ihre Schulden wieder reduzieren. Es ist auch erforderlich, die Finanzmärkte so zu gestalten, dass Krisen seltener und weniger gefährlich werden (wobei sich Krisen niemals völlig verhindern lassen). Dazu ist es notwendig, eine wirklich globale Aufsicht für die Finanzmärkte zu schaffen, ein Regelwerk, das klar Grenzen setzt.« Süddeutsche Zeitung vom 13.8.2011, Kommentar U. Schäfer Die Forderung nach Krisen heilender globaler Finanzmarktgestaltung- - oder gerne auch wieder nach »global governance« auf den Finanzmärkten (z. B. Enderlein 2009)-- ist wohlfeil, aber nicht sonderlich realitätsnah; auf der Ebene internationaler Wirtschaftspolitik mehr Rationalität und Handlungskompetenz zu erwarten als auf binnenpolitischer Ebene ist durch nichts begründet. Grundsätzlich geht die Diskussion aber weltweit nach Jahrzehnten unbeschränkter »neoliberaler« Partys wieder stark in die Richtung der Einsicht, dass die Grundbedingung funktionierender freier Märkte wie freier Autobahnen ist, dass sie von Rahmenbedingungen als Leitplanken und Aufsichtsinstanzen als Verkehrspolizei geregelt werden, damit nicht so oft Hochgeschwindigkeits-»Crashs« passieren. Eine Art- - oder besser verschiedene Arten- - von »Finanztransaktionssteuer« (oft auch nach ihrem bekanntesten Protagonisten »Tobin-Steuer« genannt) ist dringend nötig; die Grundidee, die in den unterschiedlichsten Formen realisiert werden könnte, ist es, den Handelsumsatz von Finanzprodukten aller Art zu besteuern, egal ob die einzelne Transaktion spekulativ oder investiv ist, ob sie nur für Minuwww.claudia-wild.de: <?page no="251"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 251 5.3 Weltwirtschaft: Handel, Währung und Finanzen (world-economy) 251 ten oder auf Jahre angelegt ist, ob sie von internationalen Investmentbanken und Fonds oder von privaten »Klein-Anlegern« beauftragt ist. Eine solche von einer großen Zahl wichtiger Profiteure des Finanzhandels nicht gewünschte Maßnahme weltweit einzuführen, umzusetzen und zu überwachen, könnte nur ein starkes internationales Regime leisten. Selbst bei geringsten Steuersätzen könnten einerseits, so die Hoffnung, bemerkenswerte Hemmnisse gegen heißlaufende Spekulation und »Blasenbildung« aufgebaut werden, anderseits nennenswerte Mittel eingenommen werden, mit denen andere internationale Regime auch Entwicklungsmaßnahmen oder Umweltschutz finanzieren könnten. Ein derartiges Steuer-Regime wird als Mittel gegen die Finanzkrise sogar schon von der deutschen Bundesregierung gefordert, aber konkrete Maßnahmen sind nicht in Sicht. Absehbar sind jedoch zwei Prozesse: ● ● Die bestehenden internationalen Institutionen für Wirtschaft und Finanzen werden informell wie auch formal durch die Modifizierung von Stimmrechten stärker unter den Einfluss der Wachstumsökonomien des Südens kommen. ● ● Neuere informelle politische »Formate« wie die »G7/ 8/ G20«-Treffen mit ihren Folgeprozessen werden für Kommunikation, Abstimmung und konkrete Kooperation rasch ausschlaggebend werden, was der Effizienz der Entscheidungen dient, ihre Legitimation aber fragwürdig macht. Oft schon ist ein neu zu gründender weltwirtschaftlicher »Sicherheitsrat« analog zum mächtigen Krieg- und Frieden-Sicherheitsrat gefordert worden; behutsamere Reformer dachten auf der Basis der Kenntnis der UNO-Charta auch schon an eine Reaktivierung des Treuhandrats für wirtschaftliche Problemfälle oder naheliegenderweise an eine kraftvolle Reform des ja ohnehin zuständigen ECOSOC. Doch rächt sich hier die Schwerfälligkeit des multilateral-universalen Politikbetriebs und insbesondere das Faktum, dass die UNO-Charta kaum noch ernsthaft und in absehbarem Zeitraum zu ändern ist (s.-Kap. 4.3.2). Eben wegen der starken Beharrungskraft der formalen multilateralen Strukturen liegt es nahe, wieder einmal informell einfach das zu tun, was Fortschritt und Lösungen verspricht (s.- Kap. 4.4.1; Daase 2009). Noch 1994 konnte man in der Einleitung zu einem »Taschenbuch der Internationalen Organisationen« lesen, es würden »Gesprächsforen wie z. B. die G7 erwähnt, wenn von diesen aktuelle Impulse für und Einflüsse auf die internationale Zusammenarbeit und die internationalen Organisationen ausgehen« (Schaepler 1994, S.XIII, Anm. 1). Sind aus solchen »Gesprächsforen« am Rande inzwischen Strukturen einer informell-evolutionär herausgearbeiteten Weltordnungsinstanz geworden oder ist lediglich eine erhöhte internationale Kommunikation und Aktivität aus gegebenem Anlass in flexibler Form zu vermerken? Wenn es wirklich schon ein funktionierendes »Weltwirtschafts-« und/ oder »Weltfinanzregime« gibt, gestützt auf internationale Organisationen wie IMF und Weltbank, dann ist das spätestens seit dem »Weltfinanzgipfel« der G20 von 2009 in Pittsburgh (USA) der Kompetenzbereich, den G7/ 8 bzw. G20 inzwischen beanspruchen. Konkurrieren diese informellen Institutionen als ein nur durch die faktische wirtschaftliche Macht der Teilnehmer keinesfalls genügend legitimiertes globales Leitungsgremium mit den alten multilateralen Organisationen? Der IMF z. B. agiert von den UNO-Gremien weitestgehend unabhängig, während die Abstimmung mit den G20-Treffen deutlich zugenommen hat; das ist insofern selbstverständlich, als zu den Staaten der G20 dieselben gehören, die den IMF als seine wichtigsten Mitgliedstaaten regieren und also auch Reformen seiner Struktur und Arbeitsweise beschließen können. Die Verantwortlichen im IMF wissen jedoch, wohin der Wind weht: Im offiziellen Organigramm und anderen Selbstdarstellungen auf seiner homepage (www.imf.org) sind »G7« und »G20« sehr prominent als informelle Ratgeber und Anreger aufgeführt; das geht zwar zurück auf frühere Treffen der Zentralbankchefs der G20-Staaten, meint aber mehr. In ihrer faktischen Verfassung sind die G20 (Jokela 2011; s.-Kap. 4.4.1) gegenwärtig ein immer häufigeres und fast regelmäßig gewordenes Treffen der Staats- und Regierungschefs, ggf. auch mit zuständiwww.claudia-wild.de: <?page no="252"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 252 252 5 Internationale Regime gen Ministern; das Spektrum der behandelten Themen wird immer breiter, doch bleiben sie bislang im Rahmen wirtschaftlicher Probleme, was angeblich explizit so beabsichtigt ist; allerdings beanspruchen die G20 für weltwirtschaftliche Entscheidungen deutlich eine politische Führungsrolle, die wiederum die formalen Kompetenzen der bestehenden Organisationen und Gremien nicht beeinträchtigen soll; der praktisch-sachpolitische Ertrag des G20-Prozesses ist noch abzuwarten. Es wird interessant sein zu beobachten, ob und wie die G20 oder eine modifizierte Form sich in welchem Maße weiter institutionalisieren oder gar formalisieren wird-- und wie das mit den herkömmlichen Strukturen kompatibel gemacht werden kann. Das schwierigste Problem dabei wird die rechtlich wie symbolisch entscheidende Frage der ausreichenden Legitimation für die Zusammensetzung der G20 sein. Als eine pragmatische Lösung könnte allerdings auch auf geraume Zeit so etwas wie eine friedliche Koexistenz von formellen und informellen Strukturen funktionieren, wenn die Regierungen es schaffen, die alte Dialektik von Macht und Recht diskret in Balance zu halten. Zu erwähnen bleibt, dass im Arbeitsbereich Weltwirtschaft eine Vielzahl größerer und kleiner Regime sich um einzelne Fragen der Energieversorgung, der Infrastruktur, der Arbeitsmärkte und viele Probleme mehr kümmern; neben den Neben- und Unterorganen der UNO wie den regionalen Wirtschaftskommissionen des ECOSOC gibt es zu all diesen Fragen meist auch spezialisierte internationale Organisationen (s.-Kap. 4.3.3.7 u. 4.3.4), sofern sich nicht ohnehin regionale Wirtschaftsorganisationen wie die EWG/ EG/ EU oder ASEAN darum kümmern. Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 5.3 Conrady 2006; Daase 2009; Enderlein 2009; Fomerand/ Dijkzeul 2007; Jokela 2011; Müller 1993; Rowohl 2007; Sidhu 2007; Stiglitz 2004, 2011; Tietje 2005; Woods 2007 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) Das dritte der drei komplementären weltwirtschaftlichen Regime von »Bretton Woods« (s.- Kap. 5.3) sollte für wirtschaftliche Entwicklung sorgen, um Vorteile der stärksten Ökonomien nachholend auszugleichen. Dass »Entwicklung« sich dann als viel komplizierter erwies als es die verwendeten wirtschaftswissenschaftlichen Modelle zuließen, war vielleicht 1945 nicht abzusehen- - jedenfalls wurde es nicht gesehen und bedacht. Bei den Entwicklungsproblemen der neuen Staaten der sog. Dritten Welt, meist ehemalige ökonomisch abhängige und deformierte Kolonien, ging es nicht um Wiederaufbau und Modernisierung von Infrastruktur und Produktionsapparat wie in den vom Krieg zerstörten Ländern, sondern um viel grundsätzlichere sozioökonomische Prozesse. Seit den 1970er Jahren ist mit der Einsicht in die ökologischen »Grenzen des Wachstums« die Frage nach dem richtigen Entwicklungspfad nicht mehr einfach mit der Förderung wirtschaftlichen Wachstums zu beantworten; auch in sozialer Hinsicht war diese Antwort ja nie so triftig wie sie auf den ersten Blick erschien. Die Maxime der »nachholenden Entwicklung« unter den Bedingungen der Konkurrenz zwischen den Staaten ist längst verdrängt von der Losung der »nachhaltigen Entwicklung«, die unter den Bedingungen der Globalisierung den Zielkonflikt zwischen wachsender Wirtschaftsleistung und dem nicht weniger überlebenswichtigen Umweltschutz-- zumindest in der »global governance«-Rhetorik-- lösen soll. Entsprechend kompliziert und kaum überschaubar ist der gestaffelte Komplex des Entwicklungsregimes geworden, weit über die Institutionen von 1945 hinaus. Gemäß der Vier-Elemente-Lehre (s.-Kap. 3.2.2; Müller 1993, S. 76 ff.) kann aber eine Ordnung hineingelesen werden: <?page no="253"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 253 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 253 ● ● Prinzipien, ein ökonomisches und ein ethisches: Zu harte Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften beeinträchtigen das Funktionieren eines offenen Weltwirtschaftssystems, also muss ihnen durch internationale Kooperation entgegengewirkt werden; lebensbedrohliche Armut und menschenunwürdige Lebensbedingungen sind in einer funktionierenden Weltwirtschaft nicht zu verantworten. ● ● Normen: Die reichen Staaten verpflichten sich zur Vergabe von Finanzmitteln ohne direkte Gegenleistung, aber die empfangenden Staaten müssen bei der Verwendung dieser Mittel Vorgaben akzeptieren und Kontrolle erlauben-- das nennt sich dann »Entwicklungszusammenarbeit«. ● ● Regeln, u. a.: Kredite werden zu verbilligten Zinsen z.T. weit unter den Zinssätzen auf dem freien Markt vergeben, sind aber an Konditionen bzw. an Entwicklungsprojekte gebunden, die einverständlich ausgehandelt werden; die konkreten Maßnahmen sind möglichst im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit durchzuführen, bilaterale Entwicklungszusammenarbeit wäre damit zumindest abzustimmen. ● ● Verfahren: Die konkreten Instrumente/ Mechanismen/ Arbeitswesen der multilateralen Entwicklungspolitik sind inzwischen vielfältig und differenziert. Bei den Entscheidungsprozeduren zeigt sich eine gemischte Situation: Die Organisationen der Weltbankgruppe und den IMF regiert die Mehrheit des eingezahlten Kapitals, bei den Institutionen der UNO und den anderen nach ihrer Ordnung gebildeten Sonderorganisationen entscheidet die Mehrheit der Staaten bzw. in der Praxis meist ein Konsens-- eine vielfach bedeutsame Konkurrenz zwischen wirtschaftlicher Macht und politischem Anspruch. Akzentuiert wird diese ohnehin problematische Lage dadurch, dass es unmöglich sein wird, den grenzenlosen Verbrauch natürlicher Ressourcen weiterhin zur Basis der wirtschaftlichen Entwicklung zu machen: Die Bewirtschaftung globaler öffentlicher Güter (Klima, Wasser u. Ä.) kann nur universalmultilateral geregelt werden. Insofern ist eine klare Abgrenzung des Regime-Komplexes »Entwicklung« zu den Handels- und Währungsregimen und zu den sich zu langsam, aber immerhin herausbildenden Regimen zu den ökologischen Gefährdungen schwierig; Überlappungen oder auch Konkurrenzen sind eher die Regel. Die internationale Kooperation unterliegt wie jeder öffentliche Strukturprozess dem Zeitgeist und seinen Moden-- angesagte Themen und Schlagworte durchziehen schnell alle Bereiche; so kann man auf diversen Internetseiten des UN-Systems viel über »Nachhaltigkeit« oder »gender mainstreaming« oder sonstige zivilgesellschaftliche Favoriten lesen, bevor man überhaupt merkt, für welches Problem oder welchen Arbeitsbereich die angeklickte Institution zuständig ist. Besonders die Entwicklungspolitik, national wie multilateral, scheint für thematische Moden und sinnstiftende Rituale (Wesel 2004, S. 53 ff.) sehr anfällig zu sein; vielbeschworene Initiativen wie die Ausrufung und Verfolgung der bis 2015 zu erreichenden »Millennium Development Goals« (MDGs) scheinen allgegenwärtig bedeutsam zu sein, auch wenn sie in der Sache wieder (nach diversen engagierten »Entwicklungsdekaden«) eine Mogelpackung zu sein drohen. Speziell den jeweils angesagten wirtschaftspolitischen Losungen ist nur mit besonderer Vorsicht zu folgen, denn wie die ihnen zugrunde liegenden wirtschaftstheoretischen Weisheiten sind sie selten unangreifbare wissenschaftliche Wahrheiten, sondern meist interessengebundene oder gar ideologische Positionen; z. B. spricht viel für das Instrument der »public-private partnerships«, wo der Staat schwach und das lokale Kapital gering ist, aber über die Nachteile können viele europäische Kommunen berichten, die ihre privatisierten Wasserwerke wiederhaben wollen. Schließlich muss gegen allzu idealistische Erwartungen eingeräumt werden, dass »Entwicklung« über die Jahrzehnte zu einem eigenen internationalen Arbeitsbereich und Wirtschaftszweig geworden ist, der nicht nur vielen Institutionen, IGOs wie INGOs, Existenzberechtigung und Bedeutung liefert, sondern als geschäftliche Branche vielen Firmen und Personen Einkommen und Gewinne sichert; die »internationals« in der Entwicklungs- oder auch in der Nothilfe sind Profis-- und das muss ja nicht schlecht sein. <?page no="254"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 254 254 5 Internationale Regime 5.4.1 Wirtschaftliche, soziale und »menschliche« Entwicklung Die technische und wirtschaftliche Entwicklung der Menschheit hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Niveau erreicht, das früheren Generationen unvorstellbar war. Dies könnte es auch ermöglichen, dass kein Mensch auf der Welt mehr materielle und soziale Not erleiden muss. Aber die Mehrheit der Menschen hat mindestens ein wirtschaftliches oder soziales Problem, das ihr Wohlergehen beeinträchtigt oder gar ihr Leben bedroht. Weit über eine Milliarde Menschen leben dauerhaft in einer soziostrukturell bedingten entwürdigenden Situation, die ungeachtet eigener Anstrengungen nicht einmal die gesicherte Befriedigung der elementarsten Lebensbedürfnisse zulässt. Die Weltbank (IBRD) stellte in ihrem Weltentwicklungsbericht 2000/ 2001 (IBRD 2001) zur Jahrtausendwende fest, dass von den über 6 Mrd. damals lebenden Menschen 2,8 Mrd., also fast die Hälfte, als tägliches Einkommen weniger als den Gegenwert von 2 US-$ hatten, ein Fünftel der Menschheit (1,2 Mrd.) sogar weniger als 1 US-$; über drei Viertel der Ärmsten lebten nicht etwa in Groß- und Megastädten, sondern in ländlichen Gebieten. Das Einkommen der 20 reichsten Länder war fast 40-mal so hoch wie das der ärmsten 20 Länder; trotz Entwicklungszusammenarbeit hatte sich in 40 Jahren diese Lücke zwischen den beiden Ländergruppen verdoppelt. Die Armut war regional ungleich verteilt, am schlimmsten war sie in Afrika südlich der Sahara, am geringsten in Ostasien; auch innerhalb der Länder war die Verteilung des verfügbaren Einkommens ungleich, oft extrem (Einkommen/ Verbrauch des reichsten Fünftels der Bevölkerung sind zwischen 5- und 10-mal, oft auch über 20-mal höher als das des ärmsten Fünftels der Bevölkerung). Eine Revision dieser Daten ergab (IBRD 2008), dass im Jahr 2005 nach der neu berechneten »poverty line« von 1,25 US-$/ Tag 1,4 Mrd. Menschen in extremer Armut lebten; das war über ein Viertel der Menschen in den sog. Entwicklungsregionen. Verglichen mit der rückberechneten Zahl von gut 42 %, die es noch 1990 waren, ergibt sich immerhin ein jährliche globale Verbesserung von durchschnittlich fast 1 %-- aber: Die Ungleichverteilungen zwischen und innerhalb der Länder haben sich differenziert und verstärkt. Entwicklungspolitik hat eine Unzahl von Teilaspekten, die zu lösenden Probleme sind meist miteinander eng verflochten (Sangmeister 2009; Sangmeister/ Schönstedt 2000; Wesel 2002). Die wichtigsten Problemfelder sind Armut und soziale Entwicklung, Bevölkerungsentwicklung und Ernährungssicherheit, wirtschaftliche Produktion und Produktivität; dazu kommen spezifische Fragen (Stellung der Frau, Situation der Kinder) und spezielle Aspekte wie Wasserversorgung, Verstädterung, Gesundheit und medizinische Versorgung. Immer ist dabei die wirtschaftliche Entwicklung ein Grundproblem, aber selten ist wirtschaftliches Wachstum die Lösung allein: Meist müssen soziale und politische Machtfragen gestellt werden, um der Situation gerecht zu werden-- die praktische politische »Umsetzung« der entsprechenden Einsichten ist dann das Hauptproblem in den sog. Entwicklungsländern, aber auch zwischen »Nord« und »Süd«, da ja ein Teil der Probleme mit der Struktur des Welthandels zusammenhängt. Als die Probleme der sozioökonomischen Entwicklung der früheren Kolonien, nun der »Entwicklungsländer«, ab den 1950er Jahren mitten im Kalten Krieg zum Thema wurden, geschah dies auch unter den Bedingungen der antagonistischen Konkurrenz von Gesellschaftssystemen; aber auch ohne dies war keineswegs selbstverständlich, wohin der Entwicklungsprozess führen sollte, und vor allem, wie er dauerhaft und erfolgreich in Gang gesetzt werden konnte. Schien es zunächst nur um möglichst rasche »nachholende« Entwicklung zu gehen, zeigte sich bald, dass dies so einfach nicht war, weil eine einseitige Abhängigkeit von Produktion und Handel von Rohstoffen das koloniale Erbe der meisten neuen Staaten war, das sie gegenüber den Fertigwaren und Know-how exportierenden Industrieländern schwer benachteiligte. Folglich forderte eine Mehrheit der Staaten der »Dritten Welt« in den 1970er Jahren massiv eine gerechtere »Neue Weltwirtschaftsordnung« (New International Economic Order, NIEO), um die vor allen in der Generalversammlung, im ECOSOC und ab 1964 in der eigens für den Zusammenhang von Hanwww.claudia-wild.de: <?page no="255"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 255 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 255 del und Entwicklung eingerichteten UNCTAD rhetorisch gefochten wurde; die Industrieländer kritisierten die Vorschläge, die auf eine durch ein internationales Rohstoffregime geregelte Stabilisierung des Welthandels und der Handelserlöse für den Süden hinausliefen, als dirigistisch, marktfremd und zu teuer, um sie dann erfolgreich in hinhaltendem Widerstand abzuwehren. In den 1980er Jahren trat dieser Streit dann hinter das immer drückender gewordene Problem der Überschuldung sehr vieler Entwicklungsländer zurück, sodass sich zwangsweise nicht mehr die Frage nach grundlegenden Reformen der Weltwirtschaft stellte, sondern Konsolidierung nach Maßgabe der marktwirtschaftlich und an Budgeteinsparungen orientierten Strukturanpassungsprogramme des IMF zu leisten war. Doch dann brach wieder gemäßigte Euphorie durch: Das friedliche Ende des Ost-West- Konflikts ließ auf ein neues, konstruktiveres Zeitalter hoffen, in dem etwa die hohen Militärausgaben umgemünzt werden könnten in eine »Friedensdividende«, die besonders der Entwicklung armer Länder und Menschen dienen könnte-- die UNO galt wieder als Hoffnungsträger dafür. Auch diese Hoffnungen sind zerstoben; eine Friedensdividende zur Entwicklung wurde nicht erwirtschaftet bzw. nicht ausbezahlt- - im Gegenteil: die Länder des Südens haben zuerst Konkurrenz aus dem sich politisch und wirtschaftlich rasch transformierenden Osten und dann aus den eigenen Reihen bekommen. Die sog. BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) haben nun die wachstumsstärksten und rohstoffhungrigsten Ökonomien. Der Optimismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte zur Machbarkeit von »Entwicklung« ist abgeflaut: Armut und Hunger, Kriege und soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Gewalt, Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung, Verschuldung und außenwirtschaftliche Abhängigkeit sowie eine Vielzahl speziellerer Probleme wie AIDS relativeren in vielen, nicht in allen Ländern der alten »Dritten Welt« die Fortschritte (Seitz 2011); die teilweise auch in beeindruckendem Maße erreichten Erfolge beim wirtschaftlichen Wachstum waren regional, sektoral und besonders sozial sehr unterschiedlich verteilt. Seit Langem stecken sowohl die entwicklungstheoretische Diskussion als auch die praktische Entwicklungspolitik in einer Art struktureller Dauer-»Krise«-- doch man hilft sich darüber durch einen regen Wechsel entwicklungspolitischer Moden hinweg und erfindet dabei auch gerne mal dasselbe Rad noch einmal. Im komplexen UN-System können zudem auch einander widersprechende Konzepte und Praxen lange koexistieren. Grundsätzlich gelten immer noch zwei alte und eine neuere idealtypische Sichtweisen auf »Entwicklung« als anleitende Paradigmen: ● ● nachholende Entwicklung durch Modernisierung und wirtschaftliches Wachstum; ● ● eigenständige Entwicklung zur Überwindung von Abhängigkeit; ● ● »nachhaltige Entwicklung« (sustainable development) zur Balance von Ökonomie und Ökologie. Die Forderung nach »good governance« ist so naheliegend wie problematisch: Wieso sollte ein Staat einen anderen finanziell und materiell unterstützen, der »schlecht« (z. B. korrupt und uneffizient) regiert wird, statt auf der Erfüllungen von Mindeststandards als Vergabekondition zu bestehen? Eine Konditionierung von Entwicklungszusammenarbeit, damit der Empfänger geeignete Rahmenbedingungen und Verfahrensweisen gewährleistet oder zumindest die schlimmsten Hemmnisse beseitigt, kann aber auch als Erpressung und imperialistische Einflussnahme oder gar als Verletzung der Souveränität des Empfängers verstanden werden. Zumal falls unterschiedliche Standards an verschiedene Staaten angelegt werden, ist diese Kritik durchaus ernst zu nehmen. Grundidee aller sehr unterschiedlichen Ansätze zu einer eigenständigen Entwicklung war es, dass jede Gesellschaft sich ihre Souveränität über die eigene Entwicklung erhalten oder sie wiedererlangen soll, wobei nicht alleine die politische Souveränität im engeren völkerrechtlichen Sinn gemeint ist. Dieses auf ökonomische Selbstbestimmung ausgerichtet Denken ist naturgemäß nicht so sehr geeignet, praktische Entwicklungszusammenarbeit anzuleiten, wohl aber sie kritisch zu fordern-- es sei denn, eine alles verschlingende Globalisierung macht alternative Bemühungen hinfällig. <?page no="256"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 256 256 5 Internationale Regime »Nachhaltige Entwicklung« als eine Chance, die Folgen der Globalisierung zu überleben, ist schwer zu definieren: Die wichtigsten Elemente sind wohl die komplementäre Verzahnung von wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsmaßnahmen mit Maßnahmen zur Erhaltung der natürlichen Umwelt durch schonende Produktionsmethoden und Verkehrsmittel; entscheidend ist dabei die Maßgabe, dass im Interesse künftiger Generationen keine dieser Aktivitäten zu dauerhafter und irreversibler Schädigung oder Vernichtung von Elementen der Umwelt führen darf. Das Abholzen der Tropenwälder ist falsch, richtig ist die nachhaltige deutsche Forstwirtschaft; die Nutzung von Sonnenenergie und von natürlich nachwachsenden Rohstoffen ist »nachhaltig«, das Verbrennen von Erdöl und seine Weiterverarbeitung zu Kunststoffen gar nicht. Zielkonflikte sind unvermeidbar, aber in der Idee der »nachhaltigen Entwicklung« ist der Aspekt enthalten, dass Umweltschutz ohne soziale Entwicklung chancenlos ist. Zudem wird der Nord-Süd-Konflikt wieder aktuell in der Frage, wieso nur der Norden für seine Entwicklung die Umwelt un-nachhaltig ausbeuten durfte. Wie »die UNO« keine in sich einheitliche und eindeutig geregelte Organisation ist, liefern auch entwicklungspolitische Regime durch die UNO eine Vielfalt von oft widersprüchlichen Angeboten für die verschiedensten Bedürfnisse der Adressaten-- diese Angebote sind immer auch symbolischer Natur; die fachlich ausgearbeiteten Konzeptionen und die faktisch verfolgten Strategien spiegeln die institutionelle Komplexität und die realen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse bzw. deren Veränderungen wieder. So kann also jedem für alles etwas geboten werden-- und das ist in pragmatischer Sicht auch sehr hilfreich. Diese offene Unbestimmtheit zeigt sich schon in den Rechtsgrundlagen im Regime- Bereich »Entwicklung« sowohl auf der Ebene von Prinzipien und Normen wie auf der von Regeln und Tab. 34: Idealtypische Sichtweisen auf »Entwicklung« als anleitende Paradigmen Nachholende Entwicklung Eigenständige Entwicklung »Nachhaltige Entwicklung« Problem Unterentwicklung Fehlentwicklung, Ausbeutung Umweltzerstörung Erklärung Unterentwicklung ist nur eine vormoderne Stufe der allgemeinen Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte Unterentwicklung ist Folge der Abhängigkeit der Kolonialzeit bzw. der weltwirtschaftlichen Dominanz der Industrieländer Die herkömmliche wirtschaftliche Entwicklung verbraucht und zerstört die natürlichen Lebensgrundlagen Lösung Transformation der Elemente und Strukturen der traditionellen Gesellschaften in die der modernen westlichen Industriegesellschaften Nicht zu geringe, sondern zu einseitige bzw. fehlerhafte Integration in die von den Industrieländern beherrschte Weltwirtschaft ist zu überwinden Komplementarität von resourcenschonenden sozioökonomischen Entwicklungsmaßnahmen mit Maßnahmen zur Erhaltung der natürlichen Umwelt Ziel wirtschaftliches Wachstum Überwindung von Abhängigkeit Balance Ökonomie/ Ökologie Methoden Instrumente Modernisierung durch Kapital- und Technologietransfer; Strukturanpassung; »good governance« Unabhängigkeit vom Weltmarkt oder Gerechtigkeit im Welthandel Nachhaltigkeit, selektives Wachstum, regenerative Energien u. v. m.; »Rio-Prozess«, Agenda 21 Vorbild Entwickelte Industrieländer USA → »Abschottungs«-Szenarien → Forderung nach NIEO → Süd-Süd-Kooperation ? (deutsche Forstwirtschaft) Beispiele ? Republik China (Taiwan) Volksrepublik China ? Kuba ? ? ? <?page no="257"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 257 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 257 Verfahren: Ein »Recht auf Entwicklung« (Nuscheler 2003; Riedel 2006, S. 26 ff.) ist nur schwer greifbar und kaum konkret zu bestimmen; die Bestimmungen in der UNO-Charta erheben weitreichende Ansprüche, bleiben im Konkreten aber vage; die vertraglichen Grundlagen wichtiger Institutionen sind jeweils spezifisch auf den Regime-Zweck ausgerichtet, meist ohne einen integrierenden Aspekt; einzelne Entwicklungsprogramme/ -projekte basieren auf einem komplexen Geflecht einzelner Verträge. Zusammengehalten wird dies allenfalls in der Außendarstellung mittels der zeitgeistigen Etikettierungs-Rhetorik, aber nicht durch ein abgestimmtes oder gar durchdachtes Konzept. Das »Recht auf Entwicklung« wird seit Mitte der 1960er Jahre als eine Art kollektives Menschenrecht der »dritten Generation« diskutiert (s.-Kap. 5.2.1); unter Berufung auf Art. 28 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« wurde es mehrfach auf Verlangen von Staaten der sog. Dritten Welt in der UNO gefordert, proklamiert, deklariert und ausdrücklich von der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 anerkannt, was weit über die geltenden Regelungen der UNO-Charta hinausweist. Diese Empfehlungen schaffen zwar alle noch keine rechtlichen Verpflichtungen, doch das eigentliche Problem liegt ohnehin in der Struktur des Rechtsanspruchs: Das klassische Menschenrecht auf Leben hat als korrespondierende Norm den an alle Menschen und politische Ordnungen gerichteten konkreten Satz »Du sollst nicht töten«- - welcher Satz an wen gerichtet formuliert die Verhaltensvorschrift zum Recht auf Entwicklung? An wen sich der Anspruch genau richtet und welche konkreten Forderungen wie daraus entstehen können und von wem sie erfüllt werden sollen-- diese Fragen bleiben bisher unbeantwortet; dass reichere Gesellschaften zur Entwicklung der ärmeren materiell beitragen sollen, ist grundsätzlich nicht umstritten, aber welche praktischen Folgerungen sich daraus ergeben, ist offen-- oder eben Gegenstand des Aushandelns in internationalen Organisationen. Die Bestimmungen in der Charta der UNO für multilaterale Entwicklungsregime sind recht vage und hinsichtlich der Kompetenzverteilung mehrdeutig. Schon in der Präambel war die Absicht vorgegeben worden, »den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern«; im Zielkatalog ist der UNO aufgegeben, »eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen« (Art. 3). Diese internationale Zusammenarbeit ist generell (Kapitel IX, Art. 55-60) und als spezielle Aufgabe für den Wirtschafts- und Sozialrat (Kapitel X, Art. 61-72) geregelt. Wirtschaftliche und soziale Stabilität werden als notwendige Bedingungen für Frieden verstanden; neben der Verwirklichung der Menschenrechte sind als einzelne Ziele formuliert: Verbesserung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung und die Ermöglichung wirtschaftlichen und sozialen Forschritts; Lösung von wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Problemen internationaler Dimension; internationale Zusammenarbeit in Kultur und Erziehung. Das Zusammenspiel der Generalversammlung (s.-Kap. 4.3.3.1) und des ECOSOC (s.-Kap. 4.3.3.3) ist nicht einfach: Beide sind Hauptorgane der UNO und zu ihrem Verhältnis untereinander gibt die Charta keine Rangordnung vor, wohl aber spezifische Kompetenzabgrenzungen. Zwar ist der ECOSOC in seinem Kompetenzbereich unabhängig, er steht aber unter der »Autorität« (Art. 60), also der Initiative und Kontrolle, der Generalversammlung. Organisationspolitisch folgenreich war, dass es sowohl dieser als auch dem ECOSOC erlaubt ist (Art. 7 und 68), nach Gutdünken »je nach Bedarf […] Nebenorgane« für Fragen und Aufgaben aller Art in ihren Kompetenzbereichen einzusetzen, was vor allem der ECOSOC im Entwicklungsbereich intensiv nutzte. Beide Gremien sind mit den konkreten Aktivitäten des UN-Systems nicht operativ befasst-- sie diskutieren Probleme, fassen Grundsatzbeschlüsse und formulieren generelle Absichtserklärungen; weiter initiieren sie Konferenzen, segnen Vertragsentwürfe ab, beauftragen untergeordnete Organe oder gründen solche bei Bedarf. Zuständig für die mehr oder weniger konkrete Umsetzung dieser politischen Vorgaben sind dann eine kaum noch überschaubare Vielfalt UN-eigener Neben- oder Spezialorgane (z. B. das Entwicklungsprogramm UNDP)-- oder oft auch die sog. Sonderorganisationen (s.-Kap. 4.3.4), mit denen auf Initiative des ECOSOC ein von der Generalversammlung zu billigender Vertrag zur Zusammenarbeit und Kompetenzabgrenzung geschlossen wird. <?page no="258"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 258 258 5 Internationale Regime Weitere Rechtsgrundlagen sind zu finden im Bretton Woods-Abkommen und in allen anderen Verträgen, die Sonderorganisationen begründen, sowie in problemspezifischen Abkommen oder auch in sachverwandten Menschenrechtskonventionen. Resolutionen und Deklarationen der GV oder des ECOSOC sowie eine Vielfalt von Abschlusserklärungen von »Weltkonferenzen« u. Ä., deren Bindungskraft im Gegensatz zu den Verträgen natürlich gering ist, schreiben immerhin die Tendenz der Haltung der Staaten fest. 5.4.2 Agenturen und Methoden der multilateralen Entwicklungspolitik Die meisten nordwestlichen Industrieländer haben seit Jahrzehnten immer wieder als Verpflichtung akzeptiert, einen Anteil von 0,7 % ihres Bruttosozialprodukts für »Entwicklungshilfe« zu verwenden-- tatsächlich erreicht wurden aber insgesamt nur knapp 0,3 % mit fallender Tendenz. Um die Jahrtausendwende machte das kaum 10 US-$ pro Kopf der Weltbevölkerung aus, wovon der größte Teil bilateral zwischen einzelnen Staaten vergeben wurde, also nicht im Rahmen multilateraler Kooperation. Staatliche Entwicklungspolitik steht oft unter dem Verdacht, nur eigennützige Interessenpolitik des Geberlandes bzw. seiner Wirtschaft zu sein. Bilaterale Entwicklungshilfe ist zwangsläufig staatsnah, weil Regierungsvertreter untereinander Programme und Projekte aushandeln, auch wenn bei deren Umsetzung Nichtregierungsorganisationen eingesetzt werden. Bilateralität hat für die Geberregierungen den Vorteil, dass sie die politische Kontrolle über die Vergabe und damit ein potentielles Druckmittel nicht aus der Hand geben. Fast alle Geberländer ziehen generell die bilaterale Vergabeform für Entwicklungshilfe der multilateralen vor, zumal große Staaten, die sich eine eigene Administration für Entwicklungszusammenarbeit leisten; die Bundesrepublik Deutschland vergibt nur etwa ein Drittel ihres Entwicklungsetats multilateral. Dagegen scheint multilaterale Entwicklungspolitik den Vorteil zu haben, dass nicht einzelne Regierungen über sie verfügen können, sondern dass sie in einem größeren politischen Einigungsprozess gründet und somit nach objektiveren Kriterien entworfen sein kann. Multilaterale Entwicklungsleistungen sind, so die Hoffnung, nicht als Machtinstrument einsetzbar, sie sind universal und unparteilich und könnten wesentlich effizienter sein, weil internationale Entwicklungsorganisationen ohnehin in jedem Land vor Ort präsent sind und so die Überschneidungen von bilateralen Aktivitäten vermieden werden könnten-- allerdings setzte dies einen Effizienzgrad multilateraler Organisation voraus, der selten erreicht wird, zudem könnten ja auch die bilateralen Leistungen multilateral koordiniert werden. Interessenkonflikte zwischen Gebern und Nehmern, zwischen strukturell und technologisch hochentwickelten Reicheren und nachhinkenden oder benachteiligten Ärmeren zeigen sich weniger in der Entwicklungszusammenarbeit selbst; sie wirken sich vielmehr aus in Warenhandel und Finanztransfer sowie zunehmend beim Verbrauch öffentlicher Güter wie Umweltressourcen. Eine »Dritte Welt« gibt es schon lange nicht mehr, sie war ohnehin eher eine alternative rhetorische Option im Kalten Krieg als eine große Gruppe von Ländern mit ähnlichen Bedürfnissen und gleichgerichteten Absichten. Die »Entwicklungsländer« sind Länder mit sehr unterschiedlichen Problemen und Chancen, Kulturen und Strukturen, deren wirtschaftliche Interessen auch untereinander stark divergieren können, selbst innerhalb derselben Region. Mit einer Reihe sozioökonomischer Kategorien versuchen die internationalen Entwicklungsagenturen, die spezifischen Problemen von bestimmten Ländergruppen auszudrücken: Neben der Einstufung als Entwicklungsland gibt es z. B. hochverschuldete arme Länder und Länder mit Wirtschaften im Übergang (ehemalige Staatswirtschaften), Länder ohne Zugang zu einem Meerhafen und vom Anstieg des Meeresspiegels bedrohte Länder usf. Für das Ausmaß von Entwicklungshilfe und Handelsbegünstigungen wichtig ist der Status als eines der fast 50 am wenigsten entwickelten Länder (least developed countries/ LDCs), der <?page no="259"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 259 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 259 definiert ist durch weniger als 900 US-$ Bruttosozialprodukt pro Kopf im Jahr bei einer Bevölkerung von unter 75 Mio. Für multilaterale Maßnahmen aller Art bietet sich natürlich das sog. UN-System als Trägerstruktur an (Sangmeister 2009; Sangmeister/ Schönstedt 2010; Wesel 2002), in dem allerdings nie eine logisch aufgebaute und kohärent organisierte Systematik wirkte. Schon ein oberflächlicher Blick auf das Organigramm der UNO (www.un.org) macht deutlich, dass direkt ca. zwei Drittel und indirekt fast alle ihrer Organe, Institutionen, Ausschüsse etc. mit Entwicklungsproblemen zu tun haben; ein genauerer Blick auf das Gewirr der UN-Architektur nährt den Verdacht, dass ihre Planer und Baumeister an Effizienz zuletzt dachten-- statt UN-System sollte das Ganze eher ein UN-Konglomerat genannt werden. Zwar ist prinzipiell eine einfache Grundstruktur und eine nachvollziehbare Aufgabenverteilung zu erkennen, aber in der Praxis wurde dies stets konterkariert durch unterschiedliche rechtliche, politische und finanzielle Handlungsspielräume, durch Kompetenzüberschneidungen und durch unterschiedliche, oft einander widersprechende Konzepte. Besonders die klassischen Bretton Woods-Institutionen IMF und Weltbank bewahrten konstant ihre Eigenständigkeit. Tab. 35: Internationale Organisationen/ Institutionen im Arbeitsfeld »Entwicklung« Organisation ( Status → berichtet an) Zuständigkeit: Mittel/ Verfahren _politische Vorgaben (Prinzipien/ Normen/ Regeln) Generalversammlung/ GV (2./ 3.Ausschuss) General Assembly/ GA (2nd/ 3rd Comm.)  Hauptorgan der UNO Generelle Zuständigkeit für Entwicklungsfragen: Zielformulierung, Schwerpunktsetzung, Finanzierung; Resolutionen und Deklarationen, (Welt-)Konferenzen Wirtschafts- und Sozialrat Economic and Social Council/ ECOSOC  Hauptorgan der UNO → GV Spezifische Zuständigkeit für Entwicklungsfragen: Konzeption, Koordination und Auswertung: Resolutionen und Deklarationen, Fach-Konferenzen ECA, ECE, ECLAC, ESCAP, ESCWA  regionale Wirtschaftskommissionen → ECOSOC Wirtschaftliche Entwicklung in der Welt-Region: Abstimmung und Koordination, Beratung und Expertise UNO-Generalsekretär/ Sekretariat Department of Economic and Social Affairs/ DESA Office for the Coordination of Humanitarian Affairs/ OCHA Koordination, Planung, Konzeption _Entwicklung allgemein und Entwicklungs-Finanzierung Entwicklungsprogramm der UN UN Development Fund/ UNDP  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Konzipierung, Finanzierung, technische Zusammenarbeit: Strategien/ Konzepte, Koordination, Evaluation; Mittel-Vergabe (Zuschüsse) für Programme/ Projekte in allen Bereichen, oft über andere UN-Organisationen Kapitalentwicklungsfonds UN Capital Development Fond/ UNCDF  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Lokale Entwicklungsprogramme und Mikro-Finanzierung für am wenigsten entwickelte Länder (LDCs): Kreditvergabe-Programme (Klein- und Kleinstkredite) Freiwilligenprogramm UN Volunteers/ UNV  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Förderung des Einsatzes von freiwilligen/ ehrenamtlichen Fach-/ Kräften zur Nutzung von Engagement und Expertise der Zivilgesellschaft <?page no="260"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 260 260 5 Internationale Regime Organisation ( Status → berichtet an) Zuständigkeit: Mittel/ Verfahren Organisation für industrielle Entwicklung UN Industrial Development Organisation/ UNIDO  selbständige Sonderorganisation Industrielle Entwicklung: Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Privatwirtschaft durch Investitionen und Technologie, auch Agro-Industrie sowie nachhaltige Energiewirtschaft und Umweltmanagement Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung [»Weltbank«] International Bank for Reconstruction and Development [»Worldbank«]/ IBRD  selbständige internationale Organisation (Bretton Woods-Institution) Langfristige Entwicklungsfinanzierung und -planung: Vergabe von vergünstigten Krediten, Länderprogramme; Konzipierung entwicklungspolitischer Programme; Technische Zusammenarbeit, Projekte; → jährlicher »Weltentwicklungsbericht« (→ das »Entwicklungsregime« von ›Bretton Woods‹) Internationale Entwicklungsorganisation International Development Association/ IDA  Sonderorganisation → IBRD Langfristige Entwicklungsfinanzierung für ärmere Länder: Stärker verbilligte Kredite; Länderprogramme; enge Kooperation mit IBRD Internationale Finanz-Corporation International Finance Cooperation/ IFC  Sonderorganisation →IBRD Förderung von Privatinvestitionen in Entwicklungsländern: Kredite und Absicherung von Investitionen; enge Kooperation mit IBRD Regionale Entwicklungsbanken →regionalspezifische Entwicklungsfinanzierung Internationaler Währungsfonds/ IWF International Monetary Fund/ IMF  selbständige internationale Organisation (Bretton Woods-Institution) Währungsstabilität und Zahlungsbilanzgleichgewicht: (Not-)Kredite an Staaten, meist mit Auflagen (Ausgabenkürzung, Liberalisierung u. Ä.), »Strukturanpassungsprogramme«; Aufbauhilfe unter der Bedingung der »good governance« _Handel und Entwicklung UN Handels- und Entwicklungskonferenz UN Conference on Trade and Development/ UNCTAD  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Welthandel und Entwicklung: politisches Diskussionsforum, unverbindliche Resolutionen; Organisation von Fachwissen/ Expertise, Beratung; technische Hilfe zur Handelsentwicklung Allgemeines Welthandelsabkommen/ GATT General Agreement on Trade and Tariffs Freihandel, Zollabbau - 1995 durch die WTO ersetzt-- Welthandelsorganisation (seit 1995) World Trade Organization / WTO  selbständige internationale Organisation Regelung des Welthandels: Internationale Abkommen; Streitschlichtungsverfahren Internationales Handelszentrum International Trade Center/ ITC  Spezialorgan der UNO → UNCTAD/ WTO Handelsförderung: Kooperation UNCTAD/ (GATT)WTO; Technische Zusammenarbeit _Ernährung und Landwirtschaft Welternährungsrat World Food Council/ WFC  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Welternährungsprobleme: Koordination - seit 1995 suspendiert-- Tab. 35: Fortsetzung <?page no="261"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 261 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 261 Organisation ( Status → berichtet an) Zuständigkeit: Mittel/ Verfahren Welternährungsprogramm World Food Programme/ WFP  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Nahrungsmittelhilfe/ Ernährungssicherung: Versorgung mit Nahrungsmitteln in Krisenfällen und in dauerhaften Hunger-Situationen; Organisation von Nothilfe, Schulspeisungsprogramme, »food-for-work“-Projekte Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation Food and Agricultural Organization/ FAO  selbständige Sonderorganisation Landwirtschaftliche und ländliche Entwicklung, Fischerei: Daten-Erhebung/ Analyse, Krisenwarnung; Produktionssteigerung, Sicherung der Ernährungsbasis; Organisation von Fachwissen/ Expertise; Standards für Lebensmittelsicherheit Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung International Fund for Agricultural Development/ IFAD  selbständige Sonderorganisation Ländliche Entwicklung: produktivitätsorientierte Unterstützung von Kleinbauern und landlosen Landarbeitern für mehr Nahrung und mehr Einkommen; langfristige Kredite zu stark vergünstigten Bedingungen _Soziale Entwicklung Internationale Arbeitsorganisation International Labour Organization/ ILO  selbständige Sonderorganisation Arbeitsbeziehungen/ Arbeitsrechte: Formulierung/ Verbreitung von Normen/ Standards, Staatenberichte; Technische Hilfe (Recht/ berufliche Bildung/ sozialer Schutz/ Arbeitssicherheit); Arbeitsmigration Entwicklungsprogramm für Frauen UN Development Fund for Women/ UNIFEM  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen: Programme der finanziellen und technischen Hilfe; politisch-ökonomische Integration, »Gender«-Perspektive Kinderhilfswerk der UN UN Children’s Fund/ UNICEF  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Schutz und Förderung von Kindern und Müttern: Gesundheit, Familienplanung, Hygiene, Ernährung, Bildung; humanitäre Nothilfe und Lobbyarbeit, z. B. zu Kindersoldaten Bevölkerungsfonds der UN UN Fonds for Population Activities/ UNFPA  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Bevölkerungsentwicklung: Familienplanung (früher: »Geburtenkontrolle«), sexuelle und reproduktive Gesundheit; Information und Aufklärung; Länderprogramme _Erziehung/ Bildung, Wissenschaft, Kultur Organisation der UN für Erziehung, Wissenschaft und-Kultur UN Educational, Scientific and Cultural Organization/ UNESCO  selbständige Sonderorganisation Erziehung und Wissenschaft, Kultur und Bildung: Förderung von Ausbildung/ Bildung, lebenslanges Lernen; interkultureller Informationsaustausch und Dialog; Kommunikation und Medien; als Nebeneffekt Großverlag _Umwelt, Nachhaltigkeit, Klima Umweltprogramm der UN UN Environment Programme/ UNEP  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Globaler Umwelt-/ Klima-/ Artenschutz: Umweltdaten auswerten zu Klima, Verschmutzung/ Abfall, Beschädigungen, Artensterben; Empfehlungen zu Gegenmaßnahmen Tab. 35: Fortsetzung <?page no="262"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 262 262 5 Internationale Regime Organisation ( Status → berichtet an) Zuständigkeit: Mittel/ Verfahren [HABITAT] Wohn- und Siedlungswesen UN Centre for Human Settlements/ UNCHS  Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Verstädterung und Wohnen: nachhaltige städtische Entwicklung; Wohnraum für alle Menschen _Gesundheit Weltgesundheitsorganisation World Health Organization/ WHO  selbständige Sonderorganisation Gesundheit für alle: Daten-Erhebung und Analyse; Programme (Impfungen, Kampagnen), z. B. zu Epidemien/ Pandemien (Infektionskrankheiten), Aufbau von Gesundheitssystemen; Entwicklung und Durchsetzung von Methoden und Standards Der ECOSOC sollte, so die Absicht bei der Gründung der UNO, diese vielfältigen Aktivitäten koordinieren und deren Ergebnisse überwachen, Doppelarbeit vermeiden und politische Linien vorgeben; dies ist aber kaum möglich, schon gar nicht mit den rechtlichen und sachlichen Mitteln des Rates, zumal die Bretton Woods-Institutionen und andere Sonderorganisationen sich im Zweifelsfall zu Recht nicht als weisungsgebunden der UNO untergeordnet verstehen (Fomerand/ Dijkzeul 2007). Ab 1966 sollte das UNDP unter dem ECOSOC auf der Ebene der operativen Aufgaben bzw. der sog. Technischen Entwicklungszusammenarbeit die entscheidende Rolle bei der Finanzierung, Steuerung und Koordinierung übernehmen; UNDP ist so die wichtigste Entwicklungsagentur der UNO geworden, aber eben parallel zu IMF/ IBRD und immer in Konkurrenz mit den Fachorganisationen wie FAO, UNESCO und UNFPA. Wird in konkreten Fällen Koordination nötig bzw. erwünscht, leisten dies dann meist entsprechende Ausschüsse oder Arbeitsgruppen, in denen die beteiligten Organisationen vertreten sind, jedoch gibt es keine übergreifende Kommandostruktur. Entwicklungsmaßnahmen werden in der Regel nicht aus den ordentlichen Budgets der UNO bzw. der zuständigen Organisationen finanziert; aus deren eigenen Haushaltsmitteln werden allenfalls die laufenden operativen Aktivitäten wie fachliche Expertise, Koordination und Überwachung bezahlt. Die Mittel für Projekte kommen aus den dafür spezialisierten Fonds (UNDP, IFAD, UNFPA u. a.) oder Kreditprogrammen (z. B. der Weltbank-Gruppe oder der verschiedenen regionalen Entwicklungsbanken) bzw. oft auch von an speziellen Maßnahmen besonders interessierten Geberländern; in akuten Situationen werden auf sog. pledging- oder Geberkonferenzen nach der umgekehrten Logik einer Auktion von den Staaten Gelder eingetrieben. Eine Summe der Aufwendungen für die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit insgesamt oder auch nur im Rahmen der UNO anzugeben, ist schwierig, aber Größenordnungen können angedeutet werden-- die wie immer nach einem vergleichenden Blick z. B. auf den Haushalt einer deutschen Großstadt recht bescheiden aussehen. Für die meisten Entwicklungsprogramme und den größten Teil der operativen oder Technischen Zusammenarbeit dient das UNDP als eine Art Umverteilungsagentur, in die neben den Mitgliedsländern auch andere UN-Fonds einzahlen und von der die Fachorganisationen von FAO bis WHO in der Regel ihre Mittel beziehen. Das UNDP (www.undp.org) verfügte Anfang der 1990er Jahre über einen sog. Kernhaushalt von über 1 Mrd. US-$, der bis zur Jahrtausendwende um ein Drittel auf gut 700 Mio. US-$ sank und bis 2009 wieder auf 1,1 Mrd. US-$ anstieg. Dieser Kernhaushalt wird finanziert durch die freiwilligen Beiträge der Mitgliedsländer; der größte Anteil kommt von Industrieländern (die Bundesrepublik Deutschland bezahlte 2009 ca. 3,8 % des Kernetats), aber auch Tab. 35: Fortsetzung <?page no="263"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 263 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 263 einzelne Länder des Südens beteiligen sich. Daneben verwaltet das UNDP Mittel aus verschiedenen anderen Finanzierungsmechanismen, deren Umfang bis 2009 auf ca. 3,8 Mrd. US-$ anstieg, deren Verwendung das UNPD allerdings nur eingeschränkt selbst bestimmen kann. Die Aufgabe der Weltbank (IBRD; www.worldbank.org) ist die langfristige Entwicklungsfinanzierung, doch vergibt sie auch Mittel für die Technische Zusammenarbeit; ihr Grundvermögen (Kapitalstock und Rückflüsse), aus dem sie ihre laufende Kreditvergabe finanziert, beträgt etwa 283 Mrd. US-$; der Anteil Deutschlands beträgt ca. 4,5 %. Allgemein stammt inzwischen ein großer Teil der Mittel der Entwicklungsfinanzierung aus Rückflüssen (Zins- und Tilgungszahlungen). Der formale Grund für die starke Ausdifferenzierung der Institutionen ist das unbeschränkte Recht der Staaten, Sonderorganisationen direkt bzw. durch Generalversammlung und ECOSOC Nebenorgane in der UNO zu gründen; aber es gibt auch naheliegende politische Motive für den oft beklagten »Wildwuchs«. Für Ernährung und Landwirtschaft bzw. Ländliche Entwicklung sind mindestens ein Spezialorgan (WFP) und zwei Sonderorganisationen (FAO, IFAD) zuständig sowie eine Vielzahl spezieller Gremien, Agenturen und Programme; dazu gab es häufig große Weltkonferenzen (z. B. 1974, 1979, 1996); auch die generell zuständigen Institutionen wie UNDP und ECOSOC behandeln entsprechende Fragen; weiter befassen sich thematisch benachbarte Institutionen wie UNFPA und UNEP sowie gegebenenfalls auf bestimmte Gruppen wie Frauen und Kinder spezialisierte Organisationen mit dem ländlichen Bereich; insofern der Welthandel ein für die Agrarentwicklung natürlich höchstwichtiger Einflussfaktor ist, sind auch UNCTAD und WTO mit im Spiel. UNCTAD und WTO scheinen das Paradebeispiel für uneffiziente Doppel- und Mehrfachkompetenzen zu sein. Beide sind zuständig für den Welthandel, in beiden geht es um den engen Zusammenhang von Handel und Entwicklung, beide haben u. a. den Auftrag, die globale Wohlfahrt zu fördern-- aber in Struktur und Funktion sowie hinsichtlich ihrer praktischen Bedeutung sind sie so unterschiedlich, dass sie eigentlich schon komplementär sind. Die UNCTAD als UN-Nebenorgan entscheidet nach dem Prinzip der Gleichheit der Staaten und kennt als reguläre Methode Mehrheitsabstimmungen, wie sie in der heißen Phase des Nord-Süd-Konflikts auch oft zelebriert wurden. Die rechtliche Bindung von Resolutionen der UNCTAD ist äußerst schwach-- sie haben, wie die 1974 auf Vorschlag der UNCTAD von der Generalversammlung erklärte »Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten« (A/ RES/ 3281 (XXIX)), meist nur appellativen Charakter. In der WTO werden dagegen verbindliche Regelungen auf vertraglicher Grundlage getroffen; sie entscheidet über Fragen, die über die Regelungen der geltenden internationalen Handelsverträge hinaus geklärt werden sollen, prinzipiell im Konsens, obwohl Mehrheitsabstimmungen (bei einer Stimme für jedes Mitglied) formal möglich wären. Wenn es ums eigene Geld geht und um das anderer, z. B. um Benachteiligungen oder Begünstigungen in bestimmten Handelssegmenten, wären Kampfabstimmungen zur Erzwingung wirkungslos, nur eine tragbare Einigung kann kooperatives Verhalten aller Marktteilnehmer motivieren. WTO und UNCTAD können aber in politischer Arbeitsteilung funktionieren, indem sie die spezifischen Bedürfnisse ihrer jeweiligen Klientel bedienen: Einerseits wird konkretes Geschäft betrieben durch Aushandlung von Interessen auf der Basis der ökonomischen und politischen Potentiale der Mitgliedstaaten, andererseits bietet sich ein Forum für den rhetorischen Austrag des wirtschaftlichen Nord-Süd- Konflikts an, auf dem Gerechtigkeit und mehr Mittel für Entwicklung gefordert werden können; UNCTAD war dabei allerdings oft in Gefahr, dem Zerrbild einer skurrilen »Quatschbude« recht nahe zu kommen. Die wichtigsten Beiträge der UNO zur Entwicklungszusammenarbeit sind ● ● ihre politische Funktion als globales Forum zur kontroversen Auseinandersetzung über den richtigen Entwicklungsweg-- mal kampfrhetorisch, mal Interessen klärend-- und ● ● ihre fachliche Funktion, eine von Einzelnen und von nationalen Behörden nicht mehr überblickbare Menge von Information und Wissen hervorzubringen und entsprechende Expertise bereitzustellen. <?page no="264"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 264 264 5 Internationale Regime Zwar steht bilaterale Entwicklungszusammenarbeit meist stärker in einem bestimmten politischen Kontext, doch die konkreten Maßnahmen und Arbeitsinstrumente der multilateralen Kooperation sind denen der bilateralen staatlichen Entwicklungspolitik gleich oder ähnlich. Arten der Vergabe sind die Finanzhilfe, durch die zu investierendes Kapital möglichst zweckbestimmt transferiert wird, und die operative oder Technische Zusammenarbeit, die Fertigkeiten und Technologien aller Art übertragen soll. Beide Arten können auf der Basis zurückzahlbarer Kredite finanziert sein, wobei der Zinssatz unter dem Marktniveau liegt, die Kredite also von den Gebern subventioniert werden, oder sie können als nichtrückzahlbare Zuschüsse vergeben werden, also als »Entwicklungshilfe« im engeren Sinne. Die Nehmerseite (eine Regierung, aber auch eine untergeordnete staatliche Instanz oder gar eine NGO) beantragt eine Maßnahme, eine Fach-Administration (meist der UNO oder von ihr beauftragt) prüft und stimmt zu, die Geberseite (vertreten durch eine UN-Institution, meist das UNDP) bezahlt sie, eine oder mehrere Träger (UN-Fachorganisationen und/ oder NGOs) wickeln sie ab. Maßnahmen können kleine Einzelprojekte oder ganze Länder umfassende komplexe Programme sein. Größenordnung und Organisationstiefe hängen vom Gegenstand und Ziel der Maßnahme ab; ein landesweites Impfprogramm z. B. ist organisatorisch aufwändiger und zugleich sozio-politisch einfacher als ein lokales Projekt zur sozialen Emanzipation einer Minderheit. Maßnahmen können eine schlichte Vergabe zweckgebundener vergünstigter Kredite sein oder eine komplizierte Übertragung technischer Anlagen und der dazugehörigen Expertise oder auch die Übernahme von Regierungs- und Verwaltungsfunktionen, wenn eine staatliche Ordnung nicht ausreichend funktioniert. Langfristige Programme (z. B. zur Ausbildung) sind die Regel, aber auch kurzfristige Hilfseinsätze in akuten Katastrophenfällen können jederzeit gebraucht werden. Die Auswahl aus der denkbaren Vielfalt der Maßnahmen und ihrer Methodik hängt jeweils ab von der entwicklungspolitischen Einschätzung der Problemsituation und der daraus resultierenden Entwicklungsplanung, die beide wieder abhängig sind von der geltenden Entwicklungskonzeption. Das Problem herkömmlicher Entwicklungsmaßnahmen, die sich an arme Menschen und Dörfer richten, ist, dass sie einzeln und vor Ort schlicht zu billig und zu kleinteilig sind, als dass sie von einer Entwicklungshilfe-Administration überhaupt als Masse breit durchgeführt würden könnten; zwischenstaatliche Entwicklungspolitik neigt daher zu Mittelvergabe für teuere und großgeschnittene Maßnahmen, die wegen althergebrachter Vorliebe für deutlich sichtbare Großprojekte und/ oder mangels »good governance« auf der Empfängerseite dann selten bei den zu entwickelnden Armen vor Ort ankommen. Eine alternative Möglichkeit ist, Maßnahmen über internationale NGOs mit lokalen Kooperationspartnern wie kirchliche Hilfsdienste durchzuführen oder gleich mit lokalen NGOs und lokalen Selbsthilfegruppen zu arbeiten. Das sog. micro-financing ist ein eher seltenes Beispiel für ein innovative Art von Maßnahmen; es entstammt nicht dem vorherrschenden Modernisierungs- und Transformationsdenken, sondern wurde am klassischen Raiffeisen-Konzept orientiert von einem Wissenschaftler aus Bangladesch entwickelt wurde: Muhammad Yunus hat zusammen mit der seit 1983 arbeitenden »Grameen-Bank« (»Dorf-Bank«) den Friedensnobelpreis 2006 erhalten (Yunus 1998). Mikrofinanz-Kredite geringer Höhe werden ohne ordentliche Sicherheiten, sondern im Rahmen der Kontrolle einer überschaubaren sozialen Gruppe an arme Menschen vergeben, die damit in die Sicherung ihrer eigenen Existenz investieren. Das Konzept stieß auf Begeisterung, aber auch auf Kritik-- es sei letztlich doch wieder wachstumsorientiert und erreiche nicht wirklich nachhaltig die Armen, sondern eher die ländliche Mittelklasse usf.; Mikrofinanz-Projekte haben jedenfalls Rückzahlungsraten, mit denen westliche Geschäftsbanken zufrieden sein könnten. Besonders in den multilateralen Arbeitsbereichen der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung und der damit zusammenhängenden Probleme sind spezielle Berichte und große internationale Konferenzen (s.-Kap. 4.4.3) häufig genutzte Instrumente, um regelmäßig neuen Schwung zu holen oder um ein spezielles Thema voranzubringen. Die etablierten Jahresberichte sind für Politik und Fachwelt von größter <?page no="265"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 265 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 265 Bedeutung als einzigartige Datenquellen und Zusammenstellungen wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Analysen sowie auch als politische Foren konzeptioneller Diskussion, vor allem immer auch als Indikatoren für die angesagten Schwerpunktsetzungen bzw. Moden der Entwicklungspolitik; die beiden Klassiker, der »Weltentwicklungsbericht«/ »World Development Report« der Weltbank/ IBRD (seit 1978) und der »Bericht zur menschlichen Entwicklung«/ »Human Development Report« des UNDP (seit 1990) sind durchaus auch als Manifestationen konkurrierender Prioritätensetzungen und Deutungen zu verstehen-- der klassischen ökonomischen und als Gegengewicht dazu einer sozio-politischen akzentuierten Sicherweise. Das Konferenzwesen entspringt natürlich dem Wesenskern des Multilateralismus; Konferenzen sind der multilaterale Alltag, die Generalversammlung der UNO ist nichts anderes als eine Dauer-Konferenz mit breitester Themenstreuung. Kritisch zu sehen sind große und aufwändige, wenn auch öffentlichkeitswirksame »Weltkonferenzen« und »Weltgipfel« wie die Serie von acht großen, teilweise spektakulär inszenierten und mit viel Zivilgesellschaft garnierten »events« der 1990er Jahre (Kinder, Umwelt und Entwicklung, Menschenrechte, Bevölkerungsentwicklung, soziale Entwicklung, Frauen, Verstädterung, Ernährung; Wesel 2004), für die nun die ersten »+20«-Nachfolgekonferenzen in Arbeit sind. Als Kriterium kann gelten, dass solche Großereignisse einen entsprechenden Wert haben können, wenn sie eine politisch schon reife Tendenz konzentriert bündeln und verstärken, wie es bei der ersten, der schon mythisierten Umweltkonferenz von »Rio« 1992 gelungen ist, während z. B. die Frauen-Konferenz von Peking damals wie heute ambivalent erscheint und die meisten anderen Konferenzen im Rückblick als absurd überbewertet zu sehen sind. Diese Konferenzen produzierten Deklarationen und Aktionsprogramme, initiierten die Gründung einiger neuer Institutionen/ Kommissionen/ Ämter, bereiteten im besten Fall den Abschluss völkerrechtlich verbindlicher Verträge vor (wie die Klimaschutz-Rahmenkonvention UNFCCC), blieben aber sonst auf unverbindliche Absichtserklärungen beschränkt. Der sog. Millenniumsgipfel von 2000 sollte im letzten Jahr des alten Jahrtausends die Perspektiven für das neue klären und Aktivitäten anspornen-- vor allem wieder einmal für die Entwicklung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle Menschen. Früher waren schon mehrere sog. Entwicklungsdekaden der UNO ausgerufen worden, für die alle zehn Jahre neue Zielvorgaben im Kampf gegen den Hunger und gegen Armut und gegen Analphabetentum und vieles mehr gesetzt und regelmäßig nicht erreicht wurden: In der ersten von 1961 bis 1970 sollte das Bruttosozialprodukt der Entwicklungsländer um 5 % gesteigert werden, was zwar absolut fast erreicht wurde, aber pro Kopf der rasch wachsenden Bevölkerungen waren es gerade mal 2 %; für die folgenden Dekaden wurden jeweils wieder und speziellere Ziele formuliert, mit denen reagiert wurde auf die inzwischen wahrgenommenen immer komplexeren Probleme; immer neue Losungen und modifizierte »Strategien« sollten es beschwörungsrituell richten, dass die Welt bis zum Dekadenende Durchbrüche erreiche oder wenigstens irgendwelche Problemzahlen halbiere. Nun sollen acht »Millenniumsentwicklungsziele« (Millennium Development Goals/ MDGs) bis 2015 erreicht werden. Neu daran und zweifellos ein Fortschritt war, dass diesmal nicht nur irgendwelche Zielsetzungen beschlossen, verkündet und gedruckt wurden, sondern dass ein komplexes System von detaillierten Entwicklungsindikatoren und Methoden zur Erhebung und Aufbereitung entsprechender Daten zur Messung der Zielerreichung eingerichtet wurde, wodurch die Probleme und Fortschritte transparenter wurden (http: / / www.un.org/ millenniumgoals). Die Ziele sind jeweils bezogen auf den Zeitraum 1990 bis 2015 gerichtet auf (1) die Halbierung der Zahl der von extremer Armut und Hunger betroffenen Menschen, (2) allgemeine Grundschulausbildung, (3) Gleichstellung und größeren Einfluss der Frau, (4) Senkung der Kindersterblichkeit, (5) Müttergesundheit, (6) Bekämpfung von Krankheiten wie AIDS/ HIV oder Malaria, (7) nachhaltige Umwelt, (8) globale Partnerschaft im Handels- und Finanzsystem. <?page no="266"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 266 266 5 Internationale Regime Erreicht werden können die Ziele bis 2015 nicht; es wird erfreuliche Teilerfolge geben, aber selbst solche Ziele, bei denen die Daten auf die globale Ebene berechnet gut aussehen, sind in vielen Teilen und Ländern der Welt bzw. für große Teile der Bevölkerungen bisher nicht erfüllt oder auch weit verfehlt worden, wie UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon in seinem Bericht 2011 darstellen musste (UN Doc. A/ 66/ 1). Das erste und wichtigste Ziel, zwischen 1990 und 2015 den Anteil der Menschen, die unter extremer Armut und Hunger leiden, zu halbieren, könnte pauschal noch erreicht werden, was sicherlich ein zu feiernder Erfolg sein würde- - aber in absoluter Zahl blieben selbst dann immer noch 1 Mrd. Menschen in Not, deren wirtschaftliche Möglichkeiten und Chancen, sich ausreichend zu ernähren, nicht wachsen werden. 5.4.3 (Welt-)Ernährung Die FAO gibt in ihrem »Bericht zur Nahrungsunsicherheit 2011« (FAO 2011, S. 44) an, dass im-Zeitraum 2006-2008 weltweit 850 Mio. Menschen unterernährt waren, das sind 13 % der Weltbevölkerung. Selbst wenn das erste Millenniumsziel bis 2015 erreicht werden sollte, was keineswegs wahrscheinlich erscheint, würden dann immer noch über 600 Mio. Menschen hungern. Die heutige Weltbevölkerung von 7 Mrd. Menschen könnte mit der derzeitigen Agrarproduktion ernährt werden; damit für die mehr als 9 Mrd. Menschen in 2050 genug Nahrung vorhanden wäre, müsste die Nahrungsmittelproduktion ungefähr verdoppelt werden (Herren 2009). Die gegenwärtige »Welternährungskrise« ist wahrlich kein neues Phänomen. In den 1970/ 80er Jahre wurde geschätzt, dass mehr als eine halbe Milliarde Menschen ernstlich von Ernährungsdefiziten betroffen waren (Wesel 1990). Seit den 1990er Jahren schien-- ungeachtet der weiterhin hohen Zahlen-- Hunger und Unterernährung als Problem gegenüber dem Klimawandel an Dringlichkeit zu verlieren. Um so überraschter zeigte sich die Weltöffentlichkeit, als 2007 Hunger und Ernährungssicherung wieder zum Thema wurden, weil massive Preissteigerungen für Nahrungsmittel in vielen Ländern zu Protesten und Unruhen führten; auch die Not unter den Opfern des anhaltenden politischen Chaos am Horn von Afrika wurde wieder stärker wahrgenommen. »Mit steigenden Weizen- und Maispreisen wächst die Angst vor neuen Hungerrevolten. […] Der größte Teil der Handelsumsätze an den Rohstoffbörsen geht inzwischen auf reine Finanzinvestoren zurück und nicht auf Agrarproduzenten und Lebensmittelhersteller. […] Der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen ist global. Die Regulierer müssen für mehr Transparenz sorgen. Akteure an den Börsen müssen sich zu erkennen geben und offenlegen, in welcher Absicht sie handeln. Der Anteil der institutionellen Anleger könnte dann zum Beispiel über Quoten reglementiert werden. Die Zeit drängt. Es steht viel auf dem Spiel. Denn die Geschäftemacher an den Agrarmärkten spielen mit dem Leben von Menschen und gefährden den Weltfrieden.« Süddeutsche Zeitung vom 24.1.2011, Kommentar Silvia Liebrich Warum hungern Menschen? Weil sie nichts zu essen haben. Warum haben sie nichts zu essen? Erstens weil sie kein eigenes Land haben, um sich etwas zum Essen anzubauen; zweitens weil sie zu arm sind, sich mit Geld etwas zum Essen zu kaufen. Meist werden leichthin der Mangel an Ackerland verbunden mit dem Wachstum der Bevölkerungen als wichtigste Faktoren dafür genannt, dass deren Ernährung in manchen Ländern aus eigener Kraft nicht mehr möglich ist. Genug Nahrung ist aber pro Kopf verfügbar, sodass eigentlich niemand hungern oder an Mangelernährung leiden müsste, denn das Wachstum der globalen Nahrungsmittelproduktion ist noch größer als das Wachstum der Weltbevölkerung. Mit den verfügbaren Ressourcen und mit ausbau- und anpassungsfähigen Produktionsmethoden ist das Ernährungsproblem mengenmäßig zu bewältigen-- die Hemmnisse sind sozialer und politischer Natur, <?page no="267"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 267 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 267 nicht einfach naturbedingt. Hunger ist kein Schicksal von Natur, er ist nicht oder nur selten ein Problem zu wenig fruchtbarer Böden oder ungünstiger klimatischer Bedingungen, er ist auch nicht die unmittelbare Folge rückständiger und uneffizienter bzw. ökologisch zerstörerischer Produktionsmethoden, sondern Hunger ist vor allen anderen Aspekten zu sehen als die härteste Erscheinungsform der Armut von Menschen: Ein zu geringes Angebot an Grundnahrungsmitteln ist sozioökonomisch als Folge fehlender Kaufkraft der Armen zu erklären-- wer nicht zahlen kann, für den wird nicht produziert. Zwar wird ein relativ stabiles und funktionsfähiges Regime zur weltweiten Ernährungssicherung schon seit vielen Jahrzehnten ausgebaut (Nützenadel 2009), aber die zur Verfügung stehenden Mittel und Maßnahmen reichen schlicht nicht aus, um die Nahrungsversorgung für alle Menschen verlässlich zu machen; bis zu 1 Mrd. Menschen bleiben von Hunger und Mangelernährung betroffen und viel mehr sind bedroht, wenn auf dem Weltagrarmarkt die Preise für Grundnahrungsmittel steigen- - möglicherweise auch, weil statt diesen Energie-Rohstoffe zunehmend kaufkräftig nachgefragt werden. Denn ● ● die Exporte von klassisch »kolonialen« Produkten wie Kaffee, Tee, Kakao, Gewürzen und exotischen Früchten usw., aber z. B. auch von Futtermitteln in die traditionellen Industrieländer, ● ● das rasch steigende Konsumniveau reicher werdender Bevölkerungsschichten, insbesondere deren wachsender Fleischkonsum, in Ländern des globalen Südens selbst ● ● sowie neuerdings auch der weltweite Energiebedarf erhöhen den Nachfragedruck auf die Agrarsektoren und damit die Preise auch in Ländern, in denen Menschen hungern. Die Produktion einer Nahrungskalorie aus Fleisch erfordert bis zu sieben pflanzliche Kalorien; die Fleischproduktion wurde seit 1970 weltweit verdoppelt, allein in China wird heute fünfmal mehr Fleisch verbraucht als 1980; gut 10 % der globalen Maisernte werden zu Treibstoff verarbeitet, in den USA sogar das Dreifache, was wegen der steigenden Konkurrenz um Anbauflächen wiederum den Weltmarktpreis für Nahrungsmittel nach oben treibt (Herren 2009). Das Ausmaß der Liberalisierung des Welthandels kann vor allem im Bereich von Landwirtschaft und Ernährungssicherung zur Überlebensfrage für Millionen Menschen werden. Eine Exportorientierung landwirtschaftlicher Produktion ist meist betriebswie volkswirtschaftlich erfolgreich- - aber wird dadurch nicht möglicherweise die gesicherte Fähigkeit zur Selbstversorgung mit einfachen Nahrungsmitteln untergraben? Die bloße Tatsache, dass auf vielen Feldern »cash crops« für den Export und/ oder vermehrt erneuerbare Energie-Rohstoffe wachsen und nicht billige Nahrungsmittel für den heimischen Bedarf, ist nicht die unmittelbare Ursache für den Mangel. Doch bleibt in vielen Fällen zu fragen, ob eine erfolgreiche Konzentration der wirtschaftlichen Aktivität im Sinne des freien Welthandels auf den Weltmarkt-Export nicht knappe ökonomische und zumal politische Ressourcen bindet, die durchaus langfristig profitabel eingesetzt werden könnten zur Entwicklung eines Binnenmarkts für einfache Nahrungsmittel und damit zur Sicherung der Ernährung der breiten Bevölkerung. Die Strukturanpassungsprogramme des IMF (s.-Kap. 5.4.1) zwangen viele verschuldete Länder, sich im Sinne der Freihandelsdoktrin für Nahrungsmittelimporte zu öffnen und damit lokale, meist kleinbäuerliche und also zahlreiche Produzenten vom eigenen Markt zu verdrängen. Die Menschen, die heute in Großstädten aus Armut Hunger leiden, sind daher oft ehemalige Kleinbauern, deren Existenz durch den weltweiten Agrarhandel und eine verfehlte Landwirtschaftspolitik zerstört wurde. Viele Entwicklungsländer vernachlässigten auch ohne äußeren Druck ihre Landwirtschaft; die bi- und multilaterale Entwicklungspolitik widmete der ländlichen Entwicklung zwar viel Rhetorik, aber ebenfalls wenig politische Zuwendung: In den 1990er Jahren sanken die Investitionen in die Landwirtschaft um die Hälfte; die Masse davon ging zudem in den exportorientierten Bereich. Zugleich waren Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt jahrzehntelang dank der subventionierten Überschüsse einiger hochproduktiver Produzenten wie der USA und der EU vergleichsweise billig gewesen, was den wirtschaftlichen Anreiz zur lokalen Nahrungsproduktion in hungergefährdeten Ländern noch weiter verringerte (Herren 2009; Wesel 1993). <?page no="268"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 268 268 5 Internationale Regime Verschärft wird das Dilemma zwischen Exporterfolg und Ernährungssicherung dadurch, dass immer mehr Länder sich durch die Ausrichtung ihrer landwirtschaftlichen Produktion auf die Weltmarktnachfrage abhängig gemacht haben von Nahrungsmittelimporten aus einer sehr kleinen Zahl von Exportländern (Wiggerthale 2009): Weizen kommt zu zwei Dritteln aus den USA, Argentinien und Brasilien; Reis liefern Thailand, Vietnam, USA, Pakistan und Indien. Wetterbedingte Ernteausfälle oder politisch bedingte Verknappungen können sehr schnell globale Auswirkungen haben. Und: Nur vier multinationale Firmen kontrollieren drei Viertel des Weltgetreidemarkts. Diese wenigen Exportländer und Agrarhandelskonzerne versorgen nun von Nahrungsmittelimporten abhängige Länder, die früher einmal Netto- Nahrungsmittel-Exporteure waren-- und also einmal eine eigenständige Ernährungsbasis für ihre Bevölkerung gehabt hatten. Damit Binnenmärkte als Gegengewicht zum Weltmarkt entstehen und funktionieren können, muss in den meisten der ärmeren Ländern die Massenarmut überwunden werden. Theoretisch sollte Freihandel gerade dazu beitragen, praktisch waren und sind aber in vielen Ländern die sozialen Macht- und Verteilungsstrukturen derart, dass die meisten Menschen von den Vorteilen des Freihandels nicht erreicht wurden oder sogar darunter litten. Gezielte, also auch sozialpolitisch ausgerichtete Kreditmaßnahmen zugunsten von Kleinbauern können sowohl die Produktion steigern als auch Kaufkraft im Land schaffen, während allein auf die Steigerung der Produktivität und der Weltmarktfähigkeit ausgerichtete klassische Agrarkredite in dieser Hinsicht kontraproduktiv sein können-- multilaterale Entwicklungszusammenarbeit dient aber meist beidem ohne klare Priorität. Über mehr als ein Jahrhundert entstanden die Grundlagen eines bis heute wirksamen Welternährungssystems, das in Notfällen Hilfe gewährleisten, aber die sozioökonomischen Ursachen von Hunger nicht beseitigen kann (Nützenadel 2009). Die Rahmenbedingungen dafür waren die wachsende internationale Verflechtung der Agrarmärkte bei weiterhin hohem Grad an Nahrungsmittel-Selbstversorgung in den meisten Industrieländern, die Entstehung nationaler und regionaler Marktordnungen mit Freihandel nach innen und Einfuhrschutz nach außen, die global wachsende wirtschaftliche Ungleichheit von Ländern und Menschen und die daraus entstehenden Hungersituationen, die ihrerseits weltweite Kooperation für Hilfsprogramme erforderlich machten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs dank immer besserer und billigerer Transporttechnik der Welthandel mit Agrarprodukten, nicht nur mit exotischen Luxusprodukten, sondern zunehmend auch mit Massenkonsumgütern; die Landwirtschaft verlor in den meisten Industrieländern an wirtschaftlichem Gewicht. Der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution störten Produktion und Handel in Europa, zeigten aber auch die militärstrategische und geopolitische Bedeutung der Verfügung über Nahrungsmittel und ließen bewusst werden, wie hoch die globale Interdependenz von Produktion, Verteilung und Verbrauch schon geworden war. Hunger musste als Folge globaler Ungleichgewichte und nicht mehr nur als regionales Krisenphänomen gesehen werden, während zugleich erkennbar wurde, wie Ernährungsressourcen für große Menschenmassen politisch eingesetzt werden konnten. Deswegen entstanden in den 1920er Jahren die ersten Institutionen für internationale Kooperation und Solidarität zur Nahrungssicherung, zuerst als private Stiftungen (z. B. die Rockefeller Foundation oder die Deutsche Hungerhilfe), dann auch im Rahmen des Völkerbunds, in dem eine Regulierung der internationalen Agrarmärkte heftig debattiert wurde; vorgeschlagen wurde, durch ein internationales System von preisstabilisierenden Markteingriffen und von Hilfslieferungen die weltweite Versorgung mit Nahrungsgütern zu gewährleisten. Das entstehende Ernährungsregime wurde aber zuerst auf der Ebene der wissenschaftlichen Expertise wirksam: Mit Feldforschungen in Afrika und Asien wurden Formen und Ausmaß von Unter- und Mangelernährung erfasst; die entstehende Ernährungsforschung bestimmte erstmals Standards, die Menge und Zusammensetzung notwendiger Nahrung messen ließen. <?page no="269"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 269 5.4 Entwicklung/ Armutsbekämpfung/ Ernährungssicherung (development) 269 Die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg hoben die Konzepte zur Schaffung einer internationalen Ernährungsordnung auf eine neue Ebene. Eine der von US-Präsident Roosevelt für die Nachkriegsordnung proklamierten »vier Freiheiten« war »freedom from want«, die Freiheit von Not; in der Atlantik- Charta von 1941 (s.- Kap. 4.2.3) wurde entsprechend das individuelle Recht auf einen gesicherten Lebensstandard mit dem freien Zugang zu Märkten und Ressourcen verknüpft. Hiermit kann also sowohl die Forderung auf ein Recht auf Nahrung als ein Menschenrecht als auch die Freihandelsdoktrin begründet werden-- mögliche Widersprüche wurden darin nicht gesehen. Zwar wurde seitdem oft ein Menschenrecht auf Nahrung postuliert, der Menschenrechtsrat (HRC) hielt 2008 wegen der steigenden Lebensmittelpreise sogar eine Sondersitzung dazu ab; aber wie bei anderen Anspruchsrechten auch (s.-Kap. 5.2.1) bleibt ungeklärt, wen man wie zur Verwirklichung verpflichten kann. Noch während des Krieges entwarfen die westlichen Alliierten eine umfassende Welternährungspolitik, deren wichtigste Elemente die internationale Kooperation bis heute prägen: ● ● Verbesserung der Versorgung in Krisengebieten durch international koordinierte Nahrungsmittellieferungen aus Überschussregionen: Erste Hilfsorganisationen waren das »Oxford Committee for Famine Relief« (OXFAM) von 1942 oder dann die »Cooperative for American Remittances to Europe« (CARE); mit der Ausweitung des Operationsgebiets in den globalen Süden entstanden weitere kirchliche und private Hilfsorganisationen; in der UNO wurde ein operatives Hilfsregime aufgebaut mit dem Welternährungsprogramm von 1961 als Kernstruktur, das seit 1975 über eine eigene internationale Nahrungsmittel-Notreserve aus Nahrungsmittel-Spenden der UN-Mitgliedstaaten verfügt. Prinzipiell könnte also ein Regime gegen den Hunger durchaus verlässlich funktionieren- - wenn nicht, ist in erster Linie nach politischen Gründen dafür zu fragen. ● ● Errichtung eines Handelssystems zur Verminderung der Ungleichgewichte auf den Weltagrarmärkten: Vorrangiges Ziel war eine freie und stabile Handelsordnung, aber ein multilaterales Freihandelssystem erwies sich immer wieder als nicht ausreichend für eine kontinuierliche Versorgung der Weltbevölkerung. Im landwirtschaftlichen Sektor kam die Freihandelsdoktrin rasch an ihre Grenzen, zumal sie vom Protektionismus der meisten Industrieländer, gerade auch der entstehenden europäischen EWG/ EG/ EU, konterkariert wurde, die ihre Produzenten (traditionelle Bauern wie Agrarfabriken) vor billigerer ausländischer Konkurrenz schützen. Damit werden Exportmöglichkeiten armer Agrarexportländer behindert-- ob dies nun der Sicherung der Ernährung von armen Menschen eher förderlich oder schädlich ist, bleibt umstritten. ● ● Agrartechnologische Modernisierung in vom Hunger bedrohten Ländern durch Transfer von Technologie, Kapital und Institutionen: Die »Grüne Revolution« (statt einer politischen roten) für eine Intensivlandwirtschaft mit hybriden, kapital- und chemie-intensiven Hochertragssorten (Weizen, Mais, Reis) hatte ambivalente Ergebnisse. Als radikale Wachstumsstrategie hinsichtlich der Produktionssteigerung war sie durchaus erfolgreich; sie hatte aber wie jede einseitige technische Innovation ohne flankierende ausgleichende Maßnahmen auch sehr nachteilige ökonomische, soziale und ökologische Folgen: Weil die neuen Anbaumethoden nicht an die Bedürfnisse der Masse der Kleinbauern angepasst waren, wurden diese abhängig von teuren Produktionsmitteln (Saatgut, Düngemittel, Pestizide), gerieten in Schulden, verloren oft ihr Land und verstärkten so die Flucht in die städtischen Slums. Zudem wurde das traditionelle Saatgut von den hybriden Sorten verdrängt-- ein gefährlicher Verlust von Arten- und Sortenvielfalt (Herren 2009). ● ● Begrenzung des Bevölkerungsanstiegs durch Bevölkerungskontrollpolitik, um den Anstieg der Nachfrage nach Nahrungsmitteln zu verringern: Diese Absicht scheint auf den ersten Blick vernünftig, ist aber oft zu einer missionarischen Ideologie verkommen oder hat äußerst fragwürdige Programme angeregt. Die Zusammenhänge zwischen Fruchtbarkeit und sozialer Sicherheit und Entwicklung sind komplex, wie auch die Veralterungsprozesse in den reichen Ländern zeigen- - jedenfalls sollten Menschen auch ökonomisch eher als Ressource denn als Belastung gesehen werwww.claudia-wild.de: <?page no="270"?> [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 270 270 5 Internationale Regime den. Bei aller berechtigten Besorgnis über die stark wachsende Weltbevölkerung darf nie vergessen werden, dass Hunger nicht in erster Linie ein landwirtschaftliches Produktionsproblem ist, sondern ein soziales und politisches. Die komplexen Faktoren, die Hunger und mangelnde Nahrungsproduktion bestimmen, könnten nur mit einer multidimensionalen und/ oder integrativen entwicklungspolitischen Strategie verändert werden, die an unterschiedlichen Ansatzpunkten sowohl in lokalen bzw. nationalen Agrarstrukturen als auch im Welthandel angreift, angetrieben von einem klaren politischen Willen zu wirksamer Bekämpfung der Armut- doch der ist nicht gegeben. Wenigstens aber bleibt die Nothilfe gegen den Hunger weiterhin eine der drängendsten Aufgaben internationaler Kooperation. Die drei wichtigsten internationalen Institutionen dafür wie für die unterschiedlichsten Bemühungen um landwirtschaftliche bzw. ländliche Entwicklung sind: ● ● die FAO (Food and Agriculture Organization/ Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation) mit Sitz in Rom (Italien); sie hat als selbständige Sonderorganisation die breitesten fachlichen Kompetenzen für alle Fragen der Nahrungsproduktion; ● ● der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (International Fund for Agricultural Development/ IFAD) in Rom; er soll als selbständige Sonderorganisation vor allem die ländliche Entwicklung zugunsten von Kleinbauern und landlosen Landarbeitern fördern; ● ● das Welternährungsprogramm (World Food Programme/ WFP), wie FAO und IFAD ebenfalls mit Sitz in Rom, aber als untergeordnetes Spezialorgan der UNO zuständig für die Organisation und Koordination von Nahrungsmittelhilfe in Krisenfällen und in dauerhaften Hunger-Situationen; gespeist wird diese Hilfe aus der eigenen Nahrungsmittelreserve und kurzfristigen Spendenlieferungen von Staaten oder auch über NGOs (wie OXFAM oder der Deutschen Welthungerhilfe). Gerade bei der Nahrungsmittelhilfe zeigen sich sozioökonomische Widersprüche, die selbst diese scheinbare rein humanitäre Unterstützung problematisch werden lassen. Wenn Nahrung nicht nur als reine Nothilfe in akuten Krisensituationen, sondern auf Dauer vergeben wird, kann sie als »süßes Gift« die einheimische Nahrungsmittelproduktion behindern oder gar zerstören: Wenn in einem Land über längere Zeit Nahrungsmittel von außen unter dem Preis erhältlich sind, den ein einheimischer Produzent verlangen muss, um zu überleben, rechnet es sich nicht mehr, im Land für das Land Nahrung anzubauen- - also geht seine Fähigkeit verloren, sich sicher selbst zu ernähren. Es gibt oft eine sinnvollere Alternative zu längerfristigen Hilfsimporten aus dem Weltmarkt, nämlich in einer Dreieckskooperation mit multilateralen Hilfsgeldern von außen Nahrungsmittel in der benachbarten Region oder gar im Land selbst zu kaufen-- damit also die Produktion massiv anzuregen-- und diese dann direkt an Hungernde zu verteilen. Für das multilaterale Ernährungsregime ist das die entwicklungspolitisch aufwändigere, aber zweifellos rationalere Methode, die für die Geberländer allerdings Nachteile hat: Sie müssen Geld geben statt die eigenen teuer subventionierten Überschüsse elegant für einen guten Zweck loszuwerden und sie verlieren die politische Kontrolle über die Vergabe. Das Welternährungsprogramm versucht jedenfalls in seinem »purchase for progress«-Programm wie auch in anderen integrativen Ansätzen (Schulspeisungsprogramme, »food-for-work«-Projekte) derart Ernährungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit zu verbinden. Warum kommt trotz des lange schon etablierten internationalen Ernährungsregimes die Katastrophenhilfe oft zu spät, wie wieder in Somalia in 2011? Auch in diesen Fällen ist eigentlich nicht die Nahrung die fehlende Ressource, sondern der politische Wille: Die internationalen Institutionen FAO und WFP melden regelmäßig, wie hoch allgemein die Zahl der Hungernden bzw. Unterernährten ist, welche akuten Mangelkrisen wo und wann zu erwarten sind, sie versuchen im Extremfall auch Katastrophenalarm zu geben-- die Weltöffentlichkeit nimmt das regelmäßig wenig interessiert zur Kenntnis, nur gelegentlich wird Hunger für einige Zeit zum Thema, vor allem wenn eindrucksvolle Bilder zumal von hungernden Kindern durch die Medien ziehen. <?page no="271"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 271 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) 271 Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 5.4 FAO 2011; Faust/ Neubert 2010; Fomerand/ Dijkzeul 2007; Hampson/ Penny 2007; Herren, H. 2009; IBRD 2001; Jolly 2007; Kevenhörster/ van den Boom 2009; Klawatsch-Treitl 2011; Knight 2007; König/ Thema 2011; Menzel/ Nuscheler/ Stockmann 2010; Nützenadel 2009; Sangmeister 2009; Sangmeister/ Schönstedt 2009, 2010; Seitz 2011; Sidhu 2007; Wesel 2002; Wiggerthale 2009; Woods 2007; Yunus 1998 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) Während alle Welt gerade auf die aktuellen Windungen der globalen Finanzkrisen-Bewältigung schaut und allenfalls noch ein wenig Aufmerksamkeitszeit hat für gefährliche Probleme im Nahen Osten oder andere Krisen-»Herde«, erledigt sich vielleicht im Grunde jede kurzatmige Aufregung dadurch, dass die Erde immer schneller unbewohnbar wird? Die USA und die Volksrepublik China sind die stärksten Emittenten von schädlichen Abgasen; beider Regierungen gehören ihrer vorherrschenden Interessenlogik folgend zu den härtesten Opponenten eines wirksamen Klimaregimes. Das Energieministerium der USA veröffentlichte im Herbst 2011 Zahlen, wonach der weltweite Ausstoß von CO 2 in 2010 so hoch war wie noch nie: 9 100 Mio. Tonnen, 500 Mio. Tonnen mehr als im Jahr zuvor; Hauptgrund sei die gute wirtschaftliche Entwicklung in den Schwellenländern, besonders in China. Diese Zunahme ist größer als aufgrund der pessimistischsten Annahmen vorhergesagt war. Klimaexperten prognostizierten bislang für den schlimmsten Fall eine globale Erwärmung bis zum Ende dieses Jahrhunderts von drei bis fünf Grad-- aber es scheint auch mehr werden zu können. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte ebenfalls 2011 anlässlich der Hungersnot in Somalia durch eine »Präsidentschaftserklärung« (»Statement of the President of the Security Council«) den Klimawandel als Bedrohung für den Weltfrieden festgestellt (S/ PRST/ 2011/ 15): Wenn durch global steigende Temperaturen Trockenperioden häufiger und zugleich küstennahe Gebiete und flache Inseln überschwemmt werden, führt das unvermeidlich dazu, dass immer mehr Menschen zur Migration gezwungen und Verteilungskämpfe um Land, Wasser und Nahrungsmittel zunehmen werden-- ein gewaltiges Konfliktpotential. Mehr noch als in den Arbeitsfeldern Sicherheit und Wirtschaft trifft im Umwelt- und Klimaschutz das klassische interdependenztheoretische Argument zu, dass die ernstesten Probleme grenzenlos, also transnationaler oder eben globaler Natur sind, dass folglich in einer anarchisch-nationalstaatlich organisierten Welt die internationale Kooperation und deren ständige Verdichtung die einzige Chance ist, diese Probleme politisch anzugehen. Beim Umwelt- und Klimaschutz sind die Staaten in einem Dilemma, wie es gerne spieltheoretisch konstruiert wird (s.-Kap. 3.1.6; vgl. Rittberger/ Zangl 2006, S. 123 f.): Jeder Staat-- sofern seine Regierung überhaupt eine Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen angemessen wahrnimmt- - will seine eigene Umwelt und seinen Nutzen aus globalen Umweltgütern sichern, möglichst ohne die ökonomischen Kosten dafür übernehmen zu müssen; dafür schiebt er die Verantwortung auf andere Staaten/ -gruppen und versucht, seinen Anteil an kollektiven Anstrengungen zu minimieren. Dieses Verhalten verringert nicht nur die Chance auf effektive internationale Zusammenarbeit mit geregelter Lastenverteilung, sondern schädigt auch auf lange Sicht alle Staaten, die kooperationswilligen wie die unwilligen selbst. Die Frage ist, ob dennoch aufgrund der Evidenz der bedrohlichen Probleme und angesichts der Transparenz vieler Sachzwänge eine ernsthafte Chance besteht, dass durch internationale Regime wenigstens teilweise ein rationales Verhalten der meisten Staaten gefördert und geregelt werden kann, bevor das <?page no="272"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 272 272 5 Internationale Regime Artensterben auch den Menschen erwischt. Allerdings reicht eine selektive multilaterale Kooperation für viele Probleme wie den Klimawandel oder die Verbreitung giftiger Chemikalien nicht aus, sondern sie müsste universal sein: möglichst alle Staaten sollten mitmachen. 5.5.1 Probleme und Konflikte Industrielle Entwicklung, wie sie im Norden der Erde seit Jahrhunderten, auf fast der ganzen Welt seit dem letzten Jahrhundert und in einigen Ländern des globalen Südens zur Zeit sehr rasch passiert, ist ungeachtet aller computertechnischen Fortschritte die Steigerung von Produktion, Transport und Verbrauch von materiellen Gütern-- also konkret eine Art Stoffwechsel: ● ● Der Verbrauch von Stoffen-- von auszugrabenden oder nachwachsenden Rohstoffen, aber auch von scheinbar kostenlosen öffentlichen Gütern wie Luft, Wasser und Wetter- - führt unter Energieaufwand zur ● ● Emission von Stoffen-- von Müll, Gasen, Abwärme, Giftstoffen u. v. m.-- mit der Folge, dass sich ● ● Veränderungen oder Zerstörungen von Orten, Räumen und Situationen in der natürlichen, aber auch unserer kulturell geschaffenen Umwelt ereignen, die den ● ● Verlust von Lebensqualität oder gar von biologischen Lebensformen bedeuten können. Für fast alle Umweltgefahren gilt allerdings, dass ein hohes Maß an Unsicherheit über Ursachen und Kausalketten/ -netze, Wirkungen und Folgen die Problembestimmung erschwert und somit politischen Einschätzungen unterwirft, die nie interessenfrei sind (Müller 2000, S. 462). Das gibt der wissenschaftlichen Forschung und Expertise entscheidende Bedeutung, macht diese aber zugleich zum Streitgegenstand-- oder gar zur Streitpartei, zumal die globale Umweltproblematik Konfliktstoffe in Fülle bietet: ● ● Forschrittslähmend ist immer der alte Konflikt zwischen dem Beharren auf nationaler Souveränität, hier konkret die Nichteinmischung in die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik von Staaten, und dem Anspruch auf internationale Kooperation, hier vor allem das Setzen und Durchsetzen von Standards für nicht umweltschädliche Formen von Produktion, Konsum und Verkehr; die Natur möglicher Maßnahmen gegen die schlimmsten globalen Umweltprobleme erfordert aber so etwas wie eingeschränkte oder »verschmolzene Souveränitäten« (Müller 1993, S. 99). Dieser Konflikt wird sowohl innerstaatlich wie transnational ausgetragen, zwischen ökologisch kritischen Teilen der Zivilgesellschaft (Held 2007) einerseits und privaten (und staatlichen) Wirtschaftsinteressen und Regierungen anderseits, aber auch zwischen Wirtschaftsinteressen und Regierungen, zwischen I/ NGOs und Staaten, zwischen von Umweltgefahren bedrohten Staaten und Staaten, für die eine wachsende Wirtschaft relative oder gar absolute Priorität hat, usw.; sogenannten »epistemischen Gemeinschaften«, z. B. Netzwerken von Wissenschaftlern und Experten, aber auch internationalen (staatlichen) Organisationen kommt in diesem Streit eine schwierige Vermittlerfunktion zu, in der sie es meist niemandem recht machen können. ● ● Zumal in der Frage nach der Reduktion von agrarischen/ industriellen/ verkehrlichen Emissionen für den Klimaschutz bildete sich ein harter Interessengegensatz zwischen alten und werdenden Industrieländern oder solchen, die es werden wollen, zwischen Nord und Süd, armen und reichen Staaten: Wieso sollten die Nachzügler nicht auch von der Nutzung der globalen öffentlichen Güter profitieren dürfen, nachdem die alten Industrieländer das für ihre Entwicklung jahrhundertelang ohne jede Rücksicht getan haben? Wieso sollten die anderen für die Sünden der einen büßen? Diese berechtigte Frage begründete die Betonung einer notwendig engen Verbindung zwischen Umweltschutz und »nachhaltiger« Entwicklung. <?page no="273"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 273 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) 273 ● ● Aber nicht nur dieser Nord/ Süd-Gegensatz strukturiert die Verhandlungen für internationale Umweltregime, sondern weitere Differenzierungen ließen unterschiedliche Staatengruppen sich bilden, u. a. die weltweite Allianz der kleinen Inselstaaten (Alliance of Small Island States/ AOSIS) und auch von niedrig liegenden Küstenstaaten, die sich vom Klimawandel existentiell bedroht sehen, oder die »Umbrella Group« (oder JUSSCANNZ für Japan, USA, Schweiz, Kanada, Australien, Norwegen und Neuseeland) der Nicht-EU-Industrieländer. Angesichts einer solchen Konfliktkonstellation ist eine Konflikte entschärfende Begriffspolitik hilfreich. Die Zauberformel vom »sustainable development« (»nachhaltige Entwicklung«; s.- Kap. 5.4.1; Schrijver 2007; Ekardt 2008) ist in der Sache schwer zu definieren, scheint aber in ihrer inneren Logik selbstevident: Das Versprechen ist, dass Entwicklung-- also auch wirtschaftliches Wachstum-- möglich ist, ohne dass die Erde dafür zu ruinieren wäre, dass also die noch Armen sich nicht für die schon Reichen opfern müssen, damit nicht alle verlieren. Das Schlagwort passt nahtlos zu dem anderen, das in höchster gestal- Tab. 36: Umwelt-Gefahren Schäden Probleme kurzfristige/ behebbare Schäden dauerhafte/ irreversible Schäden aktuelle und potentielle Folgen (unter anderen) Luft/ Atmosphäre Ozon-Schicht Klima Verschmutzung Abbau Temperaturanstieg Vergiftung Zerstörung Erderwärmung Gesundheitsschäden, Verlust an Lebensqualität Gefährliche Strahlung, Verbrennungen, Hautkrebs Meeresspiegelanstieg, Naturkatastrophen usw. Binnengewässer Meere/ hohe See (Trink-)Wasser Verschmutzung Vergiftung Zerstörung Veränderung Verlust Naturzerstörung, Verlust an Lebensqualität Artenverlust, kein Fischfang, Kontamination Verminderte Agrarproduktion, Mangel, Verteilungskonflikte Landschaft/ »Natur« Wälder (Acker-)Boden Desertifikation Verschmutzung Raubbau Vergiftung Erosion Veränderung Verlust Verlust/ Zerstörung Wüstenbildung Naturzerstörung, Verlust an Lebensqualität Luftregeneration eingeschränkt, Artenverlust Hungersnot, soziale und politische Konflikte Mangel an Acker- und Weideland, Migration Artenvielfalt Fischbestand Saatgut Veränderung Verminderung Sortenreduktion Verlust/ Zerstörung Verlust genetische Verarmung/ Verlust an Biodiversität Nahrungseinschränkung, Artenverlust Hungersnot, soziale und politische Konflikte Ressourcen Knappheit Verlust wirtschaftliche Verluste, Verteilungskonflikte Mensch Lebensqualität Tod Gefährdung der »menschlichen Entwicklung« <?page no="274"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 274 274 5 Internationale Regime tungspolitischer Not sich oft bewährt hat: Nachhaltige Entwicklung ist natürlich zwangsläufig eine »Querschnittsaufgabe«. Richtig ist daran sicherlich, dass im Problembereich des internationalen Umweltschutzes ein hohes Maß an »Regimeverknüpfung« (Müller 1993, S. 114 ff.) nötig ist, da die zu lösenden Probleme mit Fragen der Weltwirtschaft, des Handels und der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung oft sehr eng verwoben sind. 5.5.2 Institutionen und Verfahren In der UNO-Charta ist zu Fragen des Umweltschutzes naturgemäß nichts Konkretes zu finden- - 1945 sah man mit der Nutzung natürlicher Ressourcen wirtschaftliche und politische Probleme verbunden, aber noch keinerlei ökologische. Grundsätzlich könnte der ECOSOC (im Sinne von Art. 62 der Charta) noch am ehesten zuständig sein, aber wegen der unklaren Aufgabenabgrenzung zur grundsätzlich für alle Fragen zuständigen Generalversammlung ist das spekulativ. Ein wenig aussichtsreicher Versuch zu einer formelle Erweiterung der Charta wurde auch angesichts der neuen Aufgaben nicht versucht, sondern wieder wurde die Praxis der UNO informell ausgedehnt: Mangels klarer Vorgaben waren es die wachsende Wahrnehmung der neuen Probleme ab den 1950er Jahren und deren Verarbeitung in Berichten auf internationalen Konferenzen, die in den 1970/ 80er Jahren relativ rasch zur Bildung von internationalen Institutionen im Arbeitsbereich Umwelt führten; deren Aufgaben erweitern und differenzieren sich seitdem, weil neue Probleme hinzukommen und/ oder zunehmend als Querschnittsaufgaben auch für nicht-»grüne« Institutionen definiert werden (Meyer/ Frank/ Hironaka/ Schofer/ Tuma 2005). Abgesehen von der Diskussion um ein Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt (s.-Kap. 5.2.1) gibt es als Rechtsgrundlagen für grenzübergreifenden Umweltschutz nur die meist auf solchen Konferenzen ausgearbeiteten internationalen Verträge-- zu speziellen Fragen wie das Artenschutzabkommen (CITES) oder zu ganzen Problemfeldern wie die Klima-Rahmenkonvention mit dem Folgeprozess zu ihrer Ausgestaltung (UNFCCC). Die wichtigsten Weltkonferenzen zu Umweltfragen generell waren: ● ● als erste die Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen (United Nations Conference on the Human Environment/ UNCHE) 1972 in Stockholm (Schweden), auf der schon 113 Staaten vertreten waren, ● ● und- - leider immer noch wegweisend- - die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development/ UNCED), auch »Rio- Konferenz« oder »Erdgipfel« genannt, 1992 in Rio de Janeiro (Brasilien), auf der 172 Staaten und zusätzlich 650 NGOs ohne Stimmrechte vertreten waren, ● ● sowie der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung (World Summit on Sustainable Development/ WSSD) 2002 in Johannesburg (Südafrika), der mit ca. 22 000 Regierungsdelegierten, NGO-Aktivisten und Journalisten bislang der größte Welt-Event war; 2012 gab es wieder in Rio de Janeiro eine weitere Nachfolgekonferenz. 1972 in Stockholm erklärten sich die Staaten erstmals zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Umwelt- und Naturschutzfragen bereit; sie diskutierten auch unter dem Aspekt des Nord/ Süd-Gegensatzes deren Prinzipien und Maßnahmen, formulierten einen Aktionsplan und entschieden sich für die Gründung eines UN-Umweltprogramms, das den neuen Arbeitsbereich organisieren und weitere Konferenzen vorbereiten sollte; als Folge der UNCHE wurden einige wichtige Umwelt-Abkommen verhandelt und beschlossen, manche aber dann erst durch UNCED. Zwischen UNCHE und UNCED legte die 1983 von der Generalversammlung berufene sog. Brundtland-Kommission (World Commission on Environment and Development/ WCED) 1987 den Brundtland-Report (»Our Common Future«) über den <?page no="275"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 275 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) 275 Zusammenhang zwischen Umwelt und Entwicklung, Armut, Frieden und Sicherheit vor und führte darin den Begriff »sustainable development« ein. Die Weltkonferenz von 1992 in Rio war nicht zuletzt wegen dieser Zauberformel von einer möglichen »nachhaltigen Entwicklung« ein optimistisch stimmender bunter Event, der zugleich reelle Ergebnisse brachte, als Dokumente die Agenda 21, die Rio Declaration on Environment and Development und das Statement of the Forest Principles; als internationale Verträge wurden empfohlen die Biodiversitätskonvention (CBD) und die Klima-Rahmenkonvention (UNFCCC); eine große Zahl der am Rande teilnehmenden NGOs konnte sich als international aktive Zivilgesellschaft verstehen, was vor allem der großen öffentlichen Wirkung der Konferenz und ihrer Themen zugute kam; zur Gründung empfohlen wurden u. a. die Commission on Sustainable Development (CSD) sowie das Inter-Agency Committee on Sustainable Development (IACSD). Als »Rio plus 10«-Nachfolgekonferenz bilanzierte 2002 in Johannesburg der WSSD die Umsetzung der hochgesteckten Ziele wesentlich nüchterner- - mit ambivalentem Ergebnis, denn die Einschätzung von Umsetzungserfolgen und Effektivität der internationalen Umweltpolitik musste für fast alle Probleme eher dürftig ausfallen, jedoch wurden diese immerhin gegen eine große Koalition der Unwilligen als dringend anzugehen bestätigt, was u. a. in die Forderung nach einer »neuen Weltumweltarchitektur« mündete; neben einzelnen konkreten Fortschritten hat die Konferenz wenigstens Informationen über den Sachstand aktualisiert und die Legitimation umweltpolitischer Forderungen und Initiativen gestärkt. Die Gründung fast aller wichtigen internationalen Institutionen im Arbeitsbereich Umwelt/ Klima waren also von UNCHE und UNCED empfohlen oder wenigstens angeregt worden, darunter als wichtigste das UNEP, die CSD, die GEF und das IPCC. Das Umweltprogramm der UNO (UN Environment Programme/ UNEP, http: / / www.unep.org; Ivanova 2010) wurde 1972 auf Empfehlung der ersten UN- Umweltkonferenz (UNCHE) von der Generalversammlung als Nebenorgan gegründet (A/ RES/ 27/ 2997) und am ersten afrikanische UN-Sitz in Nairobi (Kenia) mit zusätzlichen Regionalbüros auf den anderen Kontinenten aufgebaut. UNEP soll Regierungen zum Schutz von Umwelt, Natur und Klima anregen, informieren und unterstützen. »Mission: To provide leadership and encourage partnership in caring for the environment by inspiring, informing, and enabling nations and peoples to improve their quality of life without compromising that of future generations.« UNEP-Homepage (http: / / www.unep.org) Dafür soll die Organisation ● ● nationale, regionale und globale Umweltdaten sammeln und auswerten, um auch rechtzeitig vor bedrohlichen Trends zu warnen, ● ● Expertise und Technologie für nachhaltige Entwicklung an Regierungen vermitteln, ● ● als Querschnittsaufgabe alle internationalen Institutionen zu Umweltschutz anregen, dabei unterstützen und deren Aktivitäten koordinieren, ● ● selbst spezielle Programme durchführen oder koordinieren, die finanziert werden von der Globalen Umweltfazilität (s.-w. u.), ● ● das Umweltvölkerrecht weiter ausarbeiten, ● ● mit der Zivilgesellschaft-- Umweltgruppen und private Unternehmen-- zusammenarbeiten sowie ● ● Kommunikation über internationale Umweltpolitik herstellen und Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Häufig wurde (z. B. Gehring/ Oberthür 2000; Rechkemmer 2006; Simonis 2006) vorgeschlagen, das UNEP zu einer starken Sonderorganisation (UN bzw. World Environment Organization/ UNEO bzw. WEO) umzubauen, damit diese als Völkerrechtssubjekt mit eigener Rechtspersönlichkeit und eigenständigen Entscheidungs- und Finanzierungsstrukturen die Umweltpolitik unabhängiger und effizienter vorantreiben könne; zumal der auch in diesem Arbeitsbereich entstandene Wildwuchs von Gremien, <?page no="276"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 276 276 5 Internationale Regime Zuständigkeiten und Aktivitäten sollte dadurch schlagkräftig reorganisiert und konzentriert werden. Abgesehen vom dafür nötigen prozeduralen Aufwand bleibt abzuwägen, welcher Status für diesen Arbeitsbereich mehr Vorteile bietet. Eine Sonderorganisation kann mehr Bedeutung beanspruchen und autonomer agieren, aber ein Spezialorgan ist verlässlicher finanziert und weniger erpressbar, also auch geschützter vor hegemonialen Akteuren: Die Erfahrungen der UNESCO mit der massiven Kritik seitens der USA, die in deren Austritt aus der Organisation kumulierte, was diese wiederum in ernste Finanzschwierigkeiten brachte, zeigen, dass eigenständige Sonderorganisationen leichter unter Druck zu setzen und zu isolieren sind (s.- Kap. 4.3.4). Schließlich gilt noch das alte Argument, dass wichtige »Querschnittsaufgaben« besser auf verschiedenen Ebenen und in allen Dimensionen erfüllt und nicht in eine isolierte Struktur abgelagert werden sollten. Ein anderes wichtiges Gremium wurde von der »Rio-Konferenz« (UNCED) empfohlen und 1992 von der Generalversammlung sogleich als eine funktionelle Kommission des ECOSOC gegründet (A/ RES/ 47/ 191), damit das neue allumfassende Schlagwort von der »Nachhaltigkeit« klarer gefasst und umgesetzt werden könne: Die Kommission für Nachhaltige Entwicklung (UN Commission on Sustainable Development/ CSD; http: / / www.un.org/ esa/ dsd/ csd; Mittler 2008) soll den Folgeprozess der UNCED später auch den des WSSD auswertend verfolgen sowie unterstützende Aktivitäten initiieren und die Kommunikation mit der Zivilgesellschaft bzw. NGO-Szene pflegen. Die Globale Umweltfazilität (Global Environment Facility/ GEF; http: / / www.thegef.org) ist eine selbstständige internationale Finanzorganisation zum Zweck der Förderung von Umweltschutzprojekten in Entwicklungs- und Transitionsländern; sie entstand 1991 als ein Programm der Weltbank/ IBRD und wurde von dieser nach UNCED ausgegründet, mit Sitz ebenfalls in Washington (USA). Für ihre 182 Mitgliedstaaten verwaltet die GEF ein Volumen von knapp 10 Mrd. US-$, darunter immerhin eine halbe Milliarde in Kleindarlehen über NGOs (Small Grants Programme/ SGP). Die GEF organisiert selbst keine Maßnahmen, sondern finanziert Programme und Projekte, die von ihren Trägern (Weltbank/ IBRD, UNDP und UNEP) bzw. von ausführenden Organisationen (wie FAO, UNIDO und regionalen Entwicklungsbanken) durchgeführt werden. Sie dient insbesondere als Finanzierungsmechanismus für Umwelt-Abkommen wie der Biodiversitätskonvention (CBD), der Klimarahmenkonvention (UNFCCC), der Schadstoffkonvention (POPs) oder auch der Wüstenkonvention (UNCCD). Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change/ IPCC), wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) eingerichtet. Er soll die Tendenzen und Risiken der globalen Erwärmung anhand der wissenschaftlichen Diskussion feststellen und beurteilen sowie Vorschläge zu ihrer Verminderung oder zur Anpassung an den Klimawandel zusammenstellen. Der Ausschuss wird-- wiewohl er nicht »objektiver« sein kann als die einschlägigen Wissenschaften-- oft für seine Aussagen und Prognosen kritisiert, seine Berichte bleiben aber die verlässlichste Informationsquelle für den Stand der klimawissenschaftlichen Diskussion; immerhin hat er 2007 den Friedensnobelpreis erhalten. 5.5.3 Umwelt-, Natur- und Ressourcenschutz Angeblich gibt es inzwischen weit mehr als 500 internationale Abkommen im Arbeitsbereich Umwelt/ Klima; die meisten regeln sehr spezielle Fragen; einige wenige sind für die Menschheit zukunftsentscheidend (Chasek/ Downie/ Brown 2006; Rechkemmer 2008; Speth/ Haas 2006). Bei komplexerem Regelungsbedarf wie in den Problembereichen Atmosphäre/ Klima hat es sich bewährt, ● ● zunächst eine sog. Rahmenkonventionen zu verhandeln und in Kraft zu setzen und die so beschlossenen generellen Zielvorgaben und Prinzipien <?page no="277"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 277 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) 277 ● ● danach erst in einem regimebildenden Folgeprozess durch Vertragsstaatenkonferenzen-- also mit allen Mitgliedern der Rahmenkonventionen-- konkret auszuarbeiten und in einzelnen »Protokollen« verbindlich festzulegen; diese müssen von den Staaten gesondert unterzeichnet und ratifiziert werden (Müller 2000, S. 464). Erfolg und Wirksamkeit dieser Regime variieren stark (vgl. die Fallstudien in Chasek/ Downie/ Brown 2006, S. 135 ff.): Das Ozonregime (Breitmeier 1996) scheint sich seit dem Inkrafttreten der verbindlichen Reduktionsziele des Montrealer Protokolls gut zu bewähren, während sich die Umsetzung und Fortentwicklung des Artenschutzabkommens in ständiger Auseinandersetzung mit speziellen Wirtschaftsinteressen abarbeiten muss, die sich oft als stärker erweisen; auch die Ergebnisse beim Schutz der Wälder sind ambivalent und geben noch wenig Anlass zur Hoffnung. Manche Probleme wie die Sicherung von sauberem Trinkwasser für alle Menschen scheinen in ihrer Bedeutung und Reichweite der Weltöffentlichkeit noch gar nicht so recht bewusst zu sein. Tab. 37: Umweltregime (Übersicht in Auswahl) Bereich Problem Vertragswerk Empfehlungen von Luft Verschmutzung »saurer Regen« Luftreinhaltekonvention: Genfer Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung (Convention on Long-range Transboundary Air Pollution) [Rahmenkonvention _] 1979 _ acht Protokolle (Messungs-/ Bewertungs-Programm, Schwefelemissionen, Stickstoffoxidemissionen, Emission flüchtiger organischer Verbindungen, Schwermetalle, persistente organische Schadstoffe, Versauerung/ Eutrophierung/ Boden-Ozon) 1984- 1999 Ozonschicht Abbau Zerstörung Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (Vienna Convention for the Protection of the Ozone Layer) [Rahmenkonvention _] 1985 _ Montrealer Protokoll mit verpflichtenden Regelungen 1987 → Zusätze und Korrekturen 1990 ff Klima globale Erwärmung Klimarahmenkonvention: Rahmenübereinkommen der UNO über Klimaänderungen (UN Framework Convention on Climate Change/ UNFCCC) [Rahmenkonvention _] 1992 _ Kyoto-Protokoll 1997 → fortlaufender Verhandlungsprozess Meere/ hohe See Verschmutzung durch Öl Internationales Übereinkommen zur Verhütung der Verschmutzung der See durch Öl (International Convention for the Prevention of Pollution of the Sea by Oil), auch »OILPOL« 1954 Internationales Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (International Convention for the Prevention of Pollution from Ships), auch »MARPOL 73/ 78« 1973 1978 Verschmutzung durch Abfälle London-Konvention: Übereinkommen über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen (Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping of Wastes and Other Matter) 1972 <?page no="278"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 278 278 5 Internationale Regime 5.5.4 Klimawandel Als Problemwie als Arbeitsfeld ist der Klimaschutz von eigener Art: Die Gefährdungsszenarien reichen von der Belästigung durch Wetterkapriolen über die Zerstörung der Lebensgrundlagen ganzer Bevölkerungen (Naturkatastrophen, Anstieg des Meeresspiegels, Versteppung) bis zur apokalyptischen Bedrohung der menschlichen Existenz. Entsprechend politisch umstritten sind sowohl die Problemwahrnehmung als auch die zu ziehenden Konsequenzen für eine internationale Klimaschutzpolitik; selbst in Bereich Problem Vertragswerk Empfehlungen von Land/ Böden/ Wälder Erosion Desertifikation Übereinkommen zur Bekämpfung der Wüstenbildung (UN Convention to Combat Desertification/ UNCCD) 1994 Wald-Schutz UNCED: Statement of the Forest Principles 1994 Artenschutz Walfang Walfangverbot Internationales Übereinkommen zur Regelung des Walfangs (International Convention for the Regulation of Whaling/ ICRW) 1946 1985 gefährdete Arten Washingtoner Artenschutzabkommen: Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora/ CITES) 1973 Fischfang → Seerechtskonvention: Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UN Convention on the Law of the Sea/ UNCLOS) 1982 FAO-Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Fischerei Internationaler Aktionsplan der FAO zum Management der Fischereikapazitäten regionale Fischereiabkommen 1995 Vielfalt Biodiversitätskonvention: Übereinkommen der UNO über die biologische Vielfalt (UN Convention on Biological Diversity/ CBD) 1992 Gefahr- Stoffe »Giftmüll« Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung (Basel Convention on the Control of Transboundary Movements of Hazardous Wastes and their Disposal) 1989 toxische Chemikalien Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pestizide im internationalen Handel (Rotterdam Convention on the Prior Informed Consent Procedure for Certain Hazardous Chemicals and Pesticides in International Trade), auch PIC- Convention 1998 Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe (Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants), auch PoPs-Convention 2001 bereichs- und problem-übergreifend z. B. → Flussregime (z. B. Rhein) → Antarktis-Vertragssystem (Antarctic Treaty System/ ATS) 1959 → Nordseekommission (North Sea Commission) 1989 Tab. 37: Fortsetzung <?page no="279"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 279 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) 279 Fragen, über die Einigkeit erreicht wurde, ist die praktische Umsetzung bisher bei Weitem nicht ausreichend: Die erreichten konkreten Fortschritte stehen in einem absurden Missverhältnis zum von den meisten Experten wahrgenommenen Handlungsbedarf. In den 1980er Jahren ermöglichte die Vertiefung und öffentliche Verbreitung des wissenschaftlichen Erkenntnisstands zum Klimawandel die Entstehung eines internationalen Klimaregimes. Das Umweltprogramm UNEP und die Meteorologie-Organisation WMO gründeten 1988 gemeinsam den Zwischenstaatlichen Ausschuss über Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change/ IPCC)-- meist fragwürdig »Weltklimarat« genannt-- der seitdem das fachliche Wissen sammelt, auswertet und politisch beurteilt, was natürlich immer wieder zu Kontroversen und Widersprüchen führt. Sein erster Bericht 1990 führte zur Forderung nach einem Rahmenvertrag gegen den Klimawandel, sein zweiter Bericht 1995 bereitete das Kyoto-Protokoll vor. Das internationale Klimaregime ist inzwischen inhaltlich wie strukturell ein recht komplizierter Kosmos geworden, wenn nicht schon ein differenzierter Regime-Komplex aus verschiedenen speziellen Teilregimen (»Regime Complex for Climate«, Keohane/ Victor 2010). Seine Rechtsgrundlage besteht im wesentlichen aus der ● ● Klimaschutz-Rahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change/ UNFCCC), beschlossen 1992 auf UNCED (»Rio-Konferenz«), in Kraft seit 1994, und dem ● ● Kyoto-Protokoll (Kyoto Protocol) beschlossen 1997 auf der dritten Vertragsstaatenkonferenz (COP 3, Kyoto/ Japan), in Kraft seit 2005 (Oberthür/ Ott 2000). Die erste Vertragsstaatenkonferenz 1995 (COP 1 in Berlin/ Deutschland) erreichte zwar noch kein Protokoll, legte aber mit dem »Berliner Mandat« wichtige Regeln für die weiteren Verhandlungen fest, die das Kyoto-Protokoll schufen. Die USA sind z. B. Vertragsstaat der Rahmenkonvention, haben aber das Kyoto-Protokoll nie ratifiziert, verhandeln jedoch als Mitgliedsstaat der Rahmenkonvention auf allen weiteren Vertragsstaatenkonferenzen mit. Seit 1998 wird auf den jährlichen Vertragsstaatenkonferenzen mit wechselhaftem Erfolg um ein neues und weiter reichendes Protokoll gerungen (z. B. Bali/ Indonesien 2007, Kopenhagen/ Dänemark 2009, Cancun/ Mexiko 2010, Durban/ Südafrika 2011). Das Klimaregime zeigt aufgrund seiner zu regelnden Aufgabe und seiner Konfliktlinien drei spezifische Besonderheiten: ● ● Die Souveränitätsfrage stellt sich drängend, wenn die Rede von der »gemeinsamen Sorge der Menschheit« ernst gemeint ist. ● ● Regelungen müssen rechtzeitig verabredet und geplant werden, auch wenn Unsicherheiten in der realistischen Einschätzung der Problemlage noch nicht auszuräumen sind. ● ● Aufgaben und zumal Lasten müssen differenziert verteilt werden, sodass die weitestgehenden Regelungen nur für die alten Industrieländer gelten, während Entwicklungsländern Sonderrechte zuzugestehen sind. Das Kyoto-Protokoll hat einige Verfahren und »flexible Mechanismen« vorgegeben, die helfen können, die vertrackten Interessenkonflikte zwischen Staaten und Staatengruppen beim Klimaschutz zu mindern, indem sie den entwickelten Ländern ermöglichen, ihre Verpflichtungen kosteneffizient zu erfüllen: Emissionen sollen dort eingespart werden, wo es unter den geringsten ökonomischen Kosten und politischen Belastungen möglich ist, nämlich in Entwicklungsländern bzw. Ländern im Übergang zur Marktwirtschaft; zudem, so ein weiteres Argument, sei es ökologisch sinnvoller, gleich irgendwo eine neue Anlage auf dem umwelttechnisch neuesten Stand zu errichten als eine alte mühsam nachzurüsten. ● ● Eine »Lastenteilung« (Burden Sharing oder auch »bubbling«) erlaubt jeder Gruppe von Annex I-Staaten, ihre quantifizierten Verpflichtungen gemeinsam zu erfüllen, also ihre Lasten und Vorteile untereinander umzuverteilen und so Differenzen synergetisch zu nutzen; die Europäische Union (EU) organisiert einen solchen Mechanismus, der die unterschiedlichen wirtschaftlichen Niveaus und Klimabilanzen der Mitgliedstaaten rechnerisch ausgleicht. <?page no="280"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 280 280 5 Internationale Regime Das internationale Klimaregime Staatengruppen Staaten nach Annex I Staaten nach Annex II Non-Annex-Staaten entwickelte Länder, Länder in Transformation (ehem. Ostblock) entwickelte Länder (Industrieländer) Entwicklungsländer Prinzipien Rahmenkonvention (UNFCCC) gilt für alle Vertrags- Staaten  Klimawandel ist ein gemeinsames und grenzenloses Problem der gesamten Menschheit _ Begrenzung der Souveränität  Gemeinsame, aber zur Wahrung der Gerechtigkeit differenzierte Verantwortlichkeit _ Hauptlast und Führung für die entwickelten Staaten _ Sonderrechte und minimale Verpflichtungen für die Entwicklungsländer Normen Rahmenkonvention (UNFCCC) gilt für alle Vertrags- Staaten  Ziel: Stabilisierung der anthropogenen Konzentration von Treibhausgasen (bes. CO 2 ) in der Atmosphäre auf einem Niveau, auf dem eine gefährliche Störung des Klimasystems verhindert wird  Gebot der internationalen Kooperation, auch unter Souveränitätseinschränkung  Recht auf nachhaltige Entwicklung: Ressourcennutzung muss unter Beachtung der Pflicht zu nachhaltiger Sorgfalt möglich bleiben  Vorsorge trotz/ unter Unsicherheit, aber mit Kosteneffektivität Regeln Rahmenkonvention (UNFCCC) gilt für alle Vertrags- Staaten  Bestandsaufnahme der eigenen Klimabelastung (Quellen, aber auch »Senken«)  Zusammenarbeit in Wissenschaft, Forschung, Technologietransfer  Ausarbeitung nationaler/ regionaler Programme zur Verringerung klimaschädlicher Emissionen  Klimaschutz als Querschnittsaufgabe für alle Politikbereiche  Förderung nachhaltiger Wirtschaftsformen  Zusammenarbeit bei der Anpassung an Klimaänderungen  Öffentlichkeitsarbeit (Information/ Aufklärung/ Bildung) gilt für Annex I  aktive Politik zur Verringerung klimaschädlicher Emissionen  regelmäßige Berichtspflicht <?page no="281"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 281 5.5 Umwelt- und Klimaschutz (environment) 281 ● ● In der »Gemeinsamen Umsetzung« (Joint Implementation/ JI) finanzieren Industrieländer Projekte in anderen Annex I-Staaten, meist in ehemaligen Ostblock-Ländern, zur Emissionsreduktion oder Senkenerweiterung (z. B. Waldpflanzung), was dem Investor gutgeschrieben wird. ● ● In einem kontrollierten »Emissionshandel« (Emissions Trading; Lucht 2005) können sich Staaten gegen Bezahlung von anderen Vertragsstaaten aus deren Kontingenten ungenutzte Emissionsrechte zur eigenen Nutzung übertragen lassen: auch durch »joint implementation« erworbene Emissionsrechte können verrechnet werden. Dieser ökologische »Ablasshandel« wurde zwar heftig kritisiert, weil reiche Staaten sich so von ihren Verpflichtungen im Sinne der Rahmenkonvention teilweise freikaufen könnten, ermöglicht aber wenigstens einen finanziellen Ausgleich zwischen Industrieländern und industriell weniger entwickelten Ländern. ● ● Der »Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung« (Clean Development Mechanism/ CDM) soll meist von privaten Investoren unternommene Maßnahmen zur Emissionsreduktion in Entwicklungsländern fördern, wobei das Empfängerland von Finanz- und Technologietransfers, das Geberland von einer kosteneffizienten Erfüllung seiner Verpflichtungen profitiert; ein großes Problem dabei ist, Mitnahmeeffekte zu vermeiden, weil die Emissionsmengen der Entwicklungsländer ja nicht kontingentiert sind, da sie keiner Reduktionsverpflichtung unterliegen. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Klimaregimes haben sich als immens erwiesen-- jedenfalls steigt die Erderwärmung weiter an: Abgesehen von einer Reihe von technischen/ organisatorischen Problemen (etwa bei Überwachungssystemen u. Ä.) sind die schlimmsten Hemmnisse die weiter wirksamen gilt für Annex II  zusätzliche Mittel für finanzielle Hilfe an Entwicklungsländer  Technologietransfer an Entwicklungsländer Kyoto- Protokoll gilt für alle Vertrags- Staaten  Staaten können ihre Verpflichtungen gemeinsam erfüllen (»bubbling«)  Kooperation bei Technologie- und Ressourcentransfer gilt für Annex I  Entwicklung/ Durchführung von konkreten Maßnahmen und-Programmen  verbindliche und quantifizierte Senkung klimaschädlicher Emissionen bis 2012 auf das Niveau von 1990  Nutzung flexibler Mechanismen (Emissionshandel, Joint Implementation, Clean Development Mechanism/ CDM)  Berichterstattung über Erfüllung dieser Verpflichtungen Verfahren Rahmenkonvention (UNFCCC) gilt für alle Vertrags- Staaten  regelmäßig abzuhaltende Konferenz der Vertragsstaaten (Conference of Parties/ COP) ist Entscheidungsgremium  Einrichtung organisatorischer Strukturen (Sekretariat, wissenschaftliche/ technologische Beratung, Durchführung/ Überwachung, Finanzierungsmechanismus)  prozedurale Bestimmungen (Streitbeilegung, Vertragsänderung, Verabschiedung von Protokollen, Stimmrecht u. a.) Kyoto-Protokoll  verschiedene konkrete und technische Bestimmungen  u. a. zu den flexible Mechanismen des Kyoto-Protokolls <?page no="282"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 282 282 5 Internationale Regime Interessengegensätze zwischen Staatengruppen und der mangelnde politische Wille in Staaten mit den höchsten Emissionen, wie klassisch die USA und nun auch die VR China. »Grundlegende Strukturbrüche, wie sie zur Bekämpfung des Klimawandels erforderlich sind, erzeugen zwangsläufig Gewinner und Verlierer. Und die voraussichtlichen Verlierer haben üblicherweise ein sehr viel klareres Bild über die anstehenden Verluste und eine sehr viel stärkere Handlungsmotivation als die prospektiven Gewinner. Entsprechend ist die Klimapolitik in den meisten Ländern bisher im Wesentlichen an den sich lautstark artikulierenden Verliererinteressen ausgerichtet. Diese Blockade wird nur überwunden werden können, wenn sich ein entsprechender Gegendruck aufbaut, der eine Orientierung am Gemeinwohl einfordert.« Wolfgang Sterk (2010, S. 28) Multilaterale Kooperation bleibt ein äußerst mühsames Geschäft, das kaum einmal unmittelbar greifbaren Ertrag bringt. Der so dilettantisch vorbereitete und medienwirksam gescheiterte »Weltklimagipfel« 2009 in Kopenhagen-- ja nicht mehr als die jährliche Vertragstaatenkonferenz (COP 15)-- zeigte, wie es wohl nicht geht: Der Versuch einer großen und globalen Lösung durch ein verbindliches Abkommen, das nicht von den wirtschaftlich wichtigsten, sondern auch von den meisten Staaten getragen wird, ist zur Zeit (noch? ) unrealistisch. Die COP 16 in Cancun 2010 zeigte aber, was und wie es vielleicht geht: Unverbindliche bescheidene und kleine Fortschritte, eventuell dann auch in verbindlichen, aber in ihrer Reichweite begrenzten Protokollen, bei denen jedoch alle, auch die Vielzahl der wirtschaftlich schwächeren Staaten dabei sind. Das entspräche auch mehr dem informell-inkrementellen Charakter aller bisher halbwegs erfolgreichen Reformprozesse im UN-System. Literatur-Empfehlungen zu Kapitel 5.5 Breitmeier 1996; Chasek/ Downie/ Brown 2006; Dröge 2011; Ekardt 2008; Gehring/ Oberthür 1997, 2000; Held 2007; IPCC 2007; Ivanova 2010; Meyer/ Frank/ Hironaka/ Schofer/ Tuma 2005; Oberthür 1997; Oberthür/ Ott 2000; Rechkemmer, Andreas 2006, 2008; Schrijver 2007; Simonis 2006; Speth/ Haas 2006; Sterk 2010; Young 1999; Weltkommission 1987 <?page no="283"?> www.claudia-wild.de: [UTB_L]__Wesel/ 03.08.2012/ Seite 283 283 Literaturverzeichnis Abbott, Kenneth W./ Snidal, Duncan (1998): Why States Act through Formal International Organizations, in: Journal of Conflict Resolution, Bd. 42, H. 1, S. 3-32 Aghayev, Nasimi (2007): Humanitäre Intervention und Völkerrecht: Der NATO-Einsatz im Kosovo, Berlin Albrecht, Ulrich (1998): Völkerbundsprojekte der frühen Humanisten-- Von Erasmus zu Kant, in: ders. (Hrsg.): Die Vereinten Nationen am Scheideweg. Von der Staatenorganisation zur internationalen Gemeinschaftswelt? , Hamburg, S. 13-27 Alston, Philip (Hrsg.) 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