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Europäische Geldpolitik

Theorie, Empirie und Praxis

1120
2013
978-3-8385-8555-0
978-3-8252-8555-5
UTB 
Egon Görgens
Karlheinz Ruckriegel
Franz Seitz

In bewährter Weise führen die Autoren dieses Standardwerks in die Theorie und Praxis der europäischen Geldpolitik ein. Dabei spannen sie den Bogen von der Entstehung des Eurosystem über die praktische Geldpolitik und die Transmission geldpolitischer Impulse bis hin zu möglichen Störungen der Geldpolitik durch die Fiskal-, Lohn- und Wechselkurspolitik. Die vollständig neu bearbeitete 6. Auflage geht nicht nur ausführlich auf die Auswirkungen der Finanz-, der Wirtschafts- und der europäischen Staatsschuldenkrise auf die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ein, sondern berücksichtigt auch neuere geldtheoretische und geldpolitische Erkenntnisse sowie die institutionellen Veränderungen des Eurosystems. Auch Aspekte der Behavioral Economics werden herangezogen. Das Buch richtet sich an Studierende der Wirtschaftswissenschaften und an Praktiker der Finanzwirtschaft sowie der Wirtschafts- und Finanzpolitik.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> Egon Görgens, Karlheinz Ruckriegel, Franz Seitz Europäische Geldpolitik Theorie, Empirie und Praxis 6., vollständig neu bearbeitete Auflage mit einem Geleitwort von Joachim Nagel UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> WISU-Texte sind die Lehrbuchreihe der Zeitschrift WISU - DAS WIRTSCHAFTSSTUDIUM (www.wisu.de) Prof. Dr. Egon Görgens lehrte an der Universität Bayreuth. Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel lehrt an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm und Prof. Dr. Franz Seitz an der Technischen Hochschule Weiden und der WSB Poznan (Polen). Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Lektorat: Rainer Berger Gestaltung : Claudia Rupp, Stuttgart Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: istockphoto.com, Frank Ramspott Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstraße 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Nr. 8285 ISBN 978-3-8252-8555-5 <?page no="4"?> 5 „Es gibt kein feineres und kein sichereres Mittel, die bestehenden Grundlagen der Gesellschaft umzustürzen, als die Vernichtung der Währung.“ John Maynard Keynes 1920 1 „An economic environment charaterised by low and stable inflation is the best contribution that monetary policy can give to reduce the general level of uncertainty and promote an efficient allocation of resources. In this respect, the maintenance of price stability represents the key contribution of monetary policy to „support the general economic policies in the Community“ and it is the best monetary policy can do to foster a high rate of growth of output.“ Otmar Issing et al. 2001 2 „Academic monetary theory and central bank operating doctrines seemed to be further apart at the end of the twentieth century than at any time previously.“ Axel Leijonhufvud 2001 3 „Monetary Policy: Practice Ahead of Theory … First, expectations are of fundamental importance to monetary policy. Second, the strategy of policy is more important than any of the individual monthly decisions on interest rates. Third, in designing a strategy be aware of the likely role of heuristics in forming expectations, and so keep it simple.“ Mervyn King 2006 4 1 Keynes, J. M., Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, Duncker & Humblot, München / Leipzig, 1920, S. 192. 2 Issing, O., Gaspar, V., Angeloni, I., Tristani, O., Monetary Policy in the Euro Area, Cambridge University Press, Cambridge, 2001, S. 67. 3 Leijonhufvud, A., Introduction, in: Leijonhufvud, A. (Hrsg.), Monetary Theory and Policy Experience, Palgrave, Basingstoke (UK), 2001, S. XIV. 4 King, M., Monetary Policy: Practice Ahead of Theory, in: Matthews, K., Booth, P., Issues in Monetary Policy, John Wiley & Sons, Ltd, Chichester (England), 2006, S. 9 und S. 23. <?page no="5"?> 6 Geleitwort zur 6. Auflage „Europäische Geldpolitik“ von Dr. Joachim Nagel Das vorliegende Standardlehrbuch zur europäischen Geldpolitik von Egon Görgens, Karlheinz Ruckriegel und Franz Seitz ist aktuell in seiner sechsten Auflage erschienen. Die erste Auflage erlebte der „Görgens / Ruckriegel / Seitz“ 1999, im Jahr der Einführung des Euro. Seither hat dieses Werk in seinen Auflagen fünfzehn Jahre einheitlicher Geldpolitik begleitet, in Lehre und Forschung ebenso wie in der praktischen Ausbildung und Zentralbankpolitik. Und man kann sagen: in guten wie in schwierigen Jahren. Die ersten fünf Auflagen des Görgens / Ruckriegel/ Seitz erschienen bis 2008 praktisch im Zwei-Jahres-Rhythmus. In diesen Jahren von 1999 bis 2007 / 2008 waren der Euro und die einheitliche Geldpolitik von starker Konvergenz der europäischen Finanzmärkte und später einheitlichen Risikoprämien der Mitgliedsländer geprägt. Man könnte diese Phase des faktischen Ausblendens nationaler Unterschiede in den Risikoprämien auch als „Euro- Honeymoon“ bezeichnen. Im September 2008 aber löste der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers heftige Turbulenzen und einen scharfen realwirtschaftlichen Abschwung aus. Die Banken- und Finanzmarktkrise stellte weltweit Politik und Zentralbanken vor große Herausforderungen. Im Spätherbst 2009 rückte dann die Verschuldung in mehreren Eurozonenländern in den Fokus. Die Zukunft der gemeinsamen Währung in ihrem bisherigen Zuschnitt wurde in Frage gestellt, bis sich die Lage 2013 etwas beruhigte - auch durch massive Zentralbankmaßnahmen. Doch noch kann die Finanzkrise nicht als überwunden gelten. Die vorliegende sechste Auflage des Görgens / Ruckriegel / Seitz kann deshalb die Erfahrungen der Finanzkrise noch nicht abschließend bearbeiten, das wird späteren Auflagen vorbehalten bleiben. Gleichwohl bietet diese Auflage der „Europäischen Geldpolitik“ eine bewährte Übersicht über das bisweilen schwer zu durchschauende Projekt Europa, die Grundlagen und Besonderheiten der gemeinsamen Geldpolitik des Eurosystems - sowie die dramatischen Entwicklungen in der Krise seit 2007 / 2008. Die Einführung einer gemeinsamen Währung für inzwischen 17, ab dem 1. Januar 2014 18, Länder der Europäischen Union war ein mutiger und großer Schritt in der Integrationsgeschichte Europas. Die Geldpolitik wurde vereinheitlicht, die Fiskalpolitik blieb in nationaler Verantwortung. Hier sollte der Stabilitäts- und Wachstumspakt für solide öffentliche Haushalte und nachhaltiges Wachstum sorgen, bei Fehlentwicklungen sollten die Finanzmärkte disziplinierend wirken. Doch die globale Finanz- und schließlich die europäische Staatsschuldenkrise haben Schwachpunkte in dieser Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion offengelegt. Hohe Verschuldungsquoten, sinkende Wettbewerbsfähigkeit und kritische Immobilienpreisentwicklungen schienen nicht mehr nachhaltig, die Risikoprämien einzelner Länder stiegen drastisch an. Die Zentralbanken weltweit haben wesentlich dazu beigetragen, die Finanzkrise einzudämmen. Neben deutlichen Leitzinssenkungen haben sie zu unkonventionellen Maßnahmen gegriffen, die den Vertrauensverlust an den Finanzmärkten mildern sollten, etwa eine massive Liquiditätszufuhr oder der Ankauf von Wertpapieren. <?page no="6"?> GELEITWORT 7 Die Maßnahmen des Eurosystems nach der Insolvenz von Lehman Brothers umfassten ab Oktober 2008 den Wechsel vom Zinstender zur Vollzuteilung bei fixen Zinssätzen, das Angebot längerfristiger Refinanzierungsgeschäfte sowie Erweiterungen von Sicherheitenrahmen und Geschäftspartnerkreis. Im Laufe der Krise hat der EZB-Rat in diesen Bereichen mehrfach weitere Lockerungen beschlossen. Im Juli 2009 startete das erste Covered Bonds Purchase Programme, um dieses ausgetrocknete Marktsegment wieder zu beleben. Während der Staatsschuldenkrise folgten Ankäufe von Staatsanleihen über das Securities Markets Programme und ein weiteres Covered Bonds Purchase Programme, deren Wirkungen ab dem Jahreswechsel 2011 / 12 durch die zwei Dreijahrestender noch übertroffen wurde. Die von EZB-Präsident Mario Draghi im Juli 2012 in Aussicht gestellte Maßnahme, über Outright Monetary Transactions notfalls Staatsschuldpapiere angeschlagener Euro-Länder kaufen zu wollen, hat auf die Märkte für Monate beruhigend gewirkt, ohne dass es bisher zu entsprechenden Käufen gekommen wäre, und ohne dass die Grundprobleme hinter der aktuellen Krise bereits nachhaltig gelöst wären. Die eigentlichen Krisenursachen können Zentralbanken nicht beseitigen. Hier ist die Politik gefragt. Korrekturen an der Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion haben begonnen: Die Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik der Mitgliedsstaaten wird strukturell angepasst, besser abgestimmt und auf mehr Nachhaltigkeit angelegt werden. Kernelement dafür ist der 2013 in Kraft getretene Fiskalpakt. Auf regulatorischer Ebene bilden unter dem Stichwort „Basel III“ neue Eigenkapitalanforderungen an Finanzinstitute ein stabilisierendes Element in der Finanzarchitektur. Hinzu kommt das Projekt einer europäischen Bankenunion. Sie wird neben einer gemeinsamen Bankenaufsicht auch Restrukturierungs- und Abwicklungsmechanismen umfassen. Unter dem Dach der EZB ist mit dem Aufbau des einheitlichen Aufsichtsmechanismus begonnen worden. In längerfristiger Sicht bleiben Europa nur zwei Wege: Entweder die Vollendung einer politischen Union, bei der zahlreiche bisher nationale Kompetenzen und Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene zu verlagern sind. Oder die Konstruktion eines verbesserten europäischen Rahmenwerks mit straffen fiskalpolitischen Regeln und dem Ziel einer Stabilitätsunion. Um das Vertrauen der Bürger und aller Finanzmarktteilnehmer in die Währungsunion zu erhalten, gilt es insbesondere Kontrolle und Haftung wieder ins rechte Verhältnis zu bringen: im Finanzsystem, in der nationalen Politik und in der Europäischen Union. Wie immer es weiter geht: Das vorliegende aktualisierte und vollständig überarbeitete Werk ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der jüngsten Finanzkrise, für den Insider wie den volkswirtschaftlich Interessierten. Gerade im Hinblick auf die zahlreichen Veränderungen in der Geldpolitik und die unkonventionellen Maßnahmen der Zentralbanken liefert es einen guten Überblick. Und auch das dahinterstehende politische Spannungsfeld in Europa wird nicht ausgeblendet. Jenseits aller aktuellen Herausforderungen bleibt das Buch eine Referenz, wenn es um Grundsatzfragen der Geld- und Zentralbankpolitik geht. Frankfurt Dr. Joachim Nagel im Oktober 2013 Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank <?page no="7"?> 8 Vorwort zur sechsten Auflage Das Erscheinungsbild dieser Auflage hat sich gegenüber der vorangegangenen nicht geändert. Auch die Grundstruktur wurde beibehalten. Wir haben jedoch eine Vielzahl von Aktualisierungen, Änderungen und Ergänzungen vorgenommen, um den Entwicklungen seit der Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise, deren Ursachen und geldpolitische Reaktionen darauf Rechnung zu tragen. Dies erforderte erhebliche Überarbeitungen beispielsweise der Kapitel über die Finanzpolitik und die Transmission der Geldpolitik. Hier werden auch die sogenannten Sondermaßnahmen der EZB, die die Transmission geldpolitischer Impulse verbessern sollen, vorgestellt und diskutiert sowie einer kritischen Analyse unterzogen. Eine Ortsbestimmung der Geldpolitik der EZB findet sich im neuen Kapitel I.3 „Quo vadis, Europäische Währungsunon? “ Zur Vertiefung haben wir einige Boxen neu aufgenommen wie beispielsweise die Boxen zu den TARGET-Salden und etliche Boxen im Zusammenhang mit der Finanzstabilität. Die aktuellen Entwicklungen erlaubten zudem, einige von uns bereits früher vorgestellte Hypothesen über die Störanfälligkeit der EWU nun im Lichte der letzten Krisen zu gewichten. Wir danken Joachim Nagel, der im Vorstand der Deutschen Bundesbank für das Ressort „Informationstechnologie und Märkte“ verantwortlich ist, für sein Geleitwort und seine Unterstützung. Auch sind wir zahlreichen Kolleginnen und Kollegen für die vielfältigen Anregungen und Ergänzungen zu großem Dank verpflichtet. Dies gilt zum einen für J. Clostermann (Technische Hochschule Ingolstadt), C. Knoppik (Universität Regensburg), F. Rieger (Deutsche Bundesbank) und J. Ulbrich (Deutsche Bundesbank), die ihre Boxen überarbeitet und aktualisiert haben. Zum anderen bedanken wir uns sehr für die Unterstützung bei der Datenbeschaffung, der kritischen Durchsicht einzelner Kapitel und die Beisteuerung neuer Boxen zu Spezialfragen bei N. Bartzsch (Deutsche Bundesbank), J. Becker (Deutsche Bundesbank), M. Große-Hüttmann (Universität Tübingen), M. Leppin (Deutsche Bundesbank), A. Lipponer (Deutsche Bundesbank), A. Löffler (Deutsche Bundesbank), T. Lux (Institut für Weltwirtschaft), M. Mandler (Deutsche Bundesbank), J. Metzger (Deutsche Bundesbank), H.-E. Reimers (Hochschule Wismar), G. Rösl (Technische Hochschule Regensburg), K. Sagner- Kaiser (Deutsche Bundesbank), S. Schich (OECD), F. Schobert (Deutsche Bundesbank), A. Stolper (Deutsche Bundesbank), E. Triebskorn (Deutsche Bundesbank) und G. Ziebarth (Deutsche Bundesbank). Darüber hinaus war ein letztes Korrektur lesen einzelner Kapitel von R. Damberger und M. Looshorn (Hochschule Weiden) sehr hilfreich. Nicht zuletzt danken wir der UVK Verlagsgesellschaft und namentlich Rainer Berger, die die Einzelteile zum Gesamtwerk zusammen gefügt sowie die verlegerische Betreuung der neuen Auflage dieses Lehrbuchs übernommen haben. Bayreuth, Nürnberg, Weiden Prof. Dr. Egon Görgens im Oktober 2013 Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel Prof. Dr. Franz Seitz <?page no="8"?> VORWORT 9 Vorwort zur ersten Auflage Mit dem 1.1.1999 begann auf dem Gebiet der Geldpolitik in Europa eine neue Zeitrechnung. Zu diesem Zeitpunkt haben die 11 Mitgliedsländer der Europäischen Union (Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien), die nach dem Beschluß des EU-Rats die Voraussetzungen für die Währungsunion erfüllten, als gemeinsame Währung den € eingeführt. Die Geldpolitik wird seither zentralisiert vom sogenannten Eurosystem, den 11 nationalen Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, einheitlich für den neuen Währungsraum durchgeführt. Auf nationale Belange kann keine Rücksicht mehr genommen werden. Zwar existiert der € bis 2002 nur im bargeldlosen Zahlungsverkehr. Faktisch sind die 11 nationalen Währungen aber nur noch Untereinheiten der neuen europäischen Währung „Euro“. Vor diesem Hintergrund haben Lehrbücher zur Geldpolitik, die die institutionellen Bedingungen bis Ende 1998 zum Gegenstand haben, nur noch eingeschränkten Informationswert. Zwar ändern sich die gesamtwirtschaftlichen Strukturen nicht von heute auf morgen. Auf vielfältigen Gebieten ergeben sich allerdings neue Rahmenbedingungen für die Geldpolitik. Und gerade auf den Finanzmärkten, die bei der Analyse geldpolitischer Effekte eine zentrale Rolle einnehmen, vollziehen sich viele Änderungen recht schnell bzw. sind in den Entscheidungen der Marktteilnehmer bereits vorweggenommen. Diese Änderungen betreffen institutionelle Aspekte, die operative Ebene des Geldmarktes, mögliche Zwischenziele und alternative strategische Ausrichtungen, aber auch die Endzielebene. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Beiträgen, die sich mit speziellen geldpolitischen Problemen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion beschäftigen. Die nationalen Zentralbanken und insbesondere auch die Europäische Zentralbank haben sich um umfangreiche Aufklärungsarbeit über die zu verfolgende geldpolitische Strategie, Instrumentarium und Steuerungsprobleme bemüht. Dennoch sind im Hochschulbereich gleichermaßen wie in Diskussionen über Probleme europäischer Geldpolitik von Expertenzirkeln abgesehen erhebliche Informationsdefizite unverkennbar. Diesen Defiziten durch eine möglichst geschlossene Gesamtdarstellung beizukommen ist das Hauptanliegen des vorliegenden Lehrbuches. Das Buch richtet sich vornehmlich an Studierende an Universitäten und Fachhochschulen mit Grundkenntnissen in makroökonomischer Theorie und Geldtheorie. Doch auch zu geldpolitisch einschlägigen Studienabschnitten an Verwaltungsakademien und verwandten Bildungseinrichtungen dürfte der Text einen geeigneten Zugang ermöglichen. Darüber hinaus wendet es sich an Mitarbeiter von Banken und anderen Finanzinstitutionen, die ihr Wissen über die Europäische Geldpolitik vertiefen möchten. Zu danken haben wir Frau Dr. Caroline Willeke, Dr. Ulrich Bindseil und Dr. Dieter Gerdesmeier (alle Europäische Zentralbank), Manfred Eder (Landeszentralbank im Freistaat Bayern) sowie den Kollegen Professor Jörg Clostermann (Ingolstadt) und Professor Hans-Eggert Reimers (Wismar), die sich der Mühe unterzogen haben, eine frühere Fassung des Buches kritisch unter die Lupe zu nehmen. Sie haben manche <?page no="9"?> VORWORT 10 Unklarheiten und Argumentationslücken aufgedeckt. Selbstverständlich gehen verbleibende Fehler und Mängel zu unseren Lasten. Frau Iris Röckelein danken wir für das Schreiben verschiedener Fassungen von Teilstücken und deren Komposition zu einem lesbaren Buch Bayreuth, Nürnberg, Weiden Prof. Dr. Egon Görgens im Sommer 1999 Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel Prof. Dr. Franz Seitz Dozentenzusatzmaterialien: Informationen zu exklusiven Dozentenzusatzmaterialien finden Sie unter europa-geldpolitik.de. <?page no="10"?> 11 Kurzübersicht Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Boxenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Symbolverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Nützliche Internet-Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 EU- und EWU-Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Einführung: Problemstellung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Kapitel I: Auswahl der Teilnehmerstaaten zur Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1 Zur Geschichte der Europäischen Währungsunion . . . . . . . 34 2 Zur „politischen“ Praxis der Konvergenzprüfung . . . . . . . . . 46 3 Quo vadis, Europäische Währungsunion? . . . . . . . . . . . . . . 61 Kapitel II: Das Eurosystem als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1 Warum staatliche Zentralbanken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2 Zielvorgabe(n) und Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3 Auf bau und Entscheidungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Kapitel III: Operative Umsetzung der Geldpolitik des Eurosystems . . . 111 1 Die vier Ebenen der Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2 Geldpolitische Strategien für das Eurosystem . . . . . . . . . . . . 122 3 Geldpolitisches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4 Geldmarktsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Kapitel IV: Transmission geldpolitischer Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1 Monetäre Wirkungskanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2 Transmissionsprobleme in der Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Kapitel V: Mögliche Störpotenziale für die Geldpolitik . . . . . . . . . . . . 351 1 Fiskalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2 Lohnpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 3 Wechselkurspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Glossarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 <?page no="11"?> 12 Inhaltsverzeichnis Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Vorwort zur sechsten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kurzübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Boxenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Symbolverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Nützliche Internet-Adressen zum EURO und zur Währungsunion . . . . . . . . . 27 EU- und EWU-Länder (Stand Herbst 2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Einführung: Problemstellung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Kapitel I Auswahl der Teilnehmerstaaten zur Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1 Zur Geschichte der Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2 Zur „politischen“ Praxis der Konvergenzprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.1 Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2 Konvergenzprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2.1 Prüfung im Jahre 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.2.2 Prüfungen ab 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3 Quo vadis, Europäische Währungsunion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1 Zur Empirie - die Entwicklung auf den Geld- und Kapitalmärkten (Staatsanleihen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.2 1999 - 2008 / 2010: Die Phase trügerischer Homogenität . . . . . . . . . . 66 3.3 Seit September 2008 / Mai 2010: immer wieder Geldmarkt- / Kapitalmarktprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Kapitel II Das Eurosystem als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1 Warum staatliche Zentralbanken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1.1 Staatliche Zentralbanken versus Hayek’s „Entnationalisierung des Geldes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1.2 Anbindung der Geschäftsbanken an die (staatliche) Zentralbank . . . 88 2 Zielvorgabe(n) und Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.1 Zur Bedeutung von Institutionen für die Geldpolitik - Glaubwürdigkeit ist gefragt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 <?page no="12"?> INHALTSVERZEICHNIS 13 2.2 Eurosystem und Federal Reserve System im Vergleich . . . . . . . . . . . . 93 2.3 Institutionen ohne Bestandsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3 Auf bau und Entscheidungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Kapitel III Operative Umsetzung der Geldpolitik des Eurosystems . . . . . 111 1 Die vier Ebenen der Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1.1 Instrumentenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1.2 Operative Ebene und operatives Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1.3 Indikatorenbzw. Zwischenzielebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1.4 Endzielebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2 Geldpolitische Strategien für das Eurosystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2.1 Anforderungen an eine Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2.2 Einstufige versus zweistufige geldpolitische Strategien . . . . . . . . . . . . 125 2.3 Zweistufige Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.3.1 Wechselkursziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.3.2 Zinsen als geldpolitische Orientierungsgrößen . . . . . . . . . . . 138 2.3.2.1 Zinsniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2.3.2.2 Zinsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2.3.3 Nominelle BIP-Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.3.4 Geldmengenziele - das Vorbild der Deutschen Bundesbank . . 150 2.3.4.1 Allgemeine Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2.3.4.2 Die Rolle der Geldnachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2.3.4.3 Vorteile einer Geldmengenstrategie . . . . . . . . . . . . 158 2.3.4.4 Probleme einer Geldmengenorientierung . . . . . . . . 164 2.4 Direkte Inflationssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.4.1 Die einstufige Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.4.2 Vor- und Nachteile des „direct inflation targeting“ . . . . . . . . 167 2.4.3 Die Inflationsprognose der Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2.5 Das Federal Reserve System: Multi-Indikatoren-Ansatz cum Inflationsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2.6 Die geldpolitische Strategie des Eurosystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2.6.1 Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2.6.2 Generelle Adäquanz der Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2.6.3 Der „Anker“: Preisstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2.6.4 Die Monetäre (langfristige) Säule: Monetäre Analyse . . . . . . 184 2.6.5 Die Wirtschaftliche (kurzfristige) Säule: Eine breit fundierte Beurteilung der Preisperspektiven . . . . . 199 <?page no="13"?> INHALTSVERZEICHNIS 14 2.6.6 Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3 Geldpolitisches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3.1 Anknüpfungspunkte der Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3.2 Mindestreserve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.2.1 Ausgestaltung des Mindestreservesystems . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.2.2 Geldpolitische Funktionen der Mindestreserve . . . . . . . . . . . 216 3.2.2.1 Anbindungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3.2.2.2 Stabilisierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.3. Geldpolitische Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.3.1 Offenmarktgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.3.1.1 Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3.3.1.2 Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3.3.1.2.1 Tenderverfahren: Standardtender versus Schnelltender . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.3.1.2.2 Zuteilungsverfahren bei Tendern: Zinsversus Mengentender . . . . . . . . . . 226 3.3.2 Ständige Fazilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3.3.2.1 Spitzenrefinanzierungsfazilität . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3.3.2.2 Einlagefazilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.3.3 Refinanzierungsfähige Sicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4 Geldmarktsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.1 Geldmarktabgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.2 Tagesgeldsatz als operatives Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4.3 Die Taylor-Regel - eine geldpolitische Reaktionsfunktion für die Zinsentscheidungen der Zentralbanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 4.4 Zur Technik der Zinsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 4.4.1 Zinsführerschaft am Tagesgeldmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.4.1.1 Steuerung des Tagesgeldsatzes: Normalfall (bis September 2008) . . . . . . . . . . . . . . 254 4.4.1.2 Steuerung des Tagesgeldsatzes: Krisenmodus . . . . . 257 4.4.2 Der Zinskorridor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 4.5 Die Endogenität der Geldmenge im Spiegel der „Monetären Analyse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 <?page no="14"?> INHALTSVERZEICHNIS 15 Kapitel IV Transmission geldpolitischer Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1 Monetäre Wirkungskanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1.1 Interdependenz der Zinssätze (Zinsstruktur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1.2 Zins- und Wechselkurskanal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 1.2.1 Finanzierungskosten (Kapitalkosteneffekt) . . . . . . . . . . . . . . 282 1.2.2 Substitutionseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1.2.3 Einkommens- und Vermögenseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 1.2.4 Wechselkurseffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 1.3 Kreditkanal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1.3.1 Bankenkanal (Bank Lending Channel) . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 1.3.2 Bilanzkanal (Balance Sheet Channel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1.3.3 Reichweite des Kreditkanals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 1.4 Risikoneigungskanal (risk taking channel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1.5 Die Bedeutung von Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2 Transmissionsprobleme in der Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . 310 2.1 Unterschiedliche Finanzierungsbedingungen und Finanzierungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 2.1.1 Finanzierungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 2.1.2 Unterschiedliche Finanzierungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . 317 2.2 Konjunkturelle und realstrukturelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . 324 2.3 Glaubwürdigkeit des Eurosystems und geldpolitische Effizienz . . . . . 329 2.3.1 Transparenz der Geldpolitik und Umfeld der Unsicherheit . . 332 2.3.2 Transparenz, Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit . . 338 2.4 Konvergenz in der EWU? - Makroökonomische Indizien . . . . . . . . . 343 3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Kapitel V Mögliche Störpotenziale für die Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 351 1 Fiskalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1.1 Grundlegende theoretische Zusammenhänge zwischen Geld- und Fiskalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1.1.1 Staatsverschuldung und Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1.1.2 Fristigkeit der Verschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1.1.3 Währungsstruktur der öffentlichen Verschuldung . . . . . . . . . 368 1.1.4 Koordinationsprobleme zwischen Geld- und Finanzpolitik . . 368 1.1.5 Spezifika der Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 1.2 Die institutionellen Regelungen in der E(W)U . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 1.2.1 Die Situation bis zur Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 1.2.2 Zukünftige Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1.2.3 Die neuen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 <?page no="15"?> INHALTSVERZEICHNIS 16 1.2.4 Das finanzpolitische Doppelkriterium und die Geldpolitik des Eurosystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 2 Lohnpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 2.1 Lohnerhöhungsspielräume durch die EWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 2.2 Erhöhte Flexibilitätsanforderungen an die Tarifparteien . . . . . . . . . . 400 2.3 Lohnpolitische Disziplinierung oder verschärfter Druck auf das Eurosystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 2.4 Reformbedürftigkeit der Arbeitsmarktinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . 413 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 3 Wechselkurspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 3.1 Die Rolle des Eurosystems bei der Festlegung der Wechselkurspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 3.2 Devisenmarkt und Wechselkursregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 3.3 Wechselkurszielzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 3.4 Wechselkursmechanismus II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 Glossarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 <?page no="16"?> BOXENVERZEICHNIS 17 Boxenverzeichnis Box I.1.1: Die Hauptorgane der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Box I.1.2: Ist die EWU ein Optimaler Währungsraum? . . . . . . . . . . . . . . . 40 Box I.1.3: SEPA (Single Euro Payments Area) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Box I.2.1: Der Balassa-Samuelson-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Box I.2.2: Kreative Buchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Box I.3.1: Behavioral Economics - Lehren für die Geld- und Währungspolitik und die Finanzmarktaufsicht . . . . . . . . . . . . . . 63 Box I.3.2: Gibt es Fortschritte in Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Box II.1.1: Warum wurde „Geld“ erfunden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Box II.1.2: Finanzmarktregulierung als Rahmen für ein stabiles Finanzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Box II.1.3: Makroprudenzielle Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Box II.2.1: Kernelemente der Unabhängigkeit des Eurosystems . . . . . . . . . . 94 Box II.2.2: Folgen mangelnder Unabhängigkeit: Der Fall „Fed“ . . . . . . . . . . 96 Box II.3.1: Das Federal Reserve System: Auf bau und Entscheidungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Box II.3.2: Reform des Abstimmungsverfahrens im EZB-Rat . . . . . . . . . . . . 101 Box II.3.3: Seigniorage unter besonderer Berücksichtigung von TARGET2-Salden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Box III.1.1: Geldschöpfungsmultiplikator, Geldbasiskonzept und ihre Relevanz für die Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Box III.1.2: Warum die Poole’sche Alternative „Zinsversus Geldmengensteuerung“ in Wirklichkeit keine ist . . . . . . . . . . . . . 117 Box III.1.3: Warum ist Preisstabilität wichtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Box III.2.1: Die ungedeckte Zinsparität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Box III.2.2: Der internationale Preiszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Box III.2.3: Das EWS II (Wechselkursmechanismus II) . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Box III.2.4: Der € als internationale Anlage-, Transaktions- und Reservewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Box III.2.5: Die Fisher-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Box III.2.6: Die Erwartungstheorie der Zinsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Box III.2.7: Das P-Stern-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Box III.2.8: Die Rolle der Geldmenge für die Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 162 Box III.2.9: Core Inflation und Headline Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Box III.2.10: Probleme der Inflationsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Box III.2.11: Eine Mindestinflationsrate für die EWU? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Box III.2.12: Die Geldmengenbegriffe im Eurosystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Box III.2.13: Geldnachfrageschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Box III.2.14: Warum ist der „deutsche“ Banknotenumlauf so hoch? . . . . . . . . 198 Box III.2.15: Sollte die Geldpolitik auf Assetpreise reagieren? . . . . . . . . . . . . . . 201 Box III.3.1: Gold und Goldverkäufe im Bilanzzusammenhang . . . . . . . . . . . 211 <?page no="17"?> BOXENVERZEICHNIS 18 Box III.3.2: Die technische Abwicklung des Tenderverfahrens bei liquiditätszuführenden Transaktionen am Beispiel der Deutschen Bundesbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Box III.3.3: Der Basiszinssatz - Nachfolger des Diskontsatzes . . . . . . . . . . . . 228 Box III.4.1: TARGET2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Box III.4.2: Wie entsteht Geschäftsbankengeld und wie könnten Einlagen auch gesichert werden? (ein kreativer Vorschlag) . . . . . . . . . . . . . 245 Box III.4.3: Woher kommen Kredite? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Box III.4.4: Neukeynesianische Makromodelle als Reaktion auf die Endogenität der Geldmenge und die Zinssteuerung durch die Zentralbanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Box III.4.5: Referenzzinssätze am Euro-Geldmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Box III.4.6: Non-Standard-Monetary Policy Measures und Quantitative Easing (QE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Box III.4.7: Monetäre Finanzinstitute (MFIs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Box IV.1.1: Determinanten des langfristigen Nominalzinssatzes . . . . . . . . . . 280 Box IV.1.2: Die Liquiditätsfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Box IV.1.3: Tobin’s q . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Box IV.1.4: Lebenszyklus-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Box IV.1.5: Moral Hazard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Box IV.1.6: Adverse Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Box IV.1.7: Basel III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Box IV.1.8: Die Phillips-Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Box IV.2.1: Neuere empirische Ergebnisse zur geldpolitischen Transmission im Euroraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Box IV.2.2: Die „ECB Watcher“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Box IV.2.3: Transparenz in der Geldpolitik: Internationale Vergleiche . . . . . . 339 Box V.1.1: Zur Problematik des „realen“ Budgetsaldos . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Box V.1.2: Die fiskalische Theorie der Preise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Box V.1.3: Das Verfahren gegen Deutschland und Frankreich . . . . . . . . . . . 379 Box V.1.4: Strukturelle Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Box V.1.5: Finanzielle Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Box V.2.1: Asymmetrische Schocks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Box V.2.2: Produktivitätsorientierte Lohnpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Box V.3.1: Die Bestimmungsfaktoren des Wechselkurses . . . . . . . . . . . . . . . 422 Box V.3.2: Wechselkurszielzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Box V.3.3: Grenzen der Interventionsmöglichkeiten von Zentralbanken . . . . 431 Box V.3.4: Geld- und Fiskalpolitik bei fixen und flexiblen Wechselkursen . . 433 Box V.3.5: Die Theorie informationseffizienter Finanzmärkte (Effizienzmarkthypothese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Box V.3.6: Realer Wechselkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Box V.3.7: Vom Goldstandard zum Currency Board . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 <?page no="18"?> ABBILDUNGSVERZEICHNIS 19 Abbildungsverzeichnis Abb. I.3.1: Entwicklung der Renditen für 10-jährige Staatsanleihen im Eurowährungsgebiet 1993 bis 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Abb. I.3.2: Entwicklung der Preise für Wohnimmobilien in Deutschland und im Eurowährungsgebiet von 1995 - 2011 . . . . . . . . . . . . . . 66 Abb. I.3.3: Leistungsbilanzsaldo in % des BIP, Italien, Spanien, Griechenland, Irland und Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Abb. II.1.1: Grundstruktur der Zentralbankbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abb. II.2.1: Grad der Unabhängigkeit der Zentralbank und durchschnittliche Inflationsrate in Industrieländern im Zeitraum von 1980 - 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Abb. II.3.1: Das Rotationssystem im EZB-Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Abb. II.3.2: Grundstruktur der Zentralbankbilanz und Seigniorage . . . . . . 105 Abb. III.2.1: Die Bedeutung einer geldpolitischen Strategie . . . . . . . . . . . . . . 123 Abb. III.2.2: Inflation und langfristiger Zins in Deutschland . . . . . . . . . . . . 139 Abb. III.2.3: Zinsspread und Zinsniveau in Deutschland und der EWU . . . . 144 Abb. III.2.4: Die Umlaufsgeschwindigkeit von M3 in Deutschland . . . . . . . 157 Abb. III.2.5a: Internationaler Geldmengen-Preis-Zusammenhang (M breit) . . 159 Abb. III.2.5b: Internationaler Geldmengen-Preis-Zusammenhang (M eng) . . . 159 Abb. III.2.6: Geldmengen-Preis-Zusammenhang in Ländern mit unterschiedlichen Inflationsraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Länder mit Inflationsraten < 40 % . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Länder mit Inflationsraten < 20 % . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abb. III.2.7: Inflationsprognose und Inflationssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Abb. III.2.8: USA: Umlaufsgeschwindigkeit von M2 und Opportunitätskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Abb. III.2.9: Headline Inflation und Kerninflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Abb. III.2.10: Inflation und Definition von Preisstabilität in der EWU . . . . . . 184 Abb. III.2.11: Wachstumsraten der Geldmengenaggregate im Euro-Währungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Abb. III.2.12: Geldmengen-Preis-Zusammenhang für das Euro-Gebiet . . . . . 187 Abb. III.2.13: Inflation gemessen am HVPI und BIP-Deflator . . . . . . . . . . . . 192 Abb. III.2.14: Umlaufsgeschwindigkeit von M3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Abb. III.2.15: Umlaufsgeschwindigkeit von M1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Abb. III.2.16: Referenzwert und tatsächliche Entwicklung von M3) . . . . . . . . 197 Abb. III.2.17: Tatsächlicher und hypothetischer Umlauf deutscher Banknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Abb. III.2.18: Die geldpolitische Strategie des Eurosystems . . . . . . . . . . . . . . . 204 Abb. III.3.1: Konsolidierte Bilanz (Wochenausweis) des Eurosystems zum 26. 4. 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Abb. III.3.2: Bilanz der Deutschen Bundesbank zum 31. 12. 2012 . . . . . . . . . 212 Abb. III.3.3: Reservebasis und Mindestreservesätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 <?page no="19"?> ABBILDUNGSVERZEICHNIS 20 Abb. III.3.4: Mindestreserve und Bilanz des Eurosystems . . . . . . . . . . . . . . . 217 Abb. III.3.5: Die Stabilisierungsfunktion der Durchschnittserfüllung: Der Fall der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Abb. III.3.6: Geldpolitische Operationen des Eurosystems . . . . . . . . . . . . . . 220 Abb. III.3.7: Offenmarktgeschäfte und Bilanz des Eurosystems . . . . . . . . . . 222 Abb. III.3.8: Ständige Fazilitäten und Bilanz des Eurosystems . . . . . . . . . . . . 232 Abb. III.3.9: Hauptkategorien der refinanzierungsfähigen Sicherheiten für die Kreditgeschäfte des Eurosystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Abb. III.4.1: Interbanken-Geldmarkt und Bilanz des Eurosystems . . . . . . . . 237 Abb. III.4.2: Beispiel für die Entstehung von TARGET2-Salden . . . . . . . . . . 239 Abb. III.4.3: Bilanz einer Zentralbank des Eurosystems . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Abb. III.4.4: TARGET2-Saldo der Deutschen Bundesbank . . . . . . . . . . . . . 241 Abb. III.4.5: TARGET2-Forderungen und Verbindlichkeiten im Eurosystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Abb. III.4.6: Konsolidierte Bilanz der Geschäftsbanken . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Abb. III.4.7: Ein einfaches Kreditmarktmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Abb. III.4.8: Verschuldung (Kredite) bei US-Banken nach Schuldner (Kreditnehmer) in % des Bruttoinlandsprodukts . . . . . . . . . . . 248 Abb. III.4.9: Kreditvergabe aus dem (Geld-)Vermögensbestand . . . . . . . . . . 248 Abb. III.4.10: Beiträge zur Liquidität des Bankensystems . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Abb. III.4.11: Notenbankbilanzen und Geldmengenentwicklung seit 2008 . . . 259 Abb. III.4.12: EZB-Zinssätze und Tagesgeldsatz (EONIA) in der EWU von 1999 - 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Abb. III.4.13: M3 im Bilanzzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Abb. IV.1.1: Geldpolitik und Einkommensänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Abb. IV.1.2: Hauptwirkungskanäle des geldpolitischen Transmissionsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abb. IV.1.3: Zinsen in der EWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Abb. IV.1.4: Umlaufsrendite und Drei-Monats-Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Abb. IV.1.5: Inflation und langfristiger Zins in OECD-Ländern (1994 - 2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Abb. IV.1.6: Langfristzins und Konjunktur in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 281 Abb. IV.1.7a: Zinsentwicklung in den USA, der EWU und Japan . . . . . . . . . 284 Abb. IV.1.7b: Liquiditätsfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Abb. IV.1.8: Zinsentwicklung und Aktienmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Abb. IV.1.9: Kreditangebot und Kreditnachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Abb. IV.1.10: Kreditrationierung und Kreditnachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Abb. IV.1.11: Geldpolitik und Kreditkanal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Abb. IV.1.12: Phillips-Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Abb. IV.1.13: Wirkungskanäle der Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Abb. IV.2.1: Kapitalmarktzinsen in den EWU-Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Abb. IV.2.2: Dimensionen unterschiedlicher Finanzierungsstrukturen . . . . . 318 <?page no="20"?> ABBILDUNGSVERZEICHNIS 21 Abb. IV.2.3: Auswirkungen restriktiver geldpolitischer Maßnahmen auf die Produktion im Euro-Währungsgebiet in Zeiten eines Konjunkturaufschwungs und einer Konjunkturabschwächung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Abb. V.1.1: Inflationserwartungen und tatsächliche Inflation in der EWU (in %) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Abb. V.1.2: Wachstumsrate des realen BIP und Realzins in der EWU und Deutschland (in %) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Abb. V.1.3: Zinsstruktur im Euro-Währungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Abb. V.1.4: Entwicklung der Kapitalmarktzinsen in der EWU . . . . . . . . . . 375 Abb. V.1.5: Die idealtypische Wirkungsweise automatischer Stabilisatoren während des Konjunkturzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Abb. V.1.6: Konjunkturreagibilität der staatlichen Haushalte in der EWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Abb. V.1.7: Konjunkturbereinigter Haushaltssaldo im Euro-Währungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Abb. V.1.8: Finanzielle Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Abb. V.1.9: Realzins in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Abb. V.1.10: Das finanzpolitische Doppelkriterium bei einem nominalen Wachstum von 3 % . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Abb. V.2.1 Lohnstückkosten und Inflation in den Euroländern (kumuliert 1999 - 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Abb. V.3.1: Devisenmarkt: Angebot und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Abb. V.3.2: Devisenmarkt: Feste und flexible Wechselkurse . . . . . . . . . . . . 421 Abb. V.3.3: Wechselkurse des Euro (1999 - 2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Abb. V.3.4: € neigt zur Stärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Abb. V.3.5: € neigt zur Schwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Abb. V.3.6: Devisenmarktinterventionen und Bilanz des Eurosystems . . . . . 430 Abb. V.3.7: Wechselkurs des Euro zum Schweizer Franken seit 1999 . . . . . . 435 Abb. V.3.8: Euro-Leitkurse und obligatorische Interventionskurse im WKM II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 <?page no="21"?> TABELLENVERZEICHNIS 22 Tabellenverzeichnis Tab. I.1.1: Berechnung des ECU-Wertes zum 31. 12. 1998 . . . . . . . . . . . . . 43 Tab. I.2.1: Übersicht über die Konvergenzlage der EU-Staaten (1998) . . . . 53 Tab. I.2.2: Verbraucherpreise in den EU-Staaten (1998) . . . . . . . . . . . . . . . 54 Tab. I.2.3: Konvergenz der langfristigen Zinssätze (1998) . . . . . . . . . . . . . . 55 Tab. I.2.4: Finanzierungssalden der öffentlichen Haushalte der EU-Staaten (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Tab. I.2.5: Verschuldung der öffentlichen Haushalte der EU-Staaten (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Tab. I.2.6: Übersicht über die Konvergenzlage in Griechenland und Schweden (2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Tab. III.2.1: Euro-Anbindungen europäischer Länder (Stand: Juni 2013) . . . 136 Tab. III.2.2: Geldmengenziele und ihre Realisierung in Deutschland (in %) . 161 Tab. III.2.3: Grundmerkmale der direkten Inflationssteuerung in ausgewählten europäischen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Tab. III.2.4: Ausgewählte EWU-Geldnachfrageschätzungen . . . . . . . . . . . . 191 Tab. III.2.5: Makroökonomische Projektionen des Eurosystems (in %) . . . . . 203 Tab. IV.2.1: Unterschiede in nationalen Finanzstrukturen des privaten Sektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Tab. IV.2.2: Reales Inlandsprodukt, Verbraucherpreise und Arbeitslosenquoten in den EWU-Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Tab. V.1.1: Beitrag des Primärsaldos und der Zins-Wachstums-Relation zur Veränderung der Schuldenquote in der EWU (nominale Größen, in % des BIP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Tab. V.1.2: Laufzeitstruktur der öffentlichen Gesamtverschuldung im Euro-Währungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Tab. V.1.3: Währungsstruktur der öffentlichen Verschuldung im Euro-Währungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Tab. V.1.4: Defizitquoten in der EWU (Defizit (-) / Überschuss (+)) . . . . . . 384 Tab. V.1.5: Schuldenquoten in der EWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Tab. V.2.1: Produktivitäts- und Lohnzuwachs in 17 EWU-Staaten (in vH) 1999 - 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Tab. V.2.2: Lohnzurückhaltung und Arbeitslosigkeit in 17 EWU-Staaten (in vH) 1999 - 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 <?page no="22"?> ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 23 Abkürzungsverzeichnis AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union BaFin Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BIC Business Account Number BIP Bruttoinlandsprodukt BIZ Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bzw. beziehungsweise Ecofin-Rat Ministerrat der EU in der Zusammensetzung der Wirtschafts- und Finanzminister ECU European Currency Unit EG Europäische Gemeinschaft ELV Elektronisches Lastschriftverfahren EMT Effizienzmarkttheorie ERM Exchange Rate Mechanism EP Europäisches Parlament EONIA Euro Overnight Index Average ER Europäischer Rat ELA Emergency Liquidity Assistence ESM Europäischer Stabilitätsmechanismus ESRB European Systemic Risk Board ESZB Europäisches System der Zentralbanken EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EURIBOR Euro Interbank Offered Rate Eurostat Statistisches Amt der EU EVS Einkommens- und Verbraucherstichprobe EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWI Europäisches Währungsinstitut EWS Europäisches Währungssystem EWU Europäische Währungsunion EWWU Europäische Wirtschafts- und Währungsunion EZB Europäische Zentralbank EZB-Rat Rat der Europäischen Zentralbank Fed Federal Reserve System FOMC Federal Open Market Committee FRB Federal Reserve Bank FSB Financial Stability Board FT Fiskalische Theorie der Preise HVPI Harmonisierter Verbraucherpreisindex IBAN International Bank Account Number IWF Internationaler Währungsfonds Kap. Kapitel <?page no="23"?> ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 24 KWG Gesetz über das Kreditwesen kfr.; lfr. kurzfristig; langfristig MFIs Monetäre Finanzinstitute MMDAs Money Market Deposit Accounts NZB Nationale Zentralbank QE Quantitative Easing ofz. Unze Feingold OTC over the counter OMT Outright Monetary Transactions (Programme) sog. so genannt RPD Reserve Position Doctrine SEPA Single Euro Payments Area SMP Securities Markets Programme SNB Schweizerische Nationalbank TARGET2-System Trans-European Automated Real-Time Gross Settlement Express Transfer System VGR Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung WKM II Wechselkursmechanismus II WWU Wirtschafts- und Währungsunion z. B. zum Beispiel ZBG Zentralbankgeld ZBR Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank <?page no="24"?> SYMBOLVERZEICHNIS 25 Symbolverzeichnis A Arbeit Aj Arbeitsjahre a Reservehaltungskoeffizient a (als Index) Ausland  Anteil handelbarer Güter am Preisindex B realer staatlicher Schuldenstand B n nominaler staatlicher Schuldenstand b nominale Schuldenquote  Anpassungsgeschwindigkeit der Erwartungen BG Bargeld c Bargeldhaltungskoeffizient (Bargeldneigung) C Konsum D staatliches Defizit d reale Defizitquote d n nominale Defizitquote D N Einlagen von Nichtbanken Δ absolute Veränderung dY dA Grenzprodukt der Arbeit E Ertrag E t - 1 Erwartungswert bei geg. Informationen der Vorperiode t-1 e nominaler Wechselkurs e fixer Wechselkurs e erw erwarteter Wechselkurs e r realer Wechselkurs e r, erw erwarteter realer Wechselkurs e T Terminkurs  nicht prognostizierbarer Zufallsfehler F T (N ) A Grenzprodukt der Arbeit bei Tradables (Non-Tradables) g Wachstumsrate des realen BIP G Staatsausgaben  Aufschlagssatz auf die Lohnstückkosten i inländischer Nominalzins i a ausländischer Nominalzins i Tay Taylorzins IR Inflationsrisikoprämie K Kredite  Arbeitsproduktivität Lj Lebensjahre M Geldmenge M r reale Geldmenge <?page no="25"?> SYMBOLVERZEICHNIS 26 M 0 Zentralbankgeld (Geldbasis) m ( n ) Laufzeit m (n) einer Anlageform m Geldschöpfungsmultiplikator; logarithmierte Geldmenge  Wachstumsrate der Geldbasis MWU Marktwert eines Unternehmens N nicht handelbare Güter („non-tradables“) og Output Gap P , p inländisches Preisniveau P * gleichgewichtiges Preisniveau P a , p a ausländisches Preisniveau p N Preise nicht-handelbarer Güter („non-tradables“) p T Preise handelbarer Güter („tradables“) pd Primärdefizitquote  inländische Inflationsrate  a ausländische Inflationsrate  erw erwartete Inflationsrate  a, erw erwartete ausländische Inflationsrate  Norm Inflationsnorm  Ziel Inflationsziel q Tobin’s q R Reservehaltung r M Mindestreservesatz  Risikoprämie r inländischer Realzins r a ausländischer Realzins s Swapsatz, Seignioragequote S Seigniorage t Zeitindex T Tradables; Steuerzahlung bzw. Steuereinnahmen u , v unabhängig normalverteilte Schockvariablen mit Erwartungswert Null und konstanter Varianz V Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes w inländischer Nominallohn w a ausländischer Nominallohn  Anteil der Wertpapiere am gesamten Finanzvermögen WBK Wiederbeschaffungskosten des Sachkapitals X Anlagebetrag Y Realeinkommen, reales BIP, reale Produktion Y P Produktionspotenzial Y n Nominaleinkommen, nominales BIP, nominale Produktion Y A Arbeitseinkommen z Zwischenzielvariable * Gleichgewichtswert  Wachstumsrate <?page no="26"?> NÜTZLICHE INTERNET-ADRESSEN ZUM EURO UND ZUR WÄHRUNGSUNION 27 Nützliche Internet-Adressen zum EURO und zur Währungsunion http: / / www.ecb.int Homepage der EZB mit Links zu allen nationalen EU-Zentralbanken, aktuelle Publikationen (Monatsberichte, Statistiken, Working Papers, Reden, Pressenotizen etc.), EU-Erweiterung und Euro; ausführliches Glossarium zur EZB und Finanzmärkten; Aufnahme in eine Mailing List zum kostenlosen Bezug der Publikationen. Verweis auf Konferenzen der EZB, Möglichkeit des Herunterladens von Daten; Spezielle Informationen für Schüler und Studenten; Abbildungen und Beschreibung der Euro-Banknoten und -Münzen; Euro-Konversionskurse. http: / / www.bundesbank.de/ Homepage der Deutschen Bundesbank: Publikationen mit Informationen zum Euro und zur EWWU; Informationen der EZB in deutscher Sprache; Zeitreihendatenbank mit Möglichkeit des einfachen Downloads von Daten; Informationen für Schüler und Studenten; Präsentation der Hauptgeschäftsfelder incl. Bankenaufsicht. Unter „Wissens Wert“ Informationen zu aktuellen Entwicklungen, Zahlen, historischen Ereignissen, Glossar von Begriffen zur Geldpolitik. http: / / www.auswaertiges-amt.de Die Internetseite des Auswärtigen Amts informiert im Unterpunkt „Europa“ aktuell über Neuigkeiten und Neuerungen rund um die EU. http: / / europa.eu/ index_de.htm Homepage der EU: EU-Institutionen, Tätigkeitsbereiche der EU, amtliche Dokumente der EU, Informationsquellen zur EU. http: / / epp.eurostat.ec.europa.eu Statistisches Amt der EU mit Daten zum € und zur EU, Euro-Indikatoren. http: / / ec.europa.eu/ enlargement/ index_de.htm Offizielle Informationen zur Erweiterung der EU, auch Länderinformationen, Glossar mit wichtigen Begriffen. http: / / www.ceps.be Homepage des CEPS („Center for European Policy Studies“) in Brüssel. Unter „Research Areas“ finden sich die Bereiche „Economic Policy“ und „Financial Markets and Institutions“. Das CEPS ist eine der ECB Watcher. Veröffentlichungen zur EU und EWU, Verweis auf Veranstaltungen und Projekte. <?page no="27"?> NÜTZLICHE INTERNET-ADRESSEN ZUM EURO UND ZUR WÄHRUNGSUNION 28 http: / / www.euroeiiw.de Euro-Seite des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW): Stellungnahmen zu Fragen von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik aus gesamteuropäischer Perspektive, EU-Links, Lehrmaterial zu Fragen der EU-Integration. Blog zu EU- und EWU-Themen; Link zu EIIW-Kanal bei YouTube, EIIW-TV. http: / / www.eui.eu/ RSCAS/ Research/ Eurohomepage Euro-Homepage von G. Corsetti und P. Werner: aktuelle und grundlegende Informationen, Artikel und Diskussionspapiere zu den unterschiedlichsten Themen rund um den Euro und die EU; Geschichte des Euros; Verweis auf interessante Blogs. http: / / www.eui.eu/ DepartmentsAndCentres/ RobertSchumanCentre/ Research/ EconomicMonetaryPolicy/ EFN/ Index.aspx „European Forecasting Network“ verschiedener europäischer Wirtschaftsforschungsinstitute zur Prognose und Politikanalyse in der EWU; Veröffentlichung von Quartalsberichten zur wirtschaftlichen Lage in der EWU. http: / / www.dbresearch.de Behandlung von Fragen zur EU und EWU und ihre Auswirkungen auf die Finanzmärkte; Fokusthemen zu Deutschland, europäischer Integration und globalen Finanzmärkten. Interaktive Landkarten zur EWU. http: / / www.cesifo-group.de Unter der Rubrik „Fakten“ Angebot von Zeitreihen, Diagrammservice, Videos und Internet-Lectures. Diskussionsforum zu aktuellen Themen. Unter „European Economic Advisory Group“ (EEAG) Veröffentlichung eines jährlichen „Report on the European Economy“; Datenbank zu institutionellen Vergleichen in Europa (DICE). Publikationen und Verweis auf Veranstaltungen. http: / / www.enepri.org Homepage des „European Network of Economic Policy Research Institutes“; gemeinsame Plattform von 25 europäischen Forschungsinstituten. http: / / www.suerf.org „The European Money and Finance Forum“ <?page no="28"?> EU- UND EWU-LÄNDER 29 EU- und EWU-Länder (Stand 2014) Schweiz Österreich Italien Ukraine Moldawien Rumämien Bulgarien Griechenland Albanien Ungarn Tschechien Türkei Mazedonien Bosnien u. Herzegowina Kroatien Slowenien Portugal Spanien Frankreich Deutschland Luxemburg Vereinigtes Königreich Polen Dänemark Norwegen Schweden Irland Finnland Russ Weißrussland Litauen Lettland Estland Serbien u. Montenegro Euro-Länder EU-Länder mit Opting-Out-Klausel EU-Länder, die den Euro nicht eingeführt haben © wofma - Fotolia.com <?page no="29"?> 30 Einführung: Problemstellung und Überblick Das vorliegende Lehrbuch versucht, auf konsequente Weise, die seit 1999 beobachtbaren Neuerungen auf dem Gebiet der europäischen Geldpolitik herauszuarbeiten und mit traditionellen Einsichten zu kombinieren. So erfolgt die Diskussion der angemessenen geldpolitischen Strategie und des monetären Transmissionsprozesses vor dem Hintergrund bekannter Alternativen, aber unter Berücksichtigung der veränderten Rahmenbedingungen. Dies gilt insbesondere für die Auswirkungen der Finanz- und Staatsschuldenkrise, die das Eurosystem (und andere Zentralbanken) vor bislang nicht bekannte Herausforderungen stellt(e). Kapitel I liefert einen Überblick über den „Weg zur Währungsunion“. Sodann wird dargelegt, warum die Währungsunion zunächst mit 11 Ländern begann. In diesem Zusammenhang wird auch näher auf die Beitrittsbedingungen, die sog. Konvergenzkriterien und ihre „Umsetzung“ in Rahmen der bereits erfolgten Konvergenzprüfungen eingegangen. Angesichts der gravierenden Probleme im Gefolge der Immobilien-, Banken-, Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise(n) der letzten Jahre und den Problemen in einzelnen Ländern wird abschließend die Frage nach dem zukünftigen Weg der Europäischen Währungsunion aufgeworfen. Kapitel II behandelt den institutionellen Rahmen, in dem die einheitliche Geldpolitik operiert. Als erstes wird der Frage nachgegangen, weshalb es staatlicher Zentralbanken bedarf. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen der Aufbau und die Aufgaben des Eurosystems sowie die Analyse des Unabhängigkeitsaspektes. Für die Frage der Erwartungsbildung entscheidende institutionelle Bedingungen werden vor allem auch im Vergleich zum US-amerikanischen Federal Reserve System herausgearbeitet. Vor dem Hintergrund verschiedener Ebenen der Geldpolitik werden im zweiten Abschnitt von Kapitel III geldpolitische Strategien und deren Adäquanz für das Eurosystem diskutiert. Unter einer geldpolitischen Strategie versteht man das konzeptionelle Grundgerüst der Geldpolitik zur Erreichung der jeweiligen Ziele. Neben traditionellen zweistufigen Strategien wie etwa die Orientierung an der Geldmengenentwicklung werden beispielsweise auch die Strategie direkter Inflationssteuerung und ein sog. Multi-Indikatoren-Ansatz nach dem Vorbild des Federal Reserve Systems analysiert. Und letztlich erfolgt eine Analyse der vom Eurosystem eingeschlagenen Zwei-Säulen-Strategie vor dem Hintergrund der Argumente für oder gegen die verschiedenen Alternativen und der spezifischen Bedingungen in der EWU. Abschnitt 3 setzt sich mit dem geldpolitischen Instrumentarium des Eurosystems auseinander. Damit eine Zentralbank den Tagesgeldsatz kontrollieren kann, muss eine ausreichende Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank bestehen. Diese Nachfrage kann entweder durch eine mindestreservebedingte Zwangsnachfrage oder / und durch eine freiwillige Nachfrage für Zwecke des Zahlungsverkehrs (sog. Working Balances) erzeugt werden. Im Eurosystem bindet die Mindestreserve. Die Mindestreserve stabilisiert zum anderen durch ihre Ausgestaltung den Tagesgeldsatz. Im Rahmen der Refinanzierung der Kreditinstitute beim Eurosystem kommt mittlerweile - als Folge krisenbedingter Maßnahmen des Eurosystems - den längerfristigen Refinanzierungs- <?page no="30"?> EINFÜHRUNG: PROBLEMSTELLUNG UND ÜBERBLICK 31 instrumenten das größte Gewicht zu, die Hauptrefinanzierungsgeschäfte haben hingegen deutlich an Bedeutung verloren. Die einzelnen Instrumente werden charakterisiert, und ihre Wirkungsweise wird anhand der konsolidierten Bilanz, dem „Ausweis“ des Eurosystems, herausgearbeitet. Das entscheidende Operationsfeld der Geldpolitik ist der Geldmarkt. Bis zum Konkurs von Lehman im September 2008 stellte der Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft den Leitzinssatz für den Zins für Tagesgeld dar, seitdem wurde er vom Zinssatz für die Einlagefazilität abgelöst. Als Monopolanbieter von Zentralbankgeld kann das Eurosystem entweder den Preis (Zins) oder die Menge (Geldbasis) steuern, wobei das Eurosystem - wie weltweit alle maßgebenden Zentralbanken - am Preis (Tagesgeldzins) ansetzt. Die Geldbasis ist also - im Gegensatz zu häufig in der Literatur vorfindbaren Darstellungen - eine endogene Größe. Abschnitt 4 arbeitet vor dem Hintergrund der „Endogenität des Geldes“ die Vorteilhaftigkeit einer solchen Preis(Zins-) steuerung heraus und zeigt die Art und Weise, wie diese technisch umgesetzt wird. Der Tagesgeldsatz, der im Konzept des Eurosystems als operatives Ziel fungiert, stellt dann den Ausgangspunkt für den monetären Transmissionsprozess dar. Gegenstand dieses Transmissionsprozesses ist, wie die geldpolitischen Impulse von einer Änderung der Notenbankzinsen zu den gesamtwirtschaftlichen Endzielen übertragen werden. Er wird im Kapitel IV behandelt. Dabei muss vor allem auf die Frage eingegangen werden, welche - unter Umständen unterschiedlichen - nationalen Effekte eine einheitliche Geldpolitik auslöst und welche Übertragungskanäle in der Währungsunion eine stärkere bzw. schwächere Bedeutung haben werden. So leuchtet es unmittelbar ein, dass Wechselkursänderungen aufgrund des geringen Offenheitsgrades des Euro-Währungsgebietes nun eine geringere Rolle spielen. Auf der anderen Seite gibt es einige Argumente für eine zunehmende Relevanz eines erwartungsinduzierten Transmissionsprozesses und für eine mögliche Neueinschätzung des Kreditkanals. Darüber hinaus wird die Rolle von Unsicherheit, Risiko und Transparenz thematisiert. Neben der theoretischen Diskussion wird auch der mittlerweile recht umfangreichen empirischen Literatur zum monetären Transmissionsprozess Rechnung getragen. Erörtert werden auch Entwicklungen wie die „Sondermaßnahmen“ der EZB, die sie wegen der Beeinträchtigungen des monetären Transmissionsmechanismus infolge der jüngsten Krisen ergriffen hat. Schließlich ist Kapitel V möglichen Störpotenzialen für die einheitliche Geldpolitik des Eurosystems gewidmet. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Geld- und Finanzpolitik. Dabei werden die theoretischen Zusammenhänge vor dem Hintergrund der Vorschriften des EU-Vertrages und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes diskutiert. Diese versuchen, das traditionelle Konfliktpotenzial zu entschärfen. Ausführlich eingegangen wird auch auf die zeitweiligen selektiven Käufe von Staatsanleihen durch die EZB, zu denen sie sich wegen der Folgen von teilweise massiven Verletzungen der vertraglichen Schuldenbegrenzungen in einzelnen Mitgliedsländern gezwungen sah. Nichtsdestotrotz verbleiben Probleme unkoordinierter Geld- und Fiskalpolitiken, die letztlich in den Anreizen bestehen, sich der Staatsschuldenlast durch Inflationierung zu entledigen. <?page no="31"?> EINFÜHRUNG: PROBLEMSTELLUNG UND ÜBERBLICK 32 Des Weiteren muss auch die ebenfalls in nationalen Händen verbleibende Lohnpolitik die durch die Währungsunion veränderten Bedingungen beachten (Abschnitt 2). Tut sie dies nicht, sind von dieser Seite ebenfalls Probleme für die einheitliche Geldpolitik vorherbestimmt. Durch die einheitliche Geldpolitik und die gemeinsame Währung besteht keine Möglichkeit mehr, sich durch nationale Geldpolitik oder durch Abwertungen innerhalb des EWU-Raumes einen nationalen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Dementsprechend kommt der Berücksichtigung der jeweiligen Produktivitätsentwicklung bei den Lohnverhandlungen für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, speziell den weiteren Fortgang der Arbeitslosigkeit, verstärkte Bedeutung zu. Da diese Zusammenhänge in nicht wenigen Mitgliedsländern missachtet wurden, wurden in den letzten Jahren verstärkt Forderungen nach - eigentlich im EU-Vertrag nicht vorgesehenen - Transferleistungen laut. Als letzter Problembereich ist auf die Interaktion zwischen Geld- und Wechselkurspolitik einzugehen (Abschnitt 3). Letztere liegt in Händen des Ecofin-Rates, an dessen Vorgaben sich das Eurosystem zu orientieren hat. Sollte dieser über ein Wechselkurssystem einen förmlichen Beschluss fassen oder Wechselkurszielzonen einführen, könnte eine stabilitätsorientierte Geldpolitik über die dadurch ausgelösten Devisenmarktinterventionen beeinträchtigt werden. Diese Problematik wurde bei der Gestaltung der Wechselkursbeziehungen zwischen den Euro-Ländern und den nicht an der EWU teilnehmenden EU-Ländern, dem sog. WKM II (EWS II), von vorneherein entschärft. Die getroffene inhaltliche Auswahl deckt unseres Erachtens den Kernbereich der Europäischen Geldpolitik ab. Bei einem Lehrbuch, das ein Projekt zum Thema hat, das noch keine lange Historie aufweist und von einer dynamischen Entwicklung gekennzeichnet ist, besteht automatisch die Gefahr, dass man von den aktuellen Ereignissen „überholt“ wird. Deshalb haben wir versucht, über die Angabe einiger Internet-Seiten dem Leser die Möglichkeit zu bieten, sich aktuell über die Währungsunion und den Euro zu informieren. Jeder Abschnitt endet mit Übungsaufgaben zum Text, deren Beantwortung online unter www.europa-geldpolitik.de erfolgt, und einer kommentierten weiterführenden Literaturliste zu ausgewählten Aspekten. Am Ende des Buches haben wir zusätzlich noch ein ausführliches Literaturverzeichnis aufgenommen. Um dem interessierten Leser die Literaturbeschaffung zu erleichtern, verweisen wir dabei - wenn möglich - auf Internet-Adressen, unter denen die angegebenen Quellen abgerufen werden können. Ebenfalls aus didaktischen Gründen haben wir versucht, den Text nicht zu überfrachten, damit der „rote Faden“ nicht verloren geht. So finden sich in den einzelnen Kapiteln mehrere Boxen, die einen Begriffnäher erklären, einen Gedankengang vertiefen oder auch ein spezielles Problem ausführlicher beleuchten. Daneben haben wir uns zum Ziel gesetzt, theoretische Aussagen mit aktuellen Entwicklungen und Daten zu kombinieren. Dies spiegelt sich in einer Vielzahl von empirisch orientierten Schaubildern und Tabellen wider. Ein Glossarium wichtiger geldpolitischer Begriffe und eine Landkarte mit den EU- und EWU-Ländern runden das Buch ab. <?page no="32"?> Kapitel I Auswahl der Teilnehmerstaaten zur Europäischen Währungsunion „Die Errichtung einer Währungsunion bedeutet die unwiderrufliche Fixierung der Wechselkurse zwischen den beteiligten Währungen (mit der Möglichkeit ihrer späteren Ablösung durch eine einheitliche Währung) … . Die teilnehmenden Volkswirtschaften werden so auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden.“ Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion in Europa vom 6. September 1990 1 1 Deutsche Bundesbank, Informationsbriefe zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion Nr. 11 (Stellungnahmen der Deutschen Bundesbank zur Europäischen Währungsunion), April 1998, S. 5. <?page no="33"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 34 1 Zur Geschichte der Europäischen Währungsunion „Letztlich scheiterte das damalige WWU-Projekt (der Werner-Plan aus dem Jahre 1970, Anm. der Verfasser) jedoch an grundlegenden Meinungsunterschieden über die mit der WWU zu verfolgenden Ziele. Hinzu kamen unterschiedliche wirtschaftspolitische Reaktionen der Länder auf die erste Ölkrise und die fehlende Bereitschaft, sich einem gemeinsamen Stabilitätsziel zu unterwerfen.“ (Deutsche Bundesbank, 2004c, 12) Bereits im Jahre 1962 machte die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG) Vorschläge zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Da zur damaligen Zeit zum Einen das Festkurssystem von Bretton-Woods noch intakt war, zum Anderen in den Mitgliedstaaten die politische Bereitschaft für ein solches Vorhaben fehlte, wurden die Vorschläge der Kommission nicht umgesetzt. Als es im Verlauf der zweiten Hälfte der 60er Jahre jedoch zu zunehmenden Spannungen im Weltwährungssystem kam, schien eine engere wirtschafts- und währungspolitische Zusammenarbeit immer notwendiger. Im Februar 1969 legte die Kommission deshalb ein Memorandum vor. Darauf aufbauend erarbeitete eine Arbeitsgruppe unter Leitung des damaligen luxemburgischen Ministerpräsidenten Werner einen Plan zur Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion (Werner-Plan). Auf Grundlage des Werner-Plans verabschiedete der Ministerrat 1971 eine Grundsatzentscheidung über die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in 3 Stufen bis zum Jahr 1980. Da es nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973 und vor dem Hintergrund der ersten Ölpreiskrise nicht gelang, einheitliche Zielvorstellungen über eine gemeinsame Stabilitätspolitik zu formulieren, scheiterte aber auch dieser Anlauf zu einer WWU. Mitte der 1980er Jahre erlebte der Gedanke einer WWU eine Renaissance. Vertraglich verankert wurde das Ziel einer schrittweisen Verwirklichung der WWU in der Einheitlichen Europäischen Akte, die am 1. Juli 1987 in Kraft trat. Im darauf folgenden Jahr beauftragte der Europäische Rat eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Kommissionspräsident Delors, konkrete Schritte zur Umsetzung dieser Union zu prüfen. Auf Basis des erstellten Berichts (Delors-Bericht), der das Erreichen einer Wirtschafts- und Währungsunion in 3 Stufen vorsah, beschloss der Europäische Rat im Juni 1989, die Erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 zu beginnen. Dabei ging es insbesondere um die Einführung einer multilateralen Überwachung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die völlige Liberalisierung des Geld- und Kapitalverkehrs zwischen den EU-Mitgliedstaaten und die Vollendung des Gemeinsamen Binnenmarktes. Darüber hinaus fasste der Europäische Rat 1989 den Beschluss, eine Regierungskonferenz zur Vorbereitung der notwendigen Änderungen des EWG- Vertrags für die weiteren Schritte einzuberufen. 2 2 Ausführliche Darstellungen über Europas Weg zur Währungsunion finden sich etwa bei Arestis et al. (2001), Bonefeld (2001), Dyson (2002), Geigant (2002), Howarth (2001) und Howarth / <?page no="34"?> ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 35 Der Delors-Bericht war zwar die Grundlage, nicht aber der Startschuss für die Europäische Währungsunion. Auslöser dafür waren vielmehr die (noch immer Sommer 1989 nicht vorhersehbaren) Ereignisse, die zur deutschen Wiedervereinigung führten. Die Niederländische Zentralbank schreibt hierzu: „The creation of the internal market in the mid-eighties reinforced the call for a single currency. The otherwise cumbersome process of integration suddenly gained momentum when, in 1989, the fall of the Berlin Wall obliterated the political dichotomy in Europe. France and Germany, which from the outset had been driving forces behind the post-war process of European integration, reached a political compromise in which the unified Germany, in pursuit of more control in the global political arena, met the French desire to curb the Bundesbank’s monetary power in the same global arena through the foundation of a supranational European Central Bank.“ (De Nederlandsche Bank, 2001, 56 siehe hierzu etwa auch Howarth, 2001, 118-120). 3 1991 erarbeitete eine Regierungskonferenz einen Vertragsentwurf, der im Dezember 1991 in Maastricht vom Europäischen Rat gebilligt wurde (Vertrag von Maastricht). Dieser Vertrag trat nach Abschluss des innerstaatlichen Ratifikationsverfahrens am 1. November 1993 in Kraft. Der Maastrichter Vertrag erweiterte die Bestimmungen des EWG-Vertrages um Vorschriften über die stufenweise Weiterentwicklung der Gemeinschaft zu einer Wirtschafts- und Währungsunion und führte zu einer Umbenennung des EWG-Vertrages in einen Vertrag über die Europäische Gemeinschaft (EG-Vertrag). Box I.1.1.: Die Hauptorgane der EU Der Europäische Rat Der Europäische Rat (ER) ist das wichtigste Gremium der EU, denn hier werden alle Grundsatzentscheidungen getroffen. Der ER setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, er wird geleitet von einem durch den Vertrag von Lissabon neu eingeführten permanenten Präsidenten. An den Beratungen beteiligt sind darüber hinaus der EU-Kommissionspräsident sowie der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik. Der Präsident des Europäischen Parlaments wird zu Beginn der Gipfeltreffen angehört. Der ER übt eine Art Leitungsfunktion aus und be- Loedel (2003). Zu einem breiter angelegten Überblick über den europäischen Einigungsprozess siehe etwa Weidenfeld (2002a, 2002b) sowie Baldwin / Wyplosz (2009, insbes. Teil I). Eine Diskussion der Perspektiven der europäischen Integration vor dem Hintergrund clubtheoretischer Überlegungen findet sich bei Ohr (2003). 3 Zu den politischen Hintergründen siehe auch Bundesministerium des Innern (1998, 596 - 600, Dokumente Nr. 108 sowie 108a) und Der Spiegel (1998, 108 und 112). Auch in der Vergangenheit waren politische Gründe ausschlaggebend für die Gründung (und für den Zerfall) von Währungsunionen. „The strongest element in the formation of monetary unions in the past has been political. In the main they have been formed to facilitate political unification or in some cases the rationalisation of different currencies after political unification. … Equally, the principal cause of the break-up of monetary unions … can also be found in political developments.“ (Capie / Wood, 2003a, 3). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="35"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 36 stimmt laut EU-Vertrag die „allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten“ der Europäischen Union; er ist kein Legislativorgan, er gibt jedoch Anstöße für die konkrete EU-Gesetzgebung. Der ER tagt mindestens zweimal im Jahr und trifft sich im Rahmen von offiziellen Gipfeltreffen, daneben gibt es auch informelle Treffen. Im Zusammenhang mit der „Euro-Rettungspolitik“ (seit 2010) kommt der ER regelmäßig auch als „Euro-Gipfel“ zusammen. In dieser Zusammensetzung treffen sich nicht alle 28 Staats- und Regierungschefs, sondern nur die - im Moment - 17 Spitzenpolitiker aus den Ländern, die den Euro bereits eingeführt haben. Da die Euro-Rettung als „Chefsache“ behandelt wird, hat der ER in den letzten Jahren zusätzlich an Gewicht gewonnen; Kritiker sprechen deshalb auch von einer „Vergipfelung“ der Euro-Rettungspolitik. Jede Entscheidung über grundlegende Reformen, Änderungen der EU-Verträge oder Beschlüsse über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten müssen vom ER einstimmig gefasst werden. Der ER fungiert auch als Wahlgremium, wenn er z. B. den EU-Kommissionspräsidenten oder den Präsidenten der Europäischen Zentralbank bestimmt. Die Europäische Kommission Die EU-Kommission ist das zentrale „supranationale“ Organ der EU, das heißt, dass sie ihre Politik laut EU-Vertrag an „europäischen“ und nicht an den Interessen einzelner Mitgliedstaaten ausrichtet. Die Kommission übt vor allem „exekutive“ Aufgaben aus, sie wird deshalb häufig auch als „Regierung“ der EU beschrieben. Sie setzt sich zusammen aus je einem / r Kommissar / in pro Land, im Moment hat sie also 28 Mitglieder (Stand: 1. 7. 2013). Um die Zahl der Kommissionsmitglieder nicht mit jeder Erweiterung der EU erhöhen zu müssen, was die Arbeitsfähigkeit gefährden könnte, hat der EU-Vertrag ab 2014 ein Rotationsverfahren vorgesehen, wonach ein Drittel der Staaten auf einen Kommissar verzichten sollte. Im Mai 2013 hat der Europäische Rat jedoch einstimmig die geplante Verkleinerung der Kommission rückgängig gemacht und beschlossen, dass auch künftig jeder EU-Staat seinen Kommissar behalten darf. Vor allem für die kleinen EU- Staaten sind ein eigener Sitz und eine Stimme am Tisch der Kommission wichtig, weil sie befürchten, von den großen EU-Staaten dominiert zu werden. Jedes einzelne EU-Gesetz (Richtlinien und Verordnungen) geht auf einen Vorschlag der Kommission zurück, sie besitzt im normalen Gesetzgebungsverfahren ein „Initiativmonopol“. Auch im weiteren Legislativverfahren spielt die Kommission eine zentrale Rolle und auch bei der technischen Umsetzung von EU-Beschlüssen. Die EU-Kommission wird als „Motor der Integration“ beschrieben, weil sie traditionell für „mehr Europa“ eintritt. Darüber hinaus ist sie „Hüterin der Verträge“ und überwacht die Einhaltung von EU-Recht in den Mitgliedstaaten und kann bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht gegen die EU-Staaten klagen. Die Kommission ist darüber hinaus für den Haushalt der Europäischen Union verantwortlich und besitzt in einer Reihe von Politikbereichen die Hauptverantwortung, etwa im Bereich der Wettbewerbspolitik (Überwachung des Kartellverbots, Missbrauchsaufsicht, Fusionskontrolle und Kontrolle staatlicher Beihilfen). Auch in den Außenbeziehungen der EU spielt die Kommission eine wichtige Rolle, etwa in der Entwicklungspolitik und in der Handelspolitik mit Drittstaaten. Geleitet wird die Kommission von einem Präsidenten, der von den Staats- und Regierungschefs bestimmt und nach dem Vertrag von Lissabon (2009) vom Europäischen Parlament auf der Grundlage der Ergebnisse der Europawahlen gewählt wird. Die 28 Kommissare sind für unterschiedliche Aufgaben und Ressorts („Generaldirektionen“) verantwortlich (z. B. <?page no="36"?> ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 37 Wettbewerb, Klima, Energie, Wirtschaft und Finanzen). Im Zusammenhang mit den Reformen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und den Maßnahmen zur Stabilisierung der Eurozone (seit 2010) sind der Kommission neue Aufgaben in der operativen Politik übertragen worden, etwa in der wirtschaftspolitischen Koordinierung („Economic Governance“) und in der Überwachung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten („Europäisches Semester“). Die Kommission bildet zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) die „Troika“, die mit den Eurokrisenstaaten (z. B. Griechenland) die Reform- und Sparauflagen verhandelt und die Einhaltung der Beschlüsse überwacht. Der Rat (Ministerrat) Der Rat der EU ist zusammen mit dem Europäischen Parlament verantwortlich für die europäische Gesetzgebung, da beide Organe über die Gesetzesvorlagen der Kommission zu beschließen haben. Der Rat setzt sich zusammen aus je einem Vertreter (Minister) der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten; er trifft sich in unterschiedlicher Zusammensetzung: Je nach Materie, die verhandelt wird (Wirtschaft und Finanzen, Außen- und Sicherheitspolitik, Verbraucherschutz, etc.), treffen sich die zuständigen Fachminister aus den EU-Staaten. Der Rat ist das „Bindeglied“ zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und übt eine „Scharnierfunktion“ aus (Herdegen, 2013, 103). Der Vorsitz im Rat wechselt alle sechs Monate; Ausnahmen bilden der Rat für Auswärtige Angelegenheiten, dem seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik vorsitzt und die Euro-Gruppe, in der die Finanzminister der EU-Staaten versammelt sind, die den Euro als gemeinsame Währung bereits eingeführt haben. Die Eurogruppe wird von einem Vorsitzenden geleitet, der dieses Amt über mehrere Jahre hinaus ausübt. Die Euro- Gruppe trifft sich in der Regel vor den Sitzungen des Wirtschafts- und Finanzministerrates (sog. Ecofin-Rat). Da der Euro nicht in allen EU-Staaten als gemeinsame Währung genutzt wird, hat sich der Abstimmungsbedarf zwischen Euro-Staaten („Ins“), Nicht-Euro-Staaten („Outs“, z. B. Großbritannien) und den künftigen Euro-Staaten („Pre-Ins“, z. B. Litauen) erhöht, weil Fragen der künftigen Gestaltung der Währungsunion (z. B. Bankenunion) alle drei Kategorien von Staaten betreffen. Der Rat ist das wichtigste Gremium für die Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten; für das Alltagsgeschäft der zum Teil langwierigen Entscheidungsprozesse sind die Ständigen Vertreter („Botschafter“) der EU-Staaten verantwortlich. Das Gremium der Botschafter ist nach der französischen Abkürzung unter dem Begriff „Coreper“ bekannt. Daneben sind die Fachbeamten in den zahlreichen Ausschüssen und Arbeitsgruppen des Rates und nicht zuletzt das Generalsekretariat des Rates für Erfolg oder Misserfolg der Verhandlungen verantwortlich. Der Rat ist darüber hinaus zuständig für die Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten; da die Wirtschaftspolitik - im Unterschied zur Geldpolitik in der Eurozone - nicht vergemeinschaftet ist, gewinnt die Koordinierung hier immer mehr an Bedeutung. Obwohl die Verantwortung für die Finanz- und Lohnpolitik bei den Mitgliedstaaten liegt, ist spätestens durch die europäische Staatsschuldenkrise klar geworden, dass die Politik einzelner Euro-Staaten ganz konkrete Auswirkungen auf die anderen europäischen Länder haben kann. Die wirtschaftlichen Verflechtungen in der Eurozone sind, z. B. im Bankensystem, so groß, dass die problematische haushaltspolitische Lage in Griechenland und Portugal als „gesamteuropäisches“ Problem wahrgenommen wird. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="37"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 38 Die Abstimmung im Rat erfolgt nach unterschiedlichen Verfahren und Regeln; durch den Vertrag von Lissabon wurde das sogenannte Ordentliche Gesetzgebungsverfahren eingeführt. Es trat in die Stelle des „Mitentscheidungsverfahrens“. In dem neuen Verfahren verfügt das Europäische Parlament über eine „Veto-Macht“ und kann Entscheidungen blockieren. In den meisten Fällen wird im Rat einstimmig oder mit „qualifizierter Mehrheit“ entschieden. Das Prinzip der qualifizierten Mehrheit versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass in der EU, gemessen an der Einwohnerzahl, „große“ (Deutschland mit ca. 82 Mio. Einw.) und „kleine“ (Luxemburg mit ca. 500.000 Einw.) Staaten vereinigt sind, die formal gleichgestellt sind, bei Abstimmungen jedoch Mehrheitsentscheidungen möglich sein sollen. Im Vertrag von Lissabon wurde eine Neuregelung der Beschlussfassung im Rat vereinbart, die ab dem 1. 11. 2014 in Kraft treten soll. Nach den neuen Regelungen gilt, dass jedes der 28 EU-Staaten eine Stimme hat und hinter einem Beschluss, der mit „qualifizierter Mehrheit“ getroffen wird, eine „doppelte Mehrheit“ stehen muss: 55 % der Mitglieder des Rates, also mindestens 15 EU-Staaten und 65 % der gesamten EU- Bevölkerung (Herdegen, 2013, 108). Trotz der Möglichkeit, nach dem Mehrheitsprinzip zu entscheiden, wird im Rat häufig versucht, mit den Regierungen, die eine Entscheidung zunächst nicht mittragen können, so lange zu verhandeln oder „Tauschgeschäfte“ anzubieten, dass am Ende ein Konsens möglich ist. Da zu jedem Zeitpunkt jedoch eine Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip herbeigeführt werden könnte, steigt die Kompromissbereitschaft der Verhandlungsdelegationen. Das Europäische Parlament (EP) Das Europäische Parlament ist das einzige, von den Bürgerinnen und Bürgern der EU- Mitgliedstaaten direkt gewählte Organ der Europäischen Union. Die Abgeordneten werden für fünf Jahre auf der Basis des nationalen Wahlrechts gewählt; die erste Direktwahl fand 1979 statt, davor wurden die Abgeordneten von den nationalen Parlamenten in das EP entsandt. Zusammen mit der Kommission und dem Rat ist das Europäische Parlament zuständig für die EU-Gesetzgebung. Seit dem Beitritt Kroatiens zur EU am 1. 7. 2013 hat das EP 766 Abgeordnete, mit den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 verringert sich die Zahl auf 751. Die Zahl der Mandate, die jedem EU-Land zustehen, hängt ab von seiner Bevölkerungszahl: Deutschland entsendet ab 2014 96 Abgeordnete nach Brüssel bzw. Straßburg und ein „kleines“ Land wie Malta nur sechs. Das Europäische Parlament hat seine Mitwirkungs- und Kontrollrechte seit dem Vertrag von Maastricht (1993) stetig ausbauen können; es ist heute in fast allen Bereichen als Mitgesetzgeber tätig und kann auch - im Rahmen des sog. Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens - Entscheidungen mit entsprechender Mehrheit blockieren; das gilt für den gesamten Bereich der Binnenmarktpolitik, aber auch in der Europäischen Justiz- und Innenpolitik wurden die Kontrollrechte des EP gestärkt. Die größere Bedeutung des EP in fast allen Bereichen der EU-Politik wird von den Medien und den Bürgern erst langsam wahrgenommen. Da in der Eurokrisenpolitik das Europäische Parlament bislang eine untergeordnete Rolle gespielt hat, kam eine Debatte um ein „Demokratiedefizit“ der Krisenpolitik auf, weil diese im Wesentlichen vom Europäischen Rat und den Staats- und Regierungschefs bestimmt wird. Europäischer Gerichtshof (EuGH) Der EuGH ist für die Wahrung des EU-Rechts, seine Anwendung und die Auslegung des Gemeinschaftsrechts verantwortlich. Der EuGH setzt sich zusammen aus 28 Richtern; <?page no="38"?> ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 39 aus jedem EU-Staat wird ein Richter nach Luxemburg, dem Sitz des Europäischen Gerichtshofs, entsandt. Zu seinen Aufgaben gehören neben der Auslegung des EU-Vertrags wie auch des gesamten EU-Rechts, die Fortbildung von Unionsrecht, die Kontrolle der EU-Gesetze (sog. Sekundärrecht) vor dem Hintergrund des höherrangigen Primärrechts (EU-Vertrag) sowie die Kontrolle der EU-Mitgliedstaaten (Herdegen, 2013, 140). Eine wichtige Rolle spielt hier das „Vorabentscheidungsverfahren“, in dem Gerichte in den Mitgliedstaaten konkrete Fälle, die einen europarechtlichen Bezug haben, dem EuGH zur „Vorabentscheidung“ vorlegen und eine Bewertung einholen. Durch dieses System soll sichergestellt werden, dass EU-Recht in allen Mitgliedstaaten einheitlich interpretiert und angewandt wird. Neben dem EuGH bilden das Gericht (frühere Bezeichnung: Gericht erster Instanz) und die Fachgerichte (Gericht für den öffentlichen Dienst der EU) das System der rechtlichen Überwachung der EU. Der EuGH prägte die „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Gemeinschaft durch wegweisende Urteile (z. B. „Cassis de Dijon“ von 1979); er hat damit den Status der EU als Rechtgemeinschaft gefestigt. Im Zusammenhang mit der Euro-Krisenpolitik hat der EuGH 2012 das „Pringle“-Urteil gefällt und festgestellt, dass die Euro-Rettungsmaßnahmen (Europäischer Stabilitätsmechanismus ESM) mit dem EU-Recht vereinbar seien. Box erstellt von Martin Große Hüttmann (Universität Tübingen) Im Gegensatz zur Währungsunion, die zu einer Vergemeinschaftung der Geldpolitik führte, basiert die Wirtschaftsunion im Kern auf dem Subsidiaritätsgedanken. Die Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik und der Finanzpolitik verbleiben danach grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten. Allerdings ist eine Überwachung durch den Ecofin-Rat vorgesehen. Der Ecofin-Rat gibt Empfehlungen zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und überprüft deren Einhaltung. Zum 1. Januar 1994 begann die Zweite Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. In dieser Stufe ging es insbesondere um das Verbot der Notenbankfinanzierung öffentlicher Haushalte und die Gründung des Europäischen Währungsinstituts (EWI) als Vorläuferinstitut der EZB. Es diente zur Intensivierung der geldpolitischen Koordinierung und der Schaffung der technischen Voraussetzungen für den Eintritt in die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Spätestens zu Beginn des Jahres 1999 sah der Vertrag von Maastricht den Übergang in die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion vor. 4 An der Währungsunion sollten diejenigen Länder der EU teilnehmen, die bestimmten Eintrittskriterien („Konvergenzkriterien“) genügten. Aus ökonomischer Sicht liegt der Nutzen einer Währungsunion vor allem in einer Senkung der Transaktionskosten, in einer Verminderung von Wechselkursschwankungen und der damit verbundenen Unsicherheit (Schwankungen des nominalen Wechselkurses innerhalb der Währungsunion entfallen) sowie in einer größeren Preistransparenz, die zu mehr Wettbewerb führt. Die Kosten einer Währungsunion liegen in einem Verzicht der einzelnen Mitgliedstaaten auf 4 Die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) wird im Folgenden auch als Währungsunion bezeichnet (kurz: EWU). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="39"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 40 den autonomen Einsatz der Geld- und Wechselkurspolitik bei asymmetrischen Schocks (siehe hierzu auch die nachfolgende Box I.1.2., Eijffinger / De Haan, 2000, 16 - 26 und speziell bezogen auf die Staatsfinanzkrise de Grauwe, 2012a). Box I.1.2: Ist die EWU ein Optimaler Währungsraum? 5 Die Frage nach dem „Optimalen Währungsraum“ ist letztlich die Frage danach, ob es sich für eine Gruppe von Ländern lohnt, sich zu einer Währungsunion zusammenzuschließen. Dies ist dann der Fall, wenn der Nutzen / die Vorteile einer Währungsunion deren Kosten / Nachteile übersteigen. Vorteile einer Währungsunion: Verminderung der Transaktionskosten (z. B. Kosten des Währungsmanagements, ◼ Umtausch- und Kurssicherungskosten) durch eine einheitliche Währung. Schwankungen des nominalen Wechselkurses und dadurch bedingte Unsicherheiten ◼ entfallen. Preistransparenz steigt, was zu mehr Wettbewerb und damit zu einem effizienteren ◼ Ressourceneinsatz führt. „Mit der Wirtschafts- und Währungsunion wurden die Voraussetzungen für erhebliche potenzielle Wohlstands- und Wohlfahrtsgewinne der Teilnehmerländer geschaffen. Die Einführung einer gemeinsamen Währung hat vor allem die Wechselkursschwankungen zwischen den Euro-Ländern beseitigt, wodurch die Transaktionskosten gesenkt und die grenzüberschreitende Preistransparenz erhöht wurde; dies fördert den Handel und letztlich eine stärkere wirtschaftliche Integration“ (EZBa, 2005a, 65). Kosten einer Währungsunion: Verzicht der einzelnen Mitgliedstaaten auf einen autonomen Einsatz der Geld- und ◼ Wechselkurspolitik. Inwieweit diese Kosten ins Gewicht fallen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst kommt hier der Frage, inwieweit angebotsbzw. nachfrageseitige asymmetrische Schocks auftreten, eine entscheidende Rolle zu. Asymmetrische Schocks sind Schocks, die nur einzelne Länder in einer Währungsunion oder die Länder insgesamt unterschiedlich treffen. Je gravierender asymmetrische Schocks sind, umso höher sind ceteris paribus die Kosten, die dadurch entstehen, dass ein Land nicht individuell auf solche Schocks durch den Einsatz der Geld- und Wechselkurspolitik reagieren kann. Die für das gesamte Währungsgebiet zuständige Zentralbank kann nämlich nicht auf die Verhältnisse in einem einzelnen Land Rücksicht nehmen, sondern muss sich stets am gesamten Währungsraum ausrichten. Die „Theorie des optimalen Währungsraumes“ hat nun Kriterien herausgearbeitet, anhand derer beurteilt werden kann, wann - bei gegebenem Nutzen - die Bildung einer Währungsunion bzw. ein Beitritt zu einer Währungsunion für ein Land unter Kostengesichtspunkten vertretbar bzw. vorteilhaft ist. 5 Vgl. hierzu insbesondere Baldwin / Wyplosz (2009, Kap. 16), ferner De Grauwe (2012a, Teil 1), Hitiris (2003, Kap. 6), Krugman / Obstfeld / Melitz (2012, Kap. 20), Mongelli (2002). <?page no="40"?> ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 41 1. Preis- und Lohnflexibilität sowie Faktormobilität Je höher die Preis- und Lohnflexibilität bzw. die Faktormobilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) innerhalb einer Währungsunion ist, um so geringer sind die realen Kosten von negativen asymmetrischen Schocks in Form von Arbeitslosigkeit, da Preis- und Lohnanpassungen bzw. die Wanderung von Arbeitskräften dem entgegenwirken. 2. Diversifikation der Produktion Je diversifizierter, d. h. je weniger spezialisiert auf nur einige Produkte (z. B. Rohstoffe), und je ähnlicher die Produktionspalette der Länder, die eine Währungsunion bilden, ist, um so geringer ist das Problem negativer gesamtwirtschaftlicher Auswirkungen von (nachfrageseitigen) asymmetrischen Schocks. 3. Offenheitsgrad der Volkswirtschaften Je offener - etwa gemessen am Anteil der Im- und Exporte am BIP - die zu einer Währungsunion gehörenden Volkswirtschaften sind, umso entbehrlicher werden - bei flexiblen Preisen - nominale Wechselkursanpassungen als Reaktion auf asymmetrische Schocks. Je offener die Volkswirtschaften sind, umso intensiver ist der Handel. Bei den gehandelten Gütern herrscht, in einer Währung gerechnet, ein einheitlicher Preis. Unterstellt man flexible Preise sind bei offenen, d. h. stark miteinander verflochtenen Volkswirtschaften Wechselkursanpassungen überflüssig, da asymmetrische Schocks über flexible Preise aufgefangen werden. 4. Homogene Präferenzen, gemeinsame Interessen Ein Beitritt zur Währungsunion ist umso eher ins Auge zu fassen, je homogener die Präferenzen der beteiligten Länder sind, auf Schocks in einer bestimmten Weise zu reagieren und je größer die Bereitschaft ist, Kosten für das Gelingen der Währungsunion in Kauf zu nehmen. In der Literatur findet sich daneben häufig das Argument, dass es auch wichtig sei, dass ein Finanzausgleich zwischen den Ländern der Währungsunion existiert, um im Falle von asymmetrischen Schocks die davon betroffenen Länder mit Transferzahlungen zu unterstützen. Die empirische Evidenz für die Länder der EWU ist gemischt (vgl. im Einzelnen Mongelli, 2002, 17 - 27 sowie Horvath, 2003; Dellas / Tavlas, 2009; Emons, 2011; Fürrutter, 2012). So ist die Korrelation des Auftretens von Schocks höher bei den Ländern, die in der Mitte bzw. im Kern Europas liegen (Belgien, Frankreich, Österreich, Deutschland, Niederlande, Dänemark und Luxemburg). Innerhalb der EWU ist die Preis- und Lohnflexibilität sowie die Mobilität der Arbeitskräfte eher geringer ausgeprägt und ein Finanzausgleich zur Kompensation der Wirkungen von exogenen Schocks existiert (nahezu) nicht. Der Grad der Offenheit sowie die Diversifikation der Produktion ist hingegen hoch. Die Staatschuldenkrise seit 2010 führte aber auch zu mehr Einsicht in das ökonomisch Notwendige für Länder, die sich in einer gemeinsamen Währungsunion befinden (Fiskalpakt 2012, Europäischer Stabilität Mechanismus (ESM), Rolle der Geldpolitik in der Krise). Die Schaffung der Europäischen Währungsunion war anfangs der 1990er aber weniger ökonomisch geboten, sondern vielmehr politisch gewollt. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="41"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 42 Am 31. 12. 1998 wurden zwischen dem Euro und den nationalen Währungen der 11 Startländer unwiderruflich feste Umrechnungskurse festgelegt (siehe Tabelle I.1.1). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben musste der Wert des € in US-$ zum 1. 1. 1999 dem des ECU-Währungskorbs am 31. 12. 1998 entsprechen. 6 Der US-$-Wert des ECU-Währungskorbes errechnete sich, indem die einzelnen nationalen Währungsbeträge des ECU-Korbs zum 31. 12. 1998 in US-$ umgerechnet wurden (ausgehend vom Währungsbeitrag der DM im ECU-Korb, also 0,6242 DM, errechnete sich ein US-$-Wert von 0,6242 DM · 0,59655193 US-$ / DM = 0,3723677 US-$). Die Addition der Gegenwerte der nationalen Währungsbeträge in US-$ ergaben den US-$-Wert des ECU-Korbs (1,1667521 US-$ / ECU), der zugleich dem Startwert des € entsprach. Der Wert einer jeden nationalen Währung in € errechnete sich, indem der US-$-Wert des € (1,1667521 US-$ / €) mit dem Wechselkurs der nationalen Währung gegenüber dem US-$ am 31.12.1998 (1,6763 DM / US-$) multipliziert wurde (1,1667521 US-$ / € · 1,6763 DM / US-$ = 1,95583 DM / €). Die letzte Anpassung der Zusammensetzung der im ECU-Währungskorb enthaltenen Währungseinheiten erfolgte 1989. Die Währungen, die im ECU-Korb enthalten waren, richteten sich also nach den Ländern, die 1989 Mitglied der EU waren. Anhand der Währungsbeiträge dieser Währungen im ECU-Währungskorb wurde dann der Startwert des Euro zum 1. 1. 1999 „ermittelt“. Im ECU-Währungskorb waren zum 31. 12. 1998 einerseits Währungen von Ländern enthalten, die zum 1. 1. 1999 nicht im Euro aufgingen (das Britische Pfund, die Dänische Krone und die Griechische Drachme), andererseits waren aber die Währungen von Finnland und Österreich nicht im ECU-Währungskorb enthalten (siehe Tabelle I.1.1). Diese Länder sind zwar zum 1. 1. 1999 der Währungsunion beigetreten, waren aber 1989 - bei der letzten Anpassung des ECU-Währungskorbs - noch nicht Mitglied der EU. Letztlich wurde also der Wert des Euro durch die Zusammensetzung des ECU-Währungskorbes aus dem Jahre 1989 - mehr oder minder willkürlich - politisch gesetzt. Während einer dreijährigen Übergangsfrist, also bis zum 31. 12. 2001, war der Euro nur als Buchgeld verfügbar. Zu Beginn des Jahres 2002 wurde er dann auch als Bargeld (Banknoten und Münzen) eingeführt. 7 2014 startet der Euro-Zahlungsverkehrsraum, in dem alle Euro-Zahlungen wie inländische Zahlungen behandelt werden (siehe nachstehende Box I.1.3) 6 Der „ECU“ war von 1979 bis 1998 die Rechnungseinheit der Europäischen Gemeinschaften (EG) bzw. der später Europäischen Union (EU) und Vorläufer des Euro. 7 Die Deutsche Bundesbank tauscht zeitlich unbefristet und betragsmäßig unbeschränkt auf DM lautende Banknoten zum festen Umtauschkurs (1,95583 DM je €) in Euro um. <?page no="42"?> ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 43 Tabelle I.1.1: Berechnung des ECU-Wertes zum 31. 12. 1998 Währung Betrag der im ECU- Währungskorb enthaltenen nationalen Währungseinheiten (a) Wechselkurse gegenüber dem US-Dollar am 31. Dezember 1998 (b) Gegenwert des nationalen Währungsbetrags in US-Dollar (c) = (a) ÷ (b) ECU-Wechselkurse (d) = (USD / ECU) x (b) DEM 0,6242 1,6763000000 0,3723677 1,95583 BEF 3,301 34,574525650 0,0954749 40,3399 LUF 0,13 34,574525650 0,0037600 40,3399 NLG 0,2198 1,8887542620 0,1163730 2,20371 DKK 0,1976 6,3842 0,0309514 7,44878 GRD 1,44 282,57 0,0050961 329,689 ITL 151,8 1659,5403526 0,0914711 1936,27 ESP 6,885 142,60652886 0,0482797 166,386 PTE 1,393 171,82913150 0,0081069 200,482 FRF 1,332 5,6220755180 0,2369232 6,55957 GBP a) 0,08784 1,6539 0,1452786 0,705455 IEP a) 0,008552 1,4814687984 0,0126695 0,787564 USD / ECU b) = 1,1667512 FIM 5,0959687630 5,94573 ATS 11,793642176 13,7603 SEK 8,1320 9,48803 Quelle: EZB, 1999b, 75. Anmerkungen: a) Der Wechselkurs des US-Dollar in Spalte (b) zum Pfund Sterling und zum irischen Pfund wird von Haus aus gemäß der Mengennotierung als US-Dollar-Gegenwert pro Währungseinheit und nicht als Währungseinheit pro US-Dollar (Preisnotierung) wie bei den anderen Währungen angegeben. Der für diese beiden Währungen jeweils in Spalte (c) angegebene Betrag ergibt sich daher aus der Multiplikation des Betrags in Spalte (a) mit dem Kurs in Spalte (b), während sich der jeweils in Spalte (d) angegebene Kurs aus der Division des US-Dollar-Gegenwerts der ECU (d. h. USD / ECU) durch den in Spalte (b) angegebenen Kurs ergibt. b) Der Kurs der ECU gegenüber dem US-Dollar ist auf sieben Dezimalstellen gerundet angegeben, bei der Berechnung wurde aber ein höherer Genauigkeitsgrad gewählt. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="43"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 44 Box I.1.3: SEPA (Single Euro Payments Area) Kurzerklärung: Einheitlicher Euro-Zahlungsverkehrsraum, in dem alle Euro-Zahlungen wie inländische Zahlungen behandelt werden. Ausführliche Erklärung: 1. Begriff und Dimension: SEPA ist die Abkürzung für Single Euro Payments Area (Einheitlicher Euro-Zahlungsverkehrsraum), in dem alle Euro-Zahlungen wie inländische Zahlungen behandelt werden. Mit SEPA wird nicht mehr zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen unterschieden. Nutzer von Zahlungsverkehrsdienstleistungen können mit SEPA bargeldlose Euro-Zahlungen von einem einzigen Konto vornehmen und hierbei einheitliche Zahlungsinstrumente (SEPA-Überweisung, SEPA- Lastschrift) ebenso einfach, effizient und sicher einsetzen wie die heutigen Zahlungsverkehrsinstrumente auf nationaler Ebene. SEPA betrifft jedes Kreditinstitut und jeden Kontoinhaber, ganz gleich ob Privatperson, Wirtschaftsunternehmen oder Verein. Der SEPA-Raum besteht aus den 28 EU-Staaten, den weiteren EWR-Ländern Island, Liechtenstein und Norwegen sowie der Schweiz und Monaco. 2. Zielsetzungen: Die Einwohner des Euroraums können seit 2002 Barzahlungen im gesamten Eurowährungsgebiet ebenso einfach durchführen wie zuvor mit der nationalen Währung im eigenen Land. Die Einführung des Euro führte jedoch noch nicht zur Verwirklichung eines Binnenmarktes im unbaren Zahlungsverkehr. Die Zahlungsverkehrsmärkte in Europa sind immer noch stark fragmentiert. So verfügt jedes Land über eigene technische Standards, z. B. in Bezug auf die Kontonummern-Systematik oder das Datenformat für den Zahlungsaustausch. Des Weiteren sind die einzelnen Zahlungsverfahren in jedem Land unterschiedlich ausgestaltet. So bestehen z. B. deutliche Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen Lastschriftverfahren. Mit SEPA wird die Währungsunion für den Binnenmarkt abgeschlossen. Die traditionellen Strukturen der bisherigen nationalen Zahlungsverkehrsmärkte werden aufgebrochen. Künftig wird es in Europa einheitliche Verfahren und Standards geben, sodass jeder Kunde Überweisungen, Lastschriften und Kartenzahlungen in einheitlicher Weise überall in Europa einsetzen kann. Durch die Harmonisierung können die Bankkunden ihren gesamten Euro-Zahlungsverkehr über eine beliebige Bank im Euroraum abwickeln. Die Abschottung der bisherigen nationalen Märkte wird zugunsten eines europaweiten Zahlungsverkehrsmarktes aufgehoben und europaweiter Wettbewerb geschaffen. SEPA betrifft also nicht nur den grenzüberschreitenden Eurozahlungsverkehr, sondern soll zu einer vollständigen Integration der nationalen Zahlungsverkehrsmärkte führen. 3. Beteiligte: Im Jahr 2002 erklärte das europäische Kreditgewerbe in einem „Weißbuch“ seine Absicht, einen einheitlichen Zahlungsverkehrsraum in Europa zu schaffen. Zur Steuerung dieser Aktivitäten wurde ebenfalls im Jahr 2002 der Europäische Zahlungsverkehrsrat (European Payments Council (EPC)) gegründet. Der EPC entwickelte die gemeinsamen europäischen Regeln für SEPA-Überweisungen und SEPA-Lastschriften. Auf nationaler Ebene begleitet das deutsche Kreditgewerbe im Rahmen der Deutschen Kreditwirtschaft (DK) unter Mitwirkung der Deutschen Bundesbank die Arbeiten. Zu diesem <?page no="44"?> ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 45 Zweck wurde die EPC-Gremienstruktur national „gespiegelt“. Die Deutsche Bundesbank und die übrigen Zentralbanken des Eurosystems fördern den SEPA-Prozess und begleiten die Arbeiten des Kreditgewerbes aktiv im Rahmen ihrer politischen „Katalysator“-Funktion. Die Bundesbank fungiert als Bindeglied zwischen dem deutschen Kreditgewerbe und dem Eurosystem. Um die reibungslose Einführung von SEPA in Deutschland zu erleichtern, hat die Deutsche Bundesbank zusammen mit dem Bundesministerium der Finanzen den SEPA-Rat ins Leben gerufen, in dem sowohl die Anbieterseite (vor allem die Deutsche Kreditwirtschaft) als auch die Nachfrager (u. a. Unternehmen, Handel, Verbraucherinnen und Verbraucher sowie öffentliche Verwaltungen) vertreten sind. 4. Zeitplanung: Am 28. Januar 2008 wurde die SEPA-Überweisung und am 2. November 2009 die SEPA-Lastschrift eingeführt. Ursprünglich sollten sich die SEPA-Verfahren im Wege eines marktgetriebenen Prozesses etablieren. Gleichwohl dominieren in fast allen Euro-Ländern nach wie vor die gewohnten nationalen Verfahren. Um einen ineffizienten Parallelbetrieb alter und neuer Zahlverfahren zu vermeiden, war ein Auslauftermin für die nationalen Verfahren notwendig. Da sich die an SEPA beteiligten Zahlungsdienstleister untereinander nicht auf einen verbindlichen Auslauftermin einigen konnten, sah sich der europäische Gesetzgeber genötigt, diesen per Verordnung zu erlassen. Mit der am 31. März 2012 in Kraft getretenen SEPA-Verordnung hat der europäische Gesetzgeber einen gemeinsamen Auslauftermin festgelegt. Dieser gilt sowohl für Unternehmen, öffentliche Verwaltungen, Vereine als auch für alle Verbraucherinnen und Verbraucher. Ab Februar 2014 müssen die in den Euro-Ländern angebotenen Verfahren für Überweisungen und Lastschriften grundsätzlich die in der SEPA-Verordnung definierten Anforderungen erfüllen und damit auf einer europaweit einheitlichen Basis stehen. Diese technischen Anforderungen erfüllen zurzeit allein die SEPA-Verfahren. Ab 1. Februar 2014 dürfen Banken, Sparkassen und Zahlungsinstitute keine Überweisungen und Lastschriften mehr in den nationalen Formaten annehmen. Für Privatpersonen heißt dies nur, dass sie künftig die IBAN - International Bank Account Number - (und bei grenzüberschreitenden Überweisungen bis Februar 2016 noch den BIC - Business Identifier Code) statt Kontonummer und Bankleitzahl benutzen müssen. Bei Unternehmen ist die Umstellung komplizierter, denn bei ihnen ist der Zahlungsverkehr zumeist in die gesamte Software-Architektur des Hauses eingebunden. Der Auslauftermin für Mitglieder der Europäischen Union, die den Euro nicht als Landeswährung verwenden, ist der 31. Oktober 2016. Wird der Euro in einem dieser Mitgliedstaaten jedoch vor dem 31. Oktober 2015 als Währung eingeführt, müssen die betreffenden Anforderungen binnen eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Beitritts zum Euroraum umgesetzt werden. 5. Besonderheiten in Deutschland: Bis Februar 2016 können Zahlungsdienstleister von Verbraucherinnen und Verbrauchern weiterhin die bekannten althergebrachten Kontokennungen (Kontonummer und Bankleitzahl) entgegennehmen und diese kostenlos und sicher in IBAN und BIC umwandeln. Des Weiteren bleibt das Elektronische Lastschriftverfahren (ELV) bis zum 1. Februar 2016 weiter bestehen. Beim ELV wird an der Ladenkasse mittels einer Zahlkarte eine Einzugsermächtigung, die der Kunde unterzeichnet, und ein Datensatz zum Einzug der Lastschrift generiert. Box erstellt von Jochen Metzger (Deutsche Bundesbank). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="45"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 46 2 Zur „politischen“ Praxis der Konvergenzprüfung „Für den Gesamterfolg der angestrebten Wirtschafts- und Währungsunion wird es von zentraler Bedeutung sein, dass bei den 1996 beziehungsweise 1998 anstehenden Gemeinschaftsentscheidungen über die Auswahl der für die Teilnahme an der WWU in Frage kommenden Länder allein auf die stabilitätspolitische Leistungsfähigkeit abgestellt wird.“ Stellungnahme des Zentralbankrates der Deutschen Bundesbank vom 23. Januar 1992 Für einen Beitritt zur EU entscheidend ist die Erfüllung der sog. Kopenhagener Kriterien, die in drei Bereiche untergliedert sind. Das politische Kriterium erfordert die Existenz institutioneller Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten. Das wirtschaftliche Kriterium bezieht sich darauf, dass ein Beitrittsland eine funktionsfähige Marktwirtschaft aufweisen soll sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerb und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Schließlich berücksichtigt das Kriterium der Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes (des sog. „Acquis Communautaire“) die Fähigkeit eines Landes, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Währungsunion zu eigen zu machen. Da es für die seit 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten keine Opting-Out-Klauseln gibt (EZB, 2000a, 48), verpflichteten sich diese Länder mit dem Beitritt zur EU, zu einem späteren Zeitpunkt den Euro einzuführen. Die Teilnahme an der Währungsunion setzt allerdings die Erfüllung der (nominalen) Konvergenzkriterien des EG-Vertrages voraus. Die Anpassung der nationalen Zentralbankgesetzgebung an die Anforderungen des Eurosystems (Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken; Integration der nationalen Zentralbanken in das Europäische System der Zentralbanken) war dagegen bereits für den EU-Beitritt erforderlich. Im offiziellen Schlussprotokoll des Wiener Seminars zum EU-Beitrittsprozess (14. - 15. 12. 2000) wurde ausdrücklich nochmals auf die Teilnahmebedingungen für die dritte Stufe der Europäischen Währungsunion Bezug genommen. Es wurde folgende Schlussfolgerung gezogen: „Voraussetzung für den Beitritt zum Euroraum wird die Erfüllung der Konvergenzkriterien sein. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verlangt die strikte und nachhaltige Erfüllung dieser Kriterien; hierbei werden für künftige Mitglieder des Euroraumes dieselben Maßstäbe angelegt werden wie für die Staaten, die dem Euroraum bereits angehören.“ (EZB, 2001e, 117). Die Erfahrungen mit der Konvergenzprüfung lassen allerdings erhebliche Zweifel an der These einer „strikten und nachhaltigen Erfüllung“ der Konvergenzkriterien als Voraussetzung für einen Beitritt zur Währungsunion aufkommen. <?page no="46"?> ZUR „POLITISCHEN“ PRAXIS DER KONVERGENZPRÜFUNG 47 2.1 Konvergenzkriterien Jedes Land, welches der Währungsunion beitreten will, muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Im Einzelnen ergeben sich aus der Anwendung des Vertrages folgende Eintrittsbedingungen: 1. Die durchschnittliche jährliche Inflationsrate eines Landes darf im Jahr vor der Prüfung um nicht mehr als eineinhalb Prozentpunkte über dem ungewogenen arithmetischen Mittel der Inflationsrate der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten der EU liegen (Inflationskriterium). Ermittelt wird die Inflationsrate eines Landes auf der Grundlage Harmonisierter Verbraucherpreisindizes (HVPIs). Der Referenzzeitraum entspricht i. d. R. nicht dem Kalenderjahr. Diese vor der Währungsunion sinnvolle Formulierung sollte inzwischen ersetzt werden durch einen an der EWU- Inflationsrate orientierten Referenzwert (z. B. die Definition von Preisstabilität durch das Eurosystem). Auch der Balassa-Samuelson-Effekt spricht für ein solches Vorgehen, da es Ländern im Aufholprozess etwas mehr Luft lässt (siehe Box I.2.1). „Das Ausmaß des Balassa-Samuelson-Effekts in den Ländern, die derzeit dem Euroraum angehören, dürfte mit der Zeit abnehmen, weil es beim Pro-Kopf-BIP bereits eine substanzielle Konvergenz zwischen diesen Ländern gibt. Gleichzeitig könnte ein solcher Effekt in einigen der neuen Mitgliedstaaten, die den Euro einführen wollen, aufgrund ihres niedrigeren Ausgangsniveaus bei den Einkommen und Preisen stärker zu dauerhaftem Inflationsdruck beitragen.“ (EZB, 2005a, 71) Ausgangspunkt beim Balassa-Samuelson-Effekt ist die Beobachtung, dass bei nichthandelbaren Gütern (im Wesentlichen Dienstleistungen und Immobilien) die Preise von Land zu Land stark voneinander abweichen. Nicht-handelbare Güter sind Güter, die aufgrund der damit verbundenen Transaktionskosten nicht grenzüberschreitend gehandelt werden (können). Ursache der Preisunterschiede sind hauptsächlich unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsstände. In wirtschaftlich entwickelten Ländern sind die Preise für nichthandelbare Güter tendenziell höher. Der hohe Lebensstandard beruht dabei auf einem hohen Produktivitätsniveau im Sektor der handelbaren Güter (vor allem Verarbeitendes Gewerbe). Bei integrierten nationalen Arbeitsmärkten führt ein produktivitätsbedingt hohes Lohnniveau im Sektor der handelbaren Güter auch zu hohen Löhnen im Sektor der nicht-handelbaren Güter, da ansonsten die Arbeitskräfte abwandern würden und ein zu hoher Lohnabstand mit Fairnessbzw. Gerechtigkeitsvorstellungen kollidieren würde (ECE, 2001, 231). Zu über dem Produktivitätsfortschritt liegenden Lohnerhöhungen kommt es bei nicht-handelbaren Gütern aber nicht nur deshalb, weil es sonst zunehmend schwieriger würde, Arbeitskräfte zu finden, sondern auch deshalb, weil die Einkommenselastizität für nicht-handelbare Güter (Dienstleistungen) besonders hoch ist und so von der Nachfrageseite auch eher die Möglichkeit gegeben ist, die mit den Lohnsteigerungen verbundenen Lohnstückkostenerhöhungen über entsprechende Preisanhebungen weiterzuwälzen (zu diesen Überlegungen vgl. etwa auch Caves et al., 2002, 373). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="47"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 48 Betrachtet man Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und auch unterschiedlichen Produktivitätsniveaus, so kommt es bei einer Angleichung des Lebensstandards in Ländern mit Produktivitätsrückstand im Sektor der handelbaren Güter zu ansteigender Produktivität, da nur bereits vorhandenes „Know-how“ transferiert werden muss. Die damit verbundenen Ertragsverbesserungen schlagen sich i. d. R. aber nicht in Preissenkungen nieder, da die Preise sich am Weltmarktpreis der jeweiligen Güter orientieren. Dadurch entstehen Spielräume für Lohnerhöhungen, die auch entsprechend starke Lohnforderungen im Sektor der nicht-handelbaren Güter nach sich ziehen. Während der Lohnkostenanstieg im Sektor der handelbaren Güter aber durch den Produktivitätsanstieg gedeckt ist, somit die Lohnstückkosten unverändert bleiben, gehen die Lohnerhöhungen im Sektor der nicht-handelbaren Güter über die Produktivitätserhöhungen hinaus. In diesem Sektor, der stärker arbeitsintensiv und weniger dem Wettbewerb ausgesetzt ist, sind die Produktivitätsfortschritte gering und die internationalen Unterschiede im Produktivitätsniveau fallen weniger ins Gewicht, sodass es bei diesen Gütern zu einem Anstieg der Lohnstückkosten und damit der Preise kommt. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufholprozesses kommt es somit zu einer Angleichung der Produktivitätsniveaus bei handelbaren Gütern und der Preise für nicht-handelbare Güter. Ausgelöst durch den Anstieg der Preise nicht-handelbarer Güter weisen die weniger entwickelten Länder während dieses Aufholprozesses folglich auch eine höhere Inflationsrate auf. Anders formuliert: Mit steigendem Produktivitätsniveau (Lebensstandard oder Einkommensniveau) steigt auch das Preisniveau in einem Land. Dabei wird ein reines Gleichgewichtsphänomen beschrieben, das einem wirtschaftlichen Aufholprozess inhärent ist. Dieser Effekt ist dabei umso stärker, je größer der Anteil der nicht-handelbaren Güter ist. Das Gewicht nicht-handelbarer Güter hängt dabei eng mit dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung und den Präferenzen der Haushalte zusammen. Allgemein nehmen die Ausgaben der Haushalte für Dienstleistungen mit steigendem BIP pro Kopf zu. Box I.2.1: Der Balassa-Samuelson-Effekt Wenn alle Waren und Dienstleistungen über die Grenzen hinweg frei gehandelt werden können, würde der ökonomischen Theorie zufolge Arbitrage zu einer Situation führen, in der das Preisniveau in den verschiedenen Ländern (ausgedrückt in einer gemeinsamen Währung) gleich wäre und strikte Kaufkraftparität herrschen würde. In der Praxis ist dies jedoch selten der Fall, und eine Reihe von Studien hat nachgewiesen, dass das Preisniveau von Land zu Land erheblich differiert. Diese Unterschiede sind häufig nicht durch Transportkosten, Steuern, Zölle oder ähnliches zu erklären. Vielmehr sind die Preise in ärmeren Ländern typischer Weise niedriger als in reicheren Ländern. Dies ist auf Unterschiede bei den Preisen für „nicht-gehandelte“ Güter und Dienstleistungen zurückzuführen. Außerdem sind in Ländern mit einem kräftigeren Produktivitätswachstum und damit auch einer stärkeren Verbesserung des Lebensstandards tendenziell höhere Preissteigerungsraten zu verzeichnen. Der Balassa-Samuelson-Effekt erklärt diese Differenzen, indem er einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Preise der nicht-gehandelten Güter und dem Produktivitätswachstum herstellt. <?page no="48"?> ZUR „POLITISCHEN“ PRAXIS DER KONVERGENZPRÜFUNG 49 Im Folgenden sollen zwei Länder A und B betrachtet werden, die Teil einer Währungsunion sind. Zunächst beschränkt sich die Darstellung auf ein Land (A). Zur Vereinfachung wird angenommen, es handle sich um eine Volkswirtschaft mit zwei Gütern (einem gehandelten und einem nicht-gehandelten Gut), zwei Produktionsfaktoren (Kapital und Arbeit) und freiem Wettbewerb. Auf der Grundlage dieser Annahmen gilt, dass für die Preissteigerungsrate der nicht-gehandelten Güter im Vergleich zu den gehandelten Gütern in jedem der beiden Länder: (B1) Δ (P N - P T ) = SL N SL T Δ PROD T - Δ PROD N wobei Δ P N und Δ P T die Änderungsraten der Preise bei nicht-gehandelten bzw. gehandelten Gütern, Δ PROD N und Δ PROD T die Produktivitätswachstumsraten in den beiden Sektoren und SL N und SL T die Anteile der Arbeit an der Wertschöpfung in den beiden Sektoren sind. Da die Produktion nicht-gehandelter Güter (z. B. Dienstleistungen) arbeitsintensiver ist als die Produktion gehandelter Güter (z. B. im Verarbeitenden Gewerbe), ist normaler Weise SL N SL T > 1. Zur Vereinfachung wird dieser Wert jedoch gleich eins gesetzt, woraus folgt: (B2) Δ (P N - P T ) = Δ PROD T - Δ PROD N Diese Gleichung besagt, dass die Preise für nicht-gehandelte Güter tendenziell stärker steigen als die Preise für gehandelte Güter, wenn im Bereich der gehandelten Güter ein höheres Produktivitätswachstum zu verzeichnen ist als bei den nicht-gehandelten Gütern. Dahinter steht der im Text beschriebene Mechanismus. Die Veränderungsrate des Verbraucherpreisindex insgesamt (Δ P) ergibt sich als gewogener Durchschnitt der Preissteigerungsraten für gehandelte und nicht-gehandelte Güter: (B3) Δ P = Δ P T + (1 - ) Δ P N bzw. unter Berücksichtigung von (B2) (B3 ) Δ P = Δ P T + (1 - ) (Δ PROD T - Δ PROD N ) Dabei ist der Anteil der gehandelten Güter am Verbrauch. Somit hängt der Anstieg des Verbraucherpreisindex insgesamt von der Preissteigerung bei den gehandelten Gütern, vom Anteil der gehandelten Güter und von der Differenz zwischen den Raten des Produktivitätswachstums in den beiden Sektoren ab. Je größer der Produktivitätsvorsprung bei gehandelten Gütern gegenüber nicht-gehandelten Gütern ist, desto höher ist der Anstieg der Verbraucherpreise, d. h. die gesamtwirtschaftliche Inflationsrate. Für Land B lassen sich ähnliche Zusammenhänge ableiten. Definitionsgemäß ist die Preissteigerungsrate für gehandelte Güter in beiden Ländern gleich hoch. Zur Vereinfachung sollen zwei weitere Annahmen getroffen werden: Erstens sei die Produktivitätssteigerung bei den nicht-gehandelten Gütern in den beiden Ländern gleich, und zweitens sei der Anteil der gehandelten Güter am Verbrauch ebenfalls in beiden Ländern gleich. Dann gilt für die Differenz zwischen den Steigerungsraten der Verbraucherpreise in Land A und B: (B4) Δ P A - Δ P B = (1 - ) (Δ PROD T A - Δ PROD T B ) TEILNEHMERSTAATEN <?page no="49"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 50 Somit hängt die Inflationsdifferenz zwischen den beiden Ländern hauptsächlich von der Differenz zwischen den Produktivitätswachstumsraten bei den gehandelten Gütern in den beiden Ländern ab. Ist das Produktivitätswachstum für gehandelte Güter in Land A höher, steigen dort die Löhne stärker, und die Preise für nicht-gehandelte Güter steigen aus den oben genannten Gründen stärker. Folglich ist die Teuerungsrate insgesamt in Land A höher als in Land B. 2. Der langfristige Zinssatz, gemessen am durchschnittlichen Nominalzinssatz für langfristige (10-jährige) Staatsschuldverschreibungen oder vergleichbare Wertpapiere, darf im Verlaufe des Jahres vor der Konvergenzprüfung einen bestimmten Referenzwert nicht übersteigen. 8 Dieser Referenzwert liegt um 2 Prozentpunkte über dem ungewogenen arithmetischen Mittel der langfristigen Zinssätze der drei preisstabilsten Länder (Zinskriterium). Der Referenzzeitraum ist mit dem bei der Ermittlung der Inflationsrate identisch. Mithilfe dieses Kriteriums soll die Einschätzung der Finanzmärkte Eingang in die Konvergenzprüfung finden. Vor dem Hintergrund der Fisher-Gleichung ist das Zinskriterium allerdings in gewissem Sinne redundant. Ein hoher langfristiger Nominalzinssatz lässt vermuten, dass das Vertrauen der Märkte in die Stabilität eines Landes noch wenig ausgeprägt ist, sodass für langfristige Geldanlagen eine hohe Risikoprämie verlangt wird (Inflationsrisikoprämie, Ausfallrisikoprämie, Prämie für politische Risiken). 3. Eine spannungsfreie Teilnahme am EWS-Wechselkursmechanismus bzw. (nach Beginn der Währungsunion zum 1. 1. 1999) am Wechselkursmechanismus II innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Konvergenzprüfung (Wechselkurskriterium). 4. Besondere Bedeutung kommt dem Kriterium einer auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand zu. Dauerhaft bedeutet, dass über eine längere Zeit eine entsprechende Haushaltsdisziplin erkennbar ist. Um diese zu beurteilen, werden zum einen die jährlichen Haushaltsdefizite (Finanzierungssalden), zum anderen die Staatsschulden (Schuldenstände) herangezogen. 9 So sollte der jährliche Finanzierungsfehlbetrag der öffentlichen Haushalte nicht mehr als 3 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen (die sog. Defizitquote) und der öffentliche Bruttoschuldenstand 60 % des nominalen BIP nicht übersteigen (die sog. Schuldenquote). 10 Allerdings lassen die Vertragsbestimmungen einen gewissen In- 8 Aufgrund des Fehlens eines entwickelten Markts für auf estnische Kronen lautende Anleihen und der geringen Staatsverschuldung lag für Estland kein harmonisierter langfristiger Zinssatz vor. Stattdessen wurde eine umfassende Analyse der Finanzmärkte vorgenommen. 9 Die Ermittlung des Finanzierungssaldos sowie des Bruttoinlandsprodukts erfolgen auf der Grundlage des „Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 1995)“. Zum „ESVG 1995“ siehe etwa Görgens / Ruckriegel (2007a, Kapitel II). 10 Im Jahre 1991 lag die (ungewichtete) durchschnittliche Schuldenquote aller EU-Länder bei knapp 62 % (siehe hierzu auch Tabelle I.2.5). Die Vorgabe von 60 % war - zumindest bezogen auf den EU-Durchschnitt - also nicht sehr ehrgeizig. Ausgehend von der Annahme eines jährlichen Wachstums des nominalen Bruttoinlandsprodukts von 5 % ergab sich eine maximale jährliche Defizitquote von 3 %, wollte man auf Dauer die 60 % nicht überschreiten. <?page no="50"?> ZUR „POLITISCHEN“ PRAXIS DER KONVERGENZPRÜFUNG 51 terpretationsspielraum zu. So genügt es, wenn das Defizit erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht. Ein höheres Defizit bleibt zudem unbeanstandet, wenn der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und in der Nähe des Referenzwertes bleibt. Beim öffentlichen Schuldenstand reicht es aus, wenn er hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert. Im EG-Vertrag sind auch noch weitere Kriterien genannt, die allerdings nicht quantifiziert wurden. Im Einzelnen wird dabei u. a. auf die Ergebnisse bei der Integration der Märkte, den Stand und die Entwicklung der Leistungsbilanz sowie auf die Entwicklung der Lohnstückkosten und andere Preisindizes verwiesen. Letztere könnten bei der Konvergenzprüfung im Zuge der Erweiterung des Euro-Währungsraums nach der Vergrößerung der EU eine stärkere Rolle spielen (z. B. die Preise von Non-Tradables). Die Konvergenzkriterien sollen sicherstellen, dass nur solche Länder an der Währungsunion teilnehmen, die bereits vorher ihre stabilitätspolitische Leistungsfähigkeit nachgewiesen haben, sodass gewährleistet ist, dass die Teilnehmerländer eine einigermaßen homogene Stabilitätsgemeinschaft bilden. 11 Der EU-Vertrag stellt dabei unzweideutig auf eine dauerhafte und nachhaltige Erfüllung der Konvergenzkriterien ab. Die EU-Kommission und die EZB (im Jahre 1998 noch das EWI) haben zu prüfen, „ob ein hoher Grad an dauerhafter Konvergenz erreicht ist“. In der Literatur werden die obigen Konvergenzkriterien auch als nominale Konvergenzkriterien und der Weg zu Erfüllung dieser Konvergenzkriterien wird als nominale Konvergenz bezeichnet. Im Gegensatz dazu ist mit realer Konvergenz die Angleichung der realwirtschaftlichen Strukturen (Fortführung von strukturellen Reformen und Deregulierungen, Aufbau moderner Finanzmärkte etc.) und die des Lebensstandards - i. d. R. gemessen am BIP pro Kopf - an den EU-Durchschnitt gemeint. 2.2 Konvergenzprüfungen Die erste Konvergenzprüfung wurde im April / Mai 1998 auf der Grundlage der Konvergenzberichte der EU-Kommission und des EWI vorgenommen. Zu prüfen war hierbei auch, ob die nationalen Zentralbanken den rechtlichen Anforderungen (Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken; rechtliche Integration der nationalen Zentralbanken in das Europäische System der Zentralbanken) genügen. Gemäß EG-Vertrag findet eine solche Prüfung alle zwei Jahre oder auf Antrag eines Mitgliedstaates statt, wobei letztlich der Ecofin-Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der EU-Kommission entscheidet, ob ein Land aufgenommen wird. Vor diesem Beschluss wird das 11 An diesen Kriterien wurde vielfältige Kritik geübt, auf die an dieser Stelle nicht nochmals eingegangen werden soll. Siehe dazu stellvertretend Buiter et al. (1992), Klein (1993), Schmidt / Straubhaar (1995), Spahn (1997), McKay (1997). Nichtsdestotrotz wird den Konvergenzkriterien eine wichtige Rolle auf dem Weg zu einer einheitlichen Währung zugeschrieben. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="51"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 52 Europäische Parlament angehört, und im Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs findet eine Aussprache statt. 2.2.1 Prüfung im Jahre 1998 Ende März 1998 legten die EU-Kommission und das EWI ihre Konvergenzberichte vor. Verschiedene Regierungschefs baten darüber hinaus ihre Zentralbanken um eine Stellungnahme zur Konvergenzlage. Die EU-Kommission empfahl, 11 Staaten in die Währungsunion aufzunehmen. Die rechtlichen Anforderungen an die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken waren in diesen Ländern geschaffen bzw. auf dem Weg der Gesetzgebung. Dänemark und das Vereinigte Königreich hatten zuvor auf der Grundlage der ihnen vertraglich zugestandenen Sonderregelungen erklärt, 12 dass sie zum 1. 1. 1999 noch nicht teilnehmen wollten. Griechenland und Schweden - letzteres im Wesentlichen wegen Nichteinhaltung einer mindestens zweijährigen Teilnahme am EWS-Wechselkursmechanismus und unvollständiger rechtlicher Konvergenz 13, 14 - 12 Im Vertrag von Maastricht haben sich diese beiden Länder eine sog. „Opting-Out-Klausel“ ausbedungen (Protokoll Nr. 16 und Nr. 17 zum Vertrag), nach der sie auch bei Erfüllung der Konvergenzkriterien wählen können, ob sie der Währungsunion beitreten. 13 Eine interessante Würdigung des Verhaltens Schwedens aus rechtlicher Sicht liefert Häde (1998, 1092): „Formal kann sich Schweden darauf berufen, dass es die zwei genannten Voraussetzungen nicht erfüllt. Allerdings gibt es im Anhang zum EGV(EG-Vertrag, die Verfasser) ein Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Dieses Protokoll steht rechtlich auf der gleichen Stufe wie die Vorschriften des EGV, ist also auch verbindlich. Es verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle vorbereitenden Arbeiten so zu beschleunigen, dass die einheitliche Währung 1999 eingeführt werden kann. Zumindest gegen diese Pflicht in Verbindung mit Art. 5 EGV sowie gegen Art. 108 EGV hat Schweden verstoßen, weil es bewusst die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Währungsunion nicht erfüllt hat.“ 14 „Die Europäische Währungsunion wurde auf der Konferenz von Maastricht, auf der sie beschlossen wurde, von einigen Mitgliedstaaten nur bedingt akzeptiert. Während das Maastrichter Vertragswerk den automatischen Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion für den Fall vorsah, dass der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs die Erfüllung der sog. Konvergenzkriterien als erfüllt erachtet, haben sich Großbritannien und Dänemark die freie Entscheidung über ihre Teilnahme an der Währungsunion zu gegebener Zeit vorbehalten. Schweden nimmt für sich den gleichen Sonderstatus in Anspruch. An sich haben Österreich, Finnland und Schweden anlässlich ihres Beitritts zur Europäischen Union 1995 die Regelungen der Maastrichter Währungsunion in der Ausgestaltung übernommen, wie diese für die Mehrzahl der Mitgliedstaaten vereinbart wurden. Bei der Ratifizierung des Beitrittsvertrags hat sich jedoch der schwedische Reichstag die freie Entscheidung über die Teilnahme Schwedens zur Währungsunion auch für den Fall vorbehalten, dass Schweden die Beitrittsvoraussetzungen erfüllt. Während in Deutschland einem ähnlichen Vorbehalt des Bundestages und des Bundesrates anlässlich der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages, der für den schwedischen Reichstag als Vorbild diente, lediglich intern die Wirkung beigemessen wurde, dass er die Bundesregierung hinsichtlich ihrer bei den Schlussverhandlungen im Rat einzunehmenden Haltung bindet, betrachtet die schwedische Regierung den Vorbehalt ihres Parlamentes - vergleichbar dem vertragsrechtlichen Sonderstatus Großbritanniens und Dänemarks - als einen echten völkerrechtlich relevanten Vorbehalt, der über die interne Bindung hinausreicht. Schweden wird <?page no="52"?> ZUR „POLITISCHEN“ PRAXIS DER KONVERGENZPRÜFUNG 53 hingegen erfüllten die Voraussetzungen nicht. Die politische Entscheidung über den Teilnehmerkreis der Währungsunion wurde durch den Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs am 2. Mai 1998 getroffen. Der Beschluss folgte der Empfehlung der EU-Kommission und des Ecofin-Rates. Tabelle I.2.1: Übersicht über die Konvergenzlage der EU-Staaten (1998) Land Inflationsrate Langfristiger Zinssatz Öffentlicher Finanzierungssaldo a) Öffentliche Verschuldung d) in % in % des BIP Referenzzeitraum: Feb. 1997 bis Jan. 1998 1997 Belgien 1,4 5,7 -2,1 122,2 Dänemark 1,9 6,2 0,7 65,1 Deutschland 1,4 5,6 -2,7 61,3 Finnland 1,3 5,9 -0,9 55,8 Frankreich 1,2 5,5 -3,0 58,0 Griechenland 5,2 9,8 -4,0 108,7 Irland 1,2 6,2 0,9 66,3 Italien 1,8 6,7 -2,7 121,6 Luxemburg 1,4 5,6 1,7 6,7 Niederlande 1,8 5,5 -1,4 72,1 Österreich 1,1 5,6 -2,5 66,1 Portugal 1,8 6,2 -2,5 62,0 Schweden 1,9 6,5 -0,8 76,6 Spanien 1,8 6,3 -2,6 68,8 Vereinigtes Königreich 1,8 7,0 -1,9 53,4 Referenzwert 2,7 b) 7,8 c) -3,0 60,0 Quelle: Deutsche Bundesbank 1998c, 23. Anmerkungen: a) - = Defizit, + = Überschuss; b) berechnet als ungewogenes arithmetisches Mittel der jährlichen Inflationsraten Österreichs, Irlands und Frankreichs plus 1,5 Prozentpunkte; c) berechnet als ungewogenes arithmetisches Mittel der langfristigen Zinssätze Österreichs, Irlands und Frankreichs plus 2 Prozentpunkte; d) Bruttoschuldenstand. zum gegebenen Zeitpunkt dem entsprechend ungeachtet seiner Beitrittsreife, die an sich zur Teilnahme verpflichtet, den Eintritt in die Währungsunion von dem Ausgang eines Referendums abhängig machen.“ (Seidel, 2000, 861 f.). In einem Referendum, das im September 2003 stattgefunden hat, stimmten die Schweden mehrheitlich gegen eine Einführung des Euro. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="53"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 54 Sowohl das Inflationsals auch das Zinskriterium wurden bis auf Griechenland im relevanten Referenzzeitraum von allen EU-Mitgliedstaaten erreicht. Die niedrigen Inflationsraten im Jahre 1997 sind allerdings auch vor dem Hintergrund eines zunehmenden Wettbewerbs sowie einer gedämpften Nachfrage in Europa zu sehen. Sie waren nicht nur auf eine verstärkte Stabilitätsorientierung der Geldpolitik zurückzuführen. Tabelle I.2.2: Verbraucherpreise in den EU-Staaten 15 (1998) Land auf Basis des … … nationalen Index … harmonisierten Index 1992 1993 1994 1995 1996 1997 Belgien 2,4 2,8 2,4 1,5 1,8 1,5 Dänemark 2,1 1,2 2,0 2,1 2,1 1,9 Deutschland 5,1 4,5 2,7 1,8 1,2 1,5 Finnland 2,9 2,2 1,1 1,0 1,1 1,2 Frankreich 2,4 2,1 1,7 1,8 2,1 1,3 Griechenland 15,9 14,4 10,9 8,9 7,9 5,4 Irland 3,0 1,5 2,4 2,5 2,2 1,2 Italien 5,4 4,2 3,9 5,4 4,0 1,9 Luxemburg 3,2 3,6 2,2 1,9 1,2 1,4 Niederlande 3,2 2,6 2,8 1,9 1,4 1,9 Österreich 4,1 3,6 3,0 2,2 1,8 1,2 Portugal 8,9 6,5 5,2 4,1 2,9 1,9 Schweden 2,6 4,7 2,4 2,8 0,8 1,8 Spanien 5,9 4,6 4,7 4,7 3,6 1,9 Vereinigtes Königreich 4,7 3,0 2,3 2,9 2,5 1,8 Quelle: Deutsche Bundesbank, 1998c, 24. 15 Der harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI), häufig auch Harmonised Index of Consumer Prices (HICP), ist ein in der Europäischen Union erhobener Verbraucherpreisindex, der nach EU-weit einheitlichen Regeln berechnet wird. Ihm liegt aber kein EU-weit einheitlicher Warenkorb zugrunde. Der HVPI ist die Kennzahl, mit der in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) die Preisniveauentwicklung gemessen wird. Die Berechnung eines HVPI ist erforderlich, da sich die nationalen Verbraucherpreisindizes auf Grund historischer Besonderheiten, unterschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sowie abweichender Struktur der statistischen Systeme unterscheiden. <?page no="54"?> ZUR „POLITISCHEN“ PRAXIS DER KONVERGENZPRÜFUNG 55 Tabelle I.2.3: Konvergenz der lang fristigen Zinssätze (1998) Land 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 Belgien 9,3 8,6 7,2 7,8 7,5 6,5 5,8 Dänemark 9,3 9,0 7,3 7,8 8,3 7,2 6,3 Deutschland 8,5 7,9 6,5 6,9 6,9 6,2 5,6 Finnland 11,7 12,0 8,8 9,0 8,8 7,1 6,0 Frankreich 9,0 8,6 6,8 7,2 7,5 6,3 5,6 Griechenland - - 23,3 20,8 17,4 14,4 9,9 Irland 9,2 9,1 7,7 7,9 8,3 7,3 6,3 Italien 13,3 13,3 11,2 10,5 12,2 9,4 6,9 Luxemburg 8,2 7,9 6,9 7,2 7,2 6,3 5,6 Niederlande 8,7 8,1 6,4 6,9 6,9 6,2 5,6 Österreich 8,6 8,2 6,7 7,0 7,1 6,3 5,7 Portugal 14,5 13,8 11,2 10,5 11,5 8,6 6,4 Schweden 10,7 10,0 8,5 9,7 10,2 8,0 6,6 Spanien 12,4 11,8 10,2 10,0 11,3 8,7 6,4 Vereinigtes Königreich 10,1 9,1 7,5 8,2 8,3 7,9 7,1 Quelle: Deutsche Bundesbank, 1998c, 25. Der in manchen Ländern im Jahr 1997 beobachtbare starke Rückgang der langfristigen Zinsen ging neben eigenen Anstrengungen (Verbesserung der Fundamentalfaktoren: Beruhigung des Preisauftriebs, gesunkene Staatsdefizite) auch auf den internationalen Zinstrend sowie auf eine Vorwegnahme der Teilnahme an der Währungsunion durch die Finanzmärkte zurück. Besonders profitiert davon haben Italien, Portugal und Spanien (zur Entwicklung der langfristigen Zinssätze im Vorfeld der Währungsunion siehe auch Abb. I.3.1). Auf dem Gebiet der Wechselkursentwicklung wurde zunehmende Konvergenz erreicht, d. h. die am Wechselkursmechanismus des EWS teilnehmenden Währungen bewegten sich relativ nahe am jeweiligen Leitkurs. Allerdings hatten die italienische Lira und die Finnmark das Erfordernis der zweijährigen Mitgliedschaft vor Konvergenzprüfung nicht voll erfüllt (Eintritt Finnland: 14. 10. 1996; Eintritt Italien: 25. 11. 1996). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="55"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 56 Tabelle I.2.4: Finanzierungssalden der öffentlichen Haushalte der EU-Staaten (1998) Land 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 Belgien -6,3 -6,9 -7,1 -4,9 -3,9 -3,2 -2,1 Dänemark -2,1 -2,1 -2,8 -2,8 -2,4 -0,7 0,7 Deutschland -3,1 -2,6 -3,2 -2,4 -3,3 -3,4 -2,7 Finnland -1,5 -5,9 -8,0 -6,4 -4,7 -3,3 -0,9 Frankreich -2,1 -3,9 -5,8 -5,8 -4,9 -4,1 -3,0 Griechenland -11,5 -12,8 -13,8 -10,0 -10,3 -7,5 -4,0 Irland -2,3 -2,5 -2,7 -1,7 -2,2 -0,4 0,9 Italien -10,1 -9,6 -9,5 -9,2 -7,7 -6,7 -2,7 Luxemburg 1,9 0,8 1,7 2,8 1,9 2,5 1,7 Niederlande -2,9 -3,9 -3,2 -3,8 -4,0 -2,3 -1,4 Österreich -3,0 -2,0 -4,2 -5,0 -5,2 -4,0 -2,5 Portugal -6,0 -3,0 -6,1 -6,0 -5,7 -3,2 -2,5 Schweden -1,1 -7,7 -12,2 -10,3 -6,9 -3,5 -0,8 Spanien -4,2 -3,8 -6,9 -6,3 -7,3 -4,6 -2,6 Vereinigtes Königreich -2,3 -6,2 -7,9 -6,8 -5,5 -4,8 -1,9 Quelle: Deutsche Bundesbank, 1998c, 31. Anmerkung: - = Defizit, + = Überschuss. Problematischer war die Beurteilung des Kriteriums einer auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand. So wurde die Defizitquote einer Reihe von Mitgliedstaaten 1997 durch Maßnahmen mit zeitlich begrenzter Wirkung beeinflusst, die z. B. in Italien insgesamt 1 %-Punkt, in Frankreich 0,6 %-Punkte des BIP ausmachten. 16 Man sprach hier von kreativer Buchführung (siehe Box I.2.2). Box I.2.2: Kreative Buchführung „1997 haben viele Mitgliedstaaten ihre Haushaltsausgaben so weit gedrosselt und ihre Einnahmen so stark ausgeschöpft, dass das bis vor kurzem für viele unerreichbar scheinende Defizitkriterium von 3,0 Prozent erreicht oder sogar unterschritten wurde. Die öffentliche Diskussion hat sich auf das Kriterium für die laufende Verschuldung („Le Drei-Komma-Null“) konzentriert. Dabei ist diese Größe nur eine Momentaufnahme und kann sogar den Blick für zukünftige Entwicklungen versperren. … Erfüllung des 16 Zu den Ländern im Einzelnen siehe Deutsche Bundesbank (1998c, 32). <?page no="56"?> ZUR „POLITISCHEN“ PRAXIS DER KONVERGENZPRÜFUNG 57 Defizitkriteriums kann also bedeuten, dass man sich von einer auf Nachhaltigkeit und Beständigkeit ausgerichteten Budgetpolitik weiter entfernt hat. Drei viel diskutierte und umstrittene Fälle belegen das. Die einmalige Zahlung der France Télécom an den Staatshaushalt in Höhe von 37,5 Mrd. Franc als Gegenleistung für die Übernahme von Pensionsverpflichtungen durch den französischen Staat entspricht einer Reduzierung des staatlichen Defizits von 1997 um etwa 0,5 Prozentpunkte. Der (damalige, Anm. die Verf.) Chefvolkswirt der BHF-Bank, Hermann Remsperger, kommentierte diesen Vorgang wie folgt: „Das Ergebnis dieser kreativen Budgetierung führt die Intention der Maastricht-Fiskalkriterien ad absurdum: Obwohl die Vereinbarung mit der Télécom insgesamt eine Verschlechterung der französischen Haushaltslage bedeutet, kann für das die WWU-Teilnahme entscheidende Jahr 1997 einmalig eine niedrigere Quote ausgewiesen werden.“ Der SPD-Bundestagsabgeordnete Norbert Wieczorek hoffte, dieser schwere Sündenfall werde von der französischen Regierung noch korrigiert. Diese Hoffnung blieb unerfüllt. Sollte Frankreich das Defizitkriterium formal realisieren, dann ist Nachhaltigkeit dadurch nicht gesichert. Italien hat u. a. eine weitgehend rückzahlbare Euro-Steuer erhoben, die in 1997 das Haushaltsdefizit von 3,6 Prozent auf genau 3,0 Prozent reduzierte. Auch diese Maßnahme war - zurückhaltend formuliert - umstritten. Der (damalige, Anm. der Verf.) Ministerpräsident Prodi kommentierte dies wie folgt: „Am Anfang haben alle deswegen über mich gelacht. Aber ich war sicher, dass es keine großen Widerstände geben würde. Es hat sich gezeigt, dass eine Steuer für Europa anders bewertet wird.“ Freilich ist auch dies kein Ausweis von Nachhaltigkeit. Ministerpräsident Prodi gibt dies selbst zu: „Jetzt müssen wir beweisen, dass wir nicht nur zu einer einmaligen Anstrengung fähig sind, sondern einen langen Atem haben.“ Deutschland ist ebenfalls der Versuchung manipulativer Methoden erlegen. Besonders der von der Deutschen Bundesbank mit Hilfe der Öffentlichkeit abgewehrte Angriffdes Finanzministers auf ihre Unabhängigkeit, indem sie gezwungen werden sollte, die Goldreserven neu (höher, Anmerk. der Verf.) zu bewerten und als Buchgewinn an die Bundesregierung auszuschütten, 17 hat das Ansehen der Bundesregierung und ihr Eintreten für eine unabhängige Zentralbank in Misskredit gebracht. Der Tenor in der Auslandspresse war allgemein, dass Deutschland nach seinem ordnungspolitischen Sündenfall nicht mehr die Rolle eines für manche Partner unerträglichen Lehrmeisters spielen könne.“ Quelle: Hankel et al., 1998, 76 f. Hinzu kam, dass die Rückführung der Defizitquoten 1997 durch sinkende lang- und kurzfristige Zinsen begünstigt wurde. Profitiert haben davon insbesondere die Mitgliedstaaten, deren Zinsniveau durch die von den Märkten erwartete sofortige Teilnahme an der Währungsunion überdurchschnittlich zurückging (insbesondere Italien, Portugal und Spanien). Zu berücksichtigen ist auch, dass die Haushalte einiger Mitgliedstaaten erhebliche Nettozahlungen aus dem EU-Haushalt empfangen haben (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien). 17 Im Einzelnen siehe hierzu Ruckriegel (1997a). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="57"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 58 Tabelle I.2.5: Verschuldung der öffentlichen Haushalte der EU-Staaten (1998) Land 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 Belgien 127,5 129,0 135,2 133,5 131,3 126,9 122,2 Dänemark 65,5 69,7 81,6 78,1 73,3 70,6 65,1 Deutschland 41,5 44,1 48,0 50,2 58,0 60,4 61,3 Finnland 23,0 41,5 58,0 59,6 58,1 57,6 55,8 Frankreich 35,8 39,8 45,3 48,5 52,7 55,7 58,0 Griechenland 92,3 98,8 111,6 109,3 110,1 111,6 108,7 Irland 95,3 92,3 96,3 89,1 82,3 72,7 66,3 Italien 101,5 108,7 119,1 124,9 124,2 124,0 121,6 Luxemburg 4,2 5,1 6,1 5,7 5,9 6,6 6,7 Niederlande 79,0 80,0 81,2 77,9 79,1 77,2 72,1 Österreich 58,1 58,0 62,7 65,4 69,2 69,5 66,1 Portugal 67,3 60,1 63,1 63,8 65,9 65,0 62,0 Schweden 52,8 66,8 75,8 79,0 77,6 76,7 76,6 Spanien 45,5 48,0 60,0 62,6 65,5 70,1 68,8 Vereinigtes Königreich 35,6 41,8 48,5 50,5 53,9 54,7 53,4 Quelle: Deutsche Bundesbank, 1998c, 33. Von größerer Bedeutung für die nachhaltige Tragbarkeit der öffentlichen Finanzen in den einzelnen Mitgliedstaaten ist allerdings die Schuldenquote. Ein übermäßiger Schuldenstand beeinträchtigt den künftigen Handlungsspielraum der Finanzpolitik, was angesichts der längerfristig zu erwartenden starken Belastungen aufgrund der demographischen Entwicklung besonders schwer wiegt. Ein übermäßiger Schuldenstand gerät auch leicht in Konflikt mit der Geldpolitik, wobei das Konfliktpotenzial mit zunehmendem Anteil von kurzfristigen bzw. variabel verzinsten Krediten zunimmt. Die Zentralbank gerät dann politisch leicht unter Druck, wenn sie den Zinssatz erhöhen will, da dies umso stärker auf das Haushaltsdefizit durchschlägt, je höher die Staatsverschuldung ist. In Belgien, Griechenland und Italien wurde der Referenzwert besonders deutlich überschritten. Im Falle dieser drei Länder konnte - etwa im Gegensatz zu Irland - auch nicht davon gesprochen werden, dass die öffentliche Schuldenquote über die Jahre hinweg hinreichend rückläufig war und sich rasch dem Referenzwert näherte. <?page no="58"?> ZUR „POLITISCHEN“ PRAXIS DER KONVERGENZPRÜFUNG 59 Bei Italien und Belgien (Griechenland wurde von der EU-Kommission nicht vorgeschlagen) sahen sich z. B. die Deutsche Bundesbank und das EWI daher auch veranlasst, Zweifel an einer auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand zum Ausdruck zu bringen. 18 2.2.2 Prüfungen ab 2000 Ab 2000 wird turnusgemäß oder auf Antrag eines Mitgliedstaates geprüft, inwieweit EU-Mitgliedstaaten, die noch nicht der Währungsunion beigetreten sind, „bei der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ihren Verpflichtungen bereits nachgekommen sind“ (EZB, 2000d, 2). Nicht in diese automatische Prüfung einbezogen werden Dänemark und das Vereinigte Königreich, für die bekanntlich eine Sonderregelung gilt. Konvergenzberichte für diese Länder müssen nur auf deren Antrag vorgelegt werden. Ein solcher Antrag lag bisher nicht vor. Die Konvergenzberichte erstreckten sich im Jahr 2000 auf Griechenland und Schweden, wobei Griechenland bereits von sich aus im März 2000 einen Antrag auf Beitritt zur Währungsunion gestellt hat. Tabelle I.2.6: Übersicht über die Konvergenzlage in Griechenland und Schweden (2000) Land Inflationsrate Langfristiger Zinssatz Öffentlicher Finanzierungssaldo a) Öffentliche Verschuldung d) in % in % des BIP Referenzzeitraum: April 1999 bis März 2000 1999 Griechenland 2,0 6,4 -1,6 104,4 Schweden 0,8 5,4 1,9 65,5 Referenzwert 2,4 b) 7,2 c) -3,0 60,0 Quelle: EZB, 2000d. Anmerkungen: a) - = Defizit, + = Überschuss; b) berechnet als ungewogenes arithmetisches Mittel der jährlichen Inflationsraten Schwedens, Österreichs und Frankreichs plus 1,5 Prozentpunkte; c) berechnet als ungewogenes arithmetisches Mittel der langfristigen Zinssätze Schwedens, Österreichs und Frankreichs plus 2 Prozentpunkte; d) Bruttoschuldenstand. 18 „Ernsthafte Besorgnisse“ (Italien und Belgien), Deutsche Bundesbank (1998c, 39); „muss man nach wie vor besorgt sein“ (Italien), EWI (1998, 175); „besteht offensichtlich nach wie vor Besorgnis“ (Belgien), EWI (1998, 48). Zur Problematik aus rechtlicher Sicht siehe etwa Häde (1998, 1091): Die „Prüfung hätten Belgien und Italien nicht bestehen dürfen, weil sie Zweifel an der dauerhaften Tragbarkeit ihrer Finanzlage nicht ausräumen konnten. Ihre Zulassung zur dritten Stufe lässt sich nur als politisch motiviert verstehen und verstößt deshalb gegen Gemeinschaftsrecht.“ TEILNEHMERSTAATEN <?page no="59"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 60 Mit Blick auf Griechenland ist festzuhalten, dass bei der Konvergenzprüfung im Jahr 2000 der Schuldenstand mit gut 104 % deutlich über dem Referenzwert lag. Parallelen zu Belgien und Italien sind hier unverkennbar. Bemerkenswert ist auch, dass die Absenkung der griechischen Inflationsrate auf 2,0 % durch Einmalmaßnahmen (Senkung indirekter Steuern) beeinflusst wurde. 19 Im Nachhinein (2005) mussten zudem der Wert für das Haushaltsdefizit für das Jahr 2000 auf 3,4 % deutlich nach oben korrigiert werden, was auch für die an Eurostat, dem Statistischen Amt der EU, gemeldeten Defizitzahlen für die Jahre 2001 bis 2003 galt. Letztlich lag die Defizitquote Griechenlands seit 2000 noch nie unter 3 %. Schweden erfüllte sowohl die Kriterien hinsichtlich der Finanzlage der öffentlichen Hand als auch bezüglich der Inflationsrate und des langfristigen Zinssatzes. Allerdings war Schweden zum Zeitpunkt der Konvergenzprüfung noch nicht dem Wechselkursmechanismus II beigetreten. Auch hatte Schweden die rechtlichen Anpassungserfordernisse noch nicht zur Gänze umgesetzt. 20 Aufgrund dieser Hinderungsgründe - die auch bei der Prüfung im Jahr 2002 einer Aufnahme Schwedens in die Währungsunion entgegenstanden - wurde von der EU-Kommission nur Griechenland für einen Beitritt in die EWU zum 1. 1. 2001 vorgeschlagen. Der Ecofin-Rat folgte diesem Vorschlag. Ab 2004 wurden auch die neuen EU-Mitlgiedsstaaten in die Prüfung einbezogen. Im Mai 2006 kam es zu einer außerplanmäßigen Prüfung aufgrund eines Beitrittsantrags von Slowenien und Litauen. Im Mai 2007 fand eine solche aufgrund des Beitrittsantrags von Malta und Zypern statt. Während Slowenien zum 1. 1. 2007 und Malta und Zypern zum 1. 1. 2008 in die Eurozone aufgenommenen wurde, wurde der Beitrittsantrag von Litauen mit dem Argument angelehnt, dass das Inflationskriterium nicht nachhaltig erfüllt sei. In der Pressemitteilung des Ecofin-Rates vom 7. Juni 2006 (S. 7) findet sich Folgendes dazu: In ihrem Bericht gelangt die EU-Kommission zum Schluss, dass „Litauen durch die Erfüllung der Kriterien hinsichtlich der Finanzlage der öffentlichen Hand, der Wechselkursstabilität und der langfristigen Zinssätze bedeutsame Fortschritte zum Erreichen eines hohen Grades an dauerhafter Konvergenz gemacht hat, das Preisstabilitätskriterium jedoch noch nicht erfüllt. Die Kommission gelangte 19 „Für die künftige Preisentwicklung in Griechenland bestehen einige Aufwärtsrisiken. 2000 und 2001 werden die Inflationsraten unter Aufwärtsdruck geraten, wenn der Einfluss der jüngsten Senkungen indirekter Steuern nicht mehr wirksam ist. … Trotz der Bemühungen, die Haushaltssituation zu verbessern, und der dabei bereits erzielten erheblichen Fortschritte besteht nach wie vor Anlass zur Sorge, ob das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum BIP „hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert“ und ob bereits eine auf Dauer tragbare Finanzlage erreicht wurde.“ (EZB, 2000d, 26). 20 „Schweden nimmt nicht am WKM II teil. Schweden … wurde keine Klausel eingeräumt, die es erlaubt, nicht zur dritten Stufe der WWU überzugehen. Schweden ist somit nach dem EG- Vertrag verpflichtet, den Euro einzuführen, was bedeutet, dass es sich bemühen muss, alle Konvergenzkriterien einschließlich des Wechselkurskriteriums zu erfüllen. … Die schwedischen Rechtsvorschriften, insbesondere das Gesetz über die Sveriges Riksbank, sehen die rechtliche Integration der schwedischen Zentralbank in das ESZB nicht vor, obwohl Schweden kein Mitglied mit Sonderstatus ist und daher allen Anpassungsanforderungen nach Artikel 109 des EG- Vertrages nachzukommen hat.“ (EZB, 2000d, 5 f., siehe hierzu auch EZB, 2002c, 3 f.). <?page no="60"?> QUO VADIS, EUROPÄISCHE WÄHRUNGSUNION? 61 zu dem Schluss, dass die Inflationsrate in Litauen im zwölfmonatsdurchschnitt seit April 2005 über dem Referenzwert liegt und sich dies auch in den kommenden Monaten nicht ändern dürfte.“ Der Referenzwert für die Inflationsrate lag damals bei 2,6 %, die Inflationsrate Litauens bei 2,7 % (! ). Zum 1. 1. 2009 sind die Slowakei, zum 1. 1. 2011 Estland und zum 1. 1. 2014 Lettland beigetreten. 3 Quo vadis, Europäische Währungsunion? Frage (Handelsblatt): „Aber die Märkte überschießen gelegentlich - und das Vertrauen in die Märkte ist in weiten Teilen der Politik und Bevölkerung gering.“ Antwort (Issing): „Das ist ein berechtigter Einwand. Ich predige auch nicht das große Lied, dass die Märkte alles regeln. Aber was manche Politiker „Spekulation“ nennen, ist meist nichts anderes als die berechtigte Sorge um die Stabilität eines Landes. …“ (Issing, 2013, 28) Die aktuelle Krise im Eurowährungsgebiet ist durch eine beträchtliche Heterogenität der Finanzierungsbedingungen gekennzeichnet. Sie manifestiert sich in Störungen an den Geldmärkten und in den deutlich differenzierten Renditen von Staatsanleihen. Vor der Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008, die den Beginn der weltweiten Finanzkrise markierte, durchlief die Währungsunion hingegen eine Phase niedriger und homogener Finanzierungskosten. 20a 3.1 Zur Empirie - die Entwicklung auf den Geld- und Kapitalmärkten (Staatsanleihen) 20a Auf den Märkten für Staatsanleihen war im Vorfeld des Starts der Währungsunion im Jahre 1999 ein starker Rückgang der Renditen zu beobachten. Mit Beginn der Finanzkrise im September 2008 kam es zu einer leichten, ab 2010, dem Beginn der Staatsschuldenkrise, zu einer starken Heterogenität der Zinsen in den einzelnen Ländern. Bis Mitte September 2008 folgte der Zinssatz unter Banken für Tagesgeld (EONIA) dem Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft der EZB. Nach der Insolvenz von Lehman Brothers kam es zu einem Vertrauensverlust unter Banken und folglich zu einem „Zusammenbruch“ der Geldmärkte. „In einem bankenbasierten Wirtschafts- 20a siehe hierzu auch Nagel (2013). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="61"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 62 raum wie dem Euro-Währungsgebiet erfolgt die Übertragung der Geldpolitik über die Banken, und Banken gewähren einander Kredite auf der Basis gegenseitigen Vertrauens. In der Krise ging dieses Vertrauen verloren, und die Banken gaben einander keine Kredite mehr. Angesichts der Gefahr einer Finanzierungskrise im gesamten Euroraum wandten sie sich an die Zentralbank.“ (Draghi, 2013b). Die EZB trat also anstelle des Geldmarktes, und das geringe Volumen an Geschäften, die zwischen Banken noch stattfanden, orientierte sich aufgrund der unbegrenzten Liquiditätsbereitstellung durch das Eurosystem am Zinssatz für die Einlagefazilität (siehe auch Abb. III.4.12). Dies war eine große Herausforderung für die Zentralbanken. Claude Trichet, der frühere Präsident der EZB wird aus dem Jahr 2010 (November) mit folgenden Worten zitiert: „Die Makromodelle haben bei der Vorhersage der Krise versagt. Als Praktiker fanden wir kaum Hilfe aus der Wissenschaft und ihren Modellen. Wir fühlten uns im Stich gelassen von der gängigen Theorie. In Ermangelung an Leitlinien aus der Wissenschaft mussten wir auf unsere Erfahrungen vertrauen.“ (zitiert nach Financial Times Deutschland, 2012; siehe hierzu die nachstehende Box I.3.1). 21 21 Ähnlich Paul de Grauwe: „It is no exaggeration to state that the financial and economic upheavals following the crash in the U.S. suprime market have undermined this idyllic view of stability created in a world of fully rational and fully informed agents. These unpheavals have also strengthened the view of those who have argued that macroeconomics must take into account departures from rationality, in particular, departures from the assumption of rational expectations.“ (De Grauwe, 2012b, vii - preface). Abbildung I.3.1: Entwicklung der Renditen für 10-jährige Staatsanleihen im Eurowährungsgebiet 1993 bis 2013 (Monatsdurchschnitte) Quelle: Deutsche Bundesbank <?page no="62"?> QUO VADIS, EUROPÄISCHE WÄHRUNGSUNION? 63 Box I.3.1. Behavioral Economics - Lehren für die Geld- und Währungspolitik und die Finanzmarktaufsicht 22 Die klassische ökonomische Theorie nimmt an, dass Individuen vollständig rational und eigennutzorientiert handeln. Auch wenn die klassische Theorie in vielen Situationen das tatsächliche Verhalten gut beschreiben und vorhersagen kann, weichen viele Menschen systematisch von dem angenommenen Idealbild ab. Die verhaltensbasierte Wirtschaftstheorie - im Englischen Behavioral Economics genannt - beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Abweichungen von diesem Idealbild und versucht das Verhalten von Individuen zu erklären, das durch die klassische Theorie nicht gut beschrieben werden kann. Da die verhaltensbasierte Wirtschaftstheorie das Verhalten von Individuen in manchen Situationen besser als die klassische ökonomische Theorie beschreiben und vorhersagen kann, hat sie inzwischen den Weg in den ökonomischen Mainstream gefunden. So wurden schon im Jahr 2002 Nobelpreise an zwei Vorreiter der experimentellen und verhaltensbasierten Wirtschaftstheorie, Daniel Kahneman und Vernon Smith, verliehen. Inzwischen werden die klassische ökonomische Theorie und die verhaltensbasierte Wirtschaftstheorie von den meisten Ökonomen nicht mehr als konkurrierend sondern als komplementär angesehen. Viele Erkenntnisse der Behavioral Economics haben auch Implikationen für die Geld- und Währungspolitik, sowie die Finanzmarktaufsicht. Im Folgenden werden drei Effekte - Herdenverhalten, Vermögensillusion und Prokrastination - sowie ihre Implikationen vorgestellt. Auf Finanzmärkten lässt sich häufig gleichgerichtetes Verhalten, sogenanntes Herdenverhalten, beobachten. In manchen Situationen lässt sich das Herdenverhalten durch die klassische ökonomische Theorie erklären. Ein Beispiel dafür ist, wenn Anleger auf neue Rahmenbedingungen aus rationalen Gründen ähnlich reagieren. In einigen Situationen lässt sich das Herdenverhalten allerdings nicht durch die klassische Theorie erklären. Zum Beispiel kann es vorkommen, dass Anleger Aktien oder Immobilien vorwiegend deswegen kaufen, weil die Aktienkurse bzw. Immobilienpreise in der letzten Zeit deutlich gestiegen sind. Investoren nehmen manchmal an, dass sich die Preisentwicklung der letzten Zeit fortsetzen wird, ohne lange zu überlegen, ob die Preise fundamental gerechtfertigt sind. Wenn viele Anleger so denken, entsteht Herdenverhalten. Preisanstiege können dann tatsächlich zu weiteren Preisanstiegen führen, ohne dass dies fundamental gerechtfertigt ist. Dadurch können Preise ihren fundamental gerechtfertigten Wert deutlich übersteigen 22 Zur Behavioral Economics siehe Akerlof / Shiller, 2009; De Grauwe, 2012b; Kahneman, 2003, 2012; Lux, 2013; Shafir, 2013; Thaler / Sunstein, 2009; Wirtschaftsdienst 2013, einführend Ruckriegel, 2011. Auch die Zentralbanken haben mittlerweile die Erkenntnisse der Behavioral Economics aufgegriffen - (siehe etwa Deutsche Bundesbank, 2011a; 2011b, 34; 2012d, 56 f., EZB, 2010c sowie Ruckriegel, 2012b und 2013). Auf die Erkenntnisse der Behavioral Economics wird mittlerweile auch systematisch im Regierungshandeln im Vereinigten Königreich zurückgegriffen. So hat Premierminister David Cameron kurz nach seiner Wahl (Mai 2010) das Behavioral Insights Team im Cabinet Office eingerichtet. „The Behavioural Insights Team, often called the ‚Nudge Unit‘, applies insights from academic research in behavioural economics and psychology to public policy and services. In addition to working with almost every government department, we work with local authorities, charities, NGOs, private sector partners and foreign government, developing proposals and testing them empirically across the full spectrum of government policy.“ TEILNEHMERSTAATEN <?page no="63"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 64 und spekulative Blasen entstehen. Ein anderer Grund für ein irrationales Herdenverhalten, das zu einer Vermögenspreisblase führen kann, ist eine zu optimistische Bewertung der zukünftigen Entwicklung. Diese zu optimistische Zuversicht und Sorglosigkeit wird häufig auch „irrationaler Überschwang“ - im Englischen Irrational Exuberance - genannt. Die auf eine Vermögenspreisblase folgende Korrektur kann dann nicht nur sehr heftig ausfallen, sondern auch dazu führen, dass Herdenverhalten in die andere Richtung auftritt und die Preise deutlich unter ihren fundamental gerechtfertigten Werte fallen. Herdenverhalten kann also zu sehr hoher Volatilität führen und damit die Finanzstabilität gefährden. Eine Schwierigkeit, die Auswirkungen von Herdenverhalten zu begrenzen, ist, dass sich fundamental gerechtfertigte Preise kaum objektiv berechnen lassen. Damit ist es nicht leicht objektiv festzustellen, ob deutlich gestiegene oder gefallene Preise die wirtschaftlichen Veränderungen widerspiegeln oder ob Herdenverhalten zu Übertreibungen geführt hat. Zentralbanken und Finanzaufsichten reagieren häufig unterstützend, wenn deutlich fallende Preise, seien es Aktienkurse oder Immobilienpreise, (vermeintlich) die makroökonomische Entwicklung und die Finanzstabilität bedrohen. Gehen Marktteilnehmer und Medien davon aus, dass eine Zentralbank mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unterstützend auf Preisrückgänge reagieren wird, sprechen sie häufig von einer Put-Option, die nach dem Präsidenten dieser Zentralbank benannt ist. Allerdings kann diese implizite Absicherung gegen Preisrückgänge das Herdenverhalten bei steigenden Preisen sogar verstärken. Wenn Anleger vermuten, dass mögliche Preisausschläge von Zentralbank und Finanzaufsicht nach unten begrenzt werden, erscheinen Wetten auf steigende Preise weniger riskant, selbst wenn diese in der Vergangenheit schon deutlich angestiegen sind. Daher sollten Zentralbanken und Finanzaufsichten bei fallenden Preisen nur vorsichtig agieren und deutlich steigenden Preisen die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen. Eine weitere Implikation ist, dass Banken mit genügend Eigenkapital ausgestattet sein sollten, um mögliche Verluste auch tragen zu können. Eine Herausforderung hierbei liegt darin, sich in Zeiten von Irrational Exuberance nicht von der verbreiteten überoptimistischen Zuversicht und einer gewissen Sorglosigkeit bei der Bewertung der Risiken und der Risikotragfähigkeit anstecken zu lassen. Die negativen Auswirkungen beim Platzen einer Vermögenspreisblase können durch eine weitere Abweichung vom Idealbild der klassischen Theorie verstärkt werden: der Vermögensillusion. Viele Individuen nehmen an, dass ein Anstieg von Vermögenspreisen sie permanent reicher macht und unterschätzen das Risiko, dass die Vermögenspreise auch wieder fallen können. Dies ist vor allem dann problematisch, wenn sich Individuen oder Haushalte aufgrund von Vermögenspreissteigerungen stärker verschulden. Wenn eine Vermögenspreisblase dann platzt, sind die Anleger nicht nur durch den Hebeleffekt stärker betroffen, sondern können möglicherweise ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen. Wenn dies viele Individuen betrifft, kann sich dadurch das Platzen einer Vermögenspreisblase zu einer Kreditbzw. Schuldenkrise ausweiten. Als Beispiel kann man sich eine Familie vorstellen, dessen Haus deutlich im Preis gestiegen ist. Aufgrund der Vermögensillusion fühlt sich diese Familie nun deutlich reicher und möchte davon profitieren und ihren Lebensstil erhöhen. Da das Haushaltseinkommen nicht gestiegen ist, erhöht die Familie die Hypothek auf das Haus um den höheren Lebensstil zu finanzieren. Wenn die Preissteigerung des Hauses tatsächlich permanent <?page no="64"?> QUO VADIS, EUROPÄISCHE WÄHRUNGSUNION? 65 ist, wäre dies kein Problem. Bei Fälligkeit der Hypothek, kann die Familie die alte Hypothek durch eine neue ersetzen. Wenn aber die Preissteigerung durch eine Hauspreisblase verursacht wurde, kann es sein, dass der Haushalt seine Hypothek nicht mehr zurückzahlen kann, wenn die Hauspreisblase platzt. Falls sich viele Haushalte so ähnlich verhalten, kann das Platzen der Immobilienblase zu einer Hypothekenkrise führen. (Ein ähnlicher Effekt kann auftreten, wenn Haushalte sich beim Hauskauf übermäßig verschulden, weil sie aufgrund der Extrapolation der vergangenen Preisentwicklung oder eines „irrationalen Überschwangs“ davon ausgehen, dass die Immobilienpreise weiterhin steigen werden.) Eine Implikation daraus ist, dass Zentralbank und Finanzaufsicht bei steigenden Vermögenspreisen die Verschuldung bzw. Kreditvergabe beobachten sollten. Sollte zum Beispiel die Verschuldung bei einem starken Anstieg der Immobilienpreise ebenfalls stark ansteigen, kann dies eventuell eine mögliche Gefährdung der Finanzstabilität bedeuten. Wenn eine solche Gefahr rechtzeitig erkannt wird, könnte sie zum Beispiel durch eine Erhöhung der Anforderungen an die Kreditvergabe eventuell gemildert werden. Neben irrationalen Verhaltensweisen auf Finanz- und Immobilienmärkten sind auch irrationale Verhaltensweisen abseits dieser Märkte relevant. Ein Beispiel dafür ist die Prokrastination, womit die Tendenz vieler Individuen beschrieben wird, unangenehme Entscheidungen und Tätigkeiten aufzuschieben. Dieses Verhalten passt nicht zum Idealbild der klassischen Theorie. Zum Einen können sich Individuen dadurch zeitinkonsistent verhalten: Obwohl sich viele Individuen vornehmen, aufgeschobene Tätigkeiten am nächsten Tag (oder in der nächsten Woche etc.) zu erledigen, verschieben sie diese Aufgaben dann erneut. Zum Anderen können durch dieses Aufschieben Kosten entstehen, die durch sofortiges Erledigen vermeidbar gewesen wären. (Vielen Studenten ist dieses Problem bekannt, bevor sie verschiedene Theorien dazu kennengelernt haben.) Dieses Verhalten kann auf vielfältige Weise relevant werden. Neben dem Aufschieben des Sparens für den Ruhestand ist hier zurzeit vor allem die Finanz- und Wirtschaftspolitik zu nennen: Das Aufschieben von Strukturreformen und der Sanierung von Staatshaushalten kann verheerende Folgen haben. Wenn durch einen nicht an Bedingungen gebundenen Ankauf von Staatsanleihen durch Zentralbanken der Druck von Regierungen genommen wird, die Sanierung der Staatshaushalte voranzutreiben und Strukturreformen zu beschließen, kann die (ursprünglich als unterstützend gedachte) Maßnahme kontraproduktiv wirken. Aufgrund der Tendenz unangenehme Entscheidungen zu verschieben, ist es nicht unbedenklich, in einer Staatsschuldenkrise den Regierungen „Zeit zu kaufen“. Wenn diese Zeit nicht genützt wird, sondern nur einen weiteren Aufschub gewährt, können solche Maßnahmen die Situation langfristig sogar verschlimmern. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Verhaltensweisen, die von der Behavioral Economics untersucht werden, enorme Implikationen auf die Finanzmärkte, die Finanzstabilität und die makroökonomische Entwicklung (und damit auf die Preisstabilität) haben können. Daher ist es wichtig, dass Verhaltenstendenzen beobachtet werden und gegebenenfalls erkannte und unerwünschte Verhaltensmuster verringert werden. Da allerdings viele Wirkungsketten und das Zusammenspiel verschiedener Faktoren noch nicht vollständig erforscht sind, steht diese Entwicklung erst am Anfang. Insbesondere über die konkrete Umsetzung besteht noch großer Forschungs- und Diskussionsbedarf. Box erstellt von Anno Stolper (Deutsche Bundesbank) TEILNEHMERSTAATEN <?page no="65"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 66 3.2 1999 - 2008 / 2010: Die Phase trügerischer Homogenität Die erste Phase der Währungsunion war dadurch gekennzeichnet, dass die Finanzierungskosten für die Banken über die Geldmärkte und für die Regierungen auf den Anleihemärkten homogen waren. In Staaten, in denen die Zinsen vor Beitritt in die Währungsunion hoch waren, kam es zu einem starken Rückgang der Zinsen. Dies führte in diesen Ländern zu einer starken Nachfrage auf den Güter- und Finanzmärkten und zu einem Anstieg der Lohnstückkosten. Die Folge war eine steigende Inflationsrate, die über dem Durchschnitt der Länder der Währungsunion lag. Es kam in einigen Ländern (z. B. in Irland und Spanien) zu einem Boom auf den Wohnungsimmobilienmärkten und die Leistungsbilanzdefizite vergrößerten sich. „Vor der Krise verschleierte die Konvergenz der Finanzierungsbedingungen nationale Unterschiede in der Politik und den Auf bau fiskalischer, makroökonomischer und finanzieller Ungleichgewichte in einigen Ländern.“ (EZB, 2012e, 69). Ex post betrachtet waren die Finanzmärkte offenbar nicht in der Lage, die Situation richtig einzuschätzen und entsprechend zu bepreisen. Die EZB spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch „von einer Unterbewertung der Risiken durch die Finanzmarktaktteilnehmer“ und von „geringer Marktdisziplin“ (EZB, 2012e, 70). Abbildung I.3.2: Entwicklung der Preise für Wohnimmobilien in Deutschland und im Eurowährungsgebiet von 1995 - 2011 Quelle: Deutsche Bundesbank, 2012d, 57, 24. <?page no="66"?> QUO VADIS, EUROPÄISCHE WÄHRUNGSUNION? 67 Inzwischen ist Allgemeingut, dass Blasen auf den Finanzmärkten ohne übermäßige Kredit- und Geldschöpfung, d. h. ohne Zutun - oder besser Unterlassen - der Zentralbanken nicht entstehen können. Hinzu kommt, dass insbesondere von den USA und Großbritannien ausgehend, Deregulierungen bzw. falsche oder mangelhafte Finanzmarktregulierung ein teilweise unkontrolliertes Wachstum der Finanzindustrie (z. B. in Zypern oder Irland) begünstigte. „Der Gesamtwert der Finanzaktiva des Eurogebiets hat sich seit 1999 nahezu verdoppelt. Dabei ist der Wert der finanziellen Forderungen insgesamt stärker gewachsen als das nominale BIP, sodass sich der Quotient der ausstehenden Finanzaktiva zum BIP von etwa 800 % im Jahr 1999 auf gut 1.000 % im Jahr 2010 erhöhte.“ (EZB, 2012a, 68) So stieg etwa der M3-Bestand in der Eurozone von 4.900 Mrd. € Ende 2000 auf 9.400 Mrd. € Ende 2008. Dies entsprach einem Wachstum um über 90 %. Dagegen ist das nominale Bruttoinlandsprodukt in dieser Zeit nur um 31 % gestiegen. Die Umlaufsgeschwindigkeit von M3 ist also stark gesunken, d. h. Geld wurde zunehmend zu anderen Zwecken als zur Finanzierung von realwirtschaftlichen Transaktionen verwendet. Die Finanzindustrie hat sich mit Krediten an sich selbst finanziert und sich dabei von der Realwirtschaft losgelöst (siehe hierzu auch Bezemer, 2012). „Ist der Kreditzyklus nun in der Phase der „Schneeball-Kreditaufnahme“ angekommen, reichen schon kleine Veränderungen im Leitzins oder in den Erwartungen für die weitere Wirtschaftsentwicklung, um die Kreditblase platzen zu lassen. Es kommt dann zum „Minsky-Moment“ (einem plötzlichen Platzen der Blase, Anmerk. der Verf.). Als das Unvermeidliche geschah und zahlreiche deutlich überschuldete US-Immobilienbesitzer Anfang 2007 ihre Subprime-Hypotheken nicht mehr bedienen konnten, platzte die weltweite Kreditblase. Die erste Welle, die vom US-Hypothekenmarkt ausging und sich schließlich auf die privaten Kreditmärkte weltweit auswirkte, kulminierte im Konkurs von Lehman Brothers, der die ganze Welt erschütterte.“ so Thomas Mayer, der bis Mitte 2012 Chefvolkswirt der Deutschen Bank war (Mayer, 2012, 238 f.). 3.3 Seit September 2008 / Mai 2010: immer wieder Geldmarkt- / Kapitalmarktprobleme Mit dem Tag des Zusammenbruchs von Lehman Brothers war die Welt auf den Finanzmärkten eine andere. „Als sich mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers die wirtschaftliche und finanzielle Lage drastisch zuspitzte und das Vertrauen einbrach, wurde im privaten Sektor deutlich, dass die rasch steigenden Arbeitskosten, Immobilienpreise und Leistungsbilanzdefizite in den finanziell unter Druck geratenen Ländern (Irland, Griechenland, Portugal sowie später Spanien und Italien (mittlerweile ist auch Zypern dazugekommen, Anmerk. der Verf.) auf Dauer nicht tragfähig sein würden.“ (EZB, 2012e, 70). Erkannt wurden diese Probleme aber mit einer längeren Zeitverzögerung, und zwar erst 2010, wenn man die heftige Reaktion auf den Märkten für Staatsanleihen hierfür als Indikator heranzieht. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="67"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 68 Der Vertrauensverlust auf den Interbanken-Geldmärkten hatte zur Folge, dass diese Märkte schlagartig austrockneten und Banken hierüber weder kurzfristig Geld anlegen wollten, noch Geld aufnehmen konnten. „Ab Mai 2010 wurden Staatsanleihemärkte ebenfalls beeinträchtigt, da es zu einer plötzlichen und teilweise übermäßigen Neubewertung der Risiken kam.“ (EZB, 2012e, 75). Während die Märkte bis 2010 die Risiken kaum beachteten, kam es danach zu einer deutlichen Neubewertung. Die EZB spricht hier auch von Ansteckungseffekten (2012e, 76). Im Zuge der Maßnahmen gegen die Finanzmarktkrisen der letzten Jahre beschloss die EZB die Durchführung von Direktkäufen am Markt für gedeckte Bankschuldverschreibungen wie z. B. Pfandbriefen (Juli 2009 und November 2011) und infolge der „Griechenland-Krise“ im Mai 2010 auch von Staatsanleihen als geldpolitische Sondermaßnahmen (sog. „SMP-Programm“; zu den Hintergründen, die zur Einführung dieses Programms führten, siehe Ruckriegel, 2013, S. 16 f.). Während beim Ankauf von gedeckten Bankschuldverschreibungen von vornherein jeweils ein bestimmtes Ankaufsvolumen − 60 Mrd. € für das erste Programm vom Juli 2009 und 40 Mrd. € für das zweite Programm vom November 2011 − festgelegt war, wurde das Ankaufsvolumen bei Staatsanleihen von vornherein nicht begrenzt, um damit kurzfristig beruhigend (stabilisierend) auf den Staatsanleihemarkt zu wirken. Bis Anfang 2012 hatten sich die Ankäufe von Staatsanleihen, die seit dem 10. Mai 2010 erfolgten, auf rd. 220 Mrd. € in der Bilanz des Eurosystems kumuliert. Am 30. Juli 2010 war das erste Ankaufsprogramm für gedeckte Bankschuldverschreibungen abgeschlossen. Die erworbenen Papiere sollen von den Zentralbanken des Eurosystems bis zur Fälligkeit gehalten werden. Mit diesem Ankaufprogramm sollte dieses spezielle Segment des Finanzmarktes, das durch die Finanzmarktkrise besonders hart getroffen wurde, gestützt werden, da es bei der Refinanzierung der Banken von Bedeutung ist. Im Gegensatz zum Ankauf von gedeckten Bankschuldverschreibungen wird der durch den Ankauf von Staatsanleihen erzeugte Liquiditätseffekt durch das Angebot von Termineinlagen sterilisiert, d. h. abgeschöpft. Während das Eurosystem zunächst nur Anleihen von Griechenland, Irland und Portugal aufgekauft hatte, weitete sie ab August 2011 diese Ankäufe auf italienische und spanische Anleihen aus. Hintergrund dafür war, dass die deutsche Bundesregierung im Juli 2011 durchsetzte, dass auch Privatanleger Verluste bei Staatsanleihen aus Krisenstaaten tragen müssten. Diese Beteiligung entspricht zwar dem für eine Marktwirtschaft elementaren Haftungsprinzip, doch daraufhin wurden Staatsanleihen einzelner Euro-Länder als nicht mehr sichere Anleiheklasse eingestuft. So griffen im August 2011 die Marktzweifel, die bis dahin nur im Hinblick auf Griechenland, Irland und Portugal bestanden, auf Italien und Spanien über, was sich auch in den Zinssätzen für Staatsanleihen dieser Länder niederschlug. „Ich habe den Druck von Märkten immer sehr begrüßt. Doch ich muss eingestehen, dass der Druck der Märkte in den ersten zehn Jahren des Euro total versagt hat. In der Zeit vor der Krise gab es überhaupt keinen Druck, und als die Krise ausbrach, war der Druck völlig übertrieben. Die Märkte haben sich gegenseitig Angst eingejagt, die Marktakteure haben sich wie eine Schafsherde verhalten“, so der Präsident der Französischen Zentralbank Christian <?page no="68"?> QUO VADIS, EUROPÄISCHE WÄHRUNGSUNION? 69 Noyer (2011). 23 Mit Druck der Märkte ist die Idee verbunden, dass Märkte eine disziplinierende Wirkung auf die Marktteilnehmer haben (sollen). Steigende Zinsen sollen die Konsequenzen einer expansiven Fiskalpolitik offenbaren und die Regierungen dazu bewegen, zu einem solideren Ausgabengebaren zurückzukehren. Steigende Zinsen können aber auch zu selbsterfüllenden Effekten führen und ein Land erst in die Zahlungsunfähigkeit treiben. Gerade um das zu vermeiden, kündigte EZB-Präsident Mario Draghi in einer Rede in London im Juli 2012 unbegrenzte Interventionen bei Staatsanleihen - das sog. „Outright Monetary Transactions Programme“ (OMT-Programm) - an. „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ (Draghi, 2012). Das OMT-Programm löst das SMP-Programm ab. Der Unterschied zwischen dem OMT-Programm und dem SMP-Programm liegt zum einen darin, dass es sich um die Zusage von ggf. „unbegrenzten Käufen“ von Staatsanleihen durch das Eurosystem handelt, und dass zum anderen diese Käufe unter einer strikten Konditionalität durch die Bindung von OMTs an ein ESM-Programm (Programm des Europäischen Stabilitätsmechanismus) stehen. „Dadurch wird sichergestellt, dass der Reformdruck auf die betroffenen Mitgliedsstaaten hoch bleibt und sie zu Fiskaldisziplin angehalten werden. Mit dem OMT sollen lediglich ungerechtfertigte Zinsspitzen abgeschnitten werden.“ (Asmussen, 2013). Im Rahmen des OMT-Programms wurden bisher keine Staatsanleihen durch das Eurosystem angekauft (Stand Juni 2013). Dass das SMP-Programm - von anfänglichen Erfolgen abgesehen - keinen durchschlagenden Erfolg auf den Märkten hatte, beruhte darauf, dass das Handeln der EZB einerseits aufgrund mangelnder Geschlossenheit im EZB-Rat nicht glaubhaft war, und somit den Märkten auch keine Orientierung vorgeben konnte, da eine klare Festlegung auf ggf. unbegrenzte Käufe wie beim OMT-Programm fehlte. Andererseits können dadurch die strukturellen Probleme in den betroffenen Ländern nicht gelöst werden. Ein Beispiel dafür, welchen Einfluss eine glaubhafte Maßnahme auf die Märkte hat (wenn auch in einer Volkswirtschaft mit völlig anderen Bedingungen wie in den Euro- Problemländern), lieferte 2011 die Schweizer Nationalbank (SNB), indem sie einseitig mit 1,20 Franken je Euro einen − aus Sicht des Euros − Mindestkurs (-preis) für den Wechselkurs des Schweizer Franken in Euro festlegte und den Märkten damit eine klare Richtung vorgab. Sie werde - so das knappe Statement der SNB - „den Mindestkurs mit aller Konsequenz durchsetzen“ und sie sei bereit „unbeschränkt Devisen zu kaufen.“ (siehe hierzu im Einzelnen Kap. V.3). Die Ankündigung von unbegrenzten Interventionen im Rahmen des OMT-Programms hat - zumindest kurzfristig - Wirkung gezeigt. Die Renditen für Staatsan- 23 „Bei großen Wellen aus Euphorie und Panik setzt sie (die stabilsierende Spekulation, Anmerk. der Verf.) fatalerweise aber aus, was zu entsprechenden Blasen und anschließenden Crashs führt - genau dann, wenn man die stabilisierende Spekulation am dringendsten bräuchte. Dann passiert das genaue Gegenteil. In Wirklichkeit tendiert die Spekulation dann dazu, die Welle zu verstärken, was als Prozyklik mittlerweile hinlänglich erkannt ist,“ (Fricke, 2013a, 343 und 2013b). TEILNEHMERSTAATEN <?page no="69"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 70 leihen gingen deutlich zurück. In der EZB-Pressekonferenz vom 6. Juni 2013 sagte Mario Draghi, der Präsident der EZB, dazu: „When we all look back at what OMT has produced, frankly when you look at the data, it’s really very hard not to state that OMT has been probably the most successful monetary policy measure undertaken in recent time.“ Bei der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts am 11./ 12.6.2013 zur Frage der Rechtmäßigkeit des Staatsanleihen-Ankaufsprogramms der EZB, argumentierte die Seite der Kläger damit, dass die EZB ihr rechtliches Mandat überschritten hätte. Die EZB argumentiert hingegen, dass aus ökonomischer / wirtschaftspolitischer Sicht dem Eurosystem gar nichts anderes übrig geblieben sei, als am Markt zu intervenieren. „Some critics have argued that because of our determined policy action, the shoring up of bank capital and the consolidation of fiscal positions have been delayed. My answer is simple. Our measures gave breathing space from markets driven by panic, which were forcing the economy into a position where inappropriately high interest rates would make default a self-fulfilling prophecy. Adjustment would have been impossible. Instead of better capitalised banks and stronger fiscal positions we would have been left with financial and economic meltdown.“ so Mario Draghi (Draghi, 2013a). Der Vertreter der EZB bei der mündlichen Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht, das Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen, trug dazu im Einzelnen Folgendes vor (Asmussen, 2013): „Um die Notwendigkeit unserer geldpolitischen Maßnahmen zu verstehen, ist es wichtig, sich das ökonomische Umfeld im Sommer letzten Jahres vor Augen zu führen: Die Angst vor einem unfreiwilligen Auseinanderbrechen der Währungsunion führte zu schweren Spannungen auf den Kapitalmärkten. Zentrum dieser Verwerfungen waren Turbulenzen auf dem Markt für Staatsanleihen − dem größten Kapitalmarkt im Eurogebiet. Zugleich ist der Markt für Staatsanleihen äußerst wichtig für die Preisbildung in anderen Kapitalmarktsegmenten, etwa für Bank- und Unternehmensanleihen. Die Unterschiede zwischen den Renditen der Staatsanleihen der Länder im Euro-Raum stiegen auf ein Maß, das in einigen Fällen über das durch die Fundamentaldaten gerechtfertigte Niveau deutlich hinausging. Ein Teil dieser Renditeaufschläge konnte durch die Sorge der Markteilnehmer um die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen erklärt werden. Fiskalische Gründe alleine reichten zur Erklärung allerdings nicht vollumfänglich, denn der rapide Anstieg der Renditeaufschläge im ersten Halbjahr 2012 ging nicht mit einer äquivalenten Verschlechterung der Fundamentaldaten dieser Länder einher. Gleichzeitig bestand akute Ansteckungsgefahr anderer Länder in der Eurozone, was auf systemische und nicht nur länderspezifische Risiken hindeutete. Ein wesentlicher, treibender Faktor war dabei die Marktbefürchtung über ein unfreiwilliges Auseinanderbrechen der gemeinsamen Währung - d. h. die Angst vor der „Umkehrbarkeit des Euro“ und das damit verbundene implizite Wechselkursrisiko. Diese Einschätzung wurde auch in Modellrechnungen bestätigt, wonach der Renditeaufschlag, der nicht durch Fundamentaldaten erklärt werden konnte, im Juli 2012 für 2-jährige italienische und spanische Staatsanleihen bei bis zu 2 Prozentpunkten lag.“ Hans-Werner Sinn, der als Sachverständiger zur mündlichen Verhandlung des BVerfG geladen war, vertrat hierzu eine ganz andere Position: „Bevor zu den Begründungen der EZB im Einzelnen Stellung genommen wird, ist es notwendig, sich die <?page no="70"?> QUO VADIS, EUROPÄISCHE WÄHRUNGSUNION? 71 fundamentale Bedeutung von Zinsspreizungen in der Marktwirtschaft klar zu machen. Diese Spreizungen sind notwendig, um die unterschiedlichen Risiken der Investitionen adäquat im Zins abzubilden und die effektiven Zinsen im Sinne einer mathematischen Zinserwartung gleich zu machen. … Eingriffe in die freie Preisbildung sind deshalb grundsätzlich schädlich für die Effizienz wirtschaftlicher Prozesse.“ (Sinn, 2013, 52, 55). Ähnlich argumentierten die geladenen Sachverständigen Jens Weidmann (Präsident der Deutschen Bundesbank), Clemens Fuest (Präsident des ZEW, Mannheim) und Harald Uhlig (Universität Chicago); Marcel Fratzscher (Präsident des DIW, Berlin), der auch als Sachverständiger geladen war, stützte hingegen die Position der EZB (siehe hierzu auch Giavazzi et al., 2013 sowie Konrad et al., 2013, Demary / Matthes, 2013 und Matthes / Demary, 2013). Für die EZB liegen den unterschiedlichen Zinssätzen zwar ebenfalls fundamental begründete Risikoeinschätzungen zugrunde, aber eben nur zum Teil. Welche Probleme steigende Zinsen haben können, zeigt folgender Zusammenhang: Die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Markzinssatz und dem Nominalwachstum, multipliziert mit dem Schuldenstand ergibt (vereinfacht) den Primärüberschuss (in % des BIP), der erforderlich ist, um den Schuldenstand konstant zu halten (siehe ausführlich dazu Kap. V.1). Der Primärüberschuss ist der Überschuss im Staatshaushalt (bezogen auf das BIP) vor Zinszahlungen. Und hier macht es einen großen Unterschied, ob wie im Falle Italiens der Zinssatz bei mehr als 7,5 % (Rendite 10jähriger Staatanleihen Ende November 2011) oder bei 5,5 % (Ende Februar 2012) oder bei gut 4 % (Anfang Juni 2013) liegt. Bei einem Nominalwachstum von 2 % beträgt die Differenz im ersten Fall 5,5 %-Punkte, im zweiten 3,5 %-Punkte bzw. 2,0 %-Punkte in dritten. Bei einer Staatsverschuldung von 120 % (des BIP) braucht Italien einen Primärüberschuss von 6,6 % bzw. 4,2 % bzw. 2,4 %. Bei einem BIP von rund 1.500 Mrd Euro (2009) macht dies einen Unterschied von 36 Mrd. (2,4 % des BIPs) bzw. von 63 Mrd. (4,2 % des BIPs) beim Konsolidierungsbedarf, und zwar jährlich aus - und dies nur, um den Schuldenstand konstant bei 120 % des BIPs zu halten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass durch die Konsolidierungsmaßnahmen kurzfristig unter Umständen auch die Konjunktur negativ beeinflusst wird. Die Konsolidierung und das Umsetzen von Maßnahmen zur Strukturanpassung werden durch solche Zinsreaktionen also deutlich erschwert. Der massive Zinsanstieg in den „Problemländern“ war auch der Grund, weshalb die EZB am Markt intervenierte. Die EZB begründet ihre Intervention auch damit, dass die Höhe des Zinssatzes für Staatsanleihen in einem Land auch Rückwirkungen auf die Zinssätze für andere Kredite in diesem Land hat. Zinsbewegungen auf den Anleihemärkten schlagen auf andere Zinssätze durch, sodass der zentrale Ansatzpunkt der Geldpolitik, die Transmission des geldpolitisch gewollten Tagesgeldsatzes im selben Ausmaß in jedem Land der Währungsunion auf das gesamte Zinsspektrum eines Landes nicht mehr gelingt. Allerdings ist fraglich, ob das bei der derzeitigen Heterogenität überhaupt gelingen kann. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="71"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 72 Box I.3.2: Gibt es Fortschritte in Europa? Ebenso wie einzelne Menschen ändern auch Gemeinwesen ihre schlechten Gewohnheiten oft erst dann, wenn sie keine andere Wahl haben. Unter dem Druck der Krise wandeln sich die Randländer der europäischen Währungsunion mit teilweiser atemberaubender Geschwindigkeit. Ihre Ausgangslage war vielfach schlecht. Aber das Tempo des Wandels ist in vielen Bereichen sogar noch beeindruckender, als es in Deutschland in den Reformzeiten der „Agenda 2010“ von 2003 bis 2006 war. Der Wandel zeigt sich in vier großen Bereichen, 1. der Außenwirtschaft, 2. den Lohnstückkosten, 3. dem Staatshaushalt und 4. bei wachstumsfördernden Strukturreformen. Außenwirtschaft Vor fünf Jahren schrieben alle heutigen Krisenländer mit Ausnahme Irlands in ihrer Außenwirtschaft tiefrote Zahlen, Griechenland, Spanien, Portugal ganz besonders, Italien etwas weniger. Die Abbildung I.3.3 zeigt, wie sehr sich die Leistungsbilanz der fünf Krisenländer seitdem insgesamt verbessert hat. Ende 2012 konnten die fünf Länder zusammengenommen bereits einen kleinen Überschuss in ihrer Leistungsbilanz ausweisen. Vereinfacht gesagt leben sie seitdem nicht mehr über ihre Verhältnisse. Beigetragen zu diesem Umschwung hat etwa zur Hälfte ein Einbruch der Einfuhren, der mit dem Platzen der Kredit- und Immobilienblasen in Irland und Spanien im Jahr 2008 begann und sich mit den harten Einschnitten in den Staatshaushalten der Jahre ab 2010 fortsetzte. Aber die Hälfte des Umschwungs beruht auf einem echten Anstieg der Ausfuhren. Ob ein Land wettbewerbsfähig ist, lässt sich letztlich nur daran ablesen, ob es für seine im Inland hergestellten Güter und Leistungen genügend Abnehmer auf den Weltmärkten findet. Hier sind die Krisenländer auf dem richtigen Wege schon weit vorangekommen. Abbildung I.3.3: Leistungsbilanzsaldo in % des BIP, Italien, Spanien, Griechenland, Irland und Portugal −7 −6 −5 −4 −3 −2 −1 0 1 Jan 2000 Jan 2003 Jan 2006 Jan 2009 Jan 2012 Leistungsbilanz der Euro-Krisenstaaten Saldo in % des BIP Saisonbereinigte Daten, laufende Dreimonatsdurchschnitte Quelle: Eurostat <?page no="72"?> QUO VADIS, EUROPÄISCHE WÄHRUNGSUNION? 73 Lohnkosten Auch bei den Lohnkosten ist der Befund eindeutig. Unter dem Druck der Krise müssen die Arbeitnehmer an der Euro-Peripherie erhebliche Einbußen hinnehmen. Volkswirte schauen gerne auf die „realen Lohnstückkosten“, also auf die Lohnkosten pro hergestelltem Produkt (dem Stück), bereinigt um den gleichzeitigen Anstieg der Absatzpreise. Diese Lohnkosten pro Stück waren im Jahr 2012 in Griechenland 12,7 Prozent niedriger als 2009, für Spanien betrug der Rückgang 7,5 Prozent, für Portugal und Irland jeweils etwa 6 Prozent. In Deutschland sind diese Kosten dagegen um 1,9 Prozent gestiegen. Staatshaushalt Die Schmerzen der Reform- und Sparpolitik zeigen sich besonders im Staatshaushalt. Alle Krisenländer haben massiv Staatsausgaben gekürzt und Steuern erhöht. Dabei ist der Gesamtumfang bisher in Italien relativ gering, da das Land ja erst im Herbst 2011 unter Anpassungsdruck geraten ist, während Griechenland bereits Ende 2009 mit den Maßnahmen anfangen musste. Für Griechenland belaufen sich die Korrekturen im Staatshaushalt seitdem auf 13,5 Prozent der Wirtschaftsleistung, für Portugal immerhin auf über 8 Prozent. Der Vorwurf, die Krisenländer am Rande des Euro würden nicht eifrig sparen, wird durch die Fakten widerlegt. Allerdings müssen wir eines berücksichtigen. Diese Zahlen zeigen, um wie viel die Länder ihre staatlichen Leistungen insgesamt gesenkt und die Steuersätze insgesamt erhöht haben. Als Folge der harten Sparpolitik ist die Binnenkonjunktur in diesen Ländern jedoch regelrecht eingeknickt. Aus diesem Grund haben sich die tatsächlichen Defizite in den Staatshaushalten der Länder um weit weniger eingeengt, als es den eigentlichen Sparbeschlüssen entspricht. Erst wenn die Rezession einem neuen Aufschwung weicht, in dem die Steuereinnahmen wieder normal sprudeln und die Arbeitslosigkeit zurückgeht, werden die Sparerfolge voll sichtbar werden. Deutschland hat von 2009 bis 2012 insgesamt seine Haushaltspolitik kaum gestrafft. Das macht auch einen gewissen Sinn. Dank seiner früheren Reformen ist Deutschland ja ohnehin auf dem Weg zu einem ausgeglichenen Budget. Strukturreformen Unter dem Druck der Euro-Krise haben viele Randstaaten der Währungsunion seit 2010 begonnen, die wesentlichen Elemente der Agenda 2010 auch bei sich umzusetzen. Geringere Rentenansprüche, ein gelockerter Kündigungsschutz, weniger großzügige Sozialleistungen, geringeres Arbeitslosengeld, höhere Verbrauchsteuern, Einschnitte bei vielen Staatsausgaben sowie eine durch Massenarbeitslosigkeit erzwungene Lohnzurückhaltung gehören in fast allen Krisenländern mittlerweile zum Alltag. Der Dachverband der wirtschaftlich fortgeschrittenen Länder, die OECD in Paris, hat diese Ergebnisse bestätigt: Gerade die Krisenländer am Rande der Währungszone haben in den vergangenen Jahren immer mehr wachstumsfördernde Wirtschaftsreformen umgesetzt. Sie sind damit allen anderen Mitgliedern der OECD weit voraus. Die Goldmedaille in der OECD Reformliga vom April 2013 geht an Griechenland, Irland erreicht Silber. Nach einer Bronzemedaille für Estland, das 2008 - 2011 ebenfalls eine tiefe Krise durchlebte, kommen Portugal und Spanien auf die Plätze vier und fünf. Unter den 30 Ländern, die die OECD unter die Lupe nimmt, stehen die vier von der Euro-Krise am meisten gebeutelten Länder im Hinblick auf Reformen weit vorne unter den besten fünf. Deutschland findet sich dagegen mit Belgien, den Niederlanden und Luxemburg im unteren Drittel. Sie haben keine nennenswerten Reformfortschritte zu vermelden. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="73"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 74 Ausblick Gemessen an Ausfuhrkraft, Staatshaushalt und Lohnkosten kommen Kerneuropa und die Peripherie sich näher. Dort, wo Bürger und Staat vor der Krise über ihre Verhältnisse gelebt haben, müssen alle die Gürtel enger schnallen. Während die Ausfuhr zulegt, sinken Binnennachfrage und Löhne. Gleichzeitig sehen wir in Deutschland einen Trend zu einem etwas genussvolleren Leben. Diese Konvergenz gilt nicht für die kurzfristige Konjunktur. Die notwendige Korrektur der Staatshaushalte am Rande Europas und die bereits gute Lage in Deutschland zeigen sich ja gerade darin, dass die Randländer in einer tiefen Rezession stecken, während Deutschland sich vergleichsweise gut hält. Aber dies ist nur eine vorübergehende Nebenwirkung der Therapie. Das Auseinanderdriften der kurzfristigen Nachfrage darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Länder in ihren langfristig prägenden Strukturen wesentlich ähnlicher werden. Die Eurozone ist zwar eindeutig auf dem richtigen Weg. Aber zum Erfolg gehört der politische Wille, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, bis die Erfolge der Reformen in Randeuropa in neuem Wachstum, mehr Arbeitsplätzen und soliden Staatsfinanzen sichtbar werden. Sollte beispielsweise Italien die unter Premierminister Monti umgesetzten Sparmaßnahmen und Reformen rückgängig machen, würde das Land den Schutz des Europäischen Rettungsschirmes und der Europäischen Zentralbank verlieren. Sollte in den Garantieländern der Wille schwinden, alle Reformstaaten zu stützen, könnte dies ebenfalls massive Turbulenzen auslösen, die den Euro nochmals in eine Existenzkrise stürzen könnten. Aber wenn der politische Wille sich als stark genug erweist, kann die Eurozone insgesamt als eine reformierte und damit dynamischere Region aus der Krise hervorgehen, als sie es vorher war. Box erstellt von Holger Schmieding (Berenberg Bank). 4 Zusammenfassung Zum 1.1.1999 begann die Währungsunion mit 11 Ländern. Gemäß dem Vertrag von Maastricht mussten sich diese Länder vorher für den Beitritt qualifizieren, d. h. bestimmten Konvergenzkriterien und rechtlichen Anforderungen genügen. Bei den Konvergenzkriterien lag das Hauptaugenmerk auf der Preisentwicklung, den langfristigen Zinsen, der Teilnahme am Wechselkursmechanismus des EWS sowie auf einer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Haushalte. Während eine Reihe von Ländern das Haushaltsdefizit durch Maßnahmen mit einmaligem Charakter unter die 3 %-Hürde drückte, haben beim Schuldenkriterium insbesondere Belgien, Griechenland und Italien den Referenzwert deutlich verfehlt. Ab 2000 fanden routinemäßig bzw. auf Antrag einzelner Länder Konvergenzprüfungen statt. Im Falle von Schweden kam ein Beitritt jeweils nicht zustande, weil dieses Land nicht dem Wechselkursmechanismus II beigetreten war und im Rahmen der Zen- <?page no="74"?> ZUSAMMENFASSUNG 75 tralbankgesetzgebung nicht alle Voraussetzungen geschaffen hatte. Diese Gründe standen bereits 1998 einem Beitritt zur Währungsunion entgegen. Griechenland hingegen hat die „Konvergenzprüfung“ im Jahr 2000 bestanden und ist folglich zum 1. 1. 2001 in die Währungsunion aufgenommen worden. Bei Griechenland äußerte die EZB aber Bedenken hinsichtlich einer auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Haushalte. Hinzu kam, dass die Inflationsrate Griechenlands durch Einmalmaßnahmen beeinflusst wurde. Zudem mussten im Nachhinein die von Griechenland gemeldeten Zahlen korrigiert werden. Die Länder, die 2004 in die EU aufgenommen wurden, verpflichteten sich, zu einem späteren Zeitpunkt den Euro als Währung einzuführen. 2007 wurde Slowenien, 2008 Malta und Zypern, 2009 die Slowakei, 2011 Estland und 2014 Lettland in die Währungsunion aufgenommen. Der Antrag von Litauen wurde vor allem mit dem Verweis auf mangelnde Nachhaltigkeit beim Inflationskriterium abgelehnt. Auch die Europäische Währungsunion hat sich dem Sog der von den Immobilienmärkten in den USA und einigen europäischen Ländern ausgehenden Finanzkrise nicht entziehen können. Ab 2010 gerieten dann insbesondere die Staaten in Schwierigkeiten, die schon vor Ausbruch der Krise eine relative hohe Staatsverschuldung hatten (Griechenland, Italien) bzw. die von der Krise wirtschaftlich sehr stark getroffen wurden (Spanien, Irland, Portugal, Zypern). Dies hat auch die EZB veranlasst, auf dem Markt für Staatsanleihen zu intervenieren. Kontrollfragen Was ist mit dem Konvergenzkriterium einer auf Dauer tragbaren Finanzlage der 1 öffentlichen Hand gemeint? Wie wurde bis zur Ablehnung des Antrags Litauens im Jahr 2006 mit den Konver- 2 genzkriterien bei der Beschlussfassung über den Kreis der Teilnehmerstaaten an der Währungsunion umgegangen? Erläutern Sie den Balassa-Samuelson-Effekt. 3 Warum ist reale Konvergenz wichtig? 4 Lösungen unter europa-geldpolitik.de TEILNEHMERSTAATEN <?page no="75"?> AUSWAHL DER TEILNEHMERSTAATEN ZUR EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 76 Weiterführende Literatur Issing, O. (2008), Der Euro - Geburt, Erfolg, Zukunft, München. Otmar Issing war eine außergewöhnliche und entscheidende Person bei der Schaffung des Euro, zunächst als Chefvolkswirt und Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank und anschließend - von 1998 bis 2006 - als Chefvolkswirt und Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank. Sein Buch schildert u. a. die Vorgeschichte des Euro und den schweren Abschied der Deutschen von der D-Mark. Baldwin, R., Wyplosz, C. (2009), The Economics of European Integration, 3. A., London et al. Grosse Hüttmann, M., Wehling, H. G. (Hrsg.) (2013), Das Europalexikon - Begriffe. Namen. Institutionen, 2. A., Bonn. Herdegen, Matthias (2013), Europarecht, 15. Aufl., C. H. Beck, München. Maurer, Andreas (2012), Parlamente in der EU, Wien. Schwarzer, Daniela (2013), Die Europäische Währungsunion, Stuttgart. Tietmeyer, H. (2005), Herausforderungen Euro - wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet, München. Diese Bücher liefern einen umfassenden Überblick über Geschichte, Institutionen sowie Politikbereiche der EU. Capie, F. H., Wood, G. E. (Hrsg.) (2003), Monetary Unions: Theory, History, Public Choice, London. Die Beiträge in diesem Sammelband beschäftigen sich u. a. mit den theoretischen Fragen, die im Zusammenhang mit Währungsunionen aus ökonomischer Sicht aufgeworfen werden, mit der Geschichte von Währungsunionen im Allgemeinen und im Speziellen (u. a. mit der Währungsunion in den USA). James, H., Caruana, J. (2012), The Making of the European Monetary Union, Cambridge (US). Das Buch von James und Caruana beschäftigt sich mit den Diskussionen und Verhandlungen im Vorfeld des Entstehens der Europäischen Währungsunion. Die Autoren beschäftigen sich intensiv u. a. mit dem im Delors-Bericht 1988 / 89 erarbeiteten Dreistufenplan zur Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Europäisches Währungsinstitut (1998), Konvergenzbericht (http: / / www.ecb.int). Der Konvergenzbericht beschäftigt sich im ersten Teil ausführlich mit den Konvergenzkriterien sowie mit den prinzipiellen Anforderungen an innerstaatliche Rechtsvorschriften. Im zweiten und dritten Teil werden konkret die einzelnen Länder analysiert. Europäische Zentralbank, Konvergenzberichte (http: / / www.ecb.int) und Europäische Kommission, Konvergenzberichte (http: / / ec.europa.eu). Für EU-Mitgliedstaaten, die noch nicht der Währungsunion angehören und für die kein Sonderstatus (Dänemark; Vereinigtes Königreich) existiert, findet alle zwei Jahre oder auf Antrag eines Mitgliedstaates eine Konvergenzprüfung sowie eine Prüfung der Vereinbarkeit der innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit dem EG-Vertrag statt. Nicht nur von der EZB, sondern auch von der EU-Kommission müssen Konvergenzberichte erstellt werden, wobei die EU-Kommission dem Ecofin-Rat vorschlägt, welche Länder in die Währungsunion aufgenommen werden sollen. Die entsprechenden Prüfungen bzw. Vorschläge finden sich in obigen Berichten. De Grauwe, P. (2012), Economics of Monetary Union, 9. A., Oxford. <?page no="76"?> ZUSAMMENFASSUNG 77 Eijffinger, S. C., De Haan, J. (2000), European Monetary and Fiscal Policy, Oxford. Baldwin, R., Wyplosz, C. (2009), The Economics of European Integration, 3. A., London et al., Part IV. Im Teil 1 liefert das Buch von De Grauwe eine breite Diskussion möglicher Nutzen und Kosten einer Währungsunion vor dem Hintergrund der „Theorie optimaler Währungsräume“, wobei auch immer wieder konkrete Bezüge zur Europäischen Währungsunion hergestellt werden. Die wichtigsten Aspekte im Hinblick auf die Kosten- / Nutzenüberlegungen werden auch bei Eijffinger / De Haan vorgestellt und diskutiert (S. 14 - 26). Baldwin / Wyplosz diskutieren in Teil IV Geschichte und Grundlagen der monetären Integration in Europa. Schmieding, H. (2012), Unser Gutes Geld - Warum wir den Euro brauchen, Hamburg. Der Bankvolkswirt Holger Schmieding (früher Merrill Lynch und Bank of Amerika, heute Chef-Volkswirt der Berenberg Bank), dessen Aufgabe im Wesentlichen darin besteht, (Groß-) Investoren zu beraten, der somit ständig hautnah miterlebt, was „diese“ bzw. „die“ Märkte gerade „fühlen und denken“, beschäftigt sich in seinem Buch mit der Lage im Euro-Währungsraum und dem Stand der Anpassungsprozesse in den einzelnen Ländern. Asmussen, J. (2013), Einleitende Stellungnahme der EZB in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht am 11. 6. 2013. EZB (2012), Heterogenität der Finanzierungsbedingungen im Euro-Währungsgebiet und deren politische Implikationen, Monatsbericht August, S. 67 - 82. EZB (2012), Beurteilung der Finanzierungsbedingungen des privaten Sektors im Euro-Währungsgebiet während der Staatsschuldenkrise, Monatsbericht August, S. 83 -104. Ruckriegel, K. (2012b), Das Verhalten der EZB während der Finanzkrisen(n) - Update, in: Thomas Sauer (Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Währungsunion - Kritische Analysen, Marburg, S. 45 - 68 Ruckriegel, K. (2013) Quo vadis, Europäische Währungsunion? , Nürnberg (www.ruckriegel.org). In den beiden Monatsberichten beschäftigt sich die EZB mit den Heterogenitäten der Finanzbedingungen im Eurowährungsraum infolge der Staatschuldenkrise. Sie zeigen den Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Zinssätze für Staatsanleihen in einigen Ländern der Währungsunion und einer Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen für Unternehmen und Privathaushalte in diesen Ländern auf. Damit wurde laut EZB der monetäre Transmissionsprozess in diesen Ländern massiv gestört, was ein Grund für die Interventionen der EZB auf den Anleihemärkten war. Ruckriegel beschäftigt sich in seinen beiden Beiträgen ausführlich mit der Entstehung der Finanzkrise und der Reaktion bzw. dem Wandel in der Reaktion des Eurosystems darauf und zieht dabei die Erkenntnisse der Behavioral Economics zur Erklärung heran. Bei der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage Rechtmäßigkeit des Anleihen-Ankaufsprogramms der EZB am 11. 6. argumentierte Jörg Asmussen, Mitglied des Direktoriums der EZB, auf der Grundlage der Erkenntnisse der Behavioral Economics. TEILNEHMERSTAATEN <?page no="78"?> „Die Verselbständigung der meisten Aufgaben der Währungspolitik bei einer unabhängigen Zentralbank löst staatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parlamentarischer Verantwortlichkeit, um das Währungswesen dem Zugriffvon Interessengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandatsträger zu entziehen.“ Bundesverfassungsgericht, Maastricht-Urteil vom 12. 10. 1993 24 24 NJW 1993, H. 47, S. 3056. Dieselbe Argumentation findet sich bereits im Regierungsentwurf zum Bundesbankgesetz aus dem Jahre 1956 (Deutscher Bundestag, 1956, 24 - 26). Eine Untersuchung von de Haan et al. (2002), ergab, dass die Deutsche Bundesbank über die Jahre hinweg politischem Druck nicht nachgegeben hat. Kapitel II Das Eurosystem als Institution <?page no="79"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 80 Der Begriff „Eurosystem“ findet sich nicht im EU-Vertrag. Er wurde vielmehr zu Beginn der (dritten Stufe der) Währungsunion (1. 1. 1999) vom EZB-Rat eingeführt, um die Teile des Europäischen Systems der Zentralbanken zu bezeichnen, die für Geldpolitik im Euroraum zuständig und verantwortlich sind. 1 Warum staatliche Zentralbanken? Die Diskussion über die Notwendigkeit einer (staatlichen) Zentralbank und ihren mehr oder weniger autonomen Handlungsspielraum zur Sicherung der Preisstabilität ist nicht neu. Das Spektrum der Ansichten reicht von rechtlich / politisch abhängiger über rechtlich / politisch autonomer staatlicher Zentralbank bis zur Abschaffung des staatlichen Monopols und Ersetzung durch den wettbewerblichen Ausleseprozess. Vorherrschend ist die Überzeugung, dass die Institution „staatliche Zentralbank“ benötigt wird, da Geschäftsbanken in marktwirtschaftlichen Systemen mikroökonomisch auf Gewinnerzielung, nicht aber makroökonomisch auf die Aufrechterhaltung von Preisniveaustabilität ausgerichtet sind (siehe hierzu auch White, 1999, 80). Mit der Schaffung einer Zentralbank allein ist es jedoch nicht getan. Vor allem zwischen einem stabilitätspolitischen Wollen von Zentralbanken und ihrem politisch abhängigen Können bestand nicht selten eine große Kluft. Soll diese vermieden werden, müssen der Zentralbank eindeutige und exklusive Zuständigkeiten zugewiesen werden: „After decades of instability, central bankers, governments, and economists have reached a consensus that the appropriate role of a central bank in the prevailing fiat-money regime includes: (1) the clear assignment or the responsibility for inflation to the central bank; (2) agreement that inflation should be low and stable …“ (Wood, 2005, 1). Die Zuweisung der Verantwortung für Preisstabilität an die Zentralbank impliziert allerdings, dass diese sich auch diesem Ziel widmen kann, d. h. in ihren Entscheidungen von der Politik unabhängig ist. Mit dem Maastrichter Vertrag, der Preisstabilität als oberstes Ziel der Geldpolitik festlegt und den Zentralbanken Autonomie bei der Zielerreichung zuweist, scheint die Diskussion über Aufgabe und Status der Zentralbank in der EU im Sinne von Wood entschieden zu sein. 1.1 Staatliche Zentralbanken versus Hayek’s „Entnationalisierung des Geldes“ Hayek sah in seinem Werk, „Die Verfassung der Freiheit“ - das Original erschien 1960 auf Englisch - eine unabhängige Zentralbank zunächst als die beste Lösung an, um Geldwertstabilität zu gewährleisten (von Hayek, 1983, 420). Später gelangte er aber - historisch begründet - zu der Überzeugung, dass Zentralbanken wegen politischen <?page no="80"?> WARUM STAATLICHE ZENTRALBANKEN? 81 Drucks ihr Hauptziel de facto nicht hinreichend verfolgen würden. Statt von einer Enthaltsamkeit des Staates gegenüber „seiner“ Zentralbank sei von einem andauernden Interesse des Staates an einer schuldbefreienden Inflation (Inflationssteuer) auszugehen. Er forderte deshalb eine vollkommene „Entnationalisierung des Geldes“ (von Hayek, 1990), deren Konsequenz unter anderem eine Aufgabe der Anbindung der Geschäftsbanken an die (monopolistische) Zentralbank bei der Geldschöpfung wäre. Heutzutage werden diese Überlegungen von der „Free Banking“-Schule vertreten (siehe Dowd, 2003). Hayek glaubte, das Problem übermäßiger Geldemission und damit inflatorischer Entwicklungen durch Wettbewerb unter den Geldemittenten in Schach halten zu können. Er argumentierte, dass im Wettbewerb nur die Währungen überleben würden, die eine stabile Kaufkraft aufwiesen. Im Lichte dieses Vorschlags muss das, was mit der Einführung der gemeinsamen Währung in der EWU geschah, als geradezu aberwitzig erscheinen: Denn statt der Konkurrenz der Währungen haben wir es beim Euro mit einem wettbewerbsbeschränkenden Zusammenschluss zu tun. Anstatt vorher prinzipiell möglicher Konkurrenz zwischen den nationalen EWU-Währungen gibt es nur noch eine Währung, eine Geldpolitik und eine ausschließlich zuständige Instanz. Zu fragen ist allerdings zum einen, ob die Befürchtungen Hayeks unter den aktuellen institutionellen Bedingungen der EWU noch ihre Berechtigung haben. Zum anderen sind auch die Folgen zu bedenken, die mit der Umsetzung des Hayek-Vorschlags verbunden wären. Das Vorstellungsbild einer Zentralbank, die dem politischen Willen der nationalen Regierung unterworfen ist, galt bereits in der Vergangenheit nicht uneingeschränkt, sodass - wie etwa im Falle der Deutschen Bundesbank - eine Bezeichnung ihrer Geldpolitik als „staatliche Geldpolitik“ zumindest interpretationsbedürftig wäre. 25 Die Übertragbarkeit des Gedankens von der Geldpolitik des Staates auf das Eurosystem unterliegt noch weiteren Einschränkungen schon allein deshalb, weil es in der EWU eine (gegenüber dem Eurosystem oder der EZB möglicherweise weisungsbefugte) Zentralregierung nicht gibt. Dies schließt freilich nicht aus, dass über verschiedene politische Wirkungskanäle ein Instabilitäts-Bias im Vergleich zur Hayekschen Konkurrenzlösung dennoch erwachsen könnte. Vertreter der Hayekschen Konkurrenzlösung sehen in der vom Eurosystem seit Herbst 2008 vorgenommenen „Non-standard measures“ einen Beleg ihrer These. Abgesehen von der Relevanz unter den derzeitigen institutionellen Regeln in der EWU, die Umsetzung des Hayek-Vorschlags wäre zudem mit einer Reihe von Problemen verbunden: Zwar würden im Zuge des Wettbewerbsprozesses „instabile“ Wäh- 25 Issing erwähnt eingangs seiner Hayek Memorial Lecture (2000, 10) einen diesbezüglichen Dissens mit von Hayek. Er wollte Hayeks Beitrag zur Währungskonkurrenz in einen Readings- Band zur Geldpolitik aufnehmen und dem Text eine deutsche Übersetzung des folgenden Zitats voranstellen: „Inflation is made by government and its agents. Nobody else can do anything about it.“ Trotz langer Korrespondenz hätten sie sich jedoch nicht über die deutsche Übersetzung für „government“ einigen können, sodass es schließlich bei der englischsprachigen Formulierung blieb. INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="81"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 82 rungen ausscheiden. Durch diese instabilen Währungen wäre der Wettbewerbsprozess selbst aber durch Inflation gekennzeichnet. Man hätte es also mit einem langwierigen inflationären Übergangsprozess zum langfristigen Gleichgewicht zu tun. Zudem wäre es keineswegs sichergestellt, dass die Währung(en), die wegen ihrer Kaufkraftstabilität übrig bliebe(n), für alle Zeiten stabil bliebe(n), da alte und neu auftretende Emittenten jederzeit der Versuchung unterliegen könnten, mithilfe übermäßiger, d. h. inflationärer Emission die Seigniorage-Einnahmen (zu Seigniorage-Einnahmen siehe Box II.3.3) zu steigern. Schließlich gäbe es, zumindest während des Wettbewerbsprozesses, eine große Zahl von Währungen, sodass der Nutzen des Geldes als Recheneinheit und zur Einsparung von Transaktions-, speziell Such- und Informationskosten, stark beeinträchtigt würde (zu den Gründen, weshalb Geld erfunden wurde, siehe Box. II.1.1). Gibt es nämlich nicht nur einen Preis für jedes Gut, sondern bei n Währungen n Preise, so kompliziert sich das Preissystem unnötig, wodurch die Transaktionskosten des Tausches steigen, also Effizienzverluste entstehen (siehe hierzu Issing, 2000, 17 f.). Box II.1.1: Warum wurde „Geld“ erfunden? Sowohl die Erfindung der „Schrift“ als auch die Erfindung des „Geldes“ hatten ihre Ursache in wirtschaftlichen Notwendigkeiten, die sich aus komplexer werdenden Tauschprozessen ergaben. „… some time in the late 4 th millennium BC, the complexity of trade and administration in the early cities of Mesopotamia reached a point at which it outstripped the power of memory of the governing elite. To record transactions in a dependable, permanent form became essential.” (Robinson, 2001, 11). Während die Schrift also erfunden wurde, weil die Notwendigkeit bestand, über Transaktionen „Buch zu führen”, war die Erfindung des „Geldes” Folge des Bemühens, die Informations- und Transaktionskosten des Tausches zu senken. Dadurch konnten die transaktionsbedingt engen Grenzen der Naturaltauschwirtschaft überwunden werden, und es wurden erst die Voraussetzungen für eine hoch arbeitsteilige und spezialisierte Volkswirtschaft mit hoher Produktivität geschaffen. Letztere wiederum ermöglicht ein hohes Maß an Güterversorgung der Bevölkerung und leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur materiellen Basis einer Gesellschaft. Mit Geld hat man ein standardisiertes Gut, mit dem sich die Werte aller anderen Güter ausdrücken lassen (Rechenfunktion). Geld als Recheneinheit kann zum Vergleich von ökonomischen Vorkommnissen verwendet werden, die zeitlich eng beieinander liegen (Querschnittanalyse), z. B. Preise unterschiedlicher Waren, Vergleich unterschiedlicher Möglichkeiten der Einkommenserzielung. Geld als Recheneinheit kann aber auch für Vergleiche im Zeitablauf (Längsschnittanalyse) dienen, z. B. Entscheidung über die Durchführung einer Investition durch ein Unternehmen. Geld kommt des Weiteren eine Tauschbzw. Zahlungsmittelfunktion zu. Erst die Zahlungsmittelfunktion des Geldes befreit die Güterzirkulation von der Tauschrestriktion, also der Notwendigkeit, dass ein Güternachfrager nicht nur einen Lieferanten finden muss, sondern darüber hinaus einen solchen Lieferanten, der umgekehrt zugleich Bedarf an den von ihm selbst angebotenen Gütern besitzt (sog. „doppelte Synchronisation der Wünsche“). Geld als allgemein akzeptiertes Zahlungsmittel dient auch der isolierten Weitergabe von Kaufkraft in sog. Verteilungstransaktionen (Primärverteilungstransaktion: z. B. Lohn- <?page no="82"?> WARUM STAATLICHE ZENTRALBANKEN? 83 oder Zinszahlungen; Umverteilungstransaktionen: z. B. Steuerzahlungen oder Unterstützungszahlungen). Geld als Zahlungsmittel findet ferner in Anlage- oder Kredittransaktionen Verwendung (Geld gegen Forderung). Die Möglichkeit zu Finanzierungsakten stellt eine Voraussetzung für die Entstehung wirklich großer Produktionsstätten dar; denn sie erst schaffen die Vorbedingung dafür, dass man Investitionen durchführen kann, ohne vorher selbst in gleichem Umfang Vermögen gebildet zu haben. Schließlich ist noch die Wertauf bewahrungsfunktion zu erwähnen, die es erlaubt, die Tauschakte Ware gegen Geld und Geld gegen Ware zeitlich zu trennen. Die Wertaufbewahrungsfunktion kann direkt ausgeübt werden, indem eigentliche Zahlungsmittel (Bargeld, täglich fällige Gelder) gehalten werden. Wohl wichtiger ist allerdings die indirekte Ausübung der Wertauf bewahrungsfunktion durch Geld als Denominationseinheit von Schuldbeziehungen (z. B. auf Euro lautende Staatsanleihen). Die Wirtschaftssubjekte müssen hier darauf vertrauen können, dass die Kaufkraft einer Geldeinheit im Zeitablauf im Wesentlichen erhalten bleibt. Dies zeigt: Funktionsfähiges, vor allem stabiles Geld ist eine entscheidende Vorbedingung für das Ingangkommen der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung. Vermögensgegenstände, die die Geldfunktionen erfüllen, werden als Geld bezeichnet. Im Lauf der Geschichte haben verschiedene „Güter“ diese Funktionen erfüllt. Im Wandel von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft setzten sich die Geldformen durch, die als Tauschmedien besonders geeignet waren. So wurden solche Geldgüter bevorzugt, die auf kleinem Raum große Werte unterbrachten, also platzsparend, werthaltig, transportabel, teilbar und nicht verderblich waren, was zur Folge hatte, dass sich Edelmetalle dafür besonders eigneten und durchsetzten. Während zu Beginn bei jedem Tauschprozess noch Gewicht und Reinheit des Metalls überprüft wurden, kam es dann zunehmend zur öffentlichen Regulierung und Standardisierung des Geldwesens, um die beim Tausch anfallenden Transaktionskosten zu verringern. Im 7. Jahrhundert vor Christus wurden im lydischen Reich die ersten Münzen von einer Zentralstelle geprägt. Bei den heute üblichen Geldarten wird nach Zentralbankgeld (ZBG) und Geschäftsbankengeld unterschieden. Das ZBG besteht aus dem Bargeldbestand der Nichtbanken (BG) 26 und den Guthaben (Einlagen, Depositen) der Geschäftsbanken (D SGB ) bei der Notenbank (Zentralbank). 27 Es wird auch als Geldbasis oder „high powered money“ bezeichnet. Definitorisch gilt also: ZBG = BG + D SGB Unter Geschäftsbankengeld versteht man die von den Nichtbanken bei den Geschäftsbanken gehaltenen Guthaben. Über dieses Geld kann mittels Abhebung, Überweisung, Scheckziehung etc. verfügt werden. Das Geschäftsbankengeld wird auch als Buch- oder Giralgeld bezeichnet. 26 Vom Kassenbestand der Kreditinstitute, welcher natürlich auch Zentralbankgeld darstellt, wird aus Gründen der Vereinfachung abgesehen. 27 Im Folgenden werden - wie in der Literatur üblich - die Begriffe Notenbank und Zentralbank synonym verwendet. INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="83"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 84 Im Rahmen geldpolitischer Fragestellungen sind verschiedene, mehr oder minder weite Geldmengenabgrenzungen gebräuchlich, und zwar M1, M2 und M3. M1 ergibt sich z. B. aus der Addition des Bargeldbestandes und der täglich fälligen Einlagen von Nichtbanken bei Banken (D SNB ). M1 = BG + D SNB Bei den weiter gefassten Geldmengenaggregaten M2 und M3 werden zusätzliche Anlageformen einbezogen (siehe Box III.2.12). Die im Zuge dieses „Ausleseprozesses“ auftretenden Bankenzusammenbrüche könnten zudem zu Panikreaktionen der Bankkunden führen, wodurch die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsverluste noch spürbar erhöht würden. Ein weiterer Grund für das Entstehen von staatlichen Zentralbanken war deshalb auch, Panikreaktionen durch ihre Funktion als „lender of last resort“ entgegenzuwirken (siehe hierzu auch Gorton / Huang, 2003, 181 f. und White, 1999, 74). So wird etwa die Gründung des Federal Reserve Systems in den USA im Jahre 1913 gerade darauf zurückgeführt. „During the nineteenth century and the beginning of the twentieth century, financial panics plagued the nation, leading to bank failures and business bankruptcies that severely disrupted the economy.“ (Board of Governors, 2005, 1 f., zu den Motiven, die hinter der Gründung einzelner Zentralbanken standen, siehe Siklos, 2002, 11; zu den aktuellen aufsichtsrechtlichen Herausforderungen siehe Box II.1.2). Box II.1.2: Finanzmarktregulierung als Rahmen für ein stabiles Finanzsystem Eine funktionierende Geldpolitik benötigt ein stabiles Finanzsystem. Im Eurosystem sind Banken als Teil des Finanzsystems zentraler Ansatzpunkt des geldpolitischen Instrumentariums und die Übertragung geldpolitischer Impulse benötigt funktionierende Finanzmärkte sowie eine sichere und effiziente finanzielle Infrastruktur. Darüber hinaus ist ein stabiles Finanzsystem unabdingbar für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Die im Jahr 2007 ausgebrochene Finanzkrise ist neben anderen Ursachen auf eine unzureichende Regulierung und Aufsicht zurückzuführen. Weltweit haben Regierungen, Aufsichtsbehörden und Zentralbanken daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass sich eine effektive Finanzmarktregulierung auf alle Teile des Finanzsystems erstrecken müsse: Finanzinstitute (z. B. Banken), Finanzmärkte (z. B. Derivatemärkte), Finanzinstrumente (z. B. Verbriefungen) sowie finanzielle Infrastrukturen (z. B. zentrale Gegenparteien, die sich an Märkten als zentrale Kontrahenten zwischen zwei Vertragspartner stellen und die Erfüllung der Verträge garantieren). Eine sektorspezifische Ausrichtung der Regulierung ist dabei nicht ausreichend, vielmehr müssen auch mögliche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Teilen beachtet werden. Die globale Ausrichtung des Finanzsystems macht einen international abgestimmten Regulierungsansatz nötig. Daher spielt die informelle Gruppe der 20 bedeutendsten In- <?page no="84"?> WARUM STAATLICHE ZENTRALBANKEN? 85 dustrie- und Schwellenländer (G20) bei der Bewältigung der Finanzkrise eine maßgebliche Rolle. Diese hat inzwischen zahlreiche Maßnahmen zur Stärkung des internationalen Finanzsystems beschlossen, die dem Grundsatz folgen, dass jedes Finanzinstitut, jeder Finanzmarkt und jedes Finanzinstrument einer angemessenen Aufsicht und Regulierung unterliegen solle. Als zentrale Bereiche der Finanzmarktregulierung haben die G20 robustere Eigenkapital- und Liquiditätsstandards für Banken (siehe Box IV.1.7), die Reform der OTC- Derivatemärkte (over-the-counter), die Regulierung des Schattenbankensystems (z. B. Hedgefonds) sowie die Lösung der „too big to fail“-Problematik identifiziert. Zu letzterem gehört beispielsweise die Etablierung von Sanierungs- und Abwicklungsplänen. Darüber hinaus wurde eine weitergehende Regulierung der Ratingagenturen beschlossen und es wird ein Abbau der übermäßigen Bezugnahme auf Ratings angestrebt. Da die G20-Beschlüsse keinen rechtlich bindenden Charakter besitzen, werden sie in der EU durch verbindliche Richtlinien und Verordnungen umgesetzt, von denen im Folgenden die wichtigsten vorgestellt werden. Die OTC-Derivatemärkte waren bis zur Finanzkrise weitgehend unreguliert. Daher beschlossen die G20 im Jahr 2009, dass künftig alle standardisierten OTC-Derivate über zentrale Gegenparteien abgewickelt werden sollen, um systemische Risiken zu reduzieren. Für nicht zentral abgewickelte Derivatekontrakte sollen höhere Eigenkapital- und Besicherungsanforderungen gelten. Darüber hinaus sollen alle OTC-Derivatetransaktionen an zentrale Transaktionsregister gemeldet werden, um die Transparenz der OTC-Derivatemärkte zu erhöhen. Kernelement zur Umsetzung dieser G20-Vereinbarungen in der EU ist die im Jahr 2012 verabschiedete EU-Verordnung über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister (EMIR, European Market Infrastructure Regulation). Die zeitgleich von den G20 beschlossene Vereinbarung, standardisierte OTC-Derivate (sofern angemessen) künftig auf Börsen oder elektronischen Handelsplattformen zu handeln, soll mit der seit 2011 in Überarbeitung befindlichen Finanzmarktrichtlinie Mi- FID (Markets in Financial Instruments Directive) umgesetzt werden. Weiteres zentrales Kernelement der MiFID-Überarbeitung ist die Erhöhung der - bisher nur für bestimmte Aktien geltenden - Handelstransparenz auch für Anleihe- und Derivategeschäfte. Die Finanzkrise wurde auch durch Regulierungsarbitrage, die das Schattenbankensystem ermöglicht, verstärkt. Das Schattenbankensystem ist ein System der Kreditintermediation, in dem Akteure und Aktivitäten außerhalb des regulären Bankensystems involviert sind. Anders als der Begriffsuggeriert, werden Schattenbanken in Europa durchaus in einer Vielzahl von EU-Richtlinien und -Verordnungen reguliert. So werden beispielsweise die Schattenbankenakteure „Investmentfonds“ bereits seit 1985 in der mittlerweile mehrmals überarbeiteten OGAW-Richtlinie (Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren) und die Schattenbankenaktivitäten „Verbriefungen“ im Kreditwesengesetz reguliert. Mit der im Jahr 2011 verabschiedeten AIFM-Richtlinie (Alternative Investment Fund Managers) werden zudem alternative Investoren, wie die Manager von Hedgefonds und Private Equity Fonds, erfasst. In einem 2012 veröffentlichten Grünbuch analysiert die EU-Kommission, in welchen Bereichen auf europäischer Ebene zusätzlicher Regulierungsbedarf für das Schattenbankensystem besteht. Die Finanzkrise hat die Notwendigkeit unterstrichen, auch systemrelevante Finanzinstitute abwickeln zu können. Dabei gilt es, Ansteckungseffekte zu vermeiden, die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten und die Steuerzahler nicht zu belasten. Daher INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="85"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 86 legte die EU-Kommission 2012 einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen vor. Außerdem führte sie 2012 eine Konsultation über einen möglichen Rechtsrahmen für die Sanierung und Abwicklung von anderen systemrelevanten Finanzinstituten als Banken durch. Dazu gehören u. a. Finanzmarktinfrastrukturen wie zentrale Gegenparteien. Ratingagenturen sind u. a. aufgrund nicht gerechtfertigter Ratings bedingt durch fehlerhafte Annahmen für einige Verbriefungssegmente und bestehender Interessenkonflikte bereits zu Beginn der Finanzkrise in die Kritik geraten. Es zeigte sich außerdem, dass sich Marktteilnehmer in der Vergangenheit oft viel zu stark auf externe Ratings stützten. Daher wurde bereits 2009 eine EU-Verordnung zur Regulierung von Ratingagenturen erlassen. Ein zentrales Element der jüngsten Überarbeitung (2013) ist die Umsetzung einer G20-Vereinbarung, wonach sich Nutzer von Ratings z. B. bei Investitionsentscheidungen nicht ausschließlich auf externe Ratings, sondern primär auf eigene Kreditwürdigkeitsanalysen verlassen sollten. Zudem wird ein Abbau der Bezugnahmen auf externe Ratings in den aufsichtlichen und regulatorischen Anforderungen angestrebt. Außerdem sollen Interessenkonflikte von Ratingagenturen verringert und die Transparenz von Ratings verstärkt werden. Darüber hinaus haften Ratingagenturen künftig bei vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verstößen gegen die EU-Verordnung, durch die einem Investor oder Emittenten Schaden entstanden ist. Box erstellt von Julia Becker (Deutsche Bundesbank). Angesichts der Risiken, die einem Experimentieren mit dem Hayek-Vorschlag anhaften, erscheint es zweckmäßiger, die institutionelle Absicherung der Preisstabilität mit einer staatlichen Zentralbank zu verknüpfen. Dies bedeutet selbstverständlich, dass die Geschäftsbanken an der „Leine“ der Zentralbank hängen müssen, eine „Leine“, die von Hayek mit seinem Vorschlag kappen wollte. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der infolge der Finanzkrise nach 2007 zunehmend in den Focus der wirtschaftspolitischen Diskussion getreten ist: Die zunehmenden Zweifel an der Relevanz der Effizienzmarkttheorie (siehe hierzu auch die Boxen I.3.1, sowie V.3.5). Wurde bis dahin häufig unterstellt, dass Märkte rational agieren, ist das mittlerweile umstritten. Wenn (Finanz-) Märkte aber teilweise zu irrationalen Übertreibungen neigen, dann wird ein „kühler“ Akteur, also eine staatliche Zentralbank, die unabhängig ist und sich nicht (so leicht) von Markt- und politischen Stimmungen anstecken lässt, unverzichtbar (zu der deshalb auch neu eingeführten makroprudenziellen Überwachung siehe Box II.1.3) Box II.1.3: Makroprudenzielle Überwachung Ein stabiles Finanzsystem gewährleistet eine effiziente Allokation finanzieller Mittel und Risiken sowie die Bereitstellung einer leistungsfähigen Finanzinfrastruktur. Es ist damit eine wichtige Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Jedoch wird die Finanz- <?page no="86"?> WARUM STAATLICHE ZENTRALBANKEN? 87 stabilität durch systemische Risiken - also durch Gefahren für das gesamte Finanzsystem und nicht nur für einzelne seiner Akteure - gefährdet. Risiken für das Finanzsystem erwachsen einerseits aus möglichen Ansteckungseffekten zwischen den Teilsegmenten des Finanzmarktes und / oder den dort agierenden Finanzintermediären (Querschnittdimension). Andererseits aber auch durch die zyklische Variation von Risiken im Verhältnis zur Kapital- oder Liquiditätsausstattung der Finanzakteure (Zeitdimension). Hier setzt die sogenannte makroprudenzielle Überwachung an, die - in Abgrenzung zur mikroprudenziellen Aufsicht - den Blickwinkel der Überwachung von der Stabilität einzelner Finanzinstitute auf das Finanzsystem als Ganzes erweitert. Ihre Aufgabe ist die Wahrung von Finanzstabilität durch die frühzeitige Identifikation und zielgenaue Bekämpfung systemischer Risiken. Sie schafft damit die Voraussetzungen, dass sich andere Politikdisziplinen, z. B. die Geldpolitik, auf ihre eigentlichen Ziele und Aufgaben konzentrieren können. Makroprudenzielle Überwachung benötigt einen soliden institutionellen Rahmen. Dieser beinhaltet, dass die makroprudenziellen Instanzen die Möglichkeit besitzen sollten, alle zur Einschätzung der Finanzstabilitätslage relevanten Daten zu untersuchen und gegebenenfalls bestehende Datenlücken zu schließen. Darüber hinaus müssen ihnen wirksame makroprudenzielle Instrumente zur Verfügung stehen, um die Risiken für die Finanzstabilität effizient und effektiv bekämpfen zu können. Schließlich dürfen auch die Nebenwirkungen des makroprudenziellen Instrumenteneinsatzes nicht vernachlässigt werden: Dazu zählen einerseits die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf andere Politikfelder (z. B. Geld- und Fiskalpolitik), andererseits aber auch die Wechselwirkungen mit den makroprudenziellen Entscheidungen anderer Länder, aus denen die Gefahr von Regulierungsarbitrage erwachsen kann. Somit erscheint eine Koordinierung der makroprudenziellen Politik auf nationaler wie auf internationaler Ebene wünschenswert. Der Auf bau eines institutionellen Rahmens makroprudenzieller Überwachung ist bereits weit fortgeschritten. Auf Beschluss der Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G 20) vom April 2009 koordinieren der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board, FSB) und der Internationale Währungsfonds die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Überwachung des globalen Finanzsystems. Auf europäischer Ebene hat Anfang 2011 der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (European Systemic Risk Board, ESRB) die Aufgabe der makroprudenziellen Überwachung übernommen. Seine Aufgabe ist es insbesondere, die Expertise der europäischen Zentralbanken und der mikroprudenziellen Aufsichtsbehörden zu bündeln. Identifiziert der ESRB Risiken im europäischen Finanzsystem, kann er Warnungen aussprechen und Empfehlungen für das Ergreifen geeigneter Maßnahmen zur Sicherung der Finanzstabilität geben. Entscheidet sich der ESRB für eine Empfehlung, müssen die adressierten europäischen oder nationalen Behörden dieser Empfehlung nachkommen oder detailliert erklären, warum sie der Empfehlung nicht folgen (sog. „comply or explain“). So initiierte die im Dezember 2011 verabschiedete Empfehlung zu dem makroprudenziellen Mandat der nationalen Behörden die Einrichtung nationaler makroprudenzieller Institutionen mit gesetzlich klar geregelten Handlungsrahmen. Deutschland ist dieser Empfehlung nachgekommen und hat auf Basis des zum 1. Januar 2013 inkraftgetretenen Gesetzes zur Überwachung der Finanzstabilität (FinStabG) den Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) errichtet. Dieser verzahnt die mikroprudenzielle Aufsicht mit der makroprudenziellen Überwachung. Dem AFS gehören jeweils drei INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="87"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 88 Vertreter des Bundesministeriums der Finanzen, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der Deutschen Bundesbank, sowie ein nicht-stimmberechtigtes Mitglied der Finanzmarktstabilisierungsanstalt an. Das FinStabG hat den AFS mit den Instrumenten der Warnungen und Empfehlungen ausgestattet, sodass das deutsche Gremium im Kern über die gleichen Möglichkeiten verfügt wie der ESRB auf europäischer Ebene. Dabei lassen sich die verfügbaren Werkzeuge nach juristischen Kriterien grundsätzlich in „weiche“, „mittlere“ und „harte“ Instrumente unterteilen. Demnach ist die Kommunikation mit der Öffentlichkeit ein „weiches“ makroprudenzielles Instrument, das keine Rechtsverbindlichkeit genießt, jedoch Erwartungen und damit Verhalten beeinflussen kann. Warnungen und Empfehlungen, denen die jeweiligen Adressaten im Rahmen des „comply or explain“-Verfahrens unterliegen, zählen bereits zu den „mittleren“ Instrumenten des AFS. Dabei können insbesondere Empfehlungen den Einsatz „starker“ makroprudenzieller Instrumente einleiten, bei denen es sich um direkte Eingriffe in die Geschäftstätigkeit der Finanzmarktakteure handelt. Diese umfassen die Aktivierung von Kapitalpuffern, die Vorgabe von Liquiditätsanforderungen oder die Vorgabe von Kapitalzuschlägen für systemrelevante Finanzinstitute. Solche starken Instrumente bedürfen einer rechtlichen Grundlage und ihre Anwendung demokratischer Kontrolle. In der für Deutschland beschlossenen Aufgabenteilung sind Eingriffsinstrumente im Bankensektor daher bei der BaFin angesiedelt. Box erstellt von Axel Löffler (Deutsche Bundesbank). 1.2 Anbindung der Geschäftsbanken an die (staatliche) Zentralbank 28 Geschäftsbanken fragen Zentralbankgeld in Form von Banknoten und von Guthaben (Einlagen) bei der Zentralbank nach, wobei letztere den geldpolitischen Ansatzpunkt im Rahmen der operativen Umsetzung der Geldpolitik des Eurosystems, der Fed und der Bank of England darstellen. Neben dem Bedarf an Banknoten (Position P.1 in Abb. II.1.1), die aufgrund des Banknotenmonopols der Zentralbank nur von dieser emittiert werden dürfen, ziehen die Verpflichtung zur Haltung von Mindestreserven sowie der Wunsch, Guthaben zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs (Arbeitsguthaben bzw. Working Balances) bei der Zentralbank zu halten, eine Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank seitens der Kreditinstitute nach sich (Position P.2 in Abb. II.1.1). 28 Wegen der grundlegenden Bedeutung dieses Zusammenhanges für das Verständnis der Geldpolitik wird dieser Gedankengang im Kapitel III.3 unter spezieller Bezugnahme auf das Eurosystem wieder aufgegriffen. <?page no="88"?> WARUM STAATLICHE ZENTRALBANKEN? 89 Abbildung II.1.1: Grundstruktur der Zentralbankbilanz Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven P.1: Banknotenumlauf a) A.2a: Forderungen an Kreditinstitute P.2: Verbindlichkeiten ggü. Kreditinstituten A.2b: Bestand an (staatlichen) Wertpapieren A.3: Sonstiges P.3: Sonstiges Anmerkung: a) Banknoten außerhalb des Zentralbanksystems. Zentralbankgeld kann aber nur geschaffen werden, wenn die Kreditinstitute Geschäfte mit der Zentralbank tätigen. Hier kommt die Aktivseite der Zentralbankbilanz ins Spiel. Im Wesentlichen gibt es drei Möglichkeiten für die Bereitstellung von Zentralbankgeld: Entweder die Zentralbank ist bereit, Fremdwährungsforderungen anzukaufen (Position A.1) oder die Kreditinstitute verschulden sich bei der Zentralbank (Position A.2a) oder die Zentralbank kauft von den Kreditinstituten (staatliche) Wertpapiere an (Position A.2b). Die Einkünfte des Eurosystems rühren daher, dass die Kreditinstitute für die Kreditaufnahme bei der Zentralbank Zinsen zahlen müssen bzw. daraus, dass die Zentralbank Zinsen für angekaufte Wertpapiere erhält oder die Fremdwährungsforderungen zinsbringend anlegt. Einkünfte aus Vermögenswerten entstehen darüber hinaus, wenn Bewertungsgewinne durch Veräußerung realisiert werden (zur Behandlung der Veräußerung von Goldverkäufen siehe Box III.3.1). 29 Da die Mindestreservehaltung mit dem Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft verzinst wird, diese Zinszahlungen aber von den monetären Einkünften aus Vermögenswerten abgezogen werden, bleibt als entscheidende Quelle für umverteilungsrelevante Einkünfte nur noch der Banknotenumlauf übrig. Beim Fed rühren die Einkünfte hingegen im Wesentlichen aus den Zinserträgen der im Rahmen der Offenmarktgeschäfte angekauften (staatlichen) Wertpapiere her. 29 Der Konsolidierte Ausweis des Eurosystems zeigt jeweils zum Wochenschluss die Vermögenswerte und die Verbindlichkeiten der EZB und der nationalen EWU-Zentralbanken. Die Vermögenswerte, insbesondere Gold und Fremdwährungsforderungen werden jeweils zum Quartalsende zu Marktpreisen neu bewertet. Während des Quartals werden die Transaktionen des Eurosystems zu Transaktionswerten gebucht. Unrealisierte Bewertungsgewinne stellen keine monetären Einkünfte dar. Sie finden ihren Niederschlag auf der Passivseite unter der Position „Ausgleichsposten aus Neubewertung“ - in Abb. II.1.1 unter P.3 Sonstiges erfasst. Unrealisierte Bewertungsverluste schlagen sich am Jahresende in der GuV-Rechnung nieder, sofern sie vorangegangene Bewertungsgewinne übersteigen. Die monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken bzw. der Nettogewinn der EZB werden also nur dann berührt, wenn es zu einer Realisierung von Bewertungsgewinnen bzw. -verlusten durch Veräußerung kommt oder wenn Bewertungsverluste am Jahresende nicht mehr durch eine Auflösung des Ausgleichspostens aus Neubewertung für die betreffende Position (z. B. US-$) kompensiert werden können. Dies war etwa im Jahre 2003 der Fall. INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="89"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 90 2 Zielvorgabe(n) und Unabhängigkeit „Classicals and Keynesians agree that, for disinflation to be achieved without high unemployment costs, reducing the public’s expected inflation rate is important. Perhaps the most important factor determining how quickly expected inflation adjusts is the credibility, or believability, of … the announced disinflationary policy … A strong and independent central bank, run by someone with well-known anti-inflation views, may have credibility with the public when it announces a disinflationary policy“ (Abel / Bernanke, 2005, 462). Zentralbanken können mit zinspolitischen Maßnahmen nur indirekt auf das Verhalten der wirtschaftlichen Akteure einwirken. Dies macht bereits deutlich, dass die geldpolitische Steuerung nicht eine bloße Technik darstellt, wo mittels einfacher Hebel ein bestimmtes Regelwerk gesteuert wird. Zunehmend wächst zudem die Einsicht, dass neben den traditionellen Zinswirkungen der Erwartungskanal die Wirksamkeit der Geldpolitik maßgeblich bestimmt. Danach kommt es darauf an, dass die Zentralbank die Inflationserwartungen niedrig hält. Diese Erwartungen wiederum hängen wesentlich vom institutionellen Zuschnitt der Zentralbank ab, da dieser ihre Handlungsmöglichkeiten entscheidend beeinflusst. 2.1 Zur Bedeutung von Institutionen für die Geldpolitik - Glaubwürdigkeit ist gefragt Die Bedeutung von Institutionen (wieder) ins Bewusstsein der Theorie der Wirtschaftspolitik gehoben zu haben, ist das Verdienst der Neuen Institutionenökonomik. „Funktionell gesehen, können Institutionen als Einrichtungen verstanden werden, die helfen, die Ungewissheiten des menschlichen Lebens zu verringern, das Treffen von Entscheidungen zu erleichtern und die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen zu fördern, sodass im Ergebnis die Kosten der Koordination wirtschaftlicher und anderer Aktivitäten abnehmen“ (Richter / Furubotn, 2003, 8). Bereits von Schmoller (1900, 61) hat frühzeitig die Bedeutung von Institutionen herausgearbeitet und den Begriffgeprägt. Wie wichtig formelle und informelle Regeln als handlungsleitende Institutionen sind, lässt sich beispielsweise an neueren Ansätzen der Wachstumstheorie erkennen. So stellen Hall und Jones (1999) die soziale Infrastruktur, zu der auch die Institutionen gehören, als die entscheidende Bestimmungsgröße für das Wirtschaftswachstum heraus. Auch der Internationale Währungsfonds und die Weltbank tragen verstärkt der Bedeutung von Institutionen für wirtschaftliches Wachstum Rechnung (vgl. Stark, 2005, 3). 30 30 Mit diesem Strang der Wachstumsforschung wird freilich kein wirkliches Neuland betreten wie ein Blick auf die Euckensche Ordnungstheorie und daraus abzuleitende Wachstumskonsequenzen ebenso zeigt wie auf einen Teil der (deutschsprachigen) Wachstumsforschung - vor allem unter dem Einfluss von Ernst Dürr. Es dominierten in der Vergangenheit aber freilich von Ordnungsüberlegungen „freie“ keynesianische und neoklassische Sichtweisen. Erst mit dem <?page no="90"?> ZIELVORGABE(N) UND UNABHÄNGIGKEIT 91 Erst in jüngerer Zeit sind institutionenökonomische Überlegungen auch für Fragen geldpolitischer Steuerung fruchtbar gemacht und dem institutionellen Design der Zentralbank eine entscheidende Rolle zugewiesen worden: „In der traditionellen Makroökonomik spielen die Institutionen der Geldpolitik keine wesentliche Rolle. Dies änderte sich erst, nachdem die Literatur zur Glaubwürdigkeit von Geldpolitik gezeigt hatte, dass der institutionelle Rahmen potenziell ein wichtiger Faktor zur Beeinflussung der Erwartungen des privaten Sektors ist.“ (von Hagen et al., 2002, 11). Diese Vernachlässigung bzw. Nichtbeachtung institutioneller Faktoren verwundert allerdings, da es insbesondere seit 1957 mit der Deutschen Bundesbank eine Zentralbank gab, deren Erfolg im Wesentlichen mit den im internationalen Vergleich keineswegs üblichen institutionellen Bedingungen, die ihr weitgehende politische Unabhängigkeit verliehen, verbunden war. 31 Man hätte also leicht feststellen können, dass „institutions matter“. Die Forderung nach einer unabhängigen, auf das Ziel der Preisstabilität ausgerichteten Zentralbank geht in der Nachkriegszeit in Deutschland auf den „Ordoliberalismus“ zurück. Auch bei dessen Vorschlägen stand im Mittelpunkt, einen monetären Rahmen zu schaffen, um die Erwartungen zu stabilisieren. So führte etwa Röpke hierzu 1953 aus: „Freilich müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, wenn die Marktwirtschaft auch befriedigend und ohne ernste Störungen … funktionieren soll. … Die erste und auch dem Rang nach oberste ist die Stabilität der Währung. … Insbesondere ist die Unabhängigkeit der Zentralbank gegenüber allen (insbesondere politischen) Inflationsinteressenten zu sichern.“ (Röpke, 1997, 50). Im Bundesbankgesetz, welches 1957 in Kraft trat, wurde in § 12 die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank von Weisungen der Bundesregierung verankert. Die Begründung im Regierungsentwurf entsprach der Röpkes (Deutscher Bundestag, 1956, 24 - 26). 30 Jahre später wurde diese „Einsicht“, von den USA kommend und primär in Folge der von Kydland und Prescott (1977) aufgeworfenen Zeitinkonsistenz-Problematik der Geldpolitik wieder entdeckt und setzte sich in den 90er Jahren nach der Untersuchung von Alesina / Summers (1993) durch: „In the 1990s, a consensus emerged in the academic community that one of the most assured routes to price stability was to grant central banks greater independence from the political authorities, on the grounds that Einfluss der „Neuen Institutionenökonomik“ ist die Wachstumsbedeutung von Institutionen nachhaltig in ein breiteres Bewusstsein getragen worden. 31 Bereits mit dem Autonomiegesetz vom 22. 5. 1922 und dem Bankgesetz vom 30.8.1924 erlangte die Reichsbank eine von der Reichsregierung unabhängige Stellung: „Die Reichsbank ist eine von der Reichsregierung unabhängige Bank …“, so die eindeutige Formulierung im Bankgesetz. Sie nutzte ihre Unabhängigkeit aber nicht zur Stabilisierung des Geldwerts, sondern finanzierte staatliche Budgetdefizite mit Notenbankkrediten (siehe hierzu Jarchow, 2003, 411 f.). Institutionelle Unabhängigkeit einer Zentralbank ist wohl angesichts des politischen Inflationsbias eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Verfolgung von Preisstabilität. Die nach dem II. Weltkrieg gegründeten Landeszentralbanken unterlagen zwar der staatlichen Aufsicht, die Landesregierungen hielten sich aber mit Weisungen zurück. Die 1948 nach dem US-amerikanischen Vorbild eines zweistufigen und dezentralen Zentralbanksystems als Kopfstelle geschaffene Bank deutscher Länder war zwar unabhängig von deutschen Regierungsstellen, nicht aber von der „Alliierten Bankenkommission“ (zu den Einzelheiten Zeitler, 2007a). INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="91"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 92 such independence seems to deliver better inflation performance at no cost in terms of real activity.“ (Kydland / Wynne, 2002, 4). D. h. letztlich, in Ländern mit unabhängigen Zentralbanken herrschen niedrigere Inflationsraten, ohne dass die konjunkturelle Entwicklung darunter leiden würde (zum Zusammenhang zwischen Höhe der Inflationsrate und Grad der Unabhängigkeit der Zentralbank siehe Abb. II.2.1). Bei politisch unabhängigen Zentralbanken tragen die Zentralbanken Verantwortung für die Geldpolitik. Abbildung II.2.1: Grad der Unabhängigkeit der Zentralbank und durchschnittliche Inflationsrate in Industrieländern im Zeitraum von 1980 - 1995 a) Quelle: Solveen, 1998, 189. <?page no="92"?> ZIELVORGABE(N) UND UNABHÄNGIGKEIT 93 In der Literatur lassen sich hier zwei unterschiedliche Ansätze identifizieren: Rogoff (1985) schlägt vor, die Geldpolitik in die Hände von konservativen Zentralbankern, die Inflationsbekämpfung eine herausgehobene Stellung zuweisen, zu legen, nach Walsh (1995) soll ein Vertrag zwischen der Regierung und der Zentralbank das Ziel der Geldwertstabilität festschreiben. Der Vorschlag von Walsh läuft letztlich auch darauf hinaus, dass zwischen der Regierung und dem Vorstand der Zentralbank ein Vertrag geschlossen wird, wonach dessen Bezahlung (und Sanktionen) vom Erreichen der vorgegebenen Inflationsziele abhängig ist. Das Vereinigte Königreich und Neuseeland werden häufig als Beispiele für den Walsh’schen Vetrags-Ansatz - wenn auch nicht hinsichtlich der Bezahlung -, die Deutsche Bundesbank und das Eurosystem als Beispiele für den Rogoff ’schen Ansatz angeführt. Während im ersten Fall das Inflationsziel konkret von der Regierung vorgegeben wird, kann im zweiten Fall die Zentralbank das Inflationsziel selbst näher operationalisieren, wobei das Ziel als solches aber von der Politik vorgegeben ist. 2.2 Eurosystem und Federal Reserve System im Vergleich Da dem institutionellen Design von Zentralbanken bei der Frage der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik eine maßgebliche Bedeutung zukommt, erscheint ein Vergleich der beiden weltweit bedeutendsten Zentralbanken unter institutionellen Gesichtspunkten von besonderem Interesse. Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist, Preisstabilität zu gewährleisten, wobei es dem Eurosystem obliegt, dieses Ziel zu operationalisieren (Wahl des Preisindex, quantitative Definition von Preisstabilität, relevanter Zeithorizont). Nur soweit es ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, soll das Eurosystem die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EWU unterstützen. Das Eurosystem besitzt also, ebenso wie das Federal Reserve System (Fed), keine Zielunabhängigkeit. Damit das Eurosystem sein vorrangiges Ziel, die Gewährleistung der Preisstabilität, effektiv durchsetzen kann, sind die EZB und die nationalen Zentralbanken in ihren Entscheidungen von Weisungen der sonstigen Träger der Wirtschaftspolitik auf nationaler wie auch auf EU-Ebene unabhängig. Im Rahmen des ihm vorgegebenen Ziels ist das Eurosystem frei (unabhängig) bei der Wahl der Mittel. Die Unabhängigkeit des Eurosystems ruht auf vier Säulen: (1) der institutionellen Unabhängigkeit, die die Freiheit der nationalen Zentralbanken sowie der EZB und ihrer Beschlussorgane von Weisungen Dritter verbürgt; (2) der personellen Unabhängigkeit, die lange Vertragslaufzeiten der Entscheidungsträger vorsieht (acht Jahre bei Mitgliedern des EZB-Direktoriums ohne Möglichkeit der Wiederernennung; die Amtszeit der Präsidenten der nationalen Zentralbanken muss mindestens fünf Jahre betragen) (3) der finanziellen Unabhängigkeit und (4) der funktionellen Unabhängigkeit (Ausrichtung auf das Ziel der Preisstabilität, Kontrolle des geldpolitischen Handlungsrahmens, zu den Einzelheiten siehe Box II.2.1). INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="93"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 94 Box II.2.1: Kernelemente der Unabhängigkeit des Eurosystems Die Unabhängigkeit des Eurosystems ruht auf vier Säulen: Institutionelle Unabhängigkeit Kernstück der institutionellen Unabhängigkeit ist die Freiheit der nationalen Zentralbanken sowie der EZB und ihrer Beschlussorgane von Weisungen Dritter. Folgende Rechte dritter Parteien (z. B. Regierung, Parlament auf nationaler und europäischer Ebene) sind mit der Unabhängigkeit einer Zentralbank unvereinbar: das Weisungsrecht; das Recht, Entscheidungen zu genehmigen, auszusetzen, aufzuheben oder aufzuschieben; das Recht, Entscheidungen aus rechtlichen Gründen zu zensieren; das Recht, in Beschlussorganen einer Zentralbank mit Stimmrecht vertreten zu sein, und das Recht, bei Entscheidungen einer Zentralbank (ex ante) konsultiert zu werden. Personelle Unabhängigkeit Die Amtszeit der Mitglieder des Direktoriums der EZB (Präsident, Vizepräsident, weitere Mitlgieder) beträgt acht Jahre. Sie werden nur für eine Amtszeit ernannt, d. h. eine Wiederernennung ist nicht möglich. Die Amtszeit der Präsidenten der nationalen Zentralbanken sowie der übrigen Mitglieder der Beschlussorgane der nationalen Zentralbanken muss mindestens fünf Jahre betragen. Die Präsidenten der nationalen Zentralbanken werden von den jeweils in den einzelnen Ländern dafür zuständigen Stellen berufen. In Deutschland erfolgt die Ernennung durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung. Die Mitglieder des EZB-Direktoriums werden durch die Staats- und Regierungschefs der teilnehmenden Mitgliedstaaten einvernehmlich ernannt. Eine vorzeitige Entlassung ist nur in Ausnahmefällen, z. B. aufgrund einer schweren Verfehlung, möglich. Dieser Aspekt der Unabhängigkeit soll sicherstellen, dass die Organmitglieder nicht über kurze Vertragslaufzeiten bzw. jederzeitige Abberufungen unter Druck gesetzt werden können. Finanzielle Unabhängigkeit Die Zentralbanken sollen in der Lage sein, sich selbst mit den erforderlichen Mitteln auszustatten, um die ordnungsgemäße Erfüllung ihrer Aufgaben im Rahmen des Eurosystems sicherzustellen. Andernfalls könnte die Arbeitsfähigkeit des Eurosystems über entsprechend „knappe“ Mittelzuweisungen geschwächt und faktische Abhängigkeiten geschaffen werden. Funktionelle Unabhängigkeit Die Handlungen der Zentralbanken des Eurosystems sind vorrangig auf das Ziel der Preisstabilität ausgerichtet. Sonstige Funktionen dürfen sie nur insoweit wahrnehmen, als der EZB-Rat sie mit dem Ziel der Preisstabilität für vereinbar hält . Hierzu zählt etwa das Verbot der (direkten) Kreditgewährung an den Staat sowie die Bestimmung, dass die Ausgabe von Münzen durch die Mitgliedstaaten von der EZB genehmigt werden muss. Die funktionelle Unabhängigkeit umfasst aber auch die vollständige Kontrolle sämtlicher geldpolitischer Verfahren und Instrumente durch das Eurosystem. Das Eurosystem kann autonom über den Einsatz seines Handlungsrahmens entscheiden. <?page no="94"?> ZIELVORGABE(N) UND UNABHÄNGIGKEIT 95 Während die Geldpolitik ausschließlich dem Eurosystem zugewiesen wurde, liegen die wechselkurspolitischen Kompetenzen weitestgehend beim Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der Europäischen Union, dem sog. Ecofin-Rat. Daraus können Probleme für die Unabhängigkeit des Eurosystems und sogar mit der Zielvorgabe des EU-Vertrages resultieren, wenn das Eurosystem aufgrund von wechselkurspolitischen Vorgaben durch den Ecofin-Rat seine Zinspolitik am Wechselkurs ausrichten müsste (im Einzelnen hierzu vgl. V.III). Verglichen mit anderen großen Zentralbanken besitzt das Eurosystem einen hohen Grad an Unabhängigkeit. Das geldpolitische Ziel des Eurosystems ist klar auf Preisstabilität ausgerichtet, und dem Eurosystem obliegt es auch, dieses Ziel zu operationalisieren. Die mögliche Androhung einer Revision seiner Entscheidungen (z. B. durch das Europäische Parlament, die EU-Kommission oder den Ecofin-Rat) stößt auf hohe Hürden. Die gesetzliche Grundlage bildet der EU-Vertrag. Da es sich hierbei um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den EU-Mitgliedstaaten handelt, bedarf eine Veränderung des Statuts des Eurosystems der Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten. Beim Federal Reserve System fehlt eine klare Ausrichtung auf das Ziel der Preisstabilität. Im Federal Reserve Reform Act aus dem Jahr 1977 wurde die „Mehrzielorientierung“ des Fed bekräftigt: „maximum employment, stable prices, and moderate long-term interest rates“ (Board of Governors, 2005, 15). Auch ist die rechtliche Stellung des Fed deutlich schwächer als die des Eurosystems. Die Unabhängigkeit des Fed beruht nur auf dem Verfahren zur Bestellung der Gouverneure und der Präsidenten der Federal Reserve Banks (FRBs) sowie auf der Tatsache, dass das Fed nicht auf finanzielle Zuweisungen aus dem Staatshaushalt angewiesen ist, sondern sich aus seinen Einnahmen finanzieren kann (Federal Reserve Bank of San Francisco, 2004, 1 f.). Sie umfasst also nur die finanzielle Unabhängigkeit und Teilaspekte der personellen Unabhängigkeit. Entscheidend bei der Berufung der Gouverneure ist einerseits, dass die Verträge zu unterschiedlichen Terminen auslaufen, sodass ein U.S.-Präsident nur begrenzt die Zusammensetzung des Board of Governors beeinflussen kann, und andererseits, dass die Verträge eine Laufzeit von 14 Jahren haben, also weit über die Legislaturperioden hinausgehen. Die Präsidenten der FRBs hingegen werden von den Direktoren der FRBs nach Zustimmung durch den Board of Governors ernannt. Im Gegensatz zum Eurosystem, dessen rechtliche Grundlage ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ist, der nur einstimmig geändert werden kann, kann das Fed nie ausschließen, dass der Kongress die rechtliche Grundlage nach seinen Vorstellungen ändert (De Nederlandsche Bank, 2001, 57 und Hafke, 2003, 195 f.). Dies hat natürlich auch Konsequenzen für die „alltägliche“ Geldpolitik: „One possible factor explaining why the Fed is sometimes slow to increase interest rates and so smooths out their fluctuations is that it wishes to avoid a conflict with the president and Congress over increases in interest rates. The desire to avoid conflict with Congress and the president may also explain why in the past the Fed was not at all transparent about its actions and is still not fully transparent.“ (Mishkin, 2007, 327). 32 Be- 32 Frederic S. Mishkin war von 2006 - 2008 Mitglied des Board of Govenors of the Federal Reserve System. INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="95"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 96 sonders problematisch wirkt hier die „Mehrzielorientierung“ des Fed, da der Kongress insbesondere das Fed mit dem Argument unter Druck setzen kann, es tue zu wenig für Vollbeschäftigung. Box II.2.2: Folgen mangelnder Unabhängigkeit: Der Fall „Fed“ Wie subtil politische Abhängigkeiten der Notenbank faktisch aussehen können, zeigt folgendes Beispiel: So weist Bindseil (2004b) darauf hin, dass das Fed anfangs der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts sogar eine Theorie erfunden hat, um davon abzulenken, dass es aufgrund politischen Drucks nicht in der Lage war (bzw. nicht gewagt hat), die Zinsen zu erhöhen, um Inflation zu verhindern. Das Fed machte für die Inflation nicht die Tatsache verantwortlich, dass sie nicht die kurzfristigen Zinsen erhöht hat, sondern „excessive borrowing by the banks through the discount window, i.e. not the rates were the problem, but quantities“ (Bindseil, 2004b, 19). So entstand die „reserve position doctrine“ (RPD). Eine Spielart dieser Doktrin ist die „Geldbasissteuerung“ (zu den weiteren Einzelheiten siehe Bindseil, 2004b, 12). Dass das Fed im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder auf die RPD Bezug nahm, wird in der Literatur häufig damit begründet, dass es damit die „Verantwortung“ für von ihr zur Inflationsbekämpfung gewollten Zinserhöhungen dem „Markt“ zuschieben konnte. Dadurch kam die Geldpolitik des Fed weniger in die Schusslinie der Politik (siehe hierzu Bindseil, 2004b, 30f. und Ruckriegel / Seitz, 2002, 38 und die dort angegebene Literatur). Die „Erfindung“ der RPD durch das Fed hatte aber auch entscheidenden Einfluss auf die akademische Welt. „It appears that with RPD, academic economists developed theories detached from reality, without resenting or even admitting this detachment“ (Bindseil, 2004b, 5). Zusammenfassend kann festgehalten werden: „The endurance of RPD is explained by a symbiosis of central bankers who may have partially sympathised with RPD since it masked their responsibility for short term interest rates, and academics who were too eager to simplify away some key features of money markets and central bank operations.“ (Bindseil, 2004b, 4). Ein weiteres Beispiel stammt aus den 80er Jahren. So schob die Fed 1979-1982 Geldmengenziele in den Vordergrund, um dahinter ihre Absicht, die Zinsen zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, zu verbergen. Damit wollte sie verhindern, politischem Druck ausgesetzt zu sein „Knowing that this anti-inflation strategy would increase interest rates and wanting to avoid being blamed for the resulting increase, the Fed did not publicly state its objective. Instead it stated in technical terms its intention to focus on monetary aggregates to deflect political criticism of high interest rates during its battle against inflation.“ (Hubbard, 2004, 491; grundsätzlich Mishkin, 2007, 327). Vom institutionellen Zuschnitt her ist das Eurosystem also vergleichsweise gut gewappnet, Instabilitätsinteressen zu begegnen. Und wenn im Aufgabenbündel des Fed das Vorbild für eine konzeptionelle Änderung der europäischen Geldpolitik gesehen wird, sollte man sich der damit verbundenen Relativierung des Preisstabilitätsziels bewusst sein. <?page no="96"?> ZIELVORGABE(N) UND UNABHÄNGIGKEIT 97 2.3 Institutionen ohne Bestandsgarantie Institutionelle Regelungen können prinzipiell - wenn auch im Falle des Eurosystems bei weitem nicht so einfach wie im Falle des Fed - geändert werden. Für die eingangs erwähnte Vermutung, dass institutionelle Regeln zur Vermeidung einer politischen Vereinnahmung der geldpolitischen Entscheidungsträger durchkreuzt werden könnten, sprechen jedoch die Versuche zur Aushöhlung der Unabhängigkeit des Eurosystems im Vorfeld des Europäischen Verfassungsvertrags. Die Diskussion über den Vertrag zur Europäischen Verfassung, aber auch über die Neufassung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank zeigen deutlich, dass die Politik immer wieder versucht, die Zentralbank unter ihren Einfluss zu bringen (vgl. etwa Hafke, 2003, 185 und die dort angegebene Literatur sowie Zeitler 2001, 2003, 2004). Der Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 war mit seinen Verschuldungsgrenzen als institutionelle Stütze der stabilitätsorientierten Geldpolitik vorgesehen. Der oftmals laxe Umgang einiger Mitgliedsländer der EWU mit diesen Regelungen und das Ausbleiben vertraglich vorgesehener Sanktionen können die auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik unter politischen Druck setzen. „Bei hoher staatlicher Verschuldung und einem - gerade in der derzeitigen Situation historischer Niedrigzinsen nicht auszuschließenden - höheren Zinsniveau wächst die Gefahr, die nominale Schuldenlast durch Druck auf die Notenbank, eine lockerere Geldpolitik zu betreiben, zu akkommodieren, also stabilitätspolitisch notwendige Zinserhöhungen zu unterlassen oder hinauszuschieben. Sicherlich wirkt diesem Druck eine glaubwürdige Geldpolitik und die institutionelle Absicherung der Unabhängigkeit (…) entgegen. Der Stabilitätspakt setzt aber nicht an einem bereits eingetretenen Konfliktfall an, sondern will aus weiser politischer Erfahrung heraus bereits das Entstehen eines Konflikts zwischen Finanz- und Geldpolitik vermeiden.“ (Zeitler, 2005, 4). Gegen das Eintreten der Hayek’schen Befürchtung einer Vereinnahmung der Zentralbank durch „ihre“ Regierung spricht zwar, dass es diese (eine) Regierung in Europa (noch) nicht gibt. Allerdings ist die Gefahr, dass die einzelnen (nationalen) Regierungen auch weiterhin gemeinsam politischen Druck ausüben, durchaus nicht von der Hand zu weisen. In diese Richtung könnte z. B. die Lockerung der Vorschriften zum Stabilitäts- und Wachstumspakt im Frühjahr 2005 sowie die SMP- und OMP- Programme zum Ankauf von Staatsanleihen von Krisenländern (ab Mai 2010) interpretiert werden. Das Eurosystem bindende Interventionsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments bestehen wegen seiner Unabhängigkeitsposition zwar nicht. Dies schließt jedoch nicht aus, dass ein politischer Druck durch kritische Resolutionen gegenüber einer stabilitätsorientierten Geldpolitik ausgeübt wird. Auch sollte man die Langzeitwirkung wiederholter Forderungen, die von der EZB zu verfolgenden Ziele der Kontrolle durch das demokratisch legitimierte Europäische Parlament zu unterwerfen, nicht unterschätzen. Irgendwann mag dann die Überzeugung wachsen, der EU-Vertrag sei nicht demokratisch legitimiert. Manche Kritiker auch sind der Meinung, dass sich die EZB im Zuge der geldpolitischen „Sondermaßnahmen“ als Reaktion auf die Krise bereits in politische Abhängigkeit begeben habe. INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="97"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 98 3 Aufbau und Entscheidungsstruktur Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) besteht aus den rechtlich selbständigen nationalen Zentralbanken (NZBen) aller EU-Mitgliedstaaten (Stand Juli 2013: 28) und aus der rechtlich selbständigen Europäischen Zentralbank (EZB) (zum Aufbau und zur Entscheidungsstruktur der Fed siehe Box II.3.1). Die EZB wurde am 1. Juni 1998 als gemeinsames Tochterinstitut der nationalen Zentralbanken mit Sitz in Frankfurt / Main errichtet. Sie ist Nachfolgerin des Europäischen Währungsinstituts. Dem Eurosystem gehören neben der EZB nur die nationalen Zentralbanken der Länder an, die dem Euro-Währungsraum beigetreten sind (Stand Juli 2013: 17; ab Januar 2014: 18). Das Eurosystem trägt die alleinige Verantwortung für die Geldpolitik in der Währungsunion. Die EZB ist das „Herzstück“ des Eurosystems. Sie ist verantwortlich dafür, dass alle Aufgaben des Eurosystems entweder durch ihre eigene Tätigkeit oder durch die nationalen Zentralbanken erfüllt werden. Die nationalen Zentralbanken sind dabei der EZB funktional untergeordnet, „womit sichergestellt wird, dass das Eurosystem mit Blick auf die Umsetzung der Ziele des EG-Vertrages als Einheit effizient agieren kann.“ (EZB, 1999a, 61). 33 Für das Eurosystem gilt der Grundsatz „zentrale Entscheidungsfindung - dezentrale Ausführung“. Dabei besagt das Dezentralitätsprinzip, dass die Durchführung der Geschäfte bei den nationalen Zentralbanken liegt, soweit dies möglich und sachgerecht ist. Im Gegensatz zur EZB und den NZBen haben das Eurosystem bzw. das ESZB keine eigene Rechtspersönlichkeit und keine eigenen Beschlussorgane. Das Eurosystem bzw. das ESZB werden daher von den Beschlussorganen der EZB geleitet. Zentrales Entscheidungsorgan des Eurosystems ist der EZB-Rat. Er besteht aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB, also dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten der EZB sowie den (vier) weiteren Mitgliedern des Direktoriums der EZB einerseits und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Staaten, die an der Währungsunion teilnehmen, andererseits. Während die Berufung der Präsidenten der nationalen Zentralbanken bei den einzelnen Mitgliedstaaten liegt, erfolgt die Ernennung der Mitglieder des Direktoriums der EZB einvernehmlich durch die Regierungen 33 Vgl. hierzu auch Art. 14.3 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank: „Die nationalen Zentralbanken sind integraler Bestandteil des ESZB und handeln gemäß den Richtlinien und Weisungen der EZB.“ Die Weisungsbefugnis der EZB gegenüber den nationalen Zentralbanken ist aber nur begrenzt wirksam, da die nationalen Zentralbanken der EZB nicht rechtlich untergeordnet sind. Zur effektiven Durchsetzung ihrer Weisungsbefugnis gegenüber den nationalen Zentralbanken steht der EZB nur der Klageweg vor dem Europäischen Gerichtshof offen (Seidel, 2003, 18 - 20). Die Weisungsstruktur ergibt so ein „ungewöhnliches Bild“: „Zwölf Mütter - die nationalen Zentralbanken (NZB) - haben eine gemeinsame Tochter - die Europäische Zentralbank (EZB) - die ihrerseits den einzelnen Müttern Weisungen erteilt, nachdem ein gemeinsamer Rat der Tochter und der Mütter (EZB-Rat, Anmerk. der Verfasser) den Willen der Tochter festgelegt hat.“ (Johannes Welcker, zitiert nach Seidel, 2003, 19 f.). <?page no="98"?> AUFBAU UND ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR 99 der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Eine Zustimmung des Direktoriums der EZB ist in beiden Fällen nicht erforderlich. Beschlüsse des EZB-Rates benötigen die einfache Mehrheit der persönlich anwesenden (stimmberechtigten) Mitglieder. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Präsidenten der EZB den Ausschlag. Eine Ausnahme bilden Entscheidungen über das EZB-Kapital, über die Beiträge der nationalen Zentralbanken zu den Währungsreserven der EZB sowie über Fragen der Gewinnverteilung im Eurosystem. Hier werden die Stimmen nach den (voll eingezahlten) Kapitalanteilen gewichtet. Direktoriumsmitglieder sind bei diesen Fragen nicht stimmberechtigt. Box II.3.1: Das Federal Reserve System: Aufbau und Entscheidungsstruktur Das Federal Reserve System wurde 1913 gegründet. Es besteht aus dem Board of Governors und zwölf regionalen Federal Reserve Banks (FRBs). Bis zum Jahre 1935 lag der maßgebliche geldpolitische Einfluss bei den FRBs. Das entscheidende geldpolitische Instrument zu Beginn waren Diskontgeschäfte (discount window), wobei anfänglich der Diskontsatz von jeder FRB selbständig festgesetzt wurde. In den 20er Jahren wurde dann das Instrument der Offenmarktpolitik eingeführt, von den einzelnen FRBs aber unterschiedlich intensiv genutzt. 1933 wurde das Federal Open Market Committe (FOMC) gegründet. Es konnte aber nur Empfehlungen abgeben. Die letzte Entscheidung trafen die einzelnen FRBs. „The decentralized central banking system envisioned in the original Federal Reserve Act of 1913 led to power struggles within the system and offered no mechanism to achieve consensus during the financial crisis of the early 1930s.“ (Hubbard, 2002, 507). Um die Geldpolitik zu vereinheitlichen und schlagkräftiger zu machen sowie gesamtstaatlich auszurichten, kam es daher bis Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zu einer grundlegenden Reform des Fed. Die Offenmarktpolitik wurde in die Verantwortung des FOMC gelegt und der Einfluss der FRBs im FOMC beschnitten, sodass die Mitglieder des Board of Governors die Mehrheit hatten. Dem Board of Governors gehören inzwischen sieben Mitglieder an. Sie werden vom Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannt. Die Vertragslaufzeit beträgt 14 Jahre. Eine Amtszeit von über 14 Jahren ist nur dann möglich, wenn ein Board-Mitglied zunächst in einen Vertrag eines vor Vertragsende ausgeschiedenen Board-Mitglieds eintritt. So trat etwa Alan Greenspan 1987 in die Restlaufzeit des Vertrags von Paul Volcker ein, die 1992 endete. Danach erhielt er einen 14-Jahresvertrag bis 2006. Die Gouverneure müssen rein formal aus unterschiedlichen Federal Reserve Distrikten (regionale Zuständigkeitsbereiche der einzelnen FRBs) kommen - faktisch wird dies jedoch äußerst großzügig interpretiert (Pollard, 2003, 14 f.). Der / die Vorsitzende des Board of Governors („Chairman of the Board of Governors“) wird vom Präsidenten der Vereinigten Staaten aus den sieben Mitgliedern ausgewählt und hat eine Amtsdauer von 4 Jahren. Die Amtszeit kann immer wieder verlängert werden, solange er / sie Mitglied im Board of Governors ist. Die 12 Federal Reserve Banks sind jeweils für einen bestimmten Distrikt zuständig. Ursprünglich wiesen die 12 Distrikte ein Bruttoinlandsprodukt vergleichbarer Größenordnung auf. Die Distrikte waren so auch nicht zwangsläufig identisch mit Staatsgrenzen. INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="99"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 100 Die jeweiligen Sitze der FRBs in den einzelnen Distrikten wurden nach der politischen bzw. wirtschaftlichen Bedeutung der einzelnen Städte vergeben. Seit Gründung des Fed haben sich allerdings die einzelnen Distrikte wirtschaftlich unterschiedlich entwickelt. Allerdings ist die Heterogenität weit geringer als in der EWU. Die Präsidenten der FRBs werden von den Direktoren der FRBs ernannt. Hierzu bedarf es der Zustimmung durch das Board of Governors. Jede FRB hat neun Direktoren, wovon sechs von den Mitgliedsbanken, die formal Eigentümer der FRBs sind, gewählt und drei vom Board of Governors ernannt werden. Von den sechs von den Mitgliedsbanken gewählten Direktoren stammen jeweils drei aus dem Bankenbereich und aus dem Nichtbankenbereich. Die FRBs wickeln das operative Geschäft des Fed ab, analysieren und berichten über die regionale Wirtschaftsentwicklung und erläutern in ihrem Distrikt den Kurs der Geldpolitik. Die FRBs unterliegen der Aufsicht des Board of Governors. Sie sind somit integraler Bestandteil einer der zentralen staatlichen Ebene zugeordneten Organisation (Seidel, 2003, 12). Das maßgebliche Entscheidungsgremium des Fed ist das Federal Open Market Committee. Ihm gehören die sieben Mitglieder des Board of Governors, der Präsident der FRB of New York sowie vier weitere FRB-Präsidenten an, wobei letztere in einjährigem Turnus wechseln. Der Präsident der FRB von New York gehört dem FOMC deshalb als ständiges Mitglied an, weil bis auf die Diskontpolitik nur die Federal Reserve Bank of New York verantwortlich für die Durchführung der geldpolitischen Operationen des Fed (Offenmarktgeschäfte, ggf. Devisenmarktinterventionen) ist. Die jeweils nicht stimmberechtigten FRB-Präsidenten nehmen allerdings an den Diskussionen teil. Insbesondere informieren sie jeweils über die wirtschaftliche Situation in ihren Distrikten. Diese regionalen Wirtschaftsanalysen werden nach den Sitzungen auch veröffentlicht (sog. „Beige Book“). Der EZB-Rat garantiert prinzipiell die erforderliche Einheitlichkeit der Geldpolitik. Die Ausführung der geldpolitischen Beschlüsse liegt bei der EZB im Zusammenwirken mit den nationalen Zentralbanken, deren umfassende Erfahrungen damit genutzt werden können. Dem Direktorium der EZB obliegt die Ausführung der Geldpolitik gemäß den Leitlinien und Entscheidungen des EZB-Rates. Es erteilt hierzu die notwendigen Weisungen an die nationalen Zentralbanken. Solange nicht alle EU-Mitgliedstaaten der Währungsunion beigetreten sind, fungiert als beratendes Gremium noch ein „Erweiterter Rat“, der aus dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten der EZB sowie den Präsidenten aller nationalen Zentralbanken der EU besteht. Der Erweiterte Rat verfügt über keine geldpolitischen Kompetenzen, er soll vorrangig die geldpolitische Koordinierung verstärken. Ihm kommt ferner die Aufgabe zu, die Funktionsweise des Wechselkursmechanismus II zu überwachen. Gravierende wirtschaftliche Unterschiede zwischen den EWU-Ländern führen aber auch zu unterschiedlichen Interessenlagen. Ohne Reform des EZB-Rates, d. h. wenn alle NZB-Präsidenten nach wie vor mit einer Stimme vertreten wären, käme es- gemessen an der wirtschaftlichen Bedeutung der einzelnen Länder - zu einer „Über-Repräsentation“ kleinerer Volkswirtschaften. Problematisch wäre dies, wenn gleichzeitig eine <?page no="100"?> AUFBAU UND ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR 101 „Verzerrung“ im Abstimmungsverhalten entstünde, die die Belange kleinerer Volkswirtschaften stärker beachten und sich somit nicht am EWU-Durchschnitt orientieren würde. Bei der Reform des Abstimmungsverfahrens im EZB-Rat blieb zwar ein Übergewicht der stimmberechtigten Präsidenten der NZBen erhalten, es wird aber angesichts einer größer werdenden Währungsunion nach oben begrenzt (max. 15 stimmberechtigte NZB Präsidenten im EZB-Rat bei 6 Direktoriumsmitgliedern mit Dauerstimmrecht). Erreicht wird diese Begrenzung mithilfe eines Rotationsverfahrens unter den Präsidenten der NZBen (siehe hierzu im Einzelnen Box II.3.2). Box II.3.2: Reform des Abstimmungsverfahrens im EZB-Rat Die Reform beruht auf einem Vorschlag des EZB-Rates vom Februar 2003. Er wurde als Kompromiss vom EU-Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs angenommen und von den Mitgliedstaaten ratifiziert. Auch nach dem neuen Verfahren besteht der EZB-Rat aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Staaten, die an der Währungsunion teilnehmen. Wenn allerdings die Zahl der NZB-Präsidenten 15 übersteigt, üben diese ihr Stimmrecht auf der Grundlage eines Rotationssystems aus. Die Mitglieder des Direktoriums der EZB hingegen behalten ihr dauerhaftes Stimmrecht. Das Rotationssystem soll sicherstellen, das die NZB-Präsidenten, die jeweils das Stimmrecht ausüben, aus Mitgliedstaaten stammen, die in ihrer Gesamtheit repräsentativ für das Euro-Währungsgebietes sind. Je nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung werden die Länder daher in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Die Ermittlung der Position bzw. der wirtschaftlichen Bedeutung eines Landes erfolgt dabei aufgrund eines „Repräsentativitäts“-Indikators. In diesen Indikator finden das Bruttoinlandsprodukt eines Mitgliedstaates (Gewicht 5 / 6) sowie die Aktiva der aggregierten Bilanz der monetären Finanzinstitute stellvertretend für die Größe des Finanzmarktes (Gewicht 1 / 6) Eingang. Die Verwendung des Repräsentativitäts-Indikators kann als ein Ansatz interpretiert werden, um die Geldpolitik an der Durchschnittsentwicklung des Euroraums auszurichten. Die Aktualisierung der Daten erfolgt alle fünf Jahre. Allerdings scheint es -auch vor dem Hintergrund der Bankenkrisen der letzten Jahre - nicht unproblematisch, dem Finanzsektor eines Staates ein eigenes Gewicht bei der Ermittlung des Indikators beizumessen. Stellt man auf die Wirkungen geldpolitischer Entscheidungen ab, was die EZB tut (EZB, 2003d, 84), so ist letztlich nur die güterwirtschaftliche Entwicklung eines Landes relevant - der Finanzsektor dient nur als Transmissionsglied -, was das BIP als alleinige Größe nahe legen würde. Liegt die Zahl der Präsidenten der NZBen über 15, aber unter 22, gibt es ein Übergangssystem mit zwei Gruppen. Die erste Gruppe besteht aus fünf NZB-Präsidenten. Sie stammen aus den fünf Ländern, die gemäß dem Indikator die ersten fünf Plätze belegen. Diese Gruppe hat vier Stimmen, d. h. ein Präsident ist jeweils nicht stimmberechtigt. Die zweite Gruppe umfasst alle anderen NZB-Präsidenten. Sie haben insgesamt elf Stimmen. Wenn im EZB-Rat 16, 17 oder 18 NZB-Präsidenten sitzen, käme es allerdings INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="101"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 102 dazu, dass die Präsidenten der ersten Gruppe weniger häufig stimmberechtigt sind als die der zweiten Gruppe. Deshalb sind in diesem Fall alle Mitglieder der ersten Gruppe stimmberechtigt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass der EZB-Rat mit einer Mehrheit von zwei Drittel der Mitglieder beschließt, das Rotationssystem erst bei einer Zahl von mehr als 18 NZB-Präsidenten beginnen zu lassen (EZB, 2003d, 84 f.). Diese Möglichkeit hat der EZB-Rat genutzt. Ab 22 NZB-Präsidenten sind drei Gruppen vorgesehen (siehe hierzu Abbildung II.3.1): An der ersten Gruppe ändert sich gegenüber der Übergangsregelung nichts. Die zweite Gruppe besteht nun aus der Hälfte aller NZB-Präsidenten (ggf. auf die nächste ganze Zahl aufgerundet). Diese Gruppe der wirtschaftlich (gemäß Indikator) mittelgroßen Länder hat acht Stimmen. Schließlich bleibt die dritte Gruppe in der sich die NZB- Präsidenten der übrigen (kleineren) Länder befinden. Diese Gruppe hat drei Stimmen. Die Länge der Rotationsperiode beträgt ein Monat. Allerdings nehmen alle NZB- Präsidenten ständig an den Sitzungen und den Diskussionen des EZB-Rates teil. Dieses Modell ähnelt - bis auf die Häufigkeit des Stimmrechts, die beim Rotationsverfahren des EZB-Rates von der wirtschaftlichen Bedeutung des jeweiligen Landes abhängig ist, dem Modell des Fed. Abbildung II.3.1: Das Rotationssystem im EZB-Rat <?page no="102"?> AUFBAU UND ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR 103 Quelle: Deutsche Bundesbank Gemäß Artikel 29 der Satzung des ESZB und der EZB bestimmt sich der Anteil am Kapital der EZB (derzeit nominal 10,8 Mrd. €), der auf die einzelnen nationalen Zentralbanken entfällt, zu je 50 Prozent nach dem Anteil des jeweiligen Mitgliedstaates an der Bevölkerung und am BIP der Gemeinschaft. Die Gewichtsanteile werden alle fünf Jahre überprüft, sofern nicht bereits zwischenzeitliche Beitritte zur EU eine Revision nötig machen. Auf der Basis aller 28 EU-Mitgliedsländer (Stand Juli 2013) entfällt auf die Deutsche Bundesbank danach ein Kapitalanteil von knapp 19 %. Da aber zurzeit (Stand Juli 2013) nur 17 Länder der Währungsunion und damit dem Eurosystem angehören und nur diese Länder ihren entsprechenden Kapitalanteil am Kapital der EZB voll eingezahlt haben, ist der Anteil der Deutschen Bundesbank am voll eingezahlten Kapital der EZB höher (knapp 27 %). Wichtig ist der Anteil am voll eingezahlten Kapital unter anderem deshalb, weil sich die Verteilung der um die Zinszahlungen auf Einlagen der Kreditinstitute (im Wesentlichen also auf Mindestreserveguthaben) verminderten monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken und des Nettogewinns der EZB auf die einzelnen nationalen Zentralbanken nach den voll eingezahlten Anteilen am Kapital der EZB richtet. Bei den monetären Einkünften der nationalen Zentralbanken handelt es sich um Einnahmen aus Vermögenswerten, die nationale Zentralbanken als Gegenposten zum INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="103"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 104 Banknotenumlauf 34 und zu ihren Verbindlichkeiten aus Einlagen der Kreditinstitute halten. Den NZBen dienen die Seigniorage-Einkünfte zur Finanzierung ihrer Ausgaben bzw. zur Erzielung eines Gewinnes, der i. d. R. an den staatlichen Eigner ausgeschüttet wird (siehe im Einzelnen hierzu Box II.3.3). Die Deutsche Bundesbank führt ihre Gewinne an den Bund ab. In den USA fließen die Gewinne des Fed der Bundesregierung (US-Treasury) zu. Box II.3.3: Seigniorage unter besonderer Berücksichtigung von TARGET2-Salden Für die Einnahmen, die dem Staat aus dem Monopol der Zentralbank bei der Schaffung von Zentralbankgeld 35 zufließen, hat sich in der Literatur der Begriff „Seigniorage“ eingebürgert. Der Name Seigniorage leitet sich aus dem französischen Wort für Fürst („seigneur“) ab. Im Mittelalter lag das ausschließliche Recht auf Münzprägung bei den Fürsten. Unter Seigniorage verstand man dementsprechend zunächst den Gewinn aus der Prägung von Münzen, der den Fürsten zustand. In heutigen Banken- und Geldsystemen gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie dem Staat Seigniorage-Einnahmen zufließen können: Über eine Monetisierung der Staatsschuld oder über Gewinnausschüttungen der Zentralbank. Eine Monetisierung der Staatsschuld bedeutet, dass es zu einer unmittelbaren Verschuldung des Staates bei der Zentralbank kommt. Im Gegenzug schreibt die Zentralbank dem Staat auf seinem Konto bei ihr den Gegenwert gut (A.2b Forderungen an den 34 In Art. 32.2. der Satzung des ESZB und der EZB in der deutschen Fassung wird - im Gegensatz zur richtigen englischen Fassung, in der von „notes in circulation“ die Rede ist - fälschlicherweise vom Bargeldumlauf gesprochen. Der Bargeldumlauf setzt sich aus dem Banknotenumlauf und dem Münzumlauf zusammen. Relevant für die monetären Einkünfte einer nationalen Zentralbank ist allein der Banknotenumlauf, nicht jedoch der Bargeldumlauf insgesamt. Auch in der Währungsunion verbleibt nämlich das Recht der Münzprägung und damit der Münzgewinn, der aus der Differenz zwischen Nominalwert und Prägekosten herrührt, bei den nationalen Zentralregierungen. Innerhalb bestimmter Grenzen können die Zentralregierungen Münzen zum Nominalwert an die nationalen Zentralbanken verkaufen, die ihrerseits nach Bedarf diese Münzen an die Kreditinstitute weiterverkaufen. Folglich können dem Teil des Bargeldumlaufs, der aus dem Münzumlauf herrührt, keine Vermögenswerte auf der Aktivseite der Notenbankbilanz gegenüberstehen, da es sich aus Sicht der Notenbankbilanz letztlich nur um einen durchlaufenden Posten handelt. Sieht man von einer vorübergehenden (und der Höhe nach gesetzlich beschränkten) Lagerung der Münzen in den Tresoren der Zentralbank ab, so geht das Inverkehrbringen von Münzen durch die Zentralbank letztlich nur mit einem Passivtausch in der Zentralbankbilanz einher, da die nationale Zentralbank die entsprechenden Beträge den Kreditinstituten belastet und der Zentralregierung gutschreibt. 35 In der üblichen Abgrenzung umfasst Zentralbankgeld die Positionen P.1 und P.2 - Einlagen auf Girokonten sowie die Guthaben in der Einlagefazilität auf der Passivseite der Zentralbankbilanz (siehe Abb. II.3.2). Hinzu kommen die umlaufenden Münzen, die nicht aus der Notenbankbilanz ersichtlich sind, da es sich hier - aus Sicht der Zentralbank - um einen durchlaufenden Posten handelt. <?page no="104"?> AUFBAU UND ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR 105 Staat und P.3 Sonstiges - Einlagen von öffentlichen Haushalten steigen gleichzeitig). Die Seigniorage-Einnahmen fallen hier auf einmal an. Unerheblich ist, ob der Staat für seine Verschuldung bei der Zentralbank Zinsen zahlen muss, da er die gezahlten Zinsen - nach Abzug der mit der Arbeit der Zentralbank verbundenen Sach- und Personalaufwendungen - in Form von Gewinnausschüttungen wieder zurückerstattet bekommt. Abbildung II.3.2: Grundstruktur der Zentralbankbilanz und Seigniorage Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven P.1: Banknotenumlauf A.2a: Forderungen an Kreditinstitute P.2: Verbindlichkeiten in Euro gegenüber Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet darunter: Einlagen auf Girokonten ◼ Einlagefazilität ◼ Termineinlage ◼ A.2b: Forderungen an den Staat A.3: Sonstiges darunter: Bestand an Scheidemünzen ◼ P.3: Sonstiges darunter: Einlagen von öffentlichen Haushalten ◼ Eigenkapital ◼ Zentralbankgeld wird durch eine direkte Verschuldung des Staates bei der Zentralbank dann geschaffen, wenn der Staat mithilfe seiner Guthaben bei der Zentralbank seine Ausgaben finanziert, also seine Einlagen bei der Zentralbank den Kreditinstituten zufließen (P.3 - Einlagen von öffentlichen Haushalten sinken, P.2 - Einlagen von Kreditinstituten bei der Zentralbank steigen). Im Gegenzug werden die Kreditinstitute entsprechende Gutschriften auf den Konten ihrer Kunden, die die eigentlichen Empfänger der staatlichen Zahlungen sind, vornehmen. Im Zuge dieses Prozesses erhöhen sich also die Guthaben der Kreditinstitute bei der Zentralbank, wodurch der Bestand an Zentralbankgeld steigt. Diese Möglichkeit der Schaffung von Zentralbankgeld schließt der Vertrag von Maastricht definitiv aus. 36 Zu einer Monetisierung der Staatsschuld kommt es nur noch beim Münzregal, da das Recht zur Münzprägung bei den Zentralregierungen (der Münzumlauf stellt eine Verbindlichkeit des Staates dar) liegt. 37 Die Zentralregierungen verkaufen die Münzen zum Nominalwert an das Eurosystem. Es kommt zu einem Münzgewinn, da der Nominalwert der Münzen in der Regel über ihren Prägekosten liegt. Im ersten Schritt kauft die Zentral- 36 Nach Art 123 AEUV sind Überziehungs- oder Kreditfazilitäten ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von staatlichen Schuldtiteln durch die EZB oder durch nationale Zentralbanken. Der Erwerb von staatlichen Wertpapieren am Sekundärmarkt für geldpolitische Zwecke ist somit zulässig. Ein Erwerb von staatlichen Wertpapieren zur Realisierung von Seigniorage- Einnahmen fällt nicht unter geldpolitische Zwecke. 37 Das Recht zur Ausgabe von Banknoten liegt hingegen beim Eurosystem. Das Eurosystem hat ein Monopol bei der Emission von auf Euro lautenden Banknoten (Banknotenmonopol). INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="105"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 106 bank die Münzen zum Nominalwert vom Staat an und schreibt ihm den Gegenwert auf seinem Konto bei ihr gut (A.3 Sonstiges - Bestand an Scheidemünzen und P.3 Sonstiges - Einlagen von öffentlichen Haushalten steigen gleichzeitig). Die Bestände der EZB und der NZBen sind jedoch auf 10 % des Münzumlaufs begrenzt (Artikel 6 der Verordnung des Rates Nr. 3603/ 93 vom 13. 12. 1993). Fragen die Kreditinstitute Münzen bei der Zentralbank nach, so verkauft diese in einem zweiten Schritt die Münzen an die Kreditinstitute (A.3 Sonstiges - Bestand an Scheidemünzen und P.2 - Einlagen auf Girokonten sinken gleichzeitig). Für die Zentralbank sind Münzen also letztlich nur ein durchlaufender Posten. Sieht man vom Münzregal ab, kommen zur Erzielung von Seigniorage-Einnahmen im Euroraum nur die Gewinnausschüttungen des Eurosystems in Betracht. Da Zentralbankgeld nicht über eine direkte Verschuldung des Staates bei der Zentralbank geschaffen werden kann, kommt Zentralbankgeld nur ins System, wenn die Geschäftsbanken sich bei der Zentralbank verschulden bzw. staatliche Wertpapiere (im Rahmen des SMP- oder OMT-Programms) 38 bzw. Währungsreserven an sie verkaufen (A.2a - Forderungen an inländische Kreditinstitute bzw. A2b Forderungen an den Staat bzw. A.1 - Währungsreserven und P.2 - Einlagen auf Girokonten steigen gleichzeitig). Auf der Aktivseite der Zentralbankbilanz stehen also Forderungen an inländische Kreditinstitute bzw. an den Staat bzw. Währungsreserven. Quelle der Seigniorage-Einnahmen des Staates sind hier die Zinseinnahmen, die die Zentralbank aus diesen Aktiva erzielt. 39 Diese Zinseinnahmen stellen zwar den Ausgangspunkt für die Seigniorage-Einnahmen dar, sind mit ihnen aber nicht identisch. Vielmehr müssen sie um die Zinsausgaben der Notenbank (z. B. für die Verzinsung der Mindestreserve) verringert und um die sonstigen Aufwendungen bzw. Erträge der Notenbank (z. B. Personalkosten, Kosten im Zusammenhang mit dem Druck von Banknoten und der Pflege des Bargeldumlaufs oder Abschreibungen aus Bewertungsverlusten bzw. realisierte Bewertungsgewinne) bereinigt werden. Da im Eurosystem die mindestreservebedingten Guthaben verzinst werden, hängt die Gewinnsituation also im Wesentlichen von der Höhe des Umlaufs an Banknoten ab Banknoten stellen Verbindlichkeiten der Notenbank dar, die nicht verzinst werden. Banknoten kommen in den Umlauf, wenn Geschäftsbanken zu Lasten ihrer Einlagen Banknoten („Geld“) bei der Zentralbank abheben (P.2 - Einlagen auf Girokonten sinken und P.1 - Banknotenumlauf steigt). Die Geschäftsbanken benötigen Banknoten und Münzen (Bargeld) für Barabhebungen ihrer Kunden. Der weitaus größte Teil der Zinseinnahmen der Bundesbank stammt aus ihren TAR- GET2 Guthaben bei der EZB (werden in der Bundesbankbilanz unter A3 - TARGET2- Forderungen in Abb. III.3.2 erfasst) und aus den Zinserträgen aus Staatsanleihen. 2012 flossen der Deutschen Bundesbank insgesamt Zinserträge in Höhe von 11,001 Mrd. Euro (2011: 8,556 Mrd.) zu. Davon entfielen auf Zinserträge aus TARGET2-Forderungen und Staatsanleihen 8,855 Mrd Euro (2011: 6.226 Mrd. (Deutsche Bundesbank, 2013a, 164). 38 Im Zusammenhang mit den SMPbzw. OMT-Programmen erfolgt allerdings eine „Sterilisierung“ der den Kreditinstituten zufließenden Zentralbankguthaben in Form von Termineinlagen bei der Zentralbank. 39 Im Falle des Fed rühren die Einnahmen primär aus Zinseinnahmen her, die dem Fed aus seinem Wertpapierportefeuille (vorwiegend aus Staatsanleihen) zufließen. <?page no="106"?> AUFBAU UND ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR 107 Aus Sicht der Deutschen Bundesbank stellen positive TARGET2-Salden Forderungen (Nettoforderungen) an die EZB dar. Zum 31. 12. hat die Deutsche Bundesbank TAR- GET2 Forderungen in Höhe von knapp 655 Mrd. Euro ausgewiesen (31.12.2011: 463 Mrd.). Im Kalendertagesdurchschnitt lagen die Nettoforderungen 2012 bei knapp 676 Mrd. (2011: knapp 368 Mrd.), die mit dem jeweils gültigen Zinssatz für das Hauptfinanzierungsgeschäft verzinst wurden (Deutsche Bundesbank, 2013a, 157). Überschlägig lassen sich die daraus erzielten Zinserträge wie folgt berechnen: Bis Anfang Juli 2012 lag der Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft bei 1 %, danach bei 0,75 %; für das Gesamtjahr ergibt dies grob einen Durchschnittszins von 0,875 %. Überschlägig ergeben sich für die Deutsche Bundesbank aus den positiven TARGET2-Salden so Zinserträge in Höhe von 5,74 Mrd. Euro (0,875 % aus 675 Mrd.). Exakt weist die Deutsche Bundesbank für 2012 Zinserträge aus TARGET2-Forderungen in Höhe von 5,981 Mrd. Euro (2011: 4,708 Mrd.) aus (ebenda, 164). Nun zur (theoretischen) Frage eines Ausfalls der TARGET2-Forderungen der Deutschen Bundesbank: Bei der EZB stehen den TARGET2-Verbindlichkeiten gegenüber der Deutschen Bundesbank entsprechende TARGET2-Forderungen an andere Zentralbanken des Eurosystems gegenüber (im Einzelnen hierzu Box III.4.1). Kommt es zu einem Ausfall einer Forderung der EZB, so bleibt die Verbindlichkeit der EZB gegenüber der Deutschen Bundesbank, also die Forderung der Deutschen Bundesbank an die EZB nach wie vor bestehen. Sofern die EZB aufgrund dieses Forderungsausfalls Verluste macht, so hätte die Deutsche Bundesbank als Anteilseigner der EZB gemäß ihrem Kapitalanteil bei der EZB 27 % der Verluste zu tragen. Falls es dadurch insgesamt zu einem Verlust käme, der das Eigenkapital der Deutschen Bundesbank übersteigen würde, könnte die Deutsche Bundesbank unter A.3 ein negatives Eigenkapital ausweisen. Dies würde allerdings zu einer Minderung der Seigniorage-Einnahmen der Bundesregierung führen, da auf der Aktivseite der Bundesbankbilanz anstelle zinstragender TARGET2-Salden die (unverzinsliche) Position „negatives Eigenkapital“ stünde (zu theoretisch denkbaren Zinsverlusten unter verschiedenen Szenarien siehe etwa Sinn, 2013, 33 - 35; zu den Positionen in der Bilanz der Bundesbank zum 31. 12. 2012 im Einzelnen siehe Abb. III.3.2). Die Deutsche Bundesbank sieht im Zusammenhang mit ihren TARGET2-Forderungen allerdings keine Ausfallrisiken: „Da die TARGET2-Forderungen und -Verbindlichkeiten der nationalen Zentralbanken im Eurosystem stets gegenüber der EZB bestehen, könnte die Bundesbank indirekt als Anteilseigner der EZB von Risiken betroffen sein, denen die EZB in diesem Zusammenhang ausgesetzt ist. Ein finanzieller Nachteil für die Bundesbank könnte sich in einem Szenario materialisieren, in dem ein Land mit einer TARGET2-Verbindlichkeit den gemeinsamen Währungsraum verlässt und dessen Zentralbank ihre Verbindlichkeit gegenüber der EZB nicht begleicht. Da die Bundesbank nicht von dem Eintreten dieses Szenarios ausgeht …“ (Deutsche Bundesbank, 2013a, 133). Auch für mögliche Verluste aus dem Ankauf von Staatsanleihen haftet die Deutsche Bundesbank als Anteilseigner der EZB in Höhe ihres Kapitalanteils von 27 % (ebenda, 132). Das Volumen der im Rahmen des SMP-Programm angekauften Staatsanleihen betrug zum 31. 12. 2012 208,7 Mrd. Euro (2011: 211,9 Mrd.; das OMT-Programm führte noch zu keinen Ankäufen (Stand: Juli 2013)). Insbesondere zur Risikovorsorge im Zusammenhang mit dem Ankauf von Staatsanleihen seit Mai 2010 im Rahmen des SMP- Programms hat die Deutsche Bundesbank in den Jahren 2010, 2011 und 2012 mittlerwei- INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="107"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 108 le Rückstellungen für „Allgemeine Wagnisse“ in Höhe von 12,3 Mrd. Euro gebildet. Die von der Deutschen Bundesbank im Rahmen des SMP-Programms angekauften Staatsanleihen führten 2012 zu Zinserträgen von 2,874 Mrd. Euro (2011: 1,518 Mrd.) (ebenda, 164). 4 Zusammenfassung Das Banknotenmonopol sowie die Pflicht, Mindestreserveguthaben zu halten, lösen bei den Kreditinstituten eine (Zwangs-)Nachfrage nach Zentralbankgeld aus, zwingen sie also ins Eurosystem. Zentralbankgeld kann aber nur geschaffen werden, wenn das Eurosystem Geschäfte mit den Kreditinstituten tätigt. Im Wesentlichen wird im Eurosystem Zentralbankgeld durch einen Ankauf von Währungsreserven und durch eine Kreditvergabe an das Bankensystem geschaffen. Dabei ist die Kreditvergabe der geldpolitische Aktionsparameter des Eurosystems, d. h. sie wird aktiv zur Veränderung des Bestandes an Zentralbankgeld eingesetzt. Die Einkünfte, die das Eurosystem aus diesen Aktiva erzielt, sind die wesentlichen Quellen des Notenbankgewinns. Das Eurosystem setzt sich aus den nationalen Zentralbanken der Teilnehmerländer an der Währungsunion und der Europäischen Zentralbank zusammen. Alle Teile des Eurosystems müssen bestimmten Anforderungen in Hinblick auf ihre funktionelle, personelle, institutionelle und finanzielle Unabhängigkeit genügen. Eine an makroökonomischen Zielen wie Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik erfordert eine staatliche Zentralbank. Für eine effiziente Geldpolitik, die insbesondere auch auf eine Steuerung der Inflationserwartungen abzielt, ist wiederum die Frage der Glaubwürdigkeit zentral. In diesem Zusammenhang kommt den Unsicherheiten reduzierenden institutionellen Designs einer Zentralbank eine wesentliche Rolle zu. Hierzu gehört die unzweifelhafte Garantie ihrer Unabhängigkeit. Für die Unabhängigkeit des Eurosystems hatte die Deutsche Bundesbank eine gewisse Vorbildfunktion. Verglichen mit dem Fed ist die institutionelle Struktur des Eurosystems überlegen, da nicht nur die Zielvorgabe eindeutig, sondern auch seine unabhängige Stellung rechtlich klar geregelt ist. Im institutionellen Design der Fed ist die Unabhängigkeit weniger ausgeprägt. Hier hängt es viel stärker von Personen ab, welche Freiräume die Zentralbank faktisch hat und welchen Grad an Glaubwürdigkeit die Geldpolitik besitzt. In Deutschland hingegen existierte aufgrund historischer Erfahrungen mit großen inflationsbedingten Vermögensverlusten ein ausgeprägtes Stabilitätsinteresse der Bevölkerung, das die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank gegen Versuche politischer Einflussnahme verteidigte. Solche gesellschaftlichen Wertvorstellungen schlagen sich schließlich auch im institutionellen Gefüge der Zentralbank nieder, sodass man (bei Austausch von „Inflationsrate“ durch „Zentralbank“) mit Issing (1992, 8) festhalten kann: „Jede Gesellschaft hat letztlich die Zentralbank, die sie verdient und im Grunde auch will“. <?page no="108"?> ZUSAMMENFASSUNG 109 Dass sich im Euroraum insgesamt bereits eine europäische Stabilitätskultur gebildet und gefestigt hat, mit deren Unterstützung die EZB nötigenfalls rechnen kann, ist bisher nicht abzusehen. Staatliche Zentralbanken waren nicht selten Instrumente ihrer Regierungen für eine schuldbefreiende Inflationspolitik. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass staatliche Zentralbanken als „lender of last resort“ eine wichtige Rolle zur Bewältigung finanzieller Krisen gespielt haben. Ob die Nachteile der staatlichen Monopollösung vermieden und zugleich deren Vorteile genutzt werden können, ist einmal eine technische Frage, vor allem aber eine des institutionellen Zuschnitts. In technischer Hinsicht muss eine feste Bindung der Geschäftsbanken an die Zentralbank bestehen. In institutioneller Hinsicht benötigen Zentralbanken politische Autonomie bei der Verfolgung ihnen exklusiv vorgegebener Ziele, vor allem Preisstabilität. Kontrollfragen Warum braucht man staatliche Zentralbanken? 1 Welche Folgen sind mit der Umsetzung des Hayek-Vorschlags zur Währungskon- 2 kurrenz verbunden? Wie erfolgt die Anbindung der Geschäftsbanken an die (staatliche) Zentralbank? 3 Welche Bedeutung hat das „institutionelle Design“ der Zentralbank für die Geld- 4 politik? Erläutern Sie die Struktur des Eurosystems. 5 Weshalb kommt es bei den nationalen Zentralbanken im Eurosystem zu Einkünf- 6 ten aus Vermögenswerten? Weiterführende Literatur Europäische Zentralbank (1999), Der institutionelle Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken, Monatsbericht Juli, S. 59 - 67 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2004), Die europäische Verfassung und die EZB, Monatsbericht August, S. 55 - 70 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2009), Rotation der Stimmrechte im EZB-Rat, Monatsbericht Juli 2009, S. 101 - 110. Görgens, E., Ruckriegel, K. (2007), Zentralbanken zwischen staatlichem Machtanspruch und Stabilitätsinteresse, in: ORDO, Bd. 58, S. 17 - 32. Scheller, H. P. (2006), Die Europäische Zentralbank - Geschichte, Rolle und Aufgabe, 2. A., Frankfurt (http: / / www.ecb.int). Lösungen unter europa-geldpolitik.de INSTITUTION EUROSYSTEM <?page no="109"?> DAS EUROSYSTEM ALS INSTITUTION 110 Schwarze, J. (Hrsg.) (2000), EU-Kommentar, Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Seidel, M. (2003), Die Weisungs- und Herrschaftsmacht der Europäischen Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken - eine rechtliche Analyse, ZEI Policy Paper, B 11 (http: / / www.zei.de). Vedder, C., von Heinegg, W. H. (Hrsg.) (2007), Europäischer Verfassungsvertrag - Handkommentar, Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Die Sonderaufsätze der EZB sowie das Buch von Scheller behandeln ausführlich den institutionellen Rahmen des ESZB. Das von Schwarze herausgegebene Werk kommentiert die für das Eurosystem einschlägigen Artikel des EG-Vertrages; der Kommentar von Vedder und von Heinegg die des Europäischen Verfassungsvertrags. Die Satzung des ESZB und der EZB sind abgedruckt. Seidel beschäftigt sich insbesondere mit der rechtlichen Stellung der EZB im Gefüge des ESZB bzw. des Eurosystems. Görgens / Ruckriegel diskutieren die Bedeutung des institutionellen Rahmens für eine Zentralbank und ihr Verhalten. Board of Governors of the Federal Reserve System (2005), The Federal Reserve System - Purposes & Functions, Washington, D. C. (http: / / www.federalreserve.gov). Mishkin, F. S. (2012), The Economics of Money, Banking and Financial Markets, 10. A., Reading (Massachusetts) et al., Kap. 12. De Nederlandsche Bank (2001), A Comparative Study of the Federal Reserve System and the ESCB, Quarterly Bulletin, March 2001, S. 55 - 64 (http: / / www.dnb.nl). Ruckriegel, K., Seitz, F. (2002), Zwei Währungsgebiete - Zwei Geldpolitiken? - Ein Vergleich des Eurosystems mit dem Federal Reserve System, Frankfurt. Apel, E. (2003), Central Banking Systems Compared, London et al. Gerdesmeier, D., Mongelli, F., Roffia, B. (2007), The Eurosystem, the US-Fed and the Bank of Japan, ECB, Working Paper Nr. 742 (http: / / www.ecb.int). Die ersten beiden Arbeiten beschäftigen sich sehr intensiv mit der Struktur und den Aufgaben des Federal Reserve Systems. Mishkin gibt auch Einblicke ins „Innenleben“ der Fed („Inside the Fed“). Die Veröffentlichung der Niederländischen Zentralbank sowie die Arbeiten von Ruckriegel / Seitz und Apel liefern einen Vergleich zwischen dem Fed und dem Eurosystem. Gerdesmeier et al. beziehen in den Vergleich auch die Bank of Japan mit ein. <?page no="110"?> „Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht noch einfacher.“ (Albert Einstein) „Die Strategie bestimmt, welches Niveau der Geldmarktzinssätze erforderlich ist, um mittelfristig Preisstabilität zu gewährleisten, während der Handlungsrahmen festlegt, wie dieses Zinsniveau mithilfe der zur Verfügung stehenden geldpolitischen Instrumente erreicht werden kann.“ (Europäische Zentralbank, 2004j, 75) Kapitel III Operative Umsetzung der Geldpolitik des Eurosystems <?page no="111"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 112 Bei der operativen Umsetzung der Geldpolitik hat es in den letzten Jahren international einige Änderungen gegeben. Im Prinzip kam es zu einer Annäherung hin zu einem sog. „channel system“, da sich dieses als besonders effizient herausgestellt hat. Das Eurosystem hat bei diesen Umstrukturierungen eine Vorreiterrolle übernommen. Innerhalb dieses Systems wird der Tagesgeldsatz mit Hilfe des geldpolitischen Instrumentariums gesteuert. 1 Die vier Ebenen der Geldpolitik Die Geldpolitik kann bekanntlich Preisstabilität nicht auf direktem Wege erreichen. Vielmehr durchläuft sie vom Instrumenteneinsatz bis zum Endziel verschiedene Stufen bzw. Ebenen, auf denen Anhaltspunkte zur Beurteilung des richtigen geldpolitischen Kurses gefunden und genutzt werden können. Das zentrale Problem besteht nun darin, die kausalen Verknüpfungen zwischen den Ebenen aufzudecken und nach Möglichkeit den Entscheidungsträgern Regeln an die Hand zu geben, wie die Geldpolitik auf den einzelnen Ebenen im Interesse des Endziels agieren sollte. Instrumentenebene Operative Ebene Indikatorenbzw. Zwischenzielebene Endzielebene 1.1 Instrumentenebene Auf der Instrumentenebene entscheidet eine Zentralbank über den Einsatz ihrer geldpolitischen Instrumente. Heutzutage handelt es sich dabei um drei Arten von Instrumenten (im Einzelnen hierzu Kap. III.3): (1) Die erste Kategorie, die mindestreservebedingte Nachfrage nach Reserven oder Anreize zur freiwilligen Reservehaltung, stellt grundsätzlich die Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank durch die Geschäftbanken, d. h. die Anbindung an die Zentralbank, sicher (sog. Anbindungsfunktion). Sie bewirkt i. d. R. auch eine Zinsglättung am Tagesgeldmarkt (sog. Zinsglättungsbzw. Stabilisierungsfunktion). Damit eine Zentralbank den Tagesgeldsatz kontrollieren kann, muss eine ausreichende Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank bestehen. Die Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank stellt gewissermaßen die Grundlage für die Wirksamkeit der Geldpolitik dar. (2) Die zweite Kategorie von Instrumenten, die sog. Offenmarktgeschäfte, dient der primären Liquiditätsversorgung des Geschäftsbankensystems - also der Versorgung des Bankensystems mit Guthaben (Einlagen) bei der Zentralbank - und i. d. R. auch der Vorgabe des gewünschten Ziel-Zinssatzes am Tagesgeldmarkt. Zur Ermittlung des angemessenen Zinssatzes dient etwa die Taylor-Regel (siehe Kap. III.4.3). <?page no="112"?> DIE VIER EBENEN DER GELDPOLITIK 113 (3) Die dritte Kategorie, die sog. Ständigen Fazilitäten, innerhalb derer eine Bank jederzeit kurzfristige Mittel bei der Zentralbank anlegen bzw. aufnehmen kann, bestimmt schließlich den Korridor bzw. den Kanal („channel“), in dem sich der Tagesgeldsatz bewegen kann. 1.2 Operative Ebene und operatives Ziel Auf der Instrumentenebene legt die Zentralbank die Notenbankzinssätze nach ihren Vorstellungen fest, um damit zunächst das operative Ziel zu erreichen. Als operatives Ziel fungiert der Zinssatz für Tagesgeld am Interbanken-Geldmarkt. Dieser kann auf Tagesbasis im Rahmen des Liquiditätsmanagements der Zentralbank kontrolliert und gesteuert werden (im Einzelnen hierzu Kap. III.4). „Monetary policy decision making almost everywhere means a decision about the operating target for an overnight interest rate, and the increased transparency about policy in recent years has almost always meant greater explicitness about the central bank’s interest-rate target and the way in which its interest-rate decisions are made. In such a context, it is natural that adoption of a policy rule should mean commitment to a specific procedure for deciding what interest-rate target is appropriate (Woodford, 2003, 24 f.). Mittlerweile sind Zentralbanken hier auch zum sog. „Forward Guidance“ übergegangen, d. h. sich längerfristig auf einen bestimmten Zinssatz festzulegen, um den Märkten ein klares Signal zu geben, also die Markterwartungen über die Ausrichtung der Geldpolitik mit den Einschätzungen der Notenbank in Einklang zu bringen. Anfang Juli 2013 hat auch das Eurosystem diesen neuen Kurs eingeschlagen, indem der Präsident der EZB Mario Draghi in Anschluss an die Sitzung des EZB-Rates am 4. 7. 2013 feststellte (EZB, 2013c): „The Governing Council expects the key ECB interest rates to remain at present or lower levels for an extended period of time. This expectation is based on the overall subdued outlook for inflation extending into the medium term, given the broad-based weakness in the real economy and subdued monetary dynamics. In the period ahead, we will monitor all incoming information on economic and monetary developments and assess any impact on the outlook for price stability.“ Die traditionelle Geldangebotstheorie hingegen basiert auf dem Geldbasiskonzept und betrachtet die Geldbasis (Zentralbankgeld) als operatives Ziel der Geldpolitik (siehe Box III.1.1). Box III.1.1: Geldschöpfungsmultiplikator, Geldbasiskonzept und ihre Relevanz für die Geldpolitik Zur Herleitung eines einfachen Geldschöpfungsmultiplikators wird angenommen, dass die geldpolitisch relevante Geldmenge ( M ) aus dem Bargeldumlauf ( BG ) und den mindestreservepflichtigen Einlagen der Nichtbanken ( D N ) besteht. (B1) M = BG + D N OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="113"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 114 Die Geldbasis ( B ) setzt sich aus dem Bargeldumlauf und der Reservehaltung (Einlagen bei der Zentralbank) ( R ) zusammen. (B2) B = BG + R Im Rahmen des Geldbasiskonzeptes werden üblicherweise die Reservehaltung und der Bargeldumlauf als Größen formuliert, die in einer festen Relation zu den Einlagen D N , stehen. (B3) R = a · D N (B4) BG = c · D N , wobei a den Reservehaltungskoeffizienten und c die Bargeldneigung (Bargeldhaltungskoeffizient) bezeichnen. Vereinfacht soll hier von einer freiwilligen Reservehaltung der Geschäftsbanken abgesehen werden, sodass der Reservehaltungskoeffizient ( a ) dem Mindestreservesatz ( r M ) entspricht. Setzt man (B4) in (B1) ein, gilt: (B5) M = c D N + D N = (1 + c ) D N Berücksichtigt man (B3) und (B4) in (B2) ergibt sich (B6) B = c D N + r M D N = ( c + r M ) D N Der (theoretische) Geldschöpfungsmultiplikator m gibt das Verhältnis von Geldmenge ( M ) zur Geldbasis ( B ) an. Er lautet (B7) m  M B = (1 + c ) D N ( c + r M ) D N = 1 + c c + r M Das Geldbasiskonzept ( M = m · B ) lässt zunächst Aussagen über die (theoretisch) maximale Geldschöpfungsmöglichkeit des Geschäftsbankensystems zu. Bei gegebener Geldbasis sind die Geldschöpfungsmöglichkeiten umso höher, je geringer c und r M sind. Bei höherer Bargeldquote bzw. höherem Mindestreservesatz wird mehr Zentralbankgeld bei den Nichtbanken ( c ) bzw. der Notenbank ( r M ) gebunden und die Geschäftsbanken verlieren zunehmend die Funktion der multiplen Giralgeldschöpfung. Die Analyse könnte auch auf unterschiedliche Geldmengenaggregate bzw. unterschiedliche Mindestreservesätze ausgedehnt werden, ohne dass sich an den grundsätzlichen Zusammenhängen etwas ändern würde. Soll sich die Aussagekraft des Geldbasiskonzepts nicht nur in einer rein logischen Zerlegung der Geldmenge erschöpfen, soll also dieses Konzept auch praktischen Nutzen für die Geldpolitik haben, muss der für das zu steuernde Aggregat relevante Geldschöpfungsmultiplikator hinreichend prognostizierbar und stabil sein (kritisch Bindseil, 2004b, 31 f.) und die Zentralbank die Geldbasis auch steuern können bzw. wollen. Zumindest letzteres ist bei allen maßgebenden Zentralbanken nicht der Fall, d. h. die Geldbasis ist eine endogene Größe. Die Zentralbanken steuern nicht die Menge („Geldbasis“), sondern <?page no="114"?> DIE VIER EBENEN DER GELDPOLITIK 115 den Preis des Zentralbankgeldes („Tagesgeldsatz“), was im Übrigen auch der Vorgehensweise der Deutschen Bundesbank vor der Währungsunion entsprach (eine historische Betrachtung der Notenbankpraxis im 20. Jahrhundert. findet sich bei Bindseil, 2004a, Kap. 7). „Currently, all the central banks in industrial countries implement monetary policy through market-oriented instruments geared to influencing closely short-term interest rates as operating objectives. … It is in this relative unglamorous and often obscure corner of the financial markets that the ultimate source of the central banks’ power to influence economic activity resides.“ (Borio, 2001, 3), ähnlich Woodford (2001, 23): „But neither the size nor even the stability of the overall demand for base money is of relevance to the implementation of monetary policy, unless central banks adopt monetary-base targeting as a policy rule - a proposal found in the academic literature, but seldom attempted in practice. What matters for the effectiveness of monetary policy is central-bank control of overnight interest rates.“ Die bei Zentralbanken gängige Praxis der Steuerung des Tagesgeldsatzes steht somit im Gegensatz zu Darstellungen in vielen Texten, die sich aus einer theoretischen Perspektive mit dem Geldangebotsprozess beschäftigen. „In their analysis most economists have assumed that Central Banks „exogenously“ set the high-powered monetary base, so that (short-term) interest rates are „endogenously“ set in the money market. … the above analysis is wrong. Central Banks set short-term interest rates according to some „reaction function“ and the monetary base is an endogenous variable.“ (Goodhart, 2001, 1, siehe auch Goodhart, 2002). „Generally, montarists, who liked quantities, but tended to dislike the idea of central bank control of (short term) interest rates, broadly supported RPD (reserve position doctrine = Geldbasiskonzept, Anm. der Verf.), although they were often not so keen on being bothered with a need to split up their most cherished concept of monetary policy implementation, the monetary base, into petty-minded technical concepts like excess reserves, free reserves, borrowed reserves, etc. … monetarits have insisted on their views on monetary policy implementation until very recently.“ (Bindseil, 2004b, 24 f.). Das Eurosystem (als auch das Fed und die Bank of England) betreibt keine Geldbasissteuerung, d. h. es setzt nicht unmittelbar an einer quantitativen Steuerung des Zentralbankgeldes an. Zentraler Ansatzpunkt, also operatives Ziel ist vielmehr der Zinssatz für Tagesgeld, also der Zinssatz, zu dem Guthaben bei der Zentralbank auf dem Tagesgeldmarkt unter Banken gehandelt werden. „Today, there is consensus among central banks to the effect that the short-term inter-bank interest rate is the appropriate operational target“ (Bindseil, 2004a, 8 siehe hierzu auch Box III.4.6). 38, 39 Etwas überspitzt Good- 38 Ähnlich Bain / Howells (2005, 92 f.). Einen Überblick über die Rolle des Zinses, der Geldbasis und der Geldmenge liefern Görgens / Ruckriegel / Seitz (2007). 39 Papadia weist darauf hin, dass in einem Umfeld, in dem es der Zentralbank (noch) nicht gelungen ist, die langfristigen Inflationserwartungen zu verankern, eine Mengensteuerung von Vorteil sein kann, um den Wirtschaftssubjekten von Woche zu Woche immer wieder klar zu signalisieren, dass „the value of money will be preserved“. Als Beispiel führt er die Vorgehensweise des OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="115"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 116 hart (1994): „Virtually every monetary economist believes that the CB (central bank) can control the monetary base … Almost all those who have worked in a CB believe that this view is totally mistaken.“ 40 Damit eine Zentralbank allerdings den Tagesgeldsatz kontrollieren kann, muss eine ausreichende Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank bestehen. Dies wird in normalen Zeiten entweder durch den Zwang zur Haltung von Mindestreserven (Eurosystem und Fed) oder durch Anreize zur freiwilligen Haltung von Working Balances (Fed und Bank of England) erreicht. Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 hielten die Banken aber auch aus Vorsichtsgründen Guthaben bei der Zentralbank, um jederzeit liquide zu sein, da der Interbankengeldmarkt nahezu zum Erliegen gekommen war. 1.3 Indikatorenbzw. Zwischenzielebene Auf der Indikatorebene geht es um Variablen, die frühzeitig Informationen darüber liefern, wie das operative Ziel anzupassen ist, um das Endziel zu erreichen. Dabei kann es sich um reale oder monetäre Größen handeln. Zu denken ist hier etwa an Realzinsen und den Output Gap einerseits oder an Wechselkurse, die Kredit- und Geldmengenentwicklung andererseits. Fungiert eine derartige Variable sogar als Zwischenziel (wie z. B. die Geldmenge bei der Deutschen Bundesbank bis zum Beginn der Europäischen Währungsunion oder ein bestimmter Wechselkurs gegenüber einer Ankerwährung), sollte sie nicht nur frühzeitig verfügbar sein und einen möglichst stabilen oder zumindest prognostizierbaren Zusammenhang zum Endziel aufweisen, sondern auch hinreichend von der Zentralbank mit Hilfe ihres Instrumentariums (im Falle der Geldmenge über die Beeinflussung der Geldnachfrage) beeinflusst werden können. Zwar haben (offizielle) Zwischenziele inzwischen in der praktischen Geldpolitik an Bedeutung verloren. Die Unterscheidung zwischen der operativen und der Indikatorebene macht aber bereits deutlich, dass eine fehlende Berücksichtigung von „Geld“ auf der operativen Ebene nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit der Nichtbeachtung von Geldmengenentwicklungen im Allgemeinen ist. Viel Verwirrung bei der Diskussion um die geldpolitische Rolle des Geldes hat der einflussreiche Artikel von Poole (1970) gestiftet, der aufgrund einer vereinfachenden Annahme die Geldmenge M und die kurzfristigen Zinsen auf die geldpolitisch gleiche - Fed in den USA von 1979 - 1982 sowie die der Bank of Japan seit 2001 an. Er macht in diesem Zusammenhang aber auch darauf aufmerksam, dass dem „institutionellen Design„, also der Frage der Unabhängigkeit der Zentralbank und der Vorgabe der Preisstabilität als Ziel der Geldpolitik eine entscheidende Rolle zukommt, um Inflationserwartungen langfristig zu verankern (vgl. Papadia, 2005, 54 - 56). Im Falle von Notenbankzinsen nahe Null bleibt der Zentralbank häufig keine andere Möglichkeit mehr, als die Guthaben der Banken bei ihr als operatives Ziel heranzuziehen, da der Zinssatz für Guthaben bei der Zentralbank schon bei Null Prozent liegt. Siehe hierzu auch Gerdesmeier et al. (2005, 47 - 50). 40 Zitiert nach Bain / Howells (2005, 245). <?page no="116"?> DIE VIER EBENEN DER GELDPOLITIK 117 operative - Ebene setzte. Damit verwischte er die Unterscheidung zwischen instrumenteller, operativer und Indikatorbzw. Zwischenzielebene. „In the analysis of this paper policy variables assumed to be controlled without error will be called instruments, and no use will be made of the proximate target concept (dies entspricht dem Zwischenziel, Anmerk. der Verf.).“ (Poole, 1970, 198). Damit vermischte Poole die ersten beiden Ebenen und definierte die dritte Ebene weg. Obwohl Ende der 60er Jahre die Trennung zwischen operativem Ziel und Zwischenziel in der Literatur bereits eingeführt war und diskutiert wurde, verzichtete Poole also bewusst auf diese Unterscheidung. „However, if as assumed throughout this paper the money stock can be set at exactly the desired level, then the money stock may as well be called an instrument of monetary policy rather than a proximate target … It is, for example, a straightforward matter to use the approach of this paper to treat the monetary base as an instrument and the money stock as a stochastic function of the monetary base.“ (Poole, 1970, 198). Die mangelnde Unterscheidung zwischen Geldbasis und Geldmenge beruht also auf der Annahme einer exogenen Geldmenge im Sinne der traditionellen Geldangebotstheorie. Damit wird ausgeblendet, dass in der Realität die Geldmengenentwicklung vom Geldnachfrageverhalten der Wirtschaft bestimmt wird, also endogen ist. Papadia (2005, 54) bringt dies auf den Punkt, indem er darauf hinweist, dass bei Poole das Problem im „apparent lack of distinction between base money and the money supply, deriving from the combined behaviour of the central bank and the commercial banks,“ besteht. Box III.1.2: Warum die Poole’sche Alternative „Zinsversus Geldmengensteuerung“ in Wirklichkeit keine ist Häufig findet man in makroökonomischen Lehrbüchern die Aussage, dass die Zentralbank entweder die Geldmenge ( M ) oder den Zinssatz ( i ) steuert, also beide auf der gleichen Ebene liegen. Implizit steht dahinter die Überlegung, dass ein Monopolist entweder die Menge (Geldmenge) oder den Preis (Zinssatz) festlegen kann. Zudem wird häufig eine Kausalität von der Geldmengenzur Zinsentwicklung unterstellt. So etwa Abel und Bernanke (2005, 539) „At various times the Fed has guided monetary policy ◼ by attempting to keep either monetary growth rates or short-term interest rates at or near preestablished target ranges … Note that, although the Fed may be able to stabilize one or the other of these variables, it cannot both simultaneously. .. If it raised the monetary base to raise the money supply, in the short run the increase in money supply would shift the LM curve down and to the right, which would lower rather than raise the Fed funds rate.“ Blanchard (2005, 75) „I have described the central bank as choosing the money supply ◼ and letting the interest rate determined at the point where money supply equals money demand. Instead, I could have described the central bank as choosing the interest rate and then adjusting the money supply so as to achieve this interest rate. …Why is it useful to think about choosing the interest rate? Because this is what modern central banks, including the Fed, typically do. They typically think about the interest rate they want to achieve and then move the money supply so as to achieve it. This is why, when OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="117"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 118 you listen to the news, you do not hear: „The Fed decided to increase the money supply today.“ Instead you hear: „The Fed decided to decrease the interest rate today.“ The way the Fed did it was by increasing the money supply appropriately.“ Krugman / Wells (2006, 751) „In fact, the money market works the same way as al- ◼ ways: the interest rate is determined by the supply and demand for money. The only difference is that now the Fed adjusts the supply of money to achieve its target interest rate. It’s important not to confuse a change in the Fed’s operating procedure with a change in the way the economy works.“ Romer (2006, 226 f.): „Modern central banks do not target the money supply. Instead, ◼ they adjust it to achieve a target for the interest rate, and they adjust their interest-rate target in response to movements in output and inflation.“ Der Poole’schen Tradition folgend wird die Geldmenge (money supply bzw. money stock) als operatives Ziel behandelt, also auf dieselbe Ebene mit dem Tagesgeldsatz gestellt und beide werden als gleichrangige Alternativen angesehen. Eine Zentralbank kann demnach entweder die Geldmenge (z. B. M3 im Falle des Eurosystems) oder den Tagesgeldsatz (z. B. gemessen am EONIA im Eurowährungsgebiet oder der Federal Funds Rate in den USA) steuern. Poole (1970) folgend wird eine Zinssteuerung dann empfohlen, wenn die Geldnachfrage sehr volatil ist, also häufig sog. Finanzmarktschocks vorliegen. Dieses Bild von einer Zentralbank, die entweder die Geldmenge oder den Zinssatz steuern kann, ist allerdings unzutreffend oder zumindest irreführend. Während der Tagesgeldsatz bzw. die Geldbasis auf der operativen Zielebene der Geldpolitik liegen, steht die Geldmenge auf der Zwischenzielbzw. der Indikatorebene. So kann etwa die Zentralbank über die Steuerung des Tagesgeldsatzes versuchen, das Wachstum der Geldmenge auf einem bestimmten Zielpfad zu halten. Diese Überlegung stand hinter der „Geldmengenpolitik“ der Deutschen Bundesbank und steht (im Prinzip) auch hinter der Idee der Monetären Säule der EZB. Die Zentralbank steuert hier also den Zinssatz nicht deshalb, weil aufgrund von „Finanzmarktschocks“ die Geldnachfrage zu volatil oder instabil geworden ist. Vielmehr dient der Tagesgeldsatz gerade als operatives Ziel, um ein bestimmtes Geldmengenwachstum zu erreichen. Es geht hier also gerade nicht um ein „Entweder-Oder“, da Zinssatz und Geldmenge nicht auf der gleichen Ebene liegen, somit auch keine Entscheidungsalternativen sind. Die Poole’sche Entscheidungsregel ist also in der Praxis irrelevant. Die Zentralbank als Monopolist kann entweder den Tagesgeldsatz (Preis) oder (rein theoretisch) die Geldbasis (Menge an Zentralbankgeld) steuern. Wählt die Zentralbank den Tagesgeldsatz, so wird die Geldbasis endogen. Dies entspricht der heute gängigen Praxis. Die Geldmenge wird über eine endogene Geldbasis und über einen endogenen Geldschöpfungsmultiplikator von der Kredit- und Geldnachfrage der Nichtbanken im Zusammenwirken mit den Geschäftsbanken bestimmt. Wählt die Zentralbank die Geldbasis als operative Zielgröße, so bleibt der endogene Multiplikator als Verbindungsglied zur Geldmenge. Auch in diesem (rein theoretischen) Fall ist also die Geldmenge letztlich endogen. Die Geldpolitik wirkt auf den Multiplikator ein, wenn sie die Opportunitätskosten der Geldhaltung verändert. Die Endogenität der Geldmenge wird im Übrigen auch durch die Empirie bestätigt (ein Überblick findet sich etwa bei Howells, 2005; zu einer Bestätigung der Endogenität für Deutschland von 1975 - 1998, also in einer Phase, die häufig als die der exogenen Geldmengensteuerung <?page no="118"?> DIE VIER EBENEN DER GELDPOLITIK 119 verstanden wird, siehe Holtemöller, 2003). Die Fiktion eines gegebenen, d. h. der Zentralbank bekannten Multiplikators und einer von der Zentralbank vorgegebenen Geldbasis, damit eines exogenen Geldangebotes in einem Geldsystem mit Geschäftsbankengeld tragen somit wenig zur Erklärung der Realität bei. Fazit: Geldmenge und Zinssatz (Tagesgeldsatz) können nicht als alternative operative Ziele der Geldpolitik, damit aber auch nicht als Entscheidungsalternativen im Poole’schen Sinne betrachtet werden. Steuert die Zentralbank den Tagesgeldsatz, ist zwar das Geldbasisangebot zum jeweils von der Zentralbank gesetzten Tagesgeldsatz vollkommen elastisch. Die Angebotskurve für Zentralbankgeld verliefe horizontal. Die Geldmenge hingegen wird im Zusammenwirken von Kreditvergabe der Geschäftsbanken und der Geldnachfrage der Nichtbanken bestimmt, sie ist also endogen. Will die Zentralbank hierauf Einfluss nehmen, geschieht dies über die Veränderung des Tagesgeldsatzes, was einer Verschiebung der (horizontalen) Angebotskurve für Zentralbankgeld entspräche. 1.4 Endzielebene Auf der Endzielebene geht es um die letztlich von der Zentralbank anzustrebenden Ziele. Hier hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl in der Theorie als auch in der Praxis als Konsens herausgebildet, dass sich Zentralbanken auf die Bekämpfung von Inflation bzw. die Gewährleistung von Preisstabilität konzentrieren sollten. Als Zeithorizont sollte dabei eine mittelfristige Perspektive zugrunde gelegt werden. Alle anderen Ebenen sind letztlich dieser Ebene unterzuordnen. Das Endziel ist den Zentralbanken in der Regel durch ihre Statuten vom Gesetzgeber vorgegeben. Box III.1.3: Warum ist Preisstabilität wichtig? Zu den bemerkenswertesten makroökonomischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zählt der Rückgang der Inflationsraten in nahezu allen Ländern. Lag die globale Inflation nach Angaben des Internationalen Währungsfonds im Jahr 1992 noch bei annährend 36 %, so unterschritt die jährliche Teuerung in jedem Jahr nach 2002 die 4 %-Marke - und dies in einem Zeitraum, in dem die Energiepreise in einem Ausmaß stiegen, welches dem der Ölpreisschocks in den 70er Jahren in nichts nachstand. Besonders augenfällig war der Rückgang der Inflationsraten in den Schwellen- und Entwicklungsländern; die Industriestaaten verzeichneten zwar ebenfalls ein freundlicheres Preisklima, hier hatte allerdings die Trendwende zu niedrigeren Inflationsraten bereits zu Beginn der 80er Jahre begonnen. Für die Wende hin zu niedrigeren Teuerungsraten spielt neben den - quantitativ häufig überschätzten - Folgen einer zunehmenden Globalisierung der Gütermärkte vor allem die weltweite Akzeptanz für eine stabilitätsgerechte Geldpolitik die Hauptrolle. Die Vorteile einer primär auf Preisstabilität ausgerichteten Politik waren nach den Erfahrungen mit Hyperinflationsphänomenen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland wohl bekannt. Inzwischen sind die Vorteile eines stabilen Geldes weltweit aner- OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="119"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 120 kannt. Der Siegeszug der Preisstabilität legt vielmehr die Frage nahe, ob denn die Gründe für Preisstabilität überhaupt noch einer Begründung bedürfen. In diesem Zusammenhang gilt es jedoch, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, dass die gegenwärtig niedrigen Inflationsraten keine Garantie für ein auch in Zukunft günstiges Preisumfeld sind. Die Erfolge der letzten zwanzig Jahre sind das Ergebnis eines in nicht wenigen Ländern langwierigen Erkenntnisprozesses, dass Preisstabilität nicht in Gegensatz zu anderen gesamtwirtschaftlichen Zielen - wie beispielsweise angemessenes Wachstum und ein hoher Beschäftigungsstandsteht, sondern eine wesentliche Voraussetzung zur Erreichung dieser Ziele ist. Erst die Dauerhaftigkeit eines in der Öffentlichkeit verankerten breiten Konsens über die Vorteile von Preisstabilität ermöglicht die Verankerung langfristiger Inflationserwartungen auf einem niedrigen Niveau und verhindert, dass die Sicherung von Preisstabilität durch die Geldpolitik nur über hohe realwirtschaftliche Kosten gewährleistet werden kann. Der wesentliche Beitrag der Preisstabilität zu einem spannungsfreien realwirtschaftlichen Wachstum besteht darin, dass die wesentliche Signalfunktion der relativen Preise in einer Marktwirtschaft unverzerrt durch Bewegungen des allgemeinen Preisniveaus möglich wird. Einzelne Preisbewegungen signalisieren Knappheiten und lenken die gesamtwirtschaftlichen Ressourcen in die bestmögliche Verwendung. Damit wird ersichtlich, dass der gebräuchliche Begriffder Preisstabilität zur Beschreibung des Ziels der Geldpolitik missverständlich ist. Es kann und sollte nicht Gegenstand einer stabilitätskonformen Politik sein, einzelne Preise stabil zu halten, sondern es kann nur um die Stabilität des Niveaus aller Preise gehen. Die verbesserte Allokationsfunktion eines stabilitätsgerechten Umfelds umfasst auch - aus Wachstumsgesichtspunkten besonders wichtig - eine Minimierung der intertemporalen Verzerrungen. Erst wenn Sparer darauf vertrauen können, dass ihre naturgemäß langfristigen Entscheidungen nicht durch inflationäre Minderungen ihrer nominalen Anlagebeträge konterkariert werden, entsteht das notwendige Vertrauen in langfristige Finanzbeziehungen, die als unverzichtbarer Motor nachhaltigen Wachstums fungieren. Höhere Inflationsraten gehen regelmäßig auch mit variableren Inflationsraten einher. In langfristigen Finanzkontrakten schlägt sich diese höhere Volatilität in steigenden Risikoprämien und damit höheren Zinsen nieder. Ein preisstabiles Umfeld verringert hingegen dieses Risiko und ermöglicht ein wachstumsförderliches niedriges Zinsniveau. Die durch höhere Inflationsraten erzeugten Verzerrungen werden verstärkt durch staatliche Institutionen, die dem Nominalwertprinzip folgen. So steigt die steuerliche Belastung in einem progressiven Einkommensteuersystem, das Nominalwerte besteuert, mit höheren Inflationsraten an. Betroffen sind aber auch Rechnungslegungsvorschriften im Unternehmenssektor: Beispielsweise verringert eine höhere Inflation den Wert von Abschreibungen, die auf historischen Kosten basieren, und erhöht so die Kapitalkosten im Unternehmenssektor. Aus all diesen vorgenannten Gründen wird deutlich, dass erst ein preisstabiles Umfeld wichtige Voraussetzungen für dauerhaftes realwirtschaftliches Wachstum und nachhaltig hohe Beschäftigung schafft. Darüber hinaus kommt es durch Inflation regelmäßig zu willkürlichen Umverteilungen, die auch aus sozialpolitischer Sicht unerwünscht sind. Eine unerwartet höhere Inflation schädigt die Empfänger nominal fixierter Einkommen, beispielweise Bezieher von Transfereinkommen, und verringert umgekehrt die reale Last von Schuldnern dieser Leistungen. <?page no="120"?> DIE VIER EBENEN DER GELDPOLITIK 121 Schließlich verursacht eine hohe Inflationsrate ökonomische Kosten in Form von rascheren Preisanpassungen (menu costs) beziehungsweise Kosten der Portfolioanpassung unverzinster Aktiva wie Bargeld (shoe leather costs). Angesichts dieser Nachteile hoher Inflationsraten läge es nahe, als wünschenswertes Ziel der Geldpolitik die Nullinflation anzusehen, also ein in der Tat stabiles Preisniveau. Insofern muss es verwundern, dass Notenbanken weltweit regelmäßig nicht die Nullinflation sondern eine niedrige positive Inflationsrate als Ziel definieren. Dies hat unterschiedliche Gründe: Zum einen überschätzt die herkömmliche Preismessung die tatsächliche Teuerung, indem beispielsweise Substitutionseffekte oder Qualitätsverbesserungen nicht hinreichend berücksichtigt werden. Zum anderen wird eine negative Inflation, also eine Deflation, als ebenfalls schädlich angesehen. So erhöht ein fallendes Preisniveau die reale Last von Schuldnern und verringert den Wert ihrer Aktiva. Dies führt zu steigenden Ausfallraten in Kreditbeziehungen und gefährdet unter Umständen die Stabilität des Finanzsystems. Schließlich vergrößert eine Zielinflationsrate von Null mit einem einhergehenden niedrigen Niveau der Kurz- und Langfristzinsen die Wahrscheinlichkeit, dass die Geldpolitik bei adversen Schocks an die Nullzinsgrenze stößt. In diesem Fall würde die Notenbank den Zins zur Abfederung des negativen realwirtschaftlichen Schocks stärker absenken wollen. Dies ist aber nicht möglich, da der kurzfristige Zins bereits auf Null gesunken ist. Eine derartige Situation, in der die herkömmlichen Zinsinstrumente der Geldpolitik versagen, kennzeichnet die Situation in Japan in der letzten Dekade. In der Abwägung der Vorteile niedriger Inflationsraten und der Risiken, die aus einer deflationären Entwicklung resultieren können, hat sich als Zielmarke der Geldpolitik in zahlreichen Ländern eine niedrige positive Inflationsrate in der Größenordnung von 2 % als Konsensmodell herausgebildet. Dies gilt ebenfalls für die Geldpolitik des Eurosystems, das Preisstabilität als mittelfristigen Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex im Euroraum „unter, aber nahe bei 2 %“ definiert. Unter dem Eindruck der Entwicklungen der Finanzkrise sind jedoch zuletzt auch Stimmen laut geworden, die für höhere Inflationsziele plädieren, um die Risiken des Erreichens der Nullzinsgrenze zu verringern. Box erstellt von Jens Ulbrich (Deutsche Bundesbank). Kontrollfragen 1 Was versteht man unter der Instrumentenebene der Geldpolitik und welche Kategorien von geldpolitischen Instrumenten gibt es? 2 Was versteht man unter der operativen Ebene der Geldpolitik, und was ist das operative Ziel der Zentralbanken? 3 Was versteht man unter den Indikatorenbzw. Zwischenzielen der Geldpolitik? 4 Was versteht man unter einem Endziel der Geldpolitik? Lösungen unter europa-geldpolitik.de OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="121"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 122 Weiterführende Literatur: Bindseil, U. (2004), Monetary Policy Implementation, Theory - Past - Present, Oxford. Bindseil begründet sowohl theoretisch als auch empirisch sehr gut, warum auf der operative Ebene der Mengenansatz gegenüber dem Preisansatz Nachteile hat. Bindseil, U. (2004), The Operational Target of Monetary Policy and the Rise and Fall of Reserve Position Doctrine, ECB Working Paper, No. 372, June. 2 Geldpolitische Strategien für das Eurosystem „Clear strategic concepts geared to the goal of stability exercise a positive influence on how the monetary policy course is set internally, because they limit the risk of mismanagement. Owing to its rule-like character, a fully formulated strategy compels monetary policy-makers to act consistently over time. Along with that, it makes ill-founded and arbitrary ad hoc decisions more difficult and guards against the temptation to yield to cyclical policy demands. Overall, the partial „tying of one’s hands“ associated with a monetary policy strategy should strengthen the continuity of monetary policy and limit the danger of the central bank itself generating destabilising stimuli.“ (H. Tietmeyer, 1996, 3) Die primäre Aufgabe des Eurosystems ist die Gewährleistung von Preisstabilität. Allerdings kann eine Notenbank die Preise nicht direkt kontrollieren, sondern sie versucht, Preisstabilität über eine angemessene geldpolitische Strategie zu erreichen. Obiges Zitat des früheren Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer verdeutlicht deren grundsätzliche Bedeutung. Die darin getroffenen Aussagen sind vor dem Hintergrund der Krisen und Unsicherheiten der letzten Jahre nur umso wichtiger geworden. Die geldpolitische Strategie bildet das Grundgerüst für die laufende Geldpolitik. Sie beschreibt die konzeptionelle Vorgehensweise der Zentralbank bei Verfolgung ihrer letztendlichen Ziele. Insofern stellt sie ein mittelbis langfristig ausgerichtetes und konsistentes Verfahren dar, nach dem im Sinne einer Grundsatzentscheidung über den Instrumenteneinsatz zur Erreichung der geldpolitischen Endziele entschieden wird. Die geldpolitische Strategie beinhaltet somit den gesamten Weg von den zur Verfügung stehenden Instrumenten über das operative Ziel bis zu den Endzielen der Geldpolitik (siehe Abb. III.2.1). Darüber hinaus soll sie auch den geldpolitischen Entscheidungsprozess innerhalb der Zentralbank als auch die Darstellung und Begründung der Entscheidungen nach außen erleichtern. Im Kern besteht dabei das strategische Problem einer stabilitätsorientierten Geldpolitik darin, die Inflationserwartungen auf einem mit Preisstabilität zu vereinbarenden Niveau dauerhaft zu verankern. <?page no="122"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 123 Die Verfolgung einer geldpolitischen Strategie empfiehlt sich wegen der unvollständigen Kenntnis des genauen Transmissionsprozesses der Geldpolitik (siehe dazu Kap. IV). Die von Veränderungen der Notenbanksätze ausgehenden Effekte auf die Zielvariablen sind sowohl in ihrer Stärke als auch in ihrer Verteilung über die Zeit variabel. Zudem besteht das Problem, dass die Zielvariablen in der Regel nicht nur von der Geldpolitik allein beeinflusst werden. Deshalb sollte eine geldpolitische Strategie den geldpolitischen Entscheidungsträgern die Informationsverarbeitung erleichtern und Hilfestellung bei geldpolitischen Entscheidungen liefern. Durch ein in sich geschlossenes und glaubhaftes Konzept, das der Öffentlichkeit bekannt ist, soll auch eine Verstetigung der Geldpolitik erreicht werden. Und schließlich kann die Strategie als Kommunikationsmedium mit der Öffentlichkeit eingesetzt werden und so zur Berechenbarkeit von Notenbankaktionen und Reduktion von geldpolitischer Unsicherheit beitragen. Dadurch erhöht sie auch die Transparenz der Geldpolitik. Abb. III.2.1: Die Bedeutung einer geldpolitischen Strategie Instrumenteneinsatz, z. B. Hauptrefinanzierungsgeschäft Operative Ziele, z. B. Tagesgeldsatz Zwischenziele/ Indikatoren, z. B. Geldmenge Endziele, v. a. Preisstabilität STRATEGIE STRATEGIE Die optimale Strategiewahl hängt von den Gegebenheiten in dem jeweiligen Währungsgebiet, speziell der Größe, der außenwirtschaftlichen Verflechtung und den Finanzmarktstrukturen ab. Einerseits werden dabei Strategien diskutiert, die sich auf offiziell hervorgehobene geldpolitische Indikatoren oder sogar Zwischenziele stützen (z. B. Geldmengen-, Zins-, oder Wechselkursziele). Sie befinden sich im geldpolitischen Transmissionsprozess zwischen den direkt kontrollierbaren operativen Zielen (z. B. dem Tagesgeldzins) und den gesamtwirtschaftlichen Endzielen, z. B. der Preisstabilität (siehe Abb. III.2.1). In der praktischen Geldpolitik fanden in Europa in der Vergangenheit vor allem Geldmengen- und Wechselkursziele Anwendung. Andererseits sind seit den 1990er Jahren einige Zentralbanken auf eine Politik mit direkten Inflationszielen übergegangen. Mit dieser sog. einstufigen Strategie wird versucht, das Endziel ohne Verfol- OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="123"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 124 gung spezieller Indikatorvariablen zu erreichen. In den USA dagegen wird aktuell weder der eine noch der andere Ansatz verfolgt. Dort orientiert sich die Geldpolitik an einer Strategie ohne explizite nominale Orientierungsgrößen. Sie kann als Multi-Indikatoren- Ansatz im Hinblick auf die Endziele interpretiert werden. Das Eurosystem steht in diesem Zusammenhang vor dem Problem, dass es bei der Wahl der Strategie nicht nur gewisse Leitlinien beachten, sondern auch das zunächst neue und im weiteren Verlauf unsicherere geldpolitische Umfeld in seine Überlegungen mit einbeziehen muss. Im Folgenden sollen einzelne Konzepte vorgestellt, und dann vor dem Hintergrund der Situation in der Währungsunion kritisch diskutiert werden. Dazu muss zunächst geklärt werden, welchen Anforderungen eine geldpolitische Strategie genügen sollte. 2.1 Anforderungen an eine Strategie Das strategische Problem der Geldpolitik besteht also darin, das „Grundgerüst“ für den geldpolitischen Instrumenteneinsatz zu liefern, sodass die Zielsetzungen der Geldpolitik bestmöglich erreicht werden. Eine geldpolitische Strategie und mithin auch die des Eurosystems sollte dabei folgenden Grundsätzen entsprechen: Als notwendige Bedingung Ausrichtung auf das Endziel Preisstabilität. Die Stra- ◼ tegie muss das Eurosystem in die Lage versetzen, dieses Ziel zu erreichen. Damit verbunden sollte eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten sein. Publikation der mit der Strategie verbundenen Daten, Verfahren und Ziele. Damit ◼ einher gehen eine Rechenschaftspflicht sowie ein Rechtfertigungszwang gegenüber der Öffentlichkeit bei Zielverfehlungen. Dafür muss die Strategie für die Öffentlichkeit verständlich sein. Folglich sollen mit Hilfe der Strategie der Öffentlichkeit die Intentionen der Zentralbank transparent mitgeteilt werden können. Mittelbis langfristige Ausrichtung, um eine Orientierung für die Erwartungsbil- ◼ dung der privaten Marktteilnehmer, im Besonderen der Inflationserwartungen, zu geben. Kurzfristige Zielabweichungen müssen vereinbar mit der Strategie sein. Sie sollte über einen längeren Zeitraum Bestand haben. Dieser Grundsatz der Kontinuität setzt auch voraus, dass die gewählte Strategie robust gegenüber Änderungen im wirtschaftlichen Umfeld ist. Vereinbarkeit mit der Unabhängigkeit des Eurosystems, da die Strategie ansonsten ◼ dem EU-Vertrag widersprechen würde und eine effektive Geldpolitik erschwert. Schnelle und präzise Datenverfügbarkeit: Die ökonomischen Größen, auf die sich ◼ die Strategie stützt, müssen ohne große Verzögerungen und mit hinreichender Genauigkeit verfügbar sein. Vor dem Hintergrund dieser Leitlinien werden im Anschluss verschiedene geldpolitische Strategien diskutiert. Grundsätzlich wird dabei unterstellt, dass primäres Ziel der Zentralbank Inflationsbekämpfung bzw. Sicherung von Preisstabilität ist. 41 Zunächst 41 Dies schließt nicht aus und ist in vielen Fällen sogar kompatibel damit, dass weitere Ziele, z. B. Konjunkturbeeinflussung oder Finanzstabilität, verfolgt werden. <?page no="124"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 125 soll jedoch auf den Unterschied zwischen ein- und zweistufigen geldpolitischen Strategien eingegangen werden. 2.2 Einstufige versus zweistufige geldpolitische Strategien Generell unterscheidet man bei geldpolitischen Strategien zwischen solchen, die sich spezieller Indikatorvariablen bedienen bzw. sich ein Zwischenziel setzen (eine sog. zweistufige Strategie), und solchen, die versuchen, das Endziel Preisstabilität direkt zu steuern (die sog. einstufige Strategie). Grundvoraussetzung für eine als Indikator geeignete Größe ist, dass sie möglichst kurzfristig beobachtbar ist und einen im Zeitablauf engen und stabilen Zusammenhang zum Endziel aufweist. Fungiert eine derartige Größe sogar als Zwischenziel, sollte sie zusätzlich von der Zentralbank mit Hilfe ihres Instrumenten-Sets hinreichend genau kontrolliert werden können. Wird keine Variable auf der Indikatorebene speziell hervorgehoben und versucht die Zentralbank stattdessen, das Endziel mit einem bestimmten Verfahren direkt zu erreichen, spricht man von der sog. direkten Inflationssteuerung. In diesem Zusammenhang gilt es, strikt zwischen der Indikatorbzw. Zwischenzielebene und der Endzielebene zu unterscheiden. Das Zwischenziel oder herausgestellte Indikatorvariablen sind nur Mittel zum Zweck der Erreichung des Endziels. Zunächst soll untersucht werden, ob beide Strategieausrichtungen prinzipiell dazu geeignet sind, Preisstabilität zu erreichen (siehe dazu Neumann, 2000, 1595 ff.). Nehmen wir dafür an, die Zielgröße der Geldpolitik sei die Inflationsrate π. Diese sei eine Funktion einer geldpolitisch endogenen Variablen z , einer exogenen Variablen x (z. B. der Ausrichtung der Lohn- und Fiskalpolitik) und eines exogenen stochastischen Schocks v (z. B. eine unerwartete Wechselkurs- oder Rohölpreisentwicklung). Letzterer sei normalverteilt mit Mittelwert Null und konstanter Varianz. Somit gilt unter Berücksichtigung von time-lags zwischen z bzw. x und π (1) π t +1 = z t + a 1 x t + v t +1 Die Inflationsrate in Periode t + 1 hängt also von den Realisationen von z und x (über den Koeffizienten a 1 , der als partielle Ableitung zu interpretieren ist) in t ab. Zudem beeinflusst die Höhe des unerwarteten Schocks v in t + 1 die Inflationsrate. Die Variable z , die die Geldpolitik repräsentiert, wird (über den Koeffizienten b 1 ) bestimmt durch die zur Verfügung stehende Instrumentvariable, den Geldmarktzins i (siehe Kap. III.4), und einen unabhängig normalverteilten exogenen Störterm u (z. B. eine unerwartete Veränderung der Geldhaltungsgewohnheiten). (2) z t = b 1 i t + u t Über die Variable z übt somit die Geldpolitik Einfluss auf die zukünftige Inflationsrate aus. Nach (1) und (2) ist z also grundsätzlich sowohl als Indikatorvariable als auch als Zwischenziel geeignet. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="125"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 126 Nehmen wir nun zunächst an, der Geldpolitik wären die beiden Strukturgleichungen (1) und (2) bekannt. Des Weiteren kenne sie die Verteilungen der beiden Schocks u und v . Diese kann sie zwar nicht prognostizieren, aber ohne zeitliche Verzögerung beobachten. Nach Realisationen der exogenen Größe x soll die Zentralbank allerdings nicht in der Lage sein, in derselben Periode noch mit ihrem Instrumenteneinsatz zu reagieren. Der Zielwert für die Inflationsrate soll π Ziel betragen. Wenn die Variable z tatsächlich als Zwischenziel ( z ) verwendet wird, ergibt sich unter Berücksichtigung der in t - 1 verfügbaren Information ( E t -1 , wobei E für den Erwartungswert steht) aus (1) folgender Zielwert für das Zwischenziel z* : (3) z t* = π Ziel - a 1 E t -1 x t Dieses Zwischenziel wird publiziert. Es impliziert als Operationsziel für das geldpolitische Instrument i nach (2) (4) i z, t * = z t* b 1 = (π Ziel - a 1 E t -1 x t ) b 1 Wenn in t durch einen Schock u die tatsächliche Entwicklung von z vom Zwischenzielwert abweicht, muss geldpolitisch reagiert werden. Das heißt, die Instrumentvariable i muss gemäß (5) angepasst werden, um den Einfluss auf die Preisentwicklung π zu kompensieren. (5) i z, t = i z, t * - u t b 1 Je stärker der unerwartete Schock u also ausfällt, desto mehr wird sich i von i* unterscheiden. Insgesamt ergibt sich dann folgende Inflationsrate in t + 1 (6) π z, t +1 = π Ziel + a 1 ( x t - E t -1 x t ) + v t +1 Die Inflationsrate bewegt sich also um ihr Zielniveau in Abhängigkeit von nicht antizipierten Veränderungen der Variablen x in der Periode t , auf die sich das Zwischenziel bezieht, und stochastischen Einflüssen in der Folgeperiode t + 1, die in v t +1 zum Ausdruck kommen. 42 Wenn die Zentralbank sämtliche Strukturgleichungen kennt und alle Variablen der laufenden Periode t fehlerfrei beobachten kann, könnte sie auch versuchen, ihr Ziel π Ziel direkt anzusteuern ( d ), d. h. eine Politik ohne Zwischenziel betreiben. Als Inflationsrate ergibt sich ja aus den Zusammenhängen (1) und (2) (7) π t +1 = a 1 x t + b 1 i t + u t + v t +1 Ist der Zentralbank dieser dynamische Zusammenhang bekannt, könnte sie am Ende der Vorperiode t - 1 ihr Operationsziel für i gemäß (8) festlegen: 42 Eine weitere Zwischenzielvariante, in welcher z auch noch von x abhängt, untersucht Neumann (2000, 1596). <?page no="126"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 127 (8) i d, t * = (π Ziel - a 1 E t - 1 x t ) b 1 Ergeben sich exogene Schocks u und / oder verändert sich x unvorhergesehen, kann dieses Operationsziel optimal verändert werden, wie (9) zeigt (9) i d, t = i d, t * - u t + a 1 ( x t - E t - 1 x t ) b 1 Durch Einsetzen von (9) in (7) erkennt man, dass sich insgesamt bei einer Politik der direkten Inflationssteuerung folgende Inflationsrate in t + 1 einstellt (10) π d, t +1 = π Ziel + v t +1 Wie ein Vergleich von (6), der Inflationsrate bei Verfolgung einer zweistufigen Strategie, und (10) zeigt, sind die Erwartungswerte beider Lösungen identisch. Mit beiden Strategien kann also prinzipiell Preisstabilität erreicht werden. Auch die Schwankungen der Inflationsraten unterscheiden sich nicht. Dementsprechend könnte man also auch auf ein Zwischenziel verzichten. Allerdings wurde bisher bei den Herleitungen unterstellt, dass die Zentralbank die Struktur der Volkswirtschaft vollständig kennt und alle Schocks rechtzeitig und richtig beobachten kann. Unter dieser Informationsverteilung ist es sicherlich überflüssig, auf Variablen zu schauen, die zwischen den operativen Größen und den Endzielen liegen. Dies trifft allerdings in der praktischen Geldpolitik gerade nicht zu. Wie wir in den Abschnitten 2.3 und 2.4 noch im Detail sehen werden, liegen die Unterschiede zwischen einer einstufigen und einer zweistufigen Strategie vor allem in den Informationserfordernissen und in der Beeinflussung der Erwartungen der Marktteilnehmer begründet. 2.3 Zweistufige Strategien Operiert die Geldpolitik mit einer expliziten Indikatorvariablen oder einem Zwischenziel, bezeichnet man dies als zweistufige Strategie, da sie sich zur Erreichung des Endziels auf eine weitere Variable konzentriert, auf deren Bewegungen sie eher reagieren kann (siehe auch Abb. III.2.1). Als derartige Variablen kommen mehrere ökonomische Größen in Frage. 2.3.1 Wechselkursziele Die Wahl eines Wechselkurses gegenüber einer ausgewählten Währung oder einem Währungskorb als Zwischenziel beruht auf der Idee der Kopplung der Inlandswährung an eine als wertstabil anerkannte ausländische Währung. Über die Entscheidung für eine externe Orientierungsgröße soll, so die Idee, Stabilität aus dem Ausland importiert werden. Deshalb bezeichnet man dieses Konzept auch als „externen nominalen Anker “ . Zudem soll eine derartige Orientierung zu einem Glaubwürdigkeitsimport führen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="127"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 128 Wie lässt sich nun ein Wechselkursziel formulieren? Gehen wir dazu von der Definition des realen Wechselkurses e r ( = ep / p a ) aus (siehe dazu Box V.3.6). Hierbei steht e für den nominalen Wechselkurs in Mengennotierung, d. h. 1 € = e $, p für das inländische und p a für das ausländische Preisniveau. Dementsprechend gilt für die (stetige) Veränderungsrate (  ) des nominalen Wechselkurses in der Periode t (11) ê t = π t a - π t + ê tr π entspricht der Inflationsrate. Der Erwartungswert von (11) zu Ende der Vorperiode t - 1 ( E t -1 ) ist gegeben durch (12) E t -1 ê t = E t -1 π t a - E t -1 π t + E t -1 ê tr Wenn nun die Zentralbank anstatt der erwarteten Inflationsrate E t -1 π ihr Inflationsziel π Ziel ansetzt, ergibt sich als Wechselkursziel (13) ê tZiel = E t -1 π t a - π Ziel + E t -1 ê tr Wenn dieses Wechselkursziel eingehalten wird, stellt sich die folgende Inflationsrate ein (14) π t = π Ziel + (π t a - E t -1 π t a ) + ( ê tr - E t -1 ê tr ) Der Erfolg der Geldpolitik - gemessen am Inflationsziel - wird also durch die Prognosefehler der Zentralbank bzgl. der ausländischen Inflationsrate und des realen Wechselkurses bestimmt. Anhand von (14) ist auch erkenntlich, dass bei Wechselkurszielen die inländische Geldpolitik von der ausländischen Geldpolitik abhängt. Wenn sich die ausländische Geldpolitik unerwartet verändert, muss also entweder das Wechselkursziel entsprechend angepasst werden, um das Inflationsziel nicht zu gefährden. Oder die ausländische geldpolitische Ausrichtung wird ebenfalls übernommen. Über welche Mechanismen werden nun diese Prozesse ausgelöst? Typischerweise kommen Wechselkursziele vor allem für kleine Länder in Frage, die ihre Währung an diejenige eines großen Landes binden. Deshalb gehen wir im Folgenden von einem kleinen Land, das ausländische Variablen nicht beeinflussen kann, und zusätzlich vollkommener Kapitalmobilität aus. 43 Für vergleichbare in- und ausländische Finanztitel (perfekte Substituierbarkeit) gilt somit die Ungedeckte Zinsparität („Uncovered Interest Parity“, UIP). Nach dieser müssen sich die erwarteten Erträge einer Anlage in Inlandsbzw. Auslandswährung angleichen (siehe Box III.2.1). Angenähert gilt dann (15) i - i a ≈ e - e erw e erw 43 In der EU gehört Kapitalverkehrsfreiheit zu einer der vier Grundfreiheiten. Neu beitretende Länder müssen sie nach einer Übergangszeit gewährleisten. Mit Beitritt zur Währungsunion muss sie vollkommen erfüllt sein. <?page no="128"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 129 In (15) bezeichnen i den Inlandszins, i a den Auslandszins, e den Wechselkurs in Mengennotierung und e erw den erwarteten Wechselkurs. Der Zeithorizont, der den Wechselkurserwartungen e erw zugrunde liegt, muss dabei dem Anlagehorizont (für beide Anlageformen) entsprechen. Wenn nun ein Land ein glaubwürdig fixes nominelles Wechselkursziel verfolgt, ist die erwartete Wechselkursänderung Null. Folglich muss der ausländische dem inländischen Zins entsprechen. Da der Auslandszins annahmegemäß durch das Inland nicht zu beeinflussen ist, wird er für das Inland zur exogenen Größe. Dies hat zur Konsequenz, dass ökonomische Schocks im Ankerwährungsland, die dort zu Zinsbewegungen führen, auf das Inland übertragen werden. Ausländische Zinsänderungen schlagen sich somit letztendlich immer auch in inländischen Zinsänderungen nieder. Daraus entstehen vor allem dann Probleme, wenn das sich ergebende Zinsniveau nicht zur inländischen wirtschaftlichen Lage passt. Insgesamt ist also mit einem Wechselkursziel immer auch ein Verlust an geldpolitischer Autonomie verbunden (siehe dazu auch die Ausführungen in Kap. V.3). Box III.2.1: Die ungedeckte Zinsparität Ein (inländischer) Anleger steht vor der Entscheidung einer Anlage in inländischer oder ausländischer Währung. Es bestehe vollkommene Kapitalmobilität und perfekte Substituierbarkeit beider Anlageformen. Der Ertrag der Inlandsanlage E I wird durch den Zinssatz i bestimmt. Bei einer einjährigen Anlage von X € resultiert ein Ertrag E I von (B1) E I = X · (1 + i ) Wird der Betrag X in Auslandswährung (z. B. US-$) angelegt, muss der Anlagebetrag zuerst zum Wechselkurs e in $ umgetauscht werden. Darauf bekommt man den Auslandszins i a . Am Ende der Anlagedauer wird dann der resultierende Ertrag mit dem erwarteten Wechselkurs e erw wieder in € umgerechnet. Als erwarteter Ertrag E A in € ergibt sich somit (B2) E A = X · e · (1 + i a ) e erw Solange E I ≠ E A kommt es zu Arbitrageoperationen, die zu einer Angleichung der Erträge führen. Im Arbitragegleichgewicht gilt somit (B3) (1 + i ) = e · (1 + i a ) e erw Wenn man (B3) durch (1 + i a ) dividiert und auf beiden Seiten 1 (= e erw / e erw = (1 + i a ) / (1 + i a )) subtrahiert, kann man dafür alternativ auch schreiben (B4) i - i a 1 + i a = e - e erw e erw Bei kleinen Werten von i a wird dafür aus Vereinfachungsgründen häufig folgender Ausdruck verwendet (B5) i - i a ≈ e - e erw e erw OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="129"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 130 Die nominelle Zinsdifferenz zwischen In- und Ausland ( i - i a ) entspricht also der erwarteten Wechselkursänderung ( e - e erw / e erw ). Bei Existenz von Risikoprämien müsste (B5) entsprechend modifiziert werden. Besteht z. B. eine Risikoprämie  für die Inlandswährung, gilt (B5  ) i - i a ≈ e - e erw e erw +  Damit ein Wechselkurs eine sinnvolle Orientierungsgröße ist, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: Zunächst einmal ist diese Konzeption nur dann praktikabel, wenn es ein Ankerland gibt, an dessen Währung man die eigene Währung anbinden kann. Dafür sollte das Ankerwährungsland hinreichend groß sein und über eine hohe Glaubwürdigkeit und Reputation verfügen. Auch sollte ein bedeutender Teil des Außenhandels mit dem Ankerwährungsland oder zumindest in dessen Währung abgewickelt werden. Nur dann können die Bedingungen im Ankerwährungsland über Güterarbitrage und den internationalen Preiszusammenhang (siehe Box III.2.2) Auswirkungen auf das Inland haben. Und schließlich muss natürlich der Wechselkurs mit Hilfe des geldpolitischen Instrumentariums auch kontrolliert werden können. 44 Die Notenbank richtet bei einem Wechselkursziel ihre geldpolitischen Entscheidungen im Extremfall alleine an der festen Wechselkursparität aus: Wertet sich die Inlandswährung tendenziell ab, ist ein restriktiverer geldpolitischer Kurs, also eine Zinserhöhungspolitik einzuschlagen. Eine expansivere Ausrichtung (zinssenkende Maßnahmen) dagegen ist angezeigt, wenn ein Aufwertungsdruck herrscht. Dadurch wird die entgegengesetzte Wechselkursentwicklung ausgelöst und die fixe Parität bleibt erhalten. Ob die Zinspolitik eines Landes einem Wechselkursziel angemessen ist, kann an der Entwicklung der Marktkurse und dem Bestand an Währungsreserven abgelesen werden. Entstehen Zweifel an der Aufrechterhaltung der fixen Parität, wird es zu entsprechenden Wechselkursbewegungen kommen. Gerät die Währung unter Abwertungsdruck, d. h. (( e - e erw ) / e erw ) > 0, müssen die inländischen Zinsen erhöht werden. Gelingt dies (kurzfristig) nicht, kommt es zu einer Abnahme der offiziellen Währungsreserven. Am Devisenmarkt wird dann nämlich von der Zentralbank die inländische Währung gegen Devisen aufgekauft (Devisenmarktintervention), um den fixen Wechselkurs aufrecht zu erhalten. Dies entspricht einer restriktiven Geldpolitik, da die Bankenliquidität bzw. der Bestand an Zentralbankgeld abnimmt. An diesen Überlegungen wird ein großer Vorteil von Wechselkurszielen offensichtlich. Es handelt sich um eine einfache und klare Regel, die automatisch zu einer Anpassung des geldpolitischen Kurses führt. Die Adäquanz der Geldpolitik kann im Prinzip sowohl von der Notenbank als auch von der Öffentlichkeit kontinuierlich anhand der Marktkurse abgelesen werden. Durch das Wechselkursziel und den internationalen 44 Dient der Wechselkurs nur als Indikator- oder Orientierungsgröße, ist Kontrolle nicht nötig. <?page no="130"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 131 Preiszusammenhang erfolgt darüber hinaus eine Orientierung an der (unterstellten) preisstabilen Ausrichtung des Auslands. Auf Wettbewerbsmärkten, bei vernachlässigbaren Transportkosten, fehlenden Handelsbeschränkungen und keinem pricing-tomarket 45 müssen sich nämlich die Preise handelbarer Güter („Tradables“) im In- und Ausland, in einheitlicher Währung gerechnet, entsprechen. (16) P T = P T a e P T entspricht dem Inlandspreis von Tradables, P T a dem Auslandspreis. Bei (glaubhaft) festen Wechselkursen gilt dann für die inflationäre Entwicklung bei Tradables (17) π T = π T a Es besteht also eine Tendenz zur Angleichung der Inflationsraten handelbarer Güter zwischen dem Inland (π T ) und dem Ausland (π T a ). Bei einem hohen Anteil handelbarer Güter - die typische Situation kleiner Länder - wird dadurch auch die allgemeine Preisentwicklung bestimmt. 46 Box III.2.2: Der internationale Preiszusammenhang Der internationale Preiszusammenhang beruht auf dem „Gesetz des einheitlichen Preises “ („Law of one Price “ ). Dieses besagt, dass bei freiem internationalen Güterhandel auf Wettbewerbsmärkten die Inlandspreise handelbarer Güter (internationale Güter; „Tradables“) P T den Auslandspreisen P T a (in einer Währung gerechnet) entsprechen müssen. Diese Tradables bestehen aus im In- und Ausland abgesetzten Exportgütern, importierten Produkten und den unmittelbar mit Importgütern konkurrierenden Gütern des Inlands. In Inlandswährung gilt (mit e als Wechselkurs in Mengennotierung) (B1) P T = P T a e Dieser Zusammenhang wird durch die Existenz von Transportkosten, pricing-to-market, tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen und sonstigen Restriktionen sowie der nicht vollkommenen Substituierbarkeit von in- und ausländischen Produkten gelockert. Solange diese aber keinen zu starken Schwankungen im Zeitablauf unterliegen und das Wechselkursziel glaubhaft ist, steht zumindest die Veränderung der In- und Auslandspreise handelbarer Güter, d. h. die Inflationsrate handelbarer Güter, in einer direkten Bezie- 45 Unter pricing-to-market versteht man, dass bei Wechselkursänderungen die Exportpreise entsprechend angepasst werden, um den Einfluss auf die Preise, die von Importeuren bezahlt werden müssen, zu begrenzen. Wenn z. B. der € gegenüber dem $ aufwertet, würden sich eigentlich unsere Waren für die US-Importeure verteuern. Exporteure aus der EWU könnten diesen „passthrough“ in Richtung höherer Preise beschränken, indem sie den $-Preis ihrer Produkte senken. Sie sichern damit Marktanteile zu Lasten der Gewinnmargen. 46 Über Lohnverhandlungen und Substitutionsbeziehungen wird dieser Prozess auch auf den Sektor der nicht-handelbaren Güter („Non-Tradables“) ausstrahlen (siehe auch Box III.2.2). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="131"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 132 hung zueinander. Diese wird umso stärker auf die allgemeine Preisentwicklung im Inland durchschlagen, je größer der Anteil handelbarer Güter im Preisindex ist. Das ist vor allem in kleinen Ländern der Fall. Ist dagegen der Anteil nicht-handelbarer Güter (nationale Güter; „Non-Tradables “ ), wie z. B. vieler Dienstleistungen, hoch, wird die Verbindung lockerer. Des Weiteren spielt auch der Anteil des Außenhandels, der in der Währung des „Anbindungslandes“ abgewickelt wird, eine wichtige Rolle. Der Preiszusammenhang bleibt jedoch im Normalfall nicht auf den Bereich handelbarer Güter beschränkt. Wenn Importgüter als Vorprodukte in der Produktion benötigt werden, gehen sie in die Kostenrechnung der heimischen Güter ein. Auch wird die Gewinnsituation bei den handelbare Güter anbietenden Unternehmen Auswirkungen auf die vorgelagerten Faktormärkte (z. B. über eine veränderte Arbeitsnachfrage) haben, die dann auch andere Unternehmen in der Volkswirtschaft betreffen. Auf den Arbeitsmärkten können sich auch erwartungsinduzierte Preiszusammenhänge einstellen, wenn die Tarifparteien sich an der Lohnentwicklung des Ankerwährungslandes orientieren. Und solange handelbare und nicht-handelbare Güter in gewissem Umfang substituierbar sind, werden auch die Nachfrager auf unterschiedliche Preisentwicklungen reagieren, d. h. die eher billigeren Produkte verstärkt nachfragen. Auch daraus resultiert ein Preisübertragungseffekt. Ein Stabilitätsimport durch eine Wechselkursanbindung kann auch indirekt über einen Drittlandeffekt stattfinden. So können z. B. enge Handelsbeziehungen mit einem Land bestehen, das seinerseits einen festen Wechselkurs zu einem stabilen und großen Ankerwährungsland unterhält, mit dem es einen hohen Anteil seines Außenhandels abwickelt. In diesem Fall würde das kleine Land Stabilität über die Vermittlungsfunktion des Drittlandes importieren. Als Alternative zur Bindung an eine einzelne Währung besteht die Möglichkeit der Bindung an einen Währungskorb. Die darin enthaltenen Währungen sollten sich sinnvoller Weise auf die der wichtigsten Handelspartner beschränken. Generell wird also bei Wechselkurszielen die heimische Preisentwicklung mit der ausländischen verknüpft. Gemäß der Quantitätsgleichung gilt per Definition, dass der Wert der Güterproduktion (Preis P multipliziert mit der realen Gütermenge Y ) gleich dem Produkt aus Geldmenge M und Umlaufsgeschwindigkeit V ist. 47 Bezogen auf das Ausland (mit dem Index „ a “) bedeutet dies (18) M a · V a  P a · Y a In Wachstumsraten („  “) ergibt sich (19) ˆ M a + ˆ V a  π a + ˆ Y a Das um die Veränderung der Umlaufsgeschwindigkeit korrigierte Geldmengenwachstum muss also dem Wachstum des nominalen BIP (stellvertretend für den Wert der Güterproduktion) entsprechen. Wechselkursziele können dann so interpretiert werden, dass über den internationalen Preiszusammenhang die ausländische Quantitätsglei- 47 Y steht stellvertretend für das gesamtwirtschaftliche Transaktionsvolumen. <?page no="132"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 133 chung „importiert“ wird. Es gilt nämlich unter Berücksichtigung von (17) und (19) für die allgemeine Preisentwicklung in inländischer Währung (angenähert) (20) π = ˆ M a + ˆ V a - ˆ Y a Ist das Wechselkursziel glaubwürdig, bietet es eine Orientierungsgröße („Anker“) für die Erwartungsbildung der Öffentlichkeit. Speziell die Inflationserwartungen dürften sich dann an der Inflationsrate des Ankerwährungslandes orientieren. Gibt es allerdings andauernde Glaubwürdigkeitsprobleme, kommt es früher oder später zu einer Abwertung. Die Konsequenz hiervon wäre zumindest eine vorübergehende Abkehr vom Wechselkurs als Zwischenziel oder eine Neufestlegung der Zielwerte. Allerdings gerät bei Wechselkurszielen die Geldpolitik leicht ins „Schlepptau“ der Fiskalpolitik. Eine expansive Fiskalpolitik führt in der Regel zu steigenden Zinsen. Um dem dadurch entstehenden Aufwertungsdruck auf die inländische Währung zu begegnen, muss die Zentralbank Devisen gegen Inlandswährung aufkaufen. Dies entspricht einer expansiv ausgerichteten Geldpolitik. Zunehmende öffentliche Haushaltsdefizite hätten also eine expansive Geldpolitik zur Folge (siehe auch Box V.3.4). Ein weiterer mit den beiden vorherigen Punkten zusammenhängender Nachteil von Wechselkurszielen ist die Gefahr spekulativer Attacken und der damit verbundene Verlust an Währungsreserven und Glaubwürdigkeit der Zentralbanken. Beispielsweise führten die im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung von der Bundesbank 1990 - 1992 vorgenommenen Zinserhöhungen in den Partnerländern des ersten Europäischen Währungssystems (EWS I), deren Währungen aneinander gebunden waren, ebenfalls zu einem Zinsanstieg. Die EWS-Partner-Zentralbanken hielten zunächst an der damals vorherrschenden DM-Orientierung fest. Auf den Finanzmärkten entstanden aber zunehmend Zweifel an der Fähigkeit, den fixen Wechselkurs zu halten, da die Gefahr bestand, mit den hohen Zinsen die Konjunktur abzuwürgen. In einer derartigen Situation sahen sich die Spekulanten einer risikolosen Einbahnspekulation gegenüber: Sie gingen davon aus, dass die entsprechenden Währungen abgewertet werden und kauften DM (gegen die abwertungsverdächtigen Währungen) bzw. gingen short in Schwachwährungen, um einen Aufwertungsgewinn (der DM) einzufahren. Dadurch entstand weiterer Druck auf die Währungen und die Währungsreserven der Schwachwährungsländer nahmen zunehmend ab. Eine Aufwertung der ausländischen Währungen ist in einer solchen Situation ausgeschlossen, sodass die Spekulation praktisch risikolos ist. Als dann die Währungen tatsächlich abwerteten und allgemein auf eine erweiterte Bandbreite von ±15 % übergegangen wurde, wurde der Spekulationsgewinn realisiert. Vor Beginn der Währungsunion dienten in Europa vor allem die DM, der Französische Franc (für die 14 afrikanischen Staaten, die den CFA-Franc 48 verwenden) und 48 Franc de la Communauté Financière de l’Afrique. Der CFA-Franc wurde 1948 eingeführt. Bis Ende 1998 stand er in einer fixen Wechselkursbeziehung zum Französischen Franc (FF). Ab 1999 trat der € an die Stelle des FF. Der CFA-Franc wird von der westafrikanischen Zentralbank (für Benin, Burkina-Faso, die Elfenbeinküste, Guinea-Bissau, Mali, Niger, Senegal und Toga) und der Bank von Zentralafrika (für Äquatorialguinea, Gabun, Kamerun, Kongo, den OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="133"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 134 der US-Dollar als derartige Ankerwährungen. Die Anbindung kann entweder freiwillig in Form einer Selbstbindung (wie z. B. im EWS II die Bindung an den €) oder durch vertragliche Vereinbarungen (wie z. B. im Rahmen des EWS I) geschehen. Das sogenannte EWS II (oder Wechselkursmechanismus II) existiert seit Beginn der 3. Stufe der EWWU 1999 (siehe Box III.2.3). Es verbindet auf freiwilliger Basis den € mit den Währungen der nicht partizipierenden EU-Länder („pre-ins“). Dabei fungiert der Wechselkurs zum € als Leitlinie und damit faktisch auch als geldpolitisches Zwischenziel für diese Länder. Erstens soll damit den Finanzmärkten ein stabilitätspolitisches Signal gegeben werden. Es wird verdeutlicht, dass auch diese Länder dem im EU-Vertrag festgeschriebenen Ziel der Preisstabilität oberste Priorität einräumen. Zweitens soll damit auch die enge Kooperation mit der EZB bzw. dem Eurosystem und die Absicht des zukünftigen Beitritts zur Währungsunion signalisiert werden. Das EWS II darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, der EZB wäre ein Wechselkursziel exogen vorgegeben. Der Wechselkurs fungiert vielmehr nur für die nicht an der Währungsunion teilnehmenden EU-Länder als Zwischenziel, d. h. aktuell (Herbst 2013) potenziell für 11 EU-Länder. 49 Die teilnehmenden Notenbanken, im Speziellen auch die EZB, sind zur Einhaltung der „Regeln“ des EWS II nur verpflichtet, insoweit ihr Ziel der Preisstabilität dadurch nicht gefährdet ist. Insbesondere brauchen sie keine unfreiwilligen Interventionen vorzunehmen. Auch können sie ein Verfahren zur Überprüfung der bilateralen Leitkurse einleiten. Box III.2.3: Das EWS II (Wechselkursmechanismus II) Der Europäische Rat einigte sich auf dem Gipfeltreffen Ende 1996 in Dublin auf ein reformiertes Nachfolgesystem für das Europäische Währungssystem (EWS). Ziel dieses EWS II ist die reibungslose Vorbereitung der Aufnahme der nicht an Stufe 3 (der EWU) teilnehmenden Länder („pre-ins“) in den Euro-Raum durch Sicherung stabiler Währungsverhältnisse. Die Mitgliedschaft im EWS II ist freiwillig. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Länder, die an der Währungsunion teilnehmen wollen, zuvor dem EWS II beitreten. Nach allgemeiner Auffassung (siehe Art. 140 AEUV) ist die Teilnahme am EWS II Voraussetzung für eine Aufnahme in die Währungsunion (Deutsche Bundesbank, 1998d, 21). In diesem Sinne kann dieser Beitritt auch als Vorbedingung des Beitritts zur Währungsunion interpretiert werden, auch wenn die Konvergenzkriterien keine Beitrittskriterien sind. Tschad und die Zentralafrikanische Republik) ausgegeben. In diesen 14 CFA-Staaten dient er als gesetzliches Zahlungsmittel. Der fixe Wechselkurs kann gemeinsam von der französischen Regierung und den CFA-Staaten neu festgesetzt werden. Das französische Finanzministerium garantiert den Umtausch des CFA-Franc in € zum fixen Wechselkurs. Negative geldpolitische Konsequenzen für den Euroraum werden in diesen Vorschriften nicht gesehen. Allein Frankreich ist für die Sicherung der Wechselkursbeziehung zuständig. Die EZB geht keine Verpflichtungen ein, die Währungsbindung des CFA-Franc an den Euro zu garantieren. 49 Zurzeit (2013) nehmen Dänemark (mit einer Schwankungsbreite von ±2,25 %), Lettland und Litauen (jeweils mit einer Schwankungsbreite von ±15 %) am EWS II teil. Ab Januar 2014 wird Lettland als 15. Land den Euro einführen. <?page no="134"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 135 Dieses Wechselkursarrangement soll einen Anreiz für die „pre-ins“ schaffen, ihre Wirtschafts- und Währungspolitik am stabilitätsorientierten Euro-Raum auszurichten. Die auf diese Weise geförderte Konvergenz der wirtschaftlichen Rahmendaten in der gesamten EU ist Voraussetzung für dauerhaft stabile Wechselkursbeziehungen zwischen dem € und den restlichen EU-Währungen. Darüber hinaus soll es einen wesentlichen Beitrag zur Eingliederung der noch „außen vor stehenden“ Länder leisten. Das EWS II ist um den € konzipiert (sog. „Nabe-und-Speichen-Modell“). Er ist sowohl Bezugsgröße als auch Recheneinheit des Mechanismus. Die Währungen sind auf bilateraler Basis mit dem € verbunden. Die Leitkurse werden durch ein Abkommen zwischen den Wirtschafts- und Finanzministern der am EWS II teilnehmenden Länder, der EZB und den Notenbanken der teilnehmenden „pre-ins“ festgelegt. Im Vorfeld wird auch die EU-Kommission gehört. Um die festgelegten bilateralen Leitkurse können die Wechselkurse in einem Band von generell ±15 % schwanken. Aufgrund des unterschiedlichen Konvergenzfortschrittes der am EWS II potenziell teilnehmenden Länder und der Abwehr spekulativer Attacken boten sich diese weiten Bandbreiten an. Es besteht allerdings die Möglichkeit der Vereinbarung einer weitergehenden wechselkurspolitischen Zusammenarbeit mit der EZB, einschließlich engerer Bandbreiten. Davon hat z. B. Dänemark Gebrauch gemacht. Die Bandbreiten betragen hier ±2,25 %. Der Erweiterte Rat der EZB ist für das tägliche Management des Systems zuständig. Bei Erreichen der oberen und unteren Interventionspunkte sind automatisch Devisenmarktinterventionen in unbegrenzter Höhe zur Aufrechterhaltung der bilateralen Paritäten vorgesehen. Sie gelten als „Ultima Ratio“ und sollen erst dann ergriffen werden, wenn nationale wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Förderung der Konvergenz nicht mehr ausreichen. Koordinierte intramarginale Interventionen vor Erreichen der „Grenzen“ des Systems sind ebenfalls möglich. Im Gegensatz zum EWS I haben jedoch sowohl die EZB als auch die am Wechselkursmechanismus beteiligten Zentralbanken das Recht, Interventionen und Interventionsfinanzierungen zu verweigern, wenn diese die Einhaltung des Ziels der Preisstabilität gefährden. Zudem wird den beteiligten Währungsbehörden das Recht zugestanden, ein vertrauliches Verfahren zur Überprüfung der Leitkurse einzuleiten. Leitkursanpassungen, sog. Realignments, sind also nicht ausgeschlossen, sondern Systembestandteil. Die Hauptanpassungslast bei Spannungen liegt somit eindeutig bei den Schwachwährungsländern. Insofern ist das EWS II von seiner Struktur her asymmetrisch konzipiert. Für die osteuropäischen Länder, die nicht der EU angehören, bietet sich ebenfalls eine Orientierung am € an (z. B. Mazedonien, Serbien). Aktuell ist der € die wichtigste externe Orientierungsgröße für diese Staaten (siehe auch Tabelle III.2.1). Darüber kann die Übereinstimmung mit der Stabilitätsauffassung des ESZB verdeutlicht werden. 50 Die Wahl des Wechselkurses als dominanter Indikator oder Zwischenziel ist somit differenziert zu beurteilen. Innerhalb des EWS II ist der Wechselkurs zum € zwangsläufig für mindestens zwei Jahre das Zwischenziel. Auch für potenzielle EU-Beitrittskandidaten ist eine Orientierung am € empfehlenswert. Sie würde auf alle Fälle einen 50 In Deutsche Bundesbank (2012b) wird die Gesamtheit der Länder analysiert, die den Euro als gesetzliches Zahlungsmittel verwenden oder ihre Währung an den Euro gebunden haben. 2011 handelte es sich um 59 Staaten, auf die knapp 20 % der weltweiten Wertschöpfung entfielen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="135"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 136 Glaubwürdigkeitsgewinn bedeuten und wäre ein eindeutiges stabilitätspolitisches Signal an die Märkte. Die Gefahr spekulativer Attacken ist allerdings prinzipiell vorhanden. Im EWS II relativiert sich diese jedoch, da die generelle Schwankungsbreite auf ±15 % festgelegt ist. Eine Wechselkursorientierung führt jedoch nicht zwangsläufig zu positiven Ergebnissen. So müssen die ökonomischen Gegebenheiten im Inland auch zu dem festgelegten Wechselkurs passen. Und auf alle Fälle muss Preisstabilität oberstes Ziel der Geldpolitik sein, der Notenbank Unabhängigkeit gewährt werden und eine monetäre Finanzierung von staatlichen Defiziten ausgeschlossen sein. Tabelle III.2.1: Euro-Anbindungen europäischer Länder ( Stand: Juni 2013 ) Dänemark a) Rumänien d) Litauen a),b) Kroatien Lettland a),c) Bosnien Herzegowina b) Tschechien d) Kosovo f) Ungarn e) Mazedonien Bulgarien b) Montenegro f) Quelle: EZB, nationale Notenbanken, eigene Ergänzungen. Anmerkungen: a) EWS II. b) Currency Board. c) unilaterales Wechselkursband von ± 1 % zum €. d) Managed Floating mit € als Referenzwährung. e) Wechselkurszielzone zum € mit maximaler Schwankungsbreite von ± 15 %. f ) unilaterale Euroisierung. Kleinere EU-Länder haben mit einem Wechselkurs (zur DM bzw. zum €) als Zwischenziel in der Vergangenheit durchaus positive Erfahrungen gemacht (z. B. Niederlande, Österreich, Belgien und Estland vor dem Beitritt zur Währungsunion, aber auch Dänemark, Lettland und Litauen). Für das Euro-Gebiet insgesamt dagegen ist eine derartige Konzeption abzulehnen. Im Euro-Raum werden ca. 14 % des weltweiten BIP erwirtschaftet. Der Offenheitsgrad des Euro-Raumes (gemessen als Anteil der Exporte von Gütern und Dienstleistungen am BIP des Euro-Raums) beträgt etwa 27 %. 51 Und der Außenhandel wird nicht von einer ausländischen Währung extrem dominiert. Dementsprechend wäre überhaupt nach der Währung zu fragen, an die man den € anbinden sollte. Der Euro-Raum ist von der Bevölkerungszahl größer als die USA (330 Mio. gegenüber 315 Mio.) und von der Wirtschaftskraft her gesehen das zweitgrößte Währungsgebiet nach den USA. Der Wechselkurs dürfte deshalb für die Wirtschaftsentwicklung im Euro-Währungsgebiet nur eine untergeordnete Rolle spielen. Entscheidend für die Preisentwicklung sind vielmehr vorwiegend die binnenwirtschaftlichen Gegebenheiten. Der € etablierte sich im Zeitablauf zudem weltweit als eigenständige Anlage-, Transaktions- und Reservewährung (siehe Box III.2.4). Auch 51 Damit ist Euroland allerdings „offener“ als die USA und Japan. Dort betragen die entsprechenden Zahlen 14 % bzw. 15 % (Stand 2012). <?page no="136"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 137 hat sich ein großer Euro-Finanzmarkt mit umfangreichen Kapitalbewegungen und -beständen entwickelt. Ein beträchtlicher Anteil der Euro-Finanztitel befindet sich dabei in Händen institutioneller Investoren in den USA und Asien. Angesichts dieser Fakten würde eine Anbindung des € an eine Währung, z. B. den US-Dollar, eine potenzielle Gefahr für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik bedeuten. So sind umfangreiche internationale Umschichtungen auf den Finanzmärkten mit entsprechenden Konsequenzen für Wechselkurse und unter Umständen dann auch Devisenmarktinterventionen nicht auszuschließen. Letztlich spricht also auch das primäre Ziel des Eurosystems, die Gewährleistung von Preisstabilität, gegen ein Wechselkursziel. 52 Auch ergäbe sich das Problem, wie man denn die Zielwerte überhaupt festlegen wollte. Sowohl die Berechnung von Kaufkraftparitäten als auch sonstiger Fundamentalfaktoren des Euro- Raumes sind äußerst schwierig und unsicher. Box III.2.4: Der € als internationale Anlage-, Transaktions- und Reservewährung Die Einführung des € stellte die weitest gehende Veränderung des Weltwährungsgefüges der letzten Jahrzehnte dar. Die Rolle, die der € in diesem Gefüge, vor allem im Verhältnis zum US-Dollar und japanischen Yen, spielen kann, hängt eng damit zusammen, inwieweit er die Geldfunktionen übernehmen kann. Dabei geht es im Speziellen um die Transaktions-, Wertauf bewahrungs- und Recheneinheitsfunktion. Während für Private die Verwendung des € als Anlage- / Emissionswährung, als Fakturierungs- / Vehikelwährung und als Medium für Preis- und Kursangaben im Vordergrund steht, ist für die Notenbanken der € als Reserve-, als Interventions- und als Ankerwährung für Währungsarrangements von Interesse, wobei diese Funktionen in den meisten Fällen eng verknüpft sind. Laut Angaben des Internationalen Währungsfonds wurden Ende 2011 die weltweiten Währungsreserven von Zentralbanken zu knapp über 60 % in US-Dollar gehalten. Die Währungsreserven in Euro betragen rund 25 %. Dabei nahm der € von 1999 bis 2012 um rund 5 Prozentpunkte zu, während der US-Dollar im gleichen Zeitraum ungefähr 5 Prozentpunkte verlor. Allerdings dürfte sich die Rolle des € als Reservewährung in Zukunft nur langsam verändern, da Zentralbanken in der Regel nicht abrupt die Zusammensetzung ihrer Devisenreserven variieren. Auch als internationale Anlagewährung dominiert der US-Dollar. In der Statistik ist hier die sogenannte „enge“ Definition gebräuchlich, nach der eine Emission als international bezeichnet wird, wenn der Emittent das Wertpapier nicht in seiner Heimatwährung nominiert (EZB, 2012g, 14 ff.). So gerechnet beträgt das gesamte internationale, in € nominierte Angebot an Schuldverschreibungen 25,5 % des Weltvolumens, für den Dollar beträgt dieser Wert 50,9 % (Stand: Juli 2012). Anfang 1999 betrugen die Werte für den € noch gut 20 %, für den Dollar rund 45 %. 52 Aus diesen Gründen scheidet auch eine Orientierung an einem sog. „Monetary Conditions Index“, in welchen neben einem Wechselkurs noch (kurzfristige) Zinsen eingehen, aus (Deutsche Bundesbank, 1999a, 61). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="137"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 138 Die internationale Rolle des € wird auch davon bestimmt, inwieweit er sich zu einer Transaktions- und Vehikelwährung im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr außerhalb des Euro-Währungsgebietes entwickelt. Obwohl der € als Fakturierungswährung für Euroland-Exporte und -Importe zunehmen konnte - derzeit werden rund 67 % der Euroland-Exporte und 50 % der Euroland-Importe in Euro fakturiert - ist die derzeit wichtigste Währung in dieser Beziehung wiederum der US-Dollar. Der Gesamtwert des in Dollar abgewickelten internationalen Handels beträgt etwa das Vierfache der Exporte der USA. Diese Stellung als Vehikelwährung wird der US-Dollar auch nicht von heute auf morgen verlieren. Box erstellt von Jörg Clostermann (Technische Hochschule Ingolstadt). 2.3.2 Zinsen als geldpolitische Orientierungsgrößen Mit Hilfe ihrer Instrumente übt die Geldpolitik unter anderem Wirkungen über veränderte Zinsen aus und beeinflusst damit das gesamtwirtschaftliche Umfeld. Dementsprechend könnten auch Zinsgrößen als geldpolitische Indikatoren oder Zwischenziele dienen. Dies wurde in der einschlägigen Literatur immer wieder diskutiert. Dabei gilt es, zwei grundlegende Alternativen zu unterscheiden: Orientierung an Zinsniveaus (Nominal- ◼ und Realzinsen am Geld- und Kapitalmarkt) oder Orientierung an ◼ Zinsdifferenzen oder der Zinsstruktur Zinsvariablen haben den Vorteil, dass sie täglich auf den Finanzmärkten verfügbar sind und keinen statistischen Revisionen unterliegen. 2.3.2.1 Zinsniveaus Unter dem Aspekt der Kontrollierbarkeit bieten sich nominelle Geldmarktzinsen (z. B. der Dreimonatssatz) sogar als Zwischenziel an. Mit ihrer Monopolstellung auf dem Markt für Zentralbankgeld strebt die EZB als operatives Ziel ein bestimmtes Niveau des Tagesgeldsatzes an (siehe Kap. III.4.2). Über Arbitragebeziehungen ergeben sich dann auch recht direkte Effekte auf die längerfristigen Geldmarktzinsen. Diese enge Verbindung der Geldmarktzinsen mit Aktionen der Zentralbank lässt diese jedoch gleichzeitig als Frühindikator ausscheiden. Sie sind dadurch zwar sehr gut kontrollierbar, können aber für die Zentralbank keine verlässlichen Hinweise mehr über die angemessene geldpolitische Ausrichtung geben. In vielen Ländern (z. B. in Deutschland) weisen die Kurzfristzinsen zudem nur einen losen Zusammenhang zur gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und zur Preisentwicklung auf. Insgesamt sind Geldmarktzinsen daher eher als Indikator der Reaktionen der Zentralbank auf bestimmte Variablen, z. B. der inflationären Entwicklung (siehe die Ausführungen zur Taylor-Regel in Kapitel III.4.3), oder als operatives Ziel der Geldpolitik geeignet. Kapitalmarktzinsen (Renditen langfristiger Wertpapiere) weisen eine enge Korrelation mit der Inflation auf (siehe Abb. III.2.2 für den Fall Deutschlands). Sie setzen sich zu- <?page no="138"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 139 sammen aus dem Realzins, Inflationserwartungen und unter Umständen Risikoprämien für das Inflationsrisiko und für politische sowie Konkursrisiken. Im Realzins spiegelt sich die Grenzleistungsfähigkeit bzw. Grenzproduktivität des Kapitals wider. 53 Variationen der Kapitalmarktzinsen können folglich auch auf veränderte konjunkturelle Aussichten und damit Gewinnerwartungen von Unternehmen zurückzuführen sein. Dies sollte jedoch nicht als Anzeichen einer veränderten Geldpolitik gewertet werden. Auch ist daraus nicht der Schluss zu ziehen, dass eine geldpolitische Kursänderung erforderlich wäre. Die Inflationserwartungen hängen üblicherweise mit der vergangenen Inflationsentwicklung und damit der in der Vergangenheit praktizierten Geldpolitik zusammen. Im Falle einer Veränderung des geldpolitischen Umfeldes, wie dies durch die Einführung der einheitlichen Geldpolitik oder im Gefolge der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrisen der Fall war, ist es allerdings sinnvoll, verstärkt eine zukunftsgerichtete Erwartungsbildung („rationale Erwartungen“) an den Tag zu legen. Letztlich sind vor allem die langfristigen Inflationserwartungen primär immer geldpolitisch determiniert. Abb. III.2.2: Inflation und lang fristiger Zins in Deutschland (in %) 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 langfristiger Zins Inflation −2 0 2 4 6 8 10 12 Quelle: Deutsche Bundesbank. Anmerkungen: Inflationsrate gemessen am Verbraucherpreisindex; langfristiger Zins: Umlaufsrendite festverzinslicher Wertpapiere inländischer Emittenten. 53 Daneben spielt auch die Zeitpräferenzrate der Wirtschaftssubjekte eine wichtige Rolle. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="139"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 140 Es ist allerdings bereits theoretisch schwierig, ein geeignetes Indikatorkonzept für den Kapitalmarktzins zu entwickeln. Um dies zu veranschaulichen, gehen wir von der Fisher Relation (siehe Box III.2.5) aus, nach der sich der Nominalzins i aus dem Realzins r und der erwarteten Inflationsrate π erw zusammensetzt. (21) i = r + π erw Rein formal betrachtet könnte die Zentralbank unter Berücksichtigung ihres Inflationsziels π Ziel und des Erwartungswertes ( E ) bzgl. des Realzinses ein Zinsziel für die Periode t setzen. (22) i tZiel = E t -1 r t + π Ziel Allerdings mangelt es an einer geeigneten Bestimmungsgleichung für den erwarteten Realzins. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Realzins eine nicht beobachtbare Größe und dem entsprechend zu schätzen ist. Dies gilt umso mehr für den gleichgewichtigen Realzins, der eigentlich in (22) Verwendung finden sollte. Box III.2.5: Die Fisher-Gleichung Eine relativ einfache Herleitung der Fisher-Gleichung (21) im Haupttext beruht auf folgenden Überlegungen: Aus einer Anlage von 1 € zum Nominalzins i erhält man nach einer Periode (1 + i ) €. Der Nominalwert nimmt also um den Faktor (1 + i ) zu. Was geschieht nun mit dem Realwert der Aktiva? Bei konstantem Preisniveau nimmt dieser genau wie der Nominalwert zu. Der Nominalzins entspricht dann dem Realzins. Realistischer Weise ist aber von einer positiven Inflationsrate π und damit auch positiven Inflationserwartungen π erw auszugehen. Die Inflationsrate in Periode t ist definiert durch (B1) π t = P t +1 - P t P t Das Preisniveau in Periode t + 1 ( P t +1 ) ist dementsprechend um den Faktor (1 + π t ) höher als das Preisniveau in t ( P t ). (B2) P t +1 = (1 + π t ) · P t Der reale Wert des angelegten Geldbetrages steigt somit nicht um den Faktor (1 + i ), sondern nur um (1 + i ) / (1 + π). Dieser Faktor wird als Realzinsfaktor (1 + r ) bezeichnet (B3) (1 + r t ) = (1 + i t ) (1 + π t ) Gleichung (B3) gibt darüber Auskunft, wie viel zusätzlichen Konsum sich die Wirtschaftssubjekte in t + 1 leisten können, wenn sie in t auf eine Konsumeinheit verzichten. Als Ausdruck für den Realzins ergibt sich dann (B4) r t = i t - π t - π t · r t <?page no="140"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 141 Bei geringen Inflationsraten und Realzinsen kann der Term π t r t vernachlässigt werden. Allerdings muss anstatt mit tatsächlichen mit erwarteten Inflationsraten gerechnet werden. Dann ergibt sich die üblicherweise verwendete Form der Fisher-Gleichung (siehe Gleichung (21) im Haupttext) (B5) r t = i t - π t erw Bei Berücksichtigung von Risiko und Unsicherheit muss diese Grundgleichung um eine Inflationsrisikoprämie IR ergänzt werden (Shen, 1998), sodass gilt (B6) i t = r t + π t erw + IR t Darüber hinaus stehen die längerfristigen Zinsen nur in einem lockeren Zusammenhang zu geldpolitischen Maßnahmen. Variationen der Notenbankzinsen rufen keine einheitlichen Veränderungen der Kapitalmarktzinsen hervor. Selbst die Richtung der Änderung ist nicht immer eindeutig. Auch wenn die Inflationserwartungen langfristig hauptsächlich monetär determiniert sind, überlagern doch z. B. Schwankungen der Wirtschaftsaktivität (z. B. durch die noch fehlende Synchronisation der Konjunkturverläufe im Euro-Raum), fiskalpolitische Schocks (durch die fehlende Vergemeinschaftung und unterschiedliche Ausrichtung der Fiskalpolitik) und der internationale Zinsverbund (z. B. wegen des schärferen Wettbewerbs zwischen den Finanzmärkten durch die Währungsunion) die geldpolitischen Faktoren und konterkarieren sie nicht selten (siehe dazu auch Box IV.1.1). Dabei handelt es sich um Einflüsse, die speziell für die EWU von Bedeutung sind. So waren steigende Inflationserwartungen in der Anfangsphase der EWU und damit ein erhöhter Kapitalmarktzins nicht unbedingt ein Indiz für eine lockere Geldpolitik. Eher stand dahinter ein mit der Einführung des € verbundenes Unsicherheitsmoment und - darauf zurückführend - eine steigende Inflationsrisikoprämie. Aber auch die im Verlauf der Jahre 2004 / 05 auf damalige historische Tiefststände gefallenen langfristigen Zinsen (siehe Abb. III.2.2) konnten nicht alleine mit einer expansiven geldpolitischen Ausrichtung erklärt werden. Vielmehr dürfte sich hier der weltweite Spar-Investitions-Überschuss niedergeschlagen haben (sog. Savings- Glut-Argument). 54 Und die sich im Verlauf der Staatsschuldenkrise in Europa verstärkt auseinander entwickelnden Renditen von Staatsanleihen (siehe Abb. IV.2.1) sind ebenfalls nicht geldpolitisch verursacht. 55 Grundsätzlich können somit von Änderungen 54 Diese Hypothese wurde 2005 in mehreren Reden vom US-Notenbankchef Ben Bernanke vorgebracht. 55 Die EZB ist der Meinung, die Spreizung der Renditen wäre ein Hinweis auf eine Behinderung der geldpolitischen Transmission (EZB, 2012h). Diese Argumentation ist einerseits vor dem Hintergrund der wenig konvergenten allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und fiskalpolitischen Ausrichtung fraglich. Andererseits ist selbst die Kausalität des Zusammenhangs nicht eindeutig: So könnten sowohl unterschiedliche nationale Renditeniveaus Transmissionsprobleme erzeugen als auch die Geldpolitik zu unterschiedlichen Zinsniveaus führen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="141"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 142 der Kapitalmarktzinsen uneindeutige Signale über den geldpolitischen Kurs und für die Geldpolitik ausgehen. Von einer eindeutigen Zuordnung von Verantwortlichkeiten kann jedenfalls nicht gesprochen werden. Keines der EU-Länder hat in der Vergangenheit auch eine derartige Orientierung betrieben. In einer Währungsunion mit unterschiedlichen Ländern, einer fehlenden politischen Union und zum Teil deutlich differenzierten Langfristrenditen, dürfte dieses Konzept noch schwieriger umzusetzen sein. Die Kapitalmarktzinsen können jedoch als Indiz für die Glaubwürdigkeit und Reputation der Geldpolitik dienen, wenn sie relativ wenig schwanken. Dann ist nämlich davon auszugehen, dass die Inflationsunsicherheit und damit die Inflationsrisikoprämie, die maßgeblich vom Kurs der Geldpolitik bestimmt werden, relativ niedrig sind. Von einigen Seiten wird vorgeschlagen, Zentralbanken sollten die (kurzfristigen) Realzinsen verstärkt in ihr Kalkül miteinbeziehen. Darauf verwies z. B. der ehemalige Fed-Gouverneur Alan Greenspan in einer Rede vor dem US-Repräsentantenhaus im Jahre 1993: „One important guidepost is real interest rates, which have a key bearing on longer-run spending decisions and inflation prospects. In assessing real rates, the central issue is their relationship to an equilibrium interest rate, specifically the real rate level that, if maintained, would keep the economy at its production potential over time.“ (Greenspan, 1993). Die dahinter stehende Theorie lässt sich relativ einfach darstellen. Alan Greenspan verwies in seiner Aussage auf einen Vergleich des gleichgewichtigen (oder natürlichen) Realzinses mit dem aktuell vorherrschenden Realzins. Unter dem gleichgewichtigen Realzins versteht man dasjenige Niveau, bei dem die Volkswirtschaft voll ausgelastet ist und das Inflationsziel eingehalten wird. 56 Über dieses Niveau hinausgehende Realzinsen sind verbunden mit einer schwachen Konjunktur und Disinflation (oder sogar Deflation). Niedrigere Realzinsen dagegen signalisieren zukünftige Inflationsprobleme und konjunkturelle Überhitzungserscheinungen. Optimaler Weise sollte der kurzfristige Realzins durch geldpolitische Maßnahmen auf seinem gleichgewichtigen Wert gehalten werden. Bezogen auf eine Zentralbank mit dem Endziel „Preisstabilität“ bedeutet dies: Entspricht die Inflationsprognose dem Inflationsziel, sollte (bei Vollauslastung) der kurzfristige Realzins auf seinem gegenwärtigen und zugleich gleichgewichtigen Niveau gehalten werden. Liegt die prognostizierte Inflationsrate dagegen über dem Zielwert, muss der kurzfristige Realzins über einen restriktiveren Kurs der Geldpolitik angehoben werden und umgekehrt. Das entscheidende Problem dieses Ansatzes ist wiederum die empirische Ermittlung des gleichgewichtigen realen Zinssatzes. 57 Auch ist anzuzweifeln, dass eine Zentralbank den Realzins dauerhaft beeinflussen kann. Dieser hängt hauptsächlich von realwirt- 56 Dieses Konzept ist eng verwandt mit dem „natürlichen Zins“ von Wicksell, siehe Wicksell (1898); für die EWU siehe dazu EZB (2004b). 57 Siehe z. B. Benati und Vitale (2007), die speziell auf die hohe Volatilität der Schätzungen für das Euro-Währungsgebiet verweisen. Giammarioli und Valla (2003) analysieren die Differenz zwischen gleichgewichtigem und tatsächlichem Realzins. Sie arbeiten heraus, dass diese in der EWU einen gewissen Informationsgehalt für die zukünftige Preisentwicklung besitzt. <?page no="142"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 143 schaftlichen Faktoren, wie z. B. der Produktivitätsentwicklung oder den Präferenzen für Gegenwarts- und Zukunftskonsum ab. Die Geldpolitik spielt dafür nur eine untergeordnete Rolle. Zu fragen wäre auch nach der Relevanz des kurzfristigen Realzinses für die konjunkturelle Situation und die Preisentwicklung. In einer Vielzahl von EWU- Ländern spielt z. B. der langfristige Zins eine wichtigere Rolle im Transmissionsprozess, da die Wirtschaft vor allem auf langfristige Finanzierungen und Anlageformen zurückgreift. Die Unbestimmtheiten des Ansatzes können bei der praktischen Implementierung der Geldpolitik Probleme schaffen. Er sorgt weder für eine eindeutige Abgrenzung von Verantwortlichkeiten noch für Transparenz der Geldpolitik. Bei einer Zinsorientierung ergibt sich auch ein mehr grundsätzliches Problem. So wirkt zwar eine expansive Geldpolitik über den Liquiditätseffekt („Liquidity effect“) zunächst zinssenkend und damit auch tendenziell konjunkturstimulierend. Im Zeitablauf kommen dazu aber noch potenziell Einkommens-, Preisniveau- und Inflationseffekte. Die kurzfristig sich einstellende Zinssenkung kann dadurch im Zeitablauf überkompensiert werden. Wie schnell diese konterkarierenden Effekte ablaufen, hängt vor allem von der Anpassungsgeschwindigkeit der Inflationserwartungen ab. 2.3.2.2 Zinsstruktur In der Realität gibt es nicht nur einen Zins, sondern eine Vielzahl von Zinssätzen. Aufgrund der interpretativen Mehrdeutigkeit von nominalen und realen Zinsänderungen wurde deshalb auf die Zinsstruktur als mögliche geldpolitische Orientierungsgröße verwiesen. Dabei geht es konkret um die Fristigkeitsstruktur („term structure“) der (nominalen) Zinssätze bzw. Renditen. Das heißt, es geht um Zinssätze von (vergleichbaren) Anlageformen, die sich nur in der Restlaufzeit unterscheiden. Aus Vereinfachungsgründen beschränkt man sich häufig auf die Differenz zwischen einem langfristigen (z. B. dem Zins 10-jähriger Staatsanleihen) und einem kurzfristigen Zins (z. B. dem 3-Monatszins), der sog. Zinsdifferenz oder dem Zinsspread. Man spricht von einer normalen Zinsstruktur, wenn die langfristigen Zinsen über den kurzfristigen liegen. Im umgekehrten Fall liegt eine inverse Zinsstruktur vor. Anhand Abb. III.2.3 ist erkenntlich, dass inverse Zinsstrukturen eher der Ausnahmefall sind und in der Regel mit hohen kurzfristigen Zinsniveaus einhergehen. Die theoretischen Zusammenhänge zwischen Geldpolitik und Zinsstruktur auf der einen Seite und Zinsstruktur und realer Aktivität sowie Preisentwicklung auf der anderen Seite werden in der Literatur kontrovers diskutiert. Vor allem besteht Uneinigkeit darüber, welche über Zinsniveaus hinausgehende Informationen die Zinsstruktur liefern sollte. In der Regel wird von folgenden Zusammenhängen ausgegangen: Eine glaubhaft durchgeführte restriktive Geldpolitik führt zu einer Erhöhung der Geldmarkzinsen und über eine Senkung der Inflationserwartungen (und unter Umständen einer konjunkturellen Abkühlung) zu sinkenden Kapitalmarktzinsen. Der „Spread“ zwischen lang- und kurzfristigen Zinsen wird also geringer. Unter Umständen kommt es sogar zu einer Inversion der Zinsstruktur. Die glaubhafte Ankündigung einer derartigen Politik würde ebenfalls zu diesem Ergebnis führen - allerdings nur über den Erwartungseffekt auf die langfristigen Zinsen. Anhand der Fisher-Gleichung kann dann ein Zusammenhang mit der inflationären Entwicklung hergestellt werden. Nach dieser OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="143"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 144 Beziehung (siehe Box III.2.5) gilt (angenähert), dass sich der Nominalzins i für ein Wertpapier (ohne Inflations-, Konkurs- und politische Risiken) mit einer bestimmten Laufzeit in den Realzins r und die Inflationserwartungen π erw aufspalten lässt. (23) i = r + π erw bzw. π erw = i - r Bei rationalen Erwartungen unterscheidet sich die tatsächliche zukünftige von der erwarteten Inflation nur durch einen nicht prognostizierbaren Zufallsfehler  . Es werden folglich keine systematischen Erwartungsfehler begangen. Zum Prognosezeitpunkt werden alle relevanten verfügbaren Informationen ausgewertet, um eine „optimale“ Prognose zu bilden. Erwartungsfehler resultieren aber z. B. durch nach dem Entscheidungszeitpunkt neu auftretende Informationen („News“). Somit gilt (24) π = π erw +  Setzt man (23) in (24) ein, kann die Inflationsrate für einen beliebigen Zeitraum bestimmt werden. Für zwei unterschiedliche Zeiträume (Laufzeiten) m und n ( m > n ) ergibt sich dann als Differenz Abb. III.2.3: Zinsspread und Zinsniveau in Deutschland und der EWU -4 -2 0 2 4 6 8 10 12 14 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 Zinsspread kurzfristiger Zins Quelle: Deutsche Bundesbank, EZB. Anmerkungen: Zinsspread: langfristiger minus kurzfristiger Zins; langfristiger Zins: Rendite 10-jähriger Staatsanleihen; kurzfristiger Zins: 3-Monats-Geldmarktsatz. Bis Ende 1998 Deutschland, ab 1999 EWU. Dabei gehen nur Anleihen mit AAA-Rating von Zentralstaaten der EWU ein. <?page no="144"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 145 (25) π t m - π t n = - ( r tm - r tn ) + ( i tm - i tn ) + (  tm -  tn ) Gleichung (25) liefert einen Ausdruck für die Veränderung der tatsächlichen Inflationsrate zwischen den Zeiträumen m und n . Wenn m = 2 Jahre und n = 1 Jahr, besagt (25), dass die nominale Zinsdifferenz zwischen einem zweijährigen und einem einjährigen Papier ( i 2 - i 1 ) (bei konstanten Realzinsen) die Veränderung der Inflationsrate im nächsten Jahr (π 2 - π 1 ) prognostiziert. Ein zunehmender Spread würde dabei steigende Preistendenzen signalisieren. Die Genauigkeit dieser Prognose hängt allerdings von den Schwankungen der Realzinsen, die sich in ( r 2 - r 1 ) widerspiegeln, und von der Art der Prognosefehler ab, die sich in den  ’s niederschlagen. Da diese in der Realität nicht unbedeutend sind, ist es nicht verwunderlich, dass die Indikatorqualität der Zinsstruktur für die Preisentwicklung recht unsicher und schwach ausgeprägt ist. 58 Vor allem bei kürzeren Zeithorizonten wird die Varianz der Inflation(serwartungen) von Schwankungen der realen Zinsstruktur dominiert (Berk / Bergeijk, 2001). Die Nominalzinsen von Papieren verschieden langer Fristigkeiten unterscheiden sich nach der Erwartungstheorie der Zinsstruktur (siehe Box III.2.6) hauptsächlich durch unterschiedliche Erwartungen über den weiteren Zinsfortgang am kurzen Ende. Dies ist leicht anhand Gleichung (B3) der Box nachzuvollziehen, wenn für i lfr unterschiedliche Laufzeiten eingesetzt werden. Folglich könnte eine erfolgreiche Implementierung der Zinsstruktur als Indikator, unter Umständen sogar die Vorgabe eines konkreten Wertes für ein Zinsstrukturziel, möglicherweise zur Stabilisierung dieser Zinserwartungen beitragen. Und dadurch könnte man über die Fisher-Beziehung auch eine Stabilisierung der Inflationserwartungen erreichen. Box III.2.6: Die Erwartungstheorie der Zinsstruktur Die Erwartungstheorie der Zinsstruktur beruht auf Arbitrageüberlegungen. Die dahinter stehende Idee ist, dass eine Geldanlage für einen bestimmten Zeitraum den gleichen Ertrag erbringen muss, unabhängig davon, ob sie über mehrere kurzfristige Anlagen oder einmalig in einem längerfristigen Papier erfolgt. An einem einfachen Beispiel können diese Überlegungen dargestellt werden. Unterstellen wir als langfristige Anlage ein 3-Jahres-Papier zum Zins i lfr und vergleichen diese mit einer 3-maligen einjährigen Anlage. Zusätzlich soll Risikoneutralität herrschen. Aus dem langfristigen Engagement erzielt man den Ertrag E lfr (B1) E lfr = (1 + i lfr ) 3 58 Der Zusammenhang zur realen Entwicklung, speziell dem realen BIP, hat sich dagegen in vielen Ländern als vor allem kurzfristig relativ eng erwiesen (siehe stellvertretend für die USA Rudebusch / Williams, 2009, für die EWU Duarte et al., 2005). Brand et al. (2004) zeigen allerdings, dass in der EWU der Zusammenhang zwischen dem Zinsspread und dem BIP-Wachstum nicht robust gegenüber der Aufnahme weiterer Indikatoren, speziell eines engen Geldmengenaggregats, ist. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="145"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 146 Alternativ könnte der Geldbetrag jetzt zum einjährigen Zins i 1 , E 1 zum erwarteten Zins i 2 erw und für das 3. Jahr E 2 zum erwarteten Zins i 3 erw angelegt werden. Als (erwarteter) Ertrag E kfr dieser Anlageform resultiert (B2) E kfr = (1 + i 1 ) (1 + i 2 erw ) (1 + i 3 erw ) Wenn E kfr > E lfr lohnt sich die sukzessive kurzfristige Anlage, wodurch der kurzfristige Zins sinkt, der langfristige Zins steigt. Ist dagegen E kfr < E lfr sollte langfristig angelegt werden. In diesem Fall würden Arbitrageure kurzfristige Papiere verkaufen und langfristig anlegen, wodurch der Kurzfristzins steigt und der Langfristzins sinkt. Insgesamt kommt es somit zu einer Angleichung der Erträge durch Arbitrage, und es gilt: (B3) (1 + i lfr ) 3 = (1 + i 1 ) (1 + i 2erw ) (1 + i 3erw ) bzw. i lfr = 3 √ ---------------------- (1 + i 1 ) (1 + i 2 erw ) (1 + i 3 erw ) - 1 Der langfristige Zins entspricht also dem (um Eins verminderten) geometrischen Mittel der kurzfristigen Zinsen. Wird keine Zinsänderung erwartet, gilt also i 1 = i 2 erw = i 3 erw , entspricht der langfristige dem aktuellen kurzfristigen Zins. Wird ein Anstieg des kurzfristigen Zinses erwartet ( i 1 < i 2 erw ≤ i 3 erw ), ist der langfristige Zins größer als der kurzfristige Zins (Bei 2 Perioden mit i 1 = 4 % und i 2 erw = 6 % ergäbe sich: i lfr = (1,04 · 1,06) 1/ 2 - 1 = 0,05, d. h. i lfr > i 1 ). Im umgekehrten Fall resultiert i lfr < i 1 . Anders ausgedrückt: Eine normale Zinsstrukturkurve ( i lfr > i 1 ) deutet darauf hin, dass die Finanzmärkte steigende kurzfristige Zinsen erwarten. Eine inverse Zinsstrukturkurve ( i lfr < i 1 ) dagegen signalisiert sinkende Zinserwartungen am kurzen Ende. Zu Veränderungen des langfristigen Zinssatzes kann es also durch Veränderungen des aktuellen kurzfristigen Zinses und der Zinserwartungen kommen. Entscheidend ist dabei, ob zukünftige geldpolitische Maßnahmen, die direkt auf die kurzfristigen Zinsen wirken, korrekt antizipiert werden. Bei sowohl vom Ausmaß als auch vom Zeitpunkt überraschenden geldpolitischen Aktionen ist eine relativ starke Auswirkung auf den Langfristzins zu erwarten, da die Zinserwartungen am kurzen Ende angepasst werden müssen. Gibt man die Annahme der Risikoneutralität auf und unterstellt stattdessen Risikoaversion, ist (B3) um eine Risikoprämie  > 0 zu ergänzen, die laufzeit- und zeitabhängig sein kann. Um  wäre dann der langfristige Zins höher. Die empirische Evidenz bzgl. der Erwartungstheorie ist nicht eindeutig. Für Deutschland und die EWU erzielte man allerdings bisher eher positive Ergebnisse (Durré et al., 2003). Wenn die Erwartungstheorie nicht gelten sollte, weil die Finanzmarktteilnehmer die kurzfristigen Zinsen nicht richtig prognostizieren können und/ oder, weil die Risikoprämie zeitvariabel ist, ist es schwierig, sich vorzustellen, wie die Geldpolitik über Setzung der Kurzfristzinsen die längerfristigen Zinsen beeinflussen sollte. Eine Orientierung an der Zinsstruktur ist neben den genannten Problemen mit einigen weiteren Nachteilen verbunden. So zeigt schon die Zusammensetzung des Spreads aus dem kurzfristigen und langfristigen Zins, dass sich bei dessen Verwendung als geldpolitischer Indikator eine Zentralbank an Größen orientiert, die sie selbst bestimmt bzw. stark beeinflusst. Zudem ergibt sich erneut das Problem der Ermittlung des Realzinses. Gleichung (26) veranschaulicht diese Zusammenhänge für die Differenz zwischen <?page no="146"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 147 einem lang- ( i lfr ) und einem kurzfristigen ( i kfr ) Zins unter Berücksichtigung der Fisher- Gleichung für den langfristigen Zins. (26) i lfr - i kfr = r lfr + π lfr erw - i kfr Auch ist nicht klar, ob z. B. eine steilere Zinsstruktur einen Vertrauensverlust der Zentralbank indiziert, der sich in gestiegenen langfristigen Inflationserwartungen manifestiert oder die Markterwartung einer restriktiveren Geldpolitik, d. h. höhere kurzfristige Zinsen in der Zukunft, anzeigt. Es gibt darüber hinaus keine fundierte theoretische Begründung eines eindeutigen Geldpolitik-Zinsstruktur-Inflation-Zusammenhangs. Noch nicht einmal die Richtung der ökonomischen Kausalität ist eindeutig. Vielfach wird zudem übersehen, dass auch eine an der Zinsstruktur orientierte Geldpolitik letztlich eines nominalen Ankers bedarf, damit die Entwicklung des Preisniveaus nicht indeterminiert oder zumindest destabilisiert wird. So ist z. B. eine ansteigende Zinsstrukturkurve grundsätzlich sowohl mit Preisstabilität als auch mit zweistelligen Inflationsraten vereinbar (siehe auch Abb. III.2.3). Und eine als optimal angesehene Zinsdifferenz kann mit jeglicher Höhe der kurz- und langfristigen Zinsen in Einklang stehen. Auch ist die Tatsache, dass sich die Geldpolitik bei Orientierung an der Zinsstruktur von Markterwartungen, vor allem Zins- und Inflationserwartungen, leiten lässt, problematisch. Diese sind letztlich zu einem großen Teil Erwartungen über das Verhalten der Zentralbank selbst. Eine inverse Zinsstruktur, die sich aufgrund einer glaubhaften Restriktion der Geldpolitik einstellt, liefert aber für eine Notenbank keine darüber hinausgehenden Informationen mehr. Gerade wegen der fehlenden Bindung der Markterwartungen und der Handlungen der Notenbank scheidet die Zinsstruktur als sinnvolle Orientierungsgröße der Geldpolitik aus. Unter Berücksichtigung von Erwartungseffekten und der recht komplexen und nicht eindeutigen Zusammenhänge zwischen den Zinsvariablen und dem Endziel Preisstabilität geht die augenscheinliche Attraktivität von Zinsen als Indikatoren und Zwischenziele verloren. Auch wäre zu berücksichtigen, dass öffentlich bekannt gegebene Zinsziele unerwünschte Ankündigungseffekte auslösen können. So würde eine am Anfang des Jahres öffentlich angekündigte Zinssenkung unter Umständen zu einem Aufschub von Konsum- und Investitionsentscheidungen führen. Dies würde aber der Verstetigungsabsicht einer geldpolitischen Strategie widersprechen. Auf der anderen Seite würde ein Verzicht auf die Vorankündigung die Transparenz der Geldpolitik schwächen und den Marktteilnehmern keinen Orientierungsrahmen für ihre Erwartungen bieten. 2.3.3 Nominelle BIP-Steuerung Nachdem die Zentralbanken einiger Länder aufgrund der Entwicklung auf den Finanzmärkten (Stichworte: Finanzinnovationen, Deregulierung, Disintermediation) von traditionellen geldpolitischen Strategien Abschied nahmen, wurde vor allem von wissenschaftlicher Seite eine nominelle BIP-Steuerung als Alternative vorgeschlagen. Im Folgenden soll deshalb eine Steuerung des nominellen BIP als Zwischenzielgröße (nicht als Alternative zum Endziel) diskutiert werden. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="147"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 148 Die Idee der nominellen BIP-Steuerung kann einfach anhand der in Veränderungsraten ausgedrückten Quantitätsgleichung (27) dargestellt werden. (27) ˆ M + ˆ V  π + ˆ Y  ˆ Y n Hierbei bezeichnet ˆ Y n die Wachstumsrate des nominellen BIP. Die Konzeption setzt somit an der rechten Seite der Quantitätsgleichung an. Es handelt sich im Prinzip um eine Strategie, die zwei Endziele, die Preisentwicklung (π) und das reale Wirtschaftswachstum ( ˆ Y ), miteinander kombiniert. Dabei sind beide Ziele gleich gewichtet. Bei der Kontrolle des nominalen BIP-Wachstums orientiert sich die Zentralbank an Abweichungen zwischen diesem Wachstum und einer Zielwachstumsrate. Das nominelle Wachstumsziel besteht aus einer Inflationskomponente bzw. dem Inflationsziel π Ziel und einer realen Wachstumskomponente ˆ Y *. ˆ Y * könnte z. B. das Wachstum bei Vollauslastung der Produktionskapazitäten (Potenzialwachstum) sein. Folglich gilt für die gesamte Zielabweichung ( ˆ Y n - ˆ Y * n ) (28) ˆ Y n - ˆ Y n * = (π - π Ziel ) + ( ˆ Y - ˆ Y *) Die Zentralbank wird bei diesem Konzept somit die Zinsen verändern, wenn es zu Abweichungen vom Inflationsziel (π ≠ π Ziel ) kommt oder es Unterschiede zwischen dem tatsächlichen und dem Potenzialwachstum gibt ( ˆ Y ≠ ˆ Y *). Die Zinsreaktion kann entweder erfolgen, wenn die aktuelle Entwicklung vom Ziel abweicht („verzögerte Anpassung“) oder wenn der Prognosewert sich vom Ziel unterscheidet („vorausschauende Anpassung“). Ist eine (nominale) Wachstumsstimulierung beabsichtigt, müssen die Zinsen gesenkt werden. Dadurch wird, so die Idealvorstellung, das reale BIP-Wachstum angeregt und die Preise steigen tendenziell. Wird das Ziel eingehalten, d. h. ( ˆ Y n - ˆ Y n *) = 0, resultiert als Inflationsrate (29) π t = π Ziel + E t -1 ( ˆ Y * - ˆ Y ) t Es wird also entscheidend determiniert von der Prognose des Wachstums des Output Gaps. Diese wiederum setzt eine Einschätzung der tatsächlichen und der potenziellen BIP-Entwicklung voraus. Neben dem Vorteil der engen Verbindung mit anerkannten gesamtwirtschaftlichen Zielen, schreiben Befürworter der nominellen BIP-Steuerung dieser die Fähigkeit zur Schockabsorption zu. Stellen wir uns dafür einen exogenen Nachfragerückgang (z. B. durch verschlechtertes Investitionsklima oder sinkende Exporte) vor, der das reale und folglich auch das nominale Wirtschaftswachstum (kurzfristig) verlangsamt. 59 Eine nominelle BIP-Regel würde dann eine Lockerung der Geldpolitik erfordern, um auf den Zielpfad zurückzukehren. Über die Zinssenkung würden die aggregierte Nachfrage und das reale Wachstum ansteigen. Aber auch bei einer aggregierten Angebotsstörung zeigen sich die positiven Eigenschaften der nominellen BIP-Orientierung. Ein adverser Ange- 59 Kurzfristig sind die Güterpreise relativ starr. <?page no="148"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 149 botsschock (z. B. durch steigende Rohstoffpreise), der das reale BIP-Wachstum sinken lässt und zu steigender Inflation führt (sog. Stagflation), stellt die Geldpolitik nämlich vor ein „Dilemma“: Wird sie expansiv tätig, stabilisiert sie das reale BIP, sorgt aber für weiterhin steigende Preise. Wird sie restriktiv tätig, wird die Preisentwicklung bei einem weiteren Rückgang des realen BIP stabilisiert. Eine nominelle BIP-Orientierung löst dieses Dilemma, indem sie auf die Kombination beider Ziele ihr Augenmerk lenkt. 60 Zur Entfaltung dieser positiven Eigenschaften ist allerdings Voraussetzung, dass das Wachstum des nominellen BIP von der Zentralbank gesteuert werden kann. Aufgrund der langfristigen Geldneutralität kann davon beim realen Wirtschaftswachstum auf Dauer nicht ausgegangen werden. Wenn zudem nur ein Endziel, realistischerweise Preisstabilität, angestrebt wird, gilt auch bei vollkommener Kontrollierbarkeit des nominalen BIP-Wachstums die Vorteilhaftigkeit der nominalen BIP-Regel nicht mehr uneingeschränkt. Man kann bei angebotsseitigen Störungen nämlich nur den Preiseffekt oder den Outputeffekt kompensieren. Ein gravierender Nachteil der nominellen BIP-Orientierung ist zudem die Datenverfügbarkeit. Die Datenquelle für das reale BIP ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR), die erst mit einer Zeitverzögerung von etlichen Monaten und höchstens auf Quartalsbasis zur Verfügung steht. Zudem unterliegen die Daten der VGR häufig noch späteren und teilweise deutlichen Revisionen. Auch wäre zu fragen, ob die Verfolgung von Konjunktur- und Wachstumszielen neben dem Ziel der Inflationsbekämpfung eine Zentralbank nicht überfordert. Vielmehr lässt sich argumentieren, die Gewährleistung von Preisstabilität ist der beste Beitrag der Geldpolitik für die reale Entwicklung. Darüber hinaus ist das Konzept „Nominales BIP“ in der Öffentlichkeit wenig bekannt und könnte leicht mit der realen BIP-Entwicklung verwechselt werden. Die Transparenz der Geldpolitik und die Kommunikation mit den Märkten und der allgemeinen Öffentlichkeit wird dadurch nicht unwesentlich erschwert. Des Weiteren können die Vorteile des nominalen BIP als Zwischenziel nur ausgeschöpft werden, wenn der Transmissionsprozess vom Ergreifen einer geldpolitischen Maßnahme bis zur Beeinflussung der aggregierten Nachfrage und des nominalen Einkommens bekannt ist. Es ist nun aber gerade ein Charakteristikum dieses Übertragungsweges, dass er recht komplex, zeitlich variabel und in seinen Einzelheiten nicht bekannt ist (siehe Kap. IV). Dieses Informationsproblem tritt gerade in der Währungsunion verstärkt zu Tage. Der Transmissionsprozess läuft nämlich in den einzelnen EWU-Ländern nicht einheitlich ab. In welche Richtung dabei eine Vereinheitlichung stattfindet und wie lange diese dauern wird, ist gerade wegen der Staatsschuldenkrise nicht absehbar. Bisher ist noch keine Zentralbank explizit und offiziell auf eine derartige Politik übergegangen. Es fehlen somit praktische Erfahrungen. Allerdings könnte argumentiert werden, über die Berücksichtigung konjunktureller Entwicklungen betreiben 60 Dies erklärt auch, warum der Vorschlag einer nominellen BIP-Orientierung vor allem aus den USA kommt. Der Fed sind nämlich neben der Verfolgung von Preisstabilität auch die Förderung des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung als Ziele vorgegeben (im Einzelnen hierzu Kap. II.2.2). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="149"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 150 Zentralbanken implizit eine Orientierung am nominellen BIP. Des Weiteren würde ein nominelles BIP-Zwischenziel den Eindruck erwecken, die Zentralbank alleine wäre für die Stabilisierung des Nominaleinkommens verantwortlich. Vor dem Hintergrund weiterer Einflussfaktoren (z. B. außenwirtschaftliche Entwicklungen, fiskalpolitische Maßnahmen, Lohnpolitik) ist dies nicht unproblematisch. Letztlich könnte eine nominale BIP-Orientierung auch zu Fehlinterpretationen des vorrangigen Endziels der Preisstabilität führen. Grundsätzlich sind die geldpolitischen Maßnahmen auf dieses Ziel hin auszurichten. Über eine nominelle BIP-Steuerung würde die Zentralbank eine Konjunkturverantwortung bekommen, die nicht ihrem primären Auftrag entspricht. Wie die Diskussion von Angebotsschocks zudem gezeigt hat, kann eine Orientierung am nominellen BIP, also der Kombination aus eigentlich zwei Endzielen, zu uneindeutigen Handlungsanweisungen führen. 61 2.3.4 Geldmengenziele - das Vorbild der Deutschen Bundesbank Als letzte explizite zweistufige Strategie soll nun auf eine Politik mit vorangekündigten Geldmengenzielen eingegangen werden. Als Anschauungsbeispiel dient dabei die von der Deutschen Bundesbank praktizierte Geldmengenstrategie. 2.3.4.1 Allgemeine Beschreibung Eine Politik mit Geldmengenzielen wie sie die Deutsche Bundesbank von 1975 bis 1998 betrieben hat, bedient sich im Sinne einer zweistufigen Strategie des Indikators „Geldmenge“, mit Hilfe dessen versucht wird, das eigentliche Endziel „Preisstabilität“ zu erreichen. Bei der „Geldmenge“ handelt es sich um die Wachstumsrate eines sinnvoll abgegrenzten Geldmengenaggregates. „Sinnvoll“ bedeutet, sie sollte auf alle Fälle einen voraussehbaren engen und längerfristigen Zusammenhang zur Preisentwicklung aufweisen. Fungiert eine Geldmengengröße sogar als Zwischenziel, wie früher bei der Bundesbank, sollte sie darüber hinaus hinreichend über die Zinspolitik kontrollierbar sein. Angesichts der langen und variablen Zeitverzögerungen zwischen dem Einsatz des geldpolitischen Instrumentariums und der Wirkung auf die Preisentwicklung sowie der Unsicherheiten im Transmissionsprozess erlaubt eine derartige Orientierung prinzipiell eine frühzeitige Reaktion auf sich abzeichnende Inflationsgefahren. Die Logik von Geldmengenzielen und deren Ableitung kann wiederum anhand der Quantitätsgleichung (siehe (27)) verdeutlicht werden. Gegeben die Informationen der Zentralbank zum Ende der Periode t - 1, lautet diese Gleichung in Erwartungswerten ausgedrückt: 61 Das Konzept der nominellen BIP-Steuerung erfuhr Ende 2012 eine Renaissance, als der frühere kanadische und jetzige britische Zentralbankgouverneur Carney in einer Rede vor dem Hintergrund der aktuellen Nullzinspolitik vieler Zentralbanken und den Problemen mit Maßnahmen des Quantitative Easing ausführte (Carney, 2012): „If yet further stimulus were required, the policy framework itself would likely have to be changed. For example, adopting a nominal GDPlevel target could, in many respects, be more powerful than employing thresholds under flexible inflation targeting.“ <?page no="150"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 151 (30) E t -1 ˆ M t + E t -1 ˆ V t = E t -1 π t + E t -1 ˆ Y t Ersetzt man die erwartete Inflationsrate durch das Inflationsziel π Ziel , ergibt sich die Zielrate für die Geldmengenentwicklung ˆ M Ziel aus dem prognostizierten realen Wachstum der Volkswirtschaft E t -1 ˆ Y , dem angestrebten Inflationsziel π Ziel und der erwarteten Entwicklung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes E t -1 ˆ V . (31) ˆ M t Ziel = π Ziel + E t -1 ˆ Y t - E t -1 ˆ V t Gelingt es der Zentralbank, die Geldmenge über eine Anpassung der Notenbankzinsen so zu beeinflussen, dass das Geldmengenziel eingehalten wird, ist die Inflationsrate gegeben durch (32) π t = π Ziel - ( ˆ Y t - E t -1 ˆ Y t ) + ( ˆ V t - E t -1 ˆ V t ) In Abhängigkeit von unerwarteten konjunkturellen Entwicklungen ( ˆ Y - E t -1 ˆ Y ) und unerwarteten Bewegungen der Umlaufsgeschwindigkeit ( ˆ V - E t -1 ˆ V ) weicht die tatsächliche Inflationsrate π also von der gewünschten Rate π Ziel ab. Wird das Wirtschaftswachstum überschätzt und / oder die Umlaufsgeschwindigkeit unterschätzt, wird sich eine im Vergleich zum Inflationsziel zu hohe Inflationsrate einstellen. Solange allerdings keine anhaltenden systematischen Fehlprognosen gemacht werden, sollte sich das Inflationsziel längerfristig als Orientierungsgröße bzw. Anker für die Erwartungen etablieren. Die Fehleinschätzungen werden sich dann in Grenzen halten, wenn das Outputwachstum und die Entwicklung der Umlaufsgeschwindigkeit stabilen empirischen Zusammenhängen folgen. Dies dürfte eher über einen längerfristigen Zeitraum der Fall sein. Über längerfristige Zusammenhänge (sog. Steady-state-Zustände oder Gleichgewichtswerte) liefert aber auch die ökonomische Theorie sinnvolle Anhaltspunkte. Die Deutsche Bundesbank verwendete bei der Ableitung ihrer Geldmengenziele für π Ziel eine sog. Preisnorm bzw. mittelfristige Preisannahme π Norm von maximal 2 %. Für die reale BIP-Entwicklung setzte sie einen prognostizierten längerfristigen Wachstumstrend ˆ Y * an. Und auch für die Wachstumsrate der Umlaufsgeschwindigkeit wurde nicht die Entwicklung im nächsten Jahr herangezogen, sondern ein geschätzter Trendwert ˆ V * eingesetzt. Somit ergibt sich für das deutsche Geldmengenziel in der Vergangenheit (33) ˆ M Ziel = π Norm + ˆ Y * - ˆ V * Ausgangspunkt der Zielableitung ist zunächst das erwartete Wirtschaftswachstum. Entsprechend der mittelfristigen Ausrichtung einer Geldmengenpolitik handelt es sich dabei nicht um die Entwicklung im nächsten Jahr, sondern um einen Trendwert ( Y* ). Die Bundesbank bestimmte diesen anhand der Wachstumsrate des realen Produktionspotenzials. Darunter versteht man im Sinne eines potenziellen BIP die gesamtwirtschaftliche Produktion, die sich unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts mit den jeweils verfügbaren Produktionsfaktoren Arbeit und Sachkapital bei OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="151"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 152 normaler Auslastung erstellen lässt. Eine Expansion der Geldmenge im Ausmaß des Wachstums des Produktionspotenzials (oder einer anderen Trendgröße) ist notwendig, um einen ausreichenden Finanzierungsspielraum für das zur Ausschöpfung der Angebotsmöglichkeiten benötigte Ausgabenwachstum zu sichern. Dadurch ist auch eine implizite antizyklische Komponente enthalten. Bei unterausgelasteten Kapazitäten fällt das Geldmengenziel nämlich durch die Potenzialorientierung stärker aus als bei einer Orientierung am tatsächlichen BIP. Umgekehrt wird in Jahren, in denen eine konjunkturelle Überhitzung droht, weil das Wirtschaftswachstum die Ausweitung des Produktionspotenzials übersteigt, die Expansion der Geldmenge geringer ausfallen. Dies trägt in der Tendenz zu einer Verstetigung des Wirtschaftsablaufs bei. Als nächstes ist es nötig, das reale Wachstum über eine Preisvariable in eine nominale Größe zu transformieren. Auch hier darf nicht die aktuelle Preisentwicklung herangezogen werden, sondern es muss um eine Orientierung an den längerfristigen Stabilitätsvorstellungen gehen. Die Bundesbank setzte sich eine Preisnorm von etwa 2 %, die als maximal zu tolerierende Inflationsrate aufzufassen war. Als letzte grundlegende Determinante des Geldmengenziels ist der Trend in der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes zu berücksichtigen. Diese definierte die Bundesbank als das Verhältnis von nominalem Produktionspotenzial zu der entsprechenden Geldmengengröße. Bei einem anhaltenden trendmäßigen Rückgang der Umlaufsgeschwindigkeit, wie er in Deutschland auszumachen war (siehe Abb. III.2.4), steigt die Geldhaltung im Verhältnis zum BIP. Deshalb muss das Geldmengenwachstum entsprechend kräftiger ausfallen als das Potenzialwachstum, wenn ein deflatorischer Druck vermieden werden soll. Umgekehrt entstünde allerdings ein inflatorischer Geldüberhang, wenn die Zentralbank aufgrund eines nur vorübergehenden Rückgangs der Umlaufsgeschwindigkeit eine höhere Wachstumsrate der Geldmenge anstreben würde. Gründe für den fallenden Trend im Zeitablauf können in der Rolle des Geldes als Transaktionsmittel (Erhöhung des Verhältnisses von Transaktionsvolumen zu Bruttoinlandsprodukt) und als Wertaufbewahrungsmittel (Senkung der Relation von Einkommen zu Vermögen) liegen. Entwickelt sich die Volkswirtschaft tatsächlich nach den bei der Ableitung des Geldmengenziels zugrunde gelegten Determinanten, wird von der monetären Seite der Finanzierungsspielraum zur Verfügung gestellt, der für ein stetiges und inflationsfreies Wirtschaftswachstum benötigt wird. Abweichungen vom Geldmengenziel zeigen sich zunächst in der Geldhaltung und führen erst mit einiger Verzögerung zu einer veränderten Güternachfrage und veränderten Preisen. Dadurch wirkt eine Geldmengenpolitik zwangsläufig vorausschauend, da sie aktiv wird, bevor sich inflationäre Prozesse auszubreiten beginnen. Der theoretische und empirische Zusammenhang zur Inflationsentwicklung ergibt sich aus dem sog. P-Stern-(„P-Star“-)Konzept (siehe Box III.2.7). Daran wird nochmals deutlich, dass Geldmengenziele nur Mittel zum Zweck der Inflationsbekämpfung bzw. der Erreichung von Preisstabilität sind. Sie haben keinen Selbstzweck, sondern stellen ein über Liquiditäts- und Output-Lücke hinausgehendes zusätzliches Informationsmedium zur Beurteilung der Preisentwicklung zur Verfügung (siehe (B5) in Box III.2.7). Wenn die tatsächliche Geldmengenentwicklung dem Geldmengenziel entspricht <?page no="152"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 153 ( ˆ M Ziel = ˆ M ), zeigt der P-Stern-Ansatz auch, dass dann die gleichgewichtige Inflationsrate π * dem Inflationsziel π Ziel entspricht (π * = π Ziel ). Nach der Quantitätsgleichung und der Definition von P-Stern gilt nämlich (siehe auch (B1) und (B4) in Box III.2.7) (34) π* = ˆ M + ˆ V * - ˆ Y * Da sich bei Stabilität die tatsächliche Preisentwicklung im Zeitablauf an die gleichgewichtige anpasst, gilt langfristig auch π = π Ziel . Box III.2.7: Das P-Stern-Konzept Ende der 80er Jahre wurde von Mitarbeitern des Federal Reserve Board der Indikator P-Stern („P-Star“, P *) entwickelt, der zur theoretischen und empirischen Fundierung des Geldmengen-Preis-Zusammenhangs beitragen sollte. Der Grundgedanke des Ansatzes ist denkbar einfach: Eine Ausweitung der Geldmenge führt langfristig dann zu höheren Preisen, sofern sie nicht durch eine zunehmende Güterproduktion oder eine höhere Geldhaltung (geringere Umlaufsgeschwindigkeit) absorbiert wird. Ausgehend von der Quantitätsgleichung wird dasjenige Preisniveau als gleichgewichtig ( = P *) bezeichnet, das sich bei einem gegebenen Geldmengenbestand M und normal ausgelasteten Kapazitäten Y * sowie einer gleichgewichtigen Umlaufsgeschwindigkeit V * einstellen würde (dabei bezeichnen Kleinbuchstaben logarithmierte Größen): (B1) P * = M · V * Y * bzw. p * = m + v * - y * Für das tatsächliche Preisniveau P ( p ) dagegen gilt (B2) P = M · V Y bzw. p = m + v - y Der Unterschied zwischen den tatsächlichen und den gleichgewichtigen Preisen, die sog. Preislücke (in logarithmischer Form) ist also gegeben durch (B3) ( p - p *) = ( v - v *) + ( y * - y ) Die Preislücke ( p - p *) setzt sich zusammen aus der Liquiditätslücke ( v - v *) und der Kapazitätsauslastung bzw. dem Output Gap ( y * - y ). Wenn nun stabile Zusammenhänge in dem Sinne vorherrschen, dass die tatsächliche Preisentwicklung im Zeitablauf gegen die gleichgewichtige konvergiert, kann diese Preislücke als Inflationsindikator verwendet werden. Nach (B3) ist dann bei einer positiven Preislücke mit zukünftig niedrigeren Inflationsraten zu rechnen. Dies ist der Fall bei unterausgelasteten Produktionskapazitäten ( y * > y ) und / oder bei höherer Umlaufsgeschwindigkeit (niedrigerer Geldhaltung) als im langfristigen Gleichgewicht ( v > v *). Die Preislücke erfasst damit das Inflationspotenzial bereits realisierter Güternachfrage (Nachfrageüberhang) als auch potenzieller Nachfrage (Liquiditätsüberhang). Für die Preislücke ( p - p *) wird häufig auch geschrieben (B3  ) ( p - p *) = - ( m r - m r * ). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="153"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 154 Dabei entspricht m r  ( m - p ) der (logarithmierten) realen Geldmenge und m r *  ( m - p* ) der (logarithmierten) gleichgewichtigen realen Geldmenge. Der Ausdruck ( m r - m r * ) wird als reale Geldlücke („real money gap“) bezeichnet, sodass die Preislücke der negativen realen Geldlücke entspricht. Das P-Stern-Modell besitzt empirische Relevanz, wenn die langfristige Geldnachfrage (bzw. die langfristige Umlaufsgeschwindigkeit) stabil ist und die Inflation durch die Preislücke (mit) bestimmt wird. Im Falle Deutschlands vor der Währungsunion erzielte man mit dem P-Stern-Modell gute empirische Ergebnisse (siehe Tödter / Reimers, 1994; Clostermann / Seitz, 2002). Dabei spielte allerdings die Wahl der Geldmengengröße eine entscheidende Rolle. Die positiven Resultate beziehen sich nahezu ausschließlich auf M3, nicht auf enge Geldmengenaggregate wie z. B. M1. Die Wahl der Preisgröße (Preisindex der Lebenshaltung, BIP-Deflator etc.) hatte dagegen keinen bedeutenden Einfluss. Herwartz und Reimers (2001) finden eine Bestätigung für das P-Stern-Modell im Rahmen eines umfassenden Datensatzes für 110 Länder von 1960 bis 1999. Das Konzept wurde auch erfolgreich auf den Fall der EWU angewendet (Nicoletti-Altimari, 2001; Gerlach / Svensson, 2003). Der Zusammenhang mit Geldmengenzielen ergibt sich, indem man eine weitere Quantitätsgleichung (in Logarithmen) für Zielgrößen aufstellt (Δ steht für den Differenzenoperator). (B4) p Ziel  m Ziel - y * + v * bzw. Δ p Ziel  Δ m Ziel - Δ y * + Δ v * Nach (B4) ergibt sich das Inflationsziel p Ziel aus dem Geldmengenziel m Ziel abzüglich des Wachstums des realen (gleichgewichtigen) Produktionspotenzials y* und korrigiert um Veränderungen der gleichgewichtigen Umlaufsgeschwindigkeit v* . Die Abweichungen vom Inflationsziel ( p - p Ziel ) ergeben sich aus einer Kombination von (B4) mit (B2) (B5) Δ p - Δ p Ziel  (Δ m - Δ m Ziel ) + (Δ v - Δ v *) + (Δ y * - Δ y ) = (Δ m - Δ m Ziel ) + (Δ p - Δ p *) (B5) besagt, dass eine Zentralbank, die eine Geldmengenstrategie zur Erreichung von Preisstabilität verfolgt, auch dann reagieren muss, wenn die Geldmenge sich zielgerecht verhält. Die „Inflationsziellücke“ (Δ p - Δ p Ziel ) setzt sich nämlich nicht nur aus Abweichungen vom Geldmengenziel (Δ m - Δ m Ziel ) zusammen, sondern in sie geht auch die Veränderung der Preislücke (Δ p - Δ p *) ein. Nur wenn letztere Null ist, ist allein die Geldmengenentwicklung für die Inflationsziellücke relevant. Diese Zusammenhänge werden i. d. R. bei der Festlegung von Geldmengenzielen berücksichtigt. Nach der Quantitätsgleichung könnte man den Eindruck gewinnen, die Geldmengenstrategie sei im Prinzip identisch mit der nominalen BIP-Steuerung und setze nur an einem anderen Punkt der Gleichung an. Während jedoch die Geldmengenstrategie eine mittelfristige Verstetigung der Geldmengenentwicklung beabsichtigt, führt die nominelle BIP-Steuerung zu antizyklischen Schwankungen der monetären Entwicklung. Der entscheidende Unterschied bezieht sich dabei auf die Behandlung der Umlaufsgeschwindigkeit. Während bei der nominellen BIP-Steuerung mit dem prognostizierten Wert für die Zielperiode gearbeitet wird, verwendet man im Rahmen der Geldmengenorientie- <?page no="154"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 155 rung einen längerfristigen Trendwert. 62 Da sich der Wert der Umlaufsgeschwindigkeit in der Regel im Konjunkturzyklus verändert, implizieren die Geldmengen- und die nominelle BIP-Orientierung unterschiedliche Zielwerte für das Geldmengenwachstum. In Boomphasen steigt üblicherweise die Umlaufsgeschwindigkeit an, d. h. die reale Geldnachfrage nimmt nicht so stark zu wie das reale BIP. Bei einer nominellen BIP-Orientierung fällt dadurch der (implizite) Zielwert für das Geldmengenwachstum (gemäß der Quantitätsgleichung) geringer aus. Umgekehrtes gilt für Rezessionsphasen. 2.3.4.2 Die Rolle der Geldnachfrage Das Verhalten der Geldnachfrage bzw. der Umlaufsgeschwindigkeit spielt für die Geldmengenstrategie eine entscheidende Rolle. Die Theorie der Geldnachfrage beschäftigt sich mit den Motiven der Geldhaltung. Nach Keynes wird ein Transaktions-, ein Spekulations- und ein Vorsichtsmotiv unterschieden. Entscheidend für unsere Fragestellung ist in diesem Zusammenhang die Summe der individuellen Geldnachfragen, d. h. die aggregierte (gesamtwirtschaftliche) Geldnachfrage. Die Geldnachfragetheorie versucht, die reale Geldnachfrage zu erklären. 63 Entscheidend sind die realen Geldbestände M / P , da die Halter von Geld die Kaufkraft einer gegebenen nominalen Geldeinheit interessiert. Üblicherweise begründet man im Rahmen der Geldnachfragetheorien eine Abhängigkeit der realen Geldnachfrage L („Liquiditätspräferenz“) von einer Transaktionsgröße und einer Opportunitätskostenvariablen oc . Da über das aggregierte Transaktionsvolumen der Wirtschaftssubjekte keine statistischen Informationen vorliegen, verwendet man dafür stellvertretend in Geldnachfragefunktionen eine gesamtwirtschaftliche Einkommensgröße. Dafür kommt z. B. das reale BIP Y in Frage. Die reale Geldnachfragebeziehung lautet somit in kompakter Form (35) M P = L ( Y +, oc - ) Die Zeichen „+“ und „-“ unter den Determinanten stehen für die partiellen Abhängigkeiten. Welche Opportunitätskosten Verwendung finden, hängt davon ab, was als Alternativen zur Geldhaltung betrachtet wird. Bei unverzinsten Geldaggregaten (wie z. B. zu einem großen Teil M 1) kommen dafür (nominale) Zinsniveaus in Frage. Damit ist in der Regel auch die erwartete Inflationsrate mit erfasst, da sich nach der Fisher- Gleichung (siehe Box III.2.5) der Nominalzins aus dem Realzins und einer erwarteten Inflationskomponente zusammensetzt. Handelt es sich dagegen um ein umfassendes Geldmengenaggregat (z. B. M 3), das auch zinstragende kurzfristige Anlageformen enthält, wäre die Differenz zwischen der Rendite einer Alternative zur Geldhaltung (z. B. einer längerfristigen festverzinslichen Anlage) und der Eigenverzinsung des Geldaggregates als Opportunitätskosten anzusetzen. Werden auch risikotragende Anlageformen (z. B. Aktien) ins Kalkül gezogen, sind deren Ertragsraten (risikoangepasst) ebenfalls 62 Die Deutsche Bundesbank setzte hier zuletzt die durchschnittliche Entwicklung im Zeitraum 1975 bis 1998 an. 63 Zu einem Überblick über verschiedene Geldnachfragetheorien siehe Serletis (2007), Teil 3. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="155"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 156 zu berücksichtigen. Auch nicht-finanzielle Aktiva (z. B. Immobilien) und ausländische Anlagemöglichkeiten sind unter Umständen in Betracht zu ziehen. Die Stabilität der Geldnachfrage ist notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Geldmengenstrategie. 64 Stabilität der Geldnachfrage und Stabilität der Umlaufsgeschwindigkeit sind dabei zwei Seiten derselben Medaille. Unter Berücksichtigung der Quantitätsgleichung und (35) ergibt sich nämlich für die Umlaufsgeschwindigkeit der folgende Ausdruck (36) V = P · Y M = Y M / P = Y L ( Y , oc ) Instabile Entwicklungen der Umlaufsgeschwindigkeit sind also gleichbedeutend mit einer instabilen Geldnachfrage. Stabilität impliziert jedoch nicht Konstanz. In vielen Ländern ist z. B. ein fallender Trend in der Umlaufsgeschwindigkeit breiter Geldmengenaggregate festzustellen. In Deutschland konnte dieser als trendstabil betrachtet werden (siehe Abb. III.2.4 für M 3 in Deutschland). Die Bundesbank ging hier in der Regel von einem Rückgang pro Jahr von 0,5 bis einem Prozentpunkt aus. Allgemein bedeutet dies, dass die Geldhaltung in Relation zu den vorgenommenen Transaktionen zunimmt. Zwar spricht der Trend zum bargeldlosen Zahlungsverkehr und die Tendenz zur Ökonomisierung der Geldhaltung („Cash Management“) eher für eine steigende Umlaufsgeschwindigkeit. Da es aber neben dem Transaktionsmotiv noch weitere Motive der Geldhaltung gibt (Vermögensbzw. Anlage- und Vorsichtsmotive bei zinstragenden Teilen, Hortungen von Bargeld, Bargeldhaltung im Ausland) ist ein rückläufiger Trend ökonomisch durchaus begründbar. Dementsprechend kann das stabilitätsgerechte Geldmengenwachstum dann reichlicher ausfallen, ohne Stabilitätsgefahren herauf zu beschwören (siehe (33)). Stabilität der Geldnachfrage bzw. der Umlaufsgeschwindigkeit bedeutet ganz generell, dass sich die Geldmengenentwicklung durch einige wenige Faktoren erklären lässt und die Zusammenhänge im Zeitablauf nicht zu stark schwanken. Empirisch beinhaltet dies zunächst, dass eine langfristige Geldnachfragefunktion in Abhängigkeit von einigen wenigen Determinanten (z. B. einer Transaktionsgröße und einer Opportunitätskostenvariablen wie in (35)) existiert. Zudem sollten die geschätzten Abhängigkeiten im Zeitablauf einigermaßen stabil sein und mit hinreichender Genauigkeit empirisch geschätzt werden können. Dann lässt sich die Beziehung auch für eine Prognose der Geldmengenentwicklung verwenden. Darüber hinaus bezieht sich Stabilität auf die systematische Beeinflussbarkeit der Geldmengenentwicklung mit Hilfe der Instrumente der Geldpolitik. Und schließlich sollte auch ein Geldmengen-Preis-Zusammenhang feststellbar sein. Für die Geldpolitik ist dabei vor allem die längerfristige Stabilität der Geldnachfrage von Interes- 64 Allerdings sollte man den Informationsgehalt aufkommender Instabilitäten nicht außer Acht lassen. So weisen Instabilitäten ja gerade darauf hin, dass sich auf den Finanzmärkten und im Geldnachfrageverhalten etwas verändert. Es ist somit nicht nur Vorsicht bei der Interpretation der Geldmengendaten, sondern auch bzgl. der weiteren Entwicklungen auf den Finanzmärkten (und evtl. auch der Realwirtschaft) angebracht. In diesem Sinne sind sich abzeichnende Instabilitäten als Risikowarnsystem zu verstehen. Den Ursachen dafür sollte nachgegangen werden. <?page no="156"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 157 se. Die kurzfristige Dynamik gewinnt allerdings dann an Bedeutung, wenn die Anpassung an das langfristige Gleichgewicht relativ langsam abläuft. 65 Die Frage nach der Stabilität der Geldnachfrage hängt eng mit der Abgrenzung des Geldmengenbegriffes zusammen. Breite Geldmengenaggregate, die auch verzinste kurzfristige Anlageformen enthalten, haben den Vorteil, viele zinsbedingte Umschichtungen, die die volkswirtschaftliche Liquiditätslage insgesamt unverändert lassen, in sich aufzufangen. Andererseits sind sie jedoch weiter entfernt von den direkter kontrollierbaren Größen auf dem Geldmarkt. Zudem können sie Komponenten enthalten, die nur noch einen recht losen Zusammenhang zu Gütermarkttransaktionen aufweisen und stark von (kurzfristigen) Portfolioentscheidungen beeinflusst werden (z. B. Repogeschäfte von nichtmonetären Finanzinstituten). Sehr enge Geldmengengrößen wie M 1 oder die Geldbasis verlaufen aufgrund des hohen Bargeldanteils und der engen Substitutionsbeziehung zu anderen kurzfristigen Anlageformen häufig zu erratisch, um als verlässliche geldpolitische Orientierungsgröße zu dienen. 65 Letztlich lassen sich Instabilitäten in der Geldnachfrage immer auf die Vernachlässigung wichtiger erklärender Faktoren der Geldhaltung zurückführen. Abb. III.2.4: Die Umlaufsgeschwindigkeit von M3 in Deutschland 0.50 0.55 0.60 0.65 0.70 0.75 0.80 0.85 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 Umlaufsgeschwindigkeit Trend Quelle: Deutsche Bundesbank. Anmerkungen: logarithmischer Maßstab. M3 in Deutschland bis Ende 1998 setzte sich aus Bargeld, Sichteinlagen, Termineinlagen mit einer Laufzeit bis 4 Jahren und Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist zusammen. Es entspricht somit eher dem heutigen M2. Trend als linear-deterministischer Trend berechnet. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="157"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 158 Finanzinnovationen sorgten in vielen Ländern, z. B. in den USA und Großbritannien, dafür, dass die Geldnachfragerelationen instabil wurden. Sie führen zum Auftreten neuer Substitute zur Geldhaltung. Häufige Ursache dafür sind Deregulierungen auf den Finanzmärkten, d. h. letztlich die zuvor existierenden Regulierungen. Wenn das Finanzvermögen aufgrund attraktiver Konditionen verstärkt in diese neuen (kurzfristigen) Anlageformen fließt, die offiziell nicht zur Geldmenge zählen, entsteht das Problem des sog. „missing money“. Dadurch werden zuvor festgestellte Zusammenhänge, z. B. zwischen der Geldmengenentwicklung und Zinsen sowie der Inflation, destabilisiert. Unter den Begriff „Finanzinnovationen“, die die gesamtwirtschaftliche Liquiditätssituation verändern, fallen auch neue Geschäftsfelder von Banken (z. B. die Transformation illiquider Anlageformen wie Hypotheken zu hoch liquiden und handelbaren „Asset-backed Securities“) oder das verstärkte Auftreten neuer Finanzinstitutionen (z. B. Hedgefonds, die üblicherweise in illiquide Anlageformen investieren, während ihre Verbindlichkeiten eher kurzfristiger Natur sind). Finanzinnovationen und im Speziellen die „Zahlungstechnologie“ (Bargeld versus Kartenzahlungen) entwickeln sich dabei endogen aus den Kosten-Nutzen-Überlegungen der Nutzer. 66 2.3.4.3 Vorteile einer Geldmengenstrategie Mit einer Geldmengenpolitik verbindet man einige Vorteile: Zunächst einmal liegt ihr eine klare und relativ einfache Theorie zugrunde. Diese ◼ besagt, dass Inflation auf Dauer stets mit einer übermäßigen Ausweitung der Geldmenge einhergeht. Dieser Zusammenhang gilt für unterschiedliche Zeiträume, Länder und über verschiedenartigste monetäre Regime hinweg. Es handelt sich jedoch um keine 1: 1-Beziehung, da das Wirtschaftswachstum und der Trend in der Umlaufsgeschwindigkeit den Geldmengen-Preis-Zusammenhang überlagern. Anhand der Abbildungen III.2.5 und III.2.6 kann dies für unterschiedliche Ländergruppen und Geldmengenabgrenzungen nachvollzogen werden. 67 Man erkennt dabei, dass über einen langen Zeitraum die Wahl des Geldmengenaggregats nicht die entscheidende Rolle spielt. Zudem gilt der Geldmengen-Preis-Zusammenhange bei Hoch- und Niedriginflationsländern. Voraussetzung zur Ausnutzung dieser Beziehung ist allerdings die Stabilität der entsprechenden Geldnachfrage. Die entscheidende Rolle der Geldpolitik für die Inflationsentwicklung wird vor allem daran deutlich, dass eine übermäßige Ausweitung der Geldmenge ohne Einschaltung der Zentralbank als Monopolanbieterin von Zentralbankgeld dauerhaft nicht vorstellbar ist. Neben 66 In Deutschland haben Finanzinnovationen die Strategie der Geldmengensteuerung mit dem breiten Geldmengenaggregat M3 kaum gestört (Scharnagl, 1996). Hauptsächlich zurückzuführen war dies auf die bereits seit Ende der 60er Jahre liberalisierten Finanzmärkte, stabile Finanzmarktstrukturen und den eher konservativen deutschen Anleger. Die Bundesbank hielt selbst nach der deutschen Vereinigung und den EWS-Krisen der Jahre 1992 / 93 an der Geldmengenstrategie fest, da keine Anzeichen für dauerhafte Instabilitäten im Geldnachfrageverhalten nach M3 vorlagen. Darauf weisen vielfältige Untersuchungen hin (siehe die Übersicht in Funke / Cabos, 2000, 1508 sowie Hubrich, 1999). 67 Siehe für einzelne Länder über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert Papademos und Stark (2010), S. 33. <?page no="158"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 159 Abb. III.2.5a: Internationaler Geldmengen-Preis-Zusammenhang (M breit) Quelle: IWF, Weltbank. Anmerkungen: durchschnittliche jährliche Wachstumsraten eines breiten Geldmengenaggregates und des Verbraucherpreisindex von 1960 - 2012 in 165 Ländern. a) Länder mit Inflationsraten < 40 % Abb. III.2.5b: Internationaler Geldmengen-Preis-Zusammenhang (M eng) Quelle: IWF, Weltbank, EZB. Anmerkungen: durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von M1 und des Verbraucherpreisindex von 1960 - 2012 in 122 Ländern. b) Länder mit Inflationsraten < 20 % Abb. III.2.6: Geldmengen-Preis-Zusammenhang in Ländern mit unterschiedlichen Inflationsraten Quelle: IWF, Weltbank. Anmerkungen: durchschnittliche jährliche Wachstumsraten eines breiten Geldmengenaggregates und des Verbraucherpreisindex von 1960 - 2012 in a) 155 Ländern mit jahresdurchschnittlichen Inflationsraten von unter 40 % bzw. b) 134 Ländern mit jahresdurchschnittlichen Inflationsraten von unter 20 %. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="159"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 160 der Rolle der Geldmenge als Indikator zukünftiger Inflationsgefahren, liefert sie noch weitere wichtige Informationen für die geldpolitischen Entscheidungsträger (siehe Box III.2.8). Aus den drei Bestandteilen Wirtschaftswachstum, Preiskomponente und Umlaufsge- ◼ schwindigkeit errechnet sich der stabilitätsgerechte Wert für die Geldmengenausdehnung. Üblicherweise wird jedoch kein Punktziel verfolgt, sondern um diesen Wert eine Bandbreite oder ein Zielkorridor gelegt. 68 Dadurch trägt man dem Umstand Rechnung, dass ein kurzfristiges „fine-tuning“ nicht möglich ist und Schwankungen der Geldmenge innerhalb einer gewissen, eng bemessenen Bandbreite keine Stabilitätsgefahren und Glaubwürdigkeitsprobleme darstellen. Mit dieser Vorgehensweise ist eine Vergrößerung des Flexibilitätsspielraums der Zentralbank verbunden. Vereinfachung des geldpolitischen Steuerungsprozesses: Die Geldpolitik kann sich ◼ auf eine Variable konzentrieren, die (bei Stabilität) einen ausreichend gesicherten Zusammenhang zum Endziel aufweist, ohne dass sie den genauen Transmissionsprozess geldpolitischer Entscheidungen kennen muss. Geldmengendaten sind zudem relativ schnell und mit hinreichender Genauigkeit verfügbar. Werden Geldmengenziele und die ihr zugrunde liegenden Determinanten publiziert, ◼ erhöhen sie auch die Transparenz der Notenbankpolitik in der Öffentlichkeit. Sie liefern Informationen über die Absichten der Zentralbank und fungieren dadurch als Richtschnur für die Erwartungsbildung der Märkte. Publizierte Geldmengenziele stellen auch eine Art Selbstbindung der Zentralbank dar. Wenn die Ziele nicht eingehalten werden, steht die Zentralbank nämlich unter Rechtfertigungszwang. Nur wenn sie überzeugend darzulegen weiß, dass solche Abweichungen nicht dem letztendlichen Ziel der Preisstabilität im Wege stehen, sind sie nach außen vertretbar und schaden dem Ansehen nicht. Eindeutige Zuordnung von Verantwortlichkeiten, da die Geldmengenentwicklung ◼ aufgrund des Geldschöpfungsprozesses im Endeffekt der Notenbank unterliegt. Die Bundesbank war mit der Geldmengenorientierung relativ erfolgreich. Zwar ver- ◼ fehlte auch sie in knapp 50 % der Fälle ihre Geldmengenziele (siehe Tabelle III.2.2). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass ein Großteil der Zielverfehlungen in die Anfangszeit der Geldmengenstrategie fielen, im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und der EWS-Krisen (1992 / 93) auftraten oder durch steuerpolitische Entscheidungen (1995 / 96) beeinflusst waren. Im Rahmen einer mittelfristig orientierten Strategie spielt die Nicht-Einhaltung von Jahreszielen auch eine nur untergeordnete Rolle. Dies sollte nur der Öffentlichkeit gut kommuniziert werden. Allerdings kann eine mehrjährige Orientierung unter Umständen hilfreich sein, wenn dadurch nicht ständig auf kurzfristig wirkende Sonderfaktoren verwiesen werden muss. Sie sind auch mit dem Geldmengenkonzept eher vereinbar, das sich vor allem auf Trendwerte stützt. Zudem ist der Indikatorbzw. Zwischenzielcharakter der Geldmenge zu betonen. Letztlich relevant sind die Endziele. Geldmengenziele sind hierfür nur Mittel zum Zweck. Und bei der Inflationsbekämpfung erzielte die Bundesbank im weltweiten Vergleich stets hervorragende Ergebnisse. 68 Ab 1979 legte z. B. die Deutsche Bundesbank Zielkorridore für das Geldmengenziel fest. <?page no="160"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 161 Tabelle III.2.2: Geldmengenziele und ihre Realisierung in Deutschland (in %) Ziel: Wachstum der Zentralbankgeldmenge bzw. der Geldmenge M3 a) Tatsächliche Entwicklung Jahr im Verlauf des Jahres b) im Jahresdurchschnitt Konkretisierung im Verlauf des Jahres im Verlauf des Jahres b) im Jahresdurchschnitt Ziel erreicht 1975 8 - - 10 - nein 1976 - 8 - - 9 nein 1977 - 8 - - 9 nein 1978 - 8 - - 11 nein 1979 6 - 9 - Untergrenze 6 - ja 1980 5 - 8 - Untergrenze 5 - ja 1981 4 - 7 - untere Hälfte 4 - ja 1982 4 - 7 - obere Hälfte 6 - ja 1983 4 - 7 - obere Hälfte 7 - ja 1984 4 - 6 - - 5 - ja 1985 3 - 5 - - 5 - ja 1986 3 ½ - 5 ½ - - 8 - nein 1987 3 - 6 - - 8 - nein 1988 3 - 6 - - 7 - nein 1989 etwa 5 - - 5 - ja 1990 4 - 6 - - 6 - ja 1991 3 - 5 c) - - 5 - ja 1992 3 ½ - 5 ½ - - 9 - nein 1993 4 ½ - 6 ½ - - 7 - nein 1994 4 - 6 - - 6 - ja 1995 4 - 6 - - 2 - nein 1996 4 - 7 - - 8 - nein 1997 3 ½ - 6 ½ d) - - 5 - ja 1998 3 - 6 - - 6 - ja Quelle: Deutsche Bundesbank. Anmerkungen: a) Ab 1988 M3; b) Jeweils vom vierten Quartal des Vorjahres bis zum vierten Quartal des laufenden Jahres; 1975: Dezember 1974 bis Dezember 1975; c) Gemäß der Anpassung des Geldmengenziels im Juli 1991; d) Erstmalige Vorgabe eines 2-Jahres-Zieles, nach dem M3 im Verlauf von 1997 und 1998 um jeweils etwa 5 % wachsen soll. In der geldpolitischen Praxis wird nie eine „strikte“ Geldmengenpolitik betrieben. Die Zentralbanken unterwerfen sich zwar der Regelbindung der Ziele zu einem großen Teil, verzichten aber nicht auf einen gewissen Flexibilitätsspielraum. Es kann jedenfalls nicht um einen mechanistischen Einsatz des geldpolitischen Instrumentariums gehen. Der Erfolg der von der Bundesbank in den letzten Jahren ihrer Politik mit eigenständigen OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="161"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 162 Geldmengenzielen praktizierten pragmatischen Geldmengenpolitik basierte größtenteils auf ihrer hohen Reputation und Glaubwürdigkeit sowie der guten Performance in der Vergangenheit. Die Gewichtung von „rules“ und „flexibility“ („discretion“) wird bei anderen Zentralbanken sicherlich anders ausfallen müssen. Auch bedeutet eine Geldmengenstrategie nicht, Informationen von anderen Variablen außer Acht zu lassen. 69 Das offizielle Geldmengenaggregat nimmt nur eine herausgehobene Stellung ein, kann also als „primus inter pares“ bezeichnet werden. Die aktive Nutzung dieses Flexibilitätsgrades, ohne Zweifel an der Stabilitätsorientierung aufkommen zu lassen, ist zwar stets eine Gratwanderung. Bei Erfolg dürfte sie allerdings dem Aufbau bzw. Erhalt von Glaubwürdigkeit auf alle Fälle förderlich sein. Box III.2.8: Die Rolle der Geldmenge für die Geldpolitik Wie wir gesehen haben, liefert die Geldmenge nützliche Informationen über mögliche Inflationsgefahren. Dies ist vor allem deshalb von Vorteil, weil Preisstabilität das primäre Endziel von Zentralbanken ist und Geldmengendaten zeitnah und zuverlässig verfügbar sind. Die Beachtung der Geldmenge kann darüber hinaus aber aus weiteren Gründen angezeigt sein. Speziell enge Geldmengenaggregate mit hohem Liquiditätsgrad (z. B. M1 oder Divisia-Aggregate) können nützliche Informationen über die in naher Zukunft zu erwartende konjunkturelle Entwicklung (z. B. der BIP-Entwicklung) enthalten, da sie in einer engen Beziehung zu den Ausgaben der Wirtschaftssubjekte stehen (Brand et al., 2004). Damit eng zusammen hängt die Signalfunktion der Geldmenge für die vorherrschenden ökonomischen Bedingungen im Allgemeinen. Ein Charakteristikum dieser „Bedingungen“ (z. B. des Output Gaps) ist ja gerade, dass sie nicht direkt beobachtbar sind. Über frühzeitig verfügbare Geldmengendaten kann man darüber zusätzliche Informationen bekommen, da die Geldmenge einerseits die Liquiditätsbedingungen abbildet. Andererseits lässt die Geldmenge aber auch Rückschlüsse auf das tatsächliche Transaktionsvolumen zu, da dieses eine wichtige Determinante der Geldnachfrage ist. Eine Orientierung an der Geldmenge führt dazu, dass die Geldpolitik „träger“ (persistenter) in dem Sinne reagiert, dass aktuelle Zinsentscheidungen von der Vergangenheit abhängen („history dependence“). Dies ist in vorausschauenden Modellen unter Robustheitsgesichtspunkten optimal, um die privaten Erwartungen zu stabilisieren (Woodford, 2003, Kap. 8). Der Geldmenge gelingt dies deshalb, weil eine an sie angelehnte Strategie eine Verbindung zwischen dem Geldmengenwachstum, Zinsänderungen, der Preisentwicklung und dem BIP-Wachstum herstellt. Dadurch reagiert die Geldpolitik auch auf vergangene Entwicklungen. Das sieht man sehr deutlich und einfach an Gleichung (35), wenn diese in Veränderungsraten spezifiziert wird, wie dies z. B. bei Geldmengenzielen stets der Fall ist. Eine glaubwürdige derartige Reaktion hat somit über die Stabilisierung der Inflationserwartungen einen positiven Effekt auf die aktuelle Inflationsrate. 69 Dies verdeutlicht auch das P-Star-Konzept, in welchem neben der Liquiditätslücke der Unterschied zwischen aktuellem und Potenzialwachstum als Inflationsindikator fungiert (siehe Box III.2.7). <?page no="162"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 163 Ein Übertragungsweg der Geldpolitik auf die Finanzmärkte und in die Realwirtschaft läuft über die Beeinflussung der Geldmenge und ihres Hauptbilanzgegenpostens, der Kreditgewährung der Banken an private und öffentliche Haushalte und Unternehmen. Zum besseren Verständnis des Transmissionsprozesses bietet es sich deshalb an, die Geldmenge im Bilanzzusammenhang zu analysieren. In diesem Zusammenhang wurde in letzter Zeit vor allem auf die Indikatorqualität der Geldmengen- und Kreditentwicklung für Finanzmarktstörungen und Finanzmarktkrisen hingewiesen. So scheint die Geldmenge die Gefahr von „Financial Bubbles“ frühzeitig signalisieren zu können (Borio und Lowe, 2002; 2004; Papademos / Stark, 2010, Kap. 6; Schularick / Taylor, 2012). Vor einem Finanzmarkt-Crash wuchs dabei die Geldmenge stets zu stark. Wegen Globalisierungs- und internationalen Verflechtungstendenzen auf den Finanzmärkten bietet es sich dabei an, das Augenmerk auf eine globale Liquiditätsgröße zu legen (EZB, 2012i). Die Geldmengen- und Kreditentwicklung spielt auch wegen Finanzmarktunvollkommenheiten eine wichtige Rolle. Dabei geht es in unserem Zusammenhang hauptsächlich um Kredit- und Liquiditätsbeschränkungen (King, 2002). Deren Wahrscheinlichkeit fällt bei steigender Geldmenge. Folglich können durch Geld Friktionen auf den Finanzmärkten abgeschwächt oder sogar überwunden werden. Eine Volkswirtschaft ist ständig Güternachfrage-, Inflations- und Geldnachfrageschocks ausgesetzt. Diese Schocks können nur schwer identifiziert und separiert werden. Auf die Geldmenge wirken sich alle diese Schocks aus. Sie dient also als sog. „summary statistic“ dieser Schocks (Tödter, 2002). In diesem Sinne sind auch Argumente zu verstehen, die darauf verweisen, dass die Geldnachfrage und die Güternachfrage von den Erträgen einer Vielzahl von Finanzmarktvariablen bestimmt werden. In der Geldmenge spiegeln sich alle möglichen der damit zusammen hängenden Portfolioeffekte wider. Dementsprechend würde man von der Geldmengenentwicklung auf die Veränderung der Güternachfrage schließen können, da diese auch von diesen Finanzmarktvariablen abhängt (Nelson, 2002, 2003). Aus einer mehr grundsätzlichen Perspektive kann die Geldmenge einen nominalen Anker für eine Ökonomie bilden. Eine Geldpolitik, die auch auf monetäre Entwicklungen reagiert, kann unter Umständen destabilisierende Entwicklungen bei den Inflationserwartungen (von Tarifparteien, fiskalpolitischen Entscheidungsträgern, Finanzmarktteilnehmern etc.) verhindern (Christiano et al., 2008). Fehlt dieser nominale Anker, kann dies über sich selbst erfüllende Erwartungen negative Konsequenzen für die Wirtschaftsentwicklung haben. Diese Argumentation verweist darauf, dass die alleinige Ankündigung eines Inflationsziels oder der Definition von Preisstabilität durch die Zentralbank nicht ausreicht. Um stabile Ergebnisse zu gewährleisten, muss sie um eine stabilisierende Regel ergänzt werden, die spezifiziert, wie bei Abweichungen vom Ziel (Gleichgewicht) vorgegangen wird. Nur dann ist die Regel glaubwürdig und kann als Orientierung für die Erwartungsbildung der Märkte dienen. Monetäre Aggregate können in diesen Ansatz als Informationsvariablen, als Handlungsauslöser und als operatives Ziel der Zentralbanken Eingang finden. Welche Rolle dabei die Geldmenge in modernen theoretischen Makromodellen spielt, wird eingehend in Schmidt / Seitz (2013) untersucht. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="163"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 164 2.3.4.4 Probleme einer Geldmengenorientierung Instabilitäten im Geldnachfrageverhalten ◼ Grundvoraussetzung für eine sinnvolle Anwendung einer Geldmengenstrategie ist die mittelbis langfristige Stabilität der Geldnachfrage. Vor dem Hintergrund gesamtwirtschaftlicher Unsicherheiten, Finanzinnovationen und der zunehmenden Wahrscheinlichkeit von Finanzmarktvolatilitäten incl. Finanzmarktkrisen, die sich durch die Globalisierung und Internationalisierung weltweit auswirken, sind instabile Entwicklungen nicht auszuschließen. Dadurch würden auch zuvor festgestellte Geldmengen-Preis-Zusammenhänge lockerer werden oder sogar zusammen brechen. Die Prognose und Ausnutzung dieses Zusammenhangs für die Geldpolitik wird auf alle Fälle schwieriger. Eine Aufeinanderfolge von Finanzmarktschocks lässt dann auch die kurze Frist bedeutender werden. Ist man dadurch zu permanenten Anpassungen der Geldmengenstrategie (z. B. Wechsel des Geldmengenaggregats oder des Zeithorizonts, auf welchen sich das Geldmengenziel bezieht) „gezwungen“, muss schließlich das Konzept aufgegeben werden. Kontrollierbarkeit ◼ Ein Geldmengenziel sollte mit den Instrumenten der Geldpolitik beeinflussbar sein. 70 In der Praxis liegen Geldmengenstrategien üblicherweise breite Geldmengenaggregate zugrunde. Je umfassender nun aber die Geldmengenaggregate sind, desto weiter entfernt sind sie von den direkt von der Geldpolitik beeinflussbaren operativen Größen am Geldmarkt. Folglich wird der Zusammenhang zwischen den Notenbankzinsen und der Geldmengenentwicklung lockerer, längerfristiger und zeitvariabler. Anders formuliert: Die Geldpolitik muss dann vorausschauender werden. Dadurch entsteht ein zusätzliches Unsicherheitsmoment. 2.4 Direkte Inflationssteuerung Wie in Abschnitt III.2.2 gezeigt wurde, ist es auch mit einer einstufigen Strategie, die keine Variable auf der Indikatorebene explizit hervorhebt, grundsätzlich möglich, Preisstabilität zu erreichen. Hier soll auf die allgemeinen Charakteristika dieses Ansatzes näher eingegangen werden. Speziell sollen auch die Unterschiede zu einer zweistufigen Strategie herausgearbeitet werden. 2.4.1 Die einstufige Strategie Die unsteten Entwicklungen auf den Finanzmärkten aufgrund von Finanzinnovationen, Deregulierungen und einer Disintermediation weg vom Bankensektor „zwangen“ viele Länder, von der Geldmengenstrategie und/ oder Wechselkurszielen Abschied zu 70 Übt die Geldmenge im Rahmen des Konzepts nur eine herausgehobene Indikatorfunktion aus, entfällt das Argument der Kontrollierbarkeit. <?page no="164"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 165 nehmen. Auch einige europäische Länder mussten sich neu orientieren, da nach den EWS-Krisen der Jahre 1992/ 93 die davor geltenden Wechselkursziele bedeutungslos wurden. Auf der Suche nach einer adäquaten geldpolitischen Strategie gingen manche Zentralbanken auf eine Politik der direkten Inflationssteuerung über. Diese entspricht einer Strategie ohne traditionelles Zwischenziel oder herausgehobene Indikatorvariablen und wird dementsprechend als einstufiges Konzept bezeichnet. Den Anfang machte Neuseeland 1989. Unter den europäischen Ländern folgten Großbritannien (1992), Schweden (1993), Finnland (1993), Spanien (1994), Norwegen (1996), Tschechien (1998), Polen (1999), Island (2001), Ungarn (2001), Rumänien (2005), Serbien (2006), die Türkei (2006), Albanien (2007) und Moldau (2009). 71 Bei den Ländern, die Inflationsziele verfolgen, handelt es sich in der Regel um solche, die in der Vergangenheit relativ hohe Inflationsraten aufwiesen. Der Öffentlichkeit sollte durch den Strategiewechsel signalisiert werden, dass in Zukunft die Erreichung von Preisstabilität eindeutig im Zentrum der geldpolitischen Überlegungen steht. Um Glaubwürdigkeit (wieder) zu gewinnen und einen „Anker“ für die Erwartungsbildung der Marktteilnehmer zu bieten, enthält eine derartige Strategie, trotz aller Unterschiede im Detail, folgende charakteristische Elemente: Festlegung der zu steuernden Preisgröße (z. B. der Inflation gemessen am Verbrau- ◼ cherpreisindex). Öffentliche Ankündigung eines numerischen mittelfristigen Ziels für die Preisent- ◼ wicklung. Institutionelle Absicherung des Endziels Preisstabilität bzw. Inflationsbekämpfung ◼ (z. B. in Notenbankstatuten). Herausgehobene Stellung einer modellgestützten Inflationsprognose ◼ , in die mehrere Indikatoren eingehen. Explizite Zwischenziele spielen keine Rolle. Erhöhte Transparenz durch verstärkte Kommunikation mit der Öffentlichkeit und ◼ den Finanzmärkten über Ziele und Absichten der Notenbank (z. B. über die Publikation eines Inflationsberichtes). Verstärkte Verantwortung der Zentralbank, die Inflationsziele zu erreichen, und Re- ◼ chenschaftspflicht bei Zielverfehlungen. Einen Überblick über ausgewählte Charakteristika in einzelnen EU-Ländern gibt Tabelle III.2.3. 71 Weltweit sind noch weitere Länder auf dieses Konzept übergegangen, so z. B. Chile (1990), Kanada (1991), Israel (1991), Australien (1994), Brasilien (1999), Mexiko (1999), Südkorea (1999), Thailand (2000), Südafrika (2000) und Indonesien (2005). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="165"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 166 Tabelle III.2.3: Grundmerkmale der direkten Inflationssteuerung in ausgewählten europäischen Ländern Großbritannien Schweden Polen Tschechien Beginn der Inflationssteuerung Oktober 1992 Januar 1993 1999 Januar 1998 Zielvariable Allgemeiner Verbraucherpreisindex Allgemeiner Verbraucherpreisindex Allgemeiner Verbraucherpreisindex Allgemeiner Verbraucherpreisindex Letztes Inflationsziel 2 % a) 2 % b) 2,5 % ± 1 Prozentpunkt c) 2 % ± 1 Prozentpunkt d) Verantwortung für Zielsetzung Regierung Zentralbank Zentralbank Zentralbank Publizierte Inflationsprognosen ja ja ja ja Veröffentlichungen zu Inflationsaussichten Vierteljährlicher Inflationsbericht Monetary Policy Report (3x im Jahr) Inflationsbericht (3x im Jahr) Vierteljährlicher Inflationsbericht Quelle: Nationale Zentralbanken. Anmerkungen: Stand: Anfang 2013. a) Der Gouverneur der Bank of England muss einen offenen Brief an den Kanzler schreiben, wenn die Inflation um mehr als einen Prozentpunkt vom Ziel abweicht. Darin muss auf die Gründe und die beabsichtigten Maßnahmen, um die Situation zu beseitigen, eingegangen werden. b) Korrektur bei Verletzung des Inflationsziels soll spätestens nach 2 Jahren erfolgen. c) Mittlerer Wert wird angestrebt. d) Gilt bis zur Euro-Einführung. Um eine Orientierung für die Erwartungsbildung der privaten Marktteilnehmer zu geben, soll durch die Vorgabe eines veröffentlichten Inflationsziels die Stabilitätsorientierung der Zentralbank verdeutlicht werden. Der Geldmengenstrategie und der Strategie der direkten Inflationssteuerung ist also gemeinsam, dass dasselbe Endziel - Preisstabilität - angestrebt wird. Bei der Inflationssteuerung wird dieses deutlicher herausgestellt, und die Zentralbank gibt dadurch auch öffentlich bekannt, was sie unter Preisstabilität versteht. Üblicherweise wird allein schon aufgrund von statistischen Messproblemen nicht eine Inflationsrate von Null angestrebt. Das Inflationsziel wird mit der Inflationsprognose der Zentralbank verglichen. Typischerweise gehen in diese Variablen wie Importpreise, Lohnstückkosten und der Output Gap ein. Die Inflationsziele sind in der Regel als Bandbreiten oder Obergrenzen für die Preissteigerung formuliert. Anders als beim Geldmengenziel wird die Einhaltung des Inflationsziels an der offiziell erwarteten Entwicklung, nicht dem tatsächlichen Wert gemessen. Wenn die prognostizierte Inflation über dem Zielwert liegt, muss die Geldpolitik einen restriktiveren Kurs einschlagen, d. h. die Notenbankzinsen anheben. Auf der anderen Seite signalisieren günstigere Inflationsperspektiven als durch das Inflationsziel vorgegeben eine expansivere geldpolitische Ausrichtung in der Zukunft (siehe Abb. III.2.7). <?page no="166"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 167 Um allerdings auf Inflationsprognosen zu vertrauen, sollte die ökonomische Struktur des Landes relativ stabil und einfach modellierbar sein. Stabilität ist also auch hier wieder ein entscheidender Punkt. Das Inflationsziel sollte in diesem Zusammenhang auf alle Fälle von der Zentralbank gesetzt werden, um Konflikte mit der Unabhängigkeit zu vermeiden. Dies ist z. B. in Großbritannien nicht der Fall (siehe Tabelle III.2.3). Dadurch erzeugt man allerdings ein Spannungsverhältnis. So muss die Zentralbank innerhalb dieses Ansatzes stets eine Beurteilung des Preiseinflusses der nationalen Haushalts- und Lohnpolitiken und von exogenen Schocks (z. B. unerwarteten Wechselkurs- oder Rohstoffpreisentwicklungen) abgeben. Diese Einschätzung muss sich nicht unbedingt mit derjenigen der Regierungsvertreter decken. 2.4.2 Vor- und Nachteile des „direct inflation targeting“ Die Vorteile, die man sich aus einer derartigen Orientierung verspricht, lassen sich folgender Maßen zusammenfassen: Zunächst einmal wird die Bedeutung von Preisstabilität deutlich herausgestellt und die Handlungen der Zentralbank werden dahingehend ausgerichtet. Dann liegt der Reiz darin, dass alle potenziellen Inflationsindikatoren in die Inflationsprognose eingehen. Zudem wird das Inflationsziel in transparenter Weise der Öffentlichkeit mitgeteilt und erklärt. An dem Vergleich der Inflationsprognose mit dem Ziel kann die Performance der Zentralbank ohne größere Probleme abgelesen werden. Die Verfechter dieses Konzeptes verweisen sogar darauf, dass diese Überprüfung durch die Außerachtlassung der Zwischenzielebene vereinfacht wird. Für eine Politik der direkten Inflationssteuerung sind „Umlaufsgeschwindigkeitsschocks“ nur von untergeordneter Bedeutung, da eine stabile Geldnachfrage keine Grundvoraussetzung für die sinnvolle Implementierung ist. Man versucht vielmehr, alle relevanten Indikatoren für die Preisentwicklung auszuwerten. Diese können sich selbstverständlich im Zeitablauf verändern. Allerdings sollte die zur Prognose verwendete Inflationsgleichung stabile Zusammenhänge aufweisen. Wenn auch die technischen Feinheiten der Inflationsprognose der Öffentlichkeit wenig zugänglich sind, so ist doch das grundlegende Konzept einfach: „Vergleiche das Inflationsziel mit der erwarteten Preisentwicklung und handle dementsprechend! “ In fast allen Ländern wird zudem über die Publikation eines Berichts die Analyse und Diagnose des Inflationsprozesses der Öffentlichkeit in ausführlicher Weise zugänglich gemacht (siehe Tabelle III.2.3). Richtigerweise konzentriert sich das Konzept der direkten Inflationssteuerung auf die letztlich entscheidende Realisation von Preisstabilität. Die Regel beinhaltet ein gewisses Maß an Flexibilität. Dies liegt allein schon darin begründet, dass nicht nur eine einzige Variable zur Inflationsprognose herangezogen wird. Zudem besteht keine Veranlassung, das Ziel zu jedem Zeitpunkt einzuhalten. Außerdem werden in der Regel keine Punktziele für die Inflation, sondern Bandbreiten oder maximal zulässige Raten angegeben. Darüber hinaus erlaubt die Strategie üblicherweise Zielverfehlungen bei Angebotsschocks. So wird z. B. in vielen Ländern die Zentralbank bei Energie- und Rohstoffpreisänderungen, Änderungen indirekter Steuern oder Preiseffekten von Naturkatastrophen und Finanzkrisen nicht zur Rechenschaft gezogen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="167"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 168 Für die Öffentlichkeit werden durch die Inflationsziele ein Erfolgsmaßstab sowie eine Orientierungsgröße für die Handlungen der Zentralbank geliefert. Allerdings gerät eine Notenbank hier leicht in eine Dilemmasituation: Einerseits erfordert Transparenz und Glaubwürdigkeit eine möglichst genaue Ankündigung des Inflationsziels. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass die Geldpolitik allein kurzfristig die Preisentwicklung nicht kontrollieren kann. Analoges gilt für die Inflationsprognosen. Sie sind von der Natur der Sache her unsicher, und zwar umso mehr, je länger der Prognosehorizont ist. Sie müssen aber hinreichend genau sein, um stabilisierend auf die Inflationserwartungen einwirken zu können. Zwar ist Inflation langfristig ein monetäres Phänomen. Sie liegt also letztendlich in Händen der Notenbank. Die laufende Inflationsrate wird jedoch von einer Vielzahl von Einflussfaktoren überlagert, die nicht dem direkten Verantwortungsbereich der Notenbank unterliegen. So vermag die Notenbank in der kurzen Frist weder den Einfluss der Preise wichtiger Importgüter noch den der Lohnstückkosten auf die allgemeine Preisentwicklung auszuschalten. In noch stärkerem Maße gilt dies für den Kurs der Finanzpolitik im Allgemeinen und für die Änderung indirekter Steuern (z. B. der Mehrwertsteuer) oder staatlich administrierter Verbraucherpreise im Speziellen. Für die Öffentlichkeit ist es jedoch schwierig, geldpolitische Preiseinflüsse von anderen Einflussfaktoren zu unterscheiden. Somit entsteht die Schwierigkeit, zu beurteilen, ob sich die Notenbank stabilitätsgerecht verhält. Zentralbanken mit direkten Inflationszielen stehen folglich vor dem Problem, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es sich bei Zielverfehlungen um solche handelt, die nicht in ihrem Verantwortungsbereich liegen. Und generell besteht ohne eine hinreichende Kenntnis der Inflationsdeterminanten die Gefahr, dass der Versuch einer direkten Zielsteuerung zu einer Fehlsteuerung führt. Eine Orientierung an einem direkten Inflationsziel ist mit einigen weiteren Nachteilen verbunden. So muss bei ihr im Prinzip der (aktuelle und zukünftige) Transmissionsprozess vom Einsatz der geldpolitischen Instrumente bis zur Preis- und Konjunkturentwicklung hinreichend bekannt sein, um eine vorausschauende Geldpolitik zu betreiben. Diese Annahme lag auch der Ableitung des Ergebnisses in Abschnitt III.2.2 zugrunde, dass es sowohl einals auch zweistufige Strategien gestatten, Preisstabilität zu erreichen. Konkret wurde dort unterstellt, dass die Zentralbank die gesamte Struktur der Volkswirtschaft vollständig kennt und alle Schocks rechtzeitig und richtig diagnostiziert. Dann wäre es in der Tat unnötig, sich ein Zwischenziel zu setzen oder auf eine herausgehobene Indikatorvariable zu vertrauen. Ein Kennzeichen des Transmissionsprozesses ist aber gerade, dass er nur unvollständig bekannt ist. Die Wirkungskanäle sind im Normalfall lang und variieren im Zeitablauf. Damit sind wir bei dem grundlegenden strategischen Problem einer an Preisstabilität orientierten Geldpolitik angelangt, der dauerhaften Stabilisierung der Inflationserwartungen auf dem Niveau des Inflationsziels. Bei einer Politik der direkten Inflationssteuerung kann die Öffentlichkeit an den veröffentlichten Inflationsprognosen ablesen, ob die Zentralbank mit ihrer Politik richtig liegt. Gerade diese Prognosen sind aber für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar, weil die Prognoseverfahren nur in rudimentärer Form veröffentlicht werden. Vor allem ist nicht klar, wie verschiedene der Prognose zugrunde liegende Annahmen (z. B. über die Konjunktur-, Wechselkurs- <?page no="168"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 169 und Lohnentwicklung) und Variablen zusammen wirken und welche Rolle subjektive Einschätzungen spielen. Diese fehlende Transparenz ist der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik nicht förderlich. Gerade bei längeren Zielverfehlungen und in unsicheren Krisenzeiten (wie seit der Lehman-Insolvenz 2008) kann dieses Problem evident werden. Letztlich läuft eine Strategie der direkten Inflationssteuerung auf eine Inflationserwartungssteuerung hinaus, ohne allerdings eine solide Basis für diese Erwartungsbildung zu liefern. Auch bietet sie außer der Festlegung des Endziels keine konkreten Anhaltspunkte für die Praxis der Geldpolitik. Unter Umständen führt eine alleinige Orientierung an diesem Konzept erst dann zu geldpolitischen Aktionen, wenn die Inflation tatsächlich angestiegen ist. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der unsicheren und variablen time-lags der Wirkung geldpolitischer Entscheidungen problematisch. Es ist letztlich nicht eindeutig geklärt, auf welche Weise die Notenbank mit einer derartigen Strategie ihr Inflationsziel erreichen will. Die bisherigen Erfahrungen der Länder mit einer Politik des „direct inflation targeting“ sind in einigen Fällen schon über 20 Jahre alt, in anderen dagegen erst kurzfristiger Natur. Gemessen an den Erfolgen bei der Bekämpfung von Inflation auf den Gütermärkten, der Verringerung der Schwankungen der Inflation und der Inflationspersistenz sowie der Eindämmung von Inflationserwartungen kann diese Strategie als erfolgreich eingestuft werden. Die gemachten Erfahrungen fallen allerdings größtenteils in eine Phase weltweit niedriger bzw. sinkender Inflationsraten. Für die Länder, die auf die Strategie direkter Inflationsziele übergingen, stand zur Verfolgung des Endziels Preisstabilität im Prinzip keine andere Alternative zur Verfügung. Sie muss primär als „aus der Not geboren“ denn als Anerkennung einer grundlegenden Überlegenheit betrachtet werden. Eine derartige Orientierung ist demnach eher als eine zweitbeste Lösung in den Fällen zu interpretieren, in denen eine verlässliche einzelne Variable als Indikator bzw. Zwischenziel nicht zur Verfügung steht. 2.4.3 Die Inflationsprognose der Zentralbank Von einigen Seiten wird angeführt, man könnte im Rahmen der Politik der direkten Inflationssteuerung die Inflationsprognose bzw. die Inflationserwartungen der Zentralbank als Zwischenziel verwenden. Dadurch wird noch einmal deutlich die Abhängigkeit der Geldpolitik von der Qualität der Inflationsprognose dokumentiert. Das Konzept wäre somit gar nicht als einstufige Strategie, sondern als implizite oder „verkappte“ Zwischenzielstrategie zu interpretieren. Das Verbindungsglied zwischen den geldpolitischen Aktionen und dem Endziel wären die Inflationserwartungen. Die Handlungsempfehlung an die Notenbank leitet sich dann aus dem Schema der Abb. III.2.7 ab. Die Inflationserwartungen wären nach den Verfechtern dieses Vorschlags sogar ein ideales Zwischenziel. 72 Erstens weisen sie eine hohe Korrelation mit der künftigen Inflationsentwicklung auf. Zweitens ist die eigene Inflationsprognose optimal kontrollier- 72 Protagonist und vehementester Befürworter dieser Sichtweise aus der Wissenschaft ist Lars Svensson, der inzwischen Mitglied des Zentralbankrats der Schwedischen Reichsbank ist, siehe z. B. Svensson (2011). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="169"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 170 bar. Um allerdings größeren Manipulationsmöglichkeiten von vorneherein einen Riegel vorzuschieben und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu unterliegen, sollten die Inflationsprognosen auf alle Fälle publiziert werden. Drittens ist dieses Zwischenziel aktuell verfügbar, da es nur von Informationen zum Entscheidungszeitpunkt abhängt. Und viertens seien die Schlussfolgerungen aus der Inflationserwartung sehr transparent, da je nach Prognose die Geldpolitik angepasst werden muss. Eine Prognose des künftigen Kurses der Geldpolitik würde dann darauf hinauslaufen, die zukünftige Preisentwicklung adäquat einzuschätzen. Diese Argumentation lässt jedoch zwei wichtige Gesichtspunkte außer Acht. So ist eine der Voraussetzungen für ein sinnvolles Zwischenziel ein stabiler Zusammenhang zur Endzielvariablen. Die in der Vergangenheit festgestellten statistischen Zusammenhänge können sich aber z. B. durch einen geldpolitischen Regimewechsel verändern. Die Prognosequalität einer Variablen hängt nämlich auch davon ab, ob eine Zentralbank sich an ihr orientiert oder nicht. Dies gilt vor allem für Größen, die stark von Inflationserwartungen oder Erwartungen über den zukünftigen Kurs der Geldpolitik bestimmt sind. Das ist insbesondere bei Finanzmarktpreisen wie Zinsen, der Zinsstruktur oder den Preisen von Derivaten der Fall. Stellen wir uns z. B. vor, eine Zentralbank basiert ihre Inflationsprognose vor allem auf derartige Größen und ihr gelingt eine Stabilisierung der Inflationserwartungen auf dem angestrebten Zielniveau. Ist dies der Fall, liefern die Größen, in der die Inflationserwartungen enthalten sind, keine sinnvollen Informationen über die Inflationsperspektiven. Da in den Augen der Marktteilnehmer keine Inflationserwartungen bestehen, haben sie auch keinen Anreiz, sich über die Inflationsperspektiven nähere Gedanken zu machen. Darüber hinaus kann es zu instabilen Rückkopplungen vom Instrumenteneinsatz zum Inflationsindikator und sich selbst erfüllenden Inflationserwartungen kommen. Nehmen wir dafür an, die Zentralbank richtet ihre Inflationsprognose wegen der guten Indikatoreigenschaften an einem langfristigen Zins aus. Ein steigender Langfristzins soll dabei wegen der darin enthaltenden Inflationserwartungen eine Erhöhung der Notenbankzinsen nach sich ziehen und umgekehrt. Zusätzlich gehen wir von einem positiven Zusammenhang zwischen den (erwarteten) künftigen kurzfristigen Zinsen und dem Langfristzins aus, wie er bei einer normalen Zinsstruktur von der Erwartungs- Abb. III.2.7: Inflationsprognose und Inflationssteuerung Vergleich Instrumenteneinsatz, z. B. Offenmarktpolitik Operative Ziele, z. B. Tagesgeldsatz Inflationsprognose/ Inflationserwartungen Inflationsziel Quelle: eigene Darstellung. <?page no="170"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 171 theorie prognostiziert wird (siehe Box III.2.6). Kommt es in einer derartigen Situation zu einem Rückgang des Zinses am langen Ende, werden daraus verbesserte Preisperspektiven abgeleitet und dem entsprechend die Notenbankzinsen gesenkt. Dadurch gehen auch die kurzfristigen Marktzinsen zurück und über die zinsstrukturtheoretischen Zusammenhänge nochmals die Zinsen am langen Ende. Der Prozess wird erneut angestoßen, ohne Garantie, dass ein neues Gleichgewicht erreicht wird. Dieser Argumentation folgend, sollte eine Zentralbank die Inflationsindikatoren sorgfältig auswählen und deren Entwicklung eingehend analysieren. „Inflationserwartungslastige“ Variablen, die entscheidend vom Kurs der Geldpolitik abhängen, sollten eher eine untergeordnete Rolle spielen. Gerade diese Finanzmarktgrößen sind aber attraktive Variablen, da sie präzise und schnell verfügbar sind. Auch bei Größen wie dem Output Gap, der die konjunkturelle Lage abbilden soll, ist allerdings Vorsicht angebracht. Dessen Abschätzung ist mit mehr oder weniger großen Messfehlern verbunden, da er nicht direkt beobachtbar ist. Ein bei der Propagierung der Inflationserwartungen als Zwischenziel verharmlostes Problem ist die im Extremfall perfekte Kontrolle der eigenen Inflationsprognose. Kommt es zu einem unerwarteten Anstieg der Inflationsrate, ist entscheidend, ob über die eigene Inflationsprognose und die daraus abgeleitete Handlungsempfehlung ein nennenswerter Einfluss auf die Inflationserwartungen der Öffentlichkeit ausgeübt werden kann. Weist eine Zentralbank eine hohe Glaubwürdigkeit und erfolgreiche Vergangenheit auf, kann man davon ohne weiteres ausgehen. Ansonsten muss ein „Reputationsgleichgewicht“ erst (wieder) aufgebaut werden. Und die Marktteilnehmer sind davon zu überzeugen, dass die Zentralbank gewillt und in der Lage ist, die Inflationsgefahren in den Griffzu bekommen. Ein stabilitätsgerechtes Statut ist hier sicherlich hilfreich. Andererseits muss durch entsprechende Maßnahmen aber auch die Ernsthaftigkeit der Absichten signalisiert werden. Dies kann unter Umständen zu einer stark restriktiven Ausrichtung der Geldpolitik führen. Man spricht von einer sog. „Stabilisierungsrezession“. Die fehlende Glaubwürdigkeit führt dann dazu, dass niedrigere Inflationsraten langsamer und nur unter Inkaufnahme hoher Outputverluste erreicht werden. Geht die Zentralbank irrtümlicherweise davon aus, sie verfüge über eine hinreichend hohe Glaubwürdigkeit, kann sogar eine falsche Zinspolitik mit weiteren negativen Rückwirkungen auf die Konjunktur- und Preisentwicklung resultieren. 2.5 Das Federal Reserve System: Multi-Indikatoren-Ansatz cum Inflationsziel Die USA waren wegen Instabilitäten im Geldnachfrageverhalten Anfang der 90er Jahre gezwungen, sich nach einem neuen geldpolitischen Konzept umzuschauen. Verantwortlich dafür zeigten sich der Innovationsprozess an den Finanzmärkten, der fortschreitende Disintermediationsprozess und - damit zusammenhängend - Verhaltensänderungen der privaten Anleger. So ging die amerikanische Wirtschaft z. B. zunehmend dazu über, ihre Investitionen nicht über den Banken- und Sparkassensektor, sondern direkt an den Finanzmärkten über Aktien und Anleihen zu finanzieren. Die Papiere wurden verstärkt OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="171"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 172 von Nichtbanken (Investmentfonds, Versicherungen, Pensionsfonds, Kleinanleger) erworben. Mit diesem Disintermediations- und Verbriefungsprozess ging zwangsläufig ein Rückgang der Nachfrage nach Bankeinlagen einher. Man sprach vom „missing money“. Abb. III.2.8 stellt diese Tatsache dar und veranschaulicht darüber hinaus, dass der Zusammenhang zwischen der Geldnachfrage und den Zinsen in den 1990er Jahren zusammenbrach. 73 Die vielfältig vorgenommenen Umdefinitionen der Geldmengen (Anderson / Kavajecz, 1994; Kavajecz, 1994) haben auf lange Sicht wenig Wirkung gezeitigt. Die gesamtwirtschaftlich kaufkraftrelevante Liquidität ließ sich damit nicht angemessen abbilden. Oder anders formuliert: Der „richtige“ Geldbegriffwird durch die oben beschriebenen Entwicklungen immer „undeutlicher“. Dies ist auch nicht überraschend: Wenn der Finanzsektor zu Instabilitäten neigt, so wirkt sich dies über kurz oder lang auf alle finanziellen Größen aus. Der nötige geldpolitische Umorientierungsprozess wird durch das rigide Festhalten an einem überkommenen Konzept nur hinausgezögert. Abb. III.2.8: USA: Umlaufsgeschwindigkeit von M2 und Opportunitätskosten (in %) 1,5 1,6 1,7 1,8 1,9 2,0 2,1 2,2 2,3 0 2 4 6 8 10 12 14 16 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 Umlaufsgeschwindigkeit (linke Skala) 3-Monatssatz (rechte Skala) Quelle: Federal Reserve System. Zunächst verwendete das Fed einen sog. Multi-Indikatoren-Ansatz ohne explizites Zwischenziel, in welchem realen Variablen eine herausragende Rolle zukam. Unter den realen Variablen wurde vor allem den (kurzfristigen) Realzinsen und der (realen) Zins- 73 Vor allem seit Beginn des 21. Jahrhunderts scheinen die zuvor festgestellten positiven Zusammenhänge allerdings wieder zu gelten. <?page no="172"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 173 struktur Beachtung geschenkt. Sie erreichten jedoch nicht die Rolle eines offiziellen Zwischenziels. Diese beiden Variablen wurden eingebettet in ein Multi-Indikatoren- System zur Prognose der Inflationsentwicklung, d. h. alle verfügbaren Informationen wurden herangezogen („looking at everything“). Bernanke et al. (1999) bezeichneten diesen Ansatz als eine „just do it strategy“. Einen offiziellen Übergang auf eine Strategie der direkten Inflationssteuerung wollte das Federal Reserve System (Fed) bewusst nicht vollziehen. Als entscheidendes Argument betrachtete das Federal Open Market Committee, das zentrale Entscheidungsorgan des Fed, in einer Stellungnahme 1995, dass „close adherence to inflation targets could unduly constrain the Federal Reserve in its efforts to counteract the effects of cyclical shortfalls in the performance of the economy“. Diese Beurteilung ist auch vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass dem Federal Reserve System mehrere Endziele vorgegeben sind. So soll das Fed neben Preisstabilität auch Vollbeschäftigung und das langfristige Zinsniveau im Auge behalten. Im Federal Reserve Act heißt es dazu in Abschnitt 2A.1: „The Board of Governors of the Federal Reserve System and the Federal Open Market Committee shall maintain long run growth of the monetary and credit aggregates commensurate with the country’s long run potential to increase production, so as to promote effectively the goals of maximum employment, stable prices and moderate long-term interest rates.“ Man spricht von einem dualen (oder sogar trialen) Mandat. Dabei sind die Ziele gleich gewichtet, sie stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis (wie z. B. im Eurosystem mit dem primären Ziel Preisstabilität). In den letzten Jahren vollzog das Fed innerhalb dieses Ansatzes eine Annäherung an die Politik der Inflationssteuerung. Offizielle Vertreter des Fed sprechen von „flexible inflation targeting“, da es ein langfristiges Inflationsziel mit kurzfristigen stabilisierungspolitischen Erfordernissen (im Sinne des dualen Mandats) verbindet. So setzt sich das Fed seit 2012 ein explizites Inflationsziel von 2 % für den Preisindex der privaten Konsumausgaben. Der Wert von 2 % soll dabei konsistent mit dem dualen Mandat sein bzw. mit einer auf Dauer tragbaren Arbeitslosigkeit verbunden sein. Während die Inflationsrate allerdings langfristig von einer Zentralbank kontrolliert werden kann, ist dies bei der Arbeitslosigkeit aber nicht der Fall, weil es theoretisch und empirisch keinen langfristig stabilen Zusammenhang zwischen Inflations- und Arbeitslosenrate gibt. Zur Stabilisierung der Inflationserwartungen soll das Inflationsziel prinzipiell im Zeitablauf konstant sein, außer technische Gründe sprechen für eine Änderung (z. B. neue Methoden der Inflationsmessung). Zusätzlich veröffentlicht das Fed eine sog. „Summary of Economic Projections“ (zusammen mit Sitzungsprotokollen des FOMC). Dabei handelt es sich um zusammenfassende kurz- und langfristige Prognosen für das reale BIP, die Arbeitslosigkeit und die Inflationsrate. Die längerfristigen Projektionen beziehen sich auf Werte, zu denen die Volkswirtschaft bei fehlenden Schocks und einer angemessenen Geldpolitik konvergiert. Sie können als Abschätzungen des Potenzialwachstums, der längerfristig tragbaren Arbeitslosenquote und der mandatskonsistenten Inflationsrate aufgefasst werden. 74 74 So betonte das Fed z. B. immer wieder, dass es seine Politik des „Quantitative Easing“ solange beibehalten will, wie die Arbeitslosenquote über 6,5 % liegt. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="173"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 174 Für das Eurosystem ist dieser Ansatz deshalb von Interesse, weil es sich bei den USA im Vergleich zum Euro-Raum von der Größe und Wirtschaftskraft um einen ähnlichen Wirtschaftsraum handelt. Zudem war das Fed mit dieser Ausrichtung zunächst relativ erfolgreich: Die Inflationsrate auf den Gütermärkten sank und konnte auch während der Boomphasen der amerikanischen Wirtschaft auf einem relativ niedrigen Niveau stabilisiert werden. Dem Fed gelang es, die teilweise Intransparenz des Ansatzes durch eine hohe erfolgsbedingte Glaubwürdigkeit und fallweise Ergänzungen mehr als zu kompensieren. Durch den Erfolg bei der Inflationsbekämpfung hatte das Fed auch Spielraum, ihre weiteren Ziele, z. B. konjunktureller Natur, zu verfolgen. Ein derartiges Konzept birgt jedoch auch eindeutige Nachteile in sich. Zunächst einmal ist inzwischen fast allen Zentralbanken, speziell denjenigen in der EU, eindeutig ein Endziel, die Gewährung von Preisstabilität vorgegeben. Weitere Ziele sollen in der Regel nur verfolgt werden, soweit das primäre Ziel dadurch nicht gefährdet ist. Ein weiteres Problem dieser Strategie ist das Fehlen einer expliziten nominalen Orientierungsgröße für die Inflationserwartungen. Deshalb kann es sein, dass z. B. die Inflationserwartungen zu sensitiv auf exogene Preisschocks (z. B. durch importierte Inflation, übermäßige Lohnsteigerungen, Assetpreisbewegungen) reagieren. Und aufgrund vielfältiger Unsicherheiten und der Tendenz, eher zu vorsichtig zu agieren, reagiert dann die Geldpolitik zu langsam und mit zu kleinen Zinsschritten darauf. Die nur implizit bestehende Rückkopplung in diesem Strategieansatz ist zudem nicht eindeutig, da das Fed eben neben der Preisstabilität noch gleichberechtigt andere Ziele verfolgt. Auch ist mit ihr ein Element der Intransparenz verbunden. Die Marktteilnehmer sind ständig gezwungen, darüber zu rätseln, an welchen Größen sich die Notenbank denn nun orientiert. Dies gilt sowohl für die Indikatorals auch die Endzielebene. Verstärkte Unsicherheit und unnötige Volatilitäten auf den Finanzmärkten sind die Folge. Der Erfolg der Strategie hängt damit stark von glaubwürdigen offiziellen Stellungnahmen zur Geldpolitik ab. 2.6 Die geldpolitische Strategie des Eurosystems 2.6.1 Die Ausgangslage Ende 1998 hat die EZB die geldpolitische Strategie des Eurosystems bekannt gegeben und im Jahr 2003 einer grundlegenden Überprüfung unterzogen. Sie versucht damit, den spezifischen Gegebenheiten in der EWU Rechnung zu tragen. Das Eurosystem steht immer noch vor dem Problem einer unsicheren Datenbasis, auf die es seine Analysen stützen muss. Eine Vielzahl von EWU-Daten wird erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung veröffentlicht und unterliegt nicht selten mehreren Revisionen (z. B. Daten zur gesamtwirtschaftlichen Produktion). Manche geldpolitisch relevanten Daten gibt es auf EWU-Ebene noch gar nicht (z. B. eine monatliche Beschäftigungsstatistik), für andere ist keine lange Historie auf konsistenter Basis verfügbar (z. B. der Index der Auftragseingänge, Immobilienpreise oder die Nettoauslandsforderungen der MFI‘s). Zudem markierte der Regimewechsel hin zu einer einheitlichen <?page no="174"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 175 Geldpolitik mit dem Jahr 1999 einen Bruch in den Zeitreihen. Auch die Aufnahme neuer Länder in die EWU stellt einen weiteren Unsicherheitsbereich in den Daten dar. Die Währungsunion besteht inzwischen (Stand 2013) aus 17 Ländern. Am 1. 1. 2014 wird Lettland als 18. Land in die EWU aufgenommen. Trotz der offiziellen Erfüllung der Konvergenzkriterien weisen die EWU-Länder noch beträchtliche Unterschiede in der Realwirtschaft und im Finanzsystem auf. Dies kann zur Folge haben, dass je nach Land differenzierte geldpolitische Impulse notwendig sind und diese Impulse dann auch national unterschiedliche Auswirkungen haben. Eine einheitliche Geldpolitik kann sich jedoch nur um die Situation im gesamten Währungsgebiet kümmern. Allein der Regimewechsel hin zu einer einheitlichen Geldpolitik kann in den teilnehmenden Ländern zu Verhaltensänderungen führen (z. B. Änderungen der Geldhaltungsgewohnheiten), die sich erst im Laufe der Zeit in den Daten niederschlagen. Dies kann auch zur Folge haben, dass in der Vergangenheit festgestellte Zusammenhänge in der Zukunft nicht mehr gelten. Insgesamt ist durch die Währungsunion sicherlich der geldpolitisch relevante Unsicherheitsbereich angestiegen. Er reicht von der unsicheren Datenbasis über die Beurteilung von Verhaltensänderungen und den Entwicklungen auf den internationalen Finanzmärkten bis zu den schwer abschätzbaren Wirkungen der geldpolitischen Maßnahmen insgesamt und auf einzelne Länder. Auch Krisenphasen (Subprime-, Finanz-, Wirtschafts-, Staatsschuldenkrise) haben in Umfang und Häufigkeit deutlich zugenommen. Die EZB bewegt sich dementsprechend in unruhigerem Fahrwasser als die nationalen Zentralbanken vor Eintritt in die EWU. Je nach Art der Unsicherheit kann dies eine vorsichtigere (als Regelfall), aber auch eine aggressivere Geldpolitik (bei extremen Schocks, wie z. B. die weltweite Wirtschaftskrise 2009) angezeigt erscheinen lassen. Zusätzlich wird diese Unsicherheit überlagert von der (neuen) Dynamik des Wirtschaftsprozesses durch Globalisierung und Internationalisierung. Im Großen und Ganzen ist also das Umfeld der Geldpolitik schwieriger geworden als in der Vergangenheit auf nationaler Ebene. Vor diesem Hintergrund kommt der sorgfältigen Auswahl der geldpolitischen Strategie eine entscheidende Bedeutung zu. Sie soll ja gerade den geldpolitischen Entscheidungsträgern und den Marktteilnehmern über die Regelbindung Orientierungshilfe bieten. Dafür muss sie der Situation in der EWU angemessen sein. Aber die neue Situation erfordert auch ein gewisses Maß an Flexibilität, damit neue Erkenntnisse vereinbar mit der Strategie sind. Es wäre fatal, wenn die Strategie häufig angepasst, gewechselt oder sogar aufgegeben werden müsste. Robustheit unter einer Vielzahl von Umweltzuständen sollte deshalb ein wichtiges Ziel sein. 2.6.2 Generelle Adäquanz der Strategien Wie sind nun die beschriebenen geldpolitischen Strategien im Hinblick auf die Situation in der Währungsunion zu beurteilen? Ein Wechselkursziel kann keine sinnvolle Orientierung darstellen, da es in Anbetracht der Größe des Euro-Raumes zu Problemen mit dem internen Ziel der Preisstabilität kommen würde. Zudem wäre überhaupt nach der Währung zu fragen, an die man den € binden sollte. Auch Zinsen (egal in welcher Abgrenzung) als offiziell he- OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="175"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 176 rausgehobene Orientierungsgrößen sind ungeeignet, weil es schwierig ist, den Zins zu bestimmen, der mit Preisstabilität vereinbar ist. Eine nominale BIP-Steuerung scheidet dagegen allein schon wegen der fehlenden praktischen Erfahrung und den Datenproblemen aus. Und dem Multi-Indikatoren-Ansatz, auch ergänzt um das Inflationsziel, fehlt ein expliziter nominaler „Anker“ für die Inflationserwartungen und damit die nötige Transparenz, die gerade für das Eurosystem äußerst wichtig ist. Somit verbleiben nur noch die Geldmengenstrategie und eine Politik direkter Inflationsziele übrig. Nach eingehender Analyse der möglichen Alternativen kam auch das Europäische Währungsinstitut 1998 zu dem Schluss, dass sinnvollerweise nur diese zwei Strategiemöglichkeiten für das Eurosystem in Frage kommen. In der praktischen Anwendung liegt der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Strategien in der Transparenz, im notwendigen Informationsstand der Zentralbank über die Struktur der Volkswirtschaft und in der Rolle der Geldmengenaggregate. Bei einer Geldmengenstrategie orientiert sich eine Notenbank zur Gewährleistung von Preisstabilität primär an Abweichungen zwischen der Wachstumsrate der Geldmenge und dem Geldmengenziel. Diese Differenz setzt sich nach (31) bzw. (33) wie folgt zusammen (37) ( ˆ M - ˆ M Ziel ) = (π - π Ziel ) + ( ˆ Y - ˆ Y *) + ( ˆ V * - ˆ V ) Bei rationalen Erwartungen orientiert sich eine Notenbank im Falle eines direkten Inflationsziels letztlich am Unterschied zwischen π und π Ziel . Eine Geldmengenstrategie dagegen berücksichtigt zusätzlich noch die Informationen, die sie aus der Liquiditätslücke ( ˆ V * - ˆ V ) und der Differenz zwischen aktuellem und potenziellem BIP-Wachstum ( ˆ Y - ˆ Y *) ziehen kann. Damit wird deutlich, dass die Strategie eines direkten Inflationsziels und auch die Steuerung des nominalen BIP theoretisch Spezialfälle der Geldmengenorientierung sind. Je nach gesamtwirtschaftlichem Umfeld kann die Notenbank dabei die einzelnen Abweichungen unterschiedlich stark gewichten. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Flexibilitätsvorteil. Die Inflationssteuerung passt zu einer Situation, bei der die monetären Beziehungen, die sich in der Umlaufsgeschwindigkeit niederschlagen, instabil geworden sind und zusätzlich auch von der Veränderung des Output-Gap keine verlässlichen Inflationssignale mehr ausgehen. Solange jedoch die Geldnachfrage stabil ist, ist die Verwendung eines Geldmengenziels die erstbeste Lösung. Sie berücksichtigt neben der Inflationslücke auch noch das Wachstum der Outputlücke und die Liquiditätslücke. 75 Zudem lässt sich bei einer Inflationssteuerung nur sehr langfristig überprüfen, ob sich die Notenbank stabilitätsgerecht verhält, da sich geldpolitische Maßnahmen nur mit großer und unsicherer Zeitverzögerung auf die Preisentwicklung auswirken. Darüber hinaus dürften in der Währungsunion die (Inflations-)Erwartungslastigkeit des Ansatzes in Kombination mit dem deutlichen diskretionären Spielraum und der notwendige Informationsstand über den (noch weniger als auf nationaler Ebene bekannten) Transmissionsprozess Probleme für die praktische Geldpolitik bereiten. 75 Bei einer flexiblen Inflationssteuerung (siehe III.2.5) würde die Outputlücke ebenfalls Beachtung finden. <?page no="176"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 177 Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen in Deutschland, der Anforderungen an geldpolitische Strategien und der Situation in der Währungsunion ist dem Eurosystem eine Geldmengenorientierung zu empfehlen. Damit wäre bei konsequenter Anwendung auch eine automatische Langfristorientierung verbunden, da sich das Konzept auf Trendbzw. Normwerte stützt. Allerdings muss als empirische Voraussetzung die langfristige Stabilität eines EWU-weiten Geldmengenaggregates gegeben sein. Die bisherigen Studien dazu (siehe Tabelle III.2.4) beziehen sich jedoch notwendigerweise auf einen Zeitraum, während dessen größtenteils die Währungsunion gerade nicht existent war. Sie müssen dementsprechend vor 1999 mit „künstlich generierten“ Euro- Daten arbeiten. Das Umfeld und die Qualität des statistischen Datenmaterials sind in der EWU mit großen Unsicherheiten behaftet. Dazu kommt noch die Modell- und Parametersowie eine geldpolitisch verursachte Unsicherheit. Des Weiteren können größere Schwankungen in der Geldmengenentwicklung und längere nicht zielkonforme Verläufe (siehe z. B. die Situation in den Jahren 2005 - 2007 im Vorfeld der weltweiten Finanzkrise) nicht ausgeschlossen werden. Darüber hinaus sind die Finanzmarktstrukturen in den einzelnen Teilnehmerländern noch recht unterschiedlich. Und schließlich sind auch die generellen Entwicklungen auf den Finanzmärkten mit ihren Rückwirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Liquiditätssituation zu berücksichtigen. Von daher können kurzfristige Instabilitäten im Geldnachfrageverhalten nicht ausgeschlossen werden. Diese Probleme lassen es als wünschenswert erscheinen, die Geldmengenstrategie mit Elementen der direkten Inflationssteuerung zu kombinieren. Konkret bedeutet dies, die Geldmengenorientierung im Sinne einer Mischstrategie um eine umfassende Inflationsprognose, in die alle inflationsrelevanten Indikatoren (zusätzlich zur Geldmengenentwicklung z. B. der Output Gap, die Entwicklung der Lohnstückkosten und des Außenwerts des €) eingehen, zu ergänzen. Diese Inflationsprognose sollte veröffentlicht und konkret an einer Zahl oder einer Spannbreite festgemacht werden. Die Rate sollte sich auf den Verbraucherpreisindex beziehen, da damit die Öffentlichkeit am besten vertraut ist. Insgesamt würde damit deutlich dokumentiert, dass die Geldmengenentwicklung als primäre mittelfristige Orientierungsgröße zur Erreichung des Endziels Preisstabilität dient. Nur bei eindeutigen Hinweisen auf Verzerrungen im Geldmengenwachstum sollte die Geldmengenorientierung zugunsten der umfassenden Inflationsprognose zurückgestellt werden. Dadurch könnten dann auch Konflikte mit den nationalen Lohn- und Fiskalpolitiken bei einer reinen Inflationssteuerung eher vermieden werden. Die Mischung zwischen Elementen einer Geldmengenstrategie und der Strategie einer direkten Inflationssteuerung wurde auch vom Eurosystem eingeschlagen. Allerdings nicht mit der beschriebenen hierarchischen Struktur. Auf den Sitzungen des EZB-Rates im Oktober und Dezember 1998 wurden die Bausteine konkretisiert und im Rahmen einer Überprüfung im Jahr 2003 in den Grundzügen bestätigt, wenn auch in einigen Punkten verändert. Die Strategie umfasst drei Hauptelemente, die im Folgenden ausführlich beschrieben werden: 1. Eine quantitative Definition von Preisstabilität („der Anker“). 2. Die Monetäre Analyse und der Referenzwert für M3 („Monetäre oder langfristige Säule“). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="177"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 178 3. Eine umfassende Beurteilung der Preisperspektiven („Wirtschaftliche oder kurzfristige Säule“). 2.6.3 Der „Anker“: Preisstabilität Nach dem EU-Vertrag ist dem Eurosystem als primäres Ziel die Gewährleistung von Preisstabilität vorgegeben. Um dieses Ziel inhaltlich zu konkretisieren, definiert das Eurosystem Preisstabilität als einen Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) in der EWU von unter, aber nahe 2 % gegenüber dem Vorjahr. 76 Preisstabilität soll dabei mittelfristig erreicht bzw. eingehalten werden. Temporäre Verfehlungen (z. B. aufgrund von Ölpreis- oder Wechselkursschocks) sind also durchaus vereinbar mit dem Ziel. Die Definition des Eurosystems bezieht sich auf den allgemeinen Verbraucherpreisindex, die sog. „Headline Inflation“. Es werden nicht bestimmte Teile zur Berechnung einer Kerninflationsrate („Core Inflation“, „Underlying Inflation“) herausgerechnet (siehe dazu Box III.2.9). Box III.2.9: Core Inflation und Headline Inflation Die Analyse und Beurteilung der Preisperspektiven ist für eine Zentralbank wie die EZB, die als Hauptaufgabe die Gewährleistung von Preisstabilität hat, von zentraler Bedeutung. Üblicherweise konzentrieren sich dabei die Zentralbanken auf die Preisentwicklung auf der Verbraucherstufe. Auf EWU-Ebene wird diese durch den Harmonisierten Verbraucherpreisindex gemessen. Die Rate, die sich auf die Entwicklung des Index in seiner Gesamtheit bezieht, bezeichnet man als „Headline Inflation“. Die Interpretation der Daten zur Teuerung wird dadurch erschwert, dass sie eine hohe Volatilität aufweisen (z. B. verursacht durch saisonale Schwankungen, irreguläre Witterungsverhältnisse, Ölpreisschocks, administrierte Preise, indirekte Steuern usw.). Diese kurzfristigen Schwankungen stehen nicht im Zusammenhang mit dem grundlegenden Inflationsprozess und eine vorausschauende und mittelfristig orientierte Geldpolitik sollte sich von ihnen nicht beirren lassen. Vielmehr muss sie ihr Augenmerk auf den generellen Preistrend richten. Entsprechend wird ein Preisindikator benötigt, der diesen Preistrend anzeigt, also möglichst wenig durch temporäre Schocks beeinträchtigt ist. Für diese Größe hat sich der Begriff Kerninflation („Core Inflation“) eingebürgert (zu einer Analyse für das Eurowährungsgebiet siehe EZB, 2001d und Vega / Wynne, 2003). Es existiert jedoch keine konkrete und allgemein akzeptierte theoretische Definition der Kerninflation. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Kerninflationsraten zu bestimmen (Deutsche Bundesbank, 2000a). Entweder man rechnet bestimmte volatile Komponenten (z. B. Energiepreise) aus dem gesamten Preisindex heraus oder man versucht, die Rate statistisch-ökonometrisch zu schätzen. Die Trennung (ex-ante) zwischen temporären und permanenten Einflüssen ist allerdings nicht immer einfach. Es ist zudem zu berücksichtigen, dass die 76 Die Klarstellung „nahe 2 %“ wurde erst durch die Überprüfung der Strategie im Jahr 2003 eingefügt. <?page no="178"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 179 Verbraucher sich an der gesamten für sie relevanten Inflation orientieren, da sie ihre Lebenshaltungskosten widerspiegelt. Folglich dürfte diese auch in die Inflationserwartungen der Öffentlichkeit eingehen. So können sich auch vorübergehende Teuerungsimpulse verfestigen, wenn sie z. B. über eine Änderung der Preiserwartungen oder durch Forderung eines vollständigen Inflationsausgleichs in Lohnverhandlungen den Preistrend beeinflussen. Divergenzen zwischen Kernrate und gemessener allgemeiner Inflationsrate können deshalb zu Glaubwürdigkeitsverlusten der Zentralbank führen. Dies ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn sich die Geldpolitik auf eine im Durchschnitt zu niedrige Kernrate konzentriert. Insgesamt ist es deshalb nicht ratsam, Kerninflationsraten als alleinige geldpolitische Indikatoren zu verwenden. Sie sollten eher komplementär zur traditionellen Preisanalyse herangezogen werden. In Abb. III.2.9 wird der Verbraucherpreisindex einer Variante der Kerninflation gegenübergestellt. Man erkennt, dass die Kernrate bis auf das Jahr 2009 (weltweite Wirtschaftskrise) wegen deutlicher Preissteigerungen bei Energie und Nahrungsmittel tendenziell unter der Headline Inflation lag. Abb. III.2.9: Headline Inflation und Kerninflation (in %) -1 0 1 2 3 4 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 Kerninflation VPI Quelle: EZB. Anmerkungen: VPI: Verbraucherpreisindex; Kerninflation gemessen als HVPI ohne Energie und Nahrungsmittel. Nach der Definition der EZB fungiert nicht eine gemessene Inflationsrate von Null, sondern eine solche von knapp unter 2 % als Zielgröße. Alleine Messfehler bei der Preisentwicklung legen es nahe, nicht eine Inflationsrate von Null anzustreben (siehe Box III.2.10). Je geringer der Preisanstieg ist, desto mehr fallen diese statistischen Messpro- OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="179"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 180 bleme ins Gewicht. Da sich im Euro-Währungsgebiet die Inflationsraten seit 1999 auf relativ niedrigem Niveau befinden, ist eine Auseinandersetzung mit den Erfassungs- und Messproblemen unverzichtbar. Zusätzlich trägt die Sicherheitsmarge von knapp unter 2 % dem Deflationsrisiko und den Auswirkungen von Inflationsunterschieden innerhalb der EWU Rechnung. Letztere stellen dann ein Problem dar, wenn aufgrund höherer Inflationsraten in einigen Ländern andere Länder niedrigere Raten aufweisen müssen, damit im Durchschnitt das Stabilitätsziel erreicht wird. Wird Preisstabilität zu ehrgeizig definiert, können sich in einzelnen Ländern Deflationsgefahren manifestieren (siehe dazu auch Box III.2.11). Das eigentliche ökonomische Kriterium für Preisstabilität muss sein, dass Inflation nicht in das Entscheidungskalkül der Wirtschaftssubjekte eingeht. Box III.2.10: Probleme der Inflationsmessung Inflation bezeichnet ein gesamtwirtschaftliches Phänomen, bei dem sich die Preise von Gütern über die Zeit hinweg erhöhen beziehungsweise die allgemeine Kaufkraft des Geldes sinkt. Mit dieser generellen Vorstellung von Inflation als Prozess der allgemeinen Preissteigerung ist aber noch nicht geklärt, wie diese zu messen ist. Geht man davon aus, dass die private Bedürfnisbefriedigung der Endzweck des Wirtschaftens ist, so gelangt man relativ schnell zum Verbraucherpreisindex. Dieser wird für Deutschland vom Statistischen Bundesamt ermittelt und gibt an, wie sich die Ausgabensumme für einen repräsentativen „Warenkorb“ im Zeitverlauf ändert (intertemporale Preismessung). Da hierbei die Verbrauchsmengen über einen bestimmten Zeitraum konstant gehalten werden, zeigt ein solcher Index die reine Preisveränderung. Der Warenkorb repräsentiert die von den privaten Haushalten für Konsumzwecke nachgefragten Güter (Waren und Dienstleistungen). Statistisch wird seine Zusammensetzung mithilfe amtlicher Haushaltsbefragungen auf freiwilliger Basis ermittelt. So wird die - rund 60.000 Haushalte aus praktisch allen sozialen Schichten umfassende - Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) im fünfjährigen Turnus durchgeführt (letztmals im Jahre 2013). Sie liefert statistische Informationen über die Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte, deren Ausstattung mit Gebrauchsgütern sowie ihre Wohnverhältnisse. Diese Erhebung wird ergänzt durch die jährlich stattfindenden Laufenden Wirtschaftsrechnungen, die als Unterstichprobe der EVS konzipiert ist und auf Ergebnissen für etwa 8.000 Haushalte beruht. Von diesen Quellen ausgehend gelangt man zum Verbraucherpreisindex, indem die durchschnittliche Preisentwicklung für jede ausgewählte Güterart jeweils mit deren Anteil an den gesamten Ausgaben für diesen Warenkorb im Basisjahr (zurzeit 2010) gewichtet wird. Als Messkonzept dient also ein sogenannter Laspeyres-Preisindex. Die prozentuale Veränderung seiner monatlichen Angaben gegenüber dem Vorjahresmonat wird üblicherweise als Inflationsrate bezeichnet. Für die Inflationsmessung in der EU berechnet das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) den Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) als gewichteten Durchschnitt der Länderangaben. Die dabei anzuwendenden Methoden sind in einem europäischen Verordnungsrahmen definiert und rechtlich bindend. Gegenüber den nationalen Verbraucherpreisindizes gibt es wichtige konzeptionelle Unterschiede. So wird etwa der Warenkorb für den deutschen Verbraucherpreisindex in der Regel alle fünf <?page no="180"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 181 Jahre neu festgelegt. Demgegenüber wird der HVPI alle zwölf Monate an neue Ausgabenstrukturen angepasst. Damit wird der früher geäußerten Kritik am langen Festhalten an einem Warenkorb als mögliche Fehlerquelle bei der Inflationsmessung begegnet. Durch die jährlichen Wechsel der Gewichtungsschemata leidet allerdings die Konsistenz des Preisvergleichs. Im HVPI werden nicht alle Ausgaben der privaten Haushalte abgedeckt. So sind zwar Angaben zu Mieten enthalten, nicht aber die Aufwendungen für selbst genutztes Wohneigentum, was eine wesentliche Datenlücke und das derzeit größte und meist diskutierte Problem im HVPI darstellt. Im deutschen VPI werden hierfür unterstellte Mieten angesetzt. Für den HVPI soll bei Wohneigentum - wie bei anderen dauerhaften Konsumgütern - das sogenannte Nettoerwerbskonzept („net acquisition approach“) verwendet werden. Dazu wird auf die Ausgaben für den Erwerb von neuen Wohnimmobilien sowie für die Instandhaltung und Versicherung der bestehenden Wohnungen und Häuser abgestellt. Die ausgeprägte Heterogenität des Wohneigentums führt zu besonderen Problemen bei der Messung der reinen Preisänderung. Denn jedes Gebäude ist streng genommen und ökonomisch betrachtet ein einzigartiges Güterbündel, dessen Preis sich aus vielen Komponenten - wie der Lage, der Ausstattung, dem Alter und der Größe - zusammensetzt. Da nur selten dieselben Immobilien in aufeinanderfolgenden Perioden gehandelt werden, gilt es die am Markt verkauften Objekte im Hinblick auf ihre preisbestimmenden Faktoren vergleichbar zu machen. Aussagekräftige Preisvergleiche zwischen verschiedenen Wohnungen und Häusern sind jedoch nur möglich, wenn deren unterschiedliche Qualitäten herausgerechnet werden. Dies geschieht üblicherweise mit „hedonischen“ Methoden. Diese ermitteln mithilfe der Regressionsanalyse den Einfluss von Produktmerkmalen auf den Verkaufspreis. Dadurch lassen sich Preisänderungen, die auf qualitativen Veränderungen bestimmter Eigenschaften beruhen, von den eigentlich zu messenden reinen Preisänderungen trennen und eliminieren. Diese Methode kommt beispielsweise auch bei der Aufbereitung der Verbraucherpreise für Computer und Gebrauchtwagen zum Einsatz. Damit wird der früheren Kritik an der unzureichenden Erfassung von Qualitätsverbesserungen Rechnung getragen. Laut der aktuellen EU-Verordnung sollen ab dem zweiten Quartal 2014 regelmäßig Preisindizes für selbst genutztes Wohneigentum erstellt werden. Box erstellt von Elena Triebskorn (Deutsche Bundesbank). Die konkrete Formulierung des Ziels durch das Eurosystems hat drei weitere wichtige Implikationen: Erstens ist die Preisentwicklung im gesamten Euro-Raum relevant, nicht in einzelnen Ländern. Nach dem Balassa-Samuelson-Effekt (siehe Box III.2.11 und Box I.2.1) können je nach nationaler Produktivitätsentwicklung im Sektor der handelbaren und nicht-handelbaren Güter mehr oder weniger deutliche Inflationsdifferenzen zwischen Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand bestehen. Auch konjunkturelle Unterschiede und differierende nationale Politikausrichtungen (Fiskal- und Lohnpolitik) spielen dabei eine Rolle. Die nationalen Inflationsdifferenzen in der EWU betrugen teilweise bis zu sechs Prozentpunkte. Die einheitliche Geldpolitik des Eurosystems OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="181"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 182 kann sich jedoch nur auf die Inflationsrate im gesamten Euro-Währungsgebiet konzentrieren. Sie kann nicht zugleich regionale Preisentwicklungen berücksichtigen oder sogar versuchen, diese zu beeinflussen. Solange die nationalen Inflationsraten einiger Länder deutlich über 2 % liegen, müssen andere Länder zur Einhaltung der EWUweiten Stabilitätsnorm von maximal 2 % Preissteigerungsraten unter 2 % aufweisen (und umgekehrt). Damit stellt sich die Frage, ob die gemessenen 2 % genug Spielraum bieten, um Deflationsgefahren in einzelnen Ländern zu verhindern (siehe dazu ausführlicher Box III.2.11). Wenn größere Inflationsunterschiede anhalten, wäre der EZB ein höherer Wert zu empfehlen als es für einzelne Teilnehmerstaaten optimal wäre. Mit der Konkretisierung „unter, aber nahe 2 %“ versuchte das Eurosystem, dieses Argument zu berücksichtigen. Auch sollten die Inflationsraten auf Dauer bei einer verstärkten Integration der an der EWU teilnehmenden Volkswirtschaften konvergieren. Zweitens wird die Teuerung gemessen auf Verbraucherebene, nicht an anderen Preisgrößen (z. B. den Erzeugerpreisen oder dem BIP-Deflator). Dies ist konsistent mit der mikroökonomischen Theorie und marktwirtschaftlichen Grundlagen, nach denen es letztlich auf die Bedürfnisbefriedigung der Konsumenten ankommt. Darüber hinaus ist die Öffentlichkeit mit diesem Index vertraut, der publizierte Wert wird nur selten revidiert, er ist hinreichend aktuell und auf Monatsbasis verfügbar. Box III.2.11: Eine Mindestinflationsrate für die EWU? Sollte das Eurosystem bei der Definition von Preisstabilität einfach die Rate zugrunde legen, die auch andere Zentralbanken verfolgen (z. B. die Bank of England oder das Fed) bzw. verfolgt haben (z. B. die Deutsche Bundesbank vor 1999)? Bestehen zwischen den einzelnen EWU-Ländern Unterschiede in den Lebensstandards, könnte die Antwort negativ ausfallen. Grundlage für diese Argumentation ist der sog. Balassa-Samuelson-Effekt. Dieser geht davon aus, dass es handelbare und nicht-handelbare Güter sowie mehr und weniger entwickelte Volkswirtschaften gibt. Nehmen wir an, es geht dabei um die EWU mit n Ländern. Die Preise handelbarer Güter ( p T ) sollen durch Wettbewerb identisch sein. (B1) p T i = p T  i = 1, ... , n (aktuell (2013): n = 17) Die Preise der Non-Tradables ( p N ) können jedoch je nach Produktivitätsentwicklung differieren. Bei intensivem internen Wettbewerb und freien Arbeitskräftewanderungen zwischen dem Sektor der Tradables und Non-Tradables kann es aber nur einen (nominalen) Lohnsatz w innerhalb eines Landes geben. Unterstellen wir eine Grenzproduktivitätsentlohnung und bezeichnen die entsprechenden Grenzprodukte mit F T A und F N A , gilt: (B2) F T A , i p T i = w i = F N A , i p N i Durch Kombination von (B1) und (B2) ergibt sich als Inflationsrate der Non-Tradables π N (  bezeichnet Wachstumsraten) (B3) π N i = π T + ˆ F T A , i - ˆ F N A , i <?page no="182"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 183 Sie hängt von der Erhöhung des gemeinsamen internationalen Preises π T und der sektoralen Produktivitätswachstumsdifferenz ( ˆ F T A - ˆ F N A ) ab. Der Sektor handelbarer Güter weist in den weniger entwickelten Ländern (Land 2, z. B. Portugal, Griechenland, Slowakei) aufgrund des Nachholbedarfs und Aufholprozesses ein höheres Produktivitätswachstum auf als in den fortgeschritteneren Ländern (Land 1, z. B. Deutschland, Frankreich, Finnland). Folglich werden dort auch die Preissteigerungsraten (bei den Non- Tradables und somit auch bei der Preisentwicklung insgesamt) höher ausfallen. Wenn somit in einer Währungsunion in jedem Land eine Deflation verhindert werden soll, muss die aggregierte EWU-Inflationsrate π umso höher ausfallen, je größer die sektoralen Produktivitätsunterschiede ( ˆ F T A - ˆ F N A ) über die Länder hinweg sind. Zur Interpretation dieser Aussage unterstellen wir zunächst eine hoch entwickelte Volkswirtschaft, die keinen Produktivitätsvorsprung bei Tradables im Vergleich zu Non- Tradables aufweist. Die relativen Preise zwischen diesen Sektoren sind also konstant. In allen anderen Ländern sollen dagegen die relativen Preise der Non-Tradables steigen. Wenn der Preis von Tradables dann sinkt, resultiert im hoch entwickeltem Land eine Deflation. Dann muss das EWU-weite Preisniveau wegen des Produktivitätsvorsprungs der Tradables gegenüber den Non-Tradables in den anderen Ländern steigen, um diese Deflation zu verhindern. Wenn man dagegen annimmt, dass selbst das am weitesten entwickelte Land noch einen Produktivitätsvorsprung bei Tradables hat, können diese Preise sinken, ohne dort eine Deflation auszulösen, da die Preise der nicht-handelbaren Güter steigen. Insgesamt resultiert weniger Inflation als im ersten Fall. Nach den Berechnungen von Sinn/ Reutter (2000) beträgt die Mindestinflationsrate, die Deflation in jedem Land verhindert, 0,94 %. Die größte Deflationsgefahr besteht dabei für Deutschland, da dort die Differenz des intersektoralen Produktivitätswachstums am geringsten ist. Diese Überlegungen, die eine nicht zu niedrig gesetzte Zielinflationsrate empfehlen, gewinnen vor dem Hintergrund des EWU-Beitritts weniger fortgeschrittener Länder weitere Brisanz. Um die Ergebnisse allerdings adäquat beurteilen zu können, müssen auch die Kosten der Inflation (siehe dazu z. B. Feldstein, 1999) sowie die zu erwartenden Konvergenzfortschritte in die Analyse aufgenommen werden. Drittens sind sowohl Preissteigerungen über und deutlich unter 2 % als auch Deflation (negative Wachstumsraten des HVPI) unvereinbar mit Preisstabilität. Dadurch wird darauf verwiesen, dass nicht nur übermäßige Preissteigerungsraten, sondern auch nur geringfügig positive Raten und sinkende Preise negative Konsequenzen für die Wirtschaftsentwicklung nach sich ziehen. Allgemeine Preissenkungen sind, soweit sie nachfragebedingt verursacht sind, wegen ihrer schädlichen gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen (Kaufzurückhaltung, steigende Realzinsen und Reallöhne, Unternehmens- und Bankenzusammenbrüche, Massenarbeitslosigkeit usw.) unter Umständen sogar gravierender. Zum Vergleich der tatsächlichen HVPI-Entwicklung mit der Definition von Preisstabilität muss zunächst die Formulierung „unter, aber nahe 2 %“ operationalisiert werden. In Abb. III.2.10 wird eine Bandbreite zwischen 1,6 % und 2 % angenommen. Diese Abbildung zeigt deutlich das Überschießen des Ziels im Vorfeld der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 / 09. Von 2000 bis 2007 lag die jahresdurchschnitt- OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="183"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 184 liche Preissteigerung zwischen 2,1 % und 2,3 %. Die angestrebte Rate wurde also stets geringfügig überschritten. 2011 / 12 wurde das Ziel allerdings deutlicher verfehlt. Abb. III.2.10: Inflation und Definition von Preisstabilität in der EWU (in %) -1 0 1 2 3 4 5 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 HVPI Obergrenze Untergrenze Quelle: EZB. Das Eurosystem hat darüber hinaus nicht spezifiziert, wie schnell es bei Verfehlungen des Stabilitätsziels die Inflationsrate wieder mit ihrer Definition von Preisstabilität in Übereinstimmung bringen will. Dieser Zeithorizont sollte um so kürzer ausfallen, je höher die Inflationsaversion der Bevölkerung ist, je größer die Bedeutung vorausschauender Elemente bei der Preis- und Outputbestimmung ist und je geringer die Kosten der Disinflation sind. Die EZB spricht nur davon, mittelfristig Preisstabilität zu gewährleisten. Näher konkretisiert hat sie diese mittlere Frist nicht. Nachdem das letztendliche Ziel durch den „Anker“ empirisch konkretisiert wurde, geht es bei den nächsten beiden Elementen darum, effiziente Wege zur Gewährleistung von Preisstabilität zu finden. 2.6.4 Die Monetäre (langfristige) Säule: Monetäre Analyse Eine geldpolitische Strategie ist mittelbis langfristig ausgerichtet. Da auf Dauer Inflation auf eine übermäßige Ausweitung der Geldmenge zurückgeführt werden kann, wollte auch das Eurosystem der Geldmenge eine hervorgehobene Stellung unter den Inflationsindikatoren einräumen. Dies findet in der Monetären Säule ihren Niederschlag. Da es dabei um grundlegende Zusammenhänge geht, ist sie eher langfristig ausgerichtet. <?page no="184"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 185 Die Monetäre Analyse dient dem EZB-Rat als mittelbis langfristiger Cross-Check der Ergebnisse der Wirtschaftlichen Analyse (siehe 2.6.5). Dafür wird versucht, aus den monetären Daten den langfristigen Wachstumstrend herauszufiltern, um Aufschlüsse über den Inflationstrend zu bekommen. Zugleich werden Szenarienanalysen vorgenommen, um einen Eindruck zu bekommen, wie monetäre Schocks auf die makroökonomischen Projektionen (siehe 2.6.5) wirken. Solange kurzfristige Entwicklungen für die längerfristige Einschätzung wichtig sind, werden auch diese begutachtet. Dabei geht es vor allem um deren Rückwirkungen auf die Konjunktur, die Finanzierungsbedingungen, die geldpolitische Transmission, den Zustand und das Verhalten des Bankensystems und speziell auf Finanzmarktpreise, um den Aufbau von Finanzkrisen frühzeitig zu erkennen. Einen umfassenden Überblick über die Monetäre Analyse geben Papademos / Stark (2010). Box III.2.12: Die Geldmengenbegriffe im Eurosystem Im Eurosystem gibt es drei offizielle Geldmengenbegriffe - M1, M2 und M3. Das umfassendste Geldmengenaggregat M3 enthält folgende Komponenten (die Zahlenangaben beziehen sich auf den Stand Ende Dezember 2012, Mrd. €): Bargeldumlauf (876,8), + täglich fällige Einlagen (4.297,2), = M1 (5.174,0) + Einlagen mit einer vereinbarten Laufzeit bis 2 Jahren (1.800,7), + Einlagen mit einer vereinbarten Kündigungsfrist von bis zu 3 Monaten (2.076,3), = M2 (9.051,0) + Repogeschäfte (115,7), + Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit bis zu 2 Jahren (inkl. Geldmarktpapiere) (181,9), + Anteile an Geldmarktfonds (456,0) = M3 (9.804,6) Beim Bargeld zählt (aus statistischen Gründen) der gesamte Umlauf außerhalb des Euro- Bankensystems zur Geldmenge. Die restlichen Teile des Geldmengenaggregats beziehen sich auf Verbindlichkeiten von im Euro-Währungsgebiet ansässigen „Monetären Finanzinstituten“ („Monetary Financial Institutions“ MFIs), dem sog. „Geldschöpfungssektor“, gegenüber Nichtbanken (ohne Zentralregierungen), dem sog. Geld haltenden Sektor, im Euro-Währungsgebiet. Die Währung, auf die sie lauten, spielt dafür keine Rolle, d. h. es sind auch Fremdwährungseinlagen in den Geldmengenaggregaten enthalten. Neben den Verbindlichkeiten des Geldschöpfungssektors zählen zu den Geldmengenbegriffen auch die Verbindlichkeiten von Zentralregierungen mit monetärem Charakter. Darunter fallen die Bankeinlagen vergleichbaren Verbindlichkeiten von Post- und Schatzämtern und staatlichen Sparkassen. Täglich fällige Einlagen sind vergleichbar mit Sichteinlagen, Einlagen mit einer vereinbarten Laufzeit mit Termineinlagen und Einlagen mit einer vereinbarten Kündigungs- OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="185"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 186 frist mit Spareinlagen. Im Unterschied zu M2 sind in M3 auch sog. „marktfähige Finanzinstrumente“ enthalten. Diese umfassen Repogeschäfte, 77 Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit bis zu zwei Jahren, Anteile an Geldmarktfonds und Geldmarktpapiere. Die aufgenommenen Komponenten fassen die wichtigsten kurzfristigen Finanzinstrumente in den Euro-Ländern zusammen. Zunächst einmal basiert die Monetäre Analyse auf einer Beurteilung der Liquiditätslage entsprechend der Geldmengenaggregate, ihrer Komponenten und Bilanzgegenposten, insbesondere der Kreditgewährung. Die Definitionen und Abgrenzungen sind in Box III.2.12 erläutert. In Abb. III.2.11 sind die jährlichen Wachstumsraten der offiziellen Geldmengenaggregate für den Zeitraum 1999 bis 2012 gegenübergestellt. Daran ist erkenntlich, dass M1 wegen der äußerst geringen Verzinsung und des hohen Bargeldanteils die volatilste Entwicklung aufweist. M2 und M3 verhalten sich bis auf die Jahre 2009 bis 2011 recht ähnlich. Die marktfähigen Instrumente wurden in dieser Phase wegen einer veränderten Risikoeinschätzung tendenziell abgebaut. Für M3 veröffentlicht die EZB einen Referenzwert. Ausschlaggebend für die Entscheidung für M3 war der Zusammenhang zur inflationären Entwicklung (siehe zu letzterem Abb. III.2.12 sowie Papademos / Stark, 2010, Kap. 1, 4 und 6). Diese Zusammenhänge sollten vor allem über einen längeren Zeitraum stabil sein. Dem entsprechend und vor dem Hintergrund des mittelbis langfristig ausgerichteten Konzepts liegen dem in Abb. III.2.12 dargestellten Geldmengen-Preis-Zusammenhang für die EWU Trendverläufe der Geldmengen- und Preisentwicklung zugrunde. Es ist auch deutlich erkennbar, dass die Hoch- und Tiefpunkte der Geldmenge bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise stets vor den entsprechenden Werten bei der Inflation lagen. Durch die Krisen der letzten Jahre wurden die Zusammenhänge temporär überlagert. Die Forderung nach Beeinflussbarkeit einerseits und stabiler Beziehung zur Inflationsentwicklung andererseits erzeugen in diesem Zusammenhang eine gewisse Dilemmasituation: Um die erste Voraussetzung zu erfüllen, sollte das Augenmerk auf Größen liegen, die nahe an den geldpolitischen Steuerungsgrößen selbst und damit nahe am Geldmarkt liegen. Für die zweite Bedingung dagegen sprechen eher Aggregate, die näher beim Endziel liegen, und umfassend definiert sind. 77 Bei Repogeschäften handelt es sich um „echte“ Pensionsgeschäfte, bei denen Kreditinstitute als Pensionsgeber auftreten. Bei diesen überträgt der Pensionsgeber ihm gehörende Vermögensgegenstände (i. d. R. Wertpapiere) an einen Dritten, dem sog. Pensionsnehmer, gegen Zahlung eines bestimmten Geldbetrags. Gleichzeitig wird vereinbart, dass die Vermögensgegenstände zu einem festgelegten späteren Zeitpunkt an den Pensionsgeber zurückübertragen werden. Die Vermögensgegenstände stehen weiterhin beim Pensionsgeber in der Bilanz. In Höhe des Betrages, den die Kreditinstitute für die befristete Überlassung der Vermögensgegenstände vom Pensionsnehmer erhalten, müssen sie eine Verbindlichkeit gegenüber dem Pensionsnehmer ausweisen. Sofern es sich bei diesem Pensionsnehmer um eine im Euroraum ansässige Nichtbank handelt, wird diese Verbindlichkeit unter der Rubrik „Repogeschäfte“ in M3 erfasst. Letztendlich handelt es sich bei den Repogeschäften um besicherte kurzfristige Termineinlagen. <?page no="186"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 187 Abb. III.2.11: Wachstumsraten der Geldmengenaggregate im Euro-Währungsgebiet (in %) -4 0 4 8 12 16 20 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 M1 M2 M3 Quelle: EZB. Abb. III.2.12: Geldmengen-Preis-Zusammenhang für das Euro-Gebiet (in %) 0 2 4 6 8 10 12 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 HVPI M3 Quelle: EZB; eigene Berechnungen. Anmerkungen: mit Hilfe des Hodrick-Prescott-Filters berechnete Trendwachstumsraten; Inflation gemessen an Verbraucherpreisen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="187"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 188 Die bisher mit EWU-weiten Geldmengenaggregaten durchgeführten Stabilitätsanalysen zur langfristigen Geldnachfrage im Rahmen von Geldnachfrageschätzungen (siehe Box III.2.13) erbrachten bei breiten Geldmengendefinitionen fast durchgängig positive Ergebnisse (siehe Tabelle III.2.4). Jedoch mussten dafür bei einem Schätzzeitraum, der über 2004 hinausging, die traditionellen Determinanten der Geldnachfrage - eine Zins- und eine Transaktionsgröße - durch weitere Variablen ergänzt werden. Vor allem das Vermögen, speziell das Immobilienvermögen, zeigte sich dabei als gute Erklärungsgröße der aggregierten Geldnachfrage. Aber auch die Modellierung des unterschiedlichen nationalen Geldnachfrageverhaltens lieferte einen signifikanten Erklärungsgehalt (siehe Setzer et al., 2011). Eine größere Stabilität aggregierter Geldnachfragefunktionen kann sich allein schon wegen der statistischen Durchschnittsbildung, durch die sich viele national bedeutende „Schocks“ auf die Geldnachfrage (z. B. durch unterschiedliche Zahlungsgewohnheiten, steuerliche Regelungen) aufheben, ergeben. Allerdings können die positiven Eigenschaften auch verloren gehen, wenn eine zunehmende Finanzmarktintegration sowie eine Synchronisation der „Schocks“ stattfinden. Die Entwicklungen auf den Finanzmärkten mit ihren Rückwirkungen auf die Geldnachfrage sind allerdings sorgfältig zu beobachten. In diesem Zusammenhang sind speziell neu entwickelte Finanzprodukte mit ihren Auswirkungen auf den gesamtwirtschaftlichen Liquiditätsgrad (z. B. Asset-backed-Securities und die generelle Tendenz zur Verbriefung zuvor illiquider Forderungspositionen von Banken), das Auftreten neuer Finanzinstitutionen (wie Hedgefonds, Private Equity-Gesellschaften) und das extreme Wachstum einzelner Märkte (z. B. Immobilien-, Rohstoffmärkte) zu nennen. Eine krisenhafte Verschärfung dieser Entwicklungen kann aber wiederum durch eine sorgfältige Monetäre Analyse frühzeitig aufgedeckt werden (siehe dazu Box III.2.8). Die nur bescheidene Rolle von Finanzinnovationen in einigen Euro-Ländern, speziell in Deutschland, konnte zur Stabilität des Euro-Aggregats in der Vergangenheit sicherlich beitragen. Entscheidend wird sein, ob in Zukunft die stabilitäts- oder instabilitätsfördernden Elemente, auch in einzelnen Ländern, dominieren. Müssen ständig die Erklärungsmuster und Determinanten der Geldnachfrage geändert oder angepasst werden, kann eine Geldmengenorientierung nicht stabilisierend wirken. Box III.2.13: Geldnachfrageschätzung Die Prognostizierbarkeit der Geldnachfrage ist eine wichtige Bedingung für eine erfolgreiche Geldmengenstrategie. Die empirische Überprüfung, welche Geldmengendefinition sich am besten als Zwischenziel, Indikatorvariable oder Referenzwert eignet, erfolgt u. a. anhand von Geldnachfrageschätzungen. Diese beruhen in den meisten Fällen auf einer einfachen Strukturgleichung, wonach die reale Geldnachfrage eine Funktion des Transaktionsvolumens und der Opportunitätskosten der Geldhaltung ist. Oft lässt sich schon mit „simplen“ Kleinst-Quadrat-Schätzungen („Ordinary Least Squares“) überprüfen, ob eine Geldnachfragefunktion identifizierbar ist: Δ ( m - p ) t = -  [( m - p ) t -1 - (  1 · y t -1 -  2 · oc t -1 )] + i = 0  y , i · Δ y t - i + i = 0  oc , i · Δ oc t - i +  t <?page no="188"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 189 Alle Größen sind logarithmiert. „  “ steht für einen normalverteilten, unkorrelierten und homoskedastischen Störterm, „Δ“ für die erste Differenz. „ m “ ist die im Zentrum der Betrachtung stehende Geldmenge. Als Transaktionsvariable „ y “ dient in vielen Fällen das reale Bruttoinlandsprodukt. Das Preisniveau „ p “ wird mit Hilfe des BIP-Deflators oder demVerbraucherpreisindex operationalisiert. Als Opportunitätskostenvariable ( oc ) verwendet man üblicherweise die Differenz zwischen einem langfristigen Zins (z. B. Umlaufsrendite öffentlicher Anleihen) und der Eigenverzinsung des Geldes. Der Ausdruck in der eckigen Klammer ist der sogenannte Fehlerkorrekturterm. Er beinhaltet den langfristigen Zusammenhang zwischen der Geldnachfrage und ihren Determinanten in normalisierter Form (langfristige Geldnachfrage). Dementsprechend stehen die  -Koeffizienten für die langfristigen Elastizitäten der Bestimmungsfaktoren der Geldnachfrage. Die  -Koeffizienten kann man als kurzfristige Elastizitäten interpretieren. Solange die Geldnachfrage ihr Gleichgewicht nicht erreicht hat, d. h. der Klammerausdruck ungleich null ist, passt sich die Geldnachfrage ihrem langfristigen Gleichgewicht an. Aus diesem Grund auch der Name „Fehlerkorrekturterm“, da vorhandene „Fehler“ (=Abweichungen vom Gleichgewicht) korrigiert werden. Ein Wert für  von 0,15 bedeutet, dass Ungleichgewichte pro Periode um 15 % abgebaut werden. Ein signifikant negativer Wert vor der Klammer kann gleichzeitig als Indiz für die langfristige Stabilität der Geldnachfrage gewertet werden. In der Regel erhält man für die europäische M3-Geldnachfrage eine langfristige Einkommenselastizität (  1 ) von über 1 (siehe die Studien in Tabelle III.2.4). Demnach würde eine Erhöhung des realen Bruttoinlandsprodukts um 1 % die Geldnachfrage um mehr als 1 % erhöhen. Die EZB muss folglich bei der Ableitung des Referenzwertes für M3 eine trendmäßig fallende Umlaufsgeschwindigkeit in Rechnung stellen. Würde also der mittelfristige Wachstumspfad des Euro-Währungsgebiets 2 % betragen und nimmt man für  1 einen Wert von 1,4 an, müsste die EZB die stabilitätsgerechte Geldmengenausweitung zusätzlich um 0,8 % ausweiten (2 · 1,4 - 2). Ist die Geldnachfrage langfristig stabil, kann die Geldmenge für die Prognose und Kontrolle der Preisentwicklung eingesetzt werden. Box erstellt von Jörg Clostermann (Technische Hochschule Ingolstadt). Die verfügbaren Geldnachfragestudien müssen jedoch immer noch vorsichtig interpretiert werden, da sie vor 1999 mit aggregierten Länderdaten arbeiten, die auch das Ergebnis einer gerade nicht vereinheitlichten Geldpolitik waren. So könnte es z. B. sein, dass die festgestellte Stabilität der europäischen Geldnachfrage die Folge der Stabilität der Geldnachfrage in Deutschland und der asymmetrischen Funktionsweise des früheren Europäischen Währungssystems war. In diesem System gab die Deutsche Bundesbank die geldpolitische Ausrichtung vor, und die anderen Mitgliedsländer hielten den Wechselkurs zur DM fix. Dadurch importierten sie sozusagen die geldpolitische Orientierung Deutschlands. Da diese Asymmetrie aber mit dem Übergang zu einer einheitlichen Geldpolitik zwangsläufig entfiel, könnten sich auch Instabilitäten einstellen. Zudem können Geldnachfrageschocks, die früher die einzelnen Länder unterschiedlich trafen und sich in einer Vielzahl von Fällen im Aggregat aufhoben, in Zukunft positiv miteinander korreliert sein, da sie gemeinsame Ursachen haben (siehe z. B. die Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Einbruch der Aktienmärkte nach dem Jahr OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="189"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 190 2000 sowie die jüngste Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise). Auch herrscht vor dem Hintergrund gestiegener Unsicherheit über die zukünftige Geldnachfrage für Transaktionszwecke (abgeleitet aus dem Gütermarkt) und das Portfolioverhalten der privaten Marktteilnehmer (abgeleitet aus dem Vermögensanlagemotiv) Unsicherheit. 78 Darüber hinaus ist unklar, wie sich der finanzielle Innovationsprozess und, damit zusammen hängend, die Finanzmarktregulierung in Europa weiter entwickeln. Es ist schlicht auch möglich, dass sich ein vergangenheitsbezogenes europäisches Geldmengenaggregat deshalb als relativ stabil herausstellt, weil es gerade nicht als offizielle Orientierungsgröße diente. Dies wird häufig mit dem Begriff „Goodhart’s Law“ bezeichnet. 79 Folglich würde sich die Summe der nationalen Geldnachfragen vor der Währungsunion von der aggregierten EWU-Geldnachfrage unterscheiden. Deshalb kann nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass in der EWU die in der Vergangenheit festgestellten stabilen Zusammenhänge weiter gelten. Diese müssen sich vielmehr erst endogen herausbilden. Dies alles legt eine vorsichtige Geldpolitik nahe, damit nicht die Notenbank selbst zum Störfaktor wird. Dementsprechend würde Kontinuität und Stabilität des Geldangebotsprozesses einer stabilen Geldnachfrage förderlich sein. Für diesen Zusammenhang wird oftmals der Begriff „Issing’s Law“ gebraucht, benannt nach dem früheren Chefvolkswirt der EZB (Issing, 1997; BHF-Bank, 1996). Im Bewusstsein all dieser Vorbehalte veröffentlicht die EZB im Rahmen der Monetären Analyse auch einen Referenzwert für M3. Dafür spricht, dass sich auf M3 basierende Größen als empirisch besonders gut geeignet erwiesen, Inflationsprognosen über einen Zeitraum von zwei Jahren und darüber hinaus zu erstellen. Dabei geht es dem Konzept entsprechend darum, aus dem grundlegenden M3-Wachstum die längerfristigen Preisperspektiven abzuleiten. Dafür müssen Trendgrößen (die sog. niederfrequenten Komponenten) konstruiert werden. Die besten Prognosewerte erzielt man bei einem Prognosehorizont von sechs bis zwölf Quartalen. Mit zunehmendem Prognosehorizont verbessert sich dabei die Aussagekraft von geldmengenbasierten Größen im Verhältnis zu anderen Wirtschaftsindikatoren, die in der Wirtschaftlichen Säule analysiert werden. Zudem soll der Referenzwert als längerfristiger Anker für die Infla- 78 Wenn das Portfolioverhalten stärkeren Veränderungen ausgesetzt ist als die Geldnachfrage für Transaktionszwecke, würde man eher für ein enges (z. B. M1) als für ein weites (z. B. M3) Geldmengenaggregat als Orientierungsgröße plädieren. Auf der anderen Seite werden aber auch Bargeld und täglich fällige Gelder nicht nur für offizielle Transaktionen im Inland verwendet, sondern auch für Hortungszwecke gehalten oder - bei Bargeld - vom Ausland nachgefragt (siehe z. B. Fischer et al., 2004 sowie Bartzsch et al., 2011a, b). 79 Dieses nach dem britischen Ökonom Charles Goodhart benannte Gesetz besagt, „that any observed statistical regularity will tend to collapse once pressure is placed upon it for control purposes“ (Goodhart, 1975, 5). Falls also eine Zentralbank versucht, aufgrund vergangener stabiler Beziehungen zwischen einer bestimmten Geldmengenspezifikation und Zinsen, BIP und Preisen, auf das entsprechende Aggregat verstärkt ihre Aufmerksamkeit zu richten, evtl. sogar eine Geldmengenstrategie darauf aufzubauen, wäre nach Goodhart’s Law davon auszugehen, dass es durch eine Änderung der ökonomischen Strukturen zu Instabilitäten und Strukturbrüchen in diesen Beziehungen kommt. Und dadurch würde dieses Aggregat seine positiven Eigenschaften als Informationsvariable verlieren (Seitz, 1998). <?page no="190"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 191 Tabelle III.2.4: Ausgewählte EWU-Geldnachfrageschätzungen Autoren Untersuchungszeitraum Geldmenge lfr. Stabilität Coenen / Vega (2001) 1980 - 1998 M3 stabil Calza / Gerdesmeier / Levy (2001) 1980 - 1999 M3 stabil Sachverständigenrat (2001) 1980 - 2000 M3 Strukturbruch 1999; Zinsen nicht exogen Kontolemis (2002) 1980 - 2001 M3 stabil Stracca (2003) 1980 - 2000 M1 stabil / instabil a) Bruggemann et al. (2003), Warne (2006) 1980 - 2002 / 4 b) M3 stabil Brand / Cassola (2004) 1980 - 1999 M3 stabil Boone et al. (2004) 1971 - 2003 M3 stabil bei Einbeziehung des Vermögens Greiber / Lemke (2005) 1980 - 2004 M3 stabil bei Aufnahme von Unsicherheitsvariablen Banque de France (2006) 1980 - 2004 M3 stabil bei Einbeziehung von Aktienmarktvariablen Brüggemann / Lütkepohl (2006) 1975 - 2002 M3 stabil c) Carstensen (2006) 1980 - 2003 M3 ab 2001 nur noch stabil unter Einbeziehung des Aktienmarktes Calza / Zaghini (2006) 1971 - 2003 M1 stabil bei Berücksichtigung von Nicht-Linearitäten von Landesberger (2007) 1991 - 2005 M3 sektoral d) stabil Greiber / Setzer (2007) 1981 - 2006 M3 stabil bei Berücksichtigung des Immobilienmarktes Beyer (2009) 1980 - 2008 M3 stabil bei Einbeziehung des Immobilienvermögens De Bondt (2009) 1983 - 2007 M3 stabil bei Einbeziehung von Vermögen, Aktienrenditen und Arbeitsmarkt Dreger / Wolters (2010) 1983 - 2004 M3 stabil e) Dreger / Wolters (2011) 1983 - 2010 M3 stabil bei Einbeziehung von Immobilienpreisen Seitz / von Landesberger (2012) 1991 - 2008 (2010) f) M3 Haushalte stabil f) De Santis et al. (2012) 1980 - 2011 M3 stabil bei Einbettung in Portfoliomodell mit 5 Assets a) Stabilität, wenn der Wert der Zinselastizität der Geldnachfrage als abnehmende Funktion des Zinsniveaus spezifiziert wird; b) Warne (2006) erweitert das Modell von Bruggemann et al. (2003) bis Ende 2004, ohne dass sich die Ergebnisse verändern; c) vor 1999 Verwendung von deutschen Daten; d) Es werden drei Sektoren unterschieden: private Haushalte, nicht-finanzielle Unternehmen und nicht-monetäre Finanzintermediäre; e) keine Homogenität zwischen Geldmenge und Preisen unterstellt; f ) Schätzung bis 2008q3, Prognosezeitraum 2008q4 - 2010q4; bei Ungleichgewichten passen sich sowohl die Geldmenge als auch der private Konsum an; Berücksichtigung von Immobilienvermögen und Unsicherheit. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="191"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 192 tionserwartungen der Öffentlichkeit dienen. Der Referenzwert wird ausdrücklich nicht als Zwischenziel verstanden, sondern soll eine geringere Bindungsfunktion besitzen. Die Ableitung des Referenzwertes setzt an den Determinanten reales Wirtschaftswachstum, Preisnorm und Veränderung der Umlaufsgeschwindigkeit an. Dabei bietet es sich wiederum aufgrund der mittelfristigen Orientierung der Geldpolitik an, nicht auf die tatsächlichen Werte für das nächste Jahr, sondern auf Trendverläufe zurückzugreifen. Diese Größen müssen normativ gesetzt oder geschätzt werden. Das Eurosystem veröffentlicht nicht nur den Referenzwert, sondern auch die zugrunde liegenden Bestimmungsgrößen. Dies dürfte der Transparenz sicherlich zuträglich sein. Nach Einschätzung des EZB-Rates liegt das Trendwachstum bzw. das Wachstum des Produktionspotenzials im Euro-Gebiet zwischen 2 % und 2,5 %. Die Preiskomponente wird mit höchstens 2 % angesetzt. Sie entspricht also der Definition von Preisstabilität anhand des HVPI. Konsistenterweise muss sie sich allerdings auf den BIP- Deflator beziehen, da als Transaktionsgröße das reale BIP Verwendung findet (siehe die Quantitätsgleichung). Die EZB setzt hier dennoch den HVPI an. Dahinter steht die Überlegung, dass mit dem HVPI die Preise der gesamten Transaktionen besser erfasst werden als mit dem BIP-Deflator. Man kann aus dieser gewissen „Inkonsistenz“ auch schließen, dass das Eurosystem bei beiden Preisgrößen dieselbe Entwicklung anstrebt. Längerfristig unterscheiden sich diese beiden Inflationsmaße in der Regel auch nicht. In einzelnen Jahren kann es aber durchaus zu deutlichen Abweichungen kommen, da z. B. Importpreise im Verbraucherpreisindex, nicht jedoch im BIP-Deflator enthalten Abb. III.2.13: Inflation gemessen am HVPI und BIP-Deflator (in %) 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 HVPI BIP-Deflator Quelle: EZB. <?page no="192"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 193 sind. Anhand Abb. III.2.13 ist dies exemplarisch für die letzten Jahre nachvollziehbar, in welchen wegen der Energiepreise der Preisanstieg gemäß dem HVPI deutlich von dem des BIP-Deflators abwich. Neben der Einschätzung der Wachstumsperspektiven liegt der größte Unsicherheitsbereich in der Abschätzung der Geldhaltungsgewohnheiten von Unternehmen und Privatpersonen. So hat man nur unvollständige Informationen, wie sich Vorsichts- und Unsicherheitsmotive auf die Geldnachfrage im Euro-Raum auswirken. Auch die Einschätzung der Entwicklung der zur Geldhaltung substitutiver kurzfristiger Anlageformen ist vage. Darüber hinaus erschweren die Hortung von Bargeld und die Verwendung des € im Ausland sowie die zukünftige Entwicklung elektronischen Geldes (vorausbezahlte Karten und Netzgeld) und der Finanzmärkte eine Einschätzung der Entwicklung der Geldhaltungsgewohnheiten. All dies schlägt sich in der Umlaufsgeschwindigkeit nieder. Berechnungen der EZB zu Folge ist bei M3 von einem trendstabilen Rückgang der Umlaufsgeschwindigkeit von 0,5 % bis 1 % pro Jahr auszugehen (siehe Abb. III.2.14). Dieser Rückgang wird üblicher Weise mit dem Vermögenscharakter eines Teils der Geldkomponenten (hauptsächlich die zinstragenden Teile), die nicht nur Transaktionszwecken dienen, erklärt. Dadurch wächst M3 im Trend schneller als das BIP. Dementsprechend ist ein Zuschlag beim stabilitätsgerechten Geldmengenwachstum vorzunehmen. Der Trendrückgang scheint sich allerdings seit Beginn des Jahrhunderts verstärkt zu haben. Dies sieht man deutlich daran, weil die Trendbe- Abb. III.2.14: Umlaufsgeschwindigkeit von M3 -0,1 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12 Umlaufsgeschwindigkeit (M3) linearer Trend linearer Trend (ab 1999) Quelle: EZB; eigene Berechnungen. Anmerkungen: logarithmischer Maßstab. Umlaufsgeschwindigkeit als Verhältnis des nominalen BIP zu M3. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="193"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 194 rechnung ab 1999 den Verlauf seit Beginn der EWU deutlich besser beschreibt. Man könnte auch von einem Trendbruch sprechen, der einen stärkeren Rückgang impliziert. Schließlich bleibt auch noch festzuhalten, dass offensichtlich die Volatilität der Umlaufsgeschwindigkeit seit Ende der 1990er Jahre zugenommen hat. In diesen beiden Hinsichten schneidet M1 deutlich besser ab (siehe Abb. III.2.15). Generell sollte in einem Umfeld von Preisstabilität der Rückgang der Umlaufsgeschwindigkeit weniger ausgeprägt sein als bei Disinflation und sinkenden Nominalzinsen. Im Gegensatz dazu steigt bei erhöhter Unsicherheit die Geldnachfrage an und die Umlaufsgeschwindigkeit sinkt dem entsprechend. Abb. III.2.15: Umlaufsgeschwindigkeit von M1 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 Umlaufsgeschwindigkeit (M1) linearer Trend Quelle: EZB; eigene Berechnungen. Anmerkungen: logarithmischer Maßstab. Umlaufsgeschwindigkeit als Verhältnis des nominalen BIP zu M1. Aus diesen Komponenten errechnet die EZB einen Referenzwert für M3 in Höhe von 4½ %, der seit 1999 gilt. Er wird also, anders als bei den deutschen Geldmengenzielen, nicht in Form eines Zielkorridors oder einer Bandbreite festgelegt, sondern als Punktwert bekannt gegeben. Dies ist unverständlich, da gerade die EWU-spezifischen Unsicherheiten es nahelegen, den Referenzwert als Bandbreite festzulegen. Noch dazu, wo die Bestimmungsgrößen auch als Höchstwerte oder Intervalle angegeben werden. Die Kommunikation des Referenzwertes wird durch die Vorgabe eines Punktwertes sicherlich nicht einfacher. Der Referenzwert ist nicht zeitlich befristet, d. h. es handelt sich um keinen Jahres- oder 2-Jahreswert. Er ist zeitlos, wird allerdings immer wieder <?page no="194"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 195 überprüft. Der mittelfristigen Orientierung entsprechend ist er als Durchschnittswert zu interpretieren. 80 Unter normalen Umständen signalisiert eine nicht referenzwert-konforme Geldmengenentwicklung Gefährdungen der Preisstabilität. Allerdings kann es wegen der Langfristigkeit des Konzepts keine direkte Verbindung zwischen kurzfristigen monetären Entwicklungen und geldpolitischen Beschlüssen geben. Auch ist zu berücksichtigen, dass sich die beobachtete Geldmenge aus dem Zusammenspiel von Geldnachfrage und Geldangebot ergibt. Dementsprechend wird das Eurosystem nicht mechanistisch auf „Zielverfehlungen“ reagieren, sondern die genauen Ursachen dafür und die Preisrelevanz sorgfältig analysieren und danach handeln. Die Geldmenge ändert sich jedes Mal, wenn der geldhaltende Sektor mehr oder weniger MFI-Verbindlichkeiten bildet, die in M3 enthalten sind. Zum Geld haltenden Sektor gehören private Haushalte, nichtfinanzielle Unternehmen, öffentliche Haushalte (ohne Zentralstaaten) und nichtmonetäre Finanzinstitute, wie Investmentfonds und Verbriefungszweckgesellschaften. So kann z. B. ein verstärktes Wachstum von M3 auf einem Anstieg der Kreditvergabe infolge weniger restriktiver Rating-Standards der MFIs beruhen. Ein derartiger monetärer „Schock“ dürfte Auswirkungen auf die Preisentwicklung haben. Auf der anderen Seite kann jedoch das erhöhte Geldmengenwachstum auch auf temporäre Sonderfaktoren zurückgehen, die keine Preiswirkungen zeitigen. Darunter fallen z. B. institutionelle Änderungen in der Besteuerung, die bestimmte in M3 enthaltene Anlageformen attraktiver erscheinen lassen oder die verstärkte Liquiditätshaltung infolge erhöhter Unsicherheit im Zuge der geopolitischen Unsicherheiten von 2001 bis 2003. Generell geht es immer darum, aus den Geldmengendaten den inflationsrelevanten Trend herauszufiltern. In diesem Zusammenhang ist auch die sowohl im Volumen als auch in ihrer Komplexität gestiegene Finanzintermediationstätigkeit in der EWU zu beachten. Unter den Finanzintermediären unterscheidet man Monetäre Finanzinstitute (z. B. Kreditinstitute, Geldmarktfonds), Versicherungsgesellschaften, Pensionskassen und nichtmonetäre Finanzintermediäre (z. B. Investmentfonds, Verbriefungszweckgesellschaften, zentrale Gegenparteien, Leasing-, Factoring-, Kreditkartengesellschaften, Wertpapierhändler, Wagniskapital-Beteiligungsgesellschaften, etc.). Eine Verlängerung der Intermediationsketten bedeutet in der Regel eine verstärkte Aktivität von nichtmonetären Finanzintermediären, die mit einer höheren Geldhaltung von diesen einhergeht. Zugleich nimmt die kurzfristige Volatilität breiter Geldmengenaggregate tendenziell zu. Dadurch wird eine institutionelle Analyse wichtiger. Insgesamt bewirkt dieser Prozess einerseits eine deutlichere Trennung zwischen den für Transaktionszwecke und für Portfoliozwecke gehaltenen Geldbeständen. Andererseits dürfte der Zusammenhang zwischen der Geldmenge und Vermögenspreisen gestärkt werden. 80 Der Referenzwert ist konsistent mit den Ergebnissen von Geldnachfrageschätzungen für M3 (siehe die in Tabelle III.2.4 erwähnten Studien). Er lässt sich errechnen, indem man den Wert für die Einkommenselastizität (gemäß den erwähnten Studien ca. 1,4) multipliziert mit dem Trendwachstum des realen BIP (ca. 2 %) und dazu die Definition von Preisstabilität addiert (maximal 2 %). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="195"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 196 Die EZB vergleicht die aktuelle monetäre Entwicklung mit dem Referenzwert. Zur Berechnung des aktuellen Geldmengenwachstums wird jedoch kein einfacher Vorjahresvergleich vorgenommen, sondern im Sinne einer Glättung der Geldmengenentwicklung ein gleitender 3-Monats-Durchschnitt der monatlichen Jahreswachstumsraten berechnet. Wie Abb. III.2.16 zeigt, wurde der Referenzwert vor allem von Mitte 2001 bis Ende 2008 ständig und zum Teil deutlich übertroffen. Dafür waren zunächst der Zusammenbruch der Aktienmärkte und die gestiegenen Unsicherheiten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verantwortlich. Beides führte dazu, dass verstärkt kurzfristige Anlageformen, die in M3 enthalten sind, präferiert wurden. Auch im Vorfeld der letzten Finanzkrise 2007 / 8 wuchs M3 übermäßig. Von Ende 2007 bis Anfang 2010 gingen die Wachstumsraten durch die Finanz- und Wirtschaftskrise dann deutlich zurück und waren teilweise sogar negativ. Seither sind sie tendenziell wieder steigend, haben aber Ende 2012 den Referenzwert noch nicht erreicht. Vor dem Hintergrund der Verfehlungen des Referenzwertes kam die EZB immer wieder in Begründungszwänge der „Sinnhaftigkeit“ der Geldmengenorientierung für die Geldpolitik. Eine Bandbreite von z. B. 5 - 7 % wäre hier sicherlich hilfreich gewesen. Unter den Haltern haben vor allem die nichtmonetären Finanzintermediäre für eine Vielzahl der Probleme gesorgt. Da deren Geldnachfrage anderen Gesetzmäßigkeiten als die von privaten Haushalten und Unternehmen folgt und auch die Güterpreisrelevanz der Transaktionen anzuzweifeln ist, böte es sich an, diese aus M3 herauszunehmen. 81 An der Abbildung ist der „glattere“ Verlauf des gleitenden Durchschnitts im Vergleich zur einfachen Jahreswachstumsrate erkenntlich. Sie veranschaulicht aber auch die Schwierigkeiten der Integration eines derartigen Referenzwertes in ein langfristig angelegtes Geldmengenkonzept. Die EZB hat daraus die Konsequenz gezogen, in ihren Darstellungen zum M3-Wachstum den Referenzwert nicht mehr einzuzeichnen. Zusätzlich zu diesem Vergleich analysiert die EZB im Rahmen der Monetären Säule verschiedene Messgrößen für die existierende Überschussliquidität. Darunter fallen die Entwicklung sog. „money gaps“ (Geldlücken) in nominaler und realer Form und der Geldüberhang. Unter einer nominalen Geldlücke versteht man die kumulierte Differenz zwischen dem M3-Wachstum und dem Referenzwert. Er dient der EZB als ein aus der Monetären Säule der Strategie abgeleiteter Inflationsindikator. Wie man aus Abb. III.2.16 ersehen kann, hat die nominelle Geldlücke von 2001 bis 2009 stetig zugenommen, um seither abzuznehmen. Die reale Geldlücke („real money gap“, siehe auch Box III.2.7) berücksichtigt zusätzlich noch die Differenz zwischen der tatsächlichen Inflationsrate und der Definition von Preisstabilität. Liegt die HVPI-Inflation über der Definition von Preisstabilität, wie dies bis auf 1999 und 2009 / 10 stets der Fall war, ist die reale Geldlücke kleiner als die nominale Geldlücke. Seit 2001 war die reale Geldlücke positiv und weitete sich bis Ende 2008 ständig aus. Der Geldüberhang bzw. -unterhang schließlich misst die Abweichung der nominalen Geldmenge von einer mittels eines Modells geschätzten Gleichgewichtsgeldmenge. Letztere errechnet sich, 81 In diese Richtung ging die EZB bereits, indem sie seit September 2012 Repogeschäfte mit zentralen Gegenparteien aus M3 herausrechnet. <?page no="196"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 197 indem die Werte der makroökonomischen Bestimmungsgründe der Geldnachfrage in die Gleichung der langfristigen Geldnachfrage eingesetzt werden (siehe Box III.2.13). Der Geldüberhang spiegelt somit den nicht durch die makroökonomischen Variablen erklärten Teil der Geldmengenentwicklung wider. Daneben erfolgt im Rahmen der Monetären Säule eine Analyse der engeren Geldmengenaggregate M1 und M2 sowie der Einzelkomponenten von M3. Besonderes Augenmerk verdient dabei M1, da es die liquidesten Bestandteile enthält und ein großes Gewicht an M3 besitzt (Ende 2012: über 50 %). 82 Und es erfolgt auch eine Betrachtung der Gegenposten von M3 im Rahmen der Konsolidierten Bilanz der MFIs (speziell der Kreditgewährung). Diese wird ergänzt um eine institutionelle Analyse der Finanzintermediäre. Solange die monetäre Entwicklung in den einzelnen Teilnehmerländern der EWU noch recht unterschiedlich verläuft, empfiehlt es sich auch, die nationalen Bewegungen sorgfältig zu analysieren. 82 Zur Problematik der Erfassung der unterschiedlichen Motive der Bargeldhaltung und der geographischen Verteilung des Bargeldumlaufs am Beispiel Deutschlands siehe Box III.2.14. Abb. III.2.16: Referenzwert und tatsächliche Entwicklung von M3 (in %) -2 0 2 4 6 8 10 12 14 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 gleitender Durchschnitt Jahreswachstumsrate Referenzwert Quelle: EZB. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="197"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 198 Box III.2.14: Warum ist der „deutsche“ Banknotenumlauf so hoch? Die Umlaufsentwicklung der in Deutschland emittierten Banknoten seit 1991 wird in unten stehender Abbildung gezeigt. Wegen der bevorstehenden Euro-Bargeldeinführung Anfang 2002 wurden im Jahr 2001 DM-Horte sowohl im Inland als auch im Ausland in großem Maße abgebaut und der DM-Umlauf ging deutlich zurück. Nach der Euro-Bargeldeinführung Anfang 2002 setzte der Wiederaufbau der Horte im In- und Ausland in Euro ein und fand Ende 2003 seinen Abschluss. Zu diesem Zeitpunkt erreichte der deutsche Banknotenumlauf wieder jenes Niveau, das er ohne die Euro-Bargeldeinführung vermutlich gehabt hätte (siehe die Reihe hypothetischer Umlauf). Der Banknotenumlauf nahm aber auch danach wesentlich schneller zu als zu den Zeiten der D-Mark. Von Anfang 2002 bis Ende Oktober 2012 stieg der Umlauf deutscher Euro-Banknoten von 73 Mrd. € auf 417 Mrd. €. Welche Komponenten der Banknotennachfrage bzw. welche Gründe stecken hinter dieser dynamischen Entwicklung? Dieser Frage wurde in einem von der Deutschen Bundesbank initiierten Forschungsprojekt nachgegangen, bei dem die Aufteilung des deutschen Euro- Banknotenumlaufs in seine Komponenten Transaktionskasse, Hortung und Auslandsumlauf geschätzt werden sollte (siehe Bartzsch et al, 2011a, b). Unter der Transaktionskasse versteht man Banknoten, mit denen Käufe von Waren und Dienstleistungen getätigt werden. Die Hortungsbestände dienen dagegen der längerfristigen Wertaufbewahrung. Abbildung III.2.17: Tatsächlicher und hypothetischer Umlauf deutscher Banknoten (Mrd. €) Quelle: Deutsche Bundesbank. Anmerkungen: Der tatsächliche Banknotenumlauf (durchgezogene Linie) entspricht im Zeitraum Januar 1991 bis Dezember 2001 dem Banknotenumlauf der DM, ab 2002 der kumulierten Euro- Banknotenemission durch die Deutsche Bundesbank. Der hypothetische Banknotenumlauf (gestrichelte Linie) entspricht dem mit seinem linearen Trend fortgeschriebenen DM-Banknotenumlauf von Januar 1991 bis Dezember 2000. <?page no="198"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 199 Die unterschiedlichen Schätzmethoden zeigen, dass das anhaltend starke Wachstum des Umlaufs deutscher Euro-Banknoten vor allem von der Auslandsnachfrage getrieben wurde. Ende 2009 befanden sich schätzungsweise 70 % der von der Deutschen Bundesbank in Umlauf gegebenen Euro-Banknoten (ca. 240 Mrd. €) im Ausland. Mit 45 % entfiel der überwiegende Teil davon auf Länder außerhalb der EWU (ca. 160 Mrd. €). Der Rest lief im Euro-Raum außerhalb Deutschlands um (80 Mrd. € oder 25 % des Gesamtumlaufs). Demgegenüber wurde nur ein verhältnismäßig kleiner Teil des Banknotenumlaufs in Deutschland verwendet (110 Mrd. € oder 30 % des Gesamtumlaufs). Davon entfielen ca. 70 Mrd. € (20 % des Gesamtumlaufs) auf die inländischen Hortungsbestände und nur ca. 40 Mrd. € (10 % des Gesamtumlaufs) auf die inländische Transaktionskasse. Für die starke Nachfrage nach in Deutschland emittierten Euro-Banknoten aus Ländern außerhalb der EWU spielt die historisch gewachsene Einbindung Deutschlands in den internationalen Sortenhandel eine wichtige Rolle. Bereits vor Einführung des Euro- Bargelds befanden sich schätzungsweise ca. 30-40 % des D-Mark-Umlaufs im Ausland (siehe Seitz, 1995). Vor allem in Südosteuropa und der Türkei erfreute sich die D-Mark großer Beliebtheit. Zu dem hohen Auslandsumlauf trägt auch die Reisetätigkeit der Deutschen bei. Schätzungen der Bargeldexporte aufgrund des Reiseverkehrs mit Hilfe der Zahlungsbilanzstatistik belegen dies. Box erstellt von Nikolaus Bartzsch (Deutsche Bundesbank). All diese Ansätze dienen letztlich dem Ziel, sich ein Urteil über die in der Entwicklung von Geld und Kredit enthaltenen Risiken für die Preis- und Finanzstabilität zu bilden. 2.6.5 Die Wirtschaftliche (kurzfristige) Säule: Eine breit fundierte Beurteilung der Preisperspektiven Aufgrund der unsicheren Entwicklung und Einschätzung der Geldnachfrage baut die Strategie des Eurosystems noch auf einer weiteren Säule auf. Diese beinhaltet eine breit fundierte Beurteilung der Preisperspektiven anhand mehrerer Inflationsindikatoren neben der Geldmenge. Zwar ist Inflation auf Dauer ein monetäres Phänomen. Auf kurze Sicht wird dieser Zusammenhang allerdings von einer Vielzahl von Faktoren überlagert. Und da sich diese Einflüsse verfestigen können, ist diese kurze Frist durchaus geldpolitisch relevant. In diesem Zusammenhang geht es auch um die Analyse von konjunkturellen Schocks und wie sich diese auf die Kosten- und Preisentwicklung in der EWU auswirken. Um sich ein Gesamtbild der Preisentwicklung zu verschaffen, werden innerhalb dieser Säule die Preise auf verschiedenen Stufen des Preisbildungsprozesses näher untersucht (Erzeuger-, Vorleistungsgüter-, Investitionsgüter- und verschiedene Konsumgüterpreise). Daneben lässt sich bei dem verwendeten Indikatoren-Set eine Dreiteilung vornehmen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="199"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 200 Erstens werden kurzfristige Konjunkturindikatoren analysiert. Darunter fallen Variablen, die eine veränderte Grunddynamik der Wirtschaft anzeigen, wie z. B. der Output Gap sowie generell angebots- und nachfrageseitige Einflüsse. Auf der Angebotsseite geht es dabei speziell um die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, deren Auslastung und Kosten. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wird unterteilt in ihre Komponenten Konsum, Investitionen, Außenbeitrag und zusammen mit ihren Determinanten beurteilt. Daneben kommen als preisrelevante Konjunkturdaten noch temporäre Faktoren wie Rohstoffpreis- und Wechselkursentwicklungen und die Veränderung indirekter Steuern zum Tragen. Die Relevanz von Output Gaps bzw. der Kapazitätsauslastung hat sich empirisch als umso höher erwiesen, je geringer der Offenheitsgrad einer Volkswirtschaft ist. Deshalb ist diese Variable für den Euroraum prinzipiell für Preisprognosen gut geeignet. Zu beachten ist dabei allerdings die große Schätzungenauigkeit des Konzepts „Output Gap“ (siehe z. B. EZB, 2011b für das Euro-Währungsgebiet und Gerberding et al., 2005 für den Fall Deutschlands). Als kurzfristige Inflationsindikatoren haben sich empirisch auch Lohnkostenmaße gut bewährt. Als Zweites werden Finanzmarktindikatoren näher untersucht. Hierfür analysiert die EZB z. B. Zinsstrukturkurven, nominale und indexierte Renditen von Staatsanleihen, Aktienkursindices und Derivatemärkte (Optionen, Swaps etc.). So enthalten nominale Zinsstrukturkurven und nominale Renditen eine Inflationskomponente. Aktienkurse können aus mehreren Gründen Informationen für die Konjunktur- und damit die Preisentwicklung besitzen: weil sie ein Maß für die Eigenkapitalkosten von Aktiengesellschaften darstellen, weil sie einen Teil des Vermögens der privaten Haushalte repräsentieren, von dem wiederum die Konsumnachfrage abhängt, weil sich in ihnen Erwartungen über die wirtschaftliche Entwicklung im Allgemeinen widerspiegeln und weil Aktien als Sicherheiten für Kreditgeschäfte dienen. Seit 2003 gibt es in der EWU auch Optionen auf den HVPI. In ihnen spiegeln sich die Markterwartungen hinsichtlich der weiteren HVPI-Entwicklung wider. Auch ein Vergleich nominaler und an einen Preisindex indexierter Renditen erlaubt es unter bestimmten Bedingungen, Inflationserwartungen zu isolieren (sog. Nullkupon-Breakeven-Inflationsraten). Gerade in der EWU sind Finanzmarktpreise attraktiv, da es sich um schnell verfügbare und erwartungsorientierte Marktdaten handelt, die nicht wie die Daten der VGR durch Revisionen und aufgrund der Aggregation durch erhöhte statistische Unsicherheiten behaftet sind. Auf der anderen Seite ist jedoch die Eignung von Finanzmarktpreisen wegen der in Kapitel III.2.4.3 beschriebenen Gefahr multipler Gleichgewichte und politik-induzierter Instabilitäten vorsichtig zu beurteilen. Da Finanzmarktpreise nicht nur Variablen im geldpolitischen Transmissionsprozess, sondern zu einem Großteil auch ein Abbild der vorherrschenden Markterwartungen sind, kann es aufgrund von Verhaltensänderungen der privaten Wirtschaftssubjekte leicht zu Fehlinterpretationen kommen. Deshalb muss auch die Forderung, die EZB sollte unabhängig von der Relevanz für die Preisentwicklung auf Assetpreise, vor allem die Aktienkursentwicklung, reagieren, abgelehnt werden (siehe ausführlich Box III.2.15). <?page no="200"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 201 Box III.2.15: Sollte die Geldpolitik auf Assetpreise reagieren? Vor dem Hintergrund der immer wieder auftretenden Turbulenzen auf den Finanzmärkten wird häufig gefordert, die Geldpolitik sollte Assetpreise, und zwar vor allem Aktienkurse, aber auch Immobilienpreise, in ihre Zielfunktion mit aufnehmen (Cecchetti et al., 2000). Assetpreise erscheinen zunächst attraktiv als Orientierungsgrößen, da sie Hinweise auf die Stabilität bzw. Instabilität des Finanzsystems geben, eine wichtige Rolle im Transmissionsprozess der Geldpolitik spielen und als Indikator für Markterwartungen dienen. Von Zentralbanken wird auch stets betont, dass die Entwicklung von Assetpreisen in dem Sinne für die Geldpolitik wichtig ist, wie sie die Inflationsaussichten beeinflussen. Ihre Rolle sollte sich dementsprechend auf die als Inflationsindikator beschränken. Doch sollte die Geldpolitik auch unabhängig von ihrem Indikatorgehalt für die zukünftige Preisentwicklung auf Bewegungen von Assetpreisen systematisch reagieren? Ziel dieser Politik müsste es sein, spekulative Blasen auf den Finanzmärkten, nicht jegliche Preisbewegung, zu verhindern. Dafür ist es notwendig, fundamental gerechtfertige Technologieschocks von sog. Bubbleschocks zu unterscheiden (Bernanke / Gertler, 2001). Zudem ist zu klären, ob der zugrunde liegende Schock eher temporärer oder permanenter Natur ist. All dies (das sog. Signal-Extraction-Problem) lässt sich jedoch häufig erst nach einiger Zeit feststellen: sowohl die Dauer als auch der maximale Umfang einer Blase sind stochastische Größen. Letztlich lässt sich eine spekulative Blase erst identifizieren, wenn sie geplatzt ist. Eine frühzeitige falsche geldpolitische Reaktion kann aber zusätzliche Probleme erzeugen (Alexandre / Baç-o, 2002). Um eine optimale geldpolitische Reaktion abzuleiten, müsste man auch die genauen stochastischen Eigenschaften der Bubble kennen (Gruen et al., 2003). Zudem wäre danach zu fragen, ab wann eine Assetpreisbewegung nicht mehr akzeptabel bzw. gerechtfertigt ist. So ist die Definition von Inflation oder Deflation anhand des HVPI „verhältnismäßig“ klar. Für Assetpreise dagegen gibt es keine derartige „natürliche“ Nulllinie. Auch existiert kein allgemein akzeptiertes theoretisches Modell, nach dem der fundamental gerechtfertigte Assetpreis berechnet werden könnte. Geschweige denn, diesen empirisch zu bestimmen. All dies kann dazu beitragen, dass die geldpolitische Reaktion auf Assetpreise zu spät und dann zu heftig erfolgt, mit eventuell gravierenden (realwirtschaftlichen) Folgen. Solange also Unsicherheit über die makroökonomische Rolle von Assetpreisen besteht, sollte auf sie vorsichtig im Rahmen ihrer Prognoseeigenschaften für die zukünftige Inflation reagiert werden. Damit entfällt auch eine Überfrachtung der Geldpolitik, die mit dem Kurzfristzins nur über ein recht grobes Instrument verfügt. Eine verstärkte Beachtung monetärer Variablen mit ihren Frühindikatoreigenschaften für den Auf bau von Finanzmarktungleichgewichten könnte hier einen sinnvollen Beitrag leisten. Da Finanzmarktpreise in der Regel vor den Güterpreisen steigen, wäre damit auch automatisch ein frühzeitiges geldpolitisches Gegensteuern (d. h. Zinserhöhungen) verbunden. Eine stabilitätsorientierte Zentralbank dürfte damit den besten Beitrag zur Stabilität des Finanzsystems leisten. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="201"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 202 Den dritten Komplex stellen Branchen- und Verbraucherumfragen dar. Diese sollen Preiserwartungen abbilden. 83 So stellt die EU-Kommission monatliche Angaben zu den Verkaufspreiserwartungen für die kommenden Monate im Verarbeitenden Gewerbe und zu der von Konsumenten erwarteten Preisentwicklung in den nächsten 12 Monaten zur Verfügung. Ferner ermittelt die EZB jedes Quartal durch eine Umfrage bei ca. 75 professionellen Prognostikern aus allen EU-Ländern die Erwartungen des Privatsektors in Bezug auf die HVPI- Entwicklung im Euroraum für unterschiedliche Zeithorizonte („survey of professional forecasters“, siehe Bowles et al., 2007). Auch die Erwartungsunsicherheit wird abgefragt. Die Qualität dieser direkten Erwartungsgrößen hängt entscheidend von den Annahmen ab, die den Prognosen zugrunde liegen. Deshalb erhebt die EZB auch noch die Erwartungen über die reale BIP-Entwicklung und die Arbeitslosenquote. Im Rahmen der Wirtschaftlichen Säule veröffentlicht die EZB seit Dezember 2000 auch eigene Prognosen für die Veränderung des HVPI und das BIP-Wachstum (inkl. der wichtigsten Determinanten Private Konsumausgaben, Staatsverbrauch, Bruttoanlageinvestitionen, Exporte und Importe). Diese Prognosen werden gemeinsam von Experten der EZB und der nationalen Zentralbanken der an der Währungsunion teilnehmenden Länder erstellt. Grundlage bilden sowohl ökonometrische Modelle als auch nicht modellgestützte Expertenurteile (EZB, 2001a). Monetäre Daten gehen darin nicht ein. Es werden somit unter Umständen wertvolle Informationen außer Acht gelassen. Die Projektionen werden mehrmals im Jahr für einen 2-Jahres-Zeitraum erstellt und veröffentlicht. Die EZB bezeichnet diese Prognosen als gesamtwirtschaftliche Projektionen. Dabei handelt es sich um keine „echten“ Prognosen (sog. unbedingte Prognosen), indem eine möglichst gute Übereinstimmung von Prognose und tatsächlicher Entwicklung angestrebt wird. Vielmehr wird die Projektion unter der Annahme unveränderter Wechselkurse und dass die kurz- und langfristigen Zinsen sowie die Ölpreise sich gemäß den Markterwartungen (abgeleitet aus Terminzinsen) entwickeln, getroffen (sog. bedingte Prognosen). Dadurch will die EZB verhindern, dass von den Prognosen auf die zukünftige Veränderung der Notenbankzinsen geschlossen wird. Dementsprechend stellen die Projektionen nicht eine beste Prognose, vor allem über längere Zeiträume, dar, da die Wechselkurse sich bewegen werden und Markterwartungen auch falsch sein können und revidiert werden. Auf der anderen Seite kann allerdings das Eurosystem unter Druck geraten, wenn die von ihr abgegebene bedingte Inflationsprognose nicht mit Preisstabilität vereinbar ist. Dann müssen die Zinsen eigentlich um mehr verändert werden, als in den Zinserwartungen zum Ausdruck kommt. In die Projektionen gehen des Weiteren gewisse Annahmen über das außenwirtschaftliche Umfeld ein (z. B. über das Wachstum außerhalb des Euro-Währungsgebietes und den Ölpreis). Um die Unsicherheit der Projektionen zu betonen, werden nicht nur Punktwerte angegeben, sondern auch Bandbreiten formuliert (siehe Tabelle III.2.5). Dabei gilt, dass sich die Bandbreiten mit der Länge des Prognosezeitraums ausweiten. Dadurch kommt zum Ausdruck, dass das Risiko von Fehlprognosen umso größer wird, je weiter der Prognosehorizont reicht. 83 Daneben dienen die Umfragen zum Industrie- und Verbrauchervertrauen auch als konjunktureller Frühindikator. <?page no="202"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 203 Mit der Inflationsprojektion soll eine breite Palette von Einzelinformationen zusammengefasst und verbunden werden. Der Expertenstab trägt die Verantwortung für die Projektionen. Der EZB-Rat dagegen, das Entscheidungsgremium des Eurosystems, soll weder für den Inhalt noch für den Erfolg verantwortlich sein. Vielmehr wird er die Projektionen zusammen mit anderen Vorhersagen und Informationen analysieren. Die Veröffentlichung bedingter Inflationsprognosen verbessert die Transparenz der Geldpolitik des Eurosystems in dem Sinne, dass mehr Informationen zur Verfügung stehen. Zugleich fördern sie eine wünschenswerte vorausschauende Diskussion der Geldpolitik. Allerdings üben sie nur eine begrenzte Orientierungsfunktion aus, da sie offiziell nicht die Meinung des EZB-Rats widerspiegeln und eine wichtige Inflationsdeterminante, die Geldmengenentwicklung, außer Acht lassen. Dadurch und vor dem Hintergrund des zinspolitischen Drucks, der entstehen kann, wenn die Prognose nicht mit der Definition von Preisstabilität übereinstimmt, ist die Vorgehensweise der EZB eher kritisch zu beurteilen. Zudem weisen die Projektionen eine gewisse Inkonsistenz auf. So werden konstante Wechselkurse unterstellt, während die Zinsen den Markterwartungen folgen sollen. Dies ist in der Regel inkompatibel mit Zinsparitätsbedingungen (siehe Box V.3.1). Zudem wird auch nur ein möglicher Zinspfad angenommen. Die grundlegende Basis für die Prognosen, hinreichend lange verfügbare Zeitreihen, unterlag zudem mit Beginn der Währungsunion einem Strukturbruch. Und dessen Umfang und Auswirkungen ist immer noch schwierig einschätzen. Eine Evaluation der makroökonomischen Projektionen ergab, dass damit das BIP- Wachstum tendenziell überschätzt, während die Teuerungsrate eher zu niedrig prognostiziert wurde. Dabei spielte vor allem die unerwartete Entwicklung der Ölpreise eine zentrale Rolle (EZB, 2013b). Tabelle III.2.5: Makroökonomische Projektionen des Eurosystems (in %) 2013 2014 HVPI 1,4 (1,3 bis 1,5) 1,3 (0,7 bis 1,9) Reales BIP -0,6 (-1,0 bis -0,2) 1,1 (0,0 bis 2,2) Privater Verbrauch -0,8 (-1,1 bis -0,5) 0,6 (-0,5 bis 1,7) Staatsverbrauch -0,1 (-0,6 bis 0,4) 0,6 (-0,5 bis 1,7) Bruttoanlageinvestitionen -2,9 (-4,1 bis -1,7) 1,8 (-0,9 bis 4,5) Exporte 0,8 (-1,0 bis 2,6) 4,1 (0,3 bis 7,9) Importe -0,7 (-2,5 bis 1,1) 3,8 (0,1 bis 7,5) Quelle: EZB. Anmerkungen: Stand Juni 2013. Angegeben ist jeweils der Mittelwert und in Klammern die Bandbreite der Schätzung. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="203"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 204 2.6.6 Kritische Würdigung In diesem Kapitel wurden die drei Elemente der geldpolitischen Strategie des Eurosystems beschrieben (siehe auch Abb. III.2.18). Es handelt sich dabei um die Definition von Preisstabilität („der Anker“) sowie die Monetäre und die Wirtschaftliche Säule. Die beiden Säulen sind als gleichberechtigte Teile im Versuch der Gewährleistung von Preisstabilität zu betrachten. Abb. III.2.18: Die geldpolitische Strategie des Eurosystems Quelle: EZB (2003a), 102. Um Deflationsgefahren und Messfehler adäquat zu berücksichtigen, strebt das Eurosystem eine HVPI-Inflation von unter, aber nahe 2 % an. In einem nächsten Schritt wurde auf die Rolle monetärer Faktoren zur Erreichung dieses Ziels im Rahmen einer mittelfristig orientierten Geldpolitik eingegangen. Dafür stellt die EZB eine umfassende Monetäre Analyse an. Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass Inflation mittelbis langfristig immer mit einer übermäßigen Geldmengenausweitung einhergeht. Deshalb wird bei der Beurteilung der Preisentwicklung monetären Faktoren eine hervorgehobene Rolle unter den möglichen Inflationsindikatoren bzw. Informationsvariablen eingeräumt. Durch diese Monetäre Säule wird dem mittelfristigen Charakter einer geldpolitischen Strategie Rechnung getragen. Gerade wegen der mit der Währungsunion und dem veränderten gesamtwirtschaftlichen Umfeld zusammen hängenden Unsicherheiten soll auf monetäre Entwicklungen allerdings nicht „mechanistisch“ reagiert werden. Die Zinspolitik muss sich auf eine sorgfältige und umfassende Ursachenanalyse stützen. Wenn diese auf Sonderentwicklungen, die keine Gefährdung des Ziels der Preisstabilität beinhalten, hindeutet, darf es nicht zu Änderungen des geldpolitischen Kurses kommen. Dafür beurteilt die EZB <?page no="204"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 205 die Preisperspektiven im Rahmen der Wirtschaftlichen Säule zusätzlich auf Basis einer Vielzahl von Indikatoren, die neben der Geldmenge „gute“ Vorlaufeigenschaften für die künftige Preisentwicklung haben. Die beiden letzten Elemente - die Monetäre und die Wirtschaftliche Säule - bezeichnet man als das „Zwei-Säulen-Konzept“ („two-pillars-concept“) des Eurosystems. Beide Säulen sind im Sinne eines Cross-checks miteinander verbunden. Der Terminus soll einerseits auf die spezifischen Eigenheiten des Eurosystems verweisen und ist andererseits als eine bewusste Abgrenzung zu einer Politik mit Geldmengenzielen oder einer direkten Inflationssteuerung zu betrachten. Mit dieser Strategie verbindet das Eurosystem die Erfahrungen der teilnehmenden nationalen Zentralbanken mit der spezifisch neuen Situation der Währungsunion. In diesem Zusammenhang sind hauptsächlich die Verpflichtung auf Preisstabilität, die hervorgehobene Rolle der Geldmenge, die Möglichkeit von Instabilitäten in der Geldnachfrage und die Bedeutung kurzfristiger Abweichungen der Inflation vom Inflationstrend zu nennen. Dieser auf den ersten Blick generell sinnvollen Vorgehensweise kann jedoch in Zeiten, in denen von den beiden Säulen uneinheitliche Signale ausgehen, die Orientierung für die Inflationserwartungen der Märkte und der Öffentlichkeit verloren gehen. Deshalb sollte eine stärkere Ausdifferenzierung der Strategie erfolgen. Da eine Strategie mittelbis langfristig ausgerichtet ist und über diesen Zeithorizont Inflation ohne eine übermäßige Ausweitung der Geldmenge nicht möglich ist, sollte die Monetäre Analyse und die längerfristige Perspektive stärker in den Vordergrund rücken. Voraussetzung wäre allerdings die Stabilität der monetären Beziehungen. Wenn dann bei nicht zielkonformen Entwicklungen vom Eurosystem keine Gefährdungen der Preisstabilität gesehen werden, muss dies den Märkten mit Hilfe einer sorgfältigen Ursachenanalyse vermittelt werden. Bis 2008 hat die EZB aber gerade den umgekehrten Weg eingeschlagen. Sie hat die Monetäre Säule eher relativ abgewertet. Der kurzfristigen Säule dagegen wurde mehr Beachtung geschenkt. Dadurch wurde einer Kurzfristorientierung der Geldpolitik Vorschub geleistet. Seither hat die Monetäre Säule vor allem aus Finanzstabilitätsgesichtspunkten wieder an Bedeutung gewonnen. Durch bestimmte inhärente Entwicklungen kann es auch zu erzwungenen Anpassungen der Strategie kommen. Dafür verantwortlich zeigen sich die Finanzmärkte und ihre Rückwirkungen auf die Stabilität der monetären Relationen im Allgemeinen und der Geldnachfrage im Speziellen. Die Europäische Währungsunion hat einschneidende Konsequenzen für die Finanzmärkte der teilnehmenden Länder. Die Marktfähigkeit verschiedener Finanzinstrumente, die Intermediationsketten und die Liquidität des Euro-Finanzmarktes sind deutlich gestiegen und werden noch weiter zunehmen. Ein verändertes internationales Umfeld, Deregulierungen und die Internationalisierung der Finanzmärkte waren aber immer Ursachen von Finanzinnovationen. Mit der Internationalisierung einher geht ein verstärkter Konkurrenzdruck für die Finanzinstitute. Sie werden gezwungen sein, Produkte zu attraktiven Konditionen anzubieten, (z. B. verstärkt zinstragende Girokonten), neue Transaktionstechnologien einführen (z. B. transaktionsfähige Geldmarktkonten) und neue Produkte zu entwickeln (siehe z. B. die Verbriefungsformen). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="205"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 206 In einem derartigen Umfeld wird es extrem schwierig, die gesamtwirtschaftliche Liquiditätslage zu beurteilen sowie ein breit abgegrenztes Geldmengenaggregat, das an Bankbilanzen ansetzt, zu kontrollieren. Man müsste dafür nämlich auch über das Verhalten und die Reaktionen des Banken- und Nichtbankensektors zuverlässige Informationen haben (z. B. wie Banken ihre Konditionen- und Produktgestaltung auf die beschriebenen Entwicklungen hin anpassen oder wie sich das Portfolioverhalten der Nichtbanken verändert). Die zunehmende Zinssensitivität der Anleger wird ihr Übriges tun und unter Umständen einen gewissen Disintermediationsprozess weg vom Bankensystem auslösen. Dieser wiederum wird den Wettbewerb um Marktanteile weiter intensivieren. Auch für private Haushalte ist inzwischen ein effizientes Cash- und Portfolio-Management aufgrund der modernen Informationstechnologien möglich. Sie werden zudem mit neuen Finanzinstrumenten wie Optionen und Futures immer besser umgehen können. Betont werden müssen in diesem Zusammenhang die spezielle Rolle und das Marktpotenzial von Finanzderivaten und deren Rückwirkungen auf eine an finanziellen Variablen orientierte Geldpolitik. Durch Finanzderivate wird nämlich die Unterscheidbarkeit von Finanzaktiva erschwert: Wird z. B. eine Bundesanleihe durch einen Bund-Future kursrisikogesichert, unterscheidet sie sich vom Risiko her nicht mehr von einer Termineinlage mit entsprechender Laufzeit. Ein derartig abgesichertes Papier ist zudem aufgrund der hohen Liquidität sowohl am Kassamarkt als auch am Futuresmarkt liquider als die vergleichbare Termineinlage. Auch die Tendenz zur Verbriefung von illiquiden Bilanzpositionen wie Hypotheken erhöht in der Regel den Liquiditätsgrad. Auf alle Fälle werden die Grenzen zwischen dem, was in offizieller Definition als Geld bzw. Nicht-Geld zählt, zunehmend verwischt. Wegen der damit möglicherweise einher gehenden Instabilitäten der Geldnachfrage könnte dann ein breites Geldmengenaggregat immer weniger als Indikator zukünftiger Entwicklungen geeignet sein. Das erfordert geradezu eine breit angelegte Monetäre Analyse, die sich nicht nur auf einzelne Geldmengenaggregate stützt. Insgesamt dürfte aber die Geldpolitik des Eurosystems mittelbis langfristig vor nicht unerhebliche Herausforderungen gestellt werden. Sollte dieser Prozess weiter fortschreiten, entsprächen die Euro-Verhältnisse in etwa denen der USA. Der dort verwendete Multi-Indikatoren-Ansatz, ergänzt um ein Inflationsziel, jedoch ohne eine spezielle Indikatorvariable gewinnt dann an Attraktivität. Falls sich das Eurosystem bis dahin Glaubwürdigkeit und Reputation auf den Märkten erworben hat, könnte dieser Ansatz nach dem Vorbild der amerikanischen Notenbank und nach Anpassung auf die institutionellen Gegebenheiten in der EWU (z. B. Berücksichtigung des primären Ziels der Gewährleistung von Preisstabilität) erfolgreich eingesetzt werden. Die Risiken sind allerdings, wie die Ausführungen zu diesem Ansatz in Teil III.2.5 gezeigt haben, nicht unbeträchtlich. Falls das Wirtschaftswachstum im Euro-Währungsgebiet gering ausfällt, wird auch der Druck auf das Eurosystem zur Berücksichtigung konjunktureller Gesichtspunkte ansteigen. Dies dürfte vor allem dann wahrscheinlich sein, wenn sich die Inflationsraten über Jahre hinweg auf niedrigem Niveau bewegen. Dann wäre diese verstärkte Konjunkturorientierung aber auch konform mit dem EU-Vertrag. <?page no="206"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 207 2.7 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden verschiedene geldpolitische Strategien vorgestellt und im Hinblick auf ihre Eignung für die Geldpolitik des Eurosystems diskutiert. Die Analyse erfolgte vor dem Hintergrund gewisser Anforderungen, die an geldpolitische Konzeptionen zu stellen sind. Generell gilt es zu unterscheiden zwischen Strategien, die sich bei Verfolgung des Endziels Preisstabilität zusätzlich auf Größen konzentrieren, die zwischen den operativen Variablen und dem Endziel liegen, und solchen, die das Endziel direkt anstreben. Dabei wurde zu Beginn gezeigt, dass es mit beiden Ansätzen theoretisch gleichermaßen möglich ist, dieses Endziel zu erreichen. Daran anschließend wurden ausgewählte geldpolitische Strategien vorgestellt. Schon aufgrund der Größe des Euro-Raumes scheiden Wechselkurse als Zwischenziele für das Eurosystem aus. Sie können jedoch sinnvolle Orientierungen für die zunächst noch nicht an der Währungsunion teilnehmenden Länder im Rahmen des EWS II sein. Bei der Zinssteuerung (gleich welcher Art) fehlt letztlich ein nominaler Anker für die Erwartungsbildung der Privaten. Auch bleibt die Preisentwicklung letztlich unbestimmt. Zinsgrößen liefern zwar wichtige Informationen. Diese Funktion können sie aber am besten innerhalb einer anderen geldpolitischen Konzeption erfüllen. Eine nominale BIP-Steuerung erscheint auf den ersten Blick attraktiv, weil sie auch ein Outputziel enthält und sich nicht nur auf die Inflation alleine konzentriert. Auf der anderen Seite scheidet diese Orientierung aber wegen Datenproblemen, potenziellen Konflikten mit dem im EU-Vertrag formulierten primären Ziel Preisstabilität und fehlenden praktischen Erfahrungen als wirkliche Alternative für das Eurosystem aus. Eine pragmatische Geldmengenstrategie, wie sie von der Deutschen Bundesbank bis zu Beginn der Währungsunion verfolgt wurde, hat viele Vorteile. Man konzentriert sich auf eine Variable, die einen theoretisch gesicherten Zusammenhang zur Preisentwicklung aufweist, hat eine eindeutige Zuweisung von Verantwortlichkeiten und lässt keine Informationen außer Acht. Voraussetzung für den sinnvollen Einsatz ist allerdings vor allem die Stabilität der Geldnachfrage. Darüber besteht gerade in der Währungsunion und vor dem Hintergrund der Entwicklung der Finanzmärkte Unsicherheit. Direkte Inflationsziele stellen die Orientierung an der Inflationsbekämpfung deutlicher heraus als eine Geldmengenorientierung. Dies ist gerade für das Eurosystem ein wichtiges Signal für die Märkte und die Öffentlichkeit. Die Bedeutung kurzfristig neben der Geldpolitik wirkender weiterer Einflussfaktoren (z. B. Fiskal- und Lohnpolitik), die Informationserfordernisse seitens der Zentralbank und die langen Verzögerungen zwischen der Diagnose, dem Ergreifen geldpolitischer Maßnahmen und der endgültigen Wirkung auf die Preise mahnen allerdings zur Vorsicht. Bleibt als letzte Möglichkeit die Strategie der USA, basierend auf einem Multiindikatorenansatz mit einem Inflationsziel. Für das Eurosystem dürfte sie allerdings wegen der mangelnden Transparenz und des Fehlens einer expliziten Orientierungsgröße für die Inflationserwartungen - zumindest bisher und ohne Modifikationen - nicht empfehlenswert sein. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="207"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 208 Was die adäquate Strategie für das Eurosystem ist, ist je nach Zeithorizont differenziert zu beurteilen. Als Ausgangspunkt bot sich eine Mischstrategie aus Elementen einer Geldmengenorientierung und eines direkten Inflationsziels an, wie sie das Eurosystem auch gewählt hat. Die 2-Säulen-Strategie kann aber wegen des nur undeutlichen Leitmotivs die Verankerung der Inflationserwartungen erschweren. So wurde z. B. schon häufig der Vorwurf geäußert, die EZB suche sich je nach Situation die für sie passenden Variablen heraus. Unter strategischen Gesichtspunkten wäre eine deutlichere Herausstellung der Monetären Analyse mit ihrem langfristigen Charakter empfehlenswert. Diesen Weg hat die EZB bisher leider nicht eingeschlagen, sondern kurzfristigen Entwicklungen ein größeres Gewicht zugemessen. Dadurch wird eher diskretionärem und damit destabilisierendem Verhalten Vorschub geleistet. Auf Dauer ist für die Strategiewahl die Entwicklung auf den Finanz- und Gütermärkten aufmerksam zu beobachten. Es könnte sich durchaus eine Situation ergeben, die einen Übergang auf einen Multi-Indikatoren-Ansatz mit Inflationsziel erfordert. So könnte es auch in der EWU zu einer „Amerikanisierung der Finanzmärkte“ und einer stärkeren Berücksichtigung konjunktureller Gesichtspunkte durch das Eurosystem kommen, die eine Strategie nach dem Vorbild des Fed (unter Beachtung der unterschiedlichen Zielstrukturen) geradezu erzwingen könnte. Eine stärkere Konjunkturorientierung ist vor allem bei niedrigen Inflationsraten und schwacher wirtschaftlicher Entwicklung nicht unwahrscheinlich. Die damit verbunden Risiken sind allerdings nicht von der Hand zu weisen. Kontrollfragen 1 Welche Anforderungen werden an eine geldpolitische Strategie gestellt? Gehen Sie insbesondere darauf ein, wie diese Anforderungen durch die Situation in der Währungsunion beeinflusst werden! 2 Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der ein- und zweistufigen geldpolitischen Strategien? 3 Warum scheiden Wechselkursziele als Strategie für das Eurosystem aus? 4 Was ist der Unterschied zwischen einer Geldmengenstrategie und einer nominalen BIP-Steuerung? 5 Welche Voraussetzungen müssen für die Eignung der Zinsstruktur als Zwischenziel der Geldpolitik gegeben sein? 6 Inwiefern spielt der Zeithorizont bei der Entscheidung über die angemessene Strategie des Eurosystems eine wichtige Rolle? 7 Wie beurteilen Sie die vom Eurosystem verfolgte Strategie im Hinblick auf die Situation in der Währungsunion und das primäre Ziel des Eurosystems, der Gewährleistung von Preisstabilität? 8 Welche Rolle spielt die Geldnachfrage für eine erfolgreiche Geldmengenstrategie und die Strategie des Eurosystems? <?page no="208"?> GELDPOLITISCHE STRATEGIEN FÜR DAS EUROSYSTEM 209 Weiterführende Literatur Issing, O., Gaspar, V., Angeloni, I., Tristani, O. (2001), Monetary Policy in the Euro Area - Strategy and Decision Making at the European Central Bank, Cambridge University Press, Cambridge. Analyse der geldpolitischen Strategie des Eurosystems aus der Sicht der EZB. Beschreibung des analytischen Hintergrunds, der Hauptelemente der Strategie, der Implementierungsebene und politökonomischer Aspekte. Dabei wird speziell auf die Situation in der EWU eingegangen. Papademos, L. D., Stark J. (Hrsg.) (2010), Enhancing Monetary Analysis, Frankfurt (http: / / www. ecb.int). Ausführliche Beschreibung der Monetären Analyse der EZB. Bernanke, B. S., Woodford, M. (Hrsg.) (2004), Inflation Targeting, The University of Chicago Press, Chicago. Beschreibung der praktischen Erfahrungen verschiedener Länder mit der Strategie der direkten Inflationssteuerung. Vergleich mit den Strategien Deutschlands in der Vergangenheit und der USA. Konkreter Vorschlag für Ausgestaltung eines Inflationssteuerungssystems für das Eurosystem und die USA. Laidler, D. E. W. (1993,) The Demand for Money - Theories, Evidence & Problems, 4. A., Harper Collins College Publishers, New York. Serletis, A. (2007), The Demand for Money: Theoretical and Empirical Approaches, 2. A., Springer, Berlin et al. Umfassende Darstellung der Theorie und Empirie der Geldnachfrage. Auf die Rolle von Datenunsicherheit und Datenrevisionen, speziell bei der BIP-Entwicklung, sowie Schätzunsicherheiten beim Produktionspotenzial und damit beim Output Gap und deren Rückwirkungen auf die Geldpolitik und Inflationsprognosen verweisen Orphanides, A. (2003), The Quest for Prosperity without Inflation, Journal of Monetary Economics, Vol. 50, S. 633 - 663. Gerberding, C., Seitz, F., Worms, A. (2005), How the Bundesbank Really Conducted Monetary Policy, North American Journal of Economics and Finance, Vol. 16, S. 277 - 292. Marcellino, M., Musso, A. (2010), The Forecasting Performance of Real Time Estimates of the Euro Area Output Gap, CEPR Discussion Papers 7763. Marcellino, M., Musso, A. (2011), The Reliability of Real-time Estimates of the Euro Area Output Gap, Economic Modelling, Vol. 28, S. 1842 - 1856. Die Überprüfung der geldpolitischen Strategie beschreibt die EZB in Europäische Zentralbank (2003), Ergebnis der von der EZB durchgeführten Überprüfung ihrer geldpolitischen Strategie, Monatsbericht Juni 2003, S. 87 - 102 (http: / / www.ecb.int). Die dafür von der EZB ausgewerteten Hintergrundpapiere finden sich in Issing, O. (Hrsg.) (2003), Background Studies for the ECB’s Evaluation of its Monetary Policy Strategy (http: / / www.ecb.int). Lösungen unter europa-geldpolitik.de OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="209"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 210 3 Geldpolitisches Instrumentarium Das geldpolitische Instrumentarium muss das Eurosystem in die Lage versetzen, den Tagesgeldsatz (operatives Ziel) zu steuern und klare geldpolitische Signale zu setzen. Als Geschäftspartner (counterparty) für die geldpolitischen Operationen des Eurosystems (Offenmarktgeschäfte und Ständigen Fazilitäten) kommen nur Kreditinstitute in Betracht, die der Mindestreservepflicht unterliegen. Ende 2012 gab es im Euroraum rd. 6.000 mindestreservepflichtige Kreditinstitute (Deutschland: rd. 1.900). Davon waren 2.300 für die Haupt- und längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte zugelassen, die als Standardtender durchgeführt werden. Für Feinsteuerungsoperationen, die das Eurosystem in der Regel als Schnelltender durchführt, sind dagegen nur rd. 150 Geschäftspartner (Deutschland: 38) zugelassen, die die Voraussetzungen für die Teilnahme an Standardtendern erfüllen und die zusätzlich als „geldmarktaktiv“ eingestuft werden. Die Ständigen Fazilitäten stehen einem wesentlich größeren Kreis offen. Rd. 2.900 Institute sind für die Einlagefazilität (Deutschland 1.800) und rd. 2.300 für die Spitzenrefinanzierungsfazilität (Deutschland: 1.500) zugelassen. Der Zugang zur Spitzenrefinanzierungsfazilität ist etwas restriktiver als der Zugang zur Einlagefazilität, da eine Inanspruchnahme der Spitzenrefinanzierungsfazilität die Stellung von Sicherheiten voraussetzt. 3.1 Anknüpfungspunkte der Geldpolitik Geschäftsbanken fragen Zentralbankgeld in Form von Banknoten 84 und von Guthaben (Einlagen) beim Eurosystem nach. Letztere stellen den geldpolitischen Ansatzpunkt im Rahmen der operativen Umsetzung der Geldpolitik des Eurosystems dar. Das Banknotenmonopol des Eurosystems führt zu einer Nachfrage nach Banknoten (Position P.1 in Abb. III.3.1). Die Verpflichtung zur Haltung von Mindestreserven sowie der Wunsch, Guthaben zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs (Working Balances) bei der Zentralbank zu halten, ziehen eine Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank (Position P.2) seitens der Kreditinstitute nach sich. Zentralbankgeld kann aber nur geschaffen werden, wenn die Kreditinstitute Geschäfte mit dem Eurosystem tätigen. Hier kommt die Aktivseite der Zentralbankbilanz ins Spiel. Im Wesentlichen stellt das Eurosystem Zentralbankgeld im Wege der Kreditvergabe an die Geschäftsbanken zur Verfügung (Position A.2). Den Währungsreseven (Position A.1) kommt im Eurosystem keine aktive Rolle bei der Bereitstellung von Zentralbankgeld zu. Die Bestände rühren vielmehr noch aus der Zeit des Festkurssystems von Bretton-Woods her. 85 84 Von Münzen sei der Einfachheit halber abgesehen, da diese für die Zentralbank nur einen durchlaufenden Posten darstellen (siehe hierzu auch Box II.3.3). 85 Zu einem Vergleich der (Struktur) der Bilanz des Eurosystems mit der des Federal Reserve Systems (Fed) in den USA siehe Ruckriegel / Seitz, 2002, 27 - 29. <?page no="210"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 211 Abbildung III.3.1: Konsolidierte Bilanz (Wochenausweis)des Eurosystems zum 26. 4. 2013 Konsolidierte Bilanz (Wochenausweis) des Eurosystems - vereinfachte Darstellung - zum 26. 4. 2013 (in Mrd. €) Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven 688,4 Gold 435,3 Fremdwährungsforderungen a) 253,1 P.1: Banknotenumlauf 897,0 A.2: Forderungen in € an Kreditinstitute im Euro-Währungsgebiet 852,2 darunter: Hauptrefinanzierungsgeschäfte 110,4 ◼ Längerfr. Refinanzierungs- ◼ geschäfte 741,8 P.2: Verbindlichkeiten in € gegenüber von Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet 628,1 darunter: Einlagen auf Girokonten 316,0 ◼ Einlagefaziliät 109,7 ◼ Termineinlagen 202,5 ◼ A.3: Sonstiges 1.070,7 darunter: Wertpapiere für geldpol. Zwecke ◼ (Staatsanleihen und Bankschuldverschr.) 265,6 P.3: Sonstiges 1.086,2 Bilanzsumme 2.611,3 2.611,3 Quelle: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 19 vom 30. April 2013, 34 f. a) Forderungen in Fremdwährung an Ansässige außerhalb des Euro-Währungsgebiets. Box III.3.1: Gold und Goldverkäufe im Bilanzzusammenhang Zum 31. 12. 2012 betrugen die Goldbestände der Deutschen Bundesbank 109 Millionen Unzen (3.391 Tonnen) Feingold (ozf ) zu einem Marktpreis von 1.261,179 € je ozf.. Der Eröffnungsbilanzkurs betrug zum 01. 01. 1999 246,368 € je ozf.. Als die Goldbestände noch zu Anschaffungskosten bewertet wurden (31. 12. 1998), lag der Wertansatz bei 73,5271 € je ozf. Mit Beginn der Währungsunion ging die Deutsche Bundesbank zu einer Bewertung nach tatsächlichen Marktpreisen über. Die Differenz zwischen den Anschaffungskosten und dem Marktwert wird passivseitig unter der Rubrik „Ausgleichsposten aus Neubewertung“ eingestellt ((Marktkurs -Anschaffungskosten) x mengenmäßiger Goldbestand). Ende 2012 betrug der Ausgleichsposten für Gold 129,5 Mrd. € (siehe Abb. III.3.2). Davon entfielen 18,8 Mrd. € auf „alte“ Neubewertungsposten, die den Unterschiedsbetrag zwischen dem Wert des Goldes zu Marktpreisen zum 1. 1. 1999 und dem bis dahin geltenden niedrigeren Wertansatz darstellen. Bewertungsgewinne - auch aus dem „alten“ Neubewertungsposten - sind grundsätzlich nur bei entsprechenden Goldverkäufen anteilig ausschüttungsfähig. Die „neuen“ Neubewertungsposten für Gold ergeben sich aus dem positiven Unterschiedsbetrag zwischen dem Marktwert am 31. 12. 2012 (1 ozf = 1.261,179 €) und dem Wert zu den ab dem 1.1.1999 fortgeschriebenen durchschnittlichen Anschaffungskosten (1 ozf = 246,370 €). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="211"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 212 Die Deutsche Bundesbank gelangte in den Besitz des Goldes, indem sie ihre Einlagen bei anderen Zentralbanken bzw. ihre Goldforderung, die sich aus dem Spitzenausgleichsmechanismus des Bretton Wood Abkommens ergab (Auslandsverbindlichkeiten und Auslandsforderungen wurden verrechnet und die Spitzen in Gold ausgeglichen, so führten in Deutschland stetige Außenhandelsüberschüsse zu stetigen Goldzuflüssen), gegen Gold tauschte, es kam also zu einem Aktivtausch. Durch Goldverkäufe werden Bewertungsgewinne realisiert. Würden die gesamten Goldbestände der Deutschen Bundesbank zu einem Marktpreis von 1.261,179 € je ozf verkauft, so könnten bei einem Verkaufserlös von 137,5 Mrd. € (siehe A.1) Bewertungsgewinne von 129,5 Mrd. € (siehe P.3) realisiert werden. Allerdings ist dies rein hypothetisch, da ein solch massiver Goldverkauf den Goldpreis stark unter Druck bringen würde. Um solche Marktstörungen zu verhindern, haben (europäische) Zentralbanken sog. Goldabkommen geschlossen, die regeln, in welcher Zeit sie in welcher Höhe Goldbestände verkaufen können. Das neue Goldabkommen erlaubt -beginnend ab September 2009 - der Deutschen Bundesbank über die nächsten fünf Jahre pro Jahr bis zu 400 Tonnen Gold zu verkaufen, sodass pro Jahr bei einem angenommenen Verkaufspreis von 1.261,179 Euro pro ozf rd. 15,3 Mrd. € an Bewertungsgewinnen realisiert werden könnten. Der Jahresüberschuss der Bundesbank - in ihm sind die realisierten Bewertungsgewinne enthalten - sind in voller Höhe an den Bundeshaushalt abzuführen (zu den Versuchen der Politik, bereits im Vorfeld der Gründung der Europäischen Währungsunion die Währungsreserven zur Erfüllung der Konvergenzkriterien „nutzbar“ zu machen siehe Ruckriegel (1997b). Abbildung III.3.2: Bilanz der Deutschen Bundesbank zum 31. 12. 2012 Bilanz zum 31. 12. 2012 - in Mrd. € Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven 188,6 Gold 137,5 Fremdwährungsforderungen 51,1 P.1: Banknotenumlauf 227,2 A.2: Forderungen in € aus geldpolitischen Operationen an Kreditinstitute im Euro-Währungsgebiet 73,1 darunter: Hauptrefinanzierungsgeschäfte 2,9 ◼ Längerfr. Refinanzierungsgeschäfte 69,7 ◼ P.2: Verbindlichkeiten in € aus geldpolitischen Operationen gegenüber Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet 300,0 darunter: Einlagen auf Girokonten 129,6 ◼ (Bankenliquidität) A.3: Sonstiges 763,6 darunter: Wertpap. f. geldp. Zwecke 67,5 ◼ TARGET2-Forderungen 654,9 ◼ P.3: Sonstiges 498,1 darunter: Ausgleichsposten aus ◼ Neubewertung 132,6 darunter: Gold ◼ 129,5 Bilanzsumme 1.025,3 1.025,3 Quelle: Deutsche Bundesbank, 2013a, 144 f. <?page no="212"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 213 3.2 Mindestreserve Seit es die „Mindestreserveidee“ gibt und speziell seit „Entdeckung“ der Mindestreserve als Instrument der Geldpolitik zu Beginn der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts in den USA (Feinman, 1993, 574) wird dieses Instrument sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Zentralbankpolitik kontrovers diskutiert. Auch im Vorfeld der Einführung der einheitlichen europäischen Geldpolitik war die Verwendung dieses Instruments nicht unumstritten. Von Gegnern der Mindestreserve wurden insbesondere zwei Argumente ins Feld geführt: zum einen wurde darauf hingewiesen, dass eine unverzinste Mindestreserve zu Wettbewerbsverzerrungen führt, zum anderen darauf, dass die Mindestreserve schlichtweg überflüssig sei, da andere geldpolitische Instrumente an ihre Stelle treten könnten. 86 Das Problem mindestreservebedingter Wettbewerbsverzerrungen kann durch eine Verzinsung gelöst werden, wie dies z. B. im Euroraum seit Beginn der Europäischen Währungsunion der Fall ist. Das zweite Argument, wonach die Mindestreserve ohne weiteres durch andere geldpolitische Instrumente ersetzt werden könne, beruht hingegen auf einem falschen Rollenverständnis der Mindestreserve im Gesamtgefüge des geldpolitischen Instrumentariums. 3.2.1 Ausgestaltung des Mindestreservesystems Die Mindestreserve verpflichtet die Kreditinstitute, für bestimmte Verbindlichkeiten in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes Guthaben beim Eurosystem zu halten (siehe Abbildung III.3.3). Für die unter A aufgeführten Verbindlichkeiten gilt derzeit ein Reservesatz von 1 %, d. h. die Kreditinstitute sind verpflichtet, für diese Verbindlichkeiten Guthaben beim Eurosystem in Höhe von 1 % zu unterhalten. 87 Von Beginn der Währungsunion bis Dezember 2011 lag dieser Satz immer bei 2 %. Bemerkenswert ist, dass es auch Verbindlichkeiten gibt, die zwar grundsätzlich mindestreservepflichtig sind, für die derzeit aber ein Reservesatz von 0 % festgesetzt wurde (siehe Position B). Dahinter steht die Überlegung, dass - falls die Reservebasis, die aus den unter A aufgelisteten Verbindlichkeiten resultiert, zu stark schwinden sollte - ohne größeren Aufwand die Reservebasis um die unter B aufgeführten Verbindlichkeiten erweitert werden kann. Derzeit steht eine solche Erweiterung allerdings nicht zur Debatte. Grundlage für die Berechnung des Mindestreserve-Solls, also der Höhe des bei den nationalen Zentralbanken zu haltenden Guthabens, bilden die (jeweiligen Monatsendstände der) betreffenden Bilanzpositionen der Kreditinstitute. Das Mindestreserve-Soll wird durch die Multiplikation der reservepflichtigen Bilanzpositionen mit den Min- 86 Eine systematisierende Übersicht zur Mindestreserve findet sich bei Bindseil (2004a, Kap. 6). Zur Diskussion um die „Sinnhaftigkeit“ der Mindestreserve als geldpolitisches Instrument vgl. Ruckriegel et al., (2000). 87 Gemäß Verordnung (EG) Nr. 2531 / 98 des Rates vom 23. November 1998 über die Auferlegung einer Mindestreservepflicht durch die EZB kann der Mindestreservesatz zwischen 0 und 10 % liegen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="213"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 214 destreservesätzen (reserve ratios) berechnet. Um kleinere Institute von der Pflicht zur Haltung von Mindestreserven zu befreien, wird vom Mindestreserve-Soll einheitlich ein Freibetrag in Höhe von 100.000 € in Abzug gebracht. Die Meldung des Mindestreserve-Solls an das Eurosystem erfolgt im Rahmen der „Monatlichen Bilanzstatistik“. Die „Monatliche Bilanzstatistik“ wird primär für Zwecke der „Monetären Analyse“ (insbes. Beobachtung der Geldmengenentwicklung) erhoben. Eigenständige Mindestreservemeldungen werden nicht gefordert. Das Mindestreserve-Soll ist Grundlage für die Mindestreservehaltung während der Mindestreserve-Erfüllungsperiode. Die Mindestreserve-Erfüllungsperiode beginnt am Abwicklungstag (Valutierungstag) des Hauptrefinanzierungsgeschäfts, das auf die erste Sitzung des EZB-Rates in einem Monat folgt und endet am Tag vor dem Abwicklungstag des Hauptrefinanzierungsgeschäfts, das der ersten Sitzung des EZB-Rates im Folgemonat folgt. Die EZB veröffentlicht spätestens drei Monate vor Beginn jedes Jahres einen Kalender der Mindestreserve-Erfüllungsperioden. Grundlage für die Berechnung des Mindestreserve-Solls bilden die Monatsendstände der reservepflichtigen Bilanzpositionen, wobei der vorletzte Monat - gerechnet vom Beginn der Mindestreserveperiode - zugrunde liegt. Beispielsweise dienen für die Erfüllungsperiode, die im März beginnt, die Monatsendstände zum 31. 1. als Berechnungsgrundlage für das Mindestreserve-Soll. Im Durchschnitt der Kalendertagesendstände müssen die Guthaben - genauer die Einlagen auf Girokonten beim Eurosystem (siehe hierzu auch Abbildung III.3.4) - (mindestens) dem Mindestreserve-Soll entsprechen (Durchschnitts-Mindestreserve). Abbildung III.3.3: Reservebasis und Mindestreservesätze A. In die Mindestreservebasis einbezogene Verbindlichkeiten mit positivem Reservesatz Einlagen Täglich fällige Einlagen ◼ Einlagen mit vereinbarter Laufzeit von bis zu zwei Jahren ◼ Einlagen mit vereinbarter Kündigungsfrist von bis zu zwei Jahren ◼ Ausgegebene Schuldverschreibungen Schuldverschreibungen mit vereinbarter Laufzeit von bis zu zwei Jahren ◼ B. In die Mindestreservebasis einbezogene Verbindlichkeiten mit einem Reservesatz von 0 % Einlagen Einlagen mit vereinbarter Laufzeit von mehr als zwei Jahren ◼ Einlagen mit vereinbarter Kündigungsfrist von mehr als zwei Jahren ◼ Repogeschäfte ◼ Ausgegebene Schuldverschreibungen Schuldverschreibungen mit vereinbarter Laufzeit von mehr als zwei Jahren ◼ C. Nicht in die Mindestreservebasis einbezogene Verbindlichkeiten Verbindlichkeiten gegenüber Instituten, die selbst den Mindestreservevorschriften des Eurosystems ◼ unterliegen Verbindlichkeiten gegenüber der EZB und den nationalen Zentralbanken ◼ Quelle: EZB, 2006b, 65. <?page no="214"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 215 Dies impliziert, dass Guthaben, die an einem bestimmten Tag der Reserveperiode gehalten werden, Guthaben ersetzen können, die an einem beliebigen anderen Tag der betreffenden Erfüllungsperiode gehalten werden müssten. Damit verknüpft das System der Durchschnittsreserve über das Gewinnmaximierungsverhalten der Geschäftsbanken den gegenwärtigen Tagesgeldsatz über Opportunitätskostenüberlegungen mit dem für die Zukunft erwarteten Tagesgeldsatz während der Mindestreserve-Erfüllungsperiode. Um das Instrument der Mindestreserve international wettbewerbsneutral zu gestalten, werden Guthaben bei den nationalen Zentralbanken bis zur Höhe des Mindestreserve- Solls mit einem gewichteten Durchschnittszinssatz der während der Erfüllungsperiode abgeschlossenen Hauptrefinanzierungsgeschäfte verzinst (Mindestreserveverzinsung), 88 wobei beim Zinstender der marginale Zinssatz herangezogen wird. 89 Guthaben, die das Mindestreserve-Soll überschreiten (sog. Überschussreserven), bleiben unverzinst. Die vom Eurosystem gewählte Verzinsung der Mindestreserve führt allerdings dazu, dass keine mindestreservebedingten Zentralbankgewinne mehr anfallen. Bei einer unverzinsten Mindestreserve resultieren diese Gewinnbeiträge daraus, dass die Zentralbank für das Schaffen von unverzinsten Guthaben von den Geschäftsbanken verzinsliche Vermögenswerte (insbes. zinsbringende Kreditforderungen) erhält. Den Zinseinnahmen aus dem Aktivgeschäft der Zentralbank stehen so keine Zinsausgaben aus dem Passivgeschäft gegenüber. Werden die mindestreservebedingten Guthaben bei der Zentralbank mit dem Zinssatz für das maßgebliche Aktivgeschäft verzinst, ist ein mindestreservebedingter Zentralbankgewinn ausgeschlossen. Verglichen mit der Alternative einer unverzinsten Mindestreserve reduziert sich also der Gewinn des Eurosystems bei einer Mindestreservehaltung. Bei Nichteinhaltung der Mindestreservepflicht ist eine Reihe von Sanktionen möglich. Diese können je nach Schwere des Verstoßes von unverzinslichen Einlagen über Sonderzinsen auf den Mindestreservefehlbetrag bis zu einer Aussetzung des Zugangs zu den Ständigen Fazilitäten und Offenmarktoperationen reichen. Derzeit werden nur Sonderzinsen erhoben. Dieser Sonderzinssatz liegt 2,5 %-Punkte über dem Spitzenrefinanzierungssatz der jeweiligen Erfüllungsperiode bzw. im Wiederholungsfall (mehr als zwei Fehlbeträge innerhalb von 12 Monaten) 5,0 %-Punkte darüber. 88 Die mindestreservebedingten Guthaben beim Eurosystem werden von den Kreditinstituten auch als Arbeitsguthaben („working balances“) für Zwecke des Zahlungsverkehrs genutzt. Geht man von der realistischen Annahme aus, dass diese Arbeitsguthaben zu einem überwiegenden Teil auch ohne Mindestreservevorschriften von den Kreditinstituten bei der Zentralbank gehalten (und nicht verzinst) werden, stellt eine „verzinste“ Mindestreserve sogar einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Ländern ohne Mindestreserve dar. Zur Diskussion des Zusammenhangs zwischen Mindestreserve und Arbeitsguthaben (vgl. Ruckriegel, 1989, 114). 89 In der Regel wird es während einer Mindestreserve-Erfüllungsperiode zu keinen Änderungen des Hauptrefinanzierungssatzes kommen. Allerdings gilt dies nicht zwangsläufig für den marginalen Zinssatz beim Zinstender, der maßgeblich auch vom Gebotsverhalten der Banken abhängt. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="215"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 216 3.2.2 Geldpolitische Funktionen der Mindestreserve Das Mindestreservesystem des Eurosystems erfüllt im Wesentlichen zwei Funktionen: Es dient zum einen zur Herbeiführung oder Vergrößerung einer strukturellen Liquiditätsknappheit beim Geschäftsbankensystem (sog. Anbindungsfunktion), zum anderen führt es zu einer Stabilisierung der Geldmarktsätze (sog. Stabilisierungsfunktion). Während in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Mindestreserve noch eingesetzt wurde, um über Variationen der Mindestreservesätze die Liquidität des Bankensystems zu beeinflussen, gehört dies im Eurosystem nicht mehr zu den Funktionen der Mindestreserve. Auch die Funktion der Mindestreserve als Einnahmequelle entfällt im Eurosystem infolge der Verzinsung. 3.2.2.1 Anbindungsfunktion Grundsätzlich gilt: Damit eine Zentralbank den Tagesgeldsatz kontrollieren kann, muss eine ausreichende Nachfrage nach Einlagen (Guthaben) bei der Zentralbank bestehen. Diese Nachfrage kann entweder durch eine mindestreservebedingte Zwangsnachfrage oder/ und durch eine (freiwillige) Nachfrage für Zwecke des Zahlungsverkehrs (Clearing über die Konten bei der Zentralbank, sog. Working Balances) erzeugt werden. Im Eurosystem greift („bindet“) die mindestreservebedingte Zwangsnachfrage (Anbindungsfunktion der Mindestreserve). Es geht hierbei darum, eine gut prognostizierbare Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank als Grundlage für die Geldmarktsteuerung (Liquiditätssteuerung) zu schaffen. 90 Die Anbindungsfunktion der Mindestreserve trägt also dazu bei, dass andere Instrumente der Zentralbank (z. B. die Offenmarktpolitik) greifen können und kann somit nicht ohne Weiteres durch andere geldpolitische Instrumente ersetzt werden. Im Gegensatz dazu kommt der Begrenzungsfunktion der Mindestreserve, die einfachen Multiplikatormodellen zugrunde liegt, für die praktische Geldpolitik keine Bedeutung zu. Diese Multiplikatormodelle unterstellen, die Geschäftsbanken könnten sich nur innerhalb eines von der Zentralbank vorgegebenen Umlaufs an Zentralbankgeld bewegen. Sie messen der Mindestreserve somit in erster Linie eine Begrenzungsfunktion für die Geldschöpfung zu, d. h. mithilfe der Mindestreserve soll die Geldmenge begrenzt bzw. gesteuert werden. Beispielhaft hierfür ist Mankiw (2007, 515): „In fact, the Fed controls the money supply indirectly by altering either the monetary base or the reserve-deposit ratio.“ Ähnlich argumentiert Mankiw (2004, 693 f.) in Bezug auf das Eurosystem. Aber weder das Fed noch das Eurosystem gebrauchen die Mindestreserve in dieser Weise. In den USA beträgt der Mindestreservesatz 10 % (seit 1992), im Euroraum lag er von Beginn der Währungsunion bis Ende 2011 bei 2 %. Als liquiditätsgeldpolitische Sondermaßnahme im Zuge der Krise wurde der Mindestreservesatz im Dezember 2011 auf 1 % abgesenkt. Geldpolitisch spielt die Begrenzungsfunktion 90 „By making reserve requirements the binding constraint on banks’ demand for reserves - that is, by keeping required reserves above the shifting and unpredictable level needed for clearing purposes - the central bank can more accurately determine the banking system’s demand for reserves, and eventually better control short term interest rates“ (Bindseil, 2004a, 186). <?page no="216"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 217 keine Rolle, weil Zentralbanken nicht das Ziel verfolgen, den Wirtschaftssubjekten eine bestimmte Geldmenge exogen vorzugeben (vertiefend hierzu siehe Kap. III.1 und Kap. III.4.5). Vielmehr entwickelt sich die Geldmenge zunächst endogen aus dem Zusammenspiel der Zentralbank, der Geschäftsbanken und der Nichtbanken. Die Zentralbank befriedigt dann in einem ersten Schritt stets (vollkommen elastisch) den Bedarf der Geschäftsbanken an Zentralbankgeld. Über die Anbindung des Geschäftsbankensektors an die Zentralbank kann die Zentralbank aber im weiteren Verlauf durch eine Änderung der Zinsen, zu denen sie Zentralbankgeld zur Verfügung stellt, auf das Verhalten der Geschäfts- und der Nichtbanken Einfluss nehmen. In der Konsolidierten Bilanz (Ausweis) des Eurosystems schlägt sich die Mindestreservehaltung der Institute unter P.2 - Einlagen auf Girokonten nieder. Abbildung III.3.4: Mindestreserve und Bilanz des Eurosystems Konsolidierte Bilanz des Eurosystems - vereinfachte Darstellung - zum 26. 4. 2013 (in Mrd. €) Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven Gold ◼ Fremdwährungsforderungen ◼ P.1: Banknotenumlauf A.2: Forderungen in € an Kreditinstitute im Euro-Währungsgebiet darunter: Hauptrefinanzierungsgeschäfte ◼ Längerfr. Refinanzierungsgeschäfte ◼ P.2: Verbindlichkeiten in € gegenüber Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet darunter: Einlagen auf Girokonten ◼ 316,0 (Bankenliquidität) A.3 Sonstiges P.3: Sonstiges Quelle: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 19 vom 30. April 2013, 34 f. 3.2.2.2 Stabilisierungsfunktion „Die Durchschnittserfüllung ermöglicht es den Instituten, sich Liquiditätsschocks innerhalb einer Reserveerfüllungsperiode anzupassen. Dadurch stabilisieren sich die Geldmarktzinsen.“ (EZB, 2006b, 93) Zentraler Ansatzpunkt für die geldpolitischen Instrumente des Eurosystems ist der Zinssatz am Interbanken-Geldmarkt, speziell der Tagesgeldsatz (zu den Einzelheiten siehe III.4). Auf dem Tagesgeldmarkt handeln die Kreditinstitute untereinander Guthaben bei der Zentralbank (P.2 in Abbildung III.3.4). Die Mindestreserve in der gewählten Ausgestaltung als Durchschnitts-Mindestreserve führt hier zu einer Stabilisierung des Tagesgeldsatzes (Stabilisierungsfunktion der Mindestreserve). Die zur Erfüllung der Mindestreservepflicht notwendigen Zentralbankguthaben brauchen nämlich nicht von Tag zu Tag in der von der Mindestreserve geforderten Höhe gehalten zu werden. Sie OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="217"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 218 müssen vielmehr nur im Durchschnitt der Kalendertagesendstände einer Erfüllungsperiode dem Mindestreserve-Soll entsprechen (Durchschnitts-Mindestreserve). Dies heißt aber, dass während einer Erfüllungsperiode Mindestreserveunterschreitungen und -überschreitungen miteinander verrechnet werden können. Kurzfristig am Tagesgeldmarkt auftretende Anspannungen bzw. Verflüssigungen können so durch ein vorübergehendes Unterschreiten bzw. Überschreiten des durchschnittlich zu haltenden Mindestreserve-Solls abgefedert werden. Kommt es etwa zu einer plötzlichen Anspannung am Tagesgeldmarkt (Zinsanstieg), kann es für eine einzelne Bank lohnend sein (Tagesgeldsatz > Verzinsung der mindestreservebedingten Guthaben), ihr Mindestreserve-Soll kurzfristig zu unterschreiten, um diese Mittel dann am Tagesgeldmarkt in der Erwartung anzulegen, sich im weiteren Monatsverlauf wieder günstiger refinanzieren zu können. Kommt es hingegen zu einer Verflüssigung des Geldmarktes, d. h. tendiert der Tagesgeldsatz nach unten, weil reichlich Tagesgeld angeboten wird (Tagesgeldsatz < Verzinsung der mindestreservebedingten Guthaben), wird eine Bank eher zu einer Vorauserfüllung („front loading“) des Mindestreserve-Solls tendieren, wodurch das Mittelangebot am Tagesgeldmarkt sinkt. Im ersten Fall wirkt dieses Verhalten der Banken tendenziell einem (weiteren) Anziehen, im zweiten Fall tendenziell einem (weiteren) Absinken des Tagesgeldsatzes entgegen. Unvorhergesehene Schwankungen im Liquiditätsbedarf können so zunächst ohne Interventionen des Eurosystems abgefedert werden, was zu einer Verstetigung der Zinsentwicklung am Tagesgeldmarkt beiträgt. Die Durchschnitts-Mindestreserve fungiert als Liquiditätspuffer. Der Tagesgeldmarkt kann dann sozusagen aus sich heraus ein Gleichgewicht finden, ohne dass die Zinsführerschaft der Zentralbank gefährdet ist oder es zu einer übermäßigen Volatilität des Tagesgeldsatzes kommt. Allerdings kann naturgemäß am letzten Tag der Erfüllungsperiode die Durchschnitts-Mindestreserve nicht mehr stabilisierend wirken, da Reservefehlbeträge bzw. -überschüsse nicht mehr mit künftigen Gegenpositionen verrechnet werden können, was eine höhere Volatilität des Tagesgeldsatzes an diesem Tag zur Folge haben kann. Von Herbst 2004 bis Ende 2011 setzte das Eurosystem deshalb am Ende der Mindestreserve-Erfüllungsperiode gezielt Feinsteuerungsinstrumente ein, um ein übermäßiges Schwanken des Tagesgeldsatzes zu verhindern. Diese Stabilisierungsfunktion der Mindestreserve kann anschaulich am Beispiel der Schweiz nachvollzogen werden. Die Schweizerische Nationalbank führte Ende der 80er Jahre eine Durchschnitts-Mindestreserve ein. Wie die nachfolgende Abbildung zeigt, kam es dadurch zu einer deutlichen Senkung der Volatilität des Tagesgeldsatzes. <?page no="218"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 219 Abbildung III.3.5: Die Stabilisierungsfunktion der Durchschnittserfüllung: a) Der Fall der Schweiz 0 0 100 100 200 200 300 300 400 400 1987 1988 1989 Anmerkung: a) Gemessen anhand der annualisierten Standardabweichung täglicher Änderungen des Tagesgeldsatzes während eines Kalendermonats. Eine geringere Volatilität des Tagesgeldsatzes hat für die Geldpolitik auch den großen Vorteil, dass geldpolitisch gewollte Signale nicht von technischen Anpassungen überlagert bzw. verzerrt werden und somit deutlicher zutage treten können. 3.3. Geldpolitische Operationen Offenmarktgeschäfte und Ständige Fazilitäten (siehe Abbildung III.3.6) dienen dem Eurosystem dazu, über die Zentralbankzinssätze und die Bankenliquidität den Tagesgeldsatz zu steuern und Signale über den beabsichtigten geldpolitischen Kurs zu setzen. 3.3.1 Offenmarktgeschäfte Bei den Offenmarktgeschäften (open market operations) handelt es sich um geldpolitische Operationen, die auf Initiative der Zentralbank durchgeführt werden. Während ursprünglich unter Offenmarktgeschäften der Kauf und Verkauf von Wertpapieren am offenen Markt verstanden wurde, wird dieser Begriffvom Eurosystem rein enumerativ gebraucht, d. h. Offenmarktgeschäfte sind diejenigen Geschäfte, die die Zentralbank als solche bezeichnet, ohne dass es sich dabei um Käufe bzw. Verkäufe von Wertpapieren am offenen Markt handeln muss. 91 91 Das Fed gebraucht hingegen den Begriff Offenmarktgeschäfte noch in der herkömmlichen Weise, d. h. damit sind nur Käufe und Verkaufe von Wertpapieren gemeint, wobei diese auch in der Form von Repo-Geschäften erfolgen können. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="219"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 220 Abbildung III.3.6: Geldpolitische Operationen des Eurosystems Geldpolitische Geschäfte Transaktionsart Laufzeit Rhythmus Verfahren Liquiditätsbereitstellung Liquiditätsabschöpfung OFFENMARKTGESCHÄFTE (Initiative geht vom Eurosystem aus) Hauptrefinanzierungsgeschäfte Befristete Transaktionen - Eine Wochen Wöchentlich Standardtender Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte Befristete Transaktionen - Drei Monate In der Krise: bis zu 36 Monaten Monatlich Unregelmäßig Standardtender Feinsteuerungsoperationen Befristete Transaktionen Devisenswaps Befristete Transaktionen Hereinnahme von Termineinlagen Devisenswaps Nicht standardisiert Unregelmäßig Schnelltender Bilaterale Geschäfte Strukturelle Operationen Befristete Transaktionen Emission von EZB-Schuldverschreibungen Standardisiert / nicht standardisiert Regelmäßig und unregelmäßig Standardtender Endgültige Käufe Endgültige Verkäufe - Unregelmäßig Bilaterale Geschäfte - STÄNDIGE FAZILITÄTEN (Initiative geht von den Geschäftspartnern aus) Spitzenrefinanzierungsfazilität Befristete Transaktionen - Über Nacht Inanspruchnahme auf Initiative der Geschäftspartner Einlagefazilität - Einlagenannahme Über Nacht Inanspruchnahme auf Initiative der Geschäftspartner Quelle: EZB, 2011a, aktualisiert. <?page no="220"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 221 3.3.1.1 Arten Im Mittelpunkt der offenmarktpolitischen Aktivitäten des Eurosystems stehen zwei Geschäftsarten: die Hauptrefinanzierungsgeschäfte („Haupttender“) und die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte („Basistender“). Als Hauptrefinanzierungsgeschäfte (main refinancing operations) fungieren im wöchentlichen Rhythmus angebotene Kredite mit einer Laufzeit von einer Woche. Die Hauptrefinanzierungsgeschäfte nahmen bis zum Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 eine Schlüsselrolle bei der Steuerung des Tagesgeldsatzes ein, da über sie einerseits die Liquiditätssituation am Geldmarkt maßgeblich bestimmt wurde und andererseits die Vorgabe des Zinssatzes (Hauptrefinanzierungssatz) den geldpolitischen Kurs des Eurosystems signalisierte. Neben diesen Hauptrefinanzierungsgeschäften gibt es längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (longer-term refinancing operations), die bis zum September 2008 nur im monatlichen Rhythmus mit einer dreimonatigen Laufzeit angeboten wurden. Danach wurden auch längere Laufzeiten angeboten, in der Spitze sogar zwei Geschäfte mit einer Laufzeit von drei Jahren Ende 2011 / Anfang 2012. Bei beiden Geschäften handelt es sich um befristete Transaktionen. Allgemein sind befristete Transaktionen (reverse transactions) Geschäfte, bei denen die Zentralbank in Kombination mit einer Rückkaufsvereinbarung (repurchase agreement) Vermögenswerte kauft oder verkauft oder befristet Kredite gegen Verpfändung von Sicherheiten (Pfandkredite) gewährt bzw. befristet Einlagen entgegennimmt. Haupt- und Basistender können entweder als Pensionsgeschäfte oder in Form von Pfandkrediten durchgeführt werden. Bei Pensionsgeschäften (repo operations) wird das Eigentum an einem Vermögenswert dem Gläubiger übertragen, wobei die Parteien gleichzeitig vereinbaren, die Transaktionen durch eine Rückübertragung des Vermögenswertes zum Ende der Laufzeit des Geschäftes (Rückkaufstag bzw. repurchase date) umzukehren. Beim Pfandkredit hingegen wird dem Gläubiger (d. h. dem Eurosystem) ein durchsetzbares Sicherungsrecht an den hinterlegten Pfändern eingeräumt, wobei die Sicherheiten im Eigentum des Schuldners verbleiben. Es liegt in der Hand der jeweiligen nationalen Zentralbank, welche Alternative Verwendung findet. Eine entscheidende Rahmenbedingung hierfür stellt das jeweilige nationale Rechtssystem dar. So kennen z. B. nicht alle Mitgliedsländer der Währungsunion das Rechtsinstitut der Verpfändung. Aus Gründen der Vereinfachung wickelt die Deutsche Bundesbank liquiditätszuführende befristete Transaktionen nicht mehr (wie vor der Währungsunion) auf der Basis von Pensionsgeschäften, sondern nur noch gegen Verpfändung von refinanzierungsfähigen Sicherheiten ab. Die Pfand-Lösung weist gegenüber der „Repo“-Lösung den Vorteil auf, dass die einzelnen Pfänder nicht einem bestimmten Refinanzierungsgeschäft zugeordnet werden müssen (Pfandpoolverfahren bzw. pooling system), da eine Vermögensübertragung entfällt. Entscheidend ist der Gesamtbeleihungswert auf dem Pfandkonto. Auf dem Pfandkonto werden alle refinanzierungsfähigen Sicherheiten eines Kreditinstituts eingestellt. Sie dienen „en bloc“ der Besicherung aller Arten von Zentralbankkrediten. So können auch die Geschäftspartner über die Sicherheiten flexibel disponieren und sie jederzeit austauschen. In der Konsolidierten Bilanz des Eurosystems können die Offenmarktgeschäfte entweder auf der Aktiv- oder auf der Passivseite ansetzen (siehe Abb. III.3.7). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="221"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 222 Abbildung III.3.7: Offenmarktgeschäfte und Bilanz des Eurosystems Konsolidierte Bilanz des Eurosystems - vereinfachte Darstellung - zum 26. 4. 2013 (in Mrd. €) Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven Gold ◼ Fremdwährungsforderungen ◼ 253,1 P.1: Banknotenumlauf A.2: Forderungen in € an Kreditinstitute im Euro-Währungsgebiet darunter: Hauptrefinanzierungsgeschäfte ◼ 110,4 Längerfristige ◼ Refinanzierungsgeschäfte 741,8 Feinsteuerungsoperationen in ◼ Form von befristeten Transaktionen 0 Strukturelle Operationen in ◼ Form von befristeten Transaktionen 0 Spitzenrefinanzierungsfazilität ◼ P.2: Verbindlichkeiten in € gegenüber Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet darunter: Einlagen auf Girokonten ◼ Einlagefazilität ◼ Termineinlagen ◼ 202,5 Feinsteuerungsoperationen in Form ◼ von befristeten Transaktionen 0 A.3 Sonstiges darunter: Wertpapieren für geldpol. Zwecke ◼ 265,6 P.3: Sonstiges Quelle: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 19 vom 30. April 2013, 34 f. Die Hauptrefinanzierungsgeschäfte und die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte finden unter der Position A.2 ihren Niederschlag. Da die Geschäfte revolvierend sind, d. h. Neuabschlüsse an die Stelle von auslaufenden Geschäften treten, kommt es nur dann zu einer Veränderung der Bankenliquidität (Position P.2 - Einlagen auf Girokonten), wenn die aus den Neuabschlüssen resultierende Bereitstellung von Zentralbankgeld die Abschöpfung von Zentralbankgeld aus den auslaufenden Geschäften über- oder unterschreitet. Wenn der Haupttender zum Beispiel nach einer Woche ausläuft, müssen die Kreditinstitute die aus diesem Geschäft herrührende Bankenliquidität an die jeweilige nationale Zentralbank zurückzahlen. Der Betrag wird von ihren Konten beim Eurosystem abgebucht (P.2 - Einlagen auf Girokonten nimmt ab). Zeitgleich aber fließt den Kreditinstituten Liquidität aus dem neu abgeschlossenen Haupttender zu, d. h. das Eurosystem schreibt den Kreditinstituten insgesamt einen Betrag in Höhe der getätigten Neuabschlüsse gut (P.2 - Einlagen auf Girokonten nimmt zu). Die Bankenliquidität (Position P.2 - Einlagen auf Girokonten) wird per Saldo also nur dann verändert, wenn Zufluss und Abfluss an Liquidität betragsmäßig nicht identisch sind. Zu Offenmarktgeschäften zählen nach der Klassifikation des Eurosystems auch Feinsteuerungsoperationen (fine-tuning operations). Feinsteuerungsoperationen werden ggf. eingesetzt, um unerwarteten Veränderungen bei der Bankenliquidität, die etwa durch vom Eurosystem nicht vorhergesehene Schwankungen bei der Bargeldhaltung der Nichtbanken, bei den Einlagen der öffentlichen Haushalte (beim Eurosystem), beim Mindestreserve-Ultimo oder durch unerwartete Devisenmarktinterventionen des Eu- <?page no="222"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 223 rosystems ausgelöst worden sein können, entgegenzuwirken. Der Einsatz dieser Operationen ist beidseitig vorgesehen, d. h. sie können entweder der kurzfristigen Liquiditätsbereitstellung oder der kurzfristigen Liquiditätsabschöpfung dienen. Die Laufzeit bei Feinsteuerungsoperationen ist auf wenige Tage begrenzt, was bei definitiven Verkäufen entsprechende Rückkäufe, bei definitiven Käufen spätere Verkäufe bedingt. Feinsteuerungsoperationen können mit einer Reihe von Instrumenten durchgeführt werden. Zur kurzfristigen Liquiditätsbereitstellung kommen befristete Transaktionen (Kredite) mit wenigen Tagen Laufzeit (A.2 steigt), definitive Käufe, also Käufe von Wertpapieren oder sonstiger Aktiva (A.3 bzw. A.1 - Fremdwährungsforderungen - steigt) ohne Rückkaufsverpflichtung des Verkäufers (outright transaction) sowie Devisenswaps (foreign exchange swaps) in Betracht. Bei Devisenswapgeschäften kauft das Eurosystem im Falle einer beabsichtigten Liquiditätszuführung Devisen (Fremdwährungsforderungen) von den Kreditinstituten und verkauft sie zugleich per Termin wieder an sie zurück. Bei jedem Devisenswapgeschäft vereinbaren das Eurosystem und die Geschäftspartner den Swapsatz für das Geschäft. Der Swapsatz entspricht der Differenz zwischen dem Terminkurs und dem Kassakurs und stellt damit die Verzinsung des Geschäftes dar. Für die Dauer ihrer Laufzeit schlagen sich alle beschriebenen Geschäfte passivseitig in einer Erhöhung der Bankenliquidität (P.2 - Einlagen auf Girokonten steigt) nieder, wirken also liquiditätserhöhend, d. h. bilanzverlängernd. Feinsteuerungsoperationen können aber auch darauf abzielen, Liquidität abzuschöpfen. Will das Eurosystem dem Markt Liquidität entziehen, kann es von den Kreditinstituten kurzfristig Termineinlagen hereinnehmen (P.2 - Einlagen auf Girokonten sinkt, P.2 - Termineinlagen steigt). Eine andere Möglichkeit, Bankenliquidität abzuschöpfen besteht darin, Devisenswapgeschäfte restriktiv einzusetzen und per Kassa Devisen verkaufen (A.1 und P.2 - Einlagen auf Girokonten sinken während der Laufzeit des Geschäftes) bei gleichzeitigem Rückkauf per Termin. Als liquiditätsentziehende Maßnahmen kommen aber auch befristete Transaktionen in Form von Wertpapierpensionsgeschäften - Verkauf von Wertpapieren aus dem Eigenbestand des Eurosystems bei Rückkauf zu einem späteren Zeitpunkt (P.2 - Einlagen auf Girokonten sinkt, P.2 Feinsteuerungsoperationen in Form befristeter Transaktionen steigt) 92 sowie definitive Verkäufe von Wertpapieren oder sonstiger Aktiva (A.3 bzw. A.1 - Fremdwährungsforderungen - und P.2 - Einlagen auf Girokonten sinken gleichzeitig) in Betracht. Schließlich gehören zur Klasse der Offenmarktgeschäfte noch die sog. Strukturellen Operationen (structural operations), die genutzt werden, um die Liquiditätsposition des Finanzsektors gegenüber dem Eurosystem grundsätzlich und dauerhaft zu verändern. Als liquiditätszuführende Transaktionen kommen dabei befristete Kredite und definitive Käufe von Wertpapieren oder sonstiger Aktiva in Frage. Zur Liquiditätsabschöpfung kann die Zentralbank auf definitive Verkäufe von Wertpapieren und sonstiger Aktiva und auf die Emission von Schuldverschreibungen der EZB (A.3 bzw. A1 sinkt bzw. P.3 steigt und P.2 - Einlagen auf Girokonten sinkt) zurückgreifen. Im Gegensatz 92 Da es sich hier um ein „echtes“ Pensionsgeschäft handelt und deshalb die Wertpapiere nach wie vor als Aktiva bei der Zentralbank bilanziert werden müssen, muss auf der Passivseite ein Ausgleichskonto gebildet werden. Bilanztechnisch kommt es also zu einem Passivtausch. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="223"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 224 zu Feinsteuerungsoperationen, die kurzfristigen Charakter (einige Tage) haben, sind Strukturelle Operationen längerfristig angelegt. Sie sollen nur bei einer grundsätzlichen (strukturellen) Änderung im Bedarf an Zentralbankgeld eingesetzt werden. Bisher (Sommer 2013) hat das Eurosystem auf diese Operationen verzichtet. Die bisher genannten Offenmarktgeschäfte zielen darauf ab, den Tagesgeldsatz am Interbankengeldmarkt zu steuern. Mit Beginn der Staatschuldenkrise im Mai 2010 hat die EZB auch direkt Staatsanleihen einzelner EWU-Länder nachgefragt. Die EZB setzt dieses Instrument ein, um direkt Einfluss auf die mittelbis langfristigen Zinssätze am entsprechenden Kapitalmarkt zu nehmen. Die EZB schreibt in ihrer Pressemitteilung vom 10.Mai 2010 dazu: „The Governing Council of the European Central Bank (ECB) decided on several measures to address the severe tensions in certain market segments which are hampering the monetary policy transmission mechanism and thereby the effective conduct of monetary policy oriented towards price stability in the medium term. The measures will not affect the stance of monetary policy.“ Die EZB begründet ihre Intervention auch damit, dass die Höhe des Zinssatzes für Staatsanleihen in einem Land auch Rückwirkungen auf die Zinssätze für andere Kredite in diesem Land hat. Zinsbewegungen auf den Anleihemärkten haben Konsequenzen für andere Zinssätze, wodurch der zentrale Ansatzpunkt der Geldpolitik, die Transmission des geldpolitisch gewollten Tagesgeldsatzes im selben Ausmaß in jedem Land der Währungsunion auf das gesamte Zinsspektrum eines Landes nicht funktioniert. Die EZB argumentiert, dass sich Spannungen an den Staatsanleihemärkten auf die Finanzierungsbedingungen des privaten Sektors übertragen, da die Finanzierungsbedingungen im Wesentlichen von der Entwicklung der Referenzzinssätze beeinflusst werden, wozu in erster Linie die EZB-Zinsen, die Geldmarktsätze und die Renditen von Staatsanleihen zählen (im Einzelnen hierzu EZB, 2012f, 84 - 87). 3.3.1.2 Verfahren Offenmarktgeschäfte des Eurosystems werden normalerweise in Form von Tendern (tender procedure), also im Wege der Ausschreibung durchgeführt. Im Rahmen von Feinsteuerungsoperationen und Strukturellen Operationen sind allerdings auch bilaterale Geschäfte (bilateral procedure), also direkte Geschäftsabschlüsse zwischen dem Eurosystem und ihren Geschäftspartnern ohne Ausschreibung möglich. Auch die Ankäufe von Staatsanleihen und die sog. ELA (Emergency Liquidity Assistance) Liquiditätshilfen fanden auf bilateraler Basis statt. „Mithilfe der Liquiditätshilfe ELA kann eine nationale Zentralbank des Eurosystems einer Geschäftsbank zur Überbrückung eines Liquiditätsengpasses für begrenzte Zeit Zentralbankgeld zur Verfügung stellen. Der EZB-Rat kann die Gewährung solcher Notkredite allerdings mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit ablehnen. Die nationale Zentralbank kann selbst entscheiden, was sie als Sicherheit für die gewährten Kredite akzeptiert. Kommt es aus solch einem Nothilfekredit zu einem Verlust, muss diesen allein die nationale Zentralbank tragen. Im Zuge der Krise haben mehrere Zentralbanken des Eurosystems ELA gewährt.“ (Deutsche Bundesbank, 2012c, 190). <?page no="224"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 225 3.3.1.2.1 Tenderverfahren: Standardtender versus Schnelltender Der Standardtender (standard tender) ist die Tenderform, die den Hauptrefinanzierungsgeschäften, den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften sowie den Strukturellen Operationen in Form von befristeten Transaktionen und der Emission von Schuldverschreibungen zugrunde liegt. Bei Feinsteuerungsmaßnahmen findet der Schnelltender (quick tender) Verwendung. Der Schnelltender unterscheidet sich vom Standardtender zum einen durch eine begrenztere Zahl von Geschäftspartnern, zum anderen durch die schnellere Abwicklung. Während bei Standardtendern zwischen der Tenderankündigung und der Abwicklung der Transaktion zwei Tage liegen, verkürzt sich diese Frist bei Schnelltendern auf etwa eine Stunde (siehe Box III.3.2). Normaler Weise wird der Standardtender beim Hauptrefinanzierungsgeschäft an einem Montag ausgeschrieben und am darauffolgenden Mittwoch kontomäßig gebucht, d. h. abgewickelt. Der Abwicklungstag (Valutierungstag) des Hauptrefinanzierungsgeschäfts ist i. d. R. also ein Mittwoch. Box III.3.2: Die technische Abwicklung des Tenderverfahrens bei liquiditätszuführenden Transaktionen am Beispiel der Deutschen Bundesbank Der Liquiditätsbereitstellung über das Tenderverfahren kommt innerhalb des geldpolitischen Instrumentariums der EZB eine herausragende Bedeutung zu. Vor Krisenbeginn und dem Einsatz zahlreicher Sondermaßnahmen teilte das Eurosystem etwa zwei Drittel der Offenmarktgeschäfte über die wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäfte mit einer Laufzeit von 7 Tagen zu. Das restliche Drittel deckten die monatlich ausgeschriebenen und auf rund drei Monate befristeten längerfristigen Geschäfte. Beide werden als Standardtender abgewickelt. Normalerweise werden die Hauptrefinanzierungsgeschäfte immer dienstags und die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte am letzten Mittwoch des Monats zugeteilt. Die EZB veröffentlich in einem Tenderkalender die Termine. Im Krisenverlauf stieg die Fristigkeitsstruktur von Offenmarktgeschäften deutlich an. So wurden etwa sechs-, zwölf- und sogar 36-monatige Geschäfte getätigt. Insgesamt wurden in den beiden im Dezember 2011 und Februar 2012 angebotenen und voll zugeteilten Dreijahrestendern rund 1.020 Mrd. € an Liquidität bereitgestellt. In der Geschichte des Eurosystems war dies mit Abstand die höchste und langfristigste Refinanzierung für den Bankensektor. Sie dominierte in 2012 die Liquiditätsbereitstellung in den Offenmarktgeschäften. Konkret läuft der wöchentliche Standardtender für ein Hauptrefinanzierungsgeschäft wie folgt ab: Am Montag um 15.30 Uhr kündigt die EZB auf Reuters, Bloomberg und im Internet ◼ das bevorstehende Geschäft an und übermittelt allen NZBen elektronisch die Ankündigung. In Deutschland wird diese Ankündigung von der Deutschen Bundesbank mit dem „OffenMarkt Tender Operations-System“ („OMTOS“) an ihre Geschäftspartner weitergeleitet. Die Tenderankündigung informiert über die Konditionen des Geschäfts, d. h. Mengen- oder Zinstender, die Gebotsfrist, den Zuteilungs- und den Valutierungstag sowie die Laufzeit. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="225"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 226 Die deutschen Geschäftspartner müssen bis spätestens Dienstag um 09.30 Uhr ihre ◼ Gebote bei der Deutschen Bundesbank einreichen. Der Mindestbietungsbetrag beträgt eine Million Euro, darüber hinaus kann in Schritten von 100.000 € geboten werden. Für das längerfristige Refinanzierungsgeschäft liegt das Mindestgebot dagegen bei 10.000 €, um auch sehr kleinen Kreditinstituten den Zugang zur längerfristigen Notenbankrefinanzierung zu ermöglichen. Anschließend werden die Gebote für den gesamten Bundesbankbereich verdichtet und elektronisch an die EZB weitergeleitet. Nach Zusammenstellung der europaweiten Bietungsergebnisse und der Entscheidung über den Zuteilungsbetrag übermittelt die EZB um 11.15 Uhr die Zuteilungsentscheidung an die NZBen und gibt das Ergebnis auf Reuters, Bloomberg und im Internet bekannt. In der Bundesbank errechnet OMTOS auf Basis der Globalzuteilung die individuellen Zuteilungsbeträge für die einzelnen Kreditinstitute. Anschließend werden die Bieter über ihr individuelles Zuteilungsergebnis informiert. Am Mittwoch, dem Valutierungstag (Abwicklungstag), sind die Geschäftspartner ◼ verpflichtet, Sicherheiten mindestens in Höhe des Zuteilungsbetrags zuzüglich einer Sicherheitsmarge („Haircut“) zu stellen. Sobald eine hinreichende Sicherheitendeckung für den Gesamtbetrag besteht, erfolgt die Gutschrift auf dem Girokonto des Geschäftspartners. Bei einem Schnelltender vergehen von der Ankündigung bis zur Zuteilung maximal 90 Minuten. Ein Schnelltender kann auch nur mit einer kleineren Gruppe von Geschäftspartnern durchgeführt werden und wird üblicherweise bei Feinsteuerungsoperationen angewendet. Box erstellt von Franziska Schobert (Deutsche Bundesbank). 3.3.1.2.2 Zuteilungsverfahren bei Tendern: Zinsversus Mengentender Sowohl der Standardals auch der Schnelltender können als Mengen- oder als Zinstender ausgeschrieben werden. Beim Mengentender (fixed rate tender, volume tender) setzt das Eurosystem vorab den Zinssatz (bei Devisenswapgeschäften den Swapsatz) fest, zu dem es bereit ist, Geschäfte abzuschließen. Mengentender können mit oder - wie seit Oktober 2008 infolge der Insolvenz von Lehman Brothersohne Zuteilungsbegrenzung durchgeführt werden. Übersteigt bei einer Zuteilungsbegrenzung das Bietungsaufkommen den vom Eurosystem angestrebten Zuteilungsbetrag, werden die Gebote anteilig im Verhältnis des vorgesehenen Zuteilungsbetrages zum Gesamtbietungsaufkommen zugeteilt (sog. Repartierung). Zur Verdeutlichung sei der Mengentender mit Zuteilungsbegrenzung anhand eines einfachen Beispiels erläutert: Beispiel für einen Mengentender (liquiditätszuführend) 93 Die EZB beschließt, dem Markt Liquidität über eine befristete Transaktion in Form eines Mengentenders zuzuführen. Drei Geschäftspartner geben folgende Gebote ab: 93 Vgl. hierzu EZB (2006b, 72). <?page no="226"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 227 Geschäftspartner Gebot (Mio. €) Bank 1 30 Bank 2 40 Bank 3 70 Insgesamt 140 Die EZB beschließt, insgesamt 105 Millionen € zuzuteilen. Der Prozentsatz der Zuteilung (Zuteilungs- oder Repartierungssatz) errechnet sich wie folgt: 105 (30 + 40 + 70) = 75 % Die Zuteilung an die Geschäftspartner beträgt: Geschäftspartner Gebot (Mio. €) Zuteilung (Mio. €) Bank 1 30 22,5 Bank 2 40 30,0 Bank 3 70 52,5 Insgesamt 140 105,0 Letztlich wird beim Mengentender die zum vorgegebenen Zinssatz herrschende vollkommen elastische (horizontale) Nachfragekurve der Kreditinstitute mit der vertikalen Angebotskurve der Zentralbank in Übereinstimmung gebracht. Beim Zinstender hingegen müssen die bietenden Kreditinstitute eine eigene Einschätzung der Zinsentwicklung am Geldmarkt vornehmen. Der Zinstender (variable rate tender) zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass die Kreditinstitute - im Gegensatz zum Mengentender - neben der Betragshöhe auch den Zinssatz nennen müssen, zu dem sie bereit sind, Geschäfte mit dem Eurosystem abzuschließen. 94 Bei Zinstendern kann das Eurosystem die Zuteilung entweder zu einem einheitlichen Zinssatz (holländischs“ Zuteilungsverfahren, Dutch auction, single rate auction) oder zu den individuellen Bietungssätzen (amerikanisches Zuteilungsverfahren, American auction, multiple rate auction) der Geschäftspartner vornehmen. Beim „holländischen Zuteilungsverfahren“ werden alle akzeptierten Gebote zum niedrigsten vom Eurosystem noch akzeptierten, also dem marginalen Zinssatz abgerechnet. 95 Das Eurosystem verwendet inzwischen 94 Bei Devisenswapgeschäften tritt anstelle des Zinssatzes der Swapsatz. Beim Zinstender kann ein Institut bis zu zehn Gebote mit verschiedenen Zinssätzen abgeben, wobei der kleinste Zinsschritt 0,01 Prozentpunkte beträgt. 95 Diese Aussage bezieht sich auf liquiditätszuführende Transaktionen wie den Haupt- oder Basistender. Bei liquiditätsentziehenden Transaktionen wie z. B. der Emission von Schuldverschreibungen oder der Hereinnahme von Termineinlagen über den Zinstender werden beim holländischen Zuteilungsverfahren alle akzeptierten Gebote zum höchsten vom Eurosystem noch akzeptierten Zinssatz abgerechnet. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="227"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 228 das amerikanische Zuteilungsverfahren. 96 Der Vorteil des amerikanischen Verfahrens besteht darin, dass „Mondgebote“ vermieden werden können. Beim „holländischen“ Verfahren fallen nämlich i. d. R. der Gebotssatz und der marginale Zinssatz auseinander. Banken haben also bei liquiditätszuführenden Operationen einen Anreiz, übersteigert hohe Zinsgebote abzugeben, um eine Zuteilung zu bekommen. Das „holländische“ Verfahren führt so tendenziell zu einer Verzerrung des Gebotsverhaltens der Banken. Box III.3.3: Der Basiszinssatz - Nachfolger des Diskontsatzes Die Notwendigkeit, ein einheitliches geldpolitisches Instrumentarium für den gesamten Euro-Raum zu schaffen, führte mit Beginn der Europäischen Währungsunion zum 1. Januar 1999 zur Aufgabe des deutschen Diskontkredits. Da der Diskontsatz der Deutschen Bundesbank in einer Vielzahl von deutschen Gesetzestexten und Verträgen als Referenzgröße dient, musste eine entsprechende Nachfolgeregelung für den Diskontsatz geschaffen werden. Mit Beginn der Währungsunion wurde der Diskontsatz daher - zunächst entsprechend den Regelungen des Diskontsatz-Überleitungs-Gesetzes (DÜG) - durch den so genannten Basiszinssatz ersetzt. Dieser Basiszinssatz entsprach zu Beginn der Währungsunion dem Diskontsatz der Deutschen Bundesbank, der am 31. 12. 1998 galt (2,5 %). Die Veränderung des Basiszinssatzes richtete sich bis Anfang 2002 nach der Veränderung des Zinssatzes der längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems (geregelt in der Basis-Zinssatz-Bezugsgrößenverordnung). Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts zum 1. Januar 2002 änderte sich die Rechtslage. An die Stelle des Basiszinssatzes nach dem DÜG trat der Basiszinssatz des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 247 BGB, neu). Seither ist der Basiszinssatz nicht mehr an den Satz des längerfristigen Refinanzierungsgeschäfts gekoppelt. Anpassungen des Basiszinssatzes erfolgen jeweils zum 1. Januar und zum 1. Juli eines Jahres. Der Basiszinssatz nach BGB betrug zunächst 3,62 % entsprechend dem seit 1. September 2001 geltenden Basiszinssatz nach DÜG und verändert sich seither zu den genannten Anpassungsterminen um die Prozentpunkte, um welche seine Bezugsgröße seit der letzten Veränderung des Basiszinssatzes gestiegen oder gefallen ist. Die Bezugsgröße ist hierbei der Zinssatz für das letzte Hauptrefinanzierungsgeschäft des Eurosystems (marginaler Satz) vor dem ersten Kalendertag des betreffenden Halbjahres. Zum 1. Januar 2013 betrug der Basiszinssatz -0,13 %. Box erstellt von Felix Rieger (Deutsche Bundesbank). Bei liquiditätszuführenden Zinstendern werden, beginnend mit dem höchsten Zinsgebot, in absteigender Reihenfolge alle Gebote zugeteilt, bis der für die Zuführung 96 Das holländische Verfahren hat der EZB-Rat bei den beiden ersten Basistendern, die am 14. Januar und am 25. Februar 1999 abgewickelt wurden, gewählt. Damit sollten Preisrisiken für die Banken im neuen ungewohnten Umfeld ausgeschaltet werden und so weniger erfahrenen Geschäftspartnern die Teilnahme am Tenderverfahren erleichtert werden. Nach dieser Einführungsphase ist das Eurosystem aber auch bei Basistendern auf das marktorientiertere „amerikanische“ Zuteilungsverfahren zu individuellen Bietungssätzen übergegangen. <?page no="228"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 229 vorgesehene Gesamtbetrag erreicht ist. Beim marginalen Zinssatz kommt es ggf. zu einer Repartierung. Dies sei anhand eines einfachen Beispiels erläutert. Dabei wird der Schnittpunkt der negativ geneigten Nachfragekurve der Banken mit der vertikalen Angebotskurve des Eurosystems gesucht. Beispiel für einen Zinstender (liquiditätszuführend) 97 Die EZB beschließt, dem Markt Liquidität über Hauptrefinanzierungsgeschäfte in Form eines Zinstenders zuzuführen. Der von der EZB vorgegebene Mindestbietungssatz, d. h. der Zinssatz, den die Geschäftsbanken mindestens bieten müssen, betrage 3,00 %. Drei Geschäftspartner geben folgende Gebote ab: Beträge in Mio. € Zinssatz (%) Bank 1 Bank 2 Bank 3 Gebote insgesamt (je Zinssatz) Kumulative Gebote 3,15 0 0 3,10 5 5 10 10 3,09 5 5 10 20 3,08 5 5 10 30 3,07 5 5 10 20 50 3,06 5 10 15 30 80 3,05 10 10 15 35 115 3,04 5 5 5 15 130 3,03 5 10 15 145 Insgesamt 30 45 70 145 Die EZB beschließt, 94 Millionen € zuzuteilen, sodass sich ein marginaler Zinssatz von 3,05 % ergibt. Alle Gebote über 3,05 % (bis zu einem kumulativen Betrag von 80 Millionen €) werden voll zugeteilt. Bei 3,05 % ergibt sich folgende prozentuale Zuteilung (Zuteilungs- oder Repartierungssatz): 94 - 80 115 - 80 = 40 % Die Zuteilung an Bank 1 zum marginalen Zinssatz beträgt zum Beispiel: 0,4 · 10 = 4 Insgesamt ergibt sich für Bank 1 folgende Zuteilung: 5 + 5 + 4 = 14 Die Zuteilungsergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: 97 Vgl. hierzu auch EZB (2006b, 73). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="229"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 230 Beträge in Mio. € Geschäftspartner Bank 1 Bank 2 Bank 3 Insgesamt Gebote insgesamt 30,0 45,0 70,0 145 Zuteilung insgesamt 14,0 34,0 46,0 94 Wenn die Zuteilung nach dem holländischen Zuteilungsverfahren erfolgt, beträgt der Zinssatz für die den Geschäftspartnern zugeteilten Beträge 3,05 %. Erfolgt die Zuteilung nach dem amerikanischen Zuteilungsverfahren, wird gemäß den individuellen Bietungssätzen abgerechnet: Bank 1 erhält zum Beispiel 5 Millionen € zu 3,07 %, 5 Millionen € zu 3,06 % und 4 Millionen € zu 3,05 %. Bei liquiditätsabschöpfenden Zinstendern erfolgt die Zuteilung in aufsteigender Reihenfolge der Zinsgebote. Es werden alle Gebote zugeteilt, bis der für die Zuführung vorgesehene Gesamtbetrag erreicht ist. Auch hier kommt es beim marginalen Zinssatz ggf. zu einer Repartierung. Dies sei wiederum anhand eines einfachen Beispiels erläutert: Beispiel für einen Zinstender (liquiditätsabschöpfend) 98 Die EZB beschließt, am Markt Liquidität durch die Hereinnahme von Termineinlagen über einen Zinstender abzuschöpfen. Drei Geschäftspartner geben folgende Gebote ab: Beträge in Mio. € Zinssatz (%) Bank 1 Bank 2 Bank 3 Gebote insgesamt (je Zinssatz) Kumulative Gebote 3,00 0 0 3,01 5 5 10 10 3,02 5 5 5 15 25 3,03 5 5 5 15 40 3,04 10 5 10 25 65 3,05 20 40 10 70 135 3,06 5 10 10 25 160 3,08 5 10 15 175 3,10 5 5 180 Insgesamt 55 70 55 180 Die EZB beschließt, einen Nominalbetrag von 124,5 Mio. € zuzuteilen, sodass sich ein marginaler Zinssatz von 3,05 % ergibt. Alle Gebote unter 3,05 % (bis zu einem kumulativen Betrag von 65 Mio. €) werden voll zugeteilt. Bei 3,05 % ergibt sich folgende prozentuale Zuteilung (Zuteilungs- oder Repartierungssatz): 98 In Anlehnung an EZB (2006b, 74). <?page no="230"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 231 124,5 - 65 135 - 65 = 85 % Die Zuteilung an Bank 1 zum marginalen Zinssatz beträgt zum Beispiel: 0,85 · 20 = 17 Insgesamt ergibt sich für Bank 1 folgende Zuteilung: 5 + 5 + 5 + 10 + 17 = 42 Die Zuteilungsergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Beträge in Mio. € Geschäftspartner Bank 1 Bank 2 Bank 3 Insgesamt Gebote insgesamt 55,0 70,0 55,0 180,0 Zuteilung insgesamt 42,0 49,0 33,5 124,5 Für den Zinstender spricht, dass er dem Wettbewerb unter den Banken mehr Raum gibt und mehr einer Marktorientierung entspricht. Aus Sicht der Zentralbank hat er aber den Nachteil, dass die Erwartungen der Marktteilnehmer Einfluss auf den Zinssatz haben. Letztlich muss aber die Zentralbank den Zinssatz bestimmen (können), den sie für notwendig erachtet, um ihre Ziele zu erreichen. Dieser Zinssatz muss nicht zwangsläufig deckungsgleich mit dem Zinssatz sein, den die Geschäftsbanken erwarten bzw. wünschen. Gerade in unsicheren und turbulenten Zeiten wird deshalb der Mengentender eingesetzt (z. B. zu Beginn der EWU, seit Beginn der Finanzkrise 2008) Im Zuge der Krise ging das Eurosystem im Oktober 2008 auf eine Vollzuteilungspolitik über, bei der es den Geschäftsbanken bei Refinanzierungsgeschäften jeden von ihnen gewünschten Betrag an Zentralbankgeld zur Verfügung stellte - sofern sie ausreichend Sicherheiten stellen. 99 „Ein Zweck dieser Maßnahme ist zu verhindern, dass es im Zahlungsverkehr zu krisenhaften Liquiditätsengpässen kommt. Daneben soll damit einer „Kreditklemme“ vorgebeugt werden - dass nämlich Banken die Vergabe von Krediten an die Wirtschaft einschränken, weil sie befürchten, sich benötigtes Zentralbankgeld wegen der allgemeinen Vertrauenskrise nicht über den Geldmarkt beschaffen zu können. Die Vollzuteilungspolitik hat zur Folge, dass sich die Banken insgesamt deutlich mehr Zentralbankgeld beschafft haben, als sie für die Mindestreserve und den Bargeldbedarf benötigen. Da das Eurosystem Überschussguthaben nicht verzinst, legen Banken überschüssiges Zentralbankgeld über Nacht in der Einlagefazilität an. Das hat das Volumen dieser Fazilität zeitweilig stark anschwellen lassen. Parallel ist der Zinssatz für Tagesgeld bis fast auf den Zinssatz der Einlagefazilität gefallen.“ (Deutsche Bundesbank, 2012c, 188). 99 Im Zuge dieser grundlegenden Änderung der Liquiditäspolitik wurden krisenbedingt auch die Anforderungen an Sicherheiten vermindert. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="231"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 232 3.3.2 Ständige Fazilitäten Ständige Fazilitäten (standing facilities) können die Kreditinstitute jederzeit auf eigene Initiative in Anspruch nehmen. Sie stehen ihnen an jedem Geschäftstag zur Verfügung. Je nachdem, ob die Operationen liquiditätszuführend oder liquiditätsentziehend wirken, setzen sie entweder auf der Aktiv- oder Passivseite der Zentralbankbilanz an. Ständige Fazilitäten wurden von dem Zusammenbrauch von Lehman Brothers im September 2008 aus zwei Gründen genutzt: Der erste ist ein generelles Liquiditätsungleichgewicht, also eine generelle Liquiditätsüber- oder -unterversorgung des gesamten Bankensektors im Verhältnis zum gesamten Mindestreserve-Soll. Dies kommt normaler Weise nur gegen Ende einer Mindestreserve-Erfüllungsperiode vor. Die Banken müssen dann in großer Zahl auf die Ständigen Fazilitäten zurückgreifen. Ein zweiter Grund für die Inanspruchnahme der Ständigen Fazilitäten liegt in unerwarteten Zahlungsströmen (Zahlungseingängen oder -abflüssen) bei einzelnen Instituten gegen Geschäftsschluss eines Tages, wenn der Geldmarkt nicht mehr liquide ist. In diesem Fall sind die Inanspruchnahmen recht gleichmäßig über die Mindestreserve-Erfüllungsperiode verteilt. Abbildung III.3.8: Ständige Fazilitäten und Bilanz des Eurosystems Konsolidierte Bilanz des Eurosystems - vereinfachte Darstellung - zum 26. 4. 2013 (in Mrd. €) Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven Gold ◼ Fremdwährungsforderungen ◼ P.1: Banknotenumlauf A.2: Forderungen in € an Kreditinstitute im Euro-Währungsgebiet darunter: Hauptrefinanzierungsgeschäfte ◼ Längerfr. Refinanzierungsgeschäfte ◼ Spitzenrefinanzierungsfazilität ◼ 0,005 P.2: Verbindlichkeiten in € gegenüber Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet darunter: Einlagen auf Girokonten ◼ (Bankenliquidität) Einlagefazilität ◼ 109,7 A.3: Sonstiges P.3: Sonstiges Quelle: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 19 vom 30. April 2013, 34 f. 3.3.2.1 Spitzenrefinanzierungsfazilität Die Spitzenrefinanzierungsfazilität (marginal lending facility) soll den Geschäftspartnern des Eurosystems die Möglichkeit bieten, sich bis zum nachfolgenden Geschäftstag („über Nacht“) Liquidität zu einem vorher festgelegten Zinssatz zu beschaffen. Die nationalen Zentralbanken können hier Liquidität in Form von Übernacht-Pensionsgeschäften oder Übernacht-Pfandkrediten zur Verfügung stellen, wobei die Deutsche Bundesbank auf letztere Alternative zurückgreift. Diese Spitzenrefinanzierungsfazilität soll zur Deckung eines vorübergehenden, („über Nacht“) Liquiditätsbedarfs dienen. Für <?page no="232"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 233 die Inanspruchnahme gibt es keine Höchstgrenze. 100 Allerdings müssen Sicherheiten gestellt werden und der Zinssatz lag seit Ende Januar 1999 mit bis zu 100 Basispunkten deutlich über dem Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte. Eine Inanspruchnahme der Spitzenrefinanzierungsfazilität seitens der Kreditinstitute führt zu einer Verlängerung der Zentralbankbilanz (A.2 und P.2-Einlagen auf Girokonten steigen im gleichen Ausmaß). Während eines Geschäftstages stellt das Eurosystem seinen Geschäftspartnern auf der Grundlage von Sicherheiten zinslose Innertageskredite (intraday credit) für Zwecke des Zahlungsverkehrs zur Verfügung. Am Ende eines Geschäftstages werden noch in Anspruch genommene Innertageskredite automatisch als Antrag auf eine Inanspruchnahme der Spitzenrefinanzierungsfazilität betrachtet, da eine Kontoüberziehung von einem Geschäftstag zum anderen beim Eurosystem nicht zulässig ist. 3.3.2.2 Einlagefazilität Auf der anderen Seite ist auch eine Einlagefazilität (deposit facility) verfügbar, d. h. die Geschäftspartner haben die Möglichkeit, Guthaben bis zum nächsten Geschäftstag („über Nacht“) beim Eurosystem zu einem vorher festgesetzten Zinssatz anzulegen (folglich sinken die Einlagen auf Girokonten, die Guthaben auf den Konten für die Einlagefazilität dagegen steigen - es kommt somit zu einer Umbuchung innerhalb von P.2). Dadurch sinkt die Bankenliquidität. Der Zinssatz lag seit Ende Januar 1999 mit bis zu 100 Basispunkten unter dem Hauptrefinanzierungssatz. Nach dem Lehman Zusammenbruch und dem Übergang zum Mengentender mit Vollzuteilung der von den Banken gewünschten Liquidität kam es zu einem Anschwellen der Guthaben im Rahmen der Einlagefazilität. 3.3.3 Refinanzierungsfähige Sicherheiten Gemäß Art. 18.1 der Satzung des ESZB und der EZB sind für Darlehen ausreichende Sicherheiten zu stellen. Im Monatsdurchschnitt des Jahres 2012 stellten die Geschäftsbanken dem Eurosystem Sicherheiten in Höhe von 2448 Mrd. €. Damit besicherten sie ein durchschnittlich ausstehendes Kreditvolumen von 1131 Mrd. Euro. Das ausstehende Volumen der über die regelmäßigen dreimonatigen Längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte, die Refinanzierungsgeschäfte mit Sonderlaufzeit und die zusätzlichen Längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte zugeteilten Liquidität betrug 2012 im Tagesdurchschnitt insgesamt 1022 Mrd € (EZB, 2013a, 88). Die marktfähigen notenbankfähigen Sicherheiten lagen im Jahresdurchschnitt 2012 bei 13,7 Billionen € (EZB, 2013a, 91) . Die Besicherung soll auf einfache Weise sicherstellen, dass dem Eurosystem aus der Vergabe von Krediten keine Verluste entstehen (im Einzelnen hierzu vgl. EZB, 2007d, 94). Die Besicherung kann über zwei Arten erfolgen. Die Geschäftspartner des Eurosystems können die Sicherheiten entweder als Pfand hinterlegen oder durch Übertragung des Eigentums an Vermögenswerten im Rahmen von Rückkaufsvereinbarungen (Repogeschäfte) stellen. 100 Die EZB kann allerdings Beschränkungen einführen (EZB, 1999d, 35). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="233"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 234 Abbildung III.3.9: Hauptkategorien der refinanzierungsfähigen Sicherheiten für die Kreditgeschäfte des Eurosystems Marktfähige Sicherheiten Nicht marktfähige Sicherheiten Art der Sicherheit EZB-Schuldverschreibungen Sonstige marktfähige Schuldtitel Kreditforderungen Bonitätsanforderungen Die Sicherheit muss den hohen Bonitätsanforderungen genügen. Die hohen Bonitätsanforderungen werden anhand der ECAF (Eurosystem Credit Assessment Framework)-Regeln für marktfähige Sicherheiten beurteilt. Der Schuldner / Garant muss den hohen Bonitätsanforderungen genügen. Die Kreditwürdigkeit wird anhand der ECAF-Regeln für Kreditforderungen beurteilt. Emissionsort EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) Nicht zutreffend Abwicklungs- / Bearbeitungsverfahren Abwicklungsort: Euro-Währungsgebiet Die Sicherheiten müssen zentral in girosammelverwahrfähiger Form bei nationalen Zentralbanken oder einem Wertpapierabwicklungssystem hinterlegt werden, das den EZB Mindeststandards entspricht. Verfahren des Eurosystems Art des Emittenten / Schuldners / Garanten Zentralbanken Öffentliche Hand Privater Sektor Internationale und supranationale Organisationen Öffentliche Hand Nichtfinanzielle Unternehmen Internationale und supranationale Organisationen Sitz des Emittenten / Schuldners oder Garanten Emittent: EWR oder G-10-Länder außerhalb des EWR Garant: EWR Euro-Währungsgebiet Zugelassene Märkte Regulierte Märkte Von der EZB zugelassene nicht regulierte Märkte Nicht zutreffend Währung Euro Euro Mindestbetrag keiner Inländische Nutzung: Festlegung durch nationale Zentralbank Grenzüberschreitende Nutzung: Mindestbetrag von 500 000 € Grenzüberschreitende Nutzung Ja Ja Quelle: EZB (2011a). Als Sicherheiten können öffentliche und private Schuldtitel herangezogen werden. Ende 2012 betrug der Gesamtbetrag der vom Eurosystem zur Besicherung von Kreditgeschäften zugelassenen Sicherheiten 14 Billionen €. Davon waren knapp 23 % in Deutschland notiert. Sie dienten sowohl als Sicherheiten bei geldpolitischen Geschäften als auch zur Besicherung von Innertageskrediten im Rahmen des Zahlungsverkehrs. <?page no="234"?> GELDPOLITISCHES INSTRUMENTARIUM 235 3.4 Zusammenfassung Das geldpolitische Instrumentarium muss das Eurosystem in die Lage versetzen, den Tagesgeldsatz zu steuern. Ausgangspunkt für die geldpolitischen Aktivitäten des Eurosystems ist die Anbindung der Geschäftsbanken an die Zentralbank, die vom Banknotenmonopol und von der Mindestreservepflicht ausgeht. Beide Faktoren ziehen eine Zwangs-Nachfrage nach Zentralbankgeld nach sich. Die Mindestreserve trägt also dazu bei, dass andere Instrumente der Zentralbank (z. B. die Offenmarktpolitik) greifen können und kann somit nicht ohne Weiteres durch andere geldpolitische Instrumente ersetzt werden. Um sich das benötigte Zentralbankgeld zu beschaffen, müssen die Kreditinstitute Geschäfte mit der Zentralbank abschließen. Das Eurosystem hat es als Monopolanbieter von Zentralbankgeld in der Hand, den Preis, d. h. den Zinssatz für Zentralbankgeld, festzusetzen. Der Zinssatz, den die Zentralbank für den Abschluss dieses Geschäftes von den Kreditinstituten verlangt, ist der entscheidende Referenzsatz für den Tagesgeldsatz unter den Banken. Bis zum Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 kam Hauptrefinanzierungsgeschäften die Schlüsselrolle bei der Steuerung des Tagesgeldsatzes zu, da über sie einerseits die Liquiditätssituation am Geldmarkt maßgeblich bestimmt wurde und andererseits die Vorgabe des Zinssatzes den geldpolitischen Kurs des Eurosystems klar signalisierte. Aufgrund der unbegrenzten Liquiditätszuteilung durch das Eurosystem orientiert sich der Tagesgeldsatz seither aber mehr am Zinssatz für die Einlagefazilität. Um das Eurosystem prinzipiell vor Ausfällen zu schützen, sind alle Operationen, die dem Bankensystem Liquidität zuführen, mit Sicherheiten, die bestimmte Anforderungen erfüllen müssen, zu unterlegen. Kontrollfragen 1 Welche Rolle spielt die Mindestreserve innerhalb des geldpolitischen Instrumentariums des Eurosystems? 2 Was sind Offenmarktgeschäfte aus der Sicht des Eurosystems? 3 Worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen Offenmarktgeschäften und Ständigen Fazilitäten? 4 Warum ist das Eurosystem im Herbst 2008 zur Vollzuteilung übergegangen? 5 Warum werden liquiditätszuführende Operationen des Eurosystems (Kredite) mit Sicherheiten unterlegt? Lösungen unter europa-geldpolitik.de OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="235"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 236 Weiterführende Literatur Europäische Zentralbank (2011), Durchführung der Geldpolitik im Euro-Währungsraum - Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des Eurosystems vom 20 September 2011. (http: / / www.ecb.int) In dieser Publikation der EZB werden die geldpolitischen Instrumente und deren Handhabung dargelegt. Sie enthält auch eine Reihe von Beispielen. Bindseil, U. (2004), Monetary Policy Implementation, Theory - Past - Present, Oxford University Press. Die Arbeit Bindseils liefert einen umfassenden Überblick über die geldpolitischen Instrumente (Geschichte, Funktionen, Verwendung). 4 Geldmarktsteuerung 4.1 Geldmarktabgrenzungen Am Geldmarkt werden kurzfristige Forderungen, also Laufzeiten von einem Tag (über Nacht) bis üblicher Weise einem Jahr, gehandelt. Grundsätzlich dienen Geldmarktgeschäfte dem Liquiditätsmanagement der Marktteilnehmer. Zum Kreis der Marktteilnehmer zählen die Zentralbank, Geschäftsbanken, große Unternehmen, öffentliche Stellen und institutionelle Anleger. Die Geldmarktgeschäfte lassen sich unterteilen in solche, bei denen Einlagen bei der Zentralbank und in solche, bei denen Einlagen bei Kreditinstituten (Bankengiralgeld bzw. -buchgeld) Handelsobjekt sind. Beide Segmente zusammengenommen bilden den Geldmarkt im weiteren Sinne. Den Nichtbanken dienen Geschäfte mit Bankengiralgeld zur Synchronisation ihrer Zahlungsströme. Kreditinstitute benötigen Guthaben bei der Zentralbank, um die Mindestreservepflicht zu erfüllen und um sich Bargeld von der Zentralbank besorgen zu können. Sie verwenden die Guthaben bei der Zentralbank aber auch, um den Zahlungsverkehr untereinander abzuwickeln. Mindestreservebedingte Guthaben können dabei zugleich für Zwecke des Zahlungsverkehrs (Working Balances) genutzt werden, da aufgrund der Durchschnitts- Mindestreserve bei den einzelnen Instituten ein Schwanken der Guthaben von Tag zu Tag möglich ist. Der Markt, auf dem Guthaben bei der Zentralbank (Bankenliquidität) gehandelt werden, wird auch als Geldmarkt im engeren Sinne bezeichnet. Dieser ist das eigentliche Operationsfeld für die geldpolitischen Maßnahmen des Eurosystems. Er lässt sich in zwei Teilmärkte aufteilen: den Interbanken- und den Regulierungs- Geldmarkt. Auf dem Regulierungs-Geldmarkt kontrahiert das Eurosystem mit den Kreditinstituten. Hier finden alle Transaktionen statt, die mit dem Instrumenteneinsatz des Eurosystems verbunden sind. Während Transaktionen zwischen dem Eurosystem und den Kreditinstituten zu einer Veränderung des Bestandes an Bankenliquidität führen, kommt es am Interbankenmarkt nur zu einer Umverteilung dieser Liqui- <?page no="236"?> GELDMARKTSTEUERUNG 237 dität. Allerdings schließt nur ein kleiner Teil der rund 6.000 Kreditinstitute im Euroraum (Stand Ende 2012) Geschäfte mit dem Eurosystem ab. Im Jahr 2012 beteiligten sich im Durchschnitt 95 Institute an den als Mengentender ausgeschriebenen Hauptrefinanzierungsgeschäften, 101 an den beiden die Liquiditätszuführung dominierenden dreijährigen Längerfristigen Refinanzierungsgeschäften (abgewickelt am 22. 12. 2011 und 1. 3. 2012) beteiligten sich allerdings insgesamt 1.323 Geschäftspartner. Abbildung III.4.1: Interbanken-Geldmarkt und Bilanz des Eurosystems Konsolidierte Bilanz (Wochenausweis) des Eurosystems - vereinfachte Darstellung - zum 26.4.2013 (in Mrd. €) Aktiva Passiva A.1: Währungsreserven P.1: Banknotenumlauf A.2: Forderungen an Kreditinstitute im Euro-Währungsgebiet P.2: Verbindlichkeiten in Euro gegenüber Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet darunter: Einlagen auf Girokonten ◼ (Bankenliquidität) 316,0 A.3 Sonstiges P.3: Sonstiges Quelle: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 19 vom 30. April 2013, 34 f. Auf dem Interbanken-Geldmarkt handeln die Kreditinstitute (ohne Zentralbank) untereinander Guthaben bei der Zentralbank (P.2 - Einlagen auf Girokonten in Abb. III.4.1). Solche Transaktionen haben keinen Einfluss auf die Bilanzsumme und die Struktur der Zentralbankbilanz. Es kommt vielmehr nur zu einer Umverteilung des (gesamtwirtschaftlich gegebenen) Bestandes an Bankenliquidität zwischen den einzelnen Kreditinstituten. Für eine schnelle (grenzüberschreitende) Verteilung der Ban- 101 Vor allem „kleinere“ Institute, die dem Genossenschaftsverbund oder dem Sparkassenverbund angehören, nehmen i. d. R. nicht direkt an den Geschäften mit dem Eurosystem teil. Dahinter dürfte die Überlegung stehen, dass es sich angesichts eher überschaubarer Größenordnungen beim Mindestreserve-Soll, also beim Bedarf an Zentralbankguthaben, kaum lohnt, die technischen und personellen Voraussetzungen für Geschäfte mit der Zentralbank zu schaffen. Nimmt man etwa ein Institut mit einer Mrd. € Bilanzsumme und geht davon aus, dass Einlagen in Höhe von 500 Mio. € mindestreservepflichtig sind, so ergibt sich ein Mindestreserve-Soll in Höhe von 5 Mio. € (1 % aus 500 Mio). Unterstellt man nun, dieses Institut müsste sich diese 5 Mio. € am Geldmarkt besorgen und die Aufschlagsmarge bei einer Mittelaufnahme am Tagesgeldmarkt gegenüber dem Zinssatz, der für Hautrefinanzierungsgeschäfte mit der Zentralbank zu zahlen wäre, läge bei 10 Basispunkten, so ergibt sich p.a. lediglich eine Zinsersparnis von 5.000 € (0,1 % aus 5 Mio.). Der Anreiz, unter diesen Umständen direkt Geschäfte mit der Zentralbank zu tätigen, ist also eher gering Ähnliche Überlegungen werden im Hinblick auf die „Rationalität“ der Haltung von unverzinsten Überschussreserven bei Bindseil / Seitz (2001, 31) angeführt. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="237"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 238 kenliquidität zwischen den Kreditinstituten bildet zahlungsverkehrstechnisch das europaweite Echtzeit-Brutto-Zahlungssystem TARGET2 (Trans-European Automated Real-Time Gross Settlement Express Transfer System) des Eurosystems die Grundlage (siehe hierzu auch Box III.4.1). Der Interbanken-Geldmarkt dient den Instituten dazu, einzelwirtschaftliche Liquiditätsüberschüsse bzw. -fehlbeträge untereinander auszugleichen, wobei das zu haltende Mindestreserve-Soll maßgeblich die Nachfrage der Kreditinstitute nach Bankenliquidität (P.2) bestimmt. Box III.4.1: TARGET2 Das Eurosystem hat basierend auf Artikel 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Artikel 22 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (ESZB-Statut) die Aufgabe für effiziente und zuverlässige Verrechnungs- und Zahlungssysteme zu sorgen. Dies ist sowohl für die Umsetzung der geldpolitischen Beschlüsse als auch für die reibungslose Abwicklung des Zahlungsverkehrs innerhalb der Währungsunion und mit Drittstaaten bedeutend. Mit TARGET (das Akronym steht für Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System) stellte das Eurosystem zum Start der EWU ein Echtzeit-Brutto-Zahlungsverkehrssystem bereit, das diese Anforderung erfüllte. TARGET2 ist das zwischen November 2007 und Mai 2008 schrittweise eingeführte Nachfolgesystem. Während TARGET dezentral organisiert war und im Wesentlichen eine Verbindung der nationalen RTGS-Systeme (Real Time Gross Settlement) darstellte, ist TARGET2 ein auf einer einheitlichen Plattform auf bauendes System für den Zahlungsverkehr. Verantwortlich für die Entwicklung und den Betrieb sind im Auftrag des Eurosystems die Deutsche Bundesbank, die Banque de France sowie die Banca d’Italia. Da alle geldpolitischen Operationen über TARGET2 abgewickelt werden, ist die Teilnahme für die Zentralbanken des Eurosystems obligatorisch. Darüber hinaus nehmen auf Guthabenbasis auch einige Zentralbanken aus EU-Ländern teil, die den Euro noch nicht eingeführt haben. Im Gegensatz zu Netto-Zahlungsverkehrssystemen, die ein- und ausgehende Zahlungen für jeden Teilnehmer kontinuierlich verrechnen und bei denen zum Tagesabschluss etwaig bestehende Salden in der Regel in Zentralbankgeld auszugleichen sind, wird in TARGET2 jede Transaktion (daher „brutto“) sofort und endgültig (in Zentralbankgeld) ausgeführt. Über die Bundesbank sind aktuell rund 200 Teilnehmer direkt an TARGET2 angebunden. Dazu zählen neben deutschen Banken auch hier ansässige Banken in ausländischem Besitz sowie einige gebietsfremde Banken, deren nationale Zentralbanken nicht selbst an TARGET2 teilnehmen. Rechnet man Zweigstellen und Filialen der direkten und indirekten Teilnehmer sowie Korrespondenzbanken hinzu, können etwa 60.000 Banken weltweit über TARGET2 erreicht werden. Über TARGET2 fließen arbeitstäglich im Durchschnitt rund 350.000 Zahlungen im Wert von 2½ Billionen €. Das entspricht in etwa dem jährlichen deutschen Bruttoinlandsprodukt. Etwa zwei Drittel davon (nach Wert und Volumen) sind rein nationale Transaktionen, rund ein Drittel grenzüberschreitend. <?page no="238"?> GELDMARKTSTEUERUNG 239 Fließt den Banken eines Landes aus den grenzüberschreitenden Überweisungen über TARGET2 per saldo Zentralbankgeld zu, entsteht bei der betreffenden nationalen Zentralbank (NZB) im Ergebnis ein positiver TARGET2-Saldo - so zum Beispiel derzeit bei der Deutschen Bundesbank. Diese TARGET2-Forderung richtet sich letztlich nicht an eine andere NZB, sondern an die Europäische Zentralbank (EZB), die als Verrechnungsstelle zwischen den NZBen wirkt. Abbildung III.4.2 veranschaulicht die Entstehung von TARGET2-Salden vereinfacht anhand eines Beispiels aus dem grenzüberschreitenden Warenhandel. Den in TAR- GET2 abgewickelten grenzüberschreitenden Zahlungen können aber grundsätzlich ganz unterschiedliche Geschäfte zugrunde liegen. Denkbar sind zum einen, wie im Beispiel, Leistungstransaktionen, also etwa die Zahlung für eine Warenlieferung oder Dienstleistung aus dem Ausland. Daneben kann aber auch der Kauf oder Verkauf eines ausländischen Wertpapiers, die Gewährung oder Rückzahlung eines fälligen Darlehens, die Geldanlage bei einer gebietsfremden Bank und vieles mehr über TARGET2 abgewickelt werden. Abbildung III.4.2: Beispiel für die Entstehung von TARGET2-Salden Quelle: Deutsche Bundesbank Im konkreten Beispiel kauft ein Verbraucher in Italien eine Ware aus Deutschland. Er weist seine Bank an, den Kaufpreis (im Bsp. 100 €) von seinem Girokonto auf das des OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="239"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 240 deutschen Lieferanten zu überweisen. Diese Transaktion belastet sein Konto (Giro: -100) und die Reserven (Res: -100) seiner kontoführenden Bank bei der Banca d’Italia (Guthaben in Zentralbankgeld, über das die italienische Bank verfügen muss, um die Überweisung über TARGET2 auslösen zu können; NZB-Bilanzposition L2.1. Einlagen auf Girokonten). Die Bank in Deutschland erhält eine Gutschrift auf ihrem Zentralbankkonto bei der Deutschen Bundesbank (Res / L2.1 Einlagen auf Girokonten) und schreibt ihrerseits den Betrag ihrem Kunden, dem deutschen Lieferanten der Ware gut (Giro). Die Banca d’Italia erhält eine TARGET2-Verbindlichkeit gegenüber der EZB (L10.3), die Deutsche Bundesbank eine ebenso hohe TARGET2-Forderung (A9.4). Genau genommen erfolgt letzteres erst am Ende des Handelstages durch Verrechnung aller im Tagesverlauf aufgelaufenen bilateralen Forderungen und Verbindlichkeiten durch die EZB. Nach dieser Verrechnung bestehen die Forderungen oder Verbindlichkeiten der NZBen in TARGET2 nur gegenüber der EZB. Da die TARGET2-Salden stets nur netto als Forderungen oder Verbindlichkeiten in den Bilanzen aufgeführt werden, heben sich die Positionen in der Bilanz der EZB gegenseitig auf. In der Folge hat nun die Bank in Deutschland aufgrund der ihr über den Zahlungsverkehr zugeflossenen Liquidität die Möglichkeit, ihre Refinanzierung bei der Deutschen Bundesbank zurückführen. Alternativ kann sie die Liquidität auf dem Girokonto belassen (L2.1) oder in der Einlagefazilität (L2.2) bzw. in den Termineinlagen (L2.3) parken (siehe Abb. III.4.3). Die Bank in Italien hingegen muss, wenn sie fortgesetzte Abflüsse (in Folge weiterer Transaktionen) nicht durch entsprechende Zuflüsse (etwa aus Interbankkrediten) kompensieren kann, ihr Refinanzierungsvolumen bei der Banca d’Italia ausweiten. Daran ist nichts auszusetzen, wenn die Bank solvent ist und über angemessene Sicherheiten verfügt. Abbildung III.4.3: Bilanz einer Zentralbank des Eurosystems Aktiva Passiva A1 Gold und Goldforderungen L1 Banknotenumlauf A2 Forderungen in Fremdwährung an Ansässige außerhalb der EWU L2 Verbindlichkeiten in Euro aus geldpolitischen Operationen gegenüber Kreditinstituten im Euro-Währungsgebiet A3 Forderungen in Fremdwährung an Ansässige in der EWU L2.1 Einlagen auf Girokonten A4 Forderungen in Euro an Ansässige außerhalb der EWU L2.2 Einlagefazilität A5 Ford. in Euro aus geldpol. Operationen an Kreditinstitute in der EWU L2.3 Termineinlagen A6 Sonstige Forderungen in Euro an Kreditinstitute in der EWU … … A7 Wertpapiere in Euro von Ansässigen in der EWU L3 Sonstige Verbindlichkeiten in Euro gegenüber Kreditinstituten in der EWU A8 Forderungen in Euro an öffentliche Haushalte L4 Ausgegebene Schuldverschreibungen A9 Forderungen innerhalb des Eurosystems L5 Verbindlichkeiten in Euro gegenüber sonstigen Ansässigen in der EWU … … L6 Verbindlichkeiten in Euro gegenüber Ansässigen außerhalb der EWU A9.4 Sonst. Forderungen (hauptsächlich TARGET-Forderungen, netto) L7 Verbindlichkeiten in Fremdwährung gegenüber Ansässigen in der EWU … … L8 Verbindl. in Fremdwährung gegenüber Ansässigen außerhalb der EWU A10 Schwebende Verrechnungen L9 Ausgleichsposten für vom IWF zugeteilte Sonderziehungsrechte A11 Sonstige Aktiva L10 Verbindlichkeiten innerhalb des Eurosystems … … L10.3 Sonst. Verbindlichkeiten (hauptsächlich TARGET-Verbindlichkeiten, netto) … … L11 Schwebende Verrechnungen L12 Sonstige Passiva L13 Rückstellungen L14 Ausgleichsposten aus Neubewertung L15 Grundkapital und Rücklage Quelle: Deutsche Bundesbank <?page no="240"?> GELDMARKTSTEUERUNG 241 Bis zur Finanzkrise 2007 schwankten die TARGET-Salden um Null (siehe Abb. III.4.4 für den Fall Deutschlands). Als Folge der Finanzkrise sind bei den NZBen des Eurosystems in größerem Umfang positive und negative TARGET2-Salden entstanden (siehe Abb. III.4.5). Durch das Misstrauen der Banken untereinander erfolgte der Liquiditätsausgleich zwischen den Kreditinstituten nicht mehr in der vor der Krise gewohnten Weise. Darüber hinaus verteuerte oder erschwerte sich die marktmäßige Refinanzierung von Banken auf den Geld- und Kapitalmärkten. In der Folge nahmen einige Institute verstärkt (günstige) Refinanzierungskredite oder Liquiditätshilfen durch ihre NZBen in Anspruch, um die Liquiditätsabflüsse zu kompensieren. Allerdings sollten potenziell eher mit Solvenzals mit Liquiditätsproblemen konfrontierte Banken nicht dauerhaft maßgeblich über Zentralbankkredite finanziert werden, da über die Geldpolitik Risiken breit auf die Steuerzahler der Mitgliedsländer verteilt werden können. Derartige Risikoübernahmen und Entscheidungen über ihre Verteilung fallen in den Verantwortungsbereich der Finanzpolitik. Nur sie hat die dafür erforderliche demokratische Legitimation. A bbildung III.4.4: TARGET2-Saldo der Deutschen Bundesbank Quelle: Deutsche Bundesbank. Risiken für Zentralbanken resultieren im Wesentlichen aus den Operationen mit denen sie Liquidität (Zentralbankgeld) bereitstellen. Alle Entscheidungen über die Ausgestaltung in der EWU trifft der EZB-Rat im Rahmen seines geldpolitischen Mandats. Über TARGET2 selbst kann kein Zentralbankgeld geschaffen werden. Das Zahlungsverkehrssystem dient lediglich der schnellen und sicheren Übertragung von Liquidität, über welche die teilnehmenden Banken bereits verfügen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="241"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 242 Abbildung III.4.5: TARGET2-Forderungen und Verbindlichkeiten im Eurosystem (in Mrd. Euro) -400 -200 0 200 400 600 800 2009 2010 2011 2012 DE LU N L FI SK E CB E E MT SI CY BE AT FR I E GR PT I T E S Quelle: Deutsche Bundesbank. In der EWU wird Zentralbankgeld hauptsächlich über geldpolitische Refinanzierungsgeschäfte, daneben aber auch über den Auf bau geldpolitisch motivierter Wertpapierbestände zur Verfügung gestellt. Verluste aus geldpolitischen Geschäften werden im Regelfall auf Beschluss des EZB-Rats zwischen den nationalen Notenbanken des Eurosystems gemäß ihrem jeweiligen Kapitalanteil an der EZB verteilt, unabhängig davon, welche NZB das verlustbehaftete Geschäft abgewickelt hat. Hinsichtlich der Teilnahme an Refinanzierungsgeschäften des Eurosystems ist zum einen die Solvenz des Geschäftspartners Voraussetzung, zum anderen die Bereitstellung ausreichender Sicherheiten. Das begrenzt die Risiken. Zu Verlusten kann es nur kommen, wenn sowohl ein Geschäftspartner ausfällt als auch die von ihm gestellten Sicherheiten sich bei einer Verwertung als unzureichend werthaltig erweisen. Speziell die im Zuge der Finanzkrise erfolgte stufenweise Lockerung der Anforderungen an die Sicherheiten im Rahmen der geldpolitischen Geschäfte hat, neben dem stark ausgeweiteten Volumen durch das Vollzuteilungsregime, das Risiko für das Eurosystem merklich erhöht. Die gestiegenen finanziellen Risiken spiegeln sich nicht zuletzt auch in einer höheren Risikovorsorge seitens der Deutschen Bundesbank wider. Es gibt auch Geschäfte in nationaler Verantwortung, über die Liquidität bereitgestellt wird. Diese sind von der Risikoteilung explizit ausgeschlossen. Dazu zählen beispielswei- <?page no="242"?> GELDMARKTSTEUERUNG 243 se die kurzfristige Gewährung von Liquiditätshilfen (Emergency Liquidity Assistance - ELA) und die Möglichkeit für NZBen, unter bestimmten Voraussetzungen Kreditforderungen als Sicherheiten zu akzeptieren. Etwaige Verluste aus solchen Operationen sind allein von der jeweiligen NZB zu tragen. Zum Abschluss noch ein hypothetischer Fall, bei dem sich Teile der TARGET2-Salden in bilanzwirksamen Risiken niederschlagen könnten: der Austritt eines Landes mit einem negativen TARGET2-Saldo aus der Währungsunion. Ein solcher Schritt ist aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich und im AEUV auch nicht vorgesehen. Sollte jedoch ein Land mit TARGET2-Verbindlichkeiten die EWU verlassen, so bestehen zunächst die Forderungen der EZB gegenüber dessen NZB in unveränderter Höhe fort. Kann die ausscheidende Zentralbank ihre Verbindlichkeiten trotz vorhandener Sicherheiten nicht bedienen und hielte man eine Restforderung für uneinbringlich, entstünde bei der EZB durch deren Abschreibung ein bilanzwirksamer Verlust. Über einen Ausgleich von Verlusten der EZB entscheiden allein die NZBen als Kapitaleigner der EZB mit Kapitalmehrheit. Eine etwaige Verlustbeteiligung könnte nach dem ESZB-Statut über einen Verzicht der NZBen auf Ausschüttung ihrer anteiligen monetären Einkünfte erfolgen und würde sich bei den NZBen gewinnmindernd auswirken. Box erstellt von Alexander Lipponer (Deutsche Bundesbank). Der Interbanken-Geldmarkt gliedert sich in einen unbesicherten und in einen besicherten Teilmarkt. Auf dem unbesicherten Geldmarkt erfolgt eine Kreditvergabe ohne Sicherheiten lediglich auf der Basis von bilateralen Kreditlimits. Der besicherte Geldmarkt hingegen basiert auf Repogeschäften, d. h. die Kreditvergabe wird mit Wertpapieren unterlegt. Während sich der Markt für unbesicherte Einlagen („unbesicherter Geldmarkt“) auf sehr kurzfristige Laufzeiten, insbesondere auf Übernachtausleihungen (Tagesgeldmarkt) konzentriert, geht der Repomarkt in Richtung (etwas) längerer Laufzeiten. Ansatzpunkt für die Geldpolitik ist der Tagesgeldmarkt. Am Tagesgeldmarkt haben die Geschäfte entweder von vornherein eine feste Laufzeit von einem Tag („overnight“, sog. Tagesgeld) oder zunächst eine unbestimmte Laufzeit („bis auf weiteres“), bei der jedoch an jedem Geschäftstag vom Geldnehmer oder Geldgeber mit sofortiger Wirkung gekündigt werden kann (sog. täglich fälliges Geld). Aus Sicht einer einzelnen Bank erfüllen der Regulierungs-Geldmarkt und der Interbanken-Geldmarkt die gleiche Funktion. Beide bieten ihr unter normalen Umständen Rückhalt für einen einzelwirtschaftlichen Liquiditätsausgleich und sichern somit ihre geschäftlichen Aktivitäten und ihre Mindestreservedispositionen gegen das Risiko kurzfristiger Liquiditätsschwankungen ab. Der Geldmarkt i. w. S. steht mit dem Geldmarkt i. e. S. durch Arbitrageaktivitäten in einem engen Zusammenhang. Durch ihre Zinsführerschaft am Geldmarkt i. e. S. und der Konkurrenz unter den Kreditinstituten schlagen sich geldpolitische Maßnahmen des Eurosystems schnell in gleichgerichteten Zinsbewegungen bei den übrigen Geldmarktgeschäften nieder. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="243"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 244 4.2 Tagesgeldsatz als operatives Ziel Zentralbanken betreiben auf der operativen Ebene keine Geldbasissteuerung, d. h. sie setzen nicht unmittelbar an einer quantitativen Steuerung des Zentralbankgeldes (Banknotenumlauf, Guthaben bei der Zentralbank) an. Zentraler Ansatzpunkt, also operatives Ziel, ist vielmehr der Zinssatz für Tagesgeld am Interbanken-Geldmarkt. Sowohl das Eurosystem (EZB, 2004j, 75), das Fed (Board of Governors, 2005, 16) als auch die Bank of England (Bank of England, 2005, 3) steuern den Tagesgeldsatz als operatives Ziel. Die Zentralbanken streben am Tagesgeldmarkt den Zins an, den sie als angemessen ansehen. Dieser Zins ist der Hebel, mit dem die letztendlichen Ziele, vor allem Preisstabilität, erreicht werden sollen. Dementsprechend wird er üblicher Weise als operatives Ziel der Geldpolitik bezeichnet. Die Zentralbanken steuern mit ihrem geldpolitischen Instrumentarium also nicht die Menge, sondern den Preis des Zentralbankgeldes. Dabei handelt es sich im Ergebnis um den Zinssatz für Zentralbankguthaben auf dem Tagesgeldmarkt, den sog. Tagesgeldsatz. Zu diesem Preis wird der - letztlich vom Verhalten der Nichtbanken bestimmte, d. h. endogene - gesamtwirtschaftliche Bedarf an Zentralbankgeld, den die Zentralbanken im Voraus prognostizieren müssen (also z. B. als beeinflussende Faktoren den Banknotenumlauf, die Guthaben öffentlicher Haushalte, die Working Balances und das Mindestreserve-Soll), zunächst vollständig elastisch befriedigt. Bis zur Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008 stellte das Eurosystem mithin die Menge an Zentralbankgeld zur Verfügung, die die Wirtschaftssubjekte gesamtwirtschaftlich benötigen. Wenn etwa die EZB bei einem Mengen- oder Zinstender nicht alle Gebote der Banken zuteilte, dann hieß dies nicht, dass sie die Geldbasis einschränken wollte. Vielmehr prognostizierte die Notenbank den Liquiditätsbedarf der Banken, und teilte dementsprechend gesamtwirtschaftlich bedarfsgerecht zu. Es handelte sich dabei um den sog. „Benchmark-Betrag“. Dabei handelt es sich um den Zuteilungsbetrag, der auf der Grundlage aller Liquiditätsschätzungen der EZB normaler Weise erforderlich ist, um am kurzfristigen Geldmarkt ausgeglichene Liquiditätsbedingungen herzustellen. Im Bietungsverhalten der Banken spiegelt sich diese gesamtwirtschaftliche Orientierung nicht zwangsläufig wider. Dies ist auch nahe liegend, da sich die Gebote der einzelnen Kreditinstitute am einzelwirtschaftlichen Gewinnkalkül bzw. am einzelwirtschaftlichen Liquiditätsbedarf orientieren und nicht am gesamtwirtschaftlichen Bedarf an Zentralbankgeld. „Indeed, in practice monetary policy implementation at the ECB basically means estimating and providing the amount of liquidity which will keep rates stable around the rate decided by the Council …“ (Papadia, 2005, 52, für die Fed siehe analog Woodford, 2003, 26). Eine Steuerung des Zinses hat den Vorteil, dass erratische Zinsschwankungen am Geldmarkt und dadurch ausgelöste Irritationen an den Finanzmärkten vermieden werden können. Solche Schwankungen sind bei einer „Mengensteuerung“ allein schon deshalb nicht zu vermeiden, weil in Banken- und Kreditsystemen heutigen Zuschnitts der Geldschöpfungsprozess aus dem Zusammenspiel von Geschäftsbanken und deren Kunden (Nichtbanken) - also zunächst ohne Zutun der Zentralbank - angestoßen wird (siehe hierzu Box III.4.2 sowie Kap. III.4.5). <?page no="244"?> GELDMARKTSTEUERUNG 245 Box III.4.2: Wie entsteht Geschäftsbankengeld und wie könnten Einlagen auch gesichert werden? (ein kreativer Vorschlag) Geschäftsbankengeld entsteht, indem die Geschäftsbanken Forderungen an Nichtbanken erwerben und diese mit Einlagen (Verbindlichkeiten gegenüber Nichtbanken) „bezahlen“. Deutlich werden diese Zusammenhänge, wenn man die Konsolidierte Bilanz des Geschäftsbankensystems (Kreditinstitute ohne Zentralbank) heranzieht. Im Bilanzzusammenhang resultiert die Einlagenkomponente der Geldmenge - also das Geschäftsbankengeld - als eine der bilanziellen Gegenpositionen zum Kreditvolumen. Abbildung III.4.6: Konsolidierte Bilanz der Geschäftsbanken Aktiva Passiva Kassenbestand und Einlagen bei der Zentralbank Forderungen (Kredite) an Nichtbanken Wertpapiere ◼ Buchforderungen ◼ Kurzfristige Verbindlichkeiten gegenüber Nichtbanken (Geschäftsbankengeld) Längerfristige Verbindlichkeiten gegenüber Nichtbanken (Geldkapital) Verbindlichkeiten gegenüber der Zentralbank Eigenkapital Auf der Aktivseite der Bilanz stehen einerseits der Kassenbestand und die Guthaben bei der Zentralbank, andererseits die verbrieften (Wertpapiere) und unverbrieften (Buchforderungen) Forderungen („Kredite“) der Geschäftsbanken an Nichtbanken. Auf der Passivseite werden die kurzfristigen Verbindlichkeiten (Geschäftsbankengeld) sowie die langfristigen Verbindlichkeiten (Geldkapital) gegenüber Nichtbanken ausgewiesen. Schließlich finden sich auf der Passivseite die Verbindlichkeiten gegenüber der Zentralbank sowie das Eigenkapital des Geschäftsbankensektors. Die Zusammenhänge lassen sich auch anhand eines einfachen Kreditmarktmodells verdeutlichen. Angenommen, es kommt seitens der Nichtbanken zu einer Erhöhung der Kreditnachfrage K 0 D → K 0 D . Abbildung III.4.7: Ein einfaches Kreditmarktmodell Kreditmarkt i 0 i 1 K S K 0 D K K K 0 i K 1 D Geldmarkt i 0 i 1 M S M M 1 M 0 i OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="245"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 246 Kreditmarkt i 0 i 1 K S K 0 D K K 1 K 0 i K 1 D Geldmarkt M 0 D M 1 D i 0 i 1 M S M M 1 M 0 i Die Erhöhung der Kreditnachfrage wirkt zinserhöhend ( i 0 → i 1 ). Die Kreditinstitute werden daher mit einer Ausweitung der Kreditvergabe reagieren, sofern vom Eigenkapital her noch Spielraum besteht. Eine Zunahme der Kreditvergabe führt über steigende Einlagen und einen steigenden Bargeldbedarf, d. h. über einen Anstieg der Geldnachfrage ( M 0 D → M 1 D ) und damit der Geldmenge ( M 0 → M 1 ), auch zu einer vermehrten Nachfrage nach Zentralbankgeld. Dazu kommt es, weil die Geschäftsbanken sich zum einen zusätzliches Bargeld von der Notenbank besorgen müssen und weil sie zum anderen eine höhere Mindestreserve in Form von zusätzlichen Einlagen bei der Notenbank halten müssen. Die Notenbank wird in einem ersten Schritt zwar stets diesen höheren Bedarf an Zentralbankgeld befriedigen. Sie hat es aber in der Hand, die Zinsen für die Bereitstellung von Zentralbankgeld zu erhöhen. Eine Zinserhöhung seitens der Zentralbank würde einen dämpfenden Einfluss auf die künftige Kreditvergabe der Geschäftsbanken ausüben. Das Kreditangebot der Banken ( K S ) würde in diesem Falle sinken (Linksverschiebung von K S ). Dass eine steigende Kreditvergabe zu einem entsprechenden Anstieg der Geldmenge führt, ist allerdings nicht zwangsläufig. Zwar ist mit der Kreditausweitung kurzfristig eine entsprechende Zunahme der kurzfristigen Einlagen verbunden. Die Nichtbanken können dies aber jederzeit rückgängig machen, indem sie ihre kurzfristig fälligen Einlagen längerfristig anlegen (Umwandlung in Geldkapital). Es kann also jederzeit zu einer „endogenen Geldvernichtung“ kommen. Graphisch lässt sich eine solche „endogene Geldvernichtung“ durch eine Linksverschiebung der Geldnachfragefunktion ( M D ) verdeutlichen. Der aus diesen Vorgängen resultierende Geldbestand ( M ) entspricht also stets der von den Nichtbanken gewünschten Geldhaltung, sodass M S = M = M D . Die tatsächlich gehaltene, d. h. die in den Bankbilanzen und im Bargeldumlauf außerhalb des Bankensektors beobachtbare Geldmenge, ist also nicht bloßer Reflex der Kreditvergabe. Entscheidend ist vielmehr die Geldnachfrage der Nichtbanken. Das bedeutet aber, dass das Geldangebot endogen, d. h. aus dem Wirtschaftsprozess heraus bestimmt und nicht von der Notenbank vorgegeben wird. In der Diskussion um die Frage der Einlagensicherung, also der Sicherung der Guthaben der Nichtbanken bei den Geschäftsbanken hat Thomas Mayer, der frühere Chef-Volkswirt der Deutschen Bank, einen interessanten Vorschlag gemacht, den er auch als „kopernikanische Wende“ bezeichnet. Er schlägt vor, dass Problem der Einlagensicherung ganz <?page no="246"?> GELDMARKTSTEUERUNG 247 einfach dadurch zu lösen, dass die Banken dazu gezwungen werden, für die von ihnen im Rahmen der Kreditvergabe geschaffenen Sichteinlagen (Guthaben auf Girokonten), Garantien abzugeben, dass diese Guthaben jederzeit in Bargeld umtauschbar sind. Dies setzt voraus, dass die Banken für 100 % dieser Einlagen / Guthaben von Nichtbanken Bargeld oder Guthaben bei der Zentralbank halten. Nichtbanken hätten dann die Wahl, entweder ihren Zahlungsverkehr - zu marktmäßigen Preise („Gebühren“) - über sichere Konten oder über nichtgesicherte, dafür verzinsliche Konten abzuwickeln. Sollten die Nichtbanken letztere wählen, müssten sie auch das Risiko tragen, dass eine Bank pleitegeht. Damit würden Bankenkrisen aufhören, für den Staat extrem teuer zu sein (Häring, 2013, 10). Das Ausmaß des mit der endogenen Geld- und Kreditschöpfung einhergehenden zusätzlichen Zentralbankgeldbedarfs würde nur in den seltensten Fällen mit dem von der Zentralbank bei einer Geldbasissteuerung intendierten Pfad für die Bereitstellung von Zentralbankgeld übereinstimmen. Falls die Zentralbank eine darüber hinausgehende Nachfrage nach Zentralbankgeld nicht befriedigt, käme es zu einem drastischen Anstieg der kurzfristigen Zinsen. Diese sind aber im Unterschied zu den in Marktwirtschaften sonst üblichen Preiswirkungen funktionslos, da durch die Zinssteigerung kein zusätzliches Angebot an Zentralbankgeld mobilisiert werden kann. Eine solche Mengensteuerung würde allerdings dazu führen, dass der Tagesgeldsatz keine Rückschlüsse mehr auf die geldpolitischen Intentionen der Zentralbank zuließe. Mit häufigen und heftigen Schwankungen des Tagesgeldsatzes käme es auch zu einer stärkeren Volatilität der für die Ausgabeentscheidungen der Wirtschaftssubjekte relevanteren mittel- und längerfristigen Zinssätze und damit zu Ineffizienzen. Auch das Instrument der Mindestreserve würde in Frage gestellt, da das Bankensystem insgesamt seiner Mindestreservepflicht nicht mehr nachkommen könnte, wenn der Gesamtbedarf an Zentralbankgeld das vorgegebene Angebot seitens der Zentralbank übersteigen würde. Auf der anderen Seite wird allerdings durch die „Preissteuerung“ die Menge an Zentralbankgeld (kurzfristig) zur endogenen und insoweit nicht steuerbaren Größe. Für die USA hat dies Hetzel (2004, 48) folgendermaßen ausgedrückt: „The central bank engages in whatever open market operations are necessary to achieve a value of the monetary base compatible with the adjustable peg it sets for the rate on lending in the interbank market.“ Ähnlich argumentiert Papadia (2005, 51) für das Eurosystem: „Of course liquidity changes have an effect on interest rates but the logical flow is not at all changing liquidity conditions to achieve a given change of interest rates, but rather using liquidity supply to stabilise the short-term rate around the level decided by the Council.“ Box III.4.3: Woher kommen Kredite? Es gibt im Prinzip zwei Quellen der Kreditvergabe: Kredite können entweder aus der Kreditschöpfung der Banken oder aus dem (Geld)Vermögensbestand der Nichtbanken (private Haushalte, Staat, Unternehmen) stammen (Schmidt, 2012, S. 77 f.). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="247"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 248 Eine Kreditschöpfung durch eine Bank führt zu einer (Bank-)Bilanzverlängerung (siehe Box III.4.2). Diese Bilanzverlängerung ist unabhängig davon, ob zuvor eine Nichtbank liquide Mittel bei der Bank deponiert hat. Abb. III.4.8 zeigt die Kreditschöpfung der US- Banken seit den 1950er Jahren (in % des BIP). Abbildung III.4.8: Verschuldung (Kredite) bei US-Banken nach Schuldner (Kreditnehmer) in % des Bruttoinlandsprodukts Quelle: Bezemer (2012), 20. Anmerkung: FIRE sector debt = Kredite an die Finanzwirtschaft (Finanzinstitute, Versicherungen, Immobilien). Eine Kreditvergabe innerhalb des Nichtbanken-Sektors hingegen führt zu einer Verlängerung der Bilanz des Kreditnehmers und zu einem Aktivtausch beim Kreditgeber (Umschichtung des Vermögensportfolios). In Abb. III.4.9 sind die bilanzmäßigen Zusammenhänge beispielhaft dargestellt. Abbildung III.4.9: Kreditvergabe aus dem (Geld-)Vermögensbestand Quelle: Schmidt (2012), 78 <?page no="248"?> GELDMARKTSTEUERUNG 249 4.3 Die Taylor-Regel - eine geldpolitische Reaktionsfunktion für die Zinsentscheidungen der Zentralbanken Wenn Zentralbanken auf der operativen Ebene ein bestimmtes Niveau des Tagesgeldsatzes anstreben, bleibt die Frage, welche Kriterien dieser Entscheidung zugrunde liegen. Hier gilt es, eine Verbindung zwischen dem operativen Ziel und den Endzielen herzustellen. Technisch gesprochen geht es um die Ableitung einer geldpolitischen Reaktionsfunktion für die Zinsen. Notenbanken reagieren bei ihren (systematischen) Zinsentscheidungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Dabei sollte es sich um eine vorausschauende Zinspolitik handeln, d. h. es sollte eine Orientierung an der erwarteten Veränderung der Zielgrößen erfolgen (zur makroökonomischen Theorie siehe Box III.4.4). Box III.4.4: Neukeynesianische Makromodelle als Reaktion auf die Endogenität der Geldmenge und die Zinssteuerung durch die Zentralbanken Die Endogenität der Geldmenge zusammen mit dem Faktum, dass auf der operativen Ebene eine Zinssteuerung durch die Zentralbanken betrieben wird und die Geldnachfrage in vielen Ländern instabil wurde, führte zu einem neuen Paradigma in der Makroökonomie, den sog. neukeynesianischen (NK) Makromodellen (siehe stellvertretend Clarida, Gali und Gertler, 1999, und Woodford, 2003). Das - jetzt auch stärker anhand dynamischer allgemeiner Gleichgewichtsmodelle mikroökonomisch fundierte - Standardmodell (in log-linearisierter Form) besteht aus folgenden drei Gleichungen (mit E als dem Erwartungsoperator und  ,  ,  ,  als positive Koeffizienten) (1) x t =  · E t x t +1 -  ( i t - E t  t +1 ) +  tx (2)  t =  E t  t +1 +  x t +  t   (3) i t = r t * +  * +   ( E t  t +1 -  t *) +  x x t +  ti (1) stellt eine vorausschauende IS-Kurve dar. Danach hängt der Output Gap x t = y t - y t * (mit y * als Produktionspotenzial) vom erwarteten Output Gap (über das Konsumglättungsmotiv) und negativ vom ex-ante Realzins ab. (2) ist die Inflationsgleichung (AS-, Phillips- Kurve), nach der die Inflationsrate  von der erwarteten Inflationsrate und dem Output Gap bestimmt wird. (3) schließlich repräsentiert die geldpolitische Reaktionsfunktion, die auf konjunkturelle Entwicklungen ( x ) und Verfehlungen des Inflationszieles ( E  -  *), mit  * als Inflationsziel, reagiert. Die Gewichte der beiden Ziele legen dabei  und  x fest. Geldpolitik wird also richtiger Weise als Zinspolitik modelliert. Sie entspricht im Prinzip der Taylor-Regel. Die Geldpolitik reagiert also mit Zinserhöhungen bei positivem Inflation Gap ( E  -  * > 0) und / oder positivem Output Gap ( x > 0). Die  n ’s ( n = x ,  , i ) stellen Güternachfrage-, Inflations- und Zinsschocks dar. Der geldpolitische Transmissionsprozess vollzieht sich in den neukeynesianischen Modellen folgender Maßen: Senkt die Zentralbank den Geldmarktzins über das „neutrale“ Maß (gegeben durch r* +  *, siehe die Ausführungen zur Taylor-Regel) hinaus, fällt der Realzins und die Konjunktur OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="249"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 250 wird angeregt, d. h. x steigt (siehe (1)). Daraufhin geht die Inflationsrate nach oben (siehe (2)). Inflation ist also ein rein güterwirtschaftliches Phänomen. Sie wird allein über den Output Gap bestimmt. Die Geldmenge taucht in diesen Modellen überhaupt nicht mehr auf (zur Diskussion dieser Modelle im Einzelnen siehe Görgens / Ruckriegel / Seitz, 2007). Spezielle Popularität unter den Reaktionsfunktionen erlangte die sog. Taylor-Regel (Taylor, 1993). Taylor’s Intention war es, eine normative und einfache Regel zu konzipieren. Sie sollte als Hilfsmittel und zusätzlicher Indikator für die geldpolitischen Entscheidungsträger dienen. Durch einen Vergleich des tatsächlichen kurzfristigen Zinses mit dem nach der Taylor-Regel abgeleiteten Wert sollte der Restriktionsbzw. Expansionsgrad der Geldpolitik bestimmt werden. In diesem Sinne ist der Taylor-Zins als ein Wirkungsindikator der Geldpolitik zu interpretieren. Der Taylor-Zins setzt sich aus vier Komponenten zusammen: 1) der erwarteten Inflationsrate  erw , 2) dem kurzfristigen realen Gleichgewichtszins r* , 3) der „Inflationslücke“, d. h. der Abweichung der erwarteten Inflation  erw vom Inflationsziel  *, 4) dem „Output Gap“ als Abweichung der aktuellen realen Produktion y von ihrem Potenzialwert y* . Die ersten beiden Faktoren liefern in Anlehnung an die Fisher-Gleichung eine Benchmark für den Kurzfristzins, dessen Höhe kompatibel ist mit Erreichung des Inflationsziels (  =  *) bei Vollauslastung ( y = y *). Die Teile 3 und 4 fassen zwei anerkannte gesamtwirtschaftliche Ziele zusammen, Preisstabilität und Konjunkturstabilisierung. Der dritte Faktor erfordert dabei eine Erhöhung des kurzfristigen Zinses über die Benchmark, wenn das Inflationsziel überschritten zu werden droht (  erw >  *) und umgekehrt. Über den vierten Faktor, der eine Erhöhung des Kurzfristzinses bei überausgelasteten Kapazitäten ( y > y* ) und eine Senkung bei unterausgelasteten Kapazitäten ( y < y* ) empfiehlt, werden sowohl konjunkturelle Aspekte als auch Preisperspektiven eingefangen. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass der Output Gap in vielen Fällen ein guter kurzfristiger Indikator der Preisentwicklung ist. Werden die Gewichte der Inflationslücke und des Output Gap über die Parameter   und  x erfasst, ergibt sich für den Taylor-Zins i Tay in kompakter Form folgender Ausdruck: (1) i Tay =  erw + r * +   · (  erw -  *) +  x · ( y - y *) Durch die Verwendung der (erwarteten) Inflation auf der rechten Seite dieser Gleichung wird offensichtlich, dass als geldpolitisches Instrument zwar der nominale Kurzfristzins fungiert, es für die geldpolitischen Effekte aber letztlich um die Beeinflussung des Realzinses geht. Die Regel verdeutlicht im Speziellen, dass die Realzinsen über den Gleichgewichtswert steigen werden bzw. sollen, wenn das Inflationsziel überschritten und / oder die Kapazitäten überausgelastet sind. Um das Konzept empirisch umzuset- <?page no="250"?> GELDMARKTSTEUERUNG 251 zen, ist es erforderlich, a) die in die Funktion eingehenden Variablen  erw ,  *, r*, y, y* präzise zu messen bzw. zu definieren und b) die Werte der Koeffizienten   und  x zu bestimmen. Taylor wählte dafür folgenden bewusst einfachen Weg: Zunächst ersetzte er die erwartete durch die realisierte Jahresinflationsrate π und legte den gleichgewichtigen kurzfristigen Realzins konstant auf 2 % fest. Die Inflationslücke berechnete er als Differenz zwischen aktueller Inflationsrate, gemessen am BIP- Deflator, und einem zeitunabhängigen (impliziten) Inflationsziel des Fed von 2 %. Für das Produktionspotenzial unterstellte er eine jährliche Wachstumsrate von 2 %. Der Output Gap wurde dann als logarithmische Differenz zwischen dem tatsächlichen realen BIP und dem Produktionspotenzial berechnet. Die Gewichte der Inflationslücke und des Output Gap, die in den Koeffizienten   und  x zum Ausdruck kommen, wurden von Taylor nicht ökonometrisch geschätzt, sondern als konstant mit jeweils 0,5 angesetzt. Dadurch sollte zum Ausdruck kommen, dass beide Größen bei geldpolitischen Entscheidungen wichtig sind. Sie implizieren, dass bei einem um einen Prozentpunkt über das Produktionspotenzial hinausgehenden Wachstum des BIP die Realzinsen um 0,5 Prozentpunkte steigen und dass bei einer Überschreitung des Inflationsziels um einen Prozentpunkt der nominale kurzfristige Zins um 1,5 Prozentpunkte und damit der Realzins um 0,5 Prozentpunkte steigen sollen. Mit dieser einfachen Spezifikation konnte überraschender Weise der Verlauf der Federal Funds Rate und der operativen Größe vieler anderer Zentralbanken relativ gut nachvollzogen werden, obwohl das ursprüngliche Konzept eigentlich nur normativ gedacht war Taylor’s Vorschlag, diese Regel als generelle Richtlinie für die Geldpolitik und speziell auch für diejenige des Eurosystems zu verwenden, begründete er damit, dass sie sich in Simulationsstudien als robuste geldpolitische Handlungsanweisung zur Stabilisierung von Inflation und Produktion erwiesen habe. Diese Robustheit gegenüber unterschiedlichen Annahmen ist wegen der herrschenden Unsicherheiten über die „wahre“ Struktur einer Volkswirtschaft nicht hoch genug einzuschätzen. Allerdings ist diese einfache Zinsregel auch vielfacher Kritik ausgesetzt. Erstens wird ein Zinsglättungsmotiv überhaupt nicht berücksichtigt. Die Politik der Zinsglättung wird üblicher Weise mit drei Argumenten begründet. Zunächst ist es in einem Umfeld von wirtschaftlicher Unsicherheit im Allgemeinen und über die Wirkungen geldpolitischer Aktionen im Besonderen ratsam, vorsichtig auf Schocks zu reagieren und erst auf mehr und bessere Informationen zu warten. Dann ist es aus Gründen der Finanzmarktstabilität angezeigt, große Zinssprünge zu vermeiden. Und schließlich können bei vorausschauendem Verhalten der privaten Wirtschaftsakteure kleine, aber persistente Zinsschritte effektiver sein als große transitorische Zinsänderungen. Dieser letzte Punkt verweist auf die Glaubwürdigkeit eines zinspolitischen Kurses. Zweitens finden länderspezifische institutionelle Besonderheiten, Zielvorgaben und unterschiedliche ökonomische Strukturen keine Beachtung. Drittens ist in der Taylor-Regel außer im Output Gap als Inflationsindikator kein vorausschauendes Element enthalten. Viertens wird die Messungenauigkeit in Echtzeit bzgl. des Niveaus des Output Gap (wegen Revisionen des BIPs und Einschätzung des Produktionspotenzials) außer Acht gelassen. Und fünftens bleibt die Rolle der Geldmenge und der Liquiditätslage für den geldpolitischen Entscheidungsprozess vollkommen im Dunkeln. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="251"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 252 Vor allem die Punkte 3 und 4 führten dazu, als robuste und optimale Zinsregeln sog. „difference rules“ oder „speed limit policies“ (Walsh, 2010; Woodford, 2003, Kap. 8) zu empfehlen. Diese sind durch Zinsglättung und eine Reaktion auf die Veränderung und nicht auf das Niveau des Output Gaps, also auf die Differenz zwischen dem aktuellen BIP-Wachstum und dem Trendwachstum, gekennzeichnet. Sie weisen damit eine sog. „history dependence“ auf, ein Charakteristikum, das optimale und robuste Regeln bei vorausschauendem Verhalten des privaten Sektors haben sollten, um die Erwartungen zu stabilisieren. Zudem wird durch diese Regeln die Anfälligkeit gegenüber den persistenten Messfehlern im Niveau des Output Gap vermieden. Eine derartige Regel würde in stilisierter Form und bei vorausschauendem Verhalten der Zentralbank folgendes Aussehen haben (  ist der Zinsglättungsparameter, Δ steht für die Wachstumsrate,  entspricht dem Inflationsprognosehorizont)) (2) i t = ( r * +  * +   (  t +   -   t +  * ) +  x (Δ y t - Δ y t *)) +  · i t -1 Anwendungen derartiger Regeln auf die USA, Deutschland und die EWU lieferten bisher, vor allem wegen der Unsicherheit bei der Einschätzung des Niveaus des Produktionspotenzials, das in die ursprüngliche Taylor-Regel eingeht, recht gute Ergebnisse (Gerberding et al., 2005; Orphanides / Williams, 2005; Stracca, 2007; Scharnagl / Gerberding / Seitz, 2010; Orphanides / Wieland, 2013). 4.4 Zur Technik der Zinsbildung Bei der Analyse der Zinsbildung am Interbanken-Geldmarkt ist zwischen der Zinsbildung am Tagesgeldmarkt und den Geldmärkten längerer Fristigkeiten (z. B. 1-Monats-, 3-Monats-, 12-Monats-Geldmarkt) zu unterscheiden. Während beim Tagesgeld das Eurosystem den Zinssatz über seine Operationen unmittelbar steuert, hat es - sofern es keine entsprechenden Geschäfte anbietet - auf die längerfristigen Geldmarktsätze nur mittelbar Einfluss, und zwar über die Erwartungen der Marktteilnehmer bezüglich der künftigen Bedingungen am Tagesgeldmarkt und über Arbitragegeschäfte. Der Einfluss der Zentralbank auf die längerfristigen Geldmarktsätze hängt also im Wesentlichen davon ab, dass sie ihren geldpolitischen Kurs klar signalisiert. Der Signalisierungsstrategie der Zentralbank kommt somit im Transmissionsprozess eine entscheidende Rolle zu. Box: III.4.5: Referenzzinssätze am Euro-Geldmarkt Seit Beginn der Währungsunion hat sich am Euro-Interbankengeldmarkt schrittweise eine Familie von Referenzzinssätzen für die verschiedenen Teilbereiche des Euro-Geldmarktes etabliert. Diese Sätze sollen für Transparenz sorgen und werden in Banken häufig für Bewertungszwecke genutzt. Federführend bei der Einführung und Weiterentwicklung sind verschiedene Organisationen von Marktteilnehmern, vor allem die Europäische <?page no="252"?> GELDMARKTSTEUERUNG 253 Bankenvereinigung (EBF), der internationale Verband der Geld- und Devisenhändler (ACI) und das European Repo Council (ERC). Alle Referenzsätze werden an jedem TARGET-Geschäftstag auf Basis der Euro-Zinsmethode („Actual / 360“) berechnet und von Thomson Reuters veröffentlicht. Der Referenzsatz für den unbesicherten Euro-Tagesgeldmarkt ist der EONIA („Euro Over Night Index Average“), der seit dem 4. Januar 1999 ermittelt wird. Er markiert das kurze Ende der Zinsstrukturkurve am Geldmarkt und ist für die Geldmarktsteuerung der EZB von besonderer Bedeutung. Der EONIA ist als einziger Referenzsatz ein effektiver, d. h. mit den Umsätzen des jeweiligen TARGET-Geschäftstages gewichteter Satz und bezieht sich auf die im Euroraum initiierte Kreditgewährung eines festgelegten Panels von Banken am Interbankenmarkt („Lending rate“). Zum Panel gehören derzeit (Stand Juni 2013) 36 Banken höchster Bonität, davon sechs aus Deutschland. Der EONIA wird von der EZB berechnet und zwischen 18: 45 Uhr und 19: 00 Uhr veröffentlicht. Ebenfalls seit Beginn der Währungsunion werden Referenzsätze für unbesicherte Euro-Termingelder, EURIBOR („Euro Interbank Offered Rate“), veröffentlicht. Die Laufzeiten umfassen eine, zwei oder drei Wochen bzw. ein bis zwölf Monate. Panelbanken melden täglich einen Angebotssatz („Offered“ bzw. „Brief “), zu denen Banken erstklassiger Bonität sich Geld leihen können. Nach Eliminierung der höchsten und niedrigsten 15 % der Quotierungen wird der EURIBOR als ungewichteter Durchschnitt der verbleibenden Quotierungen von Thomson Reuters um 11: 00 Uhr berechnet und anschließend veröffentlicht. Anders als beim EONIA muss zum entsprechenden Satz also kein Umsatz stattgefunden haben. Der EURIBOR dient bei vielen Finanzprodukten wie Futures, Optionen und Swaps als Bezugsgröße sowie als Verhandlungsgrundlage zur Festlegung einer variablen Komponente bei Kredit- und Anlagezinsen bei Banken. Am Euro-Geldmarkt haben Umsätze am besicherten gegenüber dem unbesicherten Geldmarkt an Bedeutung gewonnen und lt. Umfragen diesen mittlerweile überholt (vgl. Euro Money Market Studies der EZB). Der Referenzsatz für besicherte Geldmarktgeschäfte ist EUREPO, der am 4. März 2002 für Laufzeiten von Tomorrow / Next, ein bis drei Wochen und ein bis drei, sechs, neun und zwölf Monaten eingeführt wurde. Die Sätze beziehen sich auf die Kreditgewährung, die eine Bank einer anderen auf Grundlage von bestem und am aktivsten gehandelten Euro-denominierten General Collateral bietet. 21 Panelbanken tragen Quotierungen bei, drei davon aus Deutschland. Schließlich hat am 20. Juni 2005 der EONIASWAP INDEX die Palette der Referenzsätze am Euro-Geldmarkt vervollständigt. Es handelt sich um einen „overnight indexed swap“ (OIS). Er gibt den Mittelsatz, d. h. den Durchschnitt von Geld- und Briefsatz, an, zu dem Banken erstklassiger Bonität bereit sind, sich untereinander einen festen Zinssatz gegen den durchschnittlichen EONIA-Satz auszutauschen. Die Laufzeiten entsprechen bis zu 12 Monaten denen des EURIBOR, seit Mai 2007 sind sie um Laufzeiten über 15, 18, 21 und 24 Monate ergänzt worden. Derzeit tragen 15 Banken zum EONIASWAP INDEX bei, davon zwei aus Deutschland. Am Geldmarkt empfundene Kreditrisiken können durch die Zinsspannen zwischen EURIBOR und EUREPO („depo-repo-rate“) oder zwischen EURIBOR und EONIA- SWAP („EURIBOR-OIS spread“) gleicher Laufzeiten angenähert werden. Dabei wird angenommen, dass bei besicherten Geldmarktgeschäften bzw. bei Zinsswaps die Kreditrisiken minimal sind. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="253"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 254 Nach Manipulationsvorwürfen bei der Meldung von Referenzzinssätzen haben sich einige Banken entschieden, aus den Panels auszutreten und die früher gleichen Panels für EONIA und EURIBOR sind seit Juni 2013 getrennt. Zu den zahlreichen Reformvorschlägen zählt die Schaffung neuer Referenzsätze auf Grundlage tatsächlicher Transaktionen und darüber hinaus auf Basis einer Vollerhebung. Box erstellt von Franziska Schobert (Deutsche Bundesbank). 4.4.1 Zinsführerschaft am Tagesgeldmarkt Bei der Steuerung des Tagesgeldsatzes durch das Eurosystem sind mittlerweile zwei Phasen zu unterscheiden. Der Normalfall und der Krisenmodus. Seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers Mitte September 2008 herrscht der Krisenmodus, da das Vertrauen unter Banken abrupt und panikartig wegbrach und der Interbankenmarkt, insbesondere der Tagesgeldmarkt zusammenbrach. Um das Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren, musste das Eurosystem weitgehend an die Stelle des Interbankengeldmarktes treten, und zwar mithilfe eines Übergangs zum Mengentender mit Vollzuteilung der gewünschten Liquidität. Das Eurosystem übernahm dadurch immer mehr die Funktion eines Finanzintermediärs. 4.4.1.1 Steuerung des Tagesgeldsatzes: Normalfall (bis September 2008) Leitzinsfunktion für den Tagesgeldmarkt kam bis September 2008 dem Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft zu. 102 Seit dem Übergang zum Zinstender im Juni 2000 signalisierte der Mindestbietungssatz den geldpolitischen Kurs (Signalisierungsfunktion), eine Funktion, die vorher der Festzinssatz beim Mengentender wahrgenommen hat. Das Hauptrefinanzierungsgeschäft hatte bis Anfang 2004 eine Laufzeit von zwei Wochen, seitdem eine von 7 Tagen. Es stellt damit ein nahes Substitut zur Tagesgeldaufnahme am Interbanken-Geldmarkt dar. Kann nämlich eine einzelne Bank von Woche zu Woche entscheiden, ob sie einen Kredit bei der Zentralbank aufnimmt oder sich die benötigten Mittel am Interbanken-Geldmarkt besorgt, so wird sie im Allgemeinen nicht bereit sein, für Interbankengeld (deutlich) mehr zu zahlen als sie bei Abschluss eines Refinanzierungsgeschäftes mit der Zentralbank aufbringen müsste. Das Hauptrefinanzierungsgeschäft stellt allerdings kein vollkommenes Substitut zur Aufnahme von Mitteln am Tagesgeldmarkt dar, da das Eurosystem nicht ständig am Markt präsent ist, d. h. nicht täglich entsprechende Geschäfte mit den Kreditinstituten tätigt. Dies hat zur Folge, dass das Eurosystem nicht zu jedem Zeitpunkt vollständig den Tagesgeldsatz determiniert. In der Zeit zwischen den einzelnen Geschäftsabschlüssen wirken aber die Möglichkeiten der intertemporalen Arbitrage stabilisierend. Allerdings kommt auch hier dem Hauptrefinan- 102 „Die Volumen der wöchentlichen Tender werden so bemessen, dass sie … die Geldmarktzinsen wirksam steuern“ (EZB, 1999d, 42 f.); „Bei der Bemessung der Hauptrefinanzierungsgeschäfte war die EZB bestrebt, den Tagesgeldzinssatz in der Nähe des Haupttendersatzes zu führen und seine Volatilität in Grenzen zu halten“ (Deutsche Bundesbank, 2001, 35). <?page no="254"?> GELDMARKTSTEUERUNG 255 zierungsgeschäft eine entscheidende Rolle zu, da die mindestreservebedingten Guthaben beim Eurosystem zum Zinssatz der Hauptrefinanzierungsgeschäfte verzinst werden. Die intertemporale Arbitrage fußt auf der Ausgestaltung der Mindestreserve als Durchschnitts-Mindestreserve. Die zur Erfüllung der Mindestreservepflicht notwendigen Zentralbankguthaben brauchen demnach nicht von Tag zu Tag in der von der Mindestreserve geforderten Höhe gehalten zu werden. Sie müssen vielmehr nur im Durchschnitt einer Erfüllungsperiode dem Mindestreserve-Soll entsprechen. Dies heißt, dass während einer Erfüllungsperiode Mindestreserveunterschreitungen und -überschreitungen miteinander verrechnet werden können. Die Wahrnehmung dieser Verrechnungsmöglichkeit zur Erlangung eines Zinsvorteils wird auch als „intertemporale Arbitrage“ bezeichnet. Kurzfristig am Tagesgeldmarkt auftretende Anspannungen bzw. Verflüssigungen aufgrund von unvorhergesehenen Entwicklungen bei den autonomen (Liquiditäts-)Faktoren, also Faktoren, die die Guthaben des Bankensystems beim Eurosystem beeinflussen, aber nicht im Einflussbereich des Eurosystems liegen, können so durch ein vorübergehendes Unterbzw. Überschreiten des Mindestreserve-Solls abgefedert werden. Bei den autonomen Faktoren handelt es sich im Wesentlichen um den Banknotenumlauf, die Einlagen öffentlicher Haushalte beim Eurosystem und die Nettoposition des Eurosystems in Fremdwährung. Nehmen etwa die Einlagen der öffentlichen Haushalte beim Eurosystem unerwartet zu, so sinken die Guthaben der Kreditinstitute auf Girokonten beim Eurosystem (im Ausweis des Eurosystems kommt es zu einer Umbuchung P.2 - Einlagen auf Girokonten sinkt, P.3 Sonstiges - Einlagen von öffentlichen Haushalten steigt, siehe hierzu auch Abbildung III.4.1), d. h. die Bankenliquidität sinkt, wodurch es zu Anspannungen am Tagesgeldmarkt kommt. Zinserhöhungen am Tagesgeldmarkt haben zur Konsequenz, dass es für Banken lohnend ist, ihr Mindestreserve-Soll kurzfristig zu unterschreiten (Tagesgeldsatz > Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte), um diese Mittel am Tagesgeldmarkt in der Erwartung anzulegen, sich im weiteren Verlauf der Mindestreserve-Erfüllungsperiode wieder bei der Zentralbank zu unveränderten Konditionen refinanzieren zu können. Diese Erwartungshaltung wird durch das tatsächliche Verhalten des Eurosystems bestätigt, das den Kreditinstituten insgesamt im Verlauf einer Mindestreserve-Erfüllungsperiode stets die Liquidität zu einem fixen Notenbankzinssatz zuteilt, die sie benötigen, um das Mindestreserve-Soll zu erfüllen. 103 Unterschreiten also die durchschnittlichen Guthaben der Kreditinstitute auf Girokonten beim Eurosystem während der laufenden Mindestreserve-Erfüllungsperiode das Mindestreserve-Soll aufgrund von unvorhergesehenen 103 Dies trifft für die Liquiditätsausstattung des Bankensystems insgesamt zu. Eine einzelne Bank kann sich aber nie ganz sicher sein, ob sie im weiteren Verlauf der Erfüllungsperiode noch ausreichend Zentralbankgeld zum bisherigen Zinssatz von der Zentralbank erhält (dies galt bis Oktober 2008). Banken, die ein solches Risiko nicht eingehen wollen, werden das Mindestreserve-Soll nicht unterschreiten und deshalb am Tagesgeldmarkt Zentralbankgeld nachfragen, welches risikofreudigere Banken anbieten. Gingen alle Banken davon aus, dass sie ohne weiteres im Verlaufe der Mindestreserve-Erfüllungsperiode die zusätzliche Liquidität zum bisherigen Zinssatz erhalten könnten, käme es von Haus aus zu keinem Anstieg des Tagesgeldsatzes infolge der temporären Liquiditätsverknappung, da alle Banken vorübergehend mit einem Unterschreiten des Mindestreserve-Solls reagieren würden. In einem solchen Fall wäre die Stabilisierungsfunktion der Mindestreserve besonders ausgeprägt. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="255"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 256 Entwicklungen bei den autonomen (Liquiditäts-)Faktoren, wird das Eurosystem beim folgenden Hauptrefinanzierungsgeschäft entsprechend mehr Liquidität zuteilen. Bis zu dieser „Mehrzuteilung“, also bis zur Wiederauffüllung der Bankenliquidität, wirkt die Durchschnitts-Mindestreserve stabilisierend auf den Tagesgeldzins. Kommt es hingegen zu einer Verflüssigung des Tagesgeldmarktes - etwa in Folge eines unerwarteten Rückflusses an Banknoten (im Ausweis des Eurosystems kommt es zu einer Umbuchung P.2 - Einlagen auf Girokonten steigt, P.1 - Banknotenumlauf sinkt, siehe hierzu auch Abbildung III.4.1) und somit zu einer Zunahme der Bankenliquidität -, d. h. unterschreitet der Tagesgeldsatz den Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft, werden Banken eher zu einer Vorauserfüllung („front loading“) des Mindestreserve-Solls tendieren, da die Verzinsung der mindestreservebedingten Guthaben beim Eurosystem über dem Tagesgeldsatz liegt. Dadurch geht aber das Mittelangebot am Tagesgeldmarkt zurück. Im ersten Fall wirkt dieses Verhalten der Banken also tendenziell einem (weiteren) Anziehen, im zweiten Fall einem (weiteren) Absinken des Tagesgeldsatzes entgegen. Unvorhergesehene Schwankungen im Liquiditätsbedarf der Banken können daher zunächst ohne Interventionen des Eurosystems abgefedert werden. Dies trägt zu einer Verstetigung der Zinsentwicklung am Tagesgeldmarkt bei. Der Tagesgeldmarkt kann dann sozusagen selbständig ein Gleichgewicht finden, ohne dass die Zinsführerschaft der Zentralbank gefährdet ist oder es zu einer übermäßigen Volatilität des Tagesgeldsatzes kommt. Ständige Markteingriffe der Zentralbank sind dafür nicht erforderlich. Allerdings kann naturgemäß am letzten Tag der Erfüllungsperiode die Durchschnitts- Mindestreserve nicht mehr stabilisierend wirken, da Reservefehlbeträge bzw. -überschüsse nicht mehr mit künftigen Gegenpositionen verrechnet werden können, was eine höhere Volatilität des Tagesgeldsatzes an diesem Tag zur Folge haben kann. Aber auch während der Mindestreserveerfüllungsperiode kann es zu merklichen Bewegungen beim Tagesgeldsatz kommen, wenn die tagesdurchschnittlichen Guthaben der Kreditinstitute auf Girokonten beim Eurosystem (Position c in Abbildung III.4.10) deutlich vom Mindestreserve-Soll abweichen (Position d in Abbildung III.4.10), sodass die Stabilisierungsfunktion der Durchschnitts-Mindestreserve überfordert wird. Je größer die Differenz zwischen dem Mindestreserve-Soll und den Guthaben der Kreditinstitute auf Girokonten beim Eurosystem ist, umso schwächer wird die Stabilisierungsfunktion der Mindestreserve. Je knapper die Bankenliquidität ist ( c < d ), umso weniger Kreditinstitute sind nämlich bereit, ihr Mindestreserve-Soll (noch) weiter zu unterschreiten, sodass das Mittelangebot von (risikofreudigeren) Kreditinstituten am Interbanken-Geldmarkt mehr und mehr nachlässt, wodurch der Tagesgeldsatz in Richtung Spitzenrefinanzierungssatz ansteigt. Je reichlicher die Bankenliquidität ist ( c > d ), umso schneller sind die Möglichkeiten der Vorauserfüllung des Mindestreserve-Solls erschöpft. Je mehr Banken aber ihr Mindestreserve-Soll für die gesamte Mindestreserve- Erfüllungsperiode bereits erfüllt haben, umso mehr „überschüssige“ Bankenliquidität wird auf dem Interbanken-Geldmarkt angeboten, sodass der Tagesgeldsatz in Richtung des Zinssatzes für die Einlagefazilität absinkt. Diese Situation ist aufgrund der Vollzuteilung aller Gebote bei den Hauptrefinanzierungs- und bei den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften durch das Eurosystem seit Oktober 2008 gegeben (Stand: Juni 2013). <?page no="256"?> GELDMARKTSTEUERUNG 257 Reicht die Stabilisierungsfunktion der Mindestreserve nicht (mehr) aus, um den Einfluss von unerwarteten Liquiditätszubzw. -abflüssen auf den Tagesgeldsatz (weitgehend) zu kompensieren, kann die EZB durch Einsatz von Feinsteuerungsoperationen Zinsausschläge jederzeit vermeiden (würde unter Position a - Sonstige Geschäfte in Abbildung III.4.10 erfasst). 104 Abbildung III.4.10: Beiträge zur Liquidität des Bankensystems (in Mrd. €) Liquiditätszuführend Liquiditätsabschöpfend Nettobeitrag (a) Geldpolitische Geschäfte des Eurosystems 1176,2 339,3 +836,9 Hauptrefinanzierungsgeschäfte 123,7 - +123,7 Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte 782,9 - +782,9 Ständige Fazilitäten 0,5 133,8 -133,3 Sonstige Geschäfte / Faktoren 269,1 205,5 +63,6 (b) Sonstige die Liquidität des Bankensystems beeinflussende Faktoren 656,8 1147,6 -490,8 Banknotenumlauf - 889,2 -889,2 Einlagen der öffentlichen Haushalte beim Eurosystem - 89,7 -89,7 Nettoposition des Eurosystems in Fremdwährung (einschließlich Gold) 656,8 - +656,8 Sonstige Faktoren (netto) - 168,7 -168,7 (c) Guthaben der Kreditinstitute auf Girokonten beim Eurosystem (a) + (b) +346,1 (d) Mindestreserve-Soll 104,9 Quelle: Bundesbank Monatsbericht Mai 2013, *14, *42, Mindestreserve-Erfüllungsperiode vom 13. März bis 9. April 2013. 4.4.1.2 Steuerung des Tagesgeldsatzes: Krisenmodus Nach der „Lehman“-Insolvenz Mitte September 2008 kam es panikartig zu einem Vertrauensverlust auf den Interbanken-Geldmärkten. Dies hatte zur Folge, dass diese Märkte schlagartig austrockneten und Banken hierüber weder kurzfristig Geld anlegen wollten, noch Geld aufnehmen konnten. Die Banken im Euroraum drängten daher in die Notenbank und die Zinsgebote beim Zinstender stiegen enorm an, so dass der durchschnittliche Zuteilungssatz bei Hauptrefinanzierungsgeschäften (Zinstender) 104 „Aufgrund unvorhersehbarer Entwicklungen enthalten die Prognosen für die verschiedenen Liquiditätsfaktoren zwangsläufig eine Fehlerkomponente. Ex post weicht die tatsächliche Liquiditätsentwicklung - manchmal sogar erheblich - von der Prognose bei der Beschlussfassung über den wöchentlichen Tender ab“ (EZB, 1999d, 43). OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="257"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 258 vom 10. 9. bis zum 8. 10. 2008 von 4,41 % auf 4,99 % stieg. Bis Anfang Oktober 2008 wurden die Hauptrefinanzierungsgeschäfte als Zinstender mit Vorgabe eines Mindestbietungssatzes ausgeschrieben, den die Kreditinstitute mindestens bieten mussten. Dieser Mindestbietungssatz lag bei 4,25 %. Aus Sicht der EZB kam diesem Zinssatz eine Signalfunktion für die geldpolitisch gewünschte Höhe des Tagesgeldsatzes und damit verbunden eine Orientierungsfunktion für die Höhe der Zinsgebote der Banken zu. Im Gefolge der Insolvenz von Lehman Brothers hatte dieser Zinssatz für die Gebote der Kreditinstitute aber keine Bedeutung mehr, da es für die Banken nur noch darum ging, auf jeden Fall Liquidität zu bekommen und - als Reaktion auf die Austrocknung der Interbanken-Geldmärkte - auch auf Vorrat zu horten. Box III.4.6: Non-Standard-Monetary Policy Measures und Quantitative Easing (QE) Im Zuge der Krisen der letzten Jahre hat das Eurosystem eine Reihe von neuen geldpolitischen Instrumenten eingeführt, um mit der Krise angemessen umgehen zu können. Die EZB spricht hier von den sog. Non-Standard-Monetary Policy Measures (EZB, 2013d). Auf der anderen Seite findet sich insbesondere im Zusammenhang mit den geldpolitischen Maßnahmen des Fed, der Bank of England und der Bank of Japan der Begriffdes Quantitative Easing (QE). Nach Fawley und Neely (2013, 52) versteht man unter QE: „policies … that unusually increase the monetary base, including asset purchase and lending programs“. Auf S. 53 f. führen sie weiter aus: „Central banks ordinarily conduct monetary policy by buying and selling short-term debt securities to target short-term nominal interest rates. … In the face of near-zero short-term rates, central banks have recently turned to unconventional policies, which often dramatically increase their monetary bases, to alleviate financial distress or stimulate their economies. Some of these unconventional policies involve direct lending to specific, distressed short-term credit markets, whereas others involve purchases of long-term assets that are intended to reduce real, long-term interest rates.“ Da Maßnahmen des QE von der EZB auch unter dem Begriffder Non-Standard- Monetary Policy Measures subsumiert werden, soll hier der Systematisierung der EZB gefolgt werden (EZB, 2013d). Danach wurden in der Krise vom Eurosystem folgende „neue“ (Non-Standard-) Maßnahmen ergriffen: Mengentender mit Vollzuteilung ◼ Das bis Oktober 2008 übliche Verfahren war ein Zinstender mit Vorgabe eines Mindestbietungssatzes (bei den Hauptrefinanzierungsgeschäften) bzw. ohne Vorgabe bei den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften, wobei in beiden Fällen die mengenmäßige Zuteilung von der EZB festgelegt wurde. Seit Oktober 2008 ist das Eurosystem auf einen Mengentender mit Vollzuteilung der von den Kreditinstituten gewünschten Beträge übergegangen. Laufzeitverlängerungen bei längerfristigen Refinanzierungsgeschäften ◼ Während bis Oktober 2008 die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte eine Laufzeit von drei Monaten hatten, kam es danach zu einer Ausweitung des Laufzeitspektrums dieser Geschäfte auf bis zu 36 Monaten. So fanden Ende 2011 / Anfang 2012 zwei <?page no="258"?> GELDMARKTSTEUERUNG 259 längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit 3-jähriger Laufzeit - der Umfang beider Geschäfte zusammengenommen lag bei über 1.000 Mrd. Euro (die sog. Bazooka). Ausweitung der Liste der zugelassenen Sicherheiten ◼ Wenn das Eurosystem Kredite vergibt, müssen diese mit Sicherheiten unterlegt werden. Um den im Zuge der Krise stark gestiegenen Liquiditätsbedarf des Bankensystems befriedigen zu können und auch Staatsanleihen von Krisenländern nach Abwertung durch die Ratingagenturen noch zu akzeptieren, hat das Eurosystem die Liste der zugelassenen Sicherheiten ausgeweitet. Dabei kam es auch zu einer zunehmenden Berücksichtigung nationaler Einschätzungen von Sicherheiten. Änderungen beim Mindestreserve-Satz ◼ Vor der Krise lag der Mindestreserve-Satz seit 1999 bei 2 % der mindestreservepflichtigen Verbindlichkeiten der Kreditinstitute. Änderungen beim Mindestreserve-Satz sieht das Eurosystem als „Non-Standard“ an. Zu einer solchen Änderung kam es, als im Januar 2012 der Mindestreserve-Satz auf 1 % gesenkt wurde. Käufe von Wertpapieren ◼ In Zuge der Krise hat das Eurosystem auch Käufe von Bankschuldverschreibungen und Staatsanleihen (SMP- und OMT-Programme) vorgenommen bzw. in Aussicht gestellt. Emergency Liquidity Assistance ◼ (ELA) Seit 2011 kamen in den Krisenländern verstärkt nationale Liquiditätshilfen der jeweiligen EWU-Zentralbanken zum Einsatz. Dieses ELA-Programm stellt Notfallkredite dar, die nach dem Statut des ESZB zu den „anderen Aufgaben der nationalen Zentralbanken“ gehören. Sie machten teilweise den größten Teil der Liquiditätsversorgung aus. Die Risiken und Kosten tragen die nationalen Zentralbanken und die Maßnahmen müssen durch die EZB genehmigt werden. Die konkreten ELA-Bedingungen werden nicht veröffentlicht. Abbildung III.4.11: Notenbankbilanzen und Geldmengenentwicklung seit 2008 OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="259"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 260 Quelle: Fawley / Neely (2013), 70. Obwohl durch Non-Standard-Monetary Policy Measures bzw. Quantitative Easing seit 2008 die Bilanzsummen der weltweit führenden Zentralbanken Fed, Eurosystem, Bank of Japan und der Bank of England stark zunahmen, kam es zu keiner spürbaren Ausweitung breiterer Geldmengenaggregate. Gerade letztere sind aber für inflationäre Entwicklungen relevant. 104a „A remarkable consistency among the monetary expansion policies of all four central banks is that while all measures led to sharp increases in the monetary base, none led to sharp increases in broader monetary aggregates. The broader aggregates did not increase because banks voluntarily held the increased monetary base as bank reserves - safe, liquid assets in high demand during periods of economic uncertainty.“ (Fawley / Neely, 2013, 81) Um den Zinssatz zu senken, stellte die EZB ab dem 15. 10. 2008 auf einen Mengentender mit voller Zuteilung zu einem Festzinssatz von 3,75 % um, d. h. die Banken konnten zum Zinssatz von 3,75 % so viel Liquidität vom Eurosystem erhalten wie sie wollten. Dies galt sowohl für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte als auch für die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte. Der Übergang zur vollkommenen Zuteilung aller Gebote war eine grundlegende Änderung der Liquiditätsversorgung des Bankensystems durch das Eurosystem. Bis zu diesem Zeitpunkt orientierte sich die Liquiditätsversorgung des Bankensystem durch das Eurosystem nämlich immer an der Frage, wie viel Liquidität notwendig war, damit das Bankensystem als Ganzes ihr Mindestreserve-Soll erfüllen konnte. Die EZB hatte also genaue Vorstellungen über die Höhe der notwendigen Liquiditätsausstattung, weshalb es auch bis Mitte Oktober klare Zuteilungsbegrenzungen gab. Dahinter stand die Vorstellung, dass es nur darauf ankommt, die Liquiditätsversorgung des Bankensystem als Ganzes im Auge zu behalten und zu decken, da Liquiditätsüberschüsse bzw. -defizite bei einzelnen Banken, die im Zuge der täglichen Bankgeschäfte an der Tagesordnung sind, stillschweigend über die Interbanken-Geldmärkte ausgeglichen würden. Dies setzte aber funktionierende Interbanken-Geldmärkte voraus. 104a Am 4. 10. 2013 stellte das Handelsblatt in seiner Titelgeschichte die Frage „Wo bleibt die Inflation? “. Von vielen wird die Ausweitung der Notenbankbilanzen im Zuge der Krise seit 2008 mit einer Ausweitung der Geldmenge und mit einer unvermeidbaren Inflation, die bald kommen müsse, verbunden. Dies beruht allerdings auf einem grundlegenden Missverständnis des Zusammenhangs zwischen Geldbasis und Geldmenge und auf Verständnisproblemen bei der Analyse der Inflationsursachen. Vgl. hierzu Ruckriegel, 2012a. <?page no="260"?> GELDMARKTSTEUERUNG 261 Diese gab es aber schlicht nicht mehr. Seither haben sich die Interbanken-Geldmärkte noch nicht normalisiert. Dies zeigt sich darin, dass die Geschäftsbanken überschüssige Liquidität über Hauptrefinanzierungsgeschäfte und längerfristige Refinanzierungsgeschäfte teuer aufnehmen (derzeit, Juni 2013, 0,5 %) und niedrig verzinst als Einlage im Rahmen der Einlagefazilität (derzeit null) als Liquiditätsvorsorge beim Eurosystem halten. So lagen etwa die Guthaben für Einlagefazilitäten kurz vor der Lehman-Pleite bei 55 Mio.(! ) Euro (12. 9. 2008), danach stiegen sie sprunghaft auf über 154 Mrd. Euro an (10. 10. 2008). Mitte 2012 lagen diese Einlagen sogar bei rd. 800 Mrd. Euro. „Steigende Einlagen beim Eurosystem stellen daher einen guten Gradmesser für die Disintermediation am Geldmarkt dar.“, so die EZB (2012e, 74). Derzeit (Juni 2013) weist allerdings die Einlagefazilität eine Nullverzinsung auf, so dass es für Banken gleich ist, ob sie die Einlagefazilität oder das laufende Konto für die hohe Liquiditätshaltung verwenden. Wie Abbildung III.4.12 zeigt, bewegte sich der Tagesgeldsatz seit Beginn der Währungsunion im Zinskorridor, wobei der Tagesgeldsatz (EONIA) bis September 2008 i. d. R. nahe am Hauptrefinanzierungssatz lag. Ab September 2008 kam es zu massiven Störungen der Funktionsweise des Tagesgeldmarktes, was das Eurosystem veranlasste, zum Mengentender mit Vollzuteilung überzugehen. Aufgrund der reichlichen Liquiditätsausstattung orientiert sich der Tagesgeldsatz seither am Zinssatz für die Einlagefazilität. Abbildung III.4.12: EZB-Zinssätze und Tagesgeldsatz (EONIA) in der EWU von 1999 - 2013 0 1 2 3 4 5 6 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 Einlagesatz EONIA Hauptrefinanzierungssatz Spitzenrefinanzierungssatz Quelle: Deutsche Bundesbank. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="261"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 262 4.4.2 Der Zinskorridor Reicht die stabilisierende Wirkung der Mindestreserve nicht aus und ergreift das Eurosystem keine Feinsteuerungsmaßnahmen, spielen die Ständigen Fazilitäten, die jederzeit auf Initiative der Geschäftsbanken in Anspruch genommen werden können, eine entscheidende Rolle. So findet der Tagesgeldsatz beim Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität seine Obergrenze. Die Spitzenrefinanzierungsfazilität ist mengenmäßig nicht begrenzt, soweit hinreichend Sicherheiten gestellt werden können. Die Kreditinstitute können von sich aus auf sie zugreifen. Da das Bankensystem normalerweise über ausreichende Sicherheiten verfügt, stellt der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität eine wirksame Obergrenze dar. Keine Bank wird nämlich bereit sein, am Interbanken-Geldmarkt einen höheren Zins für eine Mittelaufnahme zu zahlen, als sie dafür bei der Zentralbank bezahlen muss. Als Untergrenze fungiert der Zinssatz, den das Eurosystem für Einlagen im Rahmen der Einlagefazilität vergütet, da eine einzelne Bank am Interbanken-Geldmarkt Zentralbankguthaben nicht zu einem Zins anlegen wird, der unterhalb des Satzes liegt, den die Zentralbank für eine entsprechende Anlage zu zahlen bereit ist. 105 Somit ergibt sich ein Zinskorridor für den Tagesgeldsatz, festgelegt nach oben durch den Spitzenrefinanzierungssatz, nach unten durch den Einlagesatz. Aufgrund der reichlichen Liquiditätsausstattung des Bankensystems seit Oktober 2008 bewegt sich der Tagesgeldsatz seither in der Nähe der Untergrenze, orientiert sich also an der Einlagefazilität. 4.5 Die Endogenität der Geldmenge im Spiegel der „Monetären Analyse“ Die Untersuchung von geldmengenbasierten Größen und Zusammenhängen bezeichnet man als „Monetäre Analyse“. Darunter fällt auch die Analyse der Komponenten und Gegenposten von M3 im Bilanzzusammenhang. Diese basiert auf der Konsolidierten Bilanz der Monetären Finanzinstitute, also der zusammengefassten Bilanz des Eurosystems, der gebietsansässigen 106 Kreditinstitute und der sonstigen gebietsansässigen Finanzinstitute, die zu den Monetären Finanzinstituten (MFIs) gezählt werden (siehe Box III.4.7). Die Information über die Aktivitäten der Kreditinstitute und der 105 „Entsprechend der relativ niedrigen Verzinsung wird die Einlagefazilität von den Kreditinstituten nur bei unerwartet auftretenden Liquiditätsüberschüssen in Anspruch genommen, in der Regel am Ende einer Mindestreserveperiode. … Gelegentlich benutzten einzelne Kreditinstitute die Einlagefazilität aber auch, um für am nächsten Morgen vorgesehene Interbankzahlungen oder für die Abwicklung von Wertpapiergeschäften bereits am Vorabend bereitgestellte Mittel über Nacht anzulegen …“ (Deutsche Bundesbank, 2004a, 139). Dies galt allerdings nur bis zum Oktober 2008, seither erfüllt die Einlagefazilität auch die Funktion der dauerhaften Anlage von Liquiditätsüberschüssen. 106 Gebietsansässig bezieht sich auf den Euro-Raum. <?page no="262"?> GELDMARKTSTEUERUNG 263 sonstigen Finanzinstitute entstammen der monatlichen Bilanzstatistik, die zum Monatsultimo erhoben wird. Durch die Konsolidierung werden Beziehungen zwischen den Instituten ausgeschaltet. Box III.4.7: Monetäre Finanzinstitute (MFIs) Das Konzept der Monetären Finanzinstitute (MFIs) wurde vom Europäischen Währungsinstitut (EWI) in Zusammenarbeit mit den nationalen Zentralbanken (NZBen) im Rahmen der Vorbereitungen auf die einheitliche Geldpolitik entwickelt. MFIs umfassen drei Hauptgruppen von Instituten: erstens die nationalen Zentralbanken und die EZB; zweitens gebietsansässige Kreditinstitute. Sie sind definiert als „ein Unternehmen, dessen Tätigkeit darin besteht, Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder des Publikums (einschließlich der Erlöse aus dem Verkauf von Bankschuldverschreibungen an das Publikum) entgegenzunehmen und Kredite auf Rechnung zu gewähren.“ (EZB, 1999c, 31) Die dritte Gruppe besteht aus allen sonstigen gebietsansässigen Finanzinstituten, deren wirtschaftliche Tätigkeit darin besteht, Einlagen bzw. Einlagensubstitute im engeren Sinne von anderen Wirtschaftssubjekten als MFIs entgegenzunehmen und auf eigene Rechnung (zumindest im wirtschaftlichen Sinne) Kredite zu gewähren und / oder in Wertpapieren zu investieren. Zu dieser Gruppe gehören hauptsächlich Geldmarktfonds. Zur Identifizierung der dritten Gruppe von MFIs hat das ESZB in Bezug auf die Liquiditätsmerkmale den Begriff „Einlagensubstitute im engeren Sinne“ definiert. In dieser Definition sind die Gesichtspunkte der Übertragbarkeit, Konvertibilität, Sicherheit und Marktfähigkeit berücksichtigt, wie auch gegebenenfalls die Emissionsbedingungen. Konkret wird „Einlagensubstituierbarkeit im engeren Sinne“ anhand folgender Kriterien beurteilt: „Übertragbarkeit“ - bezieht sich auf die Möglichkeit, in Finanzinstrumenten angelegte ◼ Gelder unter Nutzung von Zahlungsmöglichkeiten wie z. B. Schecks, Überweisungsaufträge, Lastschriftverkehr oder ähnliches zu mobilisieren. „Konvertibilität“ - bezieht sich auf die Möglichkeit und die Kosten der Umwandlung ◼ von Finanzinstrumenten in Bargeld oder übertragbare Einlagen. „Sicherheit“ - bedeutet, dass der Veräußerungswert eines Finanzinstruments in der ◼ jeweiligen Währung im Voraus genau bekannt ist. „Marktfähigkeit“ - bezieht sich auf regelmäßig auf einem organisierten Markt notierte ◼ und gehandelte Wertpapiere. Das Eurosystem erstellt und führt für statistische Zwecke ein Verzeichnis von MFIs (abruf bar unter http: / / www.ecb.int). Der Kreis der MFIs bildet den Berichtskreis für die Aufstellung der Konsolidierten Bilanz des MFI-Sektors für das Euro-Währungsgebiet. Die NZBen dürfen jedoch für kleine MFIs Ausnahmeregelungen treffen, vorausgesetzt, dass die MFIs, die in die monatliche Konsolidierte Bilanz aufgenommen werden, mindestens 95 % der gesamten MFI-Bilanz des jeweiligen teilnehmenden Mitgliedstaates ausmachen. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="263"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 264 Abbildung III.4.13: M3 im Bilanzzusammenhang Quelle: Deutsche Bundesbank. Zu den Bilanzgegenpositionen und ihrer Wirkung auf M3 im Einzelnen: I. Kredite an den privaten Sektor (inländische (im Euro-Raum ansässige) Nichtbanken) Gewährt eine Bank einen Kredit, erhält der Schuldner gewissermaßen als Gegenleistung ein Guthaben eingeräumt, über das er verfügen kann. Für sich betrachtet steigt dadurch die Geldmenge M3. Bei der Kreditgewährung handelt es sich gleichsam um die internen Triebkräfte der monetären Expansion. Insbesondere wenn die Zunahme der Geldmenge von einem entsprechenden Wachstum der Kredite begleitet wird, deutet dies auf entsprechende Veränderungen der Ausgaben in Zukunft hin. II. Netto-Auslandsposition gegenüber dem Nicht-Euro-Währungsgebiet Bei der Netto-Auslandsposition handelt es sich um eine saldierte Größe bei der Forderungen und Verbindlichkeiten an bzw. gegenüber dem Nicht-Euro-Währungsgebiet miteinander verrechnet werden. Zu einer Veränderung der Netto-Auslandsposition kann es daher nur dann kommen, wenn Forderungen und Verbindlichkeiten sich nicht in gleichem Maße verändern. Transaktionen des MFI-Sektors mit dem Nicht-Euro-Währungsgebiet - etwa der Ankauf von Devisen gegen Einräumung von Euro-Guthaben - sind daher geldmengenneutral. Die Geldmenge M3 wächst ceteris paribus nur, wenn die Forderungen bei unveränderten Verbindlichkeiten <?page no="264"?> GELDMARKTSTEUERUNG 265 zunehmen bzw. die Verbindlichkeiten bei unveränderten Forderungen abnehmen. Der erste Fall tritt ein, wenn z. B. inländische Nichtbanken Forderungen an das Nicht-Euro-Währungsgebiet an den MFI-Sektor verkaufen und dafür Einlagen erhalten. Die Forderungen (z. B. Devisen) können etwa aus Exporterlösen oder einem Abbau von Auslandsguthaben herrühren. Zum zweiten Fall kommt es, wenn das Nicht-Euro-Währungsgebiet zu Lasten seiner Guthaben beim MFI-Sektor Zahlungen an inländische Nichtbanken leistet, wodurch die Einlagen der inländischen Nichtbanken beim MFI-Sektor steigen. Anlässe solcher Transaktionen sind etwa die Begleichung von Forderungen von inländischen Nichtbanken aus Exportgeschäften durch Gebietsfremde sowie der Kauf von inländischen Wertpapieren durch Gebietsfremde. Ein solcher Fall kann aber auch eintreten, wenn inländische Nichtbanken sich von ausländischen Wertpapieren trennen. Eine außenwirtschaftlich bedingte Geldschöpfung kann also auch ohne Zutun des Eurosystems, also ohne dass es eines Devisenankaufs durch die Zentralbank bedarf, erfolgen. Es gibt auch Wechselwirkungen zwischen den Positionen I. und II. Es zeigte sich etwa in Deutschland, dass zwischen Bankkrediten - und hier insbesondere kurzfristigen Wirtschaftskrediten - und den Nettoforderungen des Bankensystems an das Ausland Substitutionsbeziehungen bestehen. Fließen den inländischen Unternehmen Mittel aus dem Ausland zu, so nimmt tendenziell der Bedarf an kurzfristigen Wirtschaftskrediten ab und umgekehrt. Ein solcher Vorgang ist aber M3-neutral, da hier die inländischen Nichtbanken den Geldzufluss aus dem Ausland durch einen Abbau der Verschuldung beim MFI-Sektor kompensieren. III. Geldkapital (Längerfristige finanzielle Verbindlichkeiten) Neben den bei einer Zunahme expansiv wirkenden Positionen Kreditgewährung und Netto-Auslandsforderungen bremsen grundsätzlich die Geldkapitalbildung als passivische Bilanzposition die Geldmengenausweitung. Dabei handelt es sich um längerfristige Verbindlichkeiten des MFI-Sektors (z. B. Bankschuldverschreibungen mit einer Laufzeit von mehr als zwei Jahren). Da wegen der längeren Bindungsdauer der Geldanlage die Verzinsung bei diesen Einlagen i. d. R. höher ist als bei den zu M3 zählenden Einlagen, werden die Nichtbanken Mittel, die sie längere Zeit nicht für Ausgabenzwecke benötigen, von M3 in längerfristige Vermögenswerte umschichten. Kurzfristig erweist sich diese Position gelegentlich jedoch als störungsanfällig. Bei ausgeprägter allgemeiner Unsicherheit bzw. Zinsunsicherheit im Speziellen oder wenn die Anleger steigende Zinsen erwarten, halten sie sich bei der langfristigen Geldanlage vorübergehend zurück und „parken“ ihre Mittel in verzinslichen kurzfristigen Anlageformen, z. B. auf Termingeldkonten. Dies führt dann kurzfristig zu einer Auf blähung des Geldvolumens, ohne dass damit eine höhere Güternachfrage in Zukunft verbunden sein muss. Eine derartige Reaktion kann sich auch bei einer inversen Zinsstruktur einstellen, d. h. wenn die kurzfristigen über den langfristigen Zinsen liegen. IV. Übrige Bilanzpositionen (sonstige Gegenposten) Bei den übrigen Bilanzpositionen handelt es sich um einen Restposten. Sie umfassen die Einlagen der Zentralregierungen, die erfahrungsgemäß in keinem engen Zusammenhang mit dem Ausgabeverhalten der Zentralregierungen stehen, und OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="265"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 266 den Saldo aus den sonstigen Forderungen und Verbindlichkeiten. Zu letzteren zählt auch der sog. „Float“ zwischen den Kreditinstituten, der auf unterschiedliche Buchungszeitpunkte im Zahlungsverkehr zurückzuführen ist. Wenn z. B. der Überweisungsverkehr gegenüber dem Scheck- und Lastschriftenverkehr überwiegt, entsteht ein passivischer Float, da die Belastung früher als die Gutschrift erfolgt. Dadurch sinkt M3. In Höhe dieses passivischen Floats werden quasi zu M3 gehörende täglich fällige Gelder „geschluckt“. V. Geldmenge M3 M3 ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Bilanzpositionen I - IV. Die Analyse der Gegenposten gibt näheren Aufschluss darüber, welche der verschiedenen Komponenten für die Entwicklung von M3 maßgeblich sind. Das Eurosystem analysiert aber auch die Entwicklung der einzelnen Komponenten von M3 (siehe dazu auch Box III.2.12). Dem Geldmengenaggregat M1, das die liquidesten M3-Komponenten erfasst (Bargeldumlauf und täglich fällige Gelder) kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Diese enge Abgrenzung spiegelt die Funktion des Geldes als Tausch- und Zahlungsmittel wider und steht deshalb in einem engen Zusammenhang mit den gesamtwirtschaftlichen Ausgaben. Allerdings reagiert M1 stärker auf Zinsänderungen als breitere Aggregate und verläuft deshalb auch volatiler (siehe auch Abb. III.2.11). Zudem enthält es auch den Bargeldbestand im Ausland und das nicht für (offizielle) Transaktionszwecke (Hortung, Schattenwirtschaft, z. B. Schwarzarbeit) gehaltene Bargeld. M3, das neben M1 weitere kurzfristige Einlagen und marktfähige Finanzinstrumente umfasst, fängt viele dieser zinsbedingten Schwankungen in sich auf. Allerdings ist es weniger gut steuerbar und ein Großteil der in ihr enthaltenen Anlageformen dient auch der Vermögensanlage. Die Komponenten von M3 außerhalb von M1 spiegeln stärker die Funktion des Geldes als Wertauf bewahrungsmittel wider. Sie sind zwar auch für Tausch- und Zahlungszwecke von Bedeutung, da ein Umtausch in Zahlungsmittel ohne hohe Kosten und zeitnah möglich ist. Allerdings können diese zinstragenden Komponenten bei steigenden Kurzfristzinsen eine unmittelbare Abschwächung des M3-Wachstums verhindern, weil ihre Verzinsung eng an die Entwicklung der Geldmarktzinsen gekoppelt ist. Insbesondere dann, wenn sich die kurzfristigen Zinsen verändern, ist daher eine sorgfältige Analyse der M3-Entwicklung notwendig. Betrachtet man die Geldmenge M3 im Bilanzzusammenhang (siehe hierzu auch Abb. III.4.13), lassen sich unterschiedliche Ursachen des Geldmengenwachstums ausmachen. So kann etwa eine Zunahme der Kreditvergabe (I und V steigen gleichzeitig) Grund für eine steigende Geldmenge sein. Das Wachstum der Geldmenge kann aber auch auf einen Rückgang des Geldkapitals (V steigt, III sinkt) bzw. auf einem geringeren Wachstum des Geldkapitals beruhen. Auch eine Zunahme der Nettoforderungen an das Nicht-Euro-Währungsgebiet, die beispielsweise auf ein geändertes Portfolioverhalten inländischer Nichtbanken zurückgeht, kann ein verstärktes Geldmengenwachstum nach sich ziehen. Je nachdem, mit welchen Gegenposten ein gegebenes Wachstum von M3 verbunden ist (z. B. Zunahme von Krediten im einen Fall, Rückgang der längerfristigen fi- <?page no="266"?> GELDMARKTSTEUERUNG 267 nanziellen Verbindlichkeiten des MFI-Sektors aufgrund zinsbedingter Unsicherheiten andererseits) bzw. wie sich die einzelnen Komponenten von M3 entwickelt haben, birgt eine bestimmte Entwicklung von M3 mehr oder minder (bzw. keine) Gefahren für die Preisstabilität. Die Analyse der Komponenten und Gegenposten von M3 verdeutlicht, dass die Zentralbank durch Gestaltung der monetären Bedingungen auf die Geldmenge zwar Einfluss nehmen, sie jedoch keineswegs beliebig bestimmen oder gar der Wirtschaft vorgeben kann (zumindest nicht kurzfristig). Letzte Instanz bei der Entscheidung über die Höhe von M3 sind vielmehr die inländischen Nichtbanken mit ihrer Geldnachfrage. Sie haben es in der Hand - etwa durch eine Rückführung ihrer Verschuldung beim MFI-Sektor oder durch Umschichtung von M3-Geldern in längerfristige Anlagen die von ihnen gewünschte M3-Haltung auch zu realisieren. Die Geldmenge ist also endogen. Der Monetären Analyse kommt bei der Früherkennung von Verrmögensblasen eine entscheidende Rolle zu. „Das Erkennen solcher Blasen ist nicht einfach, doch deutet die aktuelle Forschung darauf hin, dass Geldmengen- und Kreditindikatoren dazu beitragen können, Hausse-Baisse-Zyklen an den Vermögensmärkten vorherzusehen. Deswegen kommt es umso mehr darauf an, dass Zentralbanken derartige Variablen regelmäßig genau beobachten. Die stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie der EZB enthält Elemente eines Ansatzes zum Gegensteuern. Insbesondere durch die herausragende Rolle, die der monetären Analyse innerhalb der Strategie zukommt, wird gewährleistet, dass Geldmengen-, Kredit- und Liquiditätsbedingungen - die empirisch mit der Entwicklung der Vermögenspreise in Zusammenhang stehen - bei der Durchführung der Geldpolitik angemessen mit einbezogen werden. Die monetäre Analyse stellt einen wichtigen Rahmen dar, innerhalb dessen längerfristige Risiken für die Preisstabilität, die beispielsweise aus Boom-Bust-Zyklen bei Vermögenspreisen hervorgehen können, untersucht werden.“ (EZB, 2010c, 75; siehe auch Box III.2.8) 4.6 Zusammenfassung Der Geldmarkt i. e. S. ist das Operationsfeld für die Geldpolitik. Er lässt sich unterteilen in den Regulierungsgeldmarkt und den Interbanken-Geldmarkt. Während auf dem Regulierungsgeldmarkt das Eurosystem mit den Kreditinstituten Geschäfte abschließt, es somit zu einer Veränderung des Bestandes an Bankenliquidität kommen kann, handeln auf dem Interbanken-Geldmarkt nur die Kreditinstitute untereinander, d. h. ohne Zentralbank. Es findet dementsprechend nur eine Umverteilung von Liquidität statt. Über seine Geschäfte mit den Kreditinstituten setzt das Eurosystem den Referenzsatz für den Zinssatz für Tagesgeld auf dem Interbanken-Geldmarkt. Die Schlüsselfunktion kam dabei bis Herbst 2008 dem Zinssatz für das Hauptrefinanzierungsgeschäft zu, seither orientiert sich der Tagesgeldsatz aufgrund der reichlichen Liquiditätsausstattung am Zinssatz für die Einlagefazilität. Das Eurosystem betreibt - wie weltweit alle bedeutenden Zentralbanken - keine Geldbasissteuerung. Dem Instrument der Mindestreserve kommt somit auch nicht die Funktion zu, über den Multiplikator die Geldmenge zu steuern, sondern sie schafft OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="267"?> OPERATIVE UMSETZUNG DER GELDPOLITIK DES EUROSYSTEMS 268 zum einen eine (künstliche) Zwangsnachfrage nach Guthaben beim Eurosystem und damit (erst) einen „Markt“ für Zentralbankguthaben und wirkt zum anderen in der Ausprägung als Durchschnitts-Mindestreserve im Normalfall stabilisierend auf den Tagesgeldsatz. Der Geldschöpfungsprozess erfolgt aus dem Zusammenspiel zwischen Geschäftsbanken und deren Kunden, zunächst ohne Zutun der Zentralbank. Geld entsteht also endogen aus dem Wirtschaftsprozess heraus primär im Zusammenhang mit den Kreditvergabeaktivitäten des Geschäftsbankensektors. Die (nominale) Geldmenge wird also keineswegs von den währungspolitischen Instanzen vorgegeben. Sie resultiert vielmehr aus dem Zusammenspiel zwischen Geschäfts- und Nichtbanken. Es ist von der Geldnachfrage her determiniert. Dies heißt aber auch, dass vom Geldangebot der Zentralbank allein keine selbständigen inflationären Impulse ausgehen können, da es nur Reflex der gewünschten Geldhaltung ist. Dies hat natürlich auch Konsequenzen für den monetären Transmissionsmechanismus, der ausgeht von einer Veränderung des Tagesgeldsatzes und in dem die Geldmenge M keine kausale Rolle in dem Sinne spielt (spielen kann), dass sie als Instrumentvariable oder operatives Ziel dient. Kontrollfragen: 1 Warum kann es durch Transaktionen am Interbanken-Geldmarkt nicht zu einer Veränderung des Bestandes an Zentralbankgeld kommen? 2 Warum steuert das Eurosystem den Tagesgeldsatz und nicht die Menge an Zentralbankgeld? 3 Warum ist die Geldmenge endogen und welche Rolle kommt der Zentralbank im Rahmen des Geldschöpfungsprozesses zu? 4 Wieso hat das Eurosystem die Zinsführerschaft am Tagesgeldmarkt? 5 Warum wirkt das Eurosystem nur mittelbar auf die Entwicklung der Geldmenge M3 ein? Weiterführende Literatur Deutsche Bundesbank (2000), Die Integration des deutschen Geldmarkts in den einheitlichen Euro-Geldmarkt, Monatsbericht Januar, 52. Jg., S. 15 - 32 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2000), Das Euro-Währungsgebiet ein Jahr nach Einführung des Euro: Wesentliche Merkmale und Veränderungen in der Finanzstruktur, Monatsbericht, Januar, S. 37 - 54 (http: / / www.ecb.int). Lösungen unter europa-geldpolitik.de <?page no="268"?> GELDMARKTSTEUERUNG 269 Europäische Zentralbank (2003), Die Integration der europäischen Finanzmärkte, Monatsbericht Oktober, S. 61 - 75 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2012), Euro Money Market Study (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2008), Die Analyse des Euro-Geldmarkts aus geldpolitischer Sicht, Monatsbericht Februar, S. 71 - 87 (http: / / www.ecb.int). Die Sonderaufsätze sowie die jährlich durchgeführte Studie beschäftigen sich mit der Entwicklung hin zu einem europäischen Geldmarkt. Europäische Zentralbank (1999), Der Handlungsrahmen des Eurosystems: Beschreibung und erste Beurteilung, Monatsbericht Mai, S. 33 - 48 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2002), Die Liquiditätssteuerung der EZB, Monatsbericht Mai, S. 45 - 58 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2003), Änderungen des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems, Monatsbericht August, S. 45 - 59 (http: / / www.ecb.int). Deutsche Bundesbank (2004), Erste Erfahrungen mit dem neuen geldpolitischen Handlungsrahmen und der Beitrag der Bundesbank zur Liquiditätssteuerung des Eurosystems, Monatsbericht Juli, 56. Jg., S. 51 - 68 (http: / / www.bundesbank.int). Europäische Zentralbank (2005), Erste Erfahrungen mit den Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen des Eurosystems, Monatsbericht Februar, S. 69 - 76 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2006), Erste Erfahrungen des Eurosystems mit Feinsteuerungsoperationen am Ende der Mindestreserve-Erfüllungsperiode, Monatsbericht November, S. 91 - 100 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2009), Die Umsetzung der Geldpolitik seit August 2007, Monatsbericht Juli, S. 85 - 100. Bindseil, U., Seitz, F. (2001), The Supply and Demand for Eurosystem Deposits - The First 18 Months, European Central Bank, Working Paper Series, No. 44 (http: / / www.ecb.int). Würtz, F. R. (2003), A Comprehensive Model on the Euro Overnight Rate, European Central Bank, Working Paper Series, No. 207 (http: / / www.ecb.int). Fawley, B., W., Neely, C. L. (2013), Four Stories of Quantitative Easing, in: Federal Reserve Bank of St. Louis REVIEW, January / February. S. 51 - 88. Die Sonderaufsätze der EZB (1999 und 2002) liefern einen Überblick über die Geldmarktsteuerung der EZB mit ersten Erfahrungen. Stärker ins Detail gehen die Arbeiten von Bindseil / Seitz und Würtz, die sich ausführlich und umfassend mit dem Liquiditätsmanagement und der Geldmarktsteuerung des Eurosystems beschäftigen. Der Sonderaufsatz der EZB aus dem Jahr 2003 stellt die Änderungen im Rahmen der Geldmarktsteuerung, die Anfang 2004 umgesetzt wurden, dar und zeigt die Gründe dafür auf. Die Sonderaufsätze der Deutschen Bundesbank (2004) und der EZB (2005, 2006) beschäftigt sich mit den ersten Erfahrungen damit. Der Sonderaufsatz der EZB aus dem Jahre 2009 geht auf die Änderungen „nach Lehman“ ein. Fawley / Neely liefern einen systematischen Überblick über die Reaktionen der weltweit wichtigsten Zentralbanken auf die Krise seit 2007. Europäische Zentralbank (2001), Gestaltungsrahmen und Instrumentarium der monetären Analyse, Monatsbericht Mai, S. 43 - 63 (http: / / www.ecb.int). Europäische Zentralbank (2004), Monetäre Analyse in Echtzeit, Monatbericht Oktober 2004, S. 47 - 71 (http: / / www.ecb.int). Diese Sonderaufsätze beschäftigen sich u. a. mit der Analyse der Komponenten und Gegenposten von M3. Sie legen auch dar, welche Schlüsse aus dieser Analyse in einzelnen gezogen werden können. OPERATIVE UMSETZUNG <?page no="270"?> „Der geldpolitische Transmissionsmechanismus besteht aus verschiedenen Kanälen, über die geldpolitische Maßnahmen auf die Wirtschaft und insbesondere auf das Preisniveau wirken. Ein gutes Verständnis dieser Übertragungswege ist eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung einer soliden Geldpolitik, da auf diese Weise das Ausmaß und der Zeitpunkt geldpolitischer Beschlüsse so gewählt werden können, dass die Preisstabilität gewahrt wird.“ (EZB, 2000c, 45) Kapitel IV Transmission geldpolitischer Impulse <?page no="271"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 272 Die aktuelle Lage ist geprägt von schweren Verwerfungen an den Staatsanleihemärkten, die insbesondere auf unbegründete Ängste seitens der Anleger bezüglich der Reversibilität des Euro zurückzuführen sind. Dies schlägt sich in ernsthaften Störungen des Preisbildungsprozesses an diesen Märkten nieder, was das Funktionieren des geldpolitischen Transmissionsmechanismus untergräbt. Die Märkte für Staatsanleihen spielen in verschiedenen Stufen des Transmissionsmechanismus im Euroraum eine Schlüsselrolle. Die Wirksamkeit der geldpolitischen Standardinstrumente ist in den betroffenen Ländern durch Funktionsstörungen an den Märkten, welche den Transmissionsmechanismus beeinträchtigen, eingeschränkt. Die EZB muss daher handeln, um die mittelfristigen Risiken für die Preisstabilität einzudämmen. Somit stellen OMTs in der derzeitigen Ausnahmesituation an den Finanzmärkten ein unkonventionelles, aber notwendiges geldpolitisches Instrument dar. (EZB, 2012h, 8) Das erste Zitat aus dem Monatsbericht der EZB (auf Seite 249) umreißt grundlegende Informationsanforderungen der Geldpolitik und lässt zugleich Schwierigkeiten erahnen, denen sich die Geldpolitik des Eurosystems bei länderspezifischen Unterschieden in den Übertragungswegen gegenübersieht. Als Voraussetzungen einer erfolgreichen Geldpolitik im gemeinsamen Währungsraum müssten eigentlich einheitliche Übertragungswege geldpolitischer Impulse ebenso vorliegen wie die Einigkeit über die übergeordnete Zielsetzung der Geldpolitik und synchrone Konjunkturverläufe in den Mitgliedsländern. Das zweite Zitat zeigt, wie Störungen im geldpolitischen Transmissionsprozess zur Begründung der im Rahmen der Staatsschuldenkrise beschlossenen geldpolitischen Maßnahmen herangezogen werden. Bevor jedoch die besonderen geldpolitischen Steuerungsprobleme erörtert werden, die sich aus der „Innovation EWU“ ergeben, erfolgt zunächst eine theoretische Darstellung der verschiedenen Transmissionsmechanismen. 1 Monetäre Wirkungskanäle Wenn eine Zentralbank geldpolitische Maßnahmen ergreift, geht sie davon aus, dass dadurch schließlich reale Größen wie Konsum, Investition, Beschäftigung, Produktion, aber auch und vor allem die Preisentwicklung ihren Zielsetzungen entsprechend „gesteuert“ werden können. Wie diese Übertragungswege, die Transmissionsmechanismen, zwischen monetären Impulsen und bestimmten realen oder nominalen Größen letztlich genau aussehen und welche zeitlichen Verzögerungen (time lags) bestehen, ist weder theoretisch noch empirisch klar. Die Identifikation des monetären Transmis- <?page no="272"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 273 sionsprozesses wird einmal dadurch erschwert, dass wir es nicht allein mit einer einseitigen Wirkungsrichtung von einer geldpolitischen Maßnahme auf das (wichtigste) Endziel Preisniveaustabilität, sondern auch mit Rückwirkungen von der (erwarteten) Entwicklung der Zielgröße auf die (Dosierung der) Instrumentvariablen zu tun haben. Geldpolitische Instrumente Geldpolitische Zielsetzung Transmissionsprozess Geldpolitische Rückkoppelung Zudem kann die Entwicklung des Preisniveaus - zumindest auf kurze Sicht - nicht ausschließlich dem Einsatz geldpolitischer Instrumente zugeschrieben werden. Lohnpolitische, fiskalpolitische und außenwirtschaftliche Einflüsse überlagern vielmehr die Geldpolitik und können sie zuweilen sogar dominieren. Auf längere Sicht ist davon auszugehen, dass die monetären Impulse lediglich auf das Preisniveau durchschlagen, die geldpolitisch erzeugte Änderung realer Größen also vorübergehender Natur ist (sog. Geldneutralität). Angesichts vielfältiger und zeitlich wechselnder Einflüsse überrascht es deshalb nicht, dass eine Vielzahl teilweise konkurrierender, überwiegend jedoch sich ergänzender Hypothesen zum Transmissionsprozess besteht. Die wesentlichen Verknüpfungen sollen im Folgenden vor dem Hintergrund der Situation im Euro-Währungsgebiet aufgezeigt werden. Die verschiedenen „Kanäle“ und „Effekte“ erhalten dabei noch eine besondere Note durch mögliche spezielle Komplikationen, die beispielsweise aus der Heterogenität der Finanzmärkte und den tradierten Verhaltensweisen in den Mitgliedsländern der EWU resultieren könnten. Um die Bedeutung der Kenntnis der Transmissionsprozesse aufzuzeigen, sei von einem geläufigen makroökonomischen Ablaufschema ausgegangen (siehe Abbildung IV.1.1), dem sog. IS-LM-Modell. Eine expansive Geldpolitik ( LM 1 → LM 2 ) führt zu einem sinkenden Zinsniveau, dieses zu steigender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Dadurch steigen Produktion und Einkommen ( Y 1 → Y 2 ). Ob es sich hierbei um reale oder lediglich um - durch Preissteigerungen bedingte - nominale Produktions- und Einkommenserhöhungen handelt, hängt von der Auslastung des Produktionspotenzials ab. Im IS / LM-Modell wird von unterausgelasteten Kapazitäten ausgegangen, sodass die realen Änderungen dominieren. Die Größenordnung dieser Effekte ist außer von der Stärke des auslösenden Impulses vor allem von der Zinselastizität der Güter- und Geldnachfrage abhängig. Bei niedrigerer Zinselastizität der Investitionen und des Konsums als in der Abbildung angenommen ( IS verliefe steiler) wäre die Wirkung geringer. Ebenso bei höherer Zinselastizität der Geldnachfrage ( LM verliefe flacher), da der geldpolitische Impuls zu einer geringeren Zinssenkung führen würde. TRANSMISSION <?page no="273"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 274 Das IS / LM-Modell bildet Zusammenhänge im kurzfristigen Rahmen unausgelasteter Kapazitäten ab und informiert nicht über längerfristige Preiseffekte der Geldpolitik. 106 Zudem werden in diesem reduzierten Modell auch die Stationen monetärer und realer Transmission nicht sichtbar gemacht. Die bei der Herleitung der LM-Kurve üblicherweise getroffene Annahme, die nominale Geldmenge werde exogen von der Zentralbank bestimmt, widerspricht der Realität. Vielmehr wirkt die Zentralbank über Veränderung der Notenbankzinsen auf den Kreditmarkt und die Geldnachfrage ein. Das IS / LM- Modell gibt zudem weder Auskunft darüber, wie geldpolitische Impulse auf entscheidungsrelevante Größen wirken, noch wie diese im Einzelnen auf den realen Sektor durchschlagen. Der konkrete Übertragungskanal bleibt weitgehend eine „black box“. So ist beispielsweise unklar, welchen Zinssatz i repräsentieren soll. Bei Abhängigkeit privater Investitionsentscheidungen von langfristigen Zinsen müssten diese von der Zentralbank zur Beeinflussung der Investitionstätigkeit verändert werden. Mit ihrem herkömmlichen Instrumentarium ist sie dazu auf direktem Wege nicht in der Lage. Aber auch wenn man davon ausgeht, dass eine Zentralbank über die Nutzung von Arbitrageprozessen und die Beeinflussung der Inflationserwartungen indirekt die langfristigen Zinsen - und weiterreichend über Umschichtungen im realen Sektor die investive und konsumtive Nachfrage - steuern kann, wird dies kaum friktionslos geschehen. Friktionen sind zum einen in heterogenen Interessen und Verhaltensweisen der Hauptakteure im Transmissionsprozess - Zentralbank, Geschäftsbanken sowie Unternehmen und private Haushalte - begründet. Zum anderen erfordert der Transmissionsprozess Zeit. Analytisch lässt er sich in drei Stufen zerlegen: (1) Die Auswirkungen geldpolitischer Maßnahmen auf die Finanzierungskosten bzw. Kosten alternativer Finanzierungsarten, (2) der Einfluss der (geänderten) Finanzierungskosten auf die Ausgabenentscheidungen und schließlich (3) die Preisund/ oder Produktionswirkungen der Ausgabenänderungen. Diese grobe Aufteilung darf jedoch nicht über die Verästelung einzelner Wirkungsketten hinwegtäuschen. Zudem ist zu bedenken, dass der Transmissionsmechanismus von Stufe (1) bis (3) zwar als Hauptwirkungsrichtung zu verstehen ist, dass aber durch zirkuläre Verknüpfungen einzelner Wirkungsketten ein interdependentes Geflecht entsteht. Einen Überblick über die Komplexität des Transmissionsprozesses vermittelt Abbildung IV.1.2. 107 106 Zu den im IS / LM-Modell abgebildeten Wirkungszusammenhängen wie auch zu den analytischen Grenzen siehe Görgens/ Ruckriegel (2007a, 147 - 177). 107 Zu einer knappen Übersicht über wichtige Übertragungswege monetärer Impulse einschließlich empirischer Anhaltspunkte für den Euroraum siehe EZB (2009c). Abbildung IV.1.1: Geldpolitik und Einkommensänderungen Y Y 1 Y 2 IS LM 1 LM 2 i 1 i 2 i <?page no="274"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 275 Für die Analyse des Transmissionsprozesses stehen die Zusammenhänge der Stufen (1) und (2) im Vordergrund. Es geht also um die Frage, wie geldpolitische Impulse auf verschiedene Zinssätze und damit auf die Zinsstruktur wirken (1.1). Im nächsten Schritt geht es sodann um deren direkte oder - über den Umweg z. B. von Substitutions- oder Vermögenseffekten - indirekte güterwirtschaftliche Nachfragewirksamkeit (1.2). Auf die Bedeutung von Unvollkommenheiten auf den Finanzmärkten (1.3) und geldpolitisch ausgelöste Änderungen der Risikoneigung (1.4) wird gesondert eingegangen. Der geldpolitisch eminent wichtige Erwartungskanal wird im Abschnitt 1.5 behandelt. Abbildung IV.1.2: Hauptwirkungskanäle des geldpolitischen Transmissionsprozesses Quelle: EZB. TRANSMISSION <?page no="275"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 276 1.1 Interdependenz der Zinssätze (Zinsstruktur) Im geldpolitischen Instrumentarium des Eurosystems spielen Hauptrefinanzierungsgeschäfte die herausragende Rolle. 108 Mit diesem Instrument lässt sich der (Tages-) Geldmarktzins recht zuverlässig steuern. Veränderungen der Refinanzierungskosten der Geschäftsbanken bei der Zentralbank schlagen rasch auf den Interbanken-Geldmarkt durch, also auf die Konditionen, zu denen die Banken untereinander kurzfristige Liquidität handeln. Will die Zentralbank inflationären Tendenzen durch Dämpfung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entgegenwirken, wird sie die Refinanzierungskosten der Geschäftsbanken erhöhen, wodurch der Tagesgeldmarktsatz steigt. Diese Verteuerung führt zunächst dazu, dass auch die Zinssätze für Geldmarktanlagen mit längerer Laufzeit (über Arbitrageprozesse) und für kurzfristige Termingelder steigen, da für eine einzelne Bank die Einlagen von Nichtbanken ein Substitut zur Aufnahme von Geldmarktmitteln sind. Die Banken werden ihrerseits die Kostensteigerungen in höheren Kreditzinsen weitergeben. Im Einklang mit den Geldmarktsätzen entwickeln sich (verzögert) auch die Sätze für Spareinlagen mit marktmäßiger Verzinsung. Das Anziehen der Einstandskosten für kurzfristige Gelder löst zudem einen Anstieg der Renditen am Rentenmarkt und bei den längerfristigen Bankpassivazinsen aus. Die Banken werden nämlich versuchen, auf die vorläufig noch günstigere Refinanzierung mit längerfristigen Mitteln auszuweichen, also über den Verkauf von festverzinslichen Wertpapieren am Rentenmarkt und über die Refinanzierung durch längerfristige Einlagen Mittel aufzunehmen. Steigen die Renditen für festverzinsliche Wertpapiere, werden diese als Finanzanlagen von Nichtbanken attraktiver, sodass die Nachfrage nach Aktien sinkt. Auch in diesem Segment des Finanzmarktes fallen die Kurse und steigen die Renditen. Unterstützt wird diese Kursbewegung am Aktienmarkt durch eine Verschlechterung der Konjunkturaussichten infolge gestiegener Zinsen. Die ursprüngliche Erhöhung der kurzfristigen Geldmarktzinsen schlägt mithin über Arbitrageprozesse auch auf die langfristigen Zinssätze und die Aktienkurse durch. Normalerweise ist also damit zu rechnen, dass die Zinsen durch Arbitrageprozesse gleiche Entwicklungstendenzen aufweisen (siehe Abbildung IV.1.3). In diesem Zusammenhang sind allerdings zwei wichtige Sachverhalte erklärungsbedürftig: Zum einen schwanken die Geldmarktzinsen in der Regel stärker und zum anderen sind sie meist niedriger als die Kapitalmarktzinsen (siehe auch Abbildung IV.1.4). Die größere Schwankungsbreite der Zinssätze im kurzfristigen Bereich ergibt sich aufgrund der am Geldmarkt ansetzenden zentralbankpolitischen Maßnahmen, die verzögert und damit sich abschwächend auf die Kapitalmärkte durchwirken. Wären Geldmarktanlagen und Kapitalmarktanlagen perfekte Substitute, würde ein Geldbetrag, beispielsweise für fünf Jahre angelegt, den gleichen Ertrag abwerfen wie eine jährlich wiederkehrende Anlage dieses Geldbetrages. In diesem Falle müssten über den Gesamtzeitraum die durchschnittlichen Zinssätze übereinstimmen. Betrüge beispielsweise im Ausgangsjahr der kurzfristige Zins 3 % und würden die Wirtschaftssubjekte in den folgenden vier Jahren 108 Zu Einzelheiten siehe Kapitel III.3. <?page no="276"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 277 einen kontinuierlichen Anstieg um jährlich 0,5 %-Punkte auf 5 % erwarten, müsste nach dieser sogenannten Erwartungstheorie der Zinsstruktur der langfristige Zins 4 % betragen. 109 Durch die Durchschnittsbildung sind die langfristigen Zinsen weniger volatil als die kurzfristigen. Bezogen auf das Ausgangsjahr bedeutet dies auch, dass bei einem erwarteten Anstieg der kurzfristigen Zinsen der langfristige Zins höher als der kurzfristige Zins (4 % gegenüber 3 %) ist. Bei der Erwartung sinkender Geldmarktzinsen liegen nach dieser Theorie die Kapitalmarktzinsen unter dem Niveau der aktuellen Geldmarktzinsen. Mit der Erwartungstheorie sind zwar die in der Realität beobachtbaren gleichgerichteten Entwicklungstendenzen der kurz- und langfristigen Zinsen sowie deren unterschiedliche Schwankungen, nicht aber das Phänomen vereinbar, dass die langfristi- 109 Zur genaueren formalen Herleitung siehe Box III.2.6. Abbildung IV.1.3: Zinsen in der EWU 0 1 2 3 4 5 6 7 8 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 Einlagezins EURIBOR EONIA Kreditzins Hauptrefinanzierungssatz Rendite 10-jähriger Staatsanleihen Quelle: EZB. Anmerkungen: Einlagezins: Zins für Einlagen mit vereinbarter Laufzeit bis zu einem Jahr (bis Ende 2002), ab 2003 Zins für Einlagen von privaten Haushalten mit vereinbarter Laufzeit bis zu einem Jahr (Neugeschäft). Kreditzins: Zins für Unternehmenskredite bis zu einem Jahr (bis Ende 2002), ab 2003 Zins für Kredite nichtfinanzieller Kapitalgesellschaften bis zu einem Jahr (Bestände). EU- RIBOR: 3-Monatssatz. Rendite: bis Ende 2007 Rendite 10-jähriger Staatsanleihen; ab 2008 Kassazinssätze für Anleihen mit AAA-Rating von Zentralstaaten der EWU. Hauptrefinanzierungssatz: von Januar 1999 bis Juni 2000 und ab Oktober 2008 einheitlicher Zuteilungssatz beim Mengentender, von Juli 2002 bis September 2008 Mindestbietungssatz beim Zinstender. TRANSMISSION <?page no="277"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 278 gen Zinssätze normalerweise über den kurzfristigen liegen. Unterstellt man, dass keine institutionellen Barrieren wie Marktsegmentierungen 110 zwischen den finanziellen Teilmärkten die Arbitrageprozesse hemmen, ist für das Erklärungsdefizit der Erwartungstheorie maßgeblich die Annahme verantwortlich, Anlagen verschiedener Fristigkeit seien perfekte Substitute. Tatsächlich bestehen jedoch erhebliche Unterschiede. Kurzfristige Anlagen können vergleichsweise problemlos und ohne Kursrisiken in Liquidität umgewandelt werden. Bei langfristigen Anlagen besteht zwar auch die Möglichkeit der Liquidisierbarkeit. Jedoch wachsen mit zunehmender Fristigkeit der Anlage die Kursrisiken. Hohe Liquidität und geringe Kursrisiken kurzfristiger Anlagen werden mit niedrigen Zinsen „bestraft“. Risikofreude und Liquiditätsverzicht bei langfristigen Anlagen werden mit einer Zinsprämie „belohnt“ (Liquiditätsprämientheorie). Zur Erklärung der „normalen“ Zinsstruktur ist die Erwartungstheorie daher um einen laufzeitabhängigen Risikozuschlag zu erweitern. Durch diese Modifikation entfällt freilich nicht die für die Geldpolitik wichtige Information der Erwartungstheorie, dass langfristige Zinsen wesentlich von den Erwartungen der Finanzmärkte über die zukünftigen kurzfristigen Zinsen und damit über den Kurs der Geldpolitik beeinflusst werden. Zu einem der aktuellen Geldmarktzinsentwicklung entsprechenden Verlauf des Kapitalmarktzinssatzes kommt es allerdings dann nicht, wenn die Entwicklung bei den längerfristigen Zinsen durch andere Einflüsse überlagert wird. Zu denken ist hier vor allem an den Einfluss des Auslands und der Inflationserwartungen. So kann etwa gerade das Hochschleusen des Tagesgeldmarktsatzes als ein entschlossener Schritt einer - glaubwürdigen - Zentralbank zur langfristigen Sicherung des Geldwertes angesehen werden. Dieser führt über einen Rückgang der Inflationserwartungen zu sinkenden Zinsen im längerfristigen Bereich, da bei den Anlegern die Bereitschaft steigt, Mittel längerfristig anzulegen. Während nach den oben skizzierten erwartungstheoretischen Überlegungen die langfristigen Zinsen den kurzfristigen tendenziell folgen würden, wird in diesem Falle die Zinsentwicklung durch die von der Zentralbankpolitik ausgelöste Änderung der Inflationserwartung ins Gegenteil verkehrt. 111 Das Ergebnis ist im Extremfall eine sog. inverse Zinsstruktur, bei der die kurzfristigen Zinssätze über den langfristigen liegen, wie dies beispielsweise in Deutschland in den Jahren 1991 bis 1993 und in der EWU 2008 der Fall war (siehe Abbildung IV.1.4). Aufwertungserwartungen, die nicht zwangsläufig durch das Verhalten der wirtschaftspolitischen Instanzen im Inland begründet sein müssen, können zudem internationale Anleger zu einem Engagement am Kapitalmarkt bewegen und so entgegen den „normalen“ Erwartungen auf die Zinssätze am langen Ende drücken. Da die längerfristigen Bankkredite über die Refinanzierungskonditionen eng mit der Rentenmarktentwicklung verbunden sind, schlägt die Verfassung des Rentenmarktes auch auf 110 Diese werden von der sogenannten Marktsegmentationstheorie betont. Zu denken ist etwa an schwerpunktmäßige Anlageaktivitäten institutioneller Anleger wie Banken und Lebensversicherungen im kurzbzw. langfristigen Bereich. Bei dem breiten Spektrum der Geschäftstätigkeit von Universalbanken ist der Übergang zwischen den finanziellen Teilmärkten jedoch fließend. 111 Erwartungstheoretisch könnte dies aber auch so interpretiert werden, dass wegen der als erfolgreich eingeschätzten Geldpolitik (wieder) mit sinkenden Geldmarktzinsen gerechnet wird. <?page no="278"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 279 die Zinssätze für längerfristige Bankkredite durch. (Zu den Bestimmungsgründen der langfristigen Zinssätze siehe Box IV.1.1). Werden entgegengerichtete Einflüsse am Kapitalmarkt nicht wirksam, kommt es gleichsam zu einer „normalen“ Reaktion des Kapitalmarktes. Ein Anziehen der Zinsen im längerfristigen Bereich führt dann dazu, dass die Nachfrage der Nichtbanken nach festverzinslichen Wertpapieren und ihre Geldkapitalbildung bei Kreditinstituten zunimmt, wodurch das Geldmengenwachstum gedämpft wird. Die Geldnachfrage der Nichtbanken geht zurück, da die Opportunitätskosten der Geldhaltung gestiegen sind. Als Reaktion auf die Erhöhung ihrer Refinanzierungskosten werden die Banken ihre Soll-Zinsen anheben. Höhere Kreditkosten aber dämpfen nach einiger Zeit die private Kreditnachfrage, was i. d. R. ebenfalls mit einer schwächeren Zunahme der Geldmenge verbunden ist. Die vorstehenden Ausführungen zeigen die „normalen“ Wege von kurzfristigen zu langfristigen Zinssätzen. Wie stark die Impulse sind und welche Verstärker gegebenenfalls hinzukommen, lässt sich nicht generell sagen. Empirischen Untersuchungen zufolge ist das Ausmaß der durch Geldmarktzinserhöhungen bewirkten Erhöhung der Kapitalmarktsätze im internationalen Vergleich sehr verschieden. Dies kann einerseits auf die unterschiedliche Glaubwürdigkeit von Zentralbanken zurückgeführt werden. Eine höhere Glaubwürdigkeit hinsichtlich ihrer Stabilitätspolitik wird üblicherweise mit geringeren In- Abbildung IV.1.4: Umlaufsrendite und Drei-Monats-Satz 0 2 4 6 8 10 12 14 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 Geldmarktsatz Umlaufsrendite Quelle: Deutsche Bundesbank, EZB. Anmerkungen: in %. Bis Ende 1998 3-Monats-Geldmarktsatz unter Banken in Deutschland und Umlaufsrendite festverzinslicher Wertpapiere deutscher Emittenten. Ab 1999 3-Monats-Euribor und Rendite 10-jähriger Staatsanleihen (siehe Anmerkungen zu Abb. IV.1.3). TRANSMISSION <?page no="279"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 280 flationserwartungen einhergehen. Andererseits korrelieren die Reaktionsunterschiede eng und positiv mit den zurückliegenden Inflationsraten. Dem entsprechend kann ein relativ starkes Nachziehen der Kapitalmarktzinsen als Niederschlag - erfahrungsbedingter - hoher Inflationserwartungen interpretiert werden. In einer an Inflation gewöhnten Umwelt kann die Zinserhöhung der Zentralbank als Signal befürchteter Inflationsbeschleunigung verstanden werden, während in einer relativ preisstabilen Umwelt durch diese Maßnahme solche Ängste nicht geschürt werden. Diese Erfahrungen unterstreichen zugleich die Rolle der Glaubwürdigkeit von Zentralbanken für den Transmissionsprozess. Box IV.1.1: Determinanten des langfristigen Nominalzinssatzes Die Nominalzinsen werden wie andere Preise durch Angebot und Nachfrage und deren Bestimmungsfaktoren bestimmt. Der Markt, um den es hier geht, ist der Markt für Finanzierungsmittel oder vereinfacht der Wertpapiermarkt. Da Kurse und Zinsen invers zusammenhängen, d. h., steigende Kurse bedeuten sinkende Zinsen, erklärt dieser Ansatz mit den Preisen (Kursen) der Papiere auch die Zinsen. Er wird als „Loanable-Funds-Theorie“ bezeichnet. Das Angebot an Wertpapieren entspricht dabei einer Nachfrage nach Finanzierungsmitteln („demand for loanable funds“), die Nachfrage nach Wertpapieren einem Angebot an Finanzierungsmitteln („supply of loanable funds“). Im Folgenden sollen drei wichtige Determinanten der langfristigen Zinsen vorgestellt werden. Die langfristigen Zinsen hängen zunächst eng mit der erwarteten Preisentwicklung zusammen. Wird mit einer steigenden Inflationsrate gerechnet, geht die Nachfrage nach Wertpapieren zurück, da der erwartete Realzins sinkt. Auf der anderen Seite erhöht sich das Wertpapierangebot, da die erwarteten realen Finanzierungskosten sinken. Insgesamt sinken somit die Wertpapierkurse, und die Zinsen steigen an (siehe z. B. Abbildung IV.1.5). Als weiterer Einflussfaktor auf den langfristigen Zins fungiert die Geldpolitik. Allerdings erfolgt die Beeinflussung des langfristigen Zinses nur indirekt über Arbitrageprozesse, die von den geldpolitischen Veränderungen der kurzfristigen Zinsen angestoßen werden. Die Geldpolitik ist aber selbstverständlich auch ein entscheidender Bestimmungsfaktor der erwarteten Inflation. Darüber hinaus übt die konjunkturelle Situation einen Einfluss auf den langfristigen Zins aus. In rezessiven Phasen ist die Rentabilität von Investitionen gering. Dementsprechend wird auch die Nachfrage nach langfristigen Finanzierungsmitteln (Angebot an Wertpapieren) niedrig sein. Es dürfte aber auch die Nachfrage nach Wertpapieren aufgrund der verschlechterten Einkommenssituation zurückgehen. Insgesamt ist damit der Einfluss auf den Zins nicht eindeutig, er hängt vom relativen Ausmaß der Nachfrage- und Angebotsänderungen ab. In Deutschland und in vielen anderen Ländern ist eher ein positiver Zusammenhang, d. h. ein Sinken des Kapitalmarktzinses im Verlauf der Rezession, festzustellen (siehe Abbildung IV.1.6). Wenn aufgrund irgendwelcher „exogener“ Faktoren die Angebots- und Nachfragekonstellationen beeinflusst werden (z. B. durch eine zunehmende öffentliche Verschuldung oder ein Auslandsengagement auf den inländischen Finanzmärkten), sind damit ebenfalls Zinsbewegungen am langen Ende verbunden. <?page no="280"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 281 Abbildung IV.1.5: Inflation und lang fristiger Zins in OECD-Ländern (1994 - 2012) Quelle: OECD, eigene Berechnungen. Anmerkungen: Umlaufsrendite öffentlicher Anleihen. Bei den dargestellten 24 Ländern handelt es sich um Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Mexiko, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, Südkorea, USA. Abbildung IV.1.6: Lang fristzins und Konjunktur in Deutschland 0 2 4 6 8 10 12 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 Quelle: Deutsche Bundesbank, eigene Berechnungen. Anmerkungen: Die grauen Säulen geben Rezessionsphasen an. Langfristzins gemessen anhand der Umlaufsrendite festverzinslicher Wertpapiere. TRANSMISSION <?page no="281"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 282 Der monetäre Transmissionsprozess bleibt aber keineswegs auf die finanzielle Sphäre beschränkt. Gleichsam als Gegenstück findet er seinen Niederschlag im realen Sektor. Dabei spielt die Fristigkeit der Verschuldung des privaten und öffentlichen Sektors eine wichtige Rolle. Bei verstärkter kurzfristiger Verschuldung sind die Auswirkungen der Geldpolitik auf die Realwirtschaft größer. Der „realwirtschaftliche“ Teil des monetären Transmissionsprozesses beschreibt somit, wie ein geldpolitischer Impuls auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage (z. B. die Investitionstätigkeit oder den Konsum) und die Produktionsentwicklung (BIP-Entwicklung) wirkt. Im Folgenden werden verschiedene „Kanäle“ beschrieben, durch die monetäre Impulse die wirtschaftliche Aktivität beeinflussen. Wenn dies für einzelne Kanäle zunächst isoliert geschieht, soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, dass keine Verknüpfungen zwischen diesen bestünden. Alle Kanäle sind potenziell vorhanden und laufen simultan, wenn auch nicht synchron, ab. Während zunächst theoretische Überlegungen im Vordergrund stehen, erfolgt im Anschluss eine Erörterung spezieller EWU-Gesichtspunkte. 1.2 Zins- und Wechselkurskanal Wenn die Zentralbank über eine Veränderung der Geldmarktzinsen auf die wirtschaftliche Aktivität einwirken will, baut sie auf transmissionstheoretischen Überlegungen auf, bei denen sich zwei Hauptwirkungsstränge unterscheiden lassen: Der eine Wirkungsstrang betrifft die direkten Zinswirkungen (Kapitalkosteneffekt), die von der geldpolitisch bewirkten Zinsänderung ausgehen. Der zweite, komplexere Wirkungsstrang umfasst die indirekten Wirkungszusammenhänge, die schlagwortartig als Substitutions-, Einkommens- und Vermögenseffekte bezeichnet werden. Neben diesen binnenwirtschaftlichen direkten und indirekten Zinswirkungen, die der Zinskanal beschreibt, zeigt der Wechselkurskanal die wechselkursbedingten Reaktionen im Gefolge geldpolitisch ausgelöster Zinsänderungen. 1.2.1 Finanzierungskosten (Kapitalkosteneffekt) 112 Wenn die Zentralbank die Geldmarktzinsen und dadurch die Refinanzierungskosten der Geschäftsbanken anhebt, werden diese schließlich auch die nominalen Kreditzinsen erhöhen. Steigende Kreditzinsen führen zu einem geringeren Wachstum der Kredite und damit zu einem Nachlassen der kreditfinanzierten Nachfrage (bei Investitionen und langlebigen Konsumgütern sowie im Wohnungsbau). 113 Mit der geringeren Kreditvergabe wird auch das Geldmengenwachstum gebremst. 112 Den folgenden Ausführungen liegt der - vorherrschende - Fall der Kreditfinanzierung zugrunde. Die Ausführungen gelten sinngemäß ebenso im Falle der Eigenfinanzierung. Bei der Eigenfinanzierung von Investition und Konsum sind statt der Finanzierungskosten allerdings die Opportunitätskosten, die durch Verzicht auf eine Finanzanlage der Eigenmittel entstehen, anzusetzen. 113 Empirische Untersuchungen zeigen, dass Änderungen der Geldmarktzinsen durch die Zentralbank auf kurz- und langfristige Kreditzinsen der Geschäftsbanken gleichgerichtet durchwirken, <?page no="282"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 283 Im Falle einer Senkung der Geldmarktzinsen und damit schließlich der Finanzierungskosten der Nichtbanken sind expansive Ausgabenwirkungen zu erwarten. Allerdings könnte bei einem bereits sehr niedrigen Zinsniveau eine weitere Zinssenkung von anderen Investitionsdeterminanten wie die (erwartete) Nachfrage- und Gewinnentwicklung derart dominiert werden, dass keine Investitionsbelebung eintritt. (Die IS-Kurve würde im unteren Zinsbereich vertikal abknicken.) Eine zinsabhängige Nachfrageexpansion entfällt auch dann, wenn die Geldmarktzinsen nicht (weiter) gesenkt werden können (Liquiditätsfalle, siehe Box IV.1.2). Dies gilt spätestens dann, wenn die Nominalzinsen bereits Null sind, wie dies in vielen Ländern seit einigen Jahren der Fall ist (siehe Abb. IV.1.7a). Kritik an der dominierenden Transmissionsvorstellung geldpolitischer Beeinflussung der Geldmarktzinsen wird in jüngerer Zeit auch mit Verweis auf den sogenannten Kostenkanal geübt: Eine geldpolitisch bedingte Zinsanhebung erhöht die Kapitalkosten und führt darüber zu Preissteigerungen. Es könnte sogar sein, dass der preisdämpfende Nachfrageeffekt durch den angebotsseitigen Kosten-Preis-Effekt überkompensiert wird. Eine restriktive Geldpolitik hätte bei Existenz des Kostenkanals eine dämpfende Wirkung auf die Produktion, würde aber zugleich Preissteigerungen in Gang setzen. Die Schwierigkeiten einer makroökonomischen Stabilisierung sind offenkundig. Bislang besteht jedoch weder Einigkeit über die Relevanz des Kostenkanals für die Transmission monetärer Impulse noch über die Bedingungen für dessen Existenz. Während nach Tillmann (2006) der Kostenkanal in Großbritannien, in den USA sowie im Euroraum signifikant zur Inflationserklärung beiträgt, stellen Kaufmann und Scharler (2006) fest, dass der Kostenkanal im Gegensatz zu geldpolitisch ausgelösten Nachfragewirkungen nur eine begrenzte Rolle für die Produktions- und Preisentwicklung spielt. Box IV.1.2: Die Liquiditätsfalle Ab Mitte der 90er Jahre durchlief die japanische Volkswirtschaft eine beispiellose Schwächephase, deren Nachwirkungen nach wie vor nicht vollständig überwunden sind. Während dieser Zeit traten Deflation und kurzfristige Zinsen von Null auf; viele der ergriffenen Stabilisierungsmaßnahmen blieben ohne Erfolg. Dies hat die Aufmerksamkeit vieler Ökonomen auf zwei zusammenhängende, lange Zeit unbeachtete Analysekonzepte gelenkt, nämlich die Untergrenze von Null der Nominalzinsen und die sog. Liquiditätsfalle. wobei allerdings die Elastizität (Verhältnis der prozentualen Änderungen von Kreditzinsen zu Geldmarktzinsen) generell kleiner als Eins ist und zudem mit zunehmender Fristigkeit abnimmt. Weiterhin werden Erhöhungen von Geldmarktzinsen tendenziell stärker in den Kreditzinsen weitergegeben als Senkungen der Geldmarktzinsen. (Zu den Befunden für Mitgliedsländer der EWU siehe Mojon, 2000, 10 sowie EZB, 2001c, 22 - 24). Hieran hat sich auch in neuerer Zeit - selbst während der Finanzkrise 2007 / 2009 - nichts Wesentliches geändert (EZB, 2009d, 101 ff.). TRANSMISSION <?page no="283"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 284 Abbildung IV.1.7a: Zinsentwicklung in den USA, der EWU und Japan 0.0 1.0 2.0 3.0 4.0 5.0 6.0 7.0 0.0 1.0 2.0 3.0 4.0 5.0 6.0 7.0 1999 1999 1999 2000 2000 2000 2001 2001 2001 2002 2002 2002 2003 2003 2003 2004 2004 2004 2005 2005 2005 2006 2006 2006 2007 2007 2007 2008 2008 2008 2009 2009 2009 2010 2010 2010 2011 2011 2011 2012 2012 2012 2013 2013 2013 0.0 1.0 2.0 3.0 4.0 5.0 0.0 1.0 2.0 3.0 4.0 5.0 0.0 1.0 0.0 1.0 Quelle: EZB, Fed, Bank of Japan. <?page no="284"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 285 Abb. IV.1.7a zeigt die Notenbankzinssätze von Fed, EZB und BoJ im Zeitraum 1999 - 2013. Innerhalb der letzten zehn Jahre wurden zwei Mal Rekordtiefstände erreicht. Zunächst senkten Fed und EZB im Jahr 2003 ihre Sätze auf 1 % bzw. 2 %, um nach dem Platzen der Dotcom-Blase eine deflationäre Entwicklung wie in Japan zu vermeiden, wo die BoJ nach der ausdrücklichen Nullzins-Politik von 1999 / 00 in den Jahren 2001 bis 2005 durch eine Politik des Quantitative Easing weiterhin Geldmarktzinsen von nahe Null herbeiführte. Nach der Zuspitzung der Finanzkrise im Herbst 2008 senkten Fed und EZB die Notenbankzinssätze sogar noch stärker und für einen bis jetzt anhaltenden längeren Zeitraum erneut ab, die EZB auf zuletzt 0,75 % (bei 0 % Einlagenzinssatz), die Fed auf einen Zielkorridor von 0 bis 0,25 % und die BoJ auf einen von 0 bis 0,1 %. Damit befindet sich nun auch die Geldpolitik der Fed an der Nulluntergrenze der Nominalzinsen, und die EZB ist nicht mehr allzu weit davon entfernt. Eine Liquiditätsfalle liegt dann vor, wenn die Zinsen so niedrig sind, dass die Anleger indifferent zwischen dem Halten von festverzinslichen Wertpapieren und dem Halten von Geld werden. Unter normalen Umständen führen ein Überangebot auf dem Geldmarkt und die korrespondierende Wertpapierübernachfrage dazu, dass der Wertpapierkurs steigt und der Zins sinkt. Diese Zinssenkungen erhöhen die zinsabhängige Güternachfrage, wie z. B. die Investitionsnachfrage. Sind die Nominalzinsen jedoch bereits Null, bindet also die Nulluntergrenze der Nominalzinsen, so sind weitere Zinssenkungen nicht mehr möglich. Damit ist einer der zentralen makroökonomischen Anpassungsmechanismen der Ökonomie unterbrochen, und es gehen die Fähigkeit der Volkswirtschaft zur Selbststabilisierung und die Fähigkeit der Geldpolitik zur Stimulierung der Ökonomie verloren. Die wichtigsten Aspekte der Liquiditätsfalle lassen sich bereits in einem leicht modifizierten IS-LM-Modell gut illustrieren, in dem zwischen Real- und Nominalzins unterschieden wird. Die Geldnachfrage hängt vom Nominalzins, die Güternachfrage aber vom Realzins ab. Der Zusammenhang zwischen beiden Zinssätzen wird durch die (Näherungsversion der) Fisher-Gleichung (siehe Box III.2.5) abgebildet, d. h. der Realzins r und der Nominalzins i unterscheiden sich gerade um die erwartete Inflationsrate  erw , r = i -  erw . In einem Nominalzins-Volkseinkommen-Diagramm ist die erwartete Inflationsrate ein zusätzlicher Lageparameter der IS-Kurve. Eine höhere erwartete Inflation verschiebt die IS-Kurve nach oben rechts. Geht man von einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht A ohne Inflation mit dem Vollbeschäftigungseinkommen Y * aus, so gelangt man durch einen ausreichend starken Nachfragerückgang in eine Unterbeschäftigungssituation B mit einem Nominalzinssatz von Null. Ausgangssituation und Nachfragerückgang sind in Teil a) von Abb. IV.1.7b dargestellt. Im Normalfall käme es nach einem Nachfrageeinbruch zu sinkenden Preisen, steigender realer Geldmenge, Zinssenkung und Nachfrageexpansion, und somit wieder zu einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht. Teil b) von Abb. IV.1.7b zeigt, dass Probleme auftreten, sobald für das neue Gleichgewicht ein negativer Gleichgewichtsrealzins erforderlich ist, dieser sich aber nicht einstellen kann, weil die Inflationserwartung weiterhin gleich Null ist und der Nominalzins nicht unter Null absinken kann. Damit verhindert die Liquiditätsfalle die Selbststabilisierung. Die zentrale Rolle des Realzinses in diesem Anpassungsproblem erklärt auch die alternative Bezeichnung „Realzinsfalle“ für eine solche Situation. TRANSMISSION <?page no="285"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 286 Abbildung IV.1.7b: Liquiditätsfalle LM 0 i Y IS 1 IS 0 Y * 0 A B ZLB LM 0 i Y IS 1 IS 0 Y * LM 1 r * 0 B LM ( > 0) i Y IS 1 IS ( e > 0) Y * 0 r * i * e e C a) Nachfragerückgang und Unterbeschäftigung b) Realzinsfalle c) Vollbeschäftigungsgleichgewicht bei Inflation Expansive Geldpolitik kann in dieser Situation den Nominalzins nicht unter Null senken. Expansive Fiskalpolitik dagegen führt zu einer Nachfragesteigerung und damit in Richtung Vollbeschäftigung; sie tut dies allerdings nur so lange, wie tatsächlich höhere Staatsausgaben getätigt werden. Hat die Liquiditätsfalle längere Zeit Bestand, führen die laufenden Budgetdefizite zu einer nicht durchhaltbaren Erhöhung der Staatsverschuldung, sodass auch die Fiskalpolitik keine dauerhafte Lösung bietet. Eine weitere Möglichkeit, der Liquiditätsfalle zu entkommen, wäre, für eine Abwertung der inländischen Währung zu sorgen. Dann würde eine Stimulierung der Auslandsnachfrage für den nötigen nachfrageseitigen Impuls sorgen. Der Geldpolitik steht allerdings noch eine unkonventionelle Strategie zur Verfügung, um die Volkswirtschaft aus der Liquiditätsfalle zu „befreien“: Sie kann für positive Inflationserwartungen sorgen, und damit Realzinsen ermöglichen, die unter dem Nominalzins liegen (Krugman, 1998). Teil c) von Abb. IV.1.7b zeigt die nachfragesteigernde Wirkung einer solchen Maßnahme. Aufgrund der erwarteten Inflation liegt der Realzins so weit unter dem Nominalzins, dass ausreichend Nachfrage induziert wird, um zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht C zu gelangen. Dabei hängt die Lage der LM-Kurve deshalb von der Inflationsrate ab, weil in einer inflationären Ökonomie die Höhe der realen Geldmenge von der Höhe der Inflationsrate abhängt. Inflationserwartungen entstehen allerdings nur dann, wenn es glaubhaft ist, dass es zu Inflation kommen wird. Dies ist am ehesten dann der Fall, wenn sich die Zentralbank explizit auf ein Inflationsziel mit einer ausreichend hohen Untergrenze für die Inflationsrate festlegt. Anfang 2013 hat sich die Bank of Japan auf ein positives Inflationsziel in Höhe von 2 % festgelegt und sich damit der von EZB und Fed verfolgten Politik angenähert. Einige Stimmen, z. B. Blanchard et al. (2010) geben aber zu bedenken, dass eine stabilitätsförderliche Inflationsrate 4 % betragen könnte. Box erstellt von Christoph Knoppik (Universität Regensburg). 1.2.2 Substitutionseffekte Bei den indirekten Wirkungsmechanismen stehen traditionell die Substitutionseffekte im Mittelpunkt. Sie spielen im Rahmen portfoliotheoretischer Vorstellungen eine wichtige Rolle. Entsprechend dem Rationalkalkül wird davon ausgegangen, dass Banken <?page no="286"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 287 und Nichtbanken eine rendite-risiko-gesteuerte Zusammensetzung ihres aus Finanz- und Sachaktiva bestehenden Vermögens anstreben. Ermöglichen Umschichtungen zwischen einzelnen Aktiva keine Ertrags-Risiko-Verbesserung des Gesamtvermögens mehr, liegt ein optimales Portefeuille vor. Wenn z. B. im Gefolge restriktiver geldpolitischer Maßnahmen der Notenbank die kurzfristigen Zinsen steigen und damit das Verhältnis der Ertragsraten sich ändert, werden die Geschäftsbanken zur Wiederherstellung des Portfoliogleichgewichts (bei gegebenem Risiko) langfristige Wertpapiere verkaufen. Dieses verstärkte Wertpapierangebot wiederum führt über sinkende Wertpapierkurse zu steigenden Kapitalmarktzinsen. Die Nichtbanken werden als Folge der Zinssteigerung eine Umschichtung der finanziellen Mittel hin zu längerfristigen Anlagen (Geldkapital, festverzinsliche Wertpapiere) vornehmen. Diese Umschichtung wird auch das Sachkapital betreffen, das angesichts der Renditesteigerung bei langfristigen Finanzanlagen weniger attraktiv ist. Für die Haushalte hat die Zinserhöhung letztlich eine rückläufige Nachfrage beispielsweise nach Eigentumswohnungen und nach (langlebigen) Konsumgütern wie etwa Möbel und Autos zur Folge. Für Unternehmen gewinnen Finanzanlagen bei steigenden Zinsen gegenüber Investitionen in Sachkapital relativ an Attraktivität, was die Investitionsgüternachfrage dämpft. 1.2.3 Einkommens- und Vermögenseffekte Zu einem Einkommenseffekt (auch „Cash-Flow-Effekt“ genannt) kommt es über eine Umverteilung der Zahlungsströme, da sich die Zinseinnahmen der Gläubiger und die Zinsausgaben der Schuldner verändern. 114 Auch wenn der Saldo aus Zinseinnahmen und Zinsausgaben gleich Null ist, ergeben sich gesamtwirtschaftliche Nachfragewirkungen. Damit ist deshalb zu rechnen, weil bei den Schuldnern von einer höheren Ausgabenneigung auszugehen ist als bei den Gläubigern. Im Zuge von Zinserhöhungen werden daher von diesem Einkommenseffekt dämpfende Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ausgehen. Bei Zinssenkungen ergeben sich dagegen die Nachfrage belebende Effekte. Außer den Nachfragewirkungen steigender Kreditzinsen, zinsbedingter Vermögensumschichtungen und Einkommensumverteilungen, die schließlich auch die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern erfassen, ergeben sich noch Vermögenseffekte, die aus der Änderung der Vermögenswerte resultieren. 115 Geldpolitisch ausgelöste Zinssteigerungen führen über Substitutionsprozesse schließlich zu Kursverlusten bei finanziellen Aktiva (festverzinsliche Wertpapiere, Aktien). Wenn geldpolitisch bedingt die Zinsen am Rentenmarkt anziehen, werden die Kurse von festverzinslichen Wertpapieren, die mit niedrigeren Nominalzinsen ausgestattet waren, fallen. Bei attraktiverer An- 114 In Bezug auf bereits laufende Verträge gilt dies selbstverständlich nur, wenn die Zinsbindung ausläuft, d. h. eine Zinsanpassung ansteht. 115 Die Nachfragewirkungen dieser Effekte sind allerdings daran gebunden, ob sie als transitorisch oder als permanent interpretiert werden. Im Sinne von Milton Friedmans permanenter Einkommenshypothese sind nur als dauerhaft angesehene Einkommens- und Vermögensänderungen entscheidungsrelevant. TRANSMISSION <?page no="287"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 288 lage in höher verzinslichen Anleihen sinkt zudem die Nachfrage nach Aktien, wodurch auch hier Kursrückgänge ausgelöst werden. 116 Es ist also mit gegenläufiger Entwicklung der Zinsen und Aktienkurse zu rechnen (siehe Abbildung IV.1.8). Diese Vermögensverluste dämpfen die konsumtive und die investive Nachfrage. Die nachfragesenkenden Effekte strahlen auch auf die Preise für vorhandenes und neu zu schaffendes Sachvermögen wie etwa Immobilien aus. Wenn expansive geldpolitische Impulse zur Erhöhung von Wertpapierkursen und Immobilienpreisen führen, werden von den erhöhten Vermögenspreisen Nachfragesteigerungen im realen Sektor ausgehen, 117 die wiederum zu erhöhter Kreditnachfrage führen und somit auf die monetären Bedingungen zurückwirken. Diese wechselseitigen Verstärkungen werden umso größer sein je bedeutender Vermögenswerte als Sicherheiten bei der Kreditvergabe sind. 118 Sousa (2009) findet für Euroland, dass (i) financial wealth effects are relatively large and statistically significant; (ii) housing wealth effects are virtually nil and not significant; (iii) consumption growth exhibits strong persistence and responds sluggishly to shocks; and (iv) the immediate response of consumption to wealth is substantially different from the long-run wealth effects. Looking at the composition of financial wealth, the estimates suggest that wealth effects are particularly large for currency and deposits, and shares and mutual funds. In addition, consumption seems to be very responsive to financial liabilities and mortgage loans. Eine besondere Art geldpolitisch ausgelöster Vermögenseffekte betrifft die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern. Da langlebige Konsumgüter (z. B. PKW’s und Haushaltseinrichtungen) im Falle eines kurzfristigen Liquiditätsbedarfs nur mit (erheblichen) Verlusten in Liquidität umgewandelt werden können, wird bei der Befürchtung zunehmender Liquiditätsengpässe die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern sinken. 119 Die Befürchtung von Liquiditätsengpässen und dadurch möglicherweise erforderliche Notverkäufe von langlebigen Konsumgütern wird allerdings umso niedriger 116 Der Zusammenhang zwischen der Zins- und Aktienkursentwicklung lässt sich auch folgendermaßen erklären: Der Aktienkurs kann als abgezinster Wert zukünftiger Dividendenzahlungen betrachtet werden. Diese Erträge werden bei steigendem Zinssatz entsprechend höher abgezinst. Der Gegenwartswert, also der Aktienkurs, sinkt. Analoges gilt für den Gegenwartswert eines Unternehmens. 117 Untersuchungen des IWF (2001) ergaben statistisch signifikante Vermögenseffekte der Aktienkursentwicklung für Konsum und Investition. Allerdings bestehen bemerkenswerte Bedeutungsunterschiede zwischen verschiedenen Ländergruppen: Eine Erhöhung (Verringerung) des Aktienkursniveaus um einen $ führt für den Durchschnitt der Ländergruppe Kanada, USA und Vereinigtes Königreich zu einer Erhöhung (Verringerung) des Konsums und der Investitionen um jeweils fünf Cents. Für den Durchschnitt der Ländergruppe Deutschland, Frankreich und Niederlande beträgt die Nachfragereaktion nur jeweils einen Cent (IMF, 2001, 62, 65). Bedenkt man die vergleichsweise geringe Bedeutung des Aktienvermögens etwa in Deutschland gegenüber den USA, sind diese unterschiedlichen Befunde nicht überraschend. 118 Mit besonderem Bezug zur diesbezüglichen Bedeutung der Immobilienpreisentwicklung siehe Goodhart / Hofmann (2007, 20 - 23) und Greiber / Setzer (2007, 3 - 7). 119 Nach den empirischen Untersuchungen Mishkins (1978) spielten diese Zusammenhänge eine wichtige Rolle für die Schärfe der Weltwirtschaftskrise (1929 - 1933) in den USA. Jaccard (2011) zeigt, dass dies auch für die jüngste schwere Rezession gilt. (Jaccard, I. (2011), Liquidity cons- <?page no="288"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 289 sein, je höher das Netto-Vermögen ist. Da eine expansive Geldpolitik zu einer Erhöhung dieser Vermögenswerte (von festverzinslichen Wertpapieren, Aktien) führt, sinkt die Gefahr der Illiquidität, sodass die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern - und eventuell auch nach Immobilien - steigt. Abbildung IV.1.8: Zinsentwicklung und Aktienmarkt 12,000 8,000 4,000 3,200 2,400 2,000 1,600 1,200 800 400 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12 Umlaufsrendite (li. Skala) DAX (re. Skala) 0 2 4 6 8 10 12 Quelle: Deutsche Bundesbank. Anmerkungen: DAX-Performanceindex in Punkten, logarithmische Skala; Umlaufsrendite festverzinslicher Wertpapiere in Deutschland in %. Die zuletzt erörterten Transmissionsmechanismen stehen in enger Beziehung zu investitionstheoretischen Hypothesen, wie sie in Tobin’s q sowie zu konsumtheoretischen Hypothesen, wie sie in Modiglianis Lebenszyklus-Hypothese zum Ausdruck kommen. Mit Tobin’s q (siehe Box IV.1.3) lässt sich eine Verknüpfung zwischen Geldpolitik und Investitionstätigkeit über die den Unternehmenswert reflektierenden Aktienkurse herstellen. Die Größe q ist der Quotient aus dem Marktwert des Unternehmens und den Wiederbeschaffungskosten der physischen Kapitalgüter dieses Unternehmens. Ein hoher Marktwert relativ zu den Wiederbeschaffungskosten bedeutet, dass der Erwerb von neuem Sachkapital relativ billig ist. Bei hohen Aktienkursen können sich nämlich die Unternehmen über Aktienemissionen relativ günstig finanzielle Mittel besorgen, um neue Investitionsgüter zu finanzieren. Bei niedrigem q , also relativ zu den Kosten neuen Sachkapitals niedrigen Aktienkursen, unterbleiben hingegen Neuinvestitionen, traints, risk premia, and the macroeconomic effects of liquidity shocks, ECB Working Paper Series No. 1525, March) TRANSMISSION <?page no="289"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 290 da der Erwerb von vorhandenem Sachkapital (also die Übernahme eines bestehenden Unternehmens) relativ günstiger ist. Eine expansive Geldpolitik führt im Zuge des monetären Transmissionsprozesses zu einer Umstrukturierung des Portfolios, die sich - bei gegebenen Risiken - schließlich auch in einer verstärkten Nachfrage nach Aktien niederschlägt. Die hierdurch veränderte Relation der Vermögenswerte von bestehendem zu neu zu schaffendem Sachkapital löst die beschriebene Belebung der Nachfrage nach Sachkapital aus. 120 Box IV.1.3: Tobin’s q Die Übertragung monetärer Impulse in den güterwirtschaftlichen Bereich erfolgt nach James Tobin durch die Veränderung der Relation ( q ) zweier Ertragsraten bzw. der zugehörigen Kapitalwerte. Die Variable q ist definiert als Verhältnis des Marktwertes eines Unternehmens ( MWU ) zu den Wiederbeschaffungskosten des Sachkapitals ( WBK ) dieses Unternehmens. q = MWU WBK Solange der Marktwert höher ist als die Wiederbeschaffungskosten ( q > 1), lohnt sich die Neu-Investition. Bei q < 1 unterbleiben Neuinvestitionen, und via Abschreibungen ist mit einer Verringerung des Kapitalstocks zu rechnen. Mit Wiederbeschaffungskosten (Reproduktionskosten) ist der Preis gemeint, der für die Beschaffung des physischen Kapitals eines Unternehmens (Betriebsgelände, Maschinenpark, sonstige Anlagen) zu zahlen wäre. Der Marktwert entspricht dem Gegenwartswert der erwarteten Unternehmenserträge. Anstatt der beiden Vermögenswerte könnten auch Ertragsraten gegenübergestellt werden. Die erwartete Ertragsrate wäre dann mit einer Rendite zu vergleichen, die bei einer alternativen Anlage der Mittel am Kapitalmarkt erzielt worden wäre. Zum empirischen Test dieser Investitionshypothese wird für die Erfassung der Wiederbeschaffungskosten auf den Preisindex für Erzeugnisse des Investitionsgüter produzierenden Gewerbes ( InvP − Ind ) zurückgegriffen. Als Maß der Unternehmenswerte dient die Entwicklung des Aktienkursindex’ ( Ak − Ind ). q = Ak - Ind InvP - Ind Dem Rückgriffauf die Aktienkurse liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich der Gegenwartswert der erwarteten Erträge in den Kursen niederschlägt und mithin eine durch Kursanstieg bewirkte Erhöhung von q steigende Investitionen erwarten lässt. Zumindest auf kurze Sicht ist hier jedoch Vorsicht geboten. Die in steigenden Kursen zum Ausdruck kommenden Ertragserwartungen der Anleger müssen sich nicht mit denen der Unternehmensleitungen decken. Letztere sind jedoch nur investitionsrelevant. 120 Behr / Bellgart (2002) finden anhand von Daten von über 2300 Unternehmen, dass das Investitionsverhalten deutscher Unternehmen im Zeitraum von 1988 - 1998 in signifikantem Ausmaß durch die q-Theorie erklärt werden kann. <?page no="290"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 291 Ähnliche Überlegungen gelten für die konsumtive Nachfrage. Nach der Lebenszyklus- Hypothese (Box IV.1.4) ist der Konsum nicht vom aktuellen Einkommen abhängig, sondern die finanziellen Möglichkeiten über die gesamte Lebenszeit hinweg bestimmen den (relativ gleichmäßigen) Strom konsumtiver Ausgaben (Konsumglättungsmotiv). Da zu den finanziellen Möglichkeiten auch das Finanzvermögen und hierunter auch das Aktienvermögen zählt, hat eine expansive Geldpolitik nach dieser Theorie via Aktienkursanstieg nachfragebelebende Effekte beim Konsum. Box IV.1.4: Lebenszyklus-Hypothese Die Lebenszyklus-Hypothese geht davon aus, dass rational handelnde Individuen ihren Konsum nicht einfach am aktuellen Einkommen ausrichten, sondern dass sie ihr Lebenseinkommen relativ gleichmäßig auf die gesamte Lebenszeit verteilen. Sieht man von ererbtem oder zu vererbendem Vermögen ab, bedeutet dies, dass das Lebenseinkommen (einschließlich der Zinseinkommen aus Ersparnis) dem Lebenszeitkonsum entspricht C · Lj = Y · Lj bzw. C = Y Der jahresdurchschnittliche Konsum ( C ) multipliziert mit den Lebensjahren ( Lj ) ergibt den Lebenszeitkonsum, das durchschnittliche jährliche Einkommen ( Y ) multipliziert mit den Lebensjahren ( Lj ) das Lebenszeiteinkommen. Bei - angestrebtem - gleichmäßigem Konsum werden die Individuen Teile ihres während der Erwerbsphase erzielten Einkommens zur Rückzahlung von vor der Erwerbsphase aufgenommenen Krediten (z. B. Studenten-Bafög) verwenden sowie zur Vorsorge für das Rentenalter sparen, damit auch in dieser Phase der Konsumstandard aufrechterhalten werden kann. Wird das Lebenszeiteinkommen durch die Zahl der Lebensjahre dividiert, erhält man die durchschnittliche jährliche Konsumsumme. Entsprechend den Einkommensschwankungen in den einzelnen Lebensperioden ergeben sich altersspezifische Konsumquoten. Haben die Individuen ein Anfangsvermögen, das nicht auf eigener Arbeitsleistung beruht, schlagen sie einen höheren Konsumpfad ein (Vermögenseffekt). Dieser Anstieg entspricht dem auf die (verbleibende) Lebenszeit verteilten Vermögen zuzüglich der aus diesen Vermögensanlagen fließenden Zinserträge. Hinsichtlich der realen Wirkungen ist allerdings - wie bei allen anderen Transmissionskanälen auch - insoweit Vorsicht am Platze, als die positiven Produktionswirkungen einer expansiven Geldpolitik zwar kurzfristig gelten mögen, langfristig jedoch, d. h. nach Ablauf von Anpassungsprozessen, davon auszugehen ist, dass über die Geldpolitik nicht die Produktion, sondern nur die Preisentwicklung bestimmt wird. Das Produktionspotenzial wird von der Quantität und Qualität der Produktionsfaktoren bestimmt. Durch „Geld“ und mithin durch Geldpolitik können die monetären Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Ausschöpfung der Produktionsmöglichkeiten nicht an finanziellen Engpässen scheitert. Die realwirtschaftlichen Bedingungen selbst vermag die Geldpolitik nicht zu gestalten (Geldneutralität). TRANSMISSION <?page no="291"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 292 1.2.4 Wechselkurseffekte Die Interdependenz geldpolitisch ausgelöster Transmissionsprozesse wird sehr deutlich bei den Wechselkurswirkungen (Wechselkurskanal). Zinserhöhungen führen nämlich über induzierte Kapitalbewegungen tendenziell zu einer Aufwertung, Zinssenkungen zu einer Abwertung der heimischen Währung. 121 Durch solche Wechselkurseffekte, die schon durch erwartete geldpolitische Änderungen ausgelöst werden können, verändern sich die Preise handelbarer Güter: Bei einer Aufwertung werden Exporte teurer und Importe billiger. Die im Inland wirksam werdende Nachfrage schwächt sich ab, was letztlich zu Lasten der heimischen Produktion geht. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass eine Aufwertung der heimischen Währung über sinkende Importpreise die inländische Preisentwicklung dämpft. Schließlich kann es auch zu wechselkursbedingten Einkommens- und Vermögenseffekten kommen. Nachfragedämpfende Wirkungen erwachsen im Falle einer Aufwertung der heimischen Währung und bei Vorliegen einer Netto-Gläubigerposition gegenüber dem Ausland einmal daraus, dass aus ausländischen Vermögensanlagen fließende Einkommensströme (z. B. Zinszahlungen, Dividenden) sich in inländischer Währung vermindern. Zum anderen sinken - in inländischer Währung gerechnet - die Vermögenswerte der in ausländischer Währung gehaltenen Aktiva. Die eine restriktive Geldpolitik unterstützenden Wechselkurseffekte gelten analog für eine expansive Geldpolitik. Sowohl die Zinswirkungen der Notenbankpolitik wie auch die Wechselkurswirkungen können allerdings durch gegenläufige Zins- und Wechselkurserwartungen überlagert werden, die die Notenbankpolitik durchkreuzende Kapitalbewegungen auslösen. Wenn geldpolitisch ausgelöste Zinserhöhungen als Ausdruck zunehmender Inflationsbefürchtungen der Notenbank verstanden werden und man der Zentralbank nicht zutraut, die Inflationsgefahren in den Griffzu bekommen, kann dies zu Abwertungserwartungen führen, die durch Kapitalabflüsse bestätigt werden. Die abwertungsbedingte Begünstigung von Exporten und Hemmung von Importen steht dann der geldpolitisch beabsichtigten Nachfragedämpfung entgegen. Zusätzlich zu solchen Erwartungen können auch aus anderen Gründen gegenläufige Wirkungen entstehen. So kann die geldpolitisch erzeugte Nachfrageexpansion einen höheren transaktionsbedingten Geldbedarf hervorrufen, der seinerseits der vorangegangenen Zinssenkung entgegenwirkt. Eine expansive Geldpolitik kann aber auch in zinstreibende Inflationserwartungen einmünden. Der geldpolitisch beabsichtigten Zinssenkung steht am langen Ende möglicherweise sogar eine Zinserhöhung gegenüber. Vorsicht gegenüber „sicheren“ Zusammenhängen ist auch aus internationaler Perspektive angebracht. Gerade Erfahrungen mit internationalen Finanztransaktionen in den letzten Jahren lehren, dass es zu spekulativen, realwirtschaftlich möglicherweise nicht begründbaren Übertreibungen an den internationalen Finanzmärkten kommen kann. Man denke etwa an die großen Kapitalabflüsse aus Griechenland während der Staatsschuldenkrise, die zeitweilig zu massiven, geldpolitisch nicht verursachten Zinssteigerungen führte. 121 Sicher sind solche Effekte freilich nicht. Sollte eine Zinssenkung günstige Wachstumserwartungen auslösen, so könnte dies zu wachstumsinduzierten Kapitalbewegungen führen. Die Zinssenkung ginge dann mit einer Aufwertung einher. <?page no="292"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 293 Aber auch der Weg von den monetären zu den realen Größen ist mit Unsicherheiten behaftet. Empirisch können einzelne Effekte oder Teilschritte des Transmissionsweges vielfach nicht nachgezeichnet oder wegen des geringen Gewichts und interdependenter Zusammenhänge nicht identifiziert werden. Man ist deshalb auf die generelle Kontrolle des Zusammenhangs zwischen nahe bei den Impulsgrößen (Zentralbankgeld, Tagesgeldsatz) angesiedelten Variablen einerseits und den Endzielgrößen andererseits angewiesen. Immerhin scheint für die EWU die Wirkung langfristiger Zinssätze, die ihrerseits wiederum in statistisch zuverlässiger Beziehung zu kurzfristigen Sätzen stehen, auf die Investitionsaktivitäten als signifikant eingestuft werden zu können. 122 Für den privaten Konsum (in Deutschland und der EWU) spielen dagegen Zinsen nur eine untergeordnete Rolle (Angeloni et al., 2003a). Allerdings ist unklar, ob sich durch die EWU der Effekt der Geldpolitik auf die Produktion und Inflation verändert hat (EZB, 2010a, 95 ff.). Wenn geldpolitisch bewirkte Erhöhungen der kurzfristigen Zinsen relativ schwache gleichgerichtete Änderungen bei den Kapitalmarktzinsen auslösen, braucht dies nicht im Sinne geringer Wirkung interpretiert zu werden. Dies kann vielmehr Niederschlag hohen Vertrauens in die Stabilitätspolitik der Zentralbank sein, sodass ein Zinsaufschlag für Inflationserwartungen unterbleibt. Auch sind bei hoher Glaubwürdigkeit (und Transparenz) der Zentralbank für das Erreichen bestimmter Wirkungen geringere Zinsschritte erforderlich. Diese Zusammenhänge verdeutlichen den hohen Stellenwert, den eine konsequente stabilitätsorientierte Geldpolitik des Eurosystems für dessen Glaubwürdigkeit und Reputation und darüber auch für die Wirksamkeit der Geldpolitik selbst hat. 1.3 Kreditkanal Neben den bislang erörterten traditionellen monetären Übertragungswegen gibt es als relativ neuen Ansatz den Kreditkanal (credit channel), der die besondere Rolle der Kreditvergabe der Geschäftsbanken im Transmissionsprozess herausstellt. 123 Er bezieht sich auf restriktive geldpolitische Maßnahmen. Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass im Gefolge restriktiver Geldpolitik die realen Wirkungen (z. B. Rückgang der Investitionen) häufig stärker ausfallen als aufgrund einer nur mäßigen Veränderung der Notenbank- und Marktzinsen zu erwarten wäre. Als allgemeine Ursache für diesen „finanziellen Akzelerator“ (Bernanke et al., 1994) lassen sich informationsbedingte Kreditangebotsbeschränkungen ausmachen, die in eine Kreditselektion zu Lasten be- 122 So erwiesen sich die Kapitalnutzungskosten, auf die die Marktzinsen maßgeblichen Einfluss haben, für die größten EWU-Länder (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien) als von signifikanter Bedeutung für die Investitionstätigkeit (Chatelain et al., 2003a, 144 f.; Angeloni et al., 2003a). 123 Nach Bernanke / Gertler (1995, 28) ist der Kreditkanal kein eigenständiger Wirkungsmechanismus, der parallel zu oder unabhängig von den traditionellen monetären Transmissionsmechanismen auftritt. Letztere würden vielmehr verstärkt. TRANSMISSION <?page no="293"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 294 stimmter Kreditnehmer oder sogar Kreditrationierung einmünden. Bei der Analyse des Kreditkanals wurden zwei sich in ihren Wirkungsmechanismen unterscheidende, im Ergebnis aber sehr ähnliche Teilkonzepte entwickelt: Bankenkanal und Bilanzkanal. 1.3.1 Bankenkanal (Bank Lending Channel) Unter Bank Lending Channel werden in der Literatur zwei Sachverhalte diskutiert. Zunächst einmal das Kreditangebotsverhalten der Banken als Reaktion auf geldpolitische Impulse. So wird von kleinen Banken mit geringer Liquidität bzw. Kapitalausstattung bei restriktiver Geldpolitik eine stärkere Kreditangebotsverknappung vermutet als von Großbanken mit hoher Liquidität bzw. Kapitalausstattung. Ein anderer, damit möglicherweise einhergehender Transmissionsweg des Bankenkanals besteht in selektivem Verhalten der Banken gegenüber bestimmten Kreditnachfragern. Viele potenzielle Schuldner (Unternehmen wie auch Haushalte) sind auf Banken als Kreditgeber angewiesen. Geht das Kreditvolumen der Banken im Zuge einer Zinserhöhung durch die Zentralbank zurück, schlägt sich dies mangels anderweitiger Verschuldungsmöglichkeiten in sinkenden Konsum- und Investitionsausgaben nieder. Außer privaten Haushalten auf der einen Seite sind auf der Unternehmensseite vor allem kleine und mittlere Unternehmen betroffen, da ihnen Aktien- und Wertpapieremissionen als alternative Finanzierungsquellen zur Kreditfinanzierung (bisher) weithin verschlossen sind. Das Kreditangebotsverhalten der Geschäftsbanken als Reaktion auf veränderte Notenbankzinsen wird weiterhin noch dadurch geprägt, dass erfahrungsgemäß bei Zinserhöhungen der Anteil stärker risikobehafteter Kredite am gesamten Kreditvolumen steigt, weil hoch profitable, aber zugleich sehr riskante Investitionsprojekte zunehmen und wenig profitable, aber solide Investitionsprojekte zurückgestellt werden. Für die Geschäftsbanken kann es daher vorteilhaft sein, auf mögliche Zinserhöhungen in gewissem Umfang zu verzichten und stattdessen die Kreditmenge zu beschränken. 124 Anhand Abbildung IV.1.9 sollen die Zusammenhänge vereinfacht dargestellt werden: Ausgehend von einer Gleichgewichtssituation am Kreditmarkt ( K 1 , i 1 ) möge eine restriktive Geldpolitik schließlich zu einer Einschränkung des Kreditangebots der Banken führen ( K 1 S → K 2 S ). Bei voll- 124 Eine Variante des Bankenkanals, den sog. Bankenkapitalkanal, diskutiert Altunbas et al. (2004). Er wirkt über die Existenz von Eigenkapitalrichtlinien und sonstigen Regulierungen, die zu einer vorsichtigen Geschäftspolitik Anlass geben. Abbildung IV.1.9: Kreditangebot und Kreditnachfrage i 1 i 2 i K K D i 2 K 2 K 2 K 1 K S 2 K S 1 <?page no="294"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 295 kommenem Kreditmarkt wäre die neue Gleichgewichtssituation ( K 2 , i 2 ). Statt dessen rationieren die Geschäftsbanken aber ihr Kreditangebot (beispielsweise) auf K 2    zum Zinssatz i 2    , wovon vornehmlich der Konsum der Haushalte und die Investitionen kleiner und mittlerer Firmen betroffen sind, da Großunternehmen eher auf den Kapitalmarkt ausweichen können. Dieses Bankenverhalten kann damit erklärt werden, dass sie bei höheren Kreditzinsen und - im Vergleich zu K 2    - höherem Kreditvolumen ( i 2 , K 2 ) zunehmende Risiken befürchten und deshalb die Kreditausfallkosten größer werden könnten als die höheren Erträge aus dem sich ausweitenden Kreditgeschäft. Die Befürchtung zunehmender Risiken kann im moral hazard (siehe Box IV.1.5) wie auch in adverser Selektion (siehe Box IV.1.6) begründet sein. Moral Hazard kann sich ergeben, weil für Kreditnehmer bei höheren Kreditzinsen ein Anreiz besteht, riskante Projekte in Angriffzu nehmen und dies gegenüber dem Kreditgeber zu verschleiern. Grundsätzlich sind die Kreditnehmer besser über die Risiken ihrer Investitionsprojekte und über ihre eigenen Charakteristika informiert als die Kreditgeber. Diese asymmetrische Information können die Banken (wenn überhaupt) nur mittels hoher Informationskosten beseitigen. Da mit steigendem Kreditzins das „waghalsige“ Verhalten zunimmt, erhöhen sich zwar möglicherweise die Gewinnaussichten der Investoren, zugleich aber auch die Risiken und damit die Kreditausfallrisiken der Banken. Die Banken werden in einer derartigen Situation äußerst vorsichtig mit der Kreditvergabe sein. Box IV.1.5: Moral Hazard Grundsätzlich führt das wettbewerbsgesteuerte Preissystem auch bei Risiken und Unsicherheit (durch Einschaltung von Versicherungsmärkten) zu einer optimalen Faktorallokation. Neben den versicherbaren echten Risiken, die auf unkontrollierbare äußere Einflüsse zurückgehen, gibt es aber noch das „moralische Wagnis“ (moral hazard). Dieses Wagnis entsteht, weil die Versicherungsnehmer die Anspruchsvoraussetzungen bewusst herbeiführen oder ungenügende bis keine Anstrengungen zur Schadensbegrenzung vornehmen. Da die Versicherung aus Gründen mangelnder Information bzw. zu hoher Informationskosten die beiden Schadensursachen (echte und moralische) nicht voneinander trennen kann, besteht für die Versicherungsnehmer kaum ein Risiko, den Versicherungsanspruch zu verlieren. Die Existenz der Versicherung kann daher einen Anreiz zu unvorsichtigem Handeln auslösen, was zu entsprechend höheren Versicherungsprämien führt, wodurch wiederum der Anreiz zur Inanspruchnahme erhöht wird. Das Problem des moral hazard lässt sich verallgemeinern für Situationen, in denen mangels Informationen und Kontrollmöglichkeiten Risiken auf Andere abgewälzt werden. So ermuntert eine Krankenpflichtversicherung schon durch ihre Existenz zur Inanspruchnahme. Hierbei wird die Mentalität des „Wiederhereinholens“ von Beitragsleistungen umso stärker ausgeprägt sein, je höher die Beiträge sind. Auch für die Kreditvergabe von Banken gilt, dass das „moralische Wagnis“ um so größer ist, je geringer die Wahrscheinlichkeit der Kontrolle ist, mit der das Fehlverhalten von Kreditnehmern entdeckt wird. Da die Installation eines perfekten Kontrollsystems an prohibitiv hohen Kosten scheitert, entstehen Verhaltensspielräume, die im Sinne des TRANSMISSION <?page no="295"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 296 des moral hazard kostentreibend genutzt werden. Wegen der begrenzten Überwachungsmöglichkeiten der Kreditverwendung eines Kreditnehmers können bei geldpolitisch bedingten Zinssteigerungen den Banken zusätzliche Kosten durch verstärkten moral hazard erwachsen. Mit steigenden Kreditzinsen nehmen Finanzierungsanträge für waghalsige Projekte zu. Diese Projekte könnten zwar hohe Gewinne abwerfen - die Kreditfinanzierung wäre dann kein Problem -, sie bergen aber zugleich hohe Risiken des Scheiterns in sich. Wegen der hohen Kreditausfallrisiken kann es für die Banken deshalb profitabler sein, das Kreditvolumen unter das am Markt mögliche zu begrenzen. Während „moral hazard“ die Kreditverwendung betrifft, spielt sich das Problem der „adverse selection“ gewissermaßen im Vorfeld bei der Zusammensetzung der Kreditnehmer ab. Kreditnachfrager mit leichtfertigen Projekten werden versuchen, Kredite „um jeden Preis“ zu bekommen, wohl wissend und kalkulierend, dass sie im Extremfall den Kredit nicht zurückzahlen können. Auf der anderen Seite werden Kreditnehmer mit „soliden“ Projekten nicht bereit sein, den höheren Zins, der der durchschnittlichen Kreditqualität entspricht, zu zahlen und deshalb als Nachfrager ausscheiden. Es käme also eine negative Auswahl in zweierlei Hinsicht zustande: Der Anteil der „schlechten“ Risiken nähme zu, der der „guten“ Risiken ginge zurück. Um diese unerwünschten Konsequenzen zu vermeiden, können die Banken auf die am Markt möglichen Zinserhöhungen verzichten und stattdessen eine Krediteinschränkung vornehmen. Es sind also letztlich - von der Geldpolitik unabhängige - Marktunvollkommenheiten (hier eine asymmetrische Informationsverteilung zwischen Banken und Kreditnehmern), die dazu führen, dass die Höhe der Zinsen nicht das einzige Selektionskriterium bildet. Box IV.1.6: Adverse Selektion Adverse Selektion (Negativauslese) tritt bei asymmetrisch verteilter Information auf. Das generelle Problem lässt sich am anschaulichsten für den Versicherungsmarkt darstellen. Oft kennen die Versicherungsnehmer die möglichen Risiken besser als die Versicherer. Wenn eine Versicherung (z. B. eine Krankenversicherung) eine allgemeine Vollversicherung mit versicherungsmathematisch korrekt kalkulierten Prämien anbietet, wird sie ein schlechtes Geschäft machen. Sie kann diese Prämien wegen der asymmetrischen Informationsverteilung nämlich nur auf Durchschnittskostenbasis bzw. bei durchschnittlichem Risiko berechnen. Diese Versicherung wird folglich überproportional von Personen mit hohem Risiko erworben, während die „guten“ Risiken nur unterproportional als Nachfrager auftreten. Da die Versicherung bei Vertragsabschluss die unterschiedlichen Risiken nur unzureichend abschätzen kann, wird sie in ihrem Versicherungsbestand überproportional häufig „schlechte“ Risiken haben. Erhöht sie deshalb die Prämien, scheiden noch mehr „gute“ Risiken als Nachfrager aus. Die unzureichende Kenntnis von Risiken und ihrer Verteilung führt zu einer negativen Auslese mit der Folge, dass es Personen gibt, die sich auf dem Versicherungsmarkt versichern möchten, es aber - zu marktgerechten Preisen - nicht können (suboptimale Allokation). <?page no="296"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 297 Solche Fehlallokationen aufgrund von Informationsmängeln gibt es auch auf anderen Märkten. Bei steigenden Zinsen ziehen sich „gute Risiken“ als Kreditnachfrager zurück. Die negative Selektion kann noch dadurch verschärft werden, dass der Zinsanstieg den kostentreibenden „moral hazard“ (siehe Box IV.1.4) verstärkt. Durch den höheren Anteil „schlechter Risiken“ kann der bei größerem Kreditvolumen höhere Ertrag durch die Kreditausfallkosten überkompensiert werden. Entscheidend für das restriktive Kreditangebotsverhalten der Banken im Sinne des Bankenkanals sind Informationsasymmetrien. Diese Asymmetrien wachsen mit der Höhe der Informationskosten für die Evaluierung der Investitionsprojekte und Überwachung des Verhaltens der Kreditnehmer. Informationskostenintensive Firmen werden am ehesten von der Kreditvergabe ausgeschlossen. Informationskostenintensiv sind vor allem (kleine und mittlere) Firmen, die nur über geringe Eigenmittel verfügen und / oder sich noch nicht erfolgreich am Markt etabliert haben und für die kein externes Rating vorliegt. Vergleichsweise wenig informationskostenintensiv sind (große) Firmen mit solider Eigenkapitalbasis und anhaltenden Markterfolgen. 1.3.2 Bilanzkanal (Balance Sheet Channel) Der Balance Sheet Channel hebt die Beeinflussung des Unternehmenswertes und anderer Kreditsicherheiten durch die Zinserhöhungen der Notenbanken hervor. Wenn eine restriktive Geldpolitik zu steigenden Zinsen und in deren Gefolge zu sinkenden Kursen von Rentenpapieren und Aktien sowie infolge erhöhter Zinszahlungen zu einem sinkenden Cash flow führt, vermindert sich die Basis für die Besicherung von Krediten bei - wegen des gesunkenen Cash flow - zugleich erhöhtem Kreditbedarf. Die „normalen“ Zinswirkungen werden also durch ihren Einfluss auf die Kreditsicherheiten verstärkt. Im Falle einer scharfen Restriktionspolitik, die sogar ein sinkendes Preisniveau zur Folge hätte, käme es zu einem Anstieg der realen Schuldenlast und einem Sinken von Sachvermögenswerten zugleich. Da die Banken sich mit dem gesunkenen realen Reinvermögen einem geringeren Wert ihrer Sicherheiten und außerdem zu deren Ermittlung zunehmenden Informations- und Kontrollkosten gegenübersehen, werden sie eine Fremdfinanzierungsprämie in Form eines Zuschlags bei den Zinsen verlangen oder die Kreditvergabe rationieren. Auch vom Bilanzkanal dürften kleine und mittlere Firmen sowie private Haushalte vorzugsweise betroffen sein. Da ihre Finanzausstattung ohnedies häufig ungünstiger ist als die von Großunternehmen, würden die Verschlechterungen der Bonität diese in der Form höherer Kreditzinsen oder Kreditrationierung besonders treffen. TRANSMISSION <?page no="297"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 298 Die restriktive Geldpolitik würde zu einer Verringerung des Kreditangebots ( K 1 S → K 2 S ) und des Kreditvolumens ( K 1 → K 2 ) bei i 2 führen. Mit der Fixierung des niedrigeren Zinssatzes i 2    durch die Banken wird eine Kreditrationierung bewirkt, die dazu führt, dass Konsumgüterkäufe teilweise unterbleiben und auch eigentlich rentable Investitionen nicht durchgeführt werden. Mithin würde sich die Kreditnachfrage (gezwungenermaßen) an das niedrigere Kreditangebot anpassen ( K 1 D → K 2 D ), sodass der ursprünglich durch Rationierung bedingte Nachfrageüberhang bei i 2    verschwindet und ein Rationierungsgleichgewicht entsteht ( K 2 D , K 2 S , i 2    ). Im IS / LM-Modell wäre die restriktive Geldpolitik ( LM 0 → LM 1 ) durch Existenz des Kreditkanals schließlich von einer Verlagerung der IS-Kurve ( IS 0 → IS 1 ) begleitet, da die Güternachfrage von der Kreditverfügbarkeit abhängt (Abbildung IV.1.11). 125 Die Zinswirkungen fallen schwächer ( i 2 im Vergleich zu i 1 ), die Einkommenswirkungen stärker ( Y 2 im Vergleich zu Y 1 ) aus. 1.3.3 Reichweite des Kreditkanals Insgesamt sind die empirischen Befunde zum Kreditkanal uneinheitlich. 126 Auf der Basis sehr umfangreicher Datensätze finden Chatelain et al. (2003a, 151, 161) für die vier größten Länder des Euroraums (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien) lediglich im Falle Italiens eine größere Bedeutung des cash flow für das Investitionsverhalten kleiner Unternehmen, was im Sinne des Bilanzkanals interpretiert werden kann. Für die übrigen Länder stellen sie keine 125 Abbildung IV.1.11 gilt gleichermaßen für Bilanz- und Bankenkanal. 126 Während auf disaggregierten Daten basierende Untersuchungen in der Lage sind, Marktunvollkommenheiten als Ursachen des Kreditkanals zu verdeutlichen, ist dies bei aggregierten Daten - und damit auch der Nachweis der Existenz des Kreditkanals - weitaus schwieriger. Siehe hierzu Kakes (2000, 27 - 30). Abbildung IV.1.10: Kreditrationierung und Kreditnachfrage i 1 i 2 i K K D 1 K D 2 i 2 K 2 K 2 K 1 K S 2 K S 1 Abbildung IV.1.11: Geldpolitik und Kreditkanal i 0 i 1 i Y IS 0 IS 1 i 2 Y 2 Y 1 Y 0 LM 1 LM 0 <?page no="298"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 299 signifikanten Transmissionsunterschiede in Bezug auf kleine und große Unternehmen fest. Durch die Möglichkeit der Verbriefung von Bankkrediten sowie einen verstärkten Rückgriffauf andere Finanzierungsquellen als Einlagen, etwa Anleihen, können sich Banken zusätzliche Mittel beschaffen. Außerdem besteht die Möglichkeit, Risiken über Derivate, aus der Bilanz auszugliedern, wodurch die Kreditbereitstellung durch eine Lockerung von Eigenkapitalrestriktionen weiter vereinfacht wird. Folglich verringert sich die Wirksamkeit des Bankkreditkanals unter normalen Umständen tendenziell. Für die Zeit bis 2007 lässt sich dies im Eurogebiet auch belegen. Wie sich an der letzten Finanzkrise ablesen lässt, besteht aber dadurch das Risiko, dass sich die Funktion von Verbriefungen als Dämpfer gegen Schocks für die Bankkreditvergabe bei Problemen an den Finanzmärkten ins Gegenteil verkehrt. So deutet etliches darauf hin, dass sich Störungen beim Zugang der Banken zur Finanzierung über die Finanzmärkte und bei ihren Liquiditätspositionen, negativ auf die Bankkreditvergabe auswirken (EZB, 2010a, 100). Auch die Eigenkapitalausstattung, der sog. Bankkapitalkanal, spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. So zeigt die Krisenphase ebenfalls, dass Banken mit niedrigem Eigenkapital weniger Kredite gewähren, wenn das BIP-Wachstum geringer ausfällt. Besondere Probleme für das Eurosystem könnten sich daraus ergeben, dass die Bedeutung des Kreditkanals von institutionellen Faktoren abhängt, die in den Mitgliedsländern der EU unterschiedlich sind. 127 Die mehr oder weniger enge Verbindung zwischen Bank und Bankkunde könnte ein derartiger Faktor sein. Dessen Ausprägung ist von maßgeblicher Bedeutung für das Ausmaß von „moral hazard“ und „adverser Selektion“. So werden z. B. für Deutschland wegen des vorherrschenden Hausbankprinzips und aufgrund langjähriger Verbindungen keine gravierenden Informationsprobleme für Banken vermutet. Zudem sind in Deutschland im internationalen Vergleich die Besicherungsmöglichkeiten von Banken sehr hoch, die Risiken bei der Kreditvergabe also vergleichsweise gering. 128 Langjährige Geschäftsverbindungen und hohe Beleihungsmöglichkeiten gelten allerdings im Allgemeinen nicht für Existenzgründer, was die in der Öffentlichkeit häufig beklagte „Zurückhaltung“ der Geschäftsbanken bei der Kreditvergabe an diese Firmen zu erklären vermag. Ein indirekter Beleg für diesen Zusammenhang kann auch in den vielfältigen staatlichen Förderprogrammen für Existenzgründer gesehen werden. 127 Neyer (2007) hat jüngst alternativ zu institutionellen Deutungsmustern darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit des Kreditkanals (auch) davon abhängt, welche Gruppe von Kreditnachfragern besonders betroffen ist. A priori sei nicht sicher, ob eher die Gruppe mit riskanten oder die mit sicheren Investitionsprojekten stärker durch die Zinsfestsetzung der Banken beeinträchtigt wird. Da dies offen ist, seien die widersprüchlichen Ergebnisse zur Bedeutung des Kreditkanals nicht erstaunlich. 128 Es ist naheliegend, dass diese Punkte nicht unabhängig voneinander sind. Der Anreiz zu engen Beziehungen zwischen Banken und Kreditnehmern wird durch „gute“ Besicherungsmöglichkeiten nicht unerheblich verstärkt. TRANSMISSION <?page no="299"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 300 Eine auch in Bezug auf die europäische Ebene wichtige institutionelle Relativierung des Hausbankprinzips hebt auf verschiedene Bankengruppen (in Deutschland) ab. Theoretische und empirische Anhaltspunkte sprechen dafür, dass das Hausbankprinzip und das damit einhergehende, restriktive geldpolitische Maßnahmen abpuffernde Kreditvergabeverhalten nicht für Großbanken, sondern (nur) für Sparkassen und Kreditgenossenschaften gilt (Küppers, 2000). Diese regional dezentralisierten kleinen Banken haben durch ihre flächendeckende Präsenz einerseits relativ zuverlässige Informationen über ihre meist aus kleineren und mittleren Unternehmen sowie unselbständigen Privatpersonen bestehenden Kreditnehmer. 129 Andererseits bestehen traditionell feste Bindungen zu vor allem risikoaversen Haushalten mit kleinen und mittleren Einkommen. Sie bilden als „stabile“ Einleger eine wichtige Refinanzierungsstütze dieser Banken, so dass das Durchschlagen restriktiver Geldpolitik in diesem und durch dieses Bankensegment abgeschwächt wird. Schließlich ist auch noch das Risikoabfederungspotenzial durch die gemeinsamen Dachorganisationen von Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken zu berücksichtigen (Ehrmann / Worms, 2004). Unterschiedliche bankenstrukturelle Bedingungen in Deutschland scheinen mithin dafür verantwortlich zu sein, dass die Ergebnisse US-amerikanischer Transmissions-Studien, die bei restriktiver Geldpolitik eine substanziell stärkere Verknappung des Kreditangebots kleinerer Banken und eine geringere Kreditvergabe an kleine Unternehmen aufzeigen, mit den Ergebnissen für Deutschland kontrastieren. Die teilweise widersprüchlichen empirischen Befunde zur Reichweite des Kreditkanals sind also auch darauf zurückzuführen, dass die Konzentration auf das Merkmal „Unternehmensgröße“ eine zu starke Vereinfachung ist. Diese - bereits von Chatelain et al. (2003a, 151) für den Euroraum geäußerte - Vermutung wird durch Untersuchungen von v. Kalckreuth (2003) für Deutschland nachhaltig unterstrichen. Danach begründet nicht (geringe) Größe, sondern (geringe) Kreditwürdigkeit eine Kreditrestriktion im Sinne des Kreditkanals. „Klein“ sei aber etwas völlig anderes als geringe Kreditwürdigkeit. Im Lichte dieser Befunde erscheinen auch verbreitete Befürchtungen überzogen, wonach eine höhere risikoabhängige Unterlegung von Krediten mit Eigenkapital mittelstandsfeindlich sei. Hierbei wird angenommen, dass Kredite an den Mittelstand mit höheren Risiken verbunden seien und diese wegen der Eigenkapitalunterlegung höheren Kosten von den Banken in den Kreditkonditionen weitergegeben werden. Bei restriktiver Geldpolitik würde diese Unternehmensgrößenklasse, die in nicht wenigen EWU-Mitgliedsländern von dominierender Bedeutung ist, mit besonderer Kreditverteuerung bzw. Kreditrestriktion zu rechnen haben. Wenn aber „Klein“ nicht systematisch mit geringer Kreditwürdigkeit einhergeht, kann ein unternehmensspezifisches Rating für kleinere und mittlere Unternehmen sogar vorteilhaft sein. (Zu den neuen Anforderungen nach Basel III siehe Box IV.1.7). 129 Dieser Informationsvorsprung kann zugleich als theoretische Erklärung für die flächendeckende Verbreitung dieser Bankengruppen angesehen werden (siehe hierzu etwa Vollmer, 2000). <?page no="300"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 301 Box IV.1.7: Basel III „Basel III“ wurde vom Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht Ende 2010 verabschiedet. Es wird auch als „Herz“ der Initiativen bezeichnet, die die G20 Staats- und Regierungschefs auf dem Pittsburgh-Gipfel 2009 als Reaktion auf die Finanzmarktkrise beschlossen haben. Ziel ist die Reduzierung der Anreize zur übermäßigen Risikonahme durch Banken und Schaffung eines widerstandsfähigeren Finanzsystems durch verschiedene Maßnahmen: 1. Stärkung der Qualität, Quantität und Transparenz des Eigenkapitals. Die Krise hatte gezeigt, dass die Marktteilnehmer dem bankaufsichtlichen Eigenkapitalbegriffnicht ausreichend vertrauten. Der Baseler Ausschuss hat das aufsichtliche Eigenkapital neu definiert mit einer neuen harten Kernkapitalquote von 4,5 %, einer Kernkapitalquote von 6,0 % und einer Mindestkapitalquote von 8,0 % der risikogewichteten Aktiva (RWA). Die Eigenkapitalquote setzt die Eigenkapitalausstattung ins Verhältnis zu den RWA (namentlich Kredit-, Markt- und operationelle Risiken) eines Instituts und begrenzt insofern die Fähigkeit eines Instituts, Risiken aufzunehmen. Kernkapital kann Verluste unter der Annahme der Unternehmensfortführung auffangen, da es quasi „bedingungslos“ dem Institut zur Verfügung steht. Ergänzungskapital ist von geringerer Qualität, da es nur im Falle der Unternehmensauflösung Verluste absorbieren soll. Ergänzt werden die Quoten um einen Kapitalerhaltungspuffer von 2,5 %, der ebenfalls mit hartem Kernkapital zu erfüllen ist. Die Eigenkapitalqualität wird zudem deutlich verbessert durch strengere Anerkennungskriterien für Kapitalinstrumente und schärfere Regeln für Abzugspositionen. Bankaufsichtlich vorgegebene Kapitalabzüge erfolgen vollständig vom harten Kernkapital. Je nach Rechtsform des Instituts (Aktiengesellschaft oder Nicht-Aktiengesellschaft) werden unterschiedliche Anforderungen an die Definition des Eigenkapitals gestellt. Bei Aktiengesellschaften darf das harte Kernkapital nur aus Aktien und offenen Rücklagen bestehen. Sonstige, qualitativ vergleichbare Instrumente sind zukünftig nur noch von Nicht-Aktiengesellschaften als hartes Kernkapital anrechenbar. Die stufenweise Einführung der neuen Kapitalquoten und Vertrauensschutzfristen für bestehende Instrumente lässt den Instituten Zeit für den Übergang bis zur Anwendung der neuen Regeln. 2. Strengere Kapitalanforderungen für risikoreiche Produkte und außerbilanzielle Geschäfte. Die Mindestkapitalanforderungen für Kontrahentenausfallrisikopositionen (CCR) bei Forderungen aus Derivatetransaktionen sowie aus Wertpapierpensions- und -leihegeschäften werden erhöht. Weiterhin soll Banken ein Anreiz zur Nutzung Zentraler Kontrahenten, z. B. Börsen, gegeben werden. Hierdurch wird die Anzahl der „Over the counter (OTC) „-Derivatetransaktionen vermindert und damit die Vernetzung der Institute untereinander gemindert, sodass die „Ansteckungsgefahr“ der Banken untereinander abnimmt. Außerdem wird die sog. „Asset value correlation“ (AVC) für Forderungen gegenüber großen Instituten mit einer Bilanzsumme von mehr als 100 Mrd. USD und gegenüber unregulierten Finanzintermediären (im Wesentlichen Hedgefonds) erhöht. Die AVC ist ein Maß dafür, wie stark die Verlustwahrscheinlichkeiten der einzelnen Adressen in einem Portfolio zusammenhängen. Die Erhöhung betrifft alle Banken, die den auf internen Ratings basierenden Ansatz (IRBA) anwenden und ist nicht nur auf den Bereich CCR beschränkt, sondern betrifft alle Forderungen gegenüber den genannten Kontrahenten. TRANSMISSION <?page no="301"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 302 3. Minderung der prozyklischen Wirkung von Basel II. Die Institute müssen erstens einen zusätzlichen Kapitalerhaltungspuffer über das geforderte Mindesteigenkapital hinaus vorhalten (s. o.). Zweitens kann unter Berücksichtigung der makroökonomischen Entwicklung ein antizyklischer Puffer in einer Bandbreite von 0 bis 2,5 % der RWA, der ebenfalls mit hartem Kernkapital zu erfüllen ist, festgesetzt werden. Drittens empfiehlt der Baseler Ausschuss den Rechnungslegungsgremien den Übergang zu einer stärker zukunftsorientierten Wertberichtigungsmethodik („forward looking provisioning“). 4. Ergänzung um eine Verschuldungskennziffer / Leverage Ratio. Sie dient als Untergrenze für die risikogewichtete Kapitalunterlegung mit dem Ziel, eine exzessive Verschuldung zu verhindern. Ab 2015 ist sie von den Instituten offenzulegen, und in 2017 wird der Baseler Ausschuss festlegen, ob sie ab 2018 verbindlich einzuhalten ist. Ein maximaler Verschuldungsgrad von 3 % des Kernkapitals ist derzeit als Startpunkt vorgesehen. 5. Bestimmung eines globalen Liquiditätsstandards. Die kurzfristige Liquiditätsdeckungskennziffer (Liquidity Coverage Ratio LCR) basiert auf einem akuten Stressfall, bei dem der über einen Monat kumulierte Nettozahlungsmittelabfluss mit qualitativ hochwertigen und liquiden Aktiva abgedeckt werden soll (Inkrafttreten ab 2015). Die zweite Mindestliquiditätskennziffer (Net Stable Funding Ratio NSFR) soll für den Einjahreshorizont eine stabile Refinanzierungsstruktur gewährleisten (Inkrafttreten 2018). In 2010 wurde zu beiden Kennziffern ein grobes Konzept veröffentlicht, das derzeit finalisiert wird. Flankiert werden diese zwei Standards von regelmäßigen aufsichtlichen Beobachtungskennziffern. 6. Aufsichtliche Behandlung von systemrelevanten Banken. Auf bauend auf den 2010er Empfehlungen des Finanzstabilitätsrats zu systemrelevanten Finanzinstituten (SIFIs) hat der Baseler Ausschuss im Oktober 2011 ein Rahmenwerk zur Sicherstellung einer höheren Verlustabsorptionsfähigkeit von global systemrelevanten Banken (G-SIBs) verabschiedet. Anhand von fünf Kriterien (Größe, globale Aktivität, Vernetztheit, fehlende Substituierbarkeit, Komplexität) wird aus einer Stichprobe der weltweit größten Banken (ca. 70 Institute) jährlich ein G-SIB Ranking erstellt. Abhängig vom Grad ihrer Systemrelevanz werden identifizierte G-SIBs jeweils einer von vier Klassen zugeordnet, welche mit Kapitalaufschlägen zwischen einem und 2,5 Prozentpunkten an zusätzlichem hartem Kernkapital belegt sind. Eine fünfte, derzeit leere Klasse mit einem Aufschlag von 3,5 % der RWA dient als Negativanreiz gegen eine weitere Ausweitung der systemischen Relevanz. Der G-SIB-Puffer tritt wie die anderen Kapitalpuffer zu Jahresbeginn 2019 vollständig in Kraft. Der Baseler Ausschuss hat für Basel III eine Anwendung ab Anfang 2013 vorgesehen, allerdings mit mittelfristigen Übergangsfristen, um negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft zu vermeiden. So laufen manche Vertrauensschutzmaßnahmen im Eigenkapitalbereich bis Ende 2022. Für Staaten, die später beginnen, verkürzt sich entsprechend die Übergangsfrist, da an den einzelnen Anwendungsdaten festzuhalten ist (z. B. 2015 für die LCR). Da der Baseler Ausschuss nicht zur Rechtsetzung befugt ist, spielt die moralische Selbstverpflichtung der Ausschussmitglieder eine große Rolle bei der Umsetzung. Sanften <?page no="302"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 303 Druck übt der Baseler Ausschuss allerdings im Auftrag der G20, deren Staats- und Regierungschefs sich ebenfalls 2010 zur konsistenten Umsetzung von Basel III verpflichtet haben, mittels des „Basel III Implementation Monitoring“ aus, da er regelmäßig überprüft und veröffentlicht, inwieweit die Mitgliedsländer den Baseler Standard zeitgerecht und konsistent umsetzen („name and shame“). Durch „Basel III Monitoring“ untersucht und veröffentlicht der Baseler Ausschuss zudem halbjährlich den Erfüllungsgrad von Basel III in Bezug auf Eigenkapital und Liquidität mittels quantitativer Auswirkungsstudien bei einer ausgewählten Bankenstichprobe. Auf EU-Ebene wird Basel III mittels der Capital Requirements Directive IV (CRD IV) und der Capital Requirements Regulation (CRR) rechtlich umgesetzt. Mit einer Veröffentlichung der endgültigen Rechtstexte im EU-Amtsblatt bis Ende Juni 2013 treten CRR / CRD IV zum 1. 1. 2014 in Kraft. Die CRR wird als EU-Verordnung für Deutschland unmittelbar anwendbar sein. Die Implementierung der CRD IV erfolgt durch Änderungen des Kreditwesengesetzes. Auch die Solvabilitätsverordnung und die Großkredit- und Millionenkreditverordnung werden aus diesem Anlass neu gefasst. Box erstellt von Karin Sagner-Kaiser (Deutsche Bundesbank). Auch wenn von einer zuverlässigen empirischen Fundierung des Kreditkanals und seiner Unterausprägungen nicht gesprochen werden kann, so sprechen neuere empirische Befunde (EZB, 2009c) doch dafür, dass der Kreditkanal im Euroraum in der Zeit der Finanzmarktkrise (2007 - 2009) an Bedeutung gewonnen hat. 1.4 Risikoneigungskanal (risk taking channel) Neben dem Zins- und dem Kreditkanal als Transmissionsmechanismen der Geldpolitik tritt in jüngerer Zeit noch ein dritter Wirkungsweg hinzu: der Risikoneigungskanal. Grundgedanke dieses Übertragungsweges ist, dass geldpolitische Maßnahmen der Zentralbank ihrerseits auf die Risikoeinschätzung der Banken und Nichtbanken einwirken. Hierdurch wiederum wird deren Risikoverhalten und damit auch das Anlage- und Kreditvergabeverhalten beeinflusst (siehe etwa Borio / Zhu, 2008 sowie EZB, 2009c). Wenn in Folge expansiver geldpolitischer Maßnahmen die Kurzfristzinsen deutlich Richtung Null sinken, wird die Risikoneigung (Risikobereitschaft) der Banken und Finanzinvestoren steigen. Dies kann dazu führen, dass nach profitableren Anlageformen gesucht wird („Jagd nach Rendite“). Da höhere Renditen in der Regel mit höheren Risiken einhergehen, steigt mit deren Einbeziehung ins Portfolio allgemein das Risikoniveau. In Phasen relativ starken wirtschaftlichen Wachstums sinkt im Allgemeinen die Risikoaversion. Diese Tendenz wird durch sinkende Kurzfristzinsen verstärkt. Führen diese Zinssenkungen zu einer (weiteren) Erhöhung der realwirtschaftlichen Aktivität, wird die Risikoaversion wiederum gedämpft, sodass wechselseitige Verstärkungseffekte entstehen. TRANSMISSION <?page no="303"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 304 Der zweite Strang des Risikoneigungskanals ist in einer riskanteren Kreditvergabepraxis der Banken zu sehen. Trotz intensiver Prüfung von Kreditanträgen privater Investoren sind Informationsasymmetrien bezüglich der tatsächlichen Rentabilität der Investitionsprojekte von privaten Investoren nicht gänzlich zu vermeiden. In Phasen niedriger Zinssätze und hoher Liquidität der Banken und dadurch höherer Risikobereitschaft werden die Banken „großzügiger“ Kredite vergeben, sodass die realwirtschaftliche Aktivität zusätzlich verstärkt wird. Diese Verstärkungen niedriger Zinssätze können wiederum durch Verbriefungstechniken erhöht werden. Nicht nur dass Banken via Verbriefung Kredite aus ihren Bilanzen ausgliedern und damit neue Kredite vergeben können, die Verbriefungsmöglichkeit dürfte auch die Prüfungsintensität bei der Kreditvergabe mindern, was wiederum zur Erhöhung des Kreditvolumens beiträgt. Durch die Möglichkeit der einfachen Besicherung der Kredite, sinken zudem die geforderten Risikoprämien. Wenn zusätzlich dann noch davon ausgegangen wird, dass im Ernstfall die Zentralbank oder die Regierungen helfend einspringen (Stichwort: too big to fail), werden vor allem die Banken zu einer riskanteren Geschäftspolitik bereit sein. Aufgrund neuer empirischer Befunde konstatiert die EZB (2009c, 83), dass in Phasen niedriger Kurzfristzinsen die Banken die Kreditvergabebedingungen lockern und damit bei ihren Ausleihungen de facto ein höheres Ausfallrisiko eingehen. Ebenfalls sei zu beobachten, dass die Wirkung niedriger Kurzfritzinsen durch das Engagement der Banken im Verbriefungsgeschäft verstärkt wird, und zwar unabhängig von möglichen Veränderungen der Sicherheiten von Kreditnehmern 1.5 Die Bedeutung von Erwartungen Wie bereits im Zusammenhang mit der Reaktion der Kapitalmarktzinsen auf geldpolitische Maßnahmen erwähnt, ist der Einfluss der Geldpolitik auf die Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte und der Einfluss der Erwartungen wiederum auf die Wirksamkeit geldpolitischer Maßnahmen von erheblicher Bedeutung: Geldpolitische Maßnahmen Erwartungen Inflation, Produktion Wirtschaftspolitische Erfahrungen mit (geänderten) Reaktionsweisen der Wirtschaftssubjekte auf monetäre Impulse haben zu neuen Einsichten über die geldpolitische Steuerung geführt. So glaubte man geraume Zeit, mittels expansiver, inflationär wirkender Geldpolitik die Beschäftigung erhöhen und die Konjunktur anregen zu können, was in der (modifizierten bzw. um Erwartungen erweiterten) Phillips-Kurve (siehe Box IV.1.8) zum Ausdruck kommt. Diese Strategie gelang jedoch nicht, weil die implizite <?page no="304"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 305 Annahme falsch war, die inflationsbedingte Reallohnsenkung werde akzeptiert oder nicht bemerkt (Geldillusion). Sobald die Reallohnsenkung erkannt wird, wird sie mittels gestiegener Inflationserwartungen in Lohnverhandlungen rückgängig gemacht, sodass der zeitweilige lohnkostenbedingte Beschäftigungsgewinn wieder verloren geht. Box IV.1.8: Die Phillips-Kurve In der ursprünglichen, auf Alban W. Phillips (1958) zurückgehenden Version beschreibt die Phillips-Kurve ( PK ) eine inverse Beziehung zwischen der Nominallohnzuwachsrate ( ˆ w ) und der Arbeitslosenquote ( u ). Diese Beziehung lässt sich kausal derart interpretieren, dass bei einer niedrigen Arbeitslosenquote höhere Nominallohnsteigerungen durchgesetzt werden können (oder dass höhere Nominallöhne zu Arbeitslosigkeit führen). In der modifizierten PK wird der Arbeitslosenquote anstatt der Nominallohnentwicklung die Inflationsrate gegenübergestellt. Dieser Modifikation liegt folgender Sachverhalt zugrunde: In dem Maße, wie Nominallohnerhöhungen den Arbeitsproduktivitätsfortschritt überschreiten, steigen die Lohnstückkosten. Geht man von einer Aufschlagskalkulation („mark up pricing“) aus, kann das Preisniveau durch die Lohnstückkosten zuzüglich eines Aufschlags für Nicht-Lohnkosten und Gewinn bestimmt werden. Bei konstantem Aufschlagsatz lässt sich dann die Preisentwicklung bzw. die Inflationsrate  als Differenz zwischen den Zuwachsraten von Nominallöhnen ˆ w und Arbeitsproduktivität ( ˆ  ) ermitteln. Abbildung IV.1.12: Phillips-Kurve u KPK KPK LPK E B C A w u - Die vermeintliche Wahlmöglichkeit („trade off“) zwischen mehr oder weniger Arbeitslosigkeit und weniger oder mehr Inflation erwies sich jedoch als trügerisch. Eine inflatorisch wirkende expansive Geldpolitik hat nur kurzfristig positive Beschäftigungseffekte. Auf längere Sicht zeigt sich die Arbeitslosigkeit ( u ) als inflationsresistent ( A → B → C ). Die langfristige PK verläuft vertikal. Erklären lässt sich dieses Phänomen mit unterschiedlichen Inflationserwartungen. In der Ausgangssituation mögen die Inflationsrate und die Nominallohnzuwachsrate einheitlich 2 % betragen, bei einer Arbeitslosenquote . Von Produktivitätsänderungen sei zur Vereinfachung abgesehen. Werden nun infolge expansiver Geldpolitik Nominallohnsteigerungen von 3 % vereinbart und erhöhen die Unternehmen angesichts der guten Absatzlage den Aufschlagsatz, steigt die Inflationsrate beispielsweise auf 4 % und der Reallohn sinkt. Die Nachfrage nach Arbeit steigt. Haben die Arbeitnehmer vergangenheitsorientierte Erwartungen (  erw = 2 %), sind aus ihrer Sicht die Reallöhne gestiegen, sodass auch das Arbeitsangebot steigt. Die Arbeits- TRANSMISSION <?page no="305"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 306 losigkeit sinkt ( A → B ). Die kurzfristige Phillips-Kurve ( KPK ) ist negativ geneigt. Wird im Nachhinein die faktische Reallohnsenkung bemerkt, werden die Arbeitnehmer (mindestens) einen Inflationsausgleich fordern. Es stellt sich wieder das alte Reallohn- und Beschäftigungsniveau ein - bei allerdings höherer Inflationsrate ( C ). Die langfristige Phillips-Kurve ( LPK ) ist vertikal. Wie groß die Zeitspanne ist, bis sich die vertikale Phillips- Kurve einstellt, ist umstritten. Wird die beschäftigungsorientierte Geldpolitik aufs Neue betrieben, kann sich der gleiche Prozess wiederholen ( KPK 1 ). Die Arbeitslosigkeit wird wiederum nicht dauerhaft abgebaut. Als längerfristiges Resultat bleibt eine stabile Arbeitslosenquote („natürliche Arbeitslosigkeit“) bei akzelerierender Inflation. Bei häufiger Wiederholung der expansiven Strategie könnten durch Lernprozesse Erwartungsänderungen eintreten (rationale Erwartungen), die die Prozessergebnisse antizipieren. Es gäbe dann auch keinen kurzfristigen Phillips-Kurven-Zusammenhang mehr. Den zeitweiligen Produktions- und Beschäftigungswirkungen liegen vergangenheitsorientierte (extrapolative oder adaptive) Erwartungen zugrunde - die sich im Nachhinein als falsch herausstellen. Von extrapolativer Erwartungsbildung wird gesprochen, wenn die Inflationsentwicklung der jüngsten Vergangenheit (  t - 1 ) die Inflationserwartungen (  terw ) bestimmt.  terw =  t - 1 +  (  t - 1 -  t - 2 )  (0 ≤  ≤ 1) gibt die Gewichtung an, mit der die Inflationsdifferenz zu weiter zurück liegenden Perioden (hier vereinfacht durch t - 2) in die Inflationserwartung eingeht. Wenn  = 0 (statische Erwartungen) gilt:  terw =  t - 1 Mit adaptiver Erwartungsbildung ist gemeint, dass frühere Erwartungsfehler über den Faktor  (Anpassungsgeschwindigkeit) in die Erwartungsbildung als Korrekturfaktoren eingehen.  terw =  t - 1 +  (  t - 1 -   t - 1 erw ), mit 0 <  < 1 In beiden Fällen handelt es sich um eine vergangenheitsorientierte Erwartungsbildung, die von der aktuellen Wirtschaftspolitik beziehungsweise Geldpolitik unabhängig ist. Wird die vorstehend skizzierte geldpolitische Strategie jedoch häufig wiederholt, werden die Wirtschaftssubjekte aus diesen Erfahrungen lernen und die inflatorischen Wirkungen der expansiven Geldpolitik zu antizipieren versuchen. Sie gehen also auf eine zukunftsgerichtete Erwartungsbildung über. Gelingt ihnen dies, hat die Geldpolitik nicht einmal temporär reale Wirkungen. Auch wenn man diesen Ergebnissen der Theorie rationaler Erwartungen angesichts institutioneller Hemmnisse (z. B. längerfristige Verträge, Informationsdefizite und Informationskosten) oder theoretischen Dissens’ <?page no="306"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 307 über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mit einiger Skepsis begegnen muss, bleibt der Kern zutreffend: Eine expansive Geldpolitik wird in dem Maß real wirkungslos wie sie Inflationserwartungen erzeugt. Geldpolitisch bewirkte Inflationserwartungen haben aber nicht nur eine binnenwirtschaftliche Dimension. Insbesondere institutionelle Anleger reagieren rasch mit Kapitalabzügen aus inflationsgefährdeten Ländern. Zinssteigerungen und Abwertungen der heimischen Währung sind die Folge. Um den abwertungsbedingten Einkommens- und Vermögensverlusten bei Auslandsanlagen zu entgehen, kann es leicht zu spekulativen Übersteigerungen („speculative bubbles“) kommen, die sich im Nachhinein selbst bestätigen. 130 Umso wichtiger ist, dass eine Zentralbank einen glaubwürdigen Stabilitätskurs verfolgt. Wenn die Notenbank auch nicht alle destabilisierenden Einflüsse auf die heimische Währung, insbesondere von Seiten des Auslands, vollends abschirmen kann - keine Währung ist definitiv gegen spekulative Kapitaltransaktionen gefeit -, so muss sie doch stets darauf bedacht sein, das Vertrauen der inländischen wie ausländischen Wirtschaftssubjekte in ihre Geldpolitik zu bewahren. Die mit den geldpolitischen Maßnahmen (Geldmarktsteuerung, Strategiewahl, Instrumentarium etc.) verbundenen Wirkungen auf die Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte stellen so einen zusätzlichen Transmissionsweg der Geldpolitik dar. Sieht man von institutionellen Beschränkungen wie langfristigen Verträgen ab, hat dieser Wirkungskanal im Gegensatz zu den traditionellen Transmissionskanälen der Geldpolitik kaum eine Zeitverzögerung, da Erwartungsänderungen ziemlich rasch umgesetzt werden. Hat sich eine Zentralbank über lange Zeit Reputation und Glaubwürdigkeit erworben, werden sich destabilisierende Entwicklungen im Gefolge geldpolitischer Maßnahmen in engen Grenzen halten. Eine Zinssenkung beispielsweise wird dann nicht zu steigenden Inflationserwartungen führen, die ihrerseits eine höhere Inflationsprämie im nominalen Kapitalmarktzins bewirken würden. Ein solches Glaubwürdigkeitspolster hatte sich die Deutsche Bundesbank wegen ihrer im internationalen Vergleich recht erfolgreichen Stabilitätspolitik über einen langen Zeitraum hinweg erworben. Diese Situation dürfte auch für die EZB in den letzten Jahren vor der Finanz- und Wirtschaftskrise vorgelegen haben. Aktuelle geldpolitische Maßnahmen werden unter solchen Bedingungen von den Wirtschaftssubjekten so lange im Lichte der Erfahrungen der Vergangenheit interpretiert, bis durch eine nicht mehr stabilitätsorientierte Geldpolitik Glaubwürdigkeitsverluste entstehen (sog. Reputationsgleichgewicht). Behält die Zentralbank den Stabilitätskurs bei, ist eine vergangenheitsorientierte Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte durchaus rational. Durch die Erwartungsbildung wird somit die stabilitätsorientierte Geldpolitik unterstützt. Die Stabilitätserwartungen sorgen gewissermaßen für Stabilität. 130 Eine ausführliche Erörterung spekulativer Verläufe findet sich bei Aschinger (1995, 117 - 132). Im Zuge solcher spekulativer Entwicklungen kann es zu einer „asset inflation“ kommen, d. h. zu starken Preis-(Kurs-)Steigerungen bei Finanzaktiva. Im Falle spekulativer Übersteigerungen sind dann später gravierende Kurseinbrüche und Vermögensverluste zu erwarten, die in eine schwere Rezession einmünden können. TRANSMISSION <?page no="307"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 308 Schwieriger wird die geldpolitische Steuerung aber bereits in dem Fall, wenn eine Zentralbank zwar in der Vergangenheit durch konsequente Stabilitätspolitik Reputation erworben hat, aber auftretende Schocks (z. B. die Wiedervereinigung in Deutschland, Ölpreiskrisen) für einen Inflationsschub gesorgt haben. Will die Zentralbank ihre Glaubwürdigkeit aufrechterhalten, muss sie (auch) durch ihr Handeln deutlich machen, dass sie die gestiegene Inflationsrate nicht toleriert. Eine restriktive Geldpolitik sorgt dann dafür, dass aufkeimende Inflationserwartungen erstickt werden, allerdings verbunden mit dem Risiko einer rezessiven Entwicklung. Das Risiko einer Stabilisierungskrise ist jedoch umso kleiner, je rascher und entschlossener die Zentralbank handelt und um so mehr die Lohn- und Fiskalpolitik auf einen stabilitätsorientierten Pfad einlenken. Hat die Geldpolitik (zunehmende) Inflationserwartungen einmal zugelassen, muss der später unvermeidliche Restriktionskurs umso schärfer sein. Ähnlich ist die Situation zu beurteilen, wenn durch geldpolitische Maßnahmen selbst Glaubwürdigkeit und Reputation verloren gegangen sind. Dies ist für die EZB durch die vorgenommenen Maßnahmen im Rahmen der Staatsschuldenkrise (z. B. Aufkauf von Staatsanleihen, üppige Liquiditätszuteilung etc.) zumindest teilweise der Fall. Auch hier muss die Zentralbank im Anschluss wieder einen eindeutigen Stabilitätskurs einschlagen, um unnötige Unsicherheiten und Volatilitäten und letztlich eine mangelnde Wirksamkeit der Geldpolitik auf Dauer zu verhindern. Am schwierigsten ist die Situation zweifelsohne, wenn durch hohe Inflationsraten in der Vergangenheit entsprechende Inflationserwartungen aufgebaut wurden und nun die Inflation gebremst werden soll. Eine restriktive Geldpolitik bei hoher Inflationserwartung läuft Gefahr, dass das gebremste Geldmengenwachstum durch eine steigende Umlaufsgeschwindigkeit konterkariert wird, wodurch eine schärfere Restriktionspolitik erforderlich werden kann. Die Inflationserwartungen können dann auch den Informationswert monetärer Größen, wie etwa den über die Ausgabenrelevanz bestimmter Geldmengenaggregate, derart senken, dass nicht zuletzt im Dienste der Glaubwürdigkeit eine neue Zielvorgabe angezeigt sein kann. 131 Ohne Berücksichtigung der eingangs aufgezeigten Querverbindungen (Abbildung IV.1.2) sind zur Erleichterung des Überblicks die wesentlichen Transmissionsmechanismen geldpolitischer Impulse im Folgenden nochmals zusammengestellt (Abbildung IV.1.13). 131 Der Übergang zu „Inflationszielen“ beispielsweise in Großbritannien sowie - bis zum Beitritt zur EWU - in Spanien und Portugal hat in den hohen Inflationsraten der Vergangenheit eine wesentliche Ursache. Er kann als Versuch verstanden werden, die Oberhand der Geldpolitik über die Inflationserwartungen zu gewinnen und damit wesentliche Wirkungsbeeinträchtigungen der übrigen Transmissionskanäle zu beseitigen. <?page no="308"?> MONETÄRE WIRKUNGSKANÄLE 309 TRANSMISSION Abbildung IV.1.13: Wirkungskanäle der Geldpolitik Geldpolitik Kapitalkosteneffekte Substitutionseffekte Einkommenseffekte Vermögenseffekte Wechselkurseffekte Bankenkanal Bilanzkanal Risikoneigungskanal Erwartungen Geldpolitik Geldpolitik Geldpolitik Geldpolitik Geldpolitik Geldpolitik Geldpolitik Geldpolitik Geldpolitik Zinssätze Zinssätze Zinssätze Finanzmarktpreise (Wertpapierkurse) Zinssätze Zinssätze Kreditsicherheiten Risikoneigung Erwartungen Finanzierungskosten Portfolioumschichtungen Einkommen Finanzvermögen Wechselkurs Kreditvergabe Kreditvergabe Moral hazard, adverse Selektion Kreditvergabe Investitionen a) langlebige Konsumgüter Investitionen a) langlebige Konsumgüter Investitionen a) Konsum Investitionen a) Konsum Exporte Importe Investitionen a) langlebige Konsumgüter Investitionen a) langlebige Konsumgüter Investitionen a) Konsum Investitionen a) Konsum Bruttoinlandsprodukt/ Preisentwicklung Quelle: In Anlehnung an Mishkin, 2004, 619. Anmerkung: a) Einschließlich Wohnungsbau. <?page no="309"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 310 2 Transmissionsprobleme in der Europäischen Währungsunion Trotz der vielfältigen Übertragungskanäle monetärer Impulse scheint es zumindest für große Wirtschaftsräume recht ähnliche Reaktionsmuster zu geben. Vergleiche zwischen den USA mit dem Euroraum zeigen trotz wichtiger Unterschiede im Einzelnen bemerkenswerte Ähnlichkeiten in den monetären Wirkungsketten (Zinskanal, Bankenkanal) und den Produktions- und Preiseffekten (siehe Angeloni et al., 2003a, 389). Gleichförmigkeiten auf der hoch aggregierten Ebene schließen jedoch nicht aus, dass die trotz der erheblichen Integrationsfortschritte noch bestehenden Heterogenitäten innerhalb der EWU in den Mitgliedsländern unterschiedliche Wirkungen der einheitlichen Geldpolitik auslösen. Über das Gewicht der nationalen Besonderheiten für Wirkungsrichtung, Stärke und Zeitbedarf der einheitlichen Geldpolitik scheinen angesichts der mittlerweile verfügbaren empirischen Studien immerhin begründete Vermutungen angestellt werden zu können (siehe Box IV.2.1). Box IV.2.1: Neuere empirische Ergebnisse zur geldpolitischen Transmission im Euroraum Zum monetären Transmissionsmechanismus existieren, sowohl in methodischer Hinsicht als auch was die untersuchten Aspekte der geldpolitischen Wirkungsmechanismen anbetrifft, eine kaum überschaubare Anzahl empirischer Studien. Im Folgenden wird ein Überblick über die Ergebnisse ausgewählter Studien gegeben. Kennzeichnend für frühe Analysen zur monetären Transmission im Euroraum ist, dass die Schätzungen überwiegend oder ausschließlich auf der Grundlage von Daten aus der Zeit vor der Währungsunion erfolgen. 132 Repräsentativ hierfür ist die Arbeit von Peersman und Smets (2003). Nach ihren Schätzungen führt eine vorübergehende Erhöhung des kurzfristigen Zinssatzes um 100 Basispunkte zu einem etwa zwei Jahre andauernden vorübergehenden Rückgang des realen BIP, das seinen Tiefpunkt nach zwei bis vier Quartalen erreicht. Mit einer erheblichen Verzögerung von etwa zweieinhalb Jahren kommt es zu einem anhaltenden Rückgang des Preisniveaus. Der reale Wechselkurs wertet sofort auf, kehrt aber nach etwa drei bis vier Quartalen wieder zu seinem Ausgangsniveau zurück. Ein Beispiel für eine Studie, in die bereits eine große Anzahl „echter“ Daten für den Euroraum eingehen, ist Alves et al. (2011). Ihren Schätzungen zufolge, zeigen nach einer Änderung des kurzfristigen Zinssatzes das reale BIP, der Konsum, die Investitionen, das Arbeitsvolumen und die Kapazitätsauslastung den erwarteten, der Zinsänderung entgegengesetzten, Verlauf und erreichen ihren Höhepunkt nach etwa fünf bis acht Quartalen, d. h. etwas später als in Peersman und Smets (2003). 132 Dabei handelt es sich um synthetische Zeitreihen, die aus den verschiedenen nationalen Größen konstruiert worden sind. <?page no="310"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 311 Weber et al. (2011) analysieren, ob sich der monetäre Transmissionsmechanismus Im zeitlichen Umfeld des Beginns der Währungsunion verändert hat. Nach ihren Schätzungen führt eine exogene Erhöhung des Kurzfristzinses um 100 Basispunkte im Zeitraum vor 1996 zu einem vorübergehenden Rückgang des realen BIP für etwa vier Jahre mit einem Tiefpunkt nach einem bis eineinhalb Jahren. Das Preisniveau sinkt erst mit einer langen Verzögerung von mehr als vier Jahren signifikant, bleibt aber dauerhaft mehr als 1% unterhalb seines Ausgangsniveaus. Von diesen Reaktionen unterscheiden sich die geschätzten Effekte eines Zinsschocks im Zeitraum nach 1999 nur wenig. Keine Anhaltspunkte für eine signifikante Veränderung des monetären Transmissionsprozesses nach Beginn der EWU finden auch Cecioni und Neri (2011). 133 Boivin et al. (2009) untersuchen den monetären Transmissionsmechanismus für einzelne Euro-Mitgliedsländer und den gesamten Euroraum. Ihr Interesse gilt dabei sowohl dem Vergleich der geldpolitischen Transmission zwischen einzelnen Ländern und dem gesamten Euroraum als auch einer möglichen Veränderung nach 1999. Gemäß ihrer Schätzung führt ein Anstieg des euroraumweiten Kurzfristzinses um 100 Basispunkte unmittelbar zu einem überproportionalen Anstieg der Anleihezinsen und zu einer realen Aufwertung des Euro-Wechselkurses. Die Wachstumsrate des realen BIP sinkt temporär und erreicht ihren Tiefpunkt nach etwa sechs Quartalen. Ein Rückgang der Inflationsrate ist erst nach etwa sechs Quartalen zu beobachten und nur schwach ausgeprägt. Es gibt allerdings deutliche nationale Unterschiede. So steigt etwa der Zinssatz auf langfristige Staatsanleihen in Italien und Spanien wesentlich kräftiger als in Deutschland und Frankreich und es kommt zu einer realen Wechselkursabwertung für Italien und Spanien, während der reale Wechselkurs der anderen Länder aufwertet. Dagegen sinkt die Wachstumsrate des realen BIP in allen untersuchten Ländern ähnlich schnell und stark. Bei den BIP-Komponenten fällt aber auf, dass in Italien und Spanien der Konsum schneller und stärker zurückgeht als in den anderen Ländern. Auf die Ähnlichkeit der Wirkung der Geldpolitik auf das reale BIP in den verschiedenen Euro-Mitgliedsländern weisen ebenfalls die Ergebnisse von Ciccarelli und Rebucci (2006) hin. Von ihnen geschätzte Unterschiede zeigen sich vor allem bei der Geschwindigkeit der Reaktionen. Um Veränderungen im monetären Transmissionsprozess nach Einführung des Euro zu untersuchen, schätzen Boivin et al. (2009) ihr Modell noch einmal, aber lediglich mit Daten ab 1999. Wie zu erwarten, haben sich die Reaktionen der Kurzfristzinsen auf einen Zinsschock zwischen den Ländern in der Währungsunion nahezu völlig angeglichen. Dies gilt auch für die Reaktion der Langfristzinsen, deren Anstieg aber nur noch halb so groß ausfällt wie für den längeren Schätzzeitraum. Für alle Länder kommt es unmittelbar nach der Zinserhöhung zu einer realen Aufwertung. Allerdings ist für den Euroraum als Ganzes und fast alle Länder (mit der Ausnahme Deutschlands) kein deutliches Absinken des realen BIP-Wachstums, des Konsums und der Investitionen nach dem Zinsanstieg 133 Bei der Beurteilung der Unterschiede zwischen verschiedenen Zeitperioden ist zu beachten, dass, aufgrund der mit der ökonometrischen Schätzung verbundenen Unsicherheit, die ermittelten Unterschiede häufig nur von begrenzter Aussagekraft sind. Der Vergleich zwischen verschiedenen Studien wird zudem durch Unterschiede bei den verwendeten Datensätzen (Schätzzeiträume, verwendete Variable) und Schätzmethoden erschwert. TRANSMISSION <?page no="311"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 312 mehr zu beobachten. Während sich die Reaktionen dieser Variablen im Vergleich zur Schätzung über den gesamten Zeitraum 1988-2007 also abschwächen, reagiert die Inflationsrate nach 1999 stärker auf die Zinserhöhung. Sie geht für den Euroraum als Ganzes, Frankreich und Spanien bereits ein Quartal nach dem Geldpolitikimpuls zurück und erreicht ihren Tiefpunkt nach etwa fünf Quartalen. In Deutschland ist dieser Rückgang noch ausgeprägter. Ähnliche Evidenz für eine schwächere Reaktion des realen BIP auf eine Zinserhöhung, aber bereits in der Anlaufphase zur Währungsunion, dokumentieren Ciccarelli und Rebucci (2006). Veränderungen im monetären Transmissionsprozess können mit den hier vorgestellten Ansätzen nur mit erheblicher Verzögerung entdeckt werden, da für die datenintensiven Schätzungen eine ausreichende Anzahl an Beobachtungen aus der Zeit des neuen Regimes vorhanden sein muss. Dadurch ist es kaum möglich, etwaige Veränderungen oder Störungen der geldpolitischen Übertragung zeitnah oder gar in Echtzeit zu überprüfen. Bei der Analyse der Bedeutung einzelner Transmissionskanäle ist zu beachten, dass die Geldpolitik gleichzeitig durch verschiedene Kanäle wirkt, die zudem noch miteinander interagieren. Beispielsweise untersuchen Eickmeier et al. (2009) die Bedeutung von Bankkrediten für die monetäre Transmission im Euro-Währungsgebiet. Ihre Schätzungen zeigen keine signifikante Reaktion der Buchkredite des Bankensektors an den Privatsektor auf einen geldpolitischen Zinsimpuls und sie finden auch keine Anzeichen dafür, dass die Reaktionen von Output oder Preisniveau durch die Anpassung der Kredite an einen geldpolitischen Schock beeinflusst werden. Das Verhalten des Kreditvolumens insgesamt liefert jedoch keine Informationen über die Bedeutung des Kreditkanals. Der Kreditkanal postuliert vielmehr eine Wirkung geldpolitischer Maßnahmen über durch die Geldpolitik verursachte Veränderungen des Angebots an Bankkrediten. Die Schwierigkeit in der empirischen Analyse besteht hier darin, dass die beobachteten Veränderungen des Kreditvolumens einerseits auf (geldpolitisch induzierte) Veränderungen des Kreditangebots und andererseits aber auch auf (geldpolitisch verursachte) Veränderungen der Kreditnachfrage, z. B. aufgrund der Veränderung der wirtschaftlichen Aktivität, zurückgehen können. Zur Isolation der angebotsseitigen Effekte verwenden Ciccarelli et al. (2010) Informationen aus dem Bank-Lending Survey (BLS) des Eurosystems. Der BLS ist eine vierteljährliche Befragung einer Stichprobe von Banken nach ihren Kreditvergabestandards für Unternehmen und Haushalte und nach ihrer Einschätzung über die Nachfrage dieser Akteure nach Krediten, wodurch Kreditangebots- und -nachfrageänderungen identifiziert werden können. Da der BLS zusätzlich Angaben über die Ursache der Veränderung der Kreditbedingungen enthält, ist es mit diesen Informationen außerdem prinzipiell möglich, auf der Kreditangebotsseite über den Bankenkanal und über den Bilanzkanal wirkende Effekte zu unterscheiden. Den Schätzungen von Ciccarelli et al. (2010) zufolge wirken von der Geldpolitik verursachte Zinsänderungen im Euro-Währungsgebiet bei Unternehmenskrediten stärker über das Kreditangebot als über die Kreditnachfrage und die endogene Reaktion des Kreditvolumens leistet einen signifikanten Beitrag zur Wirkung der Geldpolitik auf das reale BIP und die Inflationsrate. Dabei wird die Wirkung der Geldpolitik auf das reale BIP über Unternehmenskredite vor allem durch angebotsseitige Effekte verstärkt, die ihre stärkste Wirkung nach etwa sechs Quartalen entfalten. Für die Wirkung auf die Inflationsrate sind Angebots- und Nachfrageeffekte von Bedeutung und die Wirkungsverzögerung ist etwas größer. Bei den Krediten an Private Haushalte scheint sowohl für die Wirkungen auf das reale BIP als auch auf die Inflationsrate die Trans- <?page no="312"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 313 mission über eine veränderte Nachfrage nach Wohnungsbaukrediten wichtiger zu sein als angebotsseitige Faktoren. Eine Differenzierung zwischen dem Bankenkanal und dem Bilanzkanal ergibt für die Unternehmenskredite, dass beide Kanäle für die Effekte der Geldpolitik auf das reale BIP von ähnlicher Relevanz sind. Die Studie von Altunbas et al. (2009) deutet allerdings darauf hin, dass eine verstärkte Verbriefung von Krediten durch Banken zu einer Abschwächung der Transmission über den Bankenkanal führt. Für die Einschätzung der Bedeutung von Vermögenspreisen für die monetäre Transmission sind zwei Teilaspekte relevant: (1) Wie wirkt die Geldpolitik auf Vermögenspreise und (2) welche Effekte gehen von Vermögenspreisänderungen auf die anderen makroökonomischen Variablen aus. Eine wichtige Rolle für Vermögenseffekte können dabei insbesondere Immobilienpreise spielen. Den Schätzungen von Weber et al. (2011) zufolge sinkt das reale Immobilienvermögen im Euroraum nach einem temporären restriktiven geldpolitischen Impuls vorübergehend ab und erreicht einen Tiefpunkt nach etwa drei Jahren. Musso et al. (2011) schätzen, dass ein restriktiver Zinsschock zu einem vorübergehenden Rückgang der Bauinvestitionen und der Immobilienpreise führt, während die Hypothekenzinsen ansteigen. Das Volumen der Hypothekenkredite sinkt dauerhaft auf ein niedrigeres Niveau. Die beschriebenen Reaktionen sind im Euroraum schwächer ausgeprägt als in den USA mit der Ausnahme, dass die Verschuldung im Euroraum stärker zurückgeht. Die empirische Evidenz bezüglich der von diesen Vermögensänderungen ausgehenden Effekte auf die Konsumnachfrage ist uneinheitlich (z. B. Altissimo et al., 2005). Neben den beschriebenen umfassenderen Ansätzen zur Analyse der monetären Transmission, werden auch einzelne Teilaspekte des Transmissionsmechanismus analysiert, wie z. B. die Zinsweitergabe, d. h. die Anpassung von Kredit- und Einlagenzinsen der Banken an Veränderungen der Marktzinsen, die ihrerseits durch die Geldpolitik beeinflusst werden. So zeigen Schätzungen von de Bondt (2005), dass Veränderungen der Geldmarktzinsen kurzfristig zu etwa 50 %, langfristig nahezu vollständig in Kredit- und Einlagenzinsen der Geschäftsbanken weitergegeben werden. Diese Zinsweitergabe hat sich seit Beginn der Währungsunion beschleunigt. Dies gilt auch für die Beziehung zwischen Kapitalmarktzinsen und Zinssätzen für langfristige Kredite und Einlagen (de Bondt et al., 2005). Die Zinsweitergabe erfolgt im Euroraum für Kreditzinsen schneller als für Einlagenzinsen und verläuft asymmetrisch, d. h. Zinssteigerungen werden schneller in Kreditzinsen weitergegeben als in Einlagenzinsen, während dies für Zinssenkungen umgekehrt ist (Gropp et al., 2007, Karagiannis et al., 2010). Eine wichtige Determinante für die Geschwindigkeit der Zinsweitergabe ist die Stärke des Wettbewerbs im Bankensystem (van Leuvensteijn et al, 2013), wodurch signifikante Unterschiede zwischen den Euro- Mitgliedsländern in der langfristigen Zinsweitergabe erklärt werden können. Empirische Untersuchungen der monetären Transmission beschäftigen sich in der großen Mehrheit mit den Reaktionen makroökonomischer Variablen auf Veränderungen eines von der Geldpolitik kontrollierten kurzfristigen Zinssatzes. In der Finanzkrise haben jedoch unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen, wie z. B. Wertpapierkäufe durch die Zentralbank, die Ausweitung ihrer Refinanzierungsoperationen und Veränderungen deren Modalitäten an Bedeutung gewonnen. Da die Zeitspanne, über die diese Instrumente eingesetzt wurden, jedoch noch vergleichsweise kurz ist und zudem krisenhafte Phasen an den Finanzmärkten umfasst, ist eine Schätzung ihrer Wirkungen mit großen Schwierigkeiten verbunden und die Ergebnisse hängen in hohem Maße von den bei der Analyse getroffenen Annahmen ab. Beispiele für den Euroraum sind die Studien von Lenza et al. TRANSMISSION <?page no="313"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 314 (2010), in der die Sondermaßnahmen über die Verringerung von Differenzen zwischen dem Refinanzierungszinssatz und Geldmarktzinsen identifiziert werden und von Giannone et al. (2012), die die makroökonomischen Effekte der Ausweitung des Refinanzierungsvolumens durch das Eurosystem analysieren. Hier sollten einige Ergebnisse genannt werden. Box erstellt von Martin Mandler (Deutsche Bundesbank). Im Vordergrund der Diskussion stehen unterschiedliche Finanzierungsstrukturen in den Mitgliedsländern, wie z. B. die Entwicklung der Kreditmärkte, das Vorherrschen kurzer oder langer Zinsbindungsfristen, Zahlungsverkehrsgewohnheiten, Vermögensanlageformen oder die Verschuldung privater Unternehmen und des Staates (siehe etwa Ehrmann et al., 2003a). Zu berücksichtigen sind aber auch unterschiedliche Positionen des Geschäftsbankensystems im monetären Geflecht. Als Stichwort sei die sog. Disintermediation erwähnt, d. h., Unternehmen und Haushalte klammern bei Finanz- und Anlageentscheidungen Geschäftsbanken als Finanzintermediäre zunehmend aus. 134 Insgesamt ist durch die EWU eine Wettbewerbsintensivierung im finanziellen Sektor eingetreten, die auf nationaler Ebene und vor allem grenzüberschreitend die Verbreitung von Innovationen (z. B. electronic money, neue derivative Finanzprodukte) und attraktiven Konditionen ebenso verstärkt wie den Abbau von Regulierungen (aber nach der Krise haben doch die Regulierungsbestrebungen eher zugenommen). Trotz noch bestehender fiskalischer, rechtlicher und kultureller Unterschiede im Bankensektor des Euroraums wirkt die gemeinsame Währung als Katalysator des strukturellen Wandels in Richtung eines integrierten Finanzmarktes im Euroraum. Organisatorische Veränderungen, neue Produkte und Dienstleistungen, Fusionen, Kooperationsvereinbarungen und strategische Allianzen tragen nach Ansicht der EZB (1999e, 47 - 60) zur Stabilität des Bankensystems und so zur Verbesserung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus bei. Auch auf den Aktienmärkten lässt sich ein Integrationseffekt der EWU feststellen. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass innerhalb des Euro-Währungsgebietes der Wechselkurskanal entfällt. Betroffen von diesen Änderungen sind sowohl die Transmission innerhalb des monetären Sektors als auch die vom monetären in den realen Sektor. 2.1 Unterschiedliche Finanzierungsbedingungen und Finanzierungsstrukturen Eine maßgebliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Transmission geldpolitischer Impulse im Euroraum ist die möglichst weitgehende Integration der Finanzmärkte. 134 So lässt sich für Deutschland feststellen, dass der Anteil privater Bankeinlagen an der Geldvermögensbildung seit Mitte der 70er Jahre rückläufig ist. Betrug der Anteil 1975 noch 52 %, verringerte er sich bis 2006 auf 29 % (Deutsche Bundesbank, 1998a, 35 sowie 2007a, 53*; eigene Berechnungen). Auch in der EU wachsen die Bankeinlagen schwächer als die Anlagen bei Nicht- Banken (EZB, 2006a). <?page no="314"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 315 Beeinträchtigungen der Finanzmarktintegration oder gar deren Umkehrung, wie sie seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise einsetzten (EZB, 2012, 67 ff.), erschweren die einheitliche Geldpolitik. Es lassen sich hier zwei Bereiche unterscheiden: unterschiedliche Finanzierungebedingungen und / oder Finanzierungsstrukturen. 2.1.1 Finanzierungsbedingungen Betrachtet man die Entwicklung der Kapitalmarktzinsen in den EWU-Ländern, zeigen sich für die erste Dekade der EWU nicht nur einheitliche Tendenzen, sondern auch starke Angleichungen in den Zinsniveaus (Abbildung IV.2.1). Wichtige Ursachen für diese Homogenisierung waren niedrige Inflation(serwartungen), die einheitliche Geldpolitik des Eurosystems, die zu einheitlichen Geldmarktzinsen in der EWU führte, fehlende nationale Wechselkursprämien und die Wettbewerbsintensivierung im finanziellen Sektor des Euroraums. Im Jahre 2010 kam es jedoch zwischen einzelnen EWU-Mitgliedsländern zu massiven Zinsspreizungen am Kapitalmarkt, die im Laufe des Jahres 2011 ihren Höhepunkt erreichten, um danach - möglicherweise durch bestimmte „Sondermaßnahmen“ der EZB - leicht zurück zu gehen. Die großen Zinsdifferenzen sind nicht unmittelbar Folge der Geldpolitik der EZB, sondern Ausdruck unterschiedlicher Kreditrisiko- und Liquiditätsprämien (EZB, 2012b, 53) Diese wiederum gehen vor allem auf die sehr hohe, von den Finanzmärkten als nicht tragfähig eingeschätzte Staatsverschuldung einzelner Mitgliedsländer (Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien) zurück. Abbildung IV.2.1: Kapitalmarktzinsen in den EWU-Ländern Quelle: Deutsche Bundesbank. TRANSMISSION <?page no="315"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 316 Angesichts der bis 2010 beobachtbaren deutlichen Angleichungen der Finanzierungsbedingungen und scheinbar guter Wirtschaftsleistung gab es „weniger Anreiz, politisch kostspielige strukturelle Reformen an den Güter- und Arbeitsmärkten durchzuführen“. „Investoren und nationale Aufsichtsinstanzen trugen den steigenden Risiken nicht angemessen Rechnung“ (EZB, 2012e, 70). Die Zinskonvergenz verschleierte zugrunde liegende Probleme wie Immobilienpreisblasen, Leistungsbilanzdefizite, steigende Arbeitskosten. Zudem wurden Haushaltsregeln im Zeitverlauf laxer gehandhabt bzw. aufgeweicht. Der Druck zu solider staatlicher Haushaltsführung wurde so unterminiert. Indirekt führten die niedrigen Zinsen noch zu Belastungen einzelner Staatshaushalte, weil sie z. B. in Spanien zu einer Immobilienblase führten, in deren Gefolge schließlich staatliche Rettungsmaßnahmen von Banken „notwendig“ wurden. Mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, spätestens aber mit Beginn der Staatsschuldenkrise und der konjunkturellen Eintrübung in einigen Mitgliedsländern kamen die aufgestauten Risiken stärker ins Bewusstsein, und deren Neubewertung schlug sich in abrupten und zum Teil drastischen Renditeunterschieden bei Staatsanleihen und damit auch allgemein in den nationalen Finanzierungsbedingungen nieder. Da deutliche Unterschiede in den Finanzierungsbedingungen die homogene Weitergabe der Leitzinsen und damit auch den Transmissionsmechanismus beeinträchtigen, sah sich die EZB zu Sondermaßnahmen gezwungen. Die Beeinträchtigung der Transmission ergibt sich laut EZB durch Preis-, Bilanz- und Liquiditätseffekte (EZB 2012f, 85 ff.). Die Preiswirkungen bestehen darin, dass der Renditeanstieg von Staatsanleihen (wegen erwarteter höherer Ausfallrisiken) sich auch in den Kapitalmarktsätzen und den Kreditzinsen der Banken und damit höheren Finanzierungskosten niederschlagen. Diese Übertragung erfolgt unmittelbar, weil die Zinssätze für langfristige Staatsanleihen üblicherweise als Referenzzinssätze für die längerfristigen Finanzierungsbedingungen im nicht-finanziellen Sektor gelten. Bilanzwirkungen (vgl. auch die Ausführungen zum Bilanzkanal, IV.1.3.2) ergeben sich für Banken dann, wenn der Wert ihrer Staatsanleihenbestände unter den Buchwert fällt und deshalb ihre Refinanzierungsbasis kleiner wird. Aus diesem Grund, aber auch wegen regulatorischer Vorgaben über die erforderliche Eigenkapaitalbasis werden ihre Kreditvergabemöglichkeiten eingeschränkt. Auch der nicht-finanzielle Sektor (Unternehmen und private Haushalte) ist betroffen, weil bei sinkenden Wertpapierkursen der Wert der Kreditsicherheiten sinkt. Eine weitere Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen ist die Folge. Besondere Probleme ergeben sich auch aus den wechselseitigen Beziehungen zwischen Staaten und Banken: Die mit dem Renditeanstieg der Staatsanleihen verbundenen Kursverluste können Banken (bei hohen Staatsanleihebeständen wie in manchen „Problemländern“) in existenzielle Schwierigkeiten bringen. Staatliche Rettungsmaßnahmen für (systemrelevante) Banken belasten wiederum die Staatshaushalte, sodass die Transmissionsprobleme verschärft werden. Schließlich können hohe Renditen für Staatsanleihen einzelner Länder krisenverschärfende Liquiditätswirkungen auslösen. Normalerweise gelten Staatsanleihen als besonders sichere Anlage mit einem hohen Liquiditätsgrad. Störungen an den Finanzmärkten senken die Liquiditätsposition, wodurch möglicherweise Herabstufungen durch Ratingagenturen ausgelöst werden, die die Finanzierungsbedingungen (weiter) verschlechtern. <?page no="316"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 317 Kurzum: Die einheitliche Geldpolitik in der EWU stößt auf sehr unterschiedliche Finanzierungsbedingungen, sodass trotz massiver expansiver Geldpolitik unterschiedliche Transmissionswirkungen resultieren, Vor diesem Hintergrund hat das Eurosystem über die Hauptrefinanzierungsgeschäfte hinausgehend 2011 und 2012 „Sondermaßnahmen“ ergriffen, um die Finanzierungsbedingungen anzunähern. Hierzu zählen insbesondere der umfangreiche Ankauf von Staatsanleihen vom Zinsanstieg sehr stark betroffener Länder, um deren Zinsniveau zu senken und geringere Anforderungen an Sicherheiten bei Refinanzierungsgeschäften. 135 Der Homogenisierung der Finanzierungsbedingungen dienen auch die beiden großvolumigen Erhöhungen der Refinanzierung mit Vollzuteilung und Laufzeiten bis zu drei Jahren (Anfang 2012). Die anhaltende Eignung dieser Maßnahmen ist sehr umstritten, und die EZB selbst betont wiederholt (2012e, f, 68, 77, 81, 104), dass diese Maßnahmen keine Ursachenbekämpfung der finanziellen Ungleichgewichte darstellen, sondern den „Problemländern“ lediglich mehr Luft für die erforderlichen Reformmaßnahmen verschaffen. Kritiker weisen insbesondere darauf hin, daß die umfangreichen Käufe von Staatsanleihen bestimmter Mitgliedsländer eine verkappte Staatsfinanzierung seien. Zudem würden von den niedrigen Zinsen negative Anreizwirkungen auf die Reformbereitschaft ausgehen. Die Sinnhaftigkeit der umfangreichen langfristigen Refinanzierungsgeschäfte wird bezweifelt, da der normale Transmissionsmechanismus (Weiterleitung an den privaten Sektor) nicht greift, sondern die Geschäftsbanken das Zentralbankgeld weitgehend bei der EZB parken. Zudem sei fraglich, ob der EZB auf längere Sicht eine Neutralisierung der Liquiditätseffekte gelingt, um inflationäre Wirkungen zu vermeiden. Einem sehr fraglichen Erfolg stünde deshalb eine gewichtige Einbuße an Glaubwürdigkeit der EZB gegenüber, die die Effizienz der Geldpolitik untergrabe (siehe Kap. IV.2.3). 2.1.2 Unterschiedliche Finanzierungsstrukturen Schematisch können geldpolitisch bedeutsame Unterschiede in den Finanzierungsstrukturen einmal der Einflussstärke von Finanzunternehmen (Geschäftsbanken vs sonstige Finanzintermediäre) zugeordnet werden. Zum anderen spielt die Stellung der beiden Finanzmarktsegmente (Geldmarkt und Kapitalmarkt) eine wichtige Rolle. 135 In jüngster Zeit wird ein weitergehender Vorschlag diskutiert, wonach die EZB Staatsanleihenkäufe auf dem Sekundärmarkt einsetzen könnte, um ein bestimmtes Zinsniveau bzw. maximale Zinsabstände zu erreichen. Diese Vorschläge sind von vielen Ökonomen und auch von der Deutschen Bundesbank teilweise heftig kritisiert worden (siehe FAZ v. 21. 8. 2012, Nr. 194, 11): Ein unbegrenzter Ankauf würde die Geldpolitik ins Schlepptau der Finanzpolitik geraten lassen, was einen offenen Vertragsbruch (Verbot der Staatsfinanzierung) darstelle; die Sanktionswirkung der Kapitalmärkte würde ausgehebelt; das Anageverhalten würde einseitig zugunsten von Staatsanleihen verzerrt; für die Hoffnung auf bereits ausreichende Ankündigungseffekte reiche die Glaubwürdigkeit der EZB nicht aus. TRANSMISSION <?page no="317"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 318 Abbildung IV.2.2: Dimensionen unterschiedlicher Finanzierungsstrukturen Finanzierungsstrukturen Finanzmarkt Finanzunternehmen Geschäftsbanken Sonstige Finanzintermediäre langfristige Kapitalmärkte kurzfristige Geldmärkte Aktienmarkt Rentenmarkt Quelle: In Anlehnung an Gruber, 2000, 50. In den Mitgliedsländern der EWU (aber auch in Großbritannien, Dänemark und Schweden, die aus Vergleichsgründen einbezogen werden) bilden Geldmarktsätze zwar den gemeinsamen geldpolitischen Ansatzpunkt. Für den Transmissionsprozess ist jedoch wesentlich, wie rasch (kurz- und langfristige) Zinsen für Kredite und Anlageformen für Nichtbanken darauf reagieren und welche Ausgabenrelevanz die Zinssätze haben. Frühere empirische Untersuchungen (z. B. de Bondt, 2000) liefern Indizien für eine rasche Reaktion der langfristigen Kapitalmarkt- und Kreditzinsen etwa in den Niederlanden und Großbritannien, während in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien die Reaktion langsamer vor sich ging. Zinsdifferenzen zwischen Geldmarktzinsen und Kapitalmarkt- und Kreditzinsen (relativ gering in Großbritannien, relativ groß in Deutschland, Belgien, Spanien) könnten Niederschlag dieser abweichenden Reaktionsgeschwindigkeiten gewesen sein. Als Gründe für diese Unterschiede kommen durch Marktmacht bedingte Zinsstarrheiten ebenso in Frage wie Kalkulationsverfahren (bestimmte prozentuale Aufschläge auf die Refinanzierungskosten), die Dauerhaftigkeit von Bank-Kunden-Verbindungen und mehr oder weniger stark ausgeprägte Aversionen der Kunden gegenüber variablen Zinszahlungen. Länderindividuelle Besonderheiten ausblendende Untersuchungen für den Euroraum insgesamt (de Bondt, 2005) gelangen zu dem Ergebnis, dass zinspolitische Maßnahmen der EZB rasch und vollständig auf die Zinssätze für Laufzeiten bis drei Monaten durchwirken. Mit zunehmender Laufzeit nimmt dieser Einfluss ab. Das Durchwirken auf die Kreditzinsen der Banken ist kurzfristig unvollständig (50 % innerhalb des ersten Monats), hat sich aber seit Existenz der EWU beschleunigt. Auch in der Finanzkrise sind laut EZB (2009c, 101 ff.) keine wesentlichen Änderungen gegenüber früheren Mustern beobachtbar. Abweichende Finanzierungsstrukturen könnten jedoch beispielsweise durch das relative Gewicht kurzfristiger gegenüber längerfristigen Finanzierungsformen zu unterschiedlichen Wirkungen der einheitlichen Geldpolitik führen. In Deutschland, Frankreich und den Niederlanden herrschen längerfristige Finanzierungsformen vor. Da die <?page no="318"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 319 Bestände nicht von Zinsänderungen betroffen sind, 136 ist der Transmissionsweg länger, und die monetären Impulse wirken gedämpfter als in Italien, Spanien und Griechenland, wo kurzfristige Kredite gewichtiger sind (Tabelle IV.2.1). Kurze Zinsbindungsfristen kommen in diesen Ländern noch verstärkend hinzu. Da kurzfristige Zinssätze stärker als langfristige dem Einfluss der Zentralbank unterliegen, ergibt sich zum einen eine direktere Beeinflussung des güterwirtschaftlichen Bereichs; zum anderen würde eine vergleichsweise schwächere Dosierung des geldpolitischen Impulses genügen. Diese Unterschiede können verstärkt oder auch verringert werden, je nachdem wie hoch der Anteil der Innenbeziehungsweise der Außenfinanzierung an der Gesamtfinanzierung ist. Bei hoher externer Finanzierung ist die „Anfälligkeit“ gegenüber monetären Impulsen größer. 137 Eine andere strukturelle Differenzierung hebt auf das relative Gewicht kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) in der Gesamtwirtschaft und ihre spezielle Finanzierungsstruktur ab. Größl et al. (1999, 32 f.) konstatieren für diese Unternehmensgruppe in Deutschland eine Entwicklung der Finanzierungsstruktur in Richtung kürzerer Zinsbindungsfristen und leiten aus der höheren Zinsempfindlichkeit eine Beschränkung des geldpolitischen Handlungsspielraums ab. Derartig verursachte Handlungsbeschränkungen für die (frühere) nationale Geldpolitik scheinen auch für das Eurosystem Relevanz zu besitzen. Dies wird durch Untersuchungen der EZB (2007b, 83 - 98) unterstrichen. Wenn auch ländermäßige und sektorale Differenzierungen angebracht sind, sind KMU und hier speziell kleine Firmen, im Vergleich zu Großunternehmen größeren Finanzierungsbeschränkungen unterworfen. Gegenüber möglichen asymmetrischen Effekten der einheitlichen Geldpolitik in den einzelnen Ländern der EWU ist jedoch auch hier die Frage des Fortbestandes der Unterschiede in den finanziellen Strukturen zu klären. So hat beispielsweise in Italien mit der Eindämmung der Inflation ein deutlicher Strukturwandel hin zu längerfristigen Anlagen und Zinsbindungsfristen stattgefunden. Mit zunehmender Angleichung der finanziellen Strukturen werden national asymmetrische Wirkungen der europäischen Geldpolitik verringert - was nach den Befunden von Angeloni / Ehrmann (2003a) auch zu beobachten und nach ihrer Meinung der EWU kausal zuzuordnen ist. Solange zwischen den EWU-Ländern Unterschiede in den Laufzeiten der Finanzierungs- und Anlageformen bzw. der Zinsbindungsfristen bestehen, wird auch die Stärke von Einkommens-, Vermögens- und Substitutionseffekten divergieren. Bei kurzen Fristen sind die Einkommenseffekte wegen der stärkeren und direkteren Wirkung geldpolitischer Maßnahmen auf die kurzfristigen Zinssätze größer als bei längeren Fristen. Unterschiedliche Vermögenseffekte innerhalb der EWU sind als geldpolitischer Transmissionskanal nicht zuletzt eine Frage der Vermögensstruktur. Soweit die Anlagen der privaten Wirtschaftssubjekte in öffentlichen Anleihen, Bankeinlagen und Fonds vorherrschen, halten sich infolge von Laufzeitbegrenzungen und Risikoausgleich die zins- 136 Die vergleichsweise dämpfenden Wirkungen langfristiger Finanzierungsformen entfallen dann, wenn die Finanzierungsverträge an kurzfristige Zinsen gebunden sind. 137 Unterstellt wird bei dieser Argumentation freilich, dass die geldpolitisch ausgelösten Zinsänderungen im Falle der Selbstfinanzierung nicht voll in die Opportunitätskostenkalkulation eingehen. TRANSMISSION <?page no="319"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 320 Tabelle IV.2.1: Unterschiede in nationalen Finanzstrukturen des privaten Sektors Kreditlaufzeit Zinsbindung Gewicht der Bankenfinanzierung c) Bankenkonzentration d) Zweigstellennetz e) kurzfristige Kredite a) R Kredite mit variablen Zinsen b) R R R R Belgien Mittel 4,5 Hoch 8,5 Hoch 4 82 11 0,54 8 Deutschland Gering 9 Gering 2 Sehr Hoch 10 20 1 0,62 11 Finnland Gering 9 Hoch 8,5 Hoch 4 79 10 0,24 1 Frankreich Gering 9 Mittel 4 Hoch 4 45 4 0,43 5 Griechenland Hoch 2 Hoch 8,5 Sehr Hoch 10 67 9 0,28 3 Irland Gering 9 Hoch 8,5 Hoch 4 46 5,5 0,25 2 Italien Hoch 2 Hoch 8,5 Sehr Hoch 10 31 3 0,52 6,5 Luxemburg - (9) - (8,5) Hoch 4 30 2 0,61 10 Niederlande Gering 9 Gering 2 Hoch 4 83 12 0,31 4 Österreich Mittel 4,5 Gering 2 Sehr Hoch 10 46 5,5 0,55 9 Portugal Gering 9 Hoch 8,5 Hoch 4 60 8 0,52 6,5 Spanien Hoch 2 Hoch 8,5 Sehr Hoch 10 53 7 0,96 12 Quelle: Ehrmann et al., 2003b, 237 f.; EZB, 2003l, 23 f. Anmerkungen: a) Anteil am gesamten Kreditvolumen < 20 % = Gering; > 35 % = Hoch. b) Anteil der Kredite mit variablen Zinssätzen < 40 % = Gering; > 50 % = Hoch. c) Bankkredite im Verhältnis zu anderen Finanzierungsquellen. d) Anteil der Aktiva der fünf größten Kreditinstitute an den gesamten Aktiva der Kreditinstitute im Jahre 2002. e) Zahl der Zweigstellen pro 1000 Einwohner im Jahre 2002. <?page no="320"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 321 bedingten Schwankungen der Vermögenswerte in Grenzen. Anders ist dies hingegen in Ländern, wo Anlagen in Aktien einen relativ hohen Anteil an den Vermögensanlagen ausmachen. Diese Anlagen unterliegen erfahrungsgemäß stärkeren Kursschwankungen, die auch auf geldpolitisch bedingte Zinsänderungen zurückgehen können. Insgesamt gelangt Mojon (2000, 19 - 21) für die großen Euroländer (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien) zu der Schlussfolgerung, dass angesichts der beobachtbaren Angleichungstendenzen in den Fristigkeits- und Vermögensstrukturen die Wahrscheinlichkeit darauf zurückführender national asymmetrischer Einkommens- und Vermögenseffekte der einheitlichen Geldpolitik recht gering ist. Ein andersartiger Strukturaspekt betrifft die Stärke der Stellung von Banken im Finanzsystem. In sogenannten bankorientierten Systemen, die durch eine starke Stellung der Banken charakterisiert sind, üben diese (gegenüber ihren Stammkunden) eine gewisse Pufferrolle aus, indem sie geldpolitisch ausgelöste Zinsänderungen nicht sofort weitergeben. Der Transmissionsprozess könnte mithin verzögert werden. Die relative Preisinflexibilität von Banken ist maßgeblich vom Interbankenwettbewerb und von der Wettbewerbsintensität gegenüber anderen Finanzintermediären abhängig. Je leichter die Kreditnachfrager etwa auf andere Finanzierungsinstitutionen als Banken ausweichen können, desto größer ist auch die Preisreagibilität der Banken auf geldpolitische Impulse. Unter den EWU-Ländern gelten Deutschland, Griechenland, Italien, Österreich und Spanien als besonders „bankorientiert“, während in den übrigen EWU-Ländern konkurrierende Finanzintermediäre eine größere Rolle spielen. Als „marktorientiert“ werden vor allem Nicht-EWU-Länder wie Großbritannien, Schweden und USA bezeichnet, sodass hier eine raschere Übertragung geldpolitischer Impulse zu erwarten wäre. Diese Unterschiede sind mit der eingangs erwähnten abweichenden Reagibilität der langfristigen Kreditzinsen auf Geldmarktzinsänderungen kompatibel. Wenn das Durchschlagen von Geldmarktzinsänderungen auf die Höhe der Kreditzinsen von den Geschäftsbanken abgefedert wird, muss der Transmissionsprozess jedoch dann nicht unbedingt beeinträchtigt werden, wenn wegen der hohen Glaubwürdigkeit der Zentralbank keine starke Änderung der langfristigen Zinsen „erforderlich“ ist. Es liegt nahe, von diesen institutionellen Unterschieden auf eine differenzierte Wirkung der Geldpolitik über den Kreditkanal zu schließen. Es könnte sein, dass die geringere Durchschlagskraft von Zinsänderungen durch eine Mengenrationierung „kompensiert“ wird, die realen Auswirkungen restriktiver geldpolitischer Maßnahmen also über den Kreditkanal verstärkt werden. Restriktive geldpolitische Maßnahmen müssten dann in bankorientierten Finanzsystemen die Kreditverfügbarkeit kleiner und mittlerer Unternehmen sowie von privaten Haushalten besonders beeinträchtigen und dort mangels Finanzierungsalternativen zu entsprechend starken Ausgabeneinschränkungen führen. Allerdings ist bei dieser Interpretation Vorsicht geboten, da die Bedeutung des Kreditkanals gerade in Deutschland, das als Paradebeispiel eines bankorientierten Finanzsystems gilt, wegen des Hausbankprinzips und günstiger Besicherungsmöglichkeiten in Frage zu stellen ist. Zudem könnten Restriktionen im Sinne des Kreditkanals auch durch ein umfangreiches Zweigstellennetz (wie es Sparkassen und der genossenschaftliche Banksektor unterhalten), das als Indiz für relativ enge Kunden-Bank-Beziehungen gelten kann, entgegengewirkt werden. Insgesamt dürfte die durch die EWU TRANSMISSION <?page no="321"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 322 bedingte Wettbewerbsintensivierung im finanziellen Sektor (zwischen den Banken sowie zwischen den Banken und anderen Finanzintermediären) die Bedeutung von Zinssätzen stärken und die der Kreditverfügbarkeit schwächen. Andererseits könnten sich im Zuge des verstärkten Wettbewerbs- und Umstrukturierungsprozesses im finanziellen Sektor traditionelle Bank-Kundenbeziehungen auflösen, die den Kreditkanal in einigen Ländern bislang gedämpft haben. In Bezug auf den Risikokanal kann für den Euroraum durchaus ein Zusammenhang zwischen dem geldpolitischen Kurs und dem Ausmaß der Risikoübernahme der Banken festgestellt werden (EZB, 2010a, 101). Danach führen niedrige Kurzfristzinsen zu einem gesteigerten Risikoappetit der Banken sowohl im Hinblick auf die Quantität (Anstieg in Höhe und Anzahl der gewährten Kredite) wie auch auf die Preise (niedrigere Zinssätze für vergebene Kredite). Dieser Effekt fällt mit zunehmender Verbriefungsaktivität stärker aus Mit Unterschieden in den Finanzsystemen werden auch Wirkungsmechanismen im Sinne des Kostenkanals in Verbindung gebracht. Nach Chowdhury et al. (2006) führt in marktorientierten Finanzsystemen der intensive Wettbewerb zwischen Finanzintermediären in Frankreich, Großbritannien und Italien zu einer raschen Weitergabe des geldpolitischen Impulses, wodurch ein Kostenkanal begründet werde. In bankorientierten Finanzsystemen wie in Deutschland wäre hingegen das Durchreichen des geldpolitischen Impulses wegen des geringen Wettbewerbs zwischen den Finanzintermediären relativ schwach. Kaufmann und Scharler (2006) finden hingegen keine Anhaltspunkte für eine nennenswerte geldpolitische Bedeutung des Kostenkanals. Darüber hinaus seien die Heterogenitäten in den Finanzsystemen etwa zwischen den USA einerseits und dem Euroraum andererseits zu gering, um unterschiedliche Wirkungen der Geldpolitik im Sinne des Kostenkanals auslösen zu können. Welche Bedeutung Strukturunterschiede im finanziellen Sektor für die Transmission geldpolitischer Impulse - sei es via Zinskanal, Kostenkanal oder Kreditkanal - letztendlich haben werden, ist in der Literatur bislang umstritten. Einerseits wird auf „dramatische“ Unterschiede in den Finanzsektoren der EU-Länder in Bezug auf Größe, Konzentration, Finanzierungsalternativen und Ertragslage verwiesen und davon entsprechend asymmetrische Preis- und Produktionswirkungen geldpolitischer Maßnahmen erwartet (Cecchetti, 2001, 173, 188). Da diese strukturellen Unterschiede im finanziellen Sektor auf abweichenden gesetzlichen Strukturen basieren, könnten die Asymmetrien nur durch gesetzliche Harmonisierung beseitigt werden. Andererseits wird die Hypothese vertreten, dass sich Unterschiede in den finanziellen Strukturen in ihrer Transmissionsbedeutung auch kompensieren könnten (Schmidt, 2001, 225). So würde der finanzielle Sektor in Deutschland, der von den Geschäftsbanken dominiert wird, auf einen bestimmten (restriktiven) notenbankpolitischen Impuls stärker reagieren als der finanzielle Sektor in Großbritannien (oder in Frankreich und Irland), wo die Bedeutung der Geschäftsbanken geringer und damit das Band zwischen Zentralbank und finanziellem Sektor schwächer ist. Allerdings würden die Geschäftsbanken in Deutschland den notenbankpolitischen Impuls wegen ihrer engeren Beziehung zu den Kunden (Unternehmen und Haushalte) in geringerem Umfang weitergeben als dies in Großbritannien (oder in Frankreich und Irland) der Fall ist, wo Bindungen im <?page no="322"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 323 Sinne des Hausbankprinzips und entsprechende „Rücksichtnahmen“ nicht bestehen. Insgesamt würde deshalb in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien die Impulsstärke der Notenbank auf den finanziellen Sektor höher, der des finanziellen Sektors auf Unternehmen und Haushalte niedriger sein. Bei Betrachtung des gesamten Transmissionsprozesses sei daher die Bedeutung unterschiedlicher Finanzierungsstrukturen für ungleiche Wirkungen der einheitlichen Geldpolitik des Eurosystems nicht sonderlich groß. Gegenläufige Effekte könnten auch aus der Ausprägung anderer Strukturmerkmale resultieren. So etwa, wenn - wie in Deutschland - einer stärkeren Durchschlagskraft geldpolitischer Impulse infolge geringer Bankenkonzentration (als Näherungsgröße für die höhere Intensität des Interbankenwettbewerbs) eine schwächere infolge der Dominanz der Banken gegenüber anderen Finanzintermediären gegenübersteht. Tendenziell umgekehrt verhält es sich in Finnland. 138 Ein gewisser Anhaltspunkt zur Beantwortung der Frage, ob die strukturellen Ausprägungen der verschiedenen Merkmale eine höhere oder geringere Wirksamkeit der Geldpolitik in den einzelnen Ländern erwarten lassen, kann dadurch gewonnen werden, dass man die Konkordanz zwischen den länderweisen Rangordnungen (Tabelle IV.2.1) ermittelt. Der Konkordanzkoeffizient misst den Grad der Übereinstimmung in den Merkmalsausprägungen. Die Rangordnung wurde danach gebildet, ob das jeweilige Merkmal eine hohe (Rang 1) oder eine vergleichsweise schwache (Rang 12) Wirkung der Geldpolitik begünstigt. Ein sehr dichtes Zweigstellennetz beispielsweise würde wegen geringerer Informationsasymmetrie den „finanziellen Akzelerator“ im Sinne des Kreditkanals abschwächen (Rang 12). Ein hoher Wert für den Konkordanzkoeffizienten besagt, dass Länder mit kurzfristiger Finanzierung zugleich auch kurze Zinsbindungsfristen, geringes Gewicht der Banken gegenüber anderen Finanzintermediären, geringe Konzentration und ein dünnes Zweigstellennetz haben - und umgekehrt. Die Berechnungen ergeben einen Wert von 0,04. Danach würden sich die unterschiedlichen finanziellen Strukturen in ihrer Bedeutung für die Wirksamkeit der Geldpolitik in den einzelnen Ländern neutralisieren. Ein Abbau unterschiedlicher Wirkungen im finanziellen Sektor dürfte auch dadurch verstärkt werden, dass die Intensivierung des Wettbewerbs innerhalb der EWU und die einheitliche Geldpolitik des Eurosystems eine Tendenz zu einheitlichen Strukturen im finanziellen Sektor auslöst. 138 Wie schwierig allgemeine Aussagen über das Kreditangebotsverhalten der Banken als Reaktion auf geldpolitische Impulse sind, zeigt die Untersuchung von Ehrmann et al. (2003b, 264 f.) Zwar sind im Euroraum insgesamt wie auch in den einzelnen Mitgliedsländern signifikante gleichgerichtete Zusammenhänge zwischen geldpolitischem Impuls und Kreditangebot zu beobachten. Das Ausmaß der Reaktion ist jedoch in den untersuchten Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien) sehr unterschiedlich. Hierfür scheinen allerdings nicht wie in den USA Bankgröße und Eigenkapitalausstattung, sondern die Liquiditätsposition ausschlaggebend zu sein. (Siehe auch die Ausführungen im Kapitel IV.1.3.3 zur Reichweite des Kreditkanals sowie Box IV.2.1). TRANSMISSION <?page no="323"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 324 Die EWU ist nicht nur ein zeitpunktbezogenes Ereignis, dem bestimmte Angleichungen vorausgingen, sondern auch ein Prozess, in dem für die Herausbildung einheitlicher Bedingungen auf den Finanzmärkten naturgemäß Zeit benötigt wird. Nach Beobachtungen der EZB (2003b, 61 - 75; EZB (2012a, 67 ff.), war die Entwicklung in einzelnen Marktsegmenten unterschiedlich: nivellierenden Tendenzen bei den Tagesgeldsätzen auf dem Geldmarkt standen geringe Integrationsfortschritte auf den Wertpapiermärkten gegenüber. Empirische Untersuchungen (Angeloni / Ehrmann, 2003a) zufolge, sind insgesamt fortschreitende Angleichungsprozesse im finanziellen Sektor festzustellen. Einmal haben wechselseitige grenzüberschreitende Bankenverflechtungen - wenn auch nur allmählich - zugenommen, die als Indiz fortschreitender Finanzmarktintegration angesehen werden können. Zum anderen haben sich die Kreditlaufzeiten angenähert, und die Reaktionen der Bankzinsen auf geldpolitische Impulse sind seit 1999 in den Mitgliedsländern der EWU stärker und zugleich die Unterschiede dieser Wirkungen zwischen den Ländern geringer geworden. Für eine kausale Bedeutung der EWU spricht, dass die Autoren für eine „Kontrollgruppe“ (Großbritannien, Japan, Schweden, USA) keinen entsprechenden Zusammenhang in der Zeit nach 1999 finden. Für einen Angleichungsprozess spricht auch, dass die Unterschiede nominaler Zinssätze im Euroraum auf dem Interbanken- und Kapitalmarkt - bis 2010 - einer weitgehenden Homogenität Platz gemacht haben. Diese Entwicklungen setzten zwar schon vor 1999 ein, sie verstärkten sich aber danach dauerhaft. Hieraus resultieren Angleichungsprozesse in der Bedeutung des Zinskanals. Die EZB (2007f, 21 ff.)) gelangt zu dem Schluss, dass mit der EWU die finanzielle Integration von Geld- und Kapitalmärkten fortlaufend zugenommen habe und hierdurch Angleichungen des Transmissionsprozesses geldpolitischer Impulse erfolgten. Gleichwohl gebe es weiterhin Heterogenitäten wie etwa unterschiedliche Vermögensstrukturen, die bei einheitlicher Geldpolitik abweichende Vermögens- und darüber Nachfrageeffekte bewirken. Ein anderes Phänomen ist die starke Streuung der Zinsen für Konsumentenkredite, die auf länderindividuelle institutionelle Bedingungen (Wettbewerb, (steuer-) rechtliche Regeln) zurückgehen dürften. Verstärkend kommt in jüngerer Zeit hinzu, dass seit der Finanzkrise der Integrationsfortschritt nicht nur zum Stillstand kam, sondern sich teilweise sogar in Richtung Desintegration umkehrte und den geldpolitischen Transmissionsprozeß erheblich erschwerte (EZB, 2012a, 67 ff.) Es ist also auch zukünftig nicht auszuschließen, dass die Transmissionswirkungen der einheitlichen Geldpolitik auf Konsum, Investition und Produktion in den Mitgliedsländern differieren. Hinzu kommt noch ein anderer den Transmissionsprozess beeinflussender Komplex, und zwar konjunkturelle und realstrukturelle Unterschiede in den Mitgliedsländern. 2.2 Konjunkturelle und realstrukturelle Unterschiede Selbst wenn eine geldpolitische Maßnahme des Eurosystems in allen Mitgliedsländern der EWU zeitlich und in der Höhe eine übereinstimmende Zinswirkung hätte, können sich die realwirtschaftlichen Transmissionsprozesse dennoch in Abhängigkeit der kon- <?page no="324"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 325 junkturellen Ausgangssituation und bestimmter Strukturunterschiede im realen Sektor unterscheiden. Die geldpolitische Relevanz beispielsweise einer konjunkturellen Abschwächung ergibt aus der im Vergleich zur Aufschwungsphase ungünstigeren Einkommens- und Vermögensposition privater Haushalte und schlechteren Bilanzen von Unternehmen. Restriktive geldpolitische Impulse werden in einer Rezessionsphase - sei es über den Kapitalkostenkanal, sei es über den Kreditkanal - stärkere Produktionseinschränkungen hervorrufen als in einer Aufschwungsphase. Anhaltspunkte für solche Unterschiede bietet Abbildung IV.2.3, wo anhand eines Simulationsmodells die Reaktion der Industrieproduktion (über 13 Quartale) auf eine Erhöhung der Leitzinsen (um 35 Basispunkte) in Zeiten eines Konjunkturaufschwungs und eines Konjunkturabschwungs verfolgt wird. Die allgemeinen Reaktionsmuster ähneln sich zwar, doch ist das Ausmaß der Reaktion im konjunkturellen Abschwung im Allgemeinen stärker als im Aufschwung. Zudem scheinen zwischen den Ländern - wenn auch nicht gravierend zum Durchschnitt der EWU - temporäre Unterschiede im Ausmaß der Reaktion zu bestehen. Nimmt man noch den möglichen Fall hinzu, dass die Konjunkturentwicklungen in den Mitgliedsländern nicht synchron verlaufen, wird deutlich, dass die Wirkungen des einheitlichen geldpolitischen Impulses durchaus stark streuen können. Abbildung IV.2.3: Auswirkungen restriktiver geldpolitischer Maßnahmen auf die Produktion im Euro-Währungsgebiet in Zeiten eines Konjunkturaufschwungs ( ) und einer Konjunkturabschwächung ( ) 13 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 Deutschland 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 13 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 Österreich 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 Frankreich Belgien 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 13 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 13 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 TRANSMISSION <?page no="325"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 326 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 0,25 0,00 -0,25 -0,50 -0,75 -1,00 Italien Niederlande 13 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 13 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 Spanien Gemeinsames Modell 13 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 13 1 0 3 2 5 4 7 6 9 8 10 11 12 Quelle: EZB 2002c, 55. Unterschiedliche Reaktionen könnten auch durch Branchenstrukturen bedingt sein, da die Zinsempfindlichkeit der Investitionen etwa nach Kapitalintensitäten und Ausreifungszeiten der Investitionen differiert. Reale Strukturunterschiede könnten wegen der erhöhten Kapitalmobilität sogar eine größere Bedeutung für unterschiedliche Wirkungen der einheitlichen Geldpolitik haben als differierende finanzielle Strukturen. Die Zunahme der Kapitalmobilität hat entsprechend den jeweiligen Faktorausstattungen zu regionalen Agglomerationen spezialisierter Industriezweige geführt. Die hierdurch entstandenen regionalen Heterogenitäten wiederum könnten für national / regional abweichende Reaktionsmuster auf einheitliche geldpolitische Impulse verantwortlich sein. Zwar weist die EZB (2002c, 56; ähnlich Janger / Wagner, 2004, 40, 57) auf den vergleichsweise zu den USA hohen Homogenitätsgrad der EWU-Branchenstrukturen hin, sodass Unterschiede in den Transmissionsprozessen zwischen den Mitgliedsländern keine große Bedeutung haben dürften. Der Vergleich mit den USA kann aber nur als Relativierung des Strukturarguments angesehen werden, denn Untersuchungen der Preis- und Produktionswirkungen der Geldpolitik in Deutschland deuten tatsächlich auf nicht unerhebliche interindustrielle Unterschiede in Ausmaß und zeitlichem Verlauf hin (Hayo / Uhlenbrock, 2000, 138 und 140; Arnold / Vrugt, 2004). Untersuchungen für Wirtschaftszweige innerhalb des Verarbeitenden Gewerbes in OECD-Ländern zeigen ebenfalls signifikant unterschiedliche Wirkungen der Geldpolitik (Dedola / Lippi, 2005). In die gleiche Richtung weisen Befunde von Peersmann und Smets (2002a) für die branchenmäßige Outputreaktion auf geldpolitische Impulse. Für die Zeit von 1980 - 1998 ergibt der interindustrielle Vergleich von elf Industriezweigen in sieben <?page no="326"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 327 EWU-Mitgliedsländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Spanien und Österreich), dass Industriezweige, in denen langlebige Produkte hergestellt werden wie z. B. Metallverarbeitung und Transportausrüstung wesentlich zinsempfindlicher reagieren als etwa die Nahrungsmittel-, Getränke- und Genussmittelindustrie. Unterschiede in den Branchenstrukturen wie auch in den Anteilen von Konsumgüter- und Investitionsgüterindustrien in den Mitgliedsländern könnten deshalb für abweichende gesamtwirtschaftliche Zinselastizitäten verantwortlich sein. 139 Strukturelle Differenzierungen der Wirkungen monetärer Impulse könnten sich auch durch unterschiedliche Konsumquoten und Staatsquoten ergeben. 140 Da Ausgaben für Konsumgüter und die Ausgaben des Staates relativ zinsrobust sind, ergeben sich bei hohen Anteilen geringere gesamtwirtschaftliche Ausgabenänderungen als Folge zinspolitischer Maßnahmen. Außer solchen quantitativen Strukturen spielen noch spezifische Bedingungen in Teilbereichen der Wirtschaft eine wichtige Rolle. Dies gilt vor allem für die Arbeitsmärkte (siehe auch EZB, 2012l, 75 ff.), die in den derzeitigen Mitgliedsländern der EWU - wenn auch unterschiedlich - stark reguliert sind. 141 So sind z. B. in Spanien die Arbeitsmärkte hochgradig reguliert. Geldpolitisch bedeutsam sind diese Regulierungen, weil das Durchwirken monetärer Impulse im realen Sektor, also die Veränderung von Produktion und Beschäftigung behindert wird. Schließlich können sich aus dem Zusammenspiel von Außenwirtschaftsstruktur und Wechselkurskanal Änderungen im Transmissionsprozess ergeben. Wie bereits dargestellt, wird der Zinskanal normalerweise durch den Wechselkurskanal verstärkt. Da mit der gemeinsamen Währung der Wechselkurskanal innerhalb der EWU entfällt, fehlt auch dieser Verstärkungseffekt. 142 Es bleibt selbstverständlich der Wechselkurskanal für die Beziehungen außerhalb des gemeinsamen Währungsraumes (zu EU-Ländern, die nicht dem Eurosystem angehören und zu Nicht-EU-Ländern). Da die Außenhandelsverflechtung der Mitgliedsstaaten der EWU mit Drittstaaten stark differiert (siehe auch EZB, 2013b, 69 ff.) , könnte aus diesem Grunde auch die Transmission monetärer Impulse über den verbleibenden Wechselkurskanal unterschiedlich ausfallen. Hierbei ist freilich einzuschränken, dass der Hauptanteil der außenwirtschaftlichen Beziehungen auf Transaktionen innerhalb der EWU entfällt. 143 Durch die einheitliche 139 Siehe auch die eingehende Analyse von Arnold, Kool und Raabe (2006), die für Deutschland eine deutlich industriespezifische Kreditvergabe der Banken finden, die jedoch maßgeblich von Preis- und Produktionsentwicklungen in den Kredit nachfragenden Industrien bestimmt wird. 140 In den EWU-Ländern betrug die durchschnittliche Staatsquote (Gesamtausgaben des Staates in Prozent des BIP) im Jahre 1999 48,4 % und im Jahre 2011 49,4 %. Zwischen den Mitgliedsländern bewegten sich diese Quoten (2011) zwischen 57,1 % (Frankreich) und 38,4 % (Estland). 141 Zu denken ist an Flächentarife, Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, Kündigungsschutz- und Sozialplanvorschriften, Mitbestimmung, Befähigungsnachweise u.a.m. 142 Dies gilt natürlich nur für den nominalen Wechselkurs. Der reale, d. h. preisbereinigte, Wechselkurs ändert sich hingegen bei unterschiedlichen nationalen Inflationsraten innerhalb der EWU. 143 Die Ausfuhranteile (in % des BIP) der Mitgliedsländer der EWU (einschließlich des Handels innerhalb der EWU) bewegten sich im Jahre 1997 zwischen 19 % und 62 % bei einer durchschnittlichen Exportquote der EWU von 35 % (2010: 39,6 %). Ohne Handel innerhalb der TRANSMISSION <?page no="327"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 328 Währung dürfte diese Konzentration auf den innereuropäischen Handel noch verstärkt werden, möglicherweise zusätzlich unterstützt von protektionistischen Maßnahmen gegenüber Drittländern. Die Bedeutung des Wechselkurskanals würde hierdurch weiter abnehmen. Bei den vorangegangenen Ausführungen zu möglichen realstrukturellen Ursachen länderspezifischer Wirkungen der Geldpolitik ist jedoch einschränkend zu beachten, dass jeweils nur ein Kriterium isoliert in seiner Bedeutung für Transmissionsunterschiede erörtert wurde. In der Realität wirken die Länderspezifika jedoch - ebenso wie die der finanziellen Strukturen - gemeinsam auf den Transmissionsprozess ein - und könnten sich eventuell kompensieren. In diese Richtung lassen sich die Befunde von Dedola und Lippi (2005, 1565) interpretieren. Sie finden zwar signifikante interindustrielle Unterschiede bei der Wirkung monetärer Impulse, für die das branchenmäßig unterschiedliche Gewicht von Kapitalkosten relevant sein dürfte. Auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene des Ländervergleichs finden sie hingegen keine signifikanten Transmissionsunterschiede. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Wenn in EWU-Ländern unterschiedliche Effekte monetärer Impulse auf Preisniveau, Produktion und Beschäftigung ermittelt werden, ist zu bedenken, dass hierfür Heterogenitäten sowohl der Finanzsektorals auch der Realsektorstrukturen verantwortlich sein können. So könnte eine hohe Zinselastizität der Kreditnachfrage bei Banken darauf zurückgehen, dass einer Kreditverteuerung und Kreditangebotsbeschränkung der Banken im Gefolge einer restriktiven Geldpolitik relativ leicht durch ein Ausweichen auf eine Finanzierung durch Nicht-Banken begegnet werden kann und somit die Investitionstätigkeit wenig beeinträchtigt wird. Eine hohe Zinselastizität dieser Kreditnachfrage kann aber auch realstrukturell durch ein hohes Gewicht zinsempfindlicher (kapitalintensiver) Branchen bedingt sein. Die Kreditnachfrage würde hier durch die Steigerung der Kreditkosten zurückgedrängt. Unterschiede in den Realstrukturen können wiederum durch die einheitliche Geldpolitik mitverursacht werden. Die EZB setzt zwar für alle Länder einen einheitlichen kurzfristigen Nominalzins fest, der jedoch angesichts der (noch) stark abweichenden Inflationsraten (HVPI) zwischen den EWU-Ländern (Spannweite zwischen 1,1 % in Irland und 5,2 % in Estland im Jahre 2011) entsprechend unterschiedliche Realzinsen bedeuten und realstrukturell differenzierte Wirkungen auslösen kann. Kurzum: Zwischen Finanzsektor- und Realsektorstrukturen sind Wechselwirkungen möglich, die die Heterogenitäten zwischen den Ländern verstärken und darüber eine stabilitätsorientierte Geldpolitik erschweren können. 144 EWU betrug der Durchschnittsanteil im Jahre 1997 13,6 % und stieg 2010 auf 22,7 %. Er übertrifft die entsprechende Quote der USA (9,9 %) beträchtlich. 144 Angesichts der (befürchteten) asymmetrischen Wirkungen in den einzelnen Mitgliedsländern plädieren DeGrauwe und Sénégas (2003) für eine Fundierung der einheitlichen Geldpolitik auf nationalen Daten. Die Ausrichtung der Geldpolitik an gewichteten EWU-Aggregaten für Inflationsrate und Arbeitslosenquote solle die EZB durch länderindividuelle Verlustfunktionen (gemessen an den Inflations- und Produktions- / Beschäftigungsfolgen der Geldpolitik) ersetzen und diese für den gewogenen Durchschnitt der Länder geldpolitisch minimieren. <?page no="328"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 329 Der EZB angesichts von Heterogenitäten ein breiteres Zielspektrum vorzugeben, hülfe allerdings nicht weiter. Hierdurch würde eine Fülle ungelöster Probleme aufgeworfen, die bereits bei der Analyse des US-amerikanischen Systems (siehe Kapitel II.2.2) erörtert wurden. Anstatt die Geldpolitik in den Dienst mehrerer Ziele zu stellen, die in den Mitgliedsländern in mehr oder weniger großem Umfang konfligieren können, sind konsequent auf makroökonomische Stabilität ausgerichtete Finanz- und Lohnpolitiken zu favorisieren (Kapitel V.1 und 2). Die Verfolgung komplexer Zielbündel ist eher geeignet, Transparenz und Glaubwürdigkeit der Geldpolitik und damit auch ihre Effizienz zu unterminieren. 2.3 Glaubwürdigkeit des Eurosystems und geldpolitische Effizienz Notwendigerweise muss sich eine neue Zentralbank Glaubwürdigkeit erst durch eine konsequente Stabilitätspolitik erwerben. Institutionelle, konzeptionelle und personelle Entscheidungen sowie die weltweit niedrigen Inflationsraten haben dazu beitragen, dass der geldpolitische Start nicht durch hohe und instabile Inflationserwartungen belastet war. In institutioneller Hinsicht gehörten hierzu die Unabhängigkeit des Eurosystems bei Wahrnehmung seiner Aufgaben und seine vorrangige Verpflichtung auf das Ziel der Preisstabilität. 145 Ein institutionell bedingter Stabilisierungsbeitrag kann auch von der Weiterexistenz der nationalen Zentralbanken - wenn auch in anderer Funktion - im Eurosystem ausgehen. Konzeptionell sind für die Glaubwürdigkeit Transparenz und Konsistenz im geldpolitischen Handeln maßgeblich. Eine für die Öffentlichkeit transparente Geldpolitik trägt nicht nur wegen ihrer Verstehbarkeit und Nachvollziehbarkeit zur Glaubwürdigkeit bei. Glaubwürdigkeit wird auch gestärkt, weil Klarheit für die „Empfänger“ für die Notenbank als „Absender“ selbstdisziplinierend wirkt, was wiederum Stabilitätsstatt Inflationserwartungen begünstigt. Andererseits ist eine undurchsichtige Geldpolitik der Glaubwürdigkeit abträglich, erzeugt keine Stabilitätserwartungen und ist damit zugleich ein Hindernis für einen angestrebten Stabilitätserfolg. So würden ohnedies unvermeidliche Informationsunvollkommenheiten noch dadurch gesteigert, wenn das Eurosystem etwa statt einer grundsätzlich an Regeln orientierten Geldpolitik einen unvorhersehbaren rein diskretionären Kurs verfolgen würde. Die Unstetigkeit verursacht Misstrauen und Verunsicherung des privaten Sektors und kann deshalb den Transmissionsprozess monetärer Impulse verzerren. Wenn das Eurosystem z. B. auf kurzfristige Geldmengenänderungen, die aus (verbreiteten) kurzfristigen Schwankungen 145 Den Stabilitätsbeitrag institutioneller Änderungen verdeutlicht Spiegel (1998). Nach seinen empirischen Analysen hat die im Mai 1997 verkündete Unabhängigkeit der Bank von England eine merkliche Senkung der Inflationserwartungen bewirkt, die sich bei langfristigen Wertpapieren in einer sofortigen Ermäßigung der Zinssätze um 34 Basispunkte und innerhalb einer Zwei- Wochen-Frist um 60 Basispunkte niedergeschlagen habe. TRANSMISSION <?page no="329"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 330 der Geldnachfrage 146 resultieren, zinspolitisch gegensteuernd reagiert, so wäre dies der Transparenz nicht nur nicht dienlich, sondern könnte selbst Instabilitäten und Instabilitätserwartungen erzeugen, die zur Verfehlung der Preisstabilität führen. Ein Beitrag zur Transparenz der Geldpolitik des Eurosystems und darüber zu seiner Glaubwürdigkeit besteht bereits in der reinen Existenz einer geldpolitischen Strategie. Im Speziellen sind hier z. B. die quantitative Definition von Preisstabilität, die Ankündigung eines Referenzwertes für das Geldmengenwachstum und die gleichzeitige Zusage, die Ursachen möglicher Abweichungen der tatsächlichen Entwicklung in monatlichen Bulletins und Pressekonferenzen zu begründen, zu nennen. Bei den personellen Entscheidungen schließlich vermag die persönliche Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB-Rats bereits ein Stück Glaubwürdigkeit ex ante zu begründen. Nicht zu vernachlässigen ist auch eine Kontinuität sichernde Gestaltung der Amtszeit der Mitglieder des EZB-Rats. Der sehr hohe Stellenwert der Glaubwürdigkeit für eine erfolgreiche Geldpolitik ergibt sich nicht zuletzt aus dem Verhältnis von langfristiger Stabilitätsorientierung und der Beeinflussung kurzfristiger Größen am Geldmarkt. Die EZB kontrolliert die kurzfristigen Zinsen, wirkt aber auf die für Investitionsentscheidungen relevanten langfristigen Zinsen nur indirekt über die Beeinflussung der Inflationserwartungen ein. Verfügt eine Zentralbank über eine hohe Glaubwürdigkeit, dass sie konsequent einen Stabilitätskurs verfolgt, werden sich auf mittlere und längere Sicht keine zinserhöhenden Inflationserwartungen einstellen, die die Preisnorm überschreiten. Mit den institutionellen, konzeptionellen und personellen Entscheidungen scheinen also wesentliche Vorbedingungen für ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit des Eurosystems und insoweit auch eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche stabilitätsorientierte Geldpolitik erfüllt worden zu sein. Die Glaubwürdigkeit wird in jüngster Zeit allerdings durch bestimmte Maßnahmen der EZB als gefährdet angesehen. Die umfangreichen Käufe der EZB von Staatsanleihen bestimmter Mitgliedsländer wird als - prinzipiell unzulässige - Stützung nationaler Haushalte und damit als eine faktische Veränderung der Währungsverfassung gedeutet. Auf längere Sicht werde hierdurch die (politische) Unabhängigkeit der EZB in Frage gestellt, die die Glaubwürdigkeit der Gelpolitik unterminiert (Neumann, 2012, 15). In die gleiche Richtung geht auch die Kritik von Kooths und van Roye (2012, 8), wonach die (im Kontext der Schuldenkrise) „permissive Geldpolitik des Eurosystems“ geeignet sei, „die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik zu gefährden“. Zu den häufigsten Kritikpunkten an der EZB zählt die der Glaubwürdigkeit abträgliche unzureichende Transparenz in informationeller und konzeptioneller Hinsicht, aber auch hinsichtlich des Entscheidungsprozesses. 147 Eine prominente Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die „ECB Watcher“ (Box IV.2.2). 146 Zu denken ist etwa an zinsund/ oder erwartungsinduzierte Portfolioumschichtungen. 147 Zu der teilweise sehr vehementen Auseinandersetzung siehe etwa die Kritik von Buiter (1999) und die Reaktion von Issing (1999a). Die hinter diesen kontroversen Positionen stehenden unterschiedlichen „Philosophien“ der Bank von England einerseits und der Deutschen Bundesbank andererseits analysiert Cukierman (2001, 65 f.). <?page no="330"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 331 Box IV.2.2: Die „ECB Watcher“ Die Gründung der EZB hat auch zur Entstehung einer neuen Zunft von Ökonomen geführt: die ECB Watcher. Sie beobachten und kommentieren die europäische Geldpolitik. Es handelt sich nicht um eine einzelne institutionalisierte Gruppe, sondern um verschiedene Zusammenschlüsse mit unterschiedlicher Fokussierung. Eine Gruppe von Ökonomen, die als Wirtschaftsjournalisten tätig sind, erstellen aktuell und regelmäßig für ihre Publikationsorgane Berichte, Kommentare und Analysen zu geldpolitischen Maßnahmen. Vor allem privatwirtschaftlichen Zielen dienen die Analysen von Ökonomen in Finanzinstituten. Da geldpolitische Maßnahmen primär bei Finanzinstituten anknüpfen, sind diese als einzelne Unternehmen wie auch die Branchen insgesamt an einer Wirkungsanalyse aktueller und erwarteter geldpolitischer Entscheidungen interessiert . Wichtige praktische Bedeutung haben Analysen geldpolitischer Maßnahmen auch für internationale Organisationen wie beispielsweise Weltbank oder Internationaler Währungsfonds. Da sich der Euro weltweit als zweitwichtigste Währung (nach dem US-Dollar) etabliert hat, sind die Wirkungen geldpolitischer Maßnahmen auf Zinsen, Wechselkurse und Kapitaltransaktionen und deren realwirtschaftliche Folgen etwa in Entwicklungsländern für die internationalen Organisationen ebenfalls entscheidungsrelevant. Nicht unmittelbar anwendungsorientiert ist eine vierte Gruppe von Ökonomen, die meist wissenschaftlichen Instituten angehören und die theoretischen Grundlagen wie auch die praktische Umsetzung geldpolitischer Maßnahmen kritisch analysieren. Eine (deutsche) Gruppe sind die sog. ECB Observer, die die selbst gesteckte Aufgabe folgendermaßen beschreibt: „Ziel der ECB Observer ist es, die konzeptionelle und operative Geldpolitik der EZB zu analysieren und zu kommentieren. Die Arbeit der ECB Observer versucht, im Rahmen eines vorausschauenden Ansatzes die Wirkung der aktuellen Geldpolitik für die künftige realwirtschaftliche und monetäre Entwicklung im Euro-Raum abzuschätzen. Die Geldpolitik der EZB wird dabei vor dem Hintergrund geldtheoretischer, institutionenökonomischer und kapitalmarkttheoretischer Ansätze sowie empirischer Erkenntnisse bewertet. Die Untersuchungsergebnisse sollen professionellen Finanzmarktteilnehmenrn sowie der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um so Interesse und Verständnis für die Bedeutung der EZB-Geldpolitik im Euro-Raum zu stärken“. (http: / / www.ecb-observer.com) Dieses Selbstverständnis dürfte weitgehend auch für andere, international zusammengesetzte ECB-Watcher-Gruppen gelten wie den EMU-Monitor, der relativ kurze Stellungnahmen auf Pressekonferenzen abgibt (http: / / www.eurointelligence.com). Das Centre for Economic and Policy Research (CEPR, London) erstellt hingegen ausführlichere Berichte. (http: / / www.cepr.org/ pubs/ books/ mecb.asp). Das Centre for European Policy Studies (CEPS, Brüssel) veröffentlicht ebenfalls ausführliche Stellungnahmen (http: / / www.ceps.be). Es ist naheliegend und für die wissenschaftliche Diskussion durchaus fruchtbar, dass bei der Vielzahl von Beobachtern wegen abweichender Interpretationen, Zielvorstellungen und theoretischer Positionen statt einer Homogenität der Meinungen ein mehr oder weniger breites Meinungsspektrum anzutreffen ist. Dies wird auch deutlich auf den alljährlichen Konferenzen von ECB-Watchern. (Die letzte und bereits 15. Konferenz fand im Juni 2013 in Frankfurt statt): In der Regel erläutern hier auch Vertreter der EZB ihren Standpunkt und stellen sich der kritischen Diskussion. Bislang haben alle Präsidenten der EZB (Duisenberg, Trichet, Draghi) an solchen Konferenzen teilgenommen. TRANSMISSION <?page no="331"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 332 2.3.1 Transparenz der Geldpolitik und Umfeld der Unsicherheit Elementare Bestandteile einer transparenten Geldpolitik sind neben der eindeutigen Definition des Endziels Klarheit über die geldpolitische Konzeption bzw. Strategie, Veröffentlichung von entscheidungsrelevanten Informationen und die schlüssige Begründung der Entscheidung. 148 Transparenz über die Zielgröße besteht insoweit, als dem Eurosystem die Sicherung der Preisstabilität zweifelsfrei als Primärziel vorgegeben ist. Unklarheiten wegen einer fehlenden Rangordnung von Preisstabilitäts-, Beschäftigungs- und Zinszielen wie in den USA gibt es nicht. Zu einer die Glaubwürdigkeit stärkenden Transparenz zählt allerdings auch, dass diese Zielpriorität und begrenzte Zuständigkeit von der Zentralbank kommuniziert und nicht der Eindruck erweckt wird, sie wolle und könne eine von nicht wenigen Regierungen und Verbänden geforderte unmittelbar wachstums- und beschäftigungsfördernde Geldpolitik betreiben. Den besten Beitrag, den die Geldpolitik dafür liefern kann, ist eine an Preisstabilität orientierte Politik. Weniger Klarheit besteht hingegen über die Strategie. Dies gilt jedenfalls dann, wenn mit Transparenz die Vorstellung verbunden wird, dass von beobachtbaren Fakten auf die Absichten der Zentralbank geschlossen und damit ihre Politik verstanden werden kann (Faust / Svensson, 1998). So wurde einerseits am ursprünglichen Konzept bemängelt, dass an Stelle eines Geldmengenziels ein weniger bindender Referenzwert bekannt gegeben wird. Andererseits wurde überhaupt die Herausstellung einer Informationsvariablen kritisiert. Durch die Zwei-Säulen-Strategie wurde zudem ein Element der Zweideutigkeit eingeführt. Intransparenz kann daraus erwachsen, dass die monetäre und die wirtschaftliche Säule widersprüchliche Signale in sich bergen können. Dass ein Überschreiten des Referenzwertes in einem Falle restriktive geldpolitische Maßnahmen auslöst, in einem anderen Falle aber nicht, ist für die Öffentlichkeit in der Tat schwer nachvollziehbar. Zudem sind die Erstellung und Bedeutung der Inflationsprojektionen, die dem EZB-Rat mit als Informationsgrundlage dienen, wenig transparent. Diese Projektionen werden von Experten des Eurosystems erstellt und kombinieren ökonometrische Modelle mit nicht modellgestützten Expertenurteilen und Daumenregeln. Mit der Berücksichtigung einer Vielzahl ökonometrischer Modelle, institutioneller Faktoren sowie spezifischer sektoraler oder regionaler Informationen ergibt sich jedoch eine, wenn auch schwerlich vermeidbare, wenig durchschaubare Komplexität. Hinzu kommt die unbestimmte geldpolitische Rolle der Projektionen. Sie sollen „nur“ Expertenschätzungen des Eurosystems, nicht aber eine Inflationsprognose des geldpolitisch verantwortlichen Gremiums, also des EZB-Rats sein. Den Modellen und Expertenurteilen liegen unveränderte Wechselkurse, bei den Zinsen dagegen Markterwartungen zugrunde. Die tatsächliche Preisentwicklung, die Gegenstand einer Inflationsprognose wäre, kann aber durch geldpolitische Maßnahmen, die Wechselkurse direkt oder in- 148 Zu einem instruktiven Überblick über die theoretische und empirische Literatur zur geldpolitischen Bedeutung dieser und weiterer Kategorien von Transparenz siehe van der Cruijsen / Eijffinger (2007). <?page no="332"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 333 direkt verändern, einen anderen Verlauf nehmen. 149 Da die Projektionen in der Verantwortlichkeit von Experten des Eurosystems stehen, können sie auch nicht im Sinne eines geldpolitischen Inflationsziels wie im Rahmen der Strategie des „inflation targeting“ interpretiert werden. Inwieweit die Projektionen über die Bedeutung einer - neben vielen anderen - Informationsquelle für die geldpolitische Entscheidungsfindung hinausgehen, bleibt unklar. Dies wird noch dadurch unterstützt, dass in die Inflationsprognose nicht alle Determinanten der Preisentwicklung eingehen, sondern monetäre Größen bewusst „außen vor“ bleiben. Nach dem Konzept der EZB sollen für sich genommen weder die monetäre Entwicklung noch die Beurteilung der Inflationsaussichten anhand der wirtschaftlichen Säule die Geldpolitik bestimmen. Die Geldpolitik soll vielmehr auf der Gesamtschau beider Säulen beruhen. Aus der Kombination von Monetärer Analyse und breit fundierter Beurteilung der Preisentwicklung ergeben sich naturgemäß Intransparenzen. Befürworter einer monetären Orientierung werden die Hinnahme von Abweichungen vom Referenzwert bei der Zwei-Säulen-Strategie für intransparent halten. Entsprechendes gilt für Anhänger von Inflationszielen, denen deren „inkonsequente“ Verfolgung bei der Zwei-Säulen-Strategie als intransparente Geldpolitik erscheint. In Abhängigkeit der jeweils favorisierten Strategie werden die Informationen über die Zwei-Säulen-Strategie einerseits als unzureichend und andererseits als zu komplex kritisiert. Die Klage ist hier letztlich Folge eines Dissens auf der theoretischen Ebene. Die Transparenzproblematik ist damit im Mischkonzept angelegt. Die Vorgabe unterschiedlicher Zeithorizonte für die beiden Säulen - eher langfristig bei der Monetären Säule, eher kurzfristig bei der Wirtschaftlichen Säule - wirkt hier eher noch zusätzlich verwirrend. Gegen beide Positionen lassen sich aus theoretischer und empirischer Sicht Einwände erheben: Gegen die Transparenzannahme einer Inflationszielstrategie sprechen schon allein die Komplexität der zu berücksichtigenden Variablen und die unzureichend bekannten time-lags geldpolitischer Impulse, sodass diese Strategie für die Öffentlichkeit eher als inhärent intransparent erscheint (siehe Kapitel III.2.4.2). Undurchsichtig muss für die Öffentlichkeit auch bleiben, dass unter Ökonomen unumstritten ist, dass Inflation langfristig von der Geldmengenentwicklung bestimmt wird, diese Größe aber konzeptionell kaum mehr eine Rolle zu spielen scheint. Ein Geldmengenkonzept zeichnet sich hingegen durch theoretische Klarheit aus. Diese Klarheit verliert aber in der Öffentlichkeit an Überzeugungskraft, wenn sie sich in der tatsächlichen Entwicklung der Geldmenge (im Vergleich zum Referenzwert und zur Inflationsrate) nicht widerspiegelt 150 und der Öffentlichkeit die Ursachen hierfür unklar bleiben. 149 Trotz des methodischen und informationellen Aufwands ist zudem nie auszuschließen, dass die Inflationsprojektion, die möglicherweise als geldpolitische Referenzgröße dient, sich aus anderen als geldpolitischen Gründen (z. B. Lohnabschlüsse, Ölpreisschocks) als falsch herausstellt. Ob sich richtige Schätzungen im Wettbewerb zwischen den Experten des Eurosystems und anderen Institutionen herauskristallisieren werden, ist zumindest ungewiss. Zu einer sehr skeptischen Einschätzung siehe Cecchetti et al. (2000) und Kap. III.2.6. 150 Das Eurosystem hätte allerdings Erfahrungen der Deutschen Bundesbank nutzen können, die mit der Einführung des Geldmengenkonzepts im Jahre 1975 für die Geldmenge ein jährliches TRANSMISSION <?page no="333"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 334 Gegenüber der Kritik mangelnder Transparenz ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das Eurosystem seine geldpolitischen Entscheidungen in einem Umfeld erheblicher Unsicherheit über die aktuelle und zukünftige Wirtschaftslage und ihrer Wirkungsweise zu treffen hat. Diese Unsicherheiten betreffen (1) Qualität und Verfügbarkeit von Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung (Datenunsicherheit); (2) die für die Transmissionsmechanismen der Geldpolitik relevanten strukturellen Beziehungen (Modellunsicherheit); (3) die aus den wechselseitigen Beziehungen zwischen Zentralbanken und privaten Akteuren resultierenden Erwartungen und Verhaltensweisen (Parameterunsicherheit). Angesichts solcher Daten-, Parameter- und Modellunsicherheiten ist festzuhalten, dass die der Intransparenz geziehenen geldpolitischen Handlungsträger offenbar selbst einem Transparenzproblem gegenüberstehen. Das Eurosystem müsste mithin Transparenz für etwas schaffen, was es selbst nur unzureichend kennt. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund des zunehmenden und verstärkten Auftretens von Schocks (als Beispiele seien genannt: Aktienkurseinbrüche 2000, Terroranschläge vom 11. September 2001, Immobilienpreisboom in mehreren EWU-Ländern, Finanzkrise 2008, weltweite Wirtschaftskrise 2009, Staatsschuldenkrise seit 2010). Es ist jedoch nicht nur fraglich, ob die Forderung nach Transparenz im Sinne präziser Informationen überhaupt eingelöst werden kann. Transparenz mittels Publikation von mehr Informationen durch die Zentralbank kann durchaus auch ein zweischneidiges Schwert sein. Morris und Shin (2002) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwei Fälle: Möchte die Zentralbank bestimmte Verhaltensweisen induzieren und ist sie alleinige Quelle der Informationen, wird deren Publikation für die privaten Akteure handlungsleitend sein. Je präziser diese Informationen, desto wirksamer die Geldpolitik. Bestehen jedoch - wie in der realen Welt - mit Finanzmarktanalysten und Wirtschaftskommentatoren auch private Informationsquellen, konkurrieren diese mit den „amtlichen“ (der Zentralbank). Möglicherweise werden letztere durch - genauere - private sogar verdrängt. Je besser der private Sektor bereits aus privaten Quellen informiert ist, desto höher sind die Genauigkeitsanforderungen an weitergehende „amtliche“ Informationen. Besteht kein Verlass auf höhere Genauigkeit, können weitergehende Informationen durch die Zentralbank kontraproduktiv sein. Versteht man unter Transparenz alle institutionellen Merkmale, die die Erwartungsbildung des privaten Sektors über die zukünftige Geldpolitik und damit über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung erleichtert, wird erneut deutlich, dass eine erhöhte Transparenz schlechthin die Interpretation der Geldpolitik nicht unbedingt verbessern muss. Je höher die Transparenz in diesem Sinne, desto empfindlicher reagieren erwartungsabhängige Variablen wie beispielsweise Wechselkurse, Aktienkurse, Infla- Punktziel setzte und dieses wegen Zielverfehlungen 1979 zugunsten einer Korridorvorgabe aufgab. Allerdings hätte auch ein relativ breiter Korridor von ± 2 % seit 2005 in vielen Fällen keine Treffsicherheit herbeigeführt. <?page no="334"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 335 tionsraten und Zinsen auf Änderungen der Geldpolitik. Bei geringer Glaubwürdigkeit einer Zentralbank hinsichtlich konsequenter Verfolgung der Preisstabilität ist Transparenz vorteilhaft. Sie wirkt beispielsweise gegenüber zu expansiven geldpolitischen Maßnahmen über steigende Inflationserwartungen - und damit beschleunigter Inflation - quasi im Rückkoppelungsprozess disziplinierend. Bei hoher Glaubwürdigkeit hingegen bedarf es dieser Disziplinierung nicht. Im Falle makroökonomischer Schocks kann Transparenz dergestalt zur Zwangsjacke werden, dass eine angemessene geldpolitische Reaktion zugunsten einer „exzessiven Inflationsabneigung“ unterbleibt. Der optimale Grad der Transparenz impliziert deshalb für die Geldpolitik einen trade offzwischen Glaubwürdigkeitsgewinn und Flexibilitätsverlust. Wenn auch im Regelfall davon ausgegangen werden kann, dass Transparenz als Beitrag zur Glaubwürdigkeit die Effizienz der Geldpolitik erhöht, so zeigen die vorstehenden theoretischen Überlegungen doch, dass dies nicht notwendigerweise der Fall ist. Zudem kann Intransparenz auch von der Zentralbank aus politischen Gründen gewollt sein. So ist Mishkin (2007, 327) der Ansicht, dass das Fed in der Vergangenheit - und teilweise noch immer - bei seinen geldpolitischen Aktionen intransparent war, um Konflikte mit dem Kongress und dem Präsidenten zu vermeiden. Einen ähnlichen Eindruck kann man von der EZB-Politik seit Beginn der Staatsschuldenkrise bekommen. Zu denken ist beispielsweise an die Uneinigkeit im EZB-Rat, die zum Ausscheiden einzelner Mitglieder führte, sich widersprechende Aussagen einzelner EZB-Ratsmitglieder in der Öffentlichkeit, widersprüchliche Aüßerungen des Präsidenten Draghi zum Ankauf von Staatsanleihen oder die Rolle der EZB bei der Bankenaufsicht. Die Transparenzdiskussion wird weiterhin durch ein sehr heterogenes Transparenzverständnis erschwert. Perfekte Informationen sind nicht möglich und diesbezügliche Transparenzforderungen deshalb nicht einlösbar. Zudem ist zu beachten, dass mehr Information nicht notwendigerweise mehr Transparenz bedeutet. Informationen sind immer zu interpretieren im Lichte bestimmter Theorien. Solange kein Konsens über die „richtige“ ökonomische Theorie besteht, sind Informationen immer mehr oder weniger transparent. Mehr Informationen und höherer Präzisierungsgrad garantieren angesichts unterschiedlichen theoretischen Vorverständnisses und unterschiedlicher nationaler Erfahrungen keineswegs ein allgemein besseres Verständnis des Kurses der einheitlichen Geldpolitik. Immerhin deutet die Mehrzahl neuerer theoretischer und empirischer Analysen zur geldpolitischen Bedeutung von Transparenz auf einen eher positiven Einfluss hin (van der Cruijsen / Eijffinger, 2007, 23 f.). Transparenz fördert die Vorhersehbarkeit geldpolitischer Entscheidungen, begünstigt die Erwartungsstabilisierung und trägt zu geringerer Volatilität der Zinsen und niedrigerem Zinsniveau bei. Trotz dieser positiven Tendenzen bleiben Ungewissheiten und es erscheint deshalb sinnvoll, dass die Zentralbank Transparenz in dem Sinne schafft, dass sie das Publikum von der Angemessenheit ihrer Entscheidungen zu überzeugen versucht. Transparenz bezieht sich hier „nur“ auf die wirksame Kommunikation über den geldpolitischen Entscheidungsprozess. Ebensowenig wie sich im Detail die Komplexität der Entscheidungsgrundlagen vermitteln lässt, kann auch keine vollständige Transparenz über den geldpolitischen Entscheidungsprozess geschaffen werden. Angesichts der Vielfalt von Daten, Beurteilungen, Präferenzen und Entscheidungsverfahren ist ein Rest von „black TRANSMISSION <?page no="335"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 336 box“ oder „grey box“ unvermeidbar. Dies gilt für das Verständnis der Öffentlichkeit gleichermaßen wie für das Entscheiden durch die Zentralbank. Transparenz kann hier als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses angesehen werden und meint letztlich „eine gemeinsame Sprache“ von Öffentlichkeit und Zentralbank. Klarheit und Ehrlichkeit in der Präsentation und Interpretation von Informationen sind hierzu unerlässlich. 151 Nach eigenem Selbstverständnis hat die EZB (2000c, 51) „die Forderung nach Klarheit und Einfachheit einerseits und nach Offenheit und Ehrlichkeit andererseits in Einklang gebracht“. (Siehe auch EZB (2001c, 63 ff.). Bei dem sehr unterschiedlichen Verständnis von Transparenz wird dieser Anspruch aber schwerlich allgemeine Zustimmung finden. Ein ähnliches Problem wird aufgeworfen, wenn die Zentralbank Forderungen nach vermehrten Hinweisen über den zukünftigen geldpolitischen Kurs und zugrunde liegende Risikoabschätzungen nachkäme. Auch dies ist ein zweischneidiges Schwert. Den (vermeintlich) verbesserten Entscheidungsgrundlagen für die Marktakteure steht das Glaubwürdigkeitsrisiko gegenüber, wenn angesichts aktueller (etwa konjunktureller) Entwicklungen eine gegenüber den perspektivischen Hinweisen abweichende Kurskorrektur erforderlich wird. Sind die zukunftsbezogenen Hinweise von den Märkten (Finanzmärkte, Devisenmärkte) aber bereits in entsprechende Kursentwicklungen umgesetzt („eingepreist“) worden, kann die Korrektur zu erheblicher Verunsicherung beitragen. Es dürfte kaum möglich sein die für eine erfolgreiche Geldpolitik optimale Transparenz anzugeben. Die Relevanz des Problems wird aber immerhin von empirischen Studien unterstrichen, die zeigen, dass und wie Verlautbarungen der Zentralbank von Finanzmärkten aufgenommen werden. Zugrunde liegen z. B. „Wording-Indikatoren“, die auf der Basis von sog. Code-Wörtern der monatlichen „Einleitenden Bemerkungen“ des Präsidenten der EZB entwickelt und als Richtungssignale (restriktiv, expansiv, neutral) für die zukünftige Geldpolitik interpretiert werden. Heinemann und Ullrich (2005) finden, dass der „Wording-Indikator“ die Vorhersagekraft einer Taylor-Rule (siehe Kap. III.4.3) zwar nicht ersetzen kann, seine Einsetzung in die Taylor-Gleichung wohl aber die Vorhersagekraft signifikant erhöht. Auch Lamla und Rupprecht (2006) knüpfen an den monatlichen Verlautbarungen an und fragen nach der Wirkung der darin identifizierten Signale auf die Finanzmärkte. Sie stellen eine den Signalen entsprechende Veränderung der zeitlichen Zinsstruktur für einen Zeithorizont von drei Monaten bis zwei Jahren fest. Wenn Zentralbanken generell und das Eurosystem angesichts der spezifischen Ausgangsbedingungen im Besonderen in einem Umfeld der Unsicherheit über aktuelle und insbesondere zukünftige Entwicklungen handeln (müssen), stellt sich die Frage nach der unter solchen Bedingungen optimalen Geldpolitik. Empirische Beobachtungen zeigen, dass Zentralbanken bei Zinsänderungen weithin zu vorsichtigem Vorgehen in kleinen Schritten neigen („interest rate smoothing“). Bei Unsicherheit mag ein derartiges Verhalten zwar intuitiv plausibel erscheinen. Theoretische Analysen verdeutlichen jedoch, dass aggressivere anstatt vorsichtig-graduelle Reaktionen der Geldpolitik auf beispielsweise Nachfrageschocks keinen Attentismus aufkommen lassen und deshalb in gewissen Fällen dem Optimalitätsanspruch eher gerecht werden können. Wenn die 151 „Eine Zentralbank sollte sagen, was sie tut, und tun, was sie sagt“ (EZB, 2001e, 67). <?page no="336"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 337 Zentralbanken gleichwohl den (theoretisch) „suboptimalen“ Weg beschreiten, kann hierfür verantwortlich sein, dass zu den Daten-, Modell- und Parameterunsicherheiten noch eine weitere Unsicherheit tritt: die durch die Geldpolitik selbst erzeugte Unsicherheit. Es ist sicher nicht auszuschließen, dass entschlossenere Zinsschritte in bestimmten Situationen (etwa im Falle andauernder Inflationserfahrungen) Unsicherheit über Kurs und Folgen der Geldpolitik besser abzubauen vermögen als vorsichtig-graduelle Zinsänderungen. Aus der Sicht der Zentralbanken erscheint allerdings die Befürchtung nicht unbegründet, dass aggressiveres Vorgehen mehr zur Verunsicherung beiträgt. Hinzu kommt ein möglicher Glaubwürdigkeitsverlust. Vorsichtig-graduelles Vorgehen kann sich als „zu spät und zu wenig“, aggressives Vorgehen als überzogen erweisen. Im ersten Falle müsste in kleinen Schritten „nachgebessert“, im zweiten Falle eine Richtungsänderung eingeschlagen werden. (Häufige) Richtungswechsel können von den Marktteilnehmern jedoch als Zeichen verstanden werden, die Zentralbank habe die Geldpolitik nicht unter Kontrolle. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig die Kommunikation mit der Öffentlichkeit über die Angemessenheit des geldpolitischen Kurses ist. Zu den angemahnten Defiziten im Kommunikationsprozess gehört auch die (bislang unerfüllte) Forderung nach Veröffentlichung der Protokolle der Ratssitzungen der EZB. Diese Forderung ist auch eine Folge der Unabhängigkeit, die vielen Notenbanken in den letzten Jahren zugestanden wurde. Der EZB-Rat hat hingegen auf die Besonderheiten des Eurosystems als supranationale Notenbank verweisend dagegen entschieden. Diskussionen im EZB-Rat könnten durchaus anders verlaufen, wenn Sitzungsprotokolle veröffentlicht würden. Es wird befürchtet, dass mit der Veröffentlichung des Abstimmungsverhaltens einzelner Mitglieder Interessen einer Renationalisierung der Geldpolitik Vorschub geleistet werden könnte. Die Entscheidungen mancher Mitglieder könnten eher von politischen oder persönlichen anstatt fachlichen Überlegungen geleitet werden. Zudem ist nicht auszuschließen, dass die nationalen Regierungen im Sinne nationaler Interessen Druck auf „ihre“ EZB-Ratsmitglieder auszuüben versuchen, was den Unabhängigkeitsstatus in Frage stellen könnte. Ob die Effizienz der Geldpolitik durch die Veröffentlichung der Einzelvoten anstatt des Mehrheitsvotums steigt, ist umstritten. Einerseits wird die individuelle Zuordnung als vorteilhaft herausgestellt, weil in diesem Falle die individuelle geldpolitische Kompetenz deutlich würde. Dies könnte zugleich als Ansporn wirken, da die beruflichen Aussichten nach Ablauf der Amtszeit hierdurch maßgeblich beeinflusst werden. Wettbewerbsdruck durch Veröffentlichung des Abstimmungsverhaltens kann die Kompetenz des Zentralbankrats insgesamt erhöhen. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die öffentliche Diskussion mehr mit dem Entscheidungsverhalten einzelner Mitglieder und deren Nationalität beschäftigt als mit dem Beschluss des EZB-Rats selbst. Der mögliche politische Druck auf einzelne Ratsmitglieder könnte bei dem von Neumann (2012, 18) vorgeschlagenen Verfahren gemildert werden. Danach sollen die Mehrheitsverhältnisse bei geldpolitischen Entscheidungen ohne namentliche Zuordnung veröffentlicht werden. Mit der Diskussion der Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit der Veröffentlichung von individuellem anstatt kollektivem Abstimmungsverhalten wird nicht nur die Frage geldpolitischer Effizienz angesprochen, sondern auch die nach der Reichweite von Rechenschaftspflicht (accountability) und Verantwortlichkeit (responsibility). TRANSMISSION <?page no="337"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 338 2.3.2 Transparenz, Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit Beim bislang erörterten Ast der Transparenzdiskussion stand die Effizienz der Geldpolitik im Vordergrund. Ein anderer Strang der Diskussion betrifft die demokratische Rechenschaftslegung, deren Reichweite und die Frage nach der endgültigen Verantwortlichkeit der Geldpolitik. Die Ausprägung der institutionellen Arrangements ist allerdings nicht nur eine Frage des demokratischen Selbstverständnisses, sondern hat ihrerseits wiederum Folgen für die Effizienz der Geldpolitik im Sinne der Erreichung von Preisstabilität. 152 Mit der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken von Weisungen Dritter sehen nicht wenige Kritiker demokratische Prinzipien verletzt. Eine Unvereinbarkeit von Unabhängigkeit und Demokratieprinzip trifft jedoch nur dann zu, wenn die Zielbestimmung ins Ermessen des Eurosystems fällt. Mit der politischen Vorgabe des Primärziels der Preisstabilität trifft dies offenkundig nicht zu. Die EZB besitzt Instrumentenunabhängigkeit, nicht Zielunabhängigkeit. Eine demokratische Rechenschaftspflicht hat sich deshalb auf die betriebene und zukünftig zu verfolgende Geldpolitik zu beziehen. Nach der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank sind der EZB Informationspflichten auferlegt. Mindestens vierteljährlich hat die EZB Tätigkeitsberichte über ihre Aktivitäten vorzulegen. Adressaten des Berichts sind das Europäische Parlament, die EU- Kommission, der EU-Rat und der Europäische Rat - und mit dieser Breite schließlich die gesamte interessierte Öffentlichkeit. Allerdings hat die EZB von Anfang an im Interesse größerer Transparenz ihre externe Kommunikation über das rechtlich notwendige Maß ausgedehnt. Sie publiziert anstatt eines Quartalsberichts einen Monatsbericht und gibt zudem regelmäßig Pressekonferenzen. Die Pressekonferenzen finden normalerweise unmittelbar im Anschluss an die erste EZB-Ratssitzung im Monat statt. Zu seinen „Einleitenden Bemerkungen“ gibt der EZB-Präsident eine aktuelle und ausführliche Zusammenfassung der geldpolitisch relevanten Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung durch den EZB-Rat. Sie dienen der direkten Kommunikation mit Medienvertretern. 153 Die über die Rechenschaftspflicht hinausgehende Berichtspraktik soll nach dem Selbstverständnis der EZB (2001c, 68) (1) „das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Eurosystem und seine Maßnahmen in den Teilnehmerländern und darüber hinaus stärken und (2) einen Beitrag zu einer wirksamen und erfolgreichen Geldpolitik leisten.“ 152 Siehe hierzu auch Schich / Seitz (2000). 153 Die Inhalte der Pressekonferenzen werden sofort ins Internet gestellt und sind damit allgemein zugänglich. Zu erwähnen ist hier auch die große Zahl von Daten, Diskussionspapieren und sonstigen Veröffentlichungen, die Interessenten im Internet unentgeltlich zur Verfügung stehen. Zu Einzelheiten siehe beispielsweise EZB, 2012c, 6. Kapitel. <?page no="338"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 339 Box IV.2.3: Transparenz in der Geldpolitik: Internationale Vergleiche U.S. Federal Reserve Bank of Japan Eurosystem Bank of England nachrichtlich: Bundesbank Ziele Festlegung eines vorrangigen Endziels Nein Preisstabilität Preisstabilität Preisstabilität Preisstabilität Quantifizierung des Endziels Nein Nein Quantitative Definition durch EZB-Rat Inflationsziel der Regierung Mittelfristige Preisannahme a) Strategie Bekanntgabe und Begründung der geldpolitischen Strategie Nein Nein Zwei-Säulen- Strategie Inflation Targeting Geldmengenstrategie Bekanntgabe eines Zwischenziels Nein Nein Nein Inflationsprognose als Zwischenzielersatz Geldmengenziel Bekanntgabe herausgehobener Indikatoren Nein Keine spezifischen Längerfristiger Referenzwert für M3- Wachstum Keine spezifischen - Daten und Prognosen Veröffentlichung von Daten über Zwischenziele/ Indikatoren Erläuterungen möglicher Abweichungen Ja Nein Nein Ja Ja Nein (stimmt das? ) Ja Ja Ja Ja Veröffentlichung einer Inflationsprognose und Erläuterung von Zielabweichungen Zweimal im Jahr b) Nein Von Experten des Eurosystems erstellte Projektionen Vierteljährlich Nein Entscheidungen Bekanntgabe der geldpolitischen Beschlüsse Ja Ja Ja Ja Ja Richtungsaussagen zur künftigen Zinspolitik Risikobewertung (stimmt das noch? ) Nein Gelegentlich Nein Nein TRANSMISSION <?page no="339"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 340 Kommunikationsmittel Parlamentarische Anhörung Mindestens 2x im Jahr Mindestens 2x im Jahr Mindestens 4x im Jahr Regelmäßig c) Nein Berichte zur Wirtschaftslage und zur Geldpolitik d) Halbjahresbericht (Monatsbericht) Monatsbericht Monatsbericht Vierteljährlicher Inflationsbericht Monatsbericht Pressekonferenzen zur Wirtschaftslage und zur Geldpolitik Nein Monatlich e) Monatlich f) Vierteljährlich zum Inflationsbericht Zu bestimmten Anlässen g) Publikation der Sitzungsprotokolle Nach sechs bis acht Wochen Nach ca. einem Monat Nein Nach zwei Wochen Nein Publikation des Abstimmungsverhaltens der einzelnen Mitglieder Nach sechs bis acht Wochen Nach ca. einem Monat Nein Nach zwei Wochen Nein Quelle: Deutsche Bundesbank, 2000b; EZB, 2002d, 55, 58; eigene Ergänzungen; Eijffinger / Geraats, 2006. Anmerkungen: a) Im Rahmen der Ableitung des Geldmengenziels. b) Im Rahmen der Berichte, die der Präsident des Federal Reserve Board nach dem Humphrey- Hawkins-Act vor dem Kongress abzugeben hat. c) Außerdem Rechenschaftspflicht des Zentralbankgouverneurs gegenüber der Regierung, wenn die Inflation das Zielband verlässt. d) Alle hier aufgeführten Notenbanken veröffentlichen zudem einen Jahresbericht. e) Am zweiten Werktag nach der monatsersten Sitzung des Policy Board. f ) Unmittelbar im Anschluss an die erste EZB-Ratssitzung des Monats. g) Zur Bekanntgabe und Überprüfung des Geldmengenziels sowie nach wichtigen geldpolitischen Beschlüssen. Zur Stärkung der Glaubwürdigkeit wird es als wünschenswert erachtet, dass über die Geldpolitik im Euroraum „mit einer Stimme“ gesprochen wird. Wenn Entscheidungen des EZB-Rats tatsächlich im Konsens getroffen werden, wäre die Veröffentlichung des individuellen Abstimmungsverhaltens natürlich überflüssig. Tatsächlich gibt es diesen Konsens jedoch nicht (mehr). Aber auch einem Konsens gehen in der Regel umfangreiche und teilweise kontroverse Diskussionen voraus. Hierüber würde die Publikation der Sitzungsprotokolle Aufschluss geben. Das Eurosystem lehnte dies bislang - wie im letzten Unterabschnitt bereits ausgeführt (siehe auch Box IV.2.3) - jedoch ab. Als Komplement demokratischer Rechenschaftspflicht der Zentralbank kann schließlich die letzte Verantwortlichkeit für die Geldpolitik angesehen werden. Hierzu <?page no="340"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 341 zählen die Beziehungen zum Parlament, Möglichkeiten des Umstoßens geldpolitischer Entscheidungen durch politische Instanzen und die Entlassungsmodalitäten des Zentralbank-Präsidenten. Eine Rechenschaftspflicht (Erläuterung und Rechtfertigung der betriebenen Geldpolitik) der Zentralbank gegenüber dem Parlament kann durchaus als Ausdruck demokratischen Selbstverständnisses angesehen werden. Anders als früher die Deutsche Bundesbank hat die EZB gegenüber dem Parlament Informationspflichten, und zwar in Form der obligatorischen Vorlage des Jahresberichts. Darüber hinaus kann das Europäische Parlament Mitglieder des Direktoriums einbestellen. Zur Berichterstattungspflicht gehört auch, dass der Präsident der EZB einmal im Vierteljahr dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments Rede und Antwort steht (zu den Details siehe EZB, 2002d, 57 - 60). In demokratisch verfassten Staaten rührt die letzte geldpolitische Verantwortung des Parlaments daher, dass es für die gesetzliche Basis der Zentralbank zuständig ist. Dass demokratisch gewählte Politiker in diesem Sinne die Geldpolitik kontrollieren, gilt allerdings nicht für das Europäische Parlament. Diese Kompetenz liegt auch nicht bei einzelnen nationalen Parlamenten, die zwar im Rahmen des Europarechts über das nationale Zentralbankgesetz, nicht aber über das supranationale der EZB entscheiden können. Auf europäischer Ebene wäre eine Änderung des Gemeinschaftsrechts erforderlich, der alle nationalen EU-Parlamente zustimmen müssten. 154 Wegen der (bislang) begrenzten Kompetenz des Europäischen Parlaments besteht auch keine Möglichkeit politischer Intervention bei erfolgloser Geldpolitik (= mangelnde Zielerreichung). Auch eine vorzeitige Entlassung des EZB-Präsidenten wegen geldpolitischer Erfolglosigkeit ist nicht vorgesehen. 155 Geht man vom Eigenwert demokratischer Prinzipien aus und zählt man zu diesen Prinzipien Informations- und Rechenschaftspflichten einer Zentralbank gegenüber dem Parlament und der allgemeinen Öffentlichkeit, so sind offiziell (de jure) deutliche Defizite des Eurosystems im Vergleich zu anderen Zentralbanken (z. B. der englischen) vorhanden. Diese Unterschiede werden jedoch minimal, wenn man die freiwilligen Informations- und Rechenschaftsaktivitäten der EZB einbezieht. 156 Ein großer Unter- 154 Diese (Un-)Zuständigkeitsregelung könnte ein gewisses Substitut für die von von Hayek (1977) geforderte Währungskonkurrenz sein, um zu vermeiden, dass - wie in der Vergangenheit - nationale Regierungen sich „ihrer“ Zentralbank bemächtigen und Staatsinflationen entfachen. (Siehe hierzu Görgens, 2002, 32, 53 sowie Görgens / Ruckriegel, 2007b, 18). Auszuschließen ist freilich nicht, dass eine Mehrheit der (politisch bestimmten) Mitglieder des Zentralbankrats aus nationalen Interessen Maßnahmen beschließen, die mit dem Preisstabilitätsziel nicht vereinbar sind. 155 Diese Möglichkeit besteht in Neuseeland, wo der Zentralbank-Gouverneur unter vorab festgelegten Bedingungen wegen unzureichender Zielrealisierung vorzeitig entlassen werden kann. 156 Vgl. hierzu die tabellarische Übersicht bei Eijffinger / Hoeberichts (2000, 8); Schich / Seitz (2000) sowie Box IV.2.3. Nach einer Zusammenstellung verschiedener Transparenzindikatoren gelangen Gros et al. (2001, 68) zu dem Ergebnis, dass das Eurosystem hinsichtlich der (formalen) Transparenz knapp hinter der Bank of England, aber deutlich vor den Zentralbanken Kanadas, der USA, Deutschlands und Japans rangiert. In einer anderen Gruppierung (Eijffinger / Geraats, 2006, 8 f.) rangiert die EZB hinter den Zentralbanken von England, Neuseeland und Schweden, aber vor denen Australiens, Japans, der Schweiz und der USA. In jüngerer Zeit fehlt es jedoch TRANSMISSION <?page no="341"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 342 schied bleibt jedoch insoweit, als die Möglichkeit der Einflussnahme von demokratisch legitimierten Instanzen durch Anweisungen oder Gesetzesänderungen auf das Eurosystem beispielsweise im Vergleich zum Federal Reserve sehr gering ist. Dies ist teilweise Folge der noch schwachen politischen Integration in Europa - eine den nationalen Regierungen vergleichbare EU-Regierung gibt es nicht -, teilweise aber auch Folge konfligierender Zielsetzungen zwischen Demokratieprinzip einerseits und Unabhängigkeit der Zentralbank andererseits. Hinter der Entscheidung im EU-Vertrag zugunsten der Unabhängigkeit stehen empirisch begründete Erfahrungen eines positiven Zusammenhangs zwischen Unabhängigkeit von Zentralbanken und stabilitätsorientierter Geldpolitik. Geht man von diesem empirischen Sachverhalt aus, wären steigende Inflationserwartungen der Preis für stärkere demokratische Einflussnahme. Dies aber würde die Glaubwürdigkeit des Eurosystems möglicherweise mehr beschädigen als der Glaubwürdigkeitsgewinn beträgt, den die EZB durch Informations- und Rechenschaftsbemühungen zu erzielen trachtet. Eine spezielle Facette der Transparenz- und Erwartungsproblematik kann sich daraus ergeben, dass selbst bei Glaubwürdigkeit des Eurosystems in Bezug auf Verfolgung und Erreichung des Preisstabilitätsziels neue Unsicherheiten für die Wirtschaftssubjekte durch die Währungsunion entstehen. Die Funktionsweise und Bedeutung der EWU ist für das Bankensystem (einschließlich Eurosystem) und für viele Konsumenten und Unternehmen nicht hinreichend klar. So können Irritationen dadurch entstehen, dass die Wirtschaftssubjekte gewohnheitsmäßig in nationalen Kategorien denken, das Eurosystem aber in europäischen Kategorien handelt. Unterschiedliche Beeinträchtigungen der Übertragung geldpolitischer Impulse infolge abweichender Einschätzungen und Bewertungen des Ungewohnten können daher nicht ausgeschlossen werden. Welche Wirkungen hat etwa die Aufnahme neuer Mitglieder in die EWU? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Öffentlichkeit in Ländern, die in der Vergangenheit relativ hohe Inflationsraten hatten (z. B. Griechenland, Italien, Spanien, Portugal), von einer vergangenheitsorientierten, eher hohe Inflationsraten implizierende, dauerhaft zu einen zukunftsgerichteten, an Preisstabilität bzw. niedrigen Inflationsraten orientierte Erwartungsbildung übergehen? Werden Nicht-Ahndungen der Verletzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Instabilitätserwartungen hervorrufen, die in die Preis- und Lohnforderungen eingehen? Das Eurosystem kann solche Unsicherheiten abbauen, wenn sie eine konsequente an Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik betreibt. In der ersten Dekade (2000 - 2010) hat die EZB ihr selbst gestecktes Ziel (knapp unter 2 %) mit im Jahresdurchschnitt 2,1 % nur geringfügig verfehlt und steht damit im internationalen Vergleich recht gut da. Maßnahmen der EZB wie Kauf von Staatsanleihen bestimmter Mitgliedsländer und zwei „Jumbokredite“ an EWU-Banken (2011 / 2012) über jeweils rund 500 Mrd. Euro mit dreijähriger Laufzeit bei Hereinnahme geringwertiger Sicherheiten könnten Inflationserwartungen steigen lassen. Denn es ist unsicher, ob es der EZB im Falle eines allgemeinen Aufschwungs gelingt, die hohen Zentralbankgeldbeauch an Transparenz bei der EZB. Man denke etwa an widersprüchliche Äußerungen über den Ankauf von Staatsanleihen zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise. <?page no="342"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 343 stände in dem erforderlichen Maß (Vermeidung einer zu starken Expansion des Kreditvolumens) aus dem System zu absorbieren. 157 2.4 Konvergenz in der EWU? - Makroökonomische Indizien Empirische Wirkungsanalysen der einheitlichen Geldpolitik anhand „echter“ EWU- Daten sind angesichts des noch immer kurzen Beobachtungszeitraums bislang selten. Ableitungen mehr oder weniger unterschiedlicher Transmissionsprozesse bei einheitlichen monetären Impulsen beruhen daher häufig auf Simulationsrechnungen, die für einzelne Länder und für die Zeit vor Einführung der Währungsunion modelliert wurden und deren andauernde Gültigkeit beziehungsweise Angemessenheit für andere Länder oder die neue Ländergruppe offen ist. 158 So könnte es z. B. zu verstärkt asymmetrischen Entwicklungen bei Produktion, Beschäftigung und Inflation zwischen den Mitgliedsländern kommen. Die divergierenden Prozesse resultieren beispielsweise daraus, dass in den Wirkungskanälen monetärer Impulse (kurzfristige) Zinssätze und Wechselkurse als nationale Anpassungsvariablen entfallen. Die für alle Mitgliedsländer gleichen Geldmarktsätze beziehungsweise deren Veränderung durch das Eurosystem führen - wenn die „alten Elastizitäten“ weiterhin gelten(! ) 159 - zu unterschiedlichen Inflationsraten (und damit unterschiedlichen Realzinsen und realen Wechselkursen) sowie zu zeitlich und in der Höhe abweichenden Produktions- und Beschäftigungsentwicklungen. So ergab sich beispielsweise bei niedrigeren Geldmarktsätzen in der EWU als vorher im Durchschnitt der Mitgliedsländer zunächst ein verstärkter Inflationsdruck in Griechenland, Italien, Spanien und Irland, während in den übrigen Ländern keine nennenswerten Änderungen festzustellen waren. Folglich ergäbe sich für die EWU statt erhöhter Konvergenz vermehrte Divergenz mit der Folge national notwendigerweise unterschiedlicher fiskal- und lohnpolitischer Reaktionsmuster oder (wirtschafts-)politischer Pressionen auf das Eurosystem. Aus diesen Gründen erscheint Skepsis gegenüber rascher Konvergenz jedenfalls angebracht. Dass auch mit der EWU Inflationsunterschiede fortbestehen können, zeigen theoretische Überlegungen (Balassa-Samuelson-Argument) wie auch empirische Erfahrungen. Die unterschiedlichen Inflationsraten ergeben sich aufgrund von Produktivitätsunterschieden in den Sektoren handelbarer und nicht-handelbarer Güter (siehe Box I.2.1). Während bei den handelbaren Gütern sich die Inflationsraten innerhalb der EWU angleichen, können bei der anderen Gütergruppe Inflationsdifferenzen bestehen bleiben oder zeitweilig sogar zunehmen. Weitere Ursachen für unterschiedliche 157 Zur kritischen Analyse der Entwicklung 2011 / 2012 siehe Neumann (2012). 158 Dies soll nicht heißen, dass diese Befunde gänzlich irrelevant sind, denn Verhaltensweisen verändern sich erfahrungsgemäß nur allmählich. Aber die Währungsunion der 17 Mitgliedsländer ist nicht die Summe der 17 Länder vor der Währungsunion. 159 Wenn also die Anpassungsmechanismen weiterhin Bestand haben, die auf Verhaltensweisen und Erwartungen aus der Zeit basieren, in der eine autonome Geldpolitik und Wechselkurskorrekturen noch möglich waren. TRANSMISSION <?page no="343"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 344 Inflationsraten sind in abweichenden Konjunkturverläufen zu sehen, die insbesondere über die nachfragebedingten Preisentwicklungen nicht-gehandelter Güter zu Inflationsdifferenzen führen. Schließlich ist auch zu bedenken, dass zwischen den Ländern des Euro-Raums noch teilweise erhebliche absolute Preisunterschiede bei einzelnen Gütergruppen bestehen bzw. bestanden, die mit ihrem allmählichen Verschwinden im Konvergenzprozess temporär Inflationsunterschiede bewirken. Daneben können auch Anpassungen bei den indirekten Steuern in einzelnen Ländern sowie unterschiedliche strukturelle Rigiditäten wie Preis- und Lohnstarrheiten oder fehlender Wettbewerb relevant sein. Schließlich mag auch eine Rolle spielen, dass nach Erfüllung der Konvergenzbedingungen und Aufnahme in die EWU die Stabilisierungsbemühungen nachließen. Starke empirische Anhaltspunkte sprechen für den Einfluss unterschiedlicher Außenhandelsstrukturen und eines schwankenden Wechselkurses des Euro. Mitgliedsländer der EWU mit hohem Importanteil am BIP aus Nicht-EWU-Ländern sind bei einer Abwertung des Euro besonderem Kosten- und Preisdruck von der Importseite ausgesetzt (importierte Inflation), der sich in divergierenden Inflationsraten niederschlägt. Eine nähere Auseinandersetzung mit vergangenen Einschätzungen soll hier ebensowenig wie der Versuch unternommen werden, abweichende Entwicklungen den verschiedenen Erklärungen zuzurechnen. Auch eine Aufteilung der abweichenden Entwicklungen auf unterschiedliche finanz- und realstrukturelle Ursachen soll - und kann - hier nicht versucht werden. Als vorläufiger Befund sei nur festgehalten, dass einzelne auf vergangene Entwicklungen gestützte Hypothesen etwa über die Streuung der Inflationsraten von ± 1 % bei einem Mittelwert von 2 % (Alberola-Ila / Tyrväinen, 1998, 46) als empirisch nicht bestätigt anzusehen sind. Wenn auch nicht gleichförmig und bei deutlicher Abweichung einzelner Mitgliedsländer, so können bei wichtigen makroökonomischen Kennziffern lediglich zeitweilig konvergierende Tendenzen festgestellt werden. Bei den Wachstumsraten des BIP und den Arbeitslosenquoten (siehe Tabelle IV.2.3) könnte man vermuten, dass die konvergierenden Entwicklungen 2000 - 2007 neben der Globalisierung auch das gemeinsame Ergebnis von finanzieller Integration, gemeinsamer Währung und Wettbewerbsintensivierung durch die EWU waren. 160 Im Gefolge von Finanz- und Schuldenkrise ergaben sich wiederum Divergenzen, wie sie vor Inkrafttreten der EWU beobachtbar waren. Die Streuung der Inflationsraten erreichte seit Beginn der EWU nie mehr das niedrige Ausgangsniveau von 1996 / 99, das wohl auch das Resultat der Bemühungen vieler Beitrittskandidaten zur Erfüllung dieses Konvergenzkriteriums gewesen sein dürfte. Nach den Anfangsjahren der EWU ist eine leichte Angleichung der nationalen Inflationraten bei nur mäßiger Überschreitung des globalen Preisstabilitätsziels (knapp unter 2 %) festzustellen (siehe hierzu Tabelle IV.2.3). Von einer wirklichen Konvergenz der nationalen Preisentwicklungen kann gleichwohl nicht gesprochen werden (EZB, 2012e, 77 ff.). 160 Zu einer zurückhaltenden Einschätzung möglicher Kausalitäten siehe Mongelli und Vega (2006) <?page no="344"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 345 Tabelle IV.2.2: Reales Inlandsprodukt, Verbraucherpreise und Arbeitslosenquoten in den EWU-Ländern Bruttoinlandsprodukt Verbraucherpreise a) Arbeitslosenquote b) Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in % 1996/ 99 2000/ 03 2004/ 06 2007/ 09 2010/ 11 1996/ 99 2000/ 03 2004/ 06 2007/ 09 2010/ 11 1996/ 99 2000/ 03 2004/ 06 2007/ 09 2010/ 11 Belgien 2,6 1,7 2,6 0,4 2,3 1,4 2,1 2,2 2,1 2,9 9,5 7,4 8,4 7,5 8,0 Deutschland 1,5 0,9 1,7 -0,2 3,3 1,1 1,5 1,8 1,8 1,8 9,3 8,2 10,1 8,0 6,6 Estland - - - -3,5 5,2 - - - 5,8 4,0 - - - 8.0 14,7 Finnland 4,7 2,4 3,8 -0,6 3,4 1,1 2,3 0,7 2,4 3,5 12,3 9,3 9,5 7,2 8,1 Frankreich 2,3 2,1 2,2 -0,2 1,6 1,2 2,0 2,0 1,6 2,0 12,0 9,0 9,2 8,6 9,8 Griechenland - 4,2 4,1 -0,1 -4,5 - 3,5 3,3 2,8 3,0 - 10,4 9,8 8,5 14,6 Irland 9,4 6,7 5,6 -1,6 0,4 2,5 4,6 2,4 1,4 2,3 8,7 4,4 4,1 4,6 4,4 Italien 1,4 1,2 2,5 0,2 0,6 1,9 2,6 2,5 2,7 -0,2 11,7 9,2 4,5 7,6 14,1 Luxemburg 5,7 3,9 5,4 0,7 2,2 1,2 2,7 3,3 2,3 3,2 2,7 2,8 4,7 4,7 4,6 Malta - - 2,6 2,0 2,4 - - 2,6 2,4 2,3 - - 7,2 6,5 6,8 Niederlande 3,7 1,3 2,5 0,7 1,8 2,0 0,4 1,5 1,6 1,7 4,8 2,9 4,4 3,5 4,5 Österreich 2,3 1,6 2,9 0,4 2,6 1,1 1,9 1,9 1,7 2,6 4,3 4,0 5,0 4,3 4,3 Portugal 3,4 1,4 1,2 0,0 -0,2 2,3 3,6 2,5 1,4 2,5 6,0 4,9 7,4 9,3 12,3 Slowakei - - 6,7 3,8 3,6 - - 4,9 2,2 2,4 - - 16,0 10,9 13,8 Slowenien - - 4,3 0,8 1,3 - - 2,9 3,4 2,0 - - 6,3 5,1 7,8 Spanien 3,7 3,2 3,6 0,2 0,3 2,4 3,3 3,4 2,2 2,5 19,4 11,0 9,4 12,5 21,0 Zypern - - 4,1 2,3 0,7 - - 2,0 2,9 3,0 - - 4,9 4,3 6,7 EWU 2,4 1,7 2,3 -0,3 1,7 1,5 2,3 2,2 1,9 2,1 11,1 8,3 8,8 8,3 10,1 Standardabweichung 2,3 1,7 1,5 1,6 2,1 0,6 1,1 1,0 1,0 0,9 4,7 3,0 3,1 2,5 4,8 Quelle: Sachverständigenrat, 2000; 2003 sowie European Commission, 2004, 2008, 2011 Anmerkungen: a) Harmonisierte Verbraucherpreisindizes; b) Arbeitslose in % der Erwerbspersonen, standardisiert. TRANSMISSION <?page no="345"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 346 3 Zusammenfassung Im Instrumentarium des Eurosystems spielen traidionell die Hauptrefinanzierungsgeschäfte die entscheidende Rolle. Es steuert hiermit unmittelbar die kurzfristigen Geldmarktsätze. Wie solche bei den Refinanzierungskosten der Geschäftsbanken ansetzenden monetären Impulse schließlich auf längerfristige Zinsen und darüber hinaus auf Konjunktur und Preisentwicklung wirken, ist Gegenstand vielfältiger theoretischer Erklärungsansätze, die unter Transmissionsmechanismen der Geldpolitik zusammengefasst werden. Es lassen sich verschiedene, meist komplementäre Wirkungskanäle unterscheiden: Im Mittelpunkt der transmissionstheoretischen Überlegungen stehen die durch Än- ◼ derungen der Geldmarktsätze ausgelösten Arbitrageprozesse im finanziellen Sektor, die gleichgerichtete Entwicklungen bei den langfristigen Zinssätzen bewirken. Diese „normalen“ Zinsbewegungen können allerdings durch Erwartungsänderungen und eine glaubwürdige Restriktionspolitik umgekehrt werden. Neben den direkten Wirkungen, die von den zinsbedingten Änderungen auf die Fi- ◼ nanzierungskosten und Ausgabenentscheidungen ausgehen, tragen Substitutions-, Einkommens-, Vermögens- und Wechselkurseffekte ebenfalls diese geldpolitischen Anstöße weiter und lösen Nachfrageveränderungen bei Investition, Konsum und Nettoexporten sowie Preiseffekte aus. Diese „normalen“ Wirkungen können jedoch durch den Kostenkanal torpediert werden, wenn bei restriktiver Geldpolitik mit den Nachfragerückgängen keine gleichgerichteten Preisentwicklungen, sondern wegen gestiegener Kapitalkosten Preiserhöhungen einhergehen. Zu den traditionellen Transmissionsmechanismen tritt noch der Kreditkanal hinzu, ◼ in dem sich mengenmäßige Verstärkungseffekte insbesondere bei restriktiven geldpolitischen Maßnahmen manifestieren. Risiken im Sinne adverser Selektion und moral hazard können die Geschäftsbanken veranlassen, restriktive monetäre Impulse der Zentralbank nur begrenzt in ihren Kreditkonditionen weiterzugeben. Die Folgen sind Kreditrationierung und/ oder Kreditselektion, die besonders zu Lasten kleiner und mittlerer Unternehmen sowie privater Haushalte gehen könnten. Geldpolitische Transmissionsprobleme können auch durch den Risikoneigungska- ◼ nal erwachsen. Geldpolitisch bedingte Zinsänderungen werden danach die Risikoneigung von Kreditgebern und von Anlegern beeinflussen: Gesunkene Zinsen führen dazu, dass Risiken geringer eingeschätzt werden und dadurch eine „großzügigere“ Kreditvergabe und/ oder riskantere Kapitalanlagen getätigt werden. Die expansiven Effekte wären stärker als geldpolitisch erwünscht. Das Risiko insgesamt in der Volkswirtschaft würde ansteigen. Des Weiteren kann der Transmissionsprozess auch durch Erwartungen erheblich ◼ modifiziert oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden. Wenn von einer expansiven Geldpolitik ein beschleunigter Preisauftrieb erwartet und dieser ex ante in den Güter- und Faktorpreisen einkalkuliert wird, bleiben die geldpolitisch intendierten <?page no="346"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 347 Produktions- und Beschäftigungseffekte aus. Ebenso kann eine entschlossene Restriktionspolitik der Zentralbank die Inflationserwartungen derart senken, dass die steigenden Geldmarktzinsen mit sinkenden Kapitalmarktzinsen einhergehen. Spezielle Transmissionsprobleme könnten sich in der EWU infolge der in den Mitgliedsländern unterschiedlichen Finanzierungs- und realen Strukturen ergeben. Schwer abschätzbar sind mögliche Wirkungsbeeinträchtigungen, die mit dem innovativen Charakter des Eurosystems zusammenhängen. Informationsdefizite der monetären Institutionen ebenso wie die der geldpolitischen Adressaten könnten sich als Störfaktoren für die Geldpolitik erweisen. Dem Eurosystem wird in diesem Zusammenhang nicht selten mangelnde informationelle und konzeptionelle Transparenz und Undurchsichtigkeit des geldpolitischen Entscheidungsprozesses vorgehalten. Hierunter leide die Glaubwürdigkeit und damit letztlich auch die Wirksamkeit der Geldpolitik. Absolute Transparenz im Sinne vollkommener Information über die wirtschaftliche Situation sowie die Grundlagen und Abläufe der geldpolitischen Entscheidungen kann es allerdings nicht geben. Um Glaubwürdigkeit zu gewinnen, muss daher das Eurosystem versuchen, die Öffentlichkeit von der Angemessenheit der Geldpolitik zu überzeugen. Dies ist zugleich auch ein geeignetes Verfahren, um Unsicherheit der Marktteilnehmer zu verringern. Ob die 2003 vorgenommene Akzentverschiebung bei der geldpolitischen Strategie zu Lasten der Monetären Säule hierzu einen Beitrag geleistet hat, erscheint zweifelhaft. Zudem erwuchsen der EZB wegen der insbesondere von 2005 bis 2008 den Referenzwert stark überschreitenden Geldmengenentwicklung zunehmende Erklärungsnotwendigkeiten gegenüber der Öffentlichkeit. Diese Probleme erscheinen jedoch weniger gewichtig im Vergleich zu den Verunsicherungen, die in der jüngsten Zeit im Rahmen der Staatsschuldenkrise (ab 2010) durch die Vergabe von Jumbo-Krediten mit mehrjähriger Laufzeit und Käufe von Staatsanleihen einzelner Mitgliedsländer durch die EZB entstanden sind. Wie gewichtig unterschiedliche Strukturen und Informationsdefizite für möglicherweise abweichende monetäre Transmissionsmechanismen in den Mitgliedsländern der EWU tatsächlich sind, ist umstritten. Zudem sind die ermittelten Transmissionsunterschiede zuweilen derart gering, dass sie im statistischen Unsicherheitsbereich liegen. Manche der bislang identifizierten Probleme mögen zudem zur Kategorie „Übergangsprobleme“ gehören und durch Lernprozesse mit der einheitlichen Geldpolitik überwunden werden. In einigen Fällen können sich Effekte tendenziell ausgleichen wie etwa, wenn hohe Zinsreagibilität mit niedriger Verschuldung einhergeht. Wieder andere Probleme wie die sehr unterschiedlichen Finanzierungsfristen scheinen bereits der Vergangenheit anzugehören. Zudem dürfte der zunehmende europäische Wettbewerb weitere Angleichungen in den Finanzierungskonditionen bewirken. Dennoch wird sich das Eurosystem auch weiterhin auf Störfaktoren durch noch bestehende Heterogenitäten im finanziellen und realen Bereich zwischen den Mitgliedsländern der EWU einstellen müssen. TRANSMISSION <?page no="347"?> TRANSMISSION GELDPOLITISCHER IMPULSE 348 Kontrollfragen 1 Wie lässt sich die „normale“ zeitliche Zinsstruktur erklären? Was ist eine inverse Zinsstruktur? 2 Wie kommt mittels Kapitalkosten-, Substitutions- und Einkommenseffekten die realwirtschaftliche Transmission geldpolitischer Impulse zustande? 3 Auf welche Weise unterstützt der Wechselkurskanal den Stabilitätskurs der Zentralbank? 4 Der Kreditkanal wird auch als „finanzieller Akzelerator“ bezeichnet. Wodurch werden die Verstärkungen bewirkt? 5 Welche Transmissionsprobleme können durch den Risikoneigungskanal verursacht werden? 6 Inwieweit können unterschiedliche Finanzierungsstrukturen in den Mitgliedsländern der EWU die Transmission monetärer Impulse beeinträchtigen? 7 Welche Faktoren begünstigen, welche beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit des Eurosystems? 8 Was spricht für, was gegen eine Rechenschaftspflicht der Zentralbank gegenüber dem Parlament? Weiterführende Literatur Gute Übersichten vor allem über die „traditionellen” monetären Transmissionsmechanismen finden sich in den Lehrbüchern von: Issing, O. (2011), Einführung in die Geldtheorie, 15. A., Vahlen, München. Jarchow, H. J. (2003), Theorie und Politik des Geldes I, 11. A., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Mishkin, F. S. (2012), The Economics of Money, Banking and Financial Markets, 10. A., Addison- Wesley (Pearson International Edition). Als kurze Überblicksartikel seien empfohlen: Berk, J. M. (1998), Monetary Transmission: What do we know and how can we use it? Quarterly Review, Banca Nazionale de Lavoro, Nr. 205, S. 145 - 170. Worms, A. (2004), Monetary Policy Transmission and the Financial System in Germany, in: Krahnen, J. P., Schmidt, R. H. (Hrsg.), The German Financial System, Oxford University Press, Oxford, S. 163 - 196. Zur theoretischen und empirischen Fundierung des Kreditkanals sei beispielhaft verwiesen auf: Bernanke, B. S., Gertler, M. (1995), Inside the Black Box: The Credit Channel of Monetary Policy Transmission, The Journal of Economic Perspectives, Vol. 9, S. 27 - 48. Lösungen unter europa-geldpolitik.de <?page no="348"?> TRANSMISSIONSPROBLEME IN DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSUNION 349 Küppers, M. (2000), Banken in der geldpolitischen Transmission, Mohr Siebeck, Tübingen. Speziellen Bezug zu Transmissionsproblemen in der EWU haben: Angeloni I., Ehrmann, M. (2003), Monetary Transmission in the Euro Area: Early Evidence, Economic Policy, Vol. 37, S. 469 - 501. European Central Bank (2012), Financial Integration in Europe, insbesondere Kapitel 2. A. Zur umfangreichen Diskussion über die geldpolitische Strategie des Eurosystems, Fragen der Transparenz und Glaubwürdigkeit sei (aus Sicht der EZB) hervorgehoben: Issing, O. (2005), Kommunikation, Transparenz, Rechenschaft - Geldpolitik im 21. Jahrhundert, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6 (4), S. 521 - 540. Zur kritischen Auseinandersetzung siehe etwa: Buiter, W. H. (1999), ‚Alice in Euroland‘, Journal of Common Market Studies, Vol. 37, S. 181 - 209. Eine sehr informative Übersicht über die theoretische und empirische „Transparenzliteratur“ bieten: Cruijsen, C. van der, Eijffinger, S. C. W. (2007), The Economic Impact of Central Bank Transparency: A Survey, CentER Discussion Paper 2007-06. Neumann, M. J. M, (2012), Die Europäische Zentralbank auf Abwegen, Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 116, S. 1 - 20. Verschiedene Aspekte der Unsicherheit und deren Rückwirkungen auf die Geldpolitik werden behandelt in: Angeloni, I., Smets, F., Weber, A. A. (2000), Monetary Policy Making under Uncertainty, EZB und Center for Financial Studies, Frankfurt. TRANSMISSION <?page no="350"?> „Die Frage, ob eine WWU errichtet werden soll, ist politisch zu entscheiden. Diese Entscheidung liegt in der Kompetenz und Verantwortung von Regierung und Parlament. Im Rahmen ihrer Beratungsaufgabe hat die Bundesbank schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass die in einer Währungsunion auf Gemeinschaftsebene betriebene Geld- und Währungspolitik in ihren Wirkungen - insbesondere für den Geldwert - wesentlich von der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie dem Verhalten der Tarifpartner in allen beteiligten Ländern beeinflusst wird.“ Stellungnahme des Zentralbankrates der Deutschen Bundesbank vom 23. Januar 1992 161 161 Deutsche Bundesbank, Informationsbrief zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion Nr. 11 (Stellungnahmen der Deutschen Bundesbank zur Europäischen Währungsunion), April 1998, 11. Kapitel V Mögliche Störpotenziale für die Geldpolitik <?page no="351"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 352 Eine erfolgreiche Geldpolitik bedarf einer adäquaten Strategie und effizienter Instrumente. Zusätzlich sind eine institutionelle Absicherung der Unabhängigkeit der Zentralbank und des Endziels der Preisstabilität sowie die Unterstützung durch die Bevölkerung nötig. Darüber hinaus erfordert der geldpolitische Erfolg aber auch eine, zumindest implizite, Abstimmung mit anderen Politikbereichen. Für die Situation in der Europäischen Währungsunion sind dabei vor allem die weiterhin in nationalen Händen verbleibenden Fiskal- und Lohnpolitiken sowie das vom EU-Ministerrat nach Art. 219 AEUV unter Umständen festzulegende Wechselkurssystem für den € relevant. Auf diese Bereiche soll im Folgenden näher eingegangen werden. 1 Fiskalpolitik „Eine von der Finanzpolitik unabhängige Geldpolitik ist möglich, solange die Staatsausgaben nur einen verhältnismäßig kleinen Teil aller Ausgaben bilden und die Staatsschulden (und insbesondere die kurzfristigen Verschuldungen) nur einen kleinen Teil aller Kreditmittel ausmachen. Heute ist diese Bedingung nicht mehr gegeben. Infolgedessen kann eine wirksame Geldpolitik nur in Koordination mit der Finanzpolitik der Regierung durchgeführt werden. Koordination bedeutet aber hier unvermeidlich, dass, sofern nominell unabhängige Währungsbehörden noch bestehen, sie ihre Politik tatsächlich der Politik der Regierung anpassen müssen.“ (F. A. Hayek) „Central banks are often accused of being obsessed with inflation. This is untrue. If they are obsessed with anything, it is with fiscal policy.“ (M. King) Diese Zitate des Nobelpreisträgers F. A. Hayek, bereits 1960 in seinem Buch „Die Verfassung der Freiheit“ („The Constitution of Liberty“) formuliert, und des ehemaligen Gouverneurs der Bank of England M. King legen die Vermutung nahe, dass über die staatliche Haushaltspolitik Interdependenzen zwischen der Fiskal- und der Geldpolitik bestehen. Innerhalb des Euro-Raumes geht es in diesem Zusammenhang sowohl um die nationalen Fiskalpolitiken als auch um die auf EU-Ebene durchgeführten (supranationalen) Maßnahmen. Zunächst werden in diesem Kapitel anhand der theoretischen Zusammenhänge zwischen Geld- und Fiskalpolitik die Grundlagen möglicher genereller und spezifisch in einer Währungsunion bestehender Konfliktfelder herausgearbeitet. In einem zweiten Schritt wird dann auf die institutionellen Regelungen des EU-Vertrages und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes eingegangen, durch die die nationalen Haushaltspolitiken diszipliniert und die Konflikte abgeschwächt werden sollen. Dabei wird nochmals auf die finanzpolitischen Konvergenzkriterien bzgl. Schulden- und Defizitquote (siehe auch Kap. I.2) eingegangen. <?page no="352"?> FISKALPOLITIK 353 1.1 Grundlegende theoretische Zusammenhänge zwischen Geld- und Fiskalpolitik 1.1.1 Staatsverschuldung und Inflation Die Spannungen zwischen Geldpolitik und öffentlicher Haushaltspolitik lassen sich in Kurzform folgendermaßen beschreiben: Mit einem steigenden Anteil des Schuldendienstes (Zins- und Tilgungszahlungen) am gesamten Staatshaushalt wird der Handlungsspielraum der staatlichen Entscheidungsträger immer mehr eingeschränkt. Allein durch die Zinszahlungen entsteht eine Ausgabendynamik, die eine Rückführung der Schuldenquote erschwert. Dadurch entsteht für die Regierung ein Anreiz, sich durch Kredite von der Zentralbank oder durch inflationäre Politik dieser Belastung zu entledigen. Letzteres ließe sich durch eine übermäßig expansiv ausgerichtete Geldpolitik erreichen. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass Staatskrisen in Form einer übermäßigen Verschuldung in der Regel mit Bankenkrisen einhergehen (siehe z. B. Sachverständigenrat, 2011). Entweder führen Probleme im Bankensektor durch Rettungsaktionen zu Problemen im Staatshaushalt. Oder eine übermäßige öffentliche Verschuldung führt zu Schwierigkeiten bei Banken, da diese traditionell einen hohen Anteil an Staatspapieren halten. Konzentrieren wir uns auf den Staatshaushalt, kommen im Detail folgende Überlegungen zum Tagen: Den Ausgangspunkt bildet die staatliche Budgetrestriktion (in realer, d. h. preisbereinigter Form). Das reale staatliche Defizit in Periode t ( D t ) entspricht der Differenz (Δ) des realen Schuldenstandes B zwischen den Perioden t und t - 1. (1) D t = B t - B t -1 =  B t bzw. B t = B t -1 + D t Ein Defizit in Periode t erhöht den staatlichen Schuldenstand B t . 162 Der Staat muss folglich bei seiner Haushaltsrechnung beachten, dass er zusätzliche Staatsschuldpapiere  B t ( = B t - B t -1 ) ausgeben muss, wenn das Primärdefizit (die Staatsausgaben G ohne den Schuldendienst abzüglich der Staatseinnahmen T ) plus die Zinszahlungen auf den Schuldenstand aus der Vergangenheit positiv ist. 163 Über eine Kreditvergabe der Zentralbank an den Staat können sich die staatlichen Wertpapiere B prinzipiell auch in Händen der Zentralbank befinden. Für die Tragfähigkeit („sustainability“) der Staatsverschuldung ist die reale Belastung entscheidend. Deshalb ist (1) auch in realen Einheiten formuliert. Ökonomisch richtig wird die Vermögens- oder Schuldensituation in Güter-, nicht in Geldeinheiten 162 In der Praxis kommt es aus verschiedensten Gründen zu Abweichungen zwischen dem ausgewiesenen Defizit und der Schuldenstandsveränderung. So wird z. B. bei einem gegebenen Defizit durch die Geldvermögensbildung des Staates die Nettoneuverschuldung und auch der Schuldenstand erhöht. Auch sind unterschiedliche Buchungszeitpunkte und transaktionsunabhängige wert- und mengenmäßige Veränderungen des Schuldenstandes zu berücksichtigen (EZB, 2007c). Davon wird im Folgenden abgesehen. 163 Zur Vereinfachung soll die Vergangenheit der Periode t - 1 entsprechen. STÖRFAKTOREN <?page no="353"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 354 gemessen. Es kommt letztlich auf die Kaufkraftwirksamkeit eines gegebenen nominalen Betrages an. Je nach Preisentwicklung muss also eine gegebene nominale Staatsschuld unterschiedlich beurteilt werden: Bei einer positiven Inflationsrate sinkt der Realwert der staatlichen Schulden in Abhängigkeit von der Höhe der Inflation und des anfänglichen Schuldenstandes. Dementsprechend wird die Zinsbelastung auch durch den ( ex-post-)Realzins ( i -  ) bestimmt. Dabei stellt  die Inflationsrate und i den Nominalzins dar. Die reale Zinsbelastung aus dem bestehenden Schuldenstand beträgt somit ( i -  ) · B . 164 Dementsprechend handelt es sich bei B und D in (1) konsequenterweise ebenfalls um reale Variablen. Box V.1.1: Zur Problematik des „realen“ Budgetsaldos Die offiziell ausgewiesenen Defizitmaße ( Def° ) für den Staatssektor erfassen neben den primären Staatsausgaben ( G ) auch die Zinszahlungen auf die bestehende Staatsschuld ( B ), jeweils in nominaler Rechnung. Unter Berücksichtigung der Staatseinnahmen ( T ) ergibt sich das nominale Budgetdefizit in vereinfachter Darstellung: (B1) Def° = ( G - T ) + i B Im Rahmen der „inflation accounting“-Debatte wurde kritisiert, dass der nominale Budgetsaldo nur mit der Veränderung des nominalen Schuldenstands übereinstimmt, nicht aber mit der Veränderung des realen Schuldenstands. Wenn z. B. das offizielle Defizit null wäre und die Inflation 5 % betrüge, wäre am Ende des Jahres der Realwert der Schulden um 5 % gesunken. Mit anderen Worten: Eine korrigierte Defizitberechnung würde einen öffentlichen Budgetüberschuss von 5 %, bezogen auf den anfänglichen Schuldenstand, ausweisen. Damit ergäbe sich folgender Korrekturbedarf: (B2) Def r = ( G - T ) + i B -  B = ( G - T ) + ( i -  ) · B = ( G - T ) + r B = Def° -  B Dabei stellt r = i -  den (ex-post-)Realzins dar. Das so gemessene reale Budgetdefizit ( Def r ) wäre also vor allem in Ländern mit einer hohen Inflationsrate und einer hohen Staatsverschuldung systematisch niedriger als das offizielle nominale Budgetdefizit ( Def° ). 164 Die offiziellen Defizitmaße beinhalten dagegen die nominale Zinsbelastung und geben so die Veränderung des nominalen Schuldenstandes an. Sie weisen damit das ökonomisch korrekte reale Defizit um den Faktor  B zu hoch aus (siehe Box V.1.1). In dieser Box wird das Preisniveau (aus Vereinfachungsgründen) gleich eins gesetzt, damit weiterhin mit G, T und B argumentiert werden kann. <?page no="354"?> FISKALPOLITIK 355 Die formale arithmetische Inkonsistenz zwischen beiden Budgetkonzepten gibt freilich noch keinen hinreichenden Hinweis darauf, welches Maß das richtige ist. Das konventionelle Defizit zeigt den gesamten Außenfinanzierungsbedarf des Staates an und hat damit einen für die Finanzmärkte wichtigen Informationsgehalt. Zugunsten des realen Defizits wird argumentiert, dass es den „fiscal stance“ besser erfasst, da der inflationsbedingte Teil der Zinszahlungen keinen echten Einkommensbestandteil darstellt, sondern nur einen Ausgleich für den inflationsbedingten Substanzverlust der Gläubiger. Allerdings bleiben bei der nachfrageorientierten Argumentation über den „fiscal stance“ mehrere wichtige Aspekte ungeklärt. Vor allem wird ohne nähere empirische Prüfung implizit die verhaltenstheoretische Annahme getroffen, dass die privaten Haushalte als Gläubiger des Staates zu keinem Zeitpunkt weder der Geldnoch Fiskalillusion unterliegen, ihr Konsum signifikant vermögensabhängig ist und die Sparer der Realwertsicherung eine hohe Priorität einräumen. Außerdem müssten die Gläubiger in der Lage sein, die jeweils richtige Inflationsrate bei ihren Spar- und Konsumentscheidungen zu Grunde zu legen. Nur bei unterstellter strenger Rationalität und unter den theoretischen Bedingungen einer Steady-state-Inflation ist also eine Inflationsbereinigung des nominalen Budgetsaldos analytisch gerechtfertigt. Zudem ist auch deshalb vor einer mechanischen Budgetbereinigung zu warnen, weil ein Großteil der Staatsschulden nicht oder nicht direkt von den inländischen privaten Haushalten gehalten wird, sondern von Banken, Pensionsfonds und Versicherungen. Im Übrigen ist die Veränderung des Schuldenstands nicht nur inflationsabhängig zu sehen. Konsequenterweise wären auch allfällige Zins- und Wechselkursveränderungen in Rechnung zu stellen, die nach Prüfung der Bestimmungsgründe des privaten Konsums und unter Berücksichtigung der Halterstruktur der Staatsschulden zwecks Vermeidung von Inkonsistenzen anderer Art auf der Gläubigerseite in der privaten Sparquote ihre Gegenbuchung finden müssten. Box erstellt von Gerhard Ziebarth (Deutsche Bundesbank). Zusätzlich erzielt der Staat noch Einnahmen aus der Geldschöpfung, indem der Notenbankgewinn an den Staatshaushalt geht. 165 Ökonomisch geht es dabei nicht um den bilanziellen Gewinn, sondern um die tatsächlich entstandenen jährlichen Gesamteinnahmen, unabhängig davon, ob sie dem Staat in der entsprechenden Periode auch zufließen. Diese werden üblicherweise durch die sog. Seigniorage S erfasst (siehe dazu auch Box II.3.3). Somit ergibt sich insgesamt für das staatliche Defizit (2) D =  B = ( G - T ) + ( i -  ) · B - S Unter der Seigniorage S versteht man die Einnahmen, die der Zentralbank durch das Monopol der Zentralbankgeldschöpfung erwachsen. Diese werden letztlich an den Staat 165 Die Abführung des Gewinns des Eurosystems an die nationalen Staatshaushalte hat ähnliche Wirkungen wie eine direkte Kreditvergabe an die Regierungen. Die Bankenliquidität erhöht sich und das Eurosystem muss diesen Effekt bei ihren regelmäßigen Refinanzierungsgeschäften mit berücksichtigen. STÖRFAKTOREN <?page no="355"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 356 abgeführt. 166 Dahinter steht die Möglichkeit einer Zentralbank, kaufkraftwirksames Zentralbankgeld (Banknoten und Zentralbankeinlagen) von sich aus zu schaffen. Prinzipiell gibt es zwei Arten, wie dem Staat diese Seigniorage-Einnahmen zufließen können. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass es zu einer Monetisierung der Staatsschuld, d. h. zu einer unmittelbaren Verschuldung des Staates bei der Notenbank kommt. Im Gegenzug erhält der Staat Zentralbankguthaben, die er üblicherweise verausgabt. Bilanzmäßig weist die Notenbank in diesem Fall auf der Aktivseite eine Forderung gegen den Staat aus, auf der Passivseite hat sie - nach der Verausgabung der Mittel durch den Staat - Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten. Durch die direkte Verschuldung des Staates bei der Notenbank entsteht somit zusätzliches Zentralbankgeld. Daneben gibt es noch eine zweite Möglichkeit. Diese besteht darin, dass Zentralbankgeld auch geschaffen werden kann, wenn die Geschäftsbanken sich bei der Zentralbank verschulden bzw. Devisen an sie verkaufen. Auf der Aktivseite der Notenbankbilanz stehen also Forderungen aus der Kreditvergabe bzw. Forderungen aus Devisenanlagen. Die Seigniorage-Einnahmen des Staates entstehen hierbei aus den daraus resultierenden Zins-Einnahmen, die dem Staat über die Gewinnausschüttung der Notenbank zufließen. 167 Theoretisch stellt die erste Variante der Seigniorage-Einnahmen (einmaliger Zufluss) nichts anderes dar als die auf die Gegenwart abgezinsten Zinseinnahmen auf den Bestand an Zentralbankgeld ( M 0) nach der zweiten Variante. Im ersten Fall bekommt der Staat diese Einnahmen über Verschuldung bei der Zentralbank in Höhe von  M 0 sofort. Im zweiten Fall fließen sie ihm über zukünftige Zinseinnahmen zu, deren Gegenwartswert wiederum gleich  M 0 ( = i ·  M 0 / i ) ist. Konkret besteht die Seigniorage somit aus den Zinseinnahmen auf den bestehenden Bestand an Zentralbankgeld ( M 0) und der Zunahme des Bestandes an Zentralbankgeld (  M 0 bzw. in stetiger Betrachtung · M 0 = ∂ M 0 / ∂ t , wobei t für die Zeit steht). Diese Einnahmen fließen letztlich dem Staat aus der Emission von Zentralbankgeld durch die Notenbank zu. Sie sind darauf zurückzuführen, dass die Zentralbank verzinste „Assets“ in Form von Krediten und / oder ausländischen Wertpapieren hält, das von den Privaten gehaltene Zentralbankgeld (die Geldbasis) dagegen unverzinst (oder niedrig verzinst) ist. Oder anders ausgedrückt: Zentralbankgeld stellt eine Verbindlichkeit der Zentralbank (und letztlich des Staates) dar, der als Aktivposten zinstragende Positionen in gleicher Höhe gegenüber stehen. Die reale Rendite dieser Papiere beträgt 166 Beim Bargeld bezieht sich diese Aussage nur auf Banknoten. Zusätzlich erzielt der Staat Einnahmen aus dem Münzregal, indem er Münzen an die Zentralbank zum Nominalwert, der bei fast allen Denominationen über den Prägekosten liegt, verkauft. Allerdings ist im Eurosystem die Münzhaltung der Notenbanken auf 10 % des Münzumlaufs beschränkt. 167 Da im Eurosystem die Mindestreserve zum Satz der Hauptrefinanzierungsgeschäfte verzinst wird, müssten exakter Weise diese Zinsaufwendungen von den Einnahmen abgezogen werden, um die Seigniorage zu ermitteln. Abgezogen werden müssten auch die Aufwendungen, die dem Eurosystem im Zuge seiner Aufgabenerfüllung entstehen (z. B. Personalaufwand). Aus Vereinfachungsgründen soll davon hier abgesehen werden. <?page no="356"?> FISKALPOLITIK 357 ( i -  ). Ob es sich bei diesen Anlageformen um private oder öffentliche, inländische oder ausländische „Assets“ handelt, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass es sich um zinstragende Titel handelt. Somit resultieren als reale Seigniorage-Einnahmen die Zunahme der Geldbasis plus die Zinseinnahmen auf den bestehenden Geldbasisbestand: (3) S = · M 0 P + ( i -  ) · M 0 P = · M 0 M 0 · M 0 P + ( i -  ) · M 0 P = μ · M 0 P + ( i -  ) · M 0 P = (μ + i -  ) · M 0 P = (μ + r ) · M 0 P Die Seigniorage entspricht also der Summe aus Wachstumsrate der nominalen Geldbasis μ (= · M 0/ M 0) und ex-post-Realzins ( r = i -  ), multipliziert mit der realen Geldbasis M 0/ P . „Bemessungsgrundlage“ der Seigniorage ist die reale Geldbasishaltung M 0/ P . Sie hängt - wie aus der Geldnachfragetheorie bekannt ist - positiv von einer Transaktionsgröße und aus Opportunitätskostenüberlegungen negativ vom Nominalzins i ab. Ein höheres nominales Geldmengenwachstum hat somit zwei gegenläufige Effekte auf S : Einerseits erhöht sich S direkt (über μ), weil mehr Zentralbankgeld im Umlauf ist. Wenn jedoch das Wachstum der Zentralbankgeldmenge inflationär wirkt, steigt i , und die reale Basisgeldnachfrage M 0/ P geht zurück. Dadurch entsteht ein kompensierender Effekt auf S . In diesem Sinne gibt es auch eine optimale Wachstumsrate von M 0, die S maximiert (vergleichbar der Laffer-Kurve für optimale Steuereinnahmen in Abhängigkeit vom Steuersatz). 168 Wenn die heimische Währung nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland für Transaktions- und Wertaufbewahrungszwecke gehalten wird (wie das beim € und beim US-$ der Fall ist, siehe Box III.2.13), fallen die Seigniorage-Einnahmen entsprechend höher aus. Bei diesem Konzept der Seigniorage ist es ökonomisch irrelevant, wann der Zufluss an den Staatshaushalt stattfindet. 169 Wenn die Wachstumsrate von M 0 (  ) gleich der Inflationsrate (  ) ist, entspricht S nach (3) den nominalen Zinseinnahmen auf den realen Bestand an Zentralbankgeld. 170 (4) S = i · M 0 P 168 In einer detaillierten Analyse müsste auch noch der Einfluss des Mindestreservesatzes auf S t untersucht werden. Es konnte allerdings gezeigt werden, dass Länder mit hohen Reservesätzen zugleich hohe Wachstumsraten der Geldbasis aufweisen (Haslag, 1998). 169 Das Konzept der Seigniorage wird in der Literatur nicht einheitlich definiert. Das hier gewählte Konzept dürfte jedoch das allgemeinste sein, siehe dazu Baltensperger / Jordan (1997) und Illing (1997, 58 - 60). 170 Auch dabei wurde eine mögliche Verzinsung der Mindestreserve außer Acht gelassen. Bei Verzinsung wäre die Seigniorage niedriger als bei einer unverzinslichen Mindestreserve. STÖRFAKTOREN <?page no="357"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 358 Die Seigniorage entspräche dann den Zinseinnahmen, die dem Staat aus der Emission von Zentralbankgeld zufließen. Bei Berücksichtigung der konsolidierten Vermögensbilanz des Staates (einschließlich Zentralbank) gilt also, dass die Staatsverschuldung umso geringer ausfällt bzw. ausfallen kann, je höher die Seigniorage ist. Der Nominalzins i setzt sich nun aus dem Realzins r und der erwarteten Inflationsrate  erw zusammen (siehe dazu die Ausführungen zur Fisher-Gleichung in Box III.2.5). Preisänderungen sind für Schuldner und Gläubiger also irrelevant, solange die Inflation korrekt antizipiert wurde. Aus Gleichung (2) wird dann (5) D = ( G - T ) + ( r +  erw -  ) · B - S In einer wachsenden Volkswirtschaft und für einen Vergleich unterschiedlicher Länder bietet es sich an, nicht mit absoluten Größen zu arbeiten, sondern den Schuldenstand bzw. das Defizit auf das (reale) BIP ( Y ) zu beziehen. Als sog. Defizitquote D / Y =  B / Y resultiert (6) D Y = ( G - T ) Y + ( r +  erw -  ) · B Y - S Y Die Schuldenquote entspricht B / Y . Deren Veränderung ist gegeben durch (Anwendung der Quotientenregel) (7) Δ ( B Y ) = Δ B · Y - B · Δ Y Y 2 = Δ B Y - B Y · Δ Y Y = Δ B Y - B Y · g = ( G - T ) Y + ( r +  erw -  - g ) · B Y - S Y = p d + [( r - g ) + (  erw -  )] · B Y - S Y Dabei steht p d für die Primärdefizitquote und g   Y / Y entspricht der Wachstumsrate des realen BIP. Die Schuldenquote nimmt also zu, wenn die Summe aus Primärdefizitquote und realer Zinsbelastung (unter Berücksichtigung von g ,  und  erw ) die Geldschöpfungseinnahmen übersteigt. Bei der realen Zinsbelastung durch die Schuldenakkumulation aus der Vergangenheit sind Wachstums- und Inflationseffekte zu berücksichtigen. Durch Inflation erleiden die Halter der staatlichen Papiere einen Wertverlust. Folglich sinkt die reale Belastung des Staatshaushalts mit steigender Inflationsrate. Sofern die Inflation jedoch korrekt antizipiert wird, d. h.  erw =  , erhöht sich der Nominalzins entsprechend, und die Anleger werden für diesen Wertverlust gerade kompensiert. Wenn die Wirtschaft wächst ( g > 0), erhöht sich der staatliche Verschuldungsspielraum, da dadurch die Schuldenquote (ceteris paribus) zurückgeht. Allgemein impliziert der in (7) dargestellte Zusammenhang bei rationalen Erwartungen (im Durchschnitt gilt  erw =  ) eine zunehmende Schuldenquote bei steigendem Realzins, sinkendem Wirtschaftswachstum, <?page no="358"?> FISKALPOLITIK 359 höherem Primärdefizit relativ zum BIP, größerer anfänglicher Schuldenquote und abnehmender Seigniorage. Tabelle V.1.1 zeigt den Beitrag des Primärsaldos und der Zins-Wachstums-Differenz zur Veränderung der Schuldenquote in den Jahren 1999 bis 2012 für das Euro- Währungsgebiet. Trotz Primärüberschüssen nahm die Schuldenquote von 1999 bis 2008 aufgrund der ungünstigen Zins-Wachstums-Differenz teilweise sogar zu. Nur in den Jahren 2004 bis 2007 unterstützte die Zins-Wachstums-Differenz aufgrund der niedrigen Nominalzinsen und der guten Konjunktur den Konsolidierungskurs. Seit 2009 weist die EWU ein Primärdefizit, mit allerdings sinkender Tendenz, auf. Tabelle V.1.1: Beitrag des Primärsaldos und der Zins-Wachstums-Relation zur Veränderung der Schuldenquote in der EWU (nominale Größen, in % des BIP) 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Schuldenquote 71,8 69,3 68,2 68,0 69,2 69,6 70,2 68,5 66,1 69,8 79,9 85,4 87,3 90,6 Veränderung der Schuldenquote (in %-punkten) -1,1 -1,5 -1,1 -0,2 +1,2 +0,4 +0,6 -1,7 -2,4 +3,7 +10,1 +5,5 +1,9 +3,3 Primärsaldo (+: Überschuss) 2,7 2,9 1,9 0,9 0,2 0,2 0,5 1,5 2,3 0,9 -3,5 -3,4 -1,1 -0,6 Zins-Wachstums- Differenz a) 0,3 0,5 1,0 1,5 1,6 -0,3 -0,4 -1,0 -0,8 1,1 7,3 0,6 0,0 1,0 Quelle: EZB, eigene Berechnungen. Anmerkungen: Die Summe aus Primärsaldo und Zins-Wachstums-Differenz entspricht wegen Strom-Bestands-Anpassungen nicht der Veränderung der Schuldenquote. a) bezogen auf das nominelle Wirtschaftswachstum, d. h. berechnet anhand des Terms i - (g +  ) = (i -  ) - g. Zins: Rendite 10-jähriger Staatsanleihen (Durchschnitt); ab 2004 Kassazinssätze 10-jähriger Anleihen der Zentralstaaten des Euro-Währungsgebiets mit AAA-Rating. Die traditionellen Konfliktpotenziale zwischen Geld- und Fiskalpolitik sind unmittelbar aus den Gleichungen (6) und (7) ersichtlich. So reduziert eine Überraschungsinflation (  >  erw ) den Realwert der staatlichen Nominalverschuldung zu Lasten der Gläubiger. Der Staat profitiert davon, da der Großteil der staatlichen Wertpapiere in Nominaleinheiten und einheimischer Währung ausgedrückt ist. 171 Eine vermehrte Geldschöpfung der Zentralbank führt zu zusätzlichen Staatseinnahmen, sofern die Privaten bereit sind, das zusätzliche Geld auch zu halten. Wenn allerdings die Geldnach- 171 An einen Preisindex indexierte Staatsanleihen sind in Deutschland erst seit 2005 zugelassen, sind aber z. B. in Großbritannien schon lange Zeit gängige Praxis und wurden im Fiskaljahr 1993 / 94 auch von Schweden und 1997 von den USA erstmalig begeben. Die erste inflationsindexierte Anleihe im Eurogebiet wurde vom französischen Schatzamt im September 1998 emittiert (die sog. OATi-Anleihe). Im Jahr 2003 folgten Griechenland und Italien. Zur Bedeutung derartiger Anleihen für die Geldpolitik siehe EZB (2007e). STÖRFAKTOREN <?page no="359"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 360 frage aufgrund der durch die vermehrte Geldschöpfung letztlich steigenden Inflation zurückgeht (also sozusagen die Bemessungsgrundlage der „Inflationssteuer“ wegbricht), darf man sich davon dauerhaft keine größeren Effekte zur Stabilisierung der Staatsfinanzen versprechen. Eine Stabilisierung der Schuldenquote ist gleichbedeutend mit (8) Δ ( B Y ) = 0  ( T - G ) Y = [( r - g ) + (  erw - π)] · B Y - S Y bzw. einer gleichgewichtigen Schuldenquote von (mit s als Seignioragequote) (8 ) ( B Y ) * = - p d + s ( r - g ) + (π erw - π) Ist der Ausdruck auf der rechten Seite von (8) positiv, ist zur Stabilisierung der Schuldenquote ein Primärüberschuss nötig. Soll eine Senkung der Schuldenquote erreicht werden (wie laut dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie dem Fiskalpakt für die Länder vorgesehen, die Schuldenquoten über 60 % aufweisen), ist ein höherer Primärüberschuss erforderlich. 172 Allerdings reduziert der Geldschöpfungsgewinn den notwendigen Überschuss. Unter Umständen ist deshalb eine Stabilisierung sogar mit einem Primärdefizit vereinbar. Dementsprechend ist auch das Vorzeichen der gleichgewichtigen (bzw. steady-state) Schuldenquote in der unteren Formel (8 ) unbestimmt. Ob ein Land im Gleichgewicht Schuldner oder Gläubiger ist, hängt vom Vorzeichen des Zählers und Nenners ab. Haben beide das gleiche Vorzeichen, ist eine konstante Schuldenquote langfristig mit einer Schuldenposition vereinbar. Die anderen Fälle erfordern eine Forderungsposition. Gleichung (8) kann auch folgendermaßen interpretiert werden: Je mehr die Inflationserwartungen  erw über die tatsächliche Inflation  hinausgehen und je höher die öffentliche Verschuldung bereits ist, desto schwieriger ist eine Stabilisierung der Schuldenquote. Eine Stabilisierung der Inflationserwartungen auf einem niedrigen Niveau wäre dann nicht nur geldpolitisch, sondern auch fiskalpolitisch von Vorteil. An Abb. V.1.1 erkennt man, dass in der EWU die meiste Zeit die Inflationserwartungen unter der tatsächlichen Inflationsrate lagen. Zusätzlich zur Ausgangsverschuldung und der Differenz zwischen  erw und  spielt dabei im Zeitablauf auch die Geschwindigkeit bzw. Trägheit, mit der sich die Inflationserwartungen nach unten anpassen, eine wichtige Rolle. Nach dem von der EZB organisierten „Inflation Persistence Network“ ist in einem durch niedrige Inflationsraten gekennzeichneten monetären Regime der Grad an Inflationspersistenz eher moderat und rückläufig. In einem derartigen Umfeld sollten die Inflationserwartungen auf niedrigem Niveau verankert und weniger von vergangenen Inflationsraten bestimmt 172 Will man sich von einer hohen Schuldenquote dem 60 %-Wert annähern, hängt die Dauer des Anpassungsprozesses zwangsläufig auch entscheidend von den Wachstums- und Zinsannahmen ab. Bei unterstellten Nominalzinsen von 6 % und einer Ausgangsschuldenquote von 100 % dauert es z. B. bei einem nominalen Wirtschaftswachstum von 3 % und ausgeglichenem Budget (Defizitquote = 0) 17 Jahre, bis man die 60 % erreicht. Beträgt das Wirtschaftswachstum dagegen 5 % reduziert sich die Zeitspanne auf 10 Jahre (European Commission, 2003, 60). <?page no="360"?> FISKALPOLITIK 361 sein. Folglich ist auch die tatsächliche Inflation weniger persistent. Im Falle mangelnder Glaubwürdigkeit der Geldpolitik oder erhöhter Unsicherheit dürften die Inflationserwartungen dagegen nur recht langsam nach unten oder sogar nach oben korrigiert werden. In dieser Hinsicht ist die jahrelange extreme Niedrigzinspolitik des Eurosystems mit der verbundenen üppigen Liquiditätsausstattung der Banken kritisch zu betrachten. Abb. V.1.1: Inflationserwartungen und tatsächliche Inflation in der EWU (in %) 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0 3.5 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 HVPI Inflationserwartungen Quelle: EZB. Anmerkungen: Inflationserwartungen aus dem Survey of Professional Forecasters der EZB. Berechnet als Prognose aus dem 4. Quartal des Vorjahres für das Folgejahr. Insgesamt entsteht durch eine Disinflation (ein Rückgang der Inflationsraten) 173 eine temporäre Zusatzlast für die Finanzpolitik hoch verschuldeter Länder. In der Phase hoher Inflationsraten der Vergangenheit wurde jedoch der finanzpolitische Spielraum durch den Inflationseffekt auch vergrößert. Die Disinflationsphase ist letztlich nichts anderes als eine Rückzahlung der vorher eingenommenen „Inflationssteuer “ . In einem preisstabilen Umfeld bindet folglich die staatliche Budgetbeschränkung strikter. Die Zins-Wachstums-Differenz dagegen fällt üblicherweise positiv aus (siehe Abb. V.1.2 für den Fall Deutschlands und der EWU insgesamt). Dadurch nimmt dann sozusagen die Schulden- und Defizitquote automatisch zu. Oder anders formuliert: Bei r > g ist ein Primärüberschuss alleine deshalb nötig, um einen weiteren Anstieg der Schuldenquote zu verhindern. 173 Eine Deflation dagegen bezeichnet eine Situation sinkenden Preisniveaus. STÖRFAKTOREN <?page no="361"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 362 Abbildung V.1.2: Wachstumsrate des realen BIP und Realzins in der EWU und Deutschland (in %) a) EWU -4 -2 0 2 4 6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 Realzins BIP-Wachstum b) Deutschland -6 -4 -2 0 2 4 6 8 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12 Realzins BIP-Wachstum Quelle: Deutsche Bundesbank, EZB. Anmerkung: Realzins: Umlaufsrendite minus aktuelle Inflationsrate. In Abb. a) wurden nur Anleihen von Zentralstaaten mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren und AAA-Rating berücksichtigt. <?page no="362"?> FISKALPOLITIK 363 Die EU-Kommission überprüft regelmäßig die Verschuldungssituation der EU-Länder anhand der Konvergenz- und Stabilitätsberichte. 174 Dies erfolgt jedoch nicht anhand realer Größen, die den bisherigen Überlegungen zugrunde lagen, sondern der nominalen Schulden- und Defizitquoten. Dabei wird auf die Seigniorage und Unterschiede zwischen erwarteter und tatsächlicher Inflation nicht gesondert eingegangen. Nehmen wir als Ausgangspunkt wiederum (2), lautet das entsprechende Pendant zu (7) („ n “ steht für nominal) (7 ) Δ ( B Y ) n = ( G n - T n ) Y n + ( r - g ) · B n Y n Durch Berechnung der Quoten wird die nominale Verschuldung um Inflationseffekte bereinigt, d. h. ausschlaggebend ist wieder das Verhältnis von Realzins zu realem Wirtschaftswachstum. 175 Die nominale Schuldenquote b n ist gegeben durch b n = B n Y n = B n P · Y . Folglich gilt nach Anwendung des totalen Differenzials (9) Δ b n = Δ B n P · Y - b n (  + g ) = d n - b n (  + g ), wobei d n für die nominale Defizitquote steht. Soll die Schuldenquote konstant bleiben, muss  b n = 0 gelten. Dann konvergiert die nominale Schuldenquote langfristig gegen einen konstanten Wert, der gegeben ist durch b n = d n  + g Bei Abfassung des Maastricht-Vertrages ging man von  = 2 % und g = 3 % aus. Gibt man eine Defizitquote von 3 % vor, resultiert b n = 60 %. Das sind die beiden Schwellenwerte des EU-Vertrages. Will man mittelbis langfristig einen ausgeglichenen Staatshaushalt (siehe die Vorschriften des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des Fiskalpaktes), d. h. d n = 0, folgt zwingend b n = 0. Zugleich gilt bei  b n = 0 nach (7  ) auch p d n = ( g - r ) · b n , mit p d n als nominelle Primärdefizitquote. Ist das reale Wirtschaftswachstum g also höher als der Realzins r , kann man sich auf Dauer sogar Primärdefizite erlauben, ohne 174 Die am Euro-Währungsgebiet teilnehmenden Länder müssen jährlich Stabilitätsprogramme, die nicht an der EWU teilnehmenden EU-Länder sogenannte Konvergenzprogramme vorlegen. Dabei wird auch darauf eingegangen, inwiefern die dem Programm zugrunde liegenden gesamtwirtschaftlichen Annahmen (z. B. über das Wirtschaftswachstum) realistisch sind. 175 Alternativ könnte man auch mit der nominalen Zinsdifferenz (i - g n ) arbeiten, da (i - g n ) = (r +  ) - (g +  ) = (r - g). STÖRFAKTOREN <?page no="363"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 364 dass die Staatsschuldquote anwächst. Im umgekehrten Fall dagegen sind Primärüberschüsse nötig, sollen die öffentlichen Schulden nicht ständig zunehmen. Diese müssen umso höher ausfallen, je höher die Staatsschulden b n bereits sind. Die Ausführungen bei der realen Betrachtung gelten hier also entsprechend. Wie sind die bisher geschilderten Zusammenhänge nun vor dem Hintergrund der institutionellen Vorkehrungen des AEUV zu beurteilen? Den Vertragsparteien des Maastricht-Vertrages waren die potenziellen Gefahren einer unsoliden Haushaltspolitik für die gemeinsame Geldpolitik auch bekannt. Deshalb lassen sich einige der dort getroffenen Regelungen prinzipiell durch die dargestellten Überlegungen begründen. Es zeigte sich allerdings durch die Entwicklungen seit Beginn der Staatsfinanzkrise 2010, dass die Regelungen locker und flexibel interpretiert wurden (siehe dazu auch Abschnitt V.1.2). So gewährt die Satzung des ESZB und der EZB sowohl der EZB als auch den nationalen Zentralbanken Unabhängigkeit von Weisungen der Organe oder Einrichtungen der EU und Regierungen der Mitgliedstaaten. Dadurch kann sich das Eurosystem ohne staatliche Einmischung auf sein primäres Ziel der Gewährleistung von Preisstabilität konzentrieren. Zudem besteht ein Verbot der monetären Finanzierung von Haushaltsdefiziten (keine Kreditfazilitäten) und des unmittelbaren Erwerbs von Staatsschuldtiteln durch das Eurosystem. Dieses Verbot gilt für die nationalen Zentralbanken und die EZB. Auch darf öffentlichen Haushalten kein bevorrechtigter Zugang zum Kapitalmarkt verschafft werden. Da die Mindestreserve verzinst wird, entfällt die Möglichkeit, sich mit Hilfe dieses Instruments Seigniorage-Einnahmen zu verschaffen. Zudem haftet nach Art. 125 AEUV kein Land für die Verbindlichkeiten eines anderen Landes (die sog. „no-bail-out-Klausel“). Desweiteren ist zu berücksichtigen, dass der EU-Vertrag den Status eines völkerrechtlichen Vertrages besitzt, der nur einstimmig von allen EU-Mitgliedsländern geändert werden kann. Die einzelnen Euro-Länder sehen sich somit de jure „härteren Budgetbeschränkungen“ gegenüber als vor der Währungsunion. Zwar kann von politischer Seite Druck auf eine expansivere Ausrichtung der Geldpolitik ausgeübt werden. Auch besteht für die nationalen Regierungen die Möglichkeit, über die Besetzung der Zentralbankpräsidenten und der Direktoriumsmitglieder der EZB indirekt Einfluss auf die Geldpolitik zu nehmen. Und schließlich könnte unter Umständen die Glaubwürdigkeit der Regelungen von den Märkten bezweifelt werden. Der Aufkauf von Staatsanleihen und die Akzeptanz niedriger Schwellenwerte für Sicherheiten durch die EZB, die Gründung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als neuer internationaler Organisation mit der Möglichkeit von Staatsanleihekäufen am Primärmarkt und die Ankündigung des Eurosystems, im Zweifelsfall unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen (wenn auch unter Konditionalität), sind in diesem Zusammenhang als äußerst kritisch zu bewerten. Hiermit begibt sich das Eurosystem zu sehr in die Nähe der Finanzpolitik mit entsprechenden Gefahren für die Unabhängigkeit. In gewissem Sinne betreibt sie sogar Fiskalpolitik, ohne dafür demokratisch von Parlamenten legitimiert zu sein, wie dies bei Regierungen der Fall ist. Das Ziel der Rettung der Währungsunion wird letztlich über das Ziel der Preisstabilität gestellt. <?page no="364"?> FISKALPOLITIK 365 Eigentlich wäre das Eurosystem durch die institutionellen Vorkehrungen des AEUV gegen politische Einflussnahme relativ gut abgesichert. Aber wie man erkennen musste, müssen gesetzliche Vorschriften oder der „Geist“ von Verträgen nicht unbedingt mit dem tatsächlichen Verhalten von Zentralbanken übereinstimmen. Im Folgenden soll noch auf einige weitere Punkte eingegangen werden, die zu Spannungen zwischen der Geld- und Fiskalpolitik führen können. 1.1.2 Fristigkeit der Verschuldung Zunächst ist dabei auf das Problem der kurzfristigen Verschuldung des öffentlichen Sektors hinzuweisen. Dadurch gerät der öffentliche Sektor verstärkt ins Fahrwasser der Geldpolitik, da sein Schuldendienst zunehmend von den direkt von der Geldpolitik abhängenden (kurzfristigen) Geldmarktzinsen beeinflusst wird. Deren Auswirkungen schlagen sich in den Gleichungen (6) bis (8) im verwendeten Zins i = r +  erw nieder. Insbesondere in konjunkturell angespannten Zeiten kann es deshalb zu einem politischen Druck auf die Zentralbank kommen, die Zinsen zu senken, um die Ausgaben für den Schuldendienst zu verringern. Ein Abbau der kurzfristigen Staatsschulden könnte dieses Konfliktpotenzial jedoch entschärfen. Tabelle V.1.2: Laufzeitstruktur der öffentlichen Gesamtverschuldung im Euro-Währungsgebiet 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Ursprungslaufzeit ≤ 1 Jahr 7,3 6,5 7,0 7,6 7,8 7,7 7,8 7,3 7,1 10,0 12,1 13,0 12,6 11,7 > 1 Jahr 64,5 62,8 61,3 60,4 61,4 62,0 62,8 61,4 59,2 60,2 67,9 72,4 74,7 78,9 darunter: mit variablem Zins 6,6 5,8 5,0 5,3 5,0 4,7 4,5 4,3 4,2 4,9 5,0 5,1 6,0 7,0 Verhältnis ≤ / > (%) 11,3 10,4 11,4 12,6 12,7 12,4 12,4 11,9 12,0 16,6 17,8 18,0 16,9 14,8 Restlaufzeit (R) ≤ 1 Jahr 13,6 13,4 13,7 15,5 14,9 14,7 14,8 14,3 14,5 17,7 19,5 21,2 20,8 20,6 1 < R ≤ 5 Jahre 27,9 27,9 26,8 25,3 26,0 26,3 25,8 24,2 23,6 23,5 27,3 29,3 30,4 32,1 > 5 Jahre 30,4 28,0 27,8 27,2 28,3 28,6 29,9 30,1 28,2 29,1 33,2 34,9 36,1 37,9 Verhältnis ≤ 1 / > 5 (%) 44,7 47,9 49,3 57,0 52,7 51,4 49,5 47,5 51,4 60,8 58,7 60,7 57,6 54,4 Quelle: EZB-Monatsbericht, Tabelle 6.2, eigene Berechnungen. Anmerkung: in % des BIP. Anhand Tabelle V.1.2 ist erkenntlich, dass der Anteil der kurzfristigen Verschuldung (Ursprungslaufzeit ≤ 1 Jahr) vor allem von 2006 - 2010 angestiegen ist. Bei den Restlaufzeiten sind inzwischen Werte um 60 % auszumachen. Hinzu kommen noch die mit STÖRFAKTOREN <?page no="365"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 366 einem variablen Zins ausgestatteten langfristigen Schulden. Dementsprechend würde eine restriktive Geldpolitik, die die kurzfristigen Zinsen um einen Prozentpunkt erhöht, die öffentliche Schuldendienstbelastung in der Währungsunion um etwa 0,13 Prozentpunkte des BIP ansteigen lassen. 176 Gemessen am BIP hat auch die längerfristig angelegte öffentliche Verschuldung mit Festzinskonditionen in den letzten Jahren zugenommen. Bei der Entwicklung der zeitlichen Struktur der öffentlichen Verschuldung spielt die wirtschaftliche Entwicklung (siehe die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrisen der letzten Jahre) und der Verlauf der Zinsstrukturkurve eine wichtige Rolle. So stellte man z. B. in Deutschland Mitte der 90er Jahre durch die Normalisierung und die zunächst eintretende zunehmende Steilheit der Zinsstrukturkurve eine wachsende Neigung zur kürzerfristigen öffentlichen Verschuldung fest. 177 Eine flache (oder sogar inverse) Zinsstruktur, wie 2005 bis 2008 im Euro-Währungsgebiet auszumachen (siehe Abb. V.1.3), lässt dagegen Portfoliomanager eher längerfristige Finanzierungsformen bevorzugen. 178 Bei der geldpolitischen Beurteilung der Effekte einer steigenden kurzfristigen öffentlichen Verschuldung ist neben der Verschuldungshöhe auch die Reaktion der Finanzmärkte zu beachten. So könnte diese Entwicklung vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen, wonach für Länder mit einer laxeren Finanzpolitik die Möglichkeiten einer langfristigen Verschuldung eingeschränkt sind, als Anzeichen einer schwindenden Solidität gedeutet werden. Steigende Risikoprämien für die Zinsen in allen Laufzeitsegmenten wären dann die Folge. Aber auch die Planungssicherheit des Staatshaushalts wird beeinträchtigt, da die Staatsausgaben zunehmend von den größeren Schwankungen der Kurzfristzinsen dominiert sind. Diese Überlegungen zeigen, dass bei einer von den kurzfristigen Zinsen abhängigen Zinslast des Staates der Unabhängigkeit der Notenbank eine wichtige Rolle zukommt. Die von Nichtbanken erworbenen kurzfristigen staatlichen Wertpapiere fungieren für diese als Substitute zur Geldhaltung. Sie besitzen z. B. eine ähnliche potenzielle Kaufkraftwirksamkeit wie kurzfristige Termineinlagen. Eine Verkürzung der durchschnittlichen Laufzeit der staatlichen Verschuldung erhöht dementsprechend die gesamtwirtschaftliche Liquidität, wenn die kurzfristigen Staatspapiere nicht andere kurz- 176 Dabei wird der Effekt auf die längerfristigen Zinsen nicht mit berücksichtigt. Da die öffentlichen Instanzen in der EWU in den letzten Jahren verstärkt Zinsswaps zum Schuldenmanagement einsetzten, ist die durchschnittliche Laufzeit immer weniger ein zuverlässiger Indikator der Zinssensitivität der Staatsschulden (Wolswijk / de Haan, 2005). 177 Man spricht von einer normalen (inversen) Zinsstruktur, wenn die langfristigen Zinsen über (unter) den kurzfristigen liegen. 1996 wurden in Deutschland erstmals unterjährige Staatsschuldtitel, sog. „Bubills“, emittiert. Zudem werden bei den Schuldscheindarlehen kurzfristige Laufzeiten, bei Bundesanleihen eine variable Verzinsung („zinsvariable Bundesanleihen“) und die Einräumung eines Kündigungsrechts für den Gläubiger stärker bevorzugt. Die Konditionen variabel verzinslicher Anleihen sind dabei ebenso wie diejenigen privater kurzlaufender Schuldverschreibungen (z. B. Commercial Paper) i. d. R. an einen repräsentativen Interbankenzins gekoppelt. Hierfür bietet sich in der Währungsunion der EURIBOR an. 178 Eine Analyse der optimalen Laufzeitgestaltung der öffentlichen Verschuldung unter besonderer Berücksichtigung der Lage in der EWU findet sich in Giordano (2001). <?page no="366"?> FISKALPOLITIK 367 fristige Anlageformen vollkommen substituieren. Unter „Geld“ versteht man in der geldpolitischen Praxis stets kurzfristige Anlageformen. Die Entwicklung der Geldmenge wird somit schwieriger zu interpretieren, wenn viele kurzfristige Staatspapiere im Umlauf sind. Wenn nun das Ausgabeverhalten der Nichtbanken vom Liquiditätsgrad ihrer „Assets“ mit abhängt, werden positive Nachfrage- und damit auch Preiseffekte ausgelöst. Dies hat eine stabilitätsorientierte Geldpolitik in ihren Analysen mit aufzunehmen. 179 Auf der anderen Seite sind mit einem breiteren und liquideren Markt für Geldmarktpapiere, speziell z. B. durch kurzfristige staatliche Papiere, auch Vorteile verbunden. Dadurch wird nämlich die laufende Geldmarktsteuerung, die über den Geldmarkt Wirkungen erzielen will, positiv beeinflusst, da diese Papiere in die Offenmarktpolitik (für definitive Käufe und Sicherheiten) einbezogen werden können. Der Notenbank stehen dann zusätzliche Möglichkeiten offen, die Bankenliquidität zu beeinflussen. Allerdings dürften auch ohne diese kurzfristigen Papiere die Möglichkeiten des Eurosystems ausreichen, die Bankenliquidität und den Tagesgeldmarktsatz adäquat zu steuern (siehe Kap. III.3). 179 Eine antizyklische staatliche Schuldenstrukturpolitik müsste folglich in Rezessionen die Laufzeit verkürzen, in Boomphasen die Laufzeit erhöhen, um stabilisierende Nachfrageeffekte auszulösen. Abb. V.1.3: Zinsstruktur im Euro-Währungsgebiet -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 Quelle: EZB. Anmerkung: Zinsstruktur gemessen anhand der Differenz zwischen der Rendite von Staatsanleihen mit 10-jähriger Laufzeit und AAA-Rating und dem 3-Monats-Euribor in Prozentpunkten, Jahresdurchschnitte. STÖRFAKTOREN <?page no="367"?> MÖGLICHE STÖRPOTENZIALE FÜR DIE GELDPOLITIK 368 1.1.3 Währu