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Wörterbuch der Soziologie

0101
2014
978-3-8385-8566-6
978-3-8252-8566-1
UTB 
Gisela Trommsdorff
Nicole Burzan
Günter Endruweit

Das maßgebliche Nachschlagewerk der Soziologie erscheint komplett überarbeitet in 3. Auflage: Es umfasst knapp 300 Stichwörter, die sich aufgrund ihres deutlich über lexikalische Kürze hinausgehenden Umfangs auch zur Einführung in zentrale soziologische Fragestellungen eignen. Die vielen neu gewonnenen AutorInnen haben das Wörterbuch auf den gegenwärtigen Stand der Forschung gebracht, es mit aktuellen Literaturhinweisen versehen und um zahlreiche Begriffe erweitert. Wozu braucht man, ob in gedruckter oder digitaler Variante, im Zeitalter schneller Informationsbeschaffung im Internet noch ein Wörterbuch der Soziologie? Gerade heute sollte die fachlich fundierte Einordnung des vielfaltigen sozialen Wandels in gesicherter Weise durch Expertinnen und Experten erfolgen, die aktuell in den verschiedenen Themengebieten der Soziologie forschen. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht dabei insbesondere der explizit soziologische Blick auf Phänomene wie Emotionen, Markt oder Recht, welche auch von anderen Disziplinen thematisiert werden. Es kann in diesem Nachschlagewerk sowohl nach Stichworten gesucht werden, denen ein eigener Beitrag gewidmet ist, als auch nach Begriffen im Register, sodass Querbezüge leicht herzustellen und Sachverhalte auch ohne eigenen Beitrag gut auffindbar sind.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich UTB (L) Impressum_14.indd 1 27.11.13 16: 15 <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 2 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 3 Günter Endruweit, Gisela Trommsdorff, Nicole Burzan (Hg.) Wörterbuch der-Soziologie 3., völlig überarbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 4 Dr. Günter Endruweit war Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes, der Technischen Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Stuttgart und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Kiel sowie als Gast an der Istanbul Üniversitesi und der Northwestern University in den USA. Er hatte zudem zahlreiche Ämter in der Selbstverwaltung in Bochum, Stuttgart (Dekan), Saarbrücken (Vizepräsident der Universität) und Kiel (Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät) inne. Gisela Trommsdorff ist Forschungsprofessorin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Soziooekonomisches Panel (SOEP), Berlin sowie Leiterin der Arbeitsgruppe für Entwicklungspsychologie und Kulturvergleich an der Universität Konstanz. Sie bekam 2008 das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen und ist Mitglied der Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften in Erfurt. Nicole Burzan ist Professorin für Soziologie an der Universität Dortmund. Sie wurde 2013 in den Vorstand der DGS (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) gewählt und ist dort stellvertretende Vorsitzende und Schatzmeisterin. 2003-2007 war sie Junior-Professorin für »Sozialstrukturanalyse und empirische Methoden« an der FernUniversität in Hagen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Soziale Ungleichheit, Inklusion, Zeitsoziologie, Methoden der Sozialforschung. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 2. Auflage: © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2002 (ISBN 3-8252-0172-5) © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Lektorat: Claudia Hangen, Hamburg Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Druck: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 8566 ISBN 978-3-8252-8566-1 <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 4 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 5 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort 9 Abhängigkeit 11 Abhängigkeitstheorien 11 Aggregat, soziales 12 Aggression 13 Aktionsforschung 14 Akzeptanz und Sozialverträglichkeit 15 Alltagswissen 15 Alterssoziologie 16 Anomie 22 Anspruchsniveau 23 Arbeiterbewegung 23 Arbeitsbeziehungen 25 Arbeitssoziologie 26 Arbeitsteilung 30 Arbeitswissenschaft 32 Architektursoziologie 34 Aristokratie 35 Armut und Reichtum 37 Ausbeutung 40 Auswahlverfahren 41 Autorität 43 Bedürfnis 45 Befragung 45 Beobachtung 48 Berufssoziologie 51 Bevölkerungssoziologie und Demographie 56 Bewegung, soziale 60 Beziehungen, soziale 61 Bias 64 Bildungssoziologie 64 Biographieforschung 68 Boykott 70 Bürgertum 70 Bürokratie 71 Charisma 75 Clique 75 Datenanalyse 76 Definition der Situation 76 Differenzierung 77 Diskriminierung 80 Dunkelziffer 81 Ehe 83 Ehre 84 Ehrenamt 85 Eigentum 86 Einstellung 87 Einzelfallstudie 89 Elite 89 Emanzipation 90 Emergenz 91 Emotionen 92 Empirie 92 Entscheidung 94 Entwicklung 95 Entwicklungssoziologie 97 Erbe-Umwelt-Theorie 100 Erklärung 101 Ernährungssoziologie (Soziologie des Essens) 102 Erwünschtheit, soziale 103 Ethnomethodologie 104 Ethnologie 107 Ethnozentrismus 108 Evaluation 109 Evolutionstheorie 111 Experiment 114 Explorationsstudie 118 Familiensoziologie 120 Feldforschung 124 Feldtheorie 126 Forschung 127 Freizeit 128 Fremdenfeindlichkeit 129 Führung 132 Funktion 137 Gemeinschaft 140 Generationen 141 Gerechtigkeit 143 Geschichte der Soziologie 144 Geschlechterforschung 147 Gesellschaft 152 Gewalt 154 Gewohnheit 155 Globalisierung 156 Grounded Theory 157 Gruppe 158 Gütekriterien 164 Habitus 166 Handeln, soziales 167 Handlungstheorien 168 Herrschaft 169 Hypothese 170 Identität 172 Ideologie 175 lmage 176 Indikator 176 <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 6 6 Inhaltsverzeichnis Indikatoren, soziale 177 Individualisierung 179 Individualismus, methodologischer 181 Individuum 183 Industriesoziologie 184 Inferenz, statistische 189 Inhaltsanalyse 192 Initiation 198 Inklusion/ Exklusion 198 Innovation 199 Institution 200 Integration 201 Intellektuelle/ Intelligenz 203 Interdisziplinarität 204 Interesse 205 Jugendsoziologie 207 Kapital 212 Kapital, soziales 213 Kapitalismus 214 Kaste 219 Katalysator, sozialer 220 Kindheit 220 Klasse 222 Kodierung 226 Kohäsion 226 Kollektiv 226 Kolonialismus 228 Kommunikations- und Mediensoziologie 229 Konflikttheorie 236 Konsens 240 Konservativismus 240 Konsistenz 241 Konstruktivismus 241 Konsumsoziologie 242 Kontrolle, soziale 245 Konvergenztheorie(n)/ Konvergenztheorem(e) 248 Körpersoziologie 250 Korrelation 251 Kultursoziologie 252 Kunstsoziologie 257 Kybernetik 260 Land- und Agrarsoziologie 263 Längsschnittuntersuchung 265 Lebenslaufforschung 266 Lebensstil 268 Leistungsgesellschaft 269 Lernen 271 Liberalismus 272 Literatursoziologie 273 Macht 278 Makro- und Mikrosoziologie 279 Marginalität 280 Markt 282 Marktforschung 283 Masse 284 Materialismus, dialektischer und historischer 285 Matriarchat 286 Medizin- und Gesundheitssoziologie 287 Mensch-Tier-Sozialität 293 Messung 294 Methoden, qualitative 298 Methoden, quantitative 302 Methodologie 305 Migration 308 Milieu 310 Militärsoziologie 314 Minderheit 319 Mobilität 321 Mode 325 Modernisierung 326 Musiksoziologie 330 Nachahmung 334 Nachbarschaft 335 Nationalcharakter 335 Netzwerk 336 Norm und Sanktion 338 Operationalisierung 343 Organisationssoziologie 343 Organismustheorie 347 Persönlichkeit(sentwicklung) 349 Phänomenologie 352 Politiksoziologie 356 Position 360 Positivismus 361 Praxis 364 Prestige 364 Pretest 366 Probleme, soziale 366 Professionalisierung 368 Prognose 369 Proletariat 371 Prozess, sozialer 372 Qualifikation 373 Rasse 374 Rational Choice Theorie / Theorie der rationalen Wahl 374 Rationalisierung 379 Rationalismus, Kritischer 384 Rationalität 389 Raum, sozialer 390 Raumforschung und Raumplanung 394 Rechtssoziologie 396 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 6 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 7 7 Inhaltsverzeichnis Reduktionismus 400 Regressionsanalyse 401 Reiz 403 Religionssoziologie 403 Revolution 408 Risiko 409 Ritual 410 Rolle 411 Rückkopplung 415 Schicht, soziale 417 Segregation 420 Sekundäranalyse 422 Sexualität 422 Sippe 425 Skalierung 425 Sozialarbeit 427 Sozialdarwinismus 429 Sozialethik 430 Sozialgeographie 433 Sozialgeschichte 439 Sozialisation 444 Sozialkunde 451 Sozialökologie 454 Sozialpädagogik 457 Sozialphilosophie 463 Sozialpolitik 467 Sozialpsychologie 471 Sozialstruktur 475 Sozialwissenschaften 480 Soziologie 482 Soziologie, Allgemeine und Spezielle 487 Soziologie, marxistische 488 Soziologie, mathematische 491 Soziologie, strukturell-individualistische 493 Soziologie, verstehende 494 Soziologie, visuelle 496 Soziometrie 496 Soziotechnik 497 Sportsoziologie 498 Sprachsoziologie 503 Stadtsoziologie/ Gemeindesoziologie 507 Stand 511 Ständegesellschaft 513 Statistik 514 Status 517 Struktur 518 Strukturalismus 519 Studie, komparative 520 Subjekt, soziales 521 Subkultur 522 Sukzession 523 Symbol 524 Symbolischer Interaktionismus 525 Systemtheorie 528 Tabellenanalyse 535 Tabu 537 Tausch 537 Taylorismus 539 Techniksoziologie 539 Thanatosoziologie 543 Theorie 545 Theorie des Handelns 546 Theorie des kommunikativen Handelns 551 Theorie, kritische 557 Theorie, strukturell-funktionale 561 Tradition 566 Umweltsoziologie 567 Ungleichheit, soziale 571 Utopie 573 Verband 575 Verfahren, multivariate 576 Verfahren, nichtreaktive 579 Vergleich, interkultureller, intersozietärer 580 Vergleich, sozialer 583 Verhalten, abweichendes 585 Verhalten, konformes 590 Verhalten, prosoziales 591 Verhaltensmuster 592 Verhaltenstheorie 595 Verstädterung 599 Vorurteile 600 Wahrnehmung, soziale 602 Wahrscheinlichkeit 602 Wandel, sozialer 603 Werbung 607 Wert/ Wertewandel 610 Wertfreiheit/ Werturteilsproblem 616 Wirtschaftssoziologie 618 Wissenschaft 623 Wissenschaftssoziologie 624 Wissenschaftstheorie 627 Wissenssoziologie 632 Zeit 638 Zensus 639 Zivilgesellschaft 641 Zivilisation 642 Zukunftsforschung 644 Register 647 Autorenverzeichnis 659 <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 8 <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 8 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 9 9 Vorwort Sozialer Wandel ist eines der großen Themen der Soziologie. Sozialen Wandel hat auch dieses Wörterbuch der Soziologie erlebt. Die erste Auflage erschien 1989 im Ferdinand-Enke-Verlag, der später die Veröffentlichung von Soziologie-Büchern einstellte (nicht etwa wegen dieses Wörterbuchs! ). Deshalb kam die zweite Auflage 2002 im Verlag Lucius & Lucius heraus, dessen Verleger sein UTB-Programm 2010 aus Altersgründen der UVK Verlagsgesellschaft übertrug, die nun diese dritte Auflage betreut hat und zudem digitale Fassungen des Wörterbuchs plant. Wir danken hier insbesondere Sonja Rothländer für ihre wertvolle Unterstützung. Wozu braucht man, ob in gedruckter oder digitaler Variante, im Zeitalter schneller Informationsbeschaffung im Internet noch ein Wörterbuch der Soziologie? Für die Herausgeber, für die Autorinnen und Autoren, für Soziologinnen und Soziologen liegt auf der Hand, dass die fachlich fundierte Einordnung des vielfältigen sozialen Wandels in gesicherter Weise von Expertinnen und Experten erfolgen sollte, die aktuell in den verschiedenen Themengebieten der Soziologie forschen, und dass dabei insbesondere der soziologische Blick auf Phänomene wie Emotionen, Markt oder Recht, die ja auch von anderen Disziplinen thematisiert werden, im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Sozialer Wandel zeigt sich entsprechend auch im Inhalt des Wörterbuchs. So wurden als neue Stichworte z. B. aufgenommen: Ehrenamt, Exklusion/ Inklusion, Innovation, Interdisziplinarität, Kommunikationssoziologie, Körpersoziologie, Lebenslaufforschung, Risiko, Thanatosoziologie und Wissenschaftssoziologie. Im Übrigen wurde das frühere Konzept beibehalten. Neben der bewährten Mischung aus längeren und kürzeren Beiträgen ist unter anderem kennzeichnend, dass Sie als Leserinnen und Leser sowohl nach Stichworten suchen können, denen ein eigener Beitrag gewidmet ist, als auch nach Begriffen im Register, sodass Querbezüge leicht herzustellen und Sachverhalte ohne eigenen Beitrag gut auffindbar sind. Außerdem ist eine Veränderung in der Herausgeberschaft eingetreten. Die ursprünglichen Herausgeber danken Nicole Burzan dafür, dass sie bereit war, sich der zeit- und nervenaufreibenden Arbeit zu unterziehen und zur Kontinuität bereit zu sein. Auch im Kreis der Autorinnen und Autoren ergaben sich aus unterschiedlichsten Gründen große Veränderungen. Wir danken allen, die zu dieser Auflage Beiträge geliefert haben, für ihre Mühe. Wir hoffen, mit dieser neuen Auflage allen an der Soziologie Interessierten eine nützliche Hilfe leisten zu können. Kiel/ Konstanz/ Dortmund, im Januar 2014 Günter Endruweit/ Gisela Trommsdorff/ Nicole Burzan <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 10 <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 10 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 11 11 Abhängigkeitstheorien A Abhängigkeit Abhängigkeit (engl. dependence, dependency) bezeichnet einen für eine längere Zeit anhaltenden zwischenmenschlichen Zustand in Dyaden oder Gruppen als Ergebnis wiederholt abgelaufener Prozesse sozialer Bindung meist mit asymmetrischen und komplementären Tendenzen in Interaktion und Kommunikation: etwa als Gehorsam gegenüber Herrschaft oder Macht in hierarchisch gegliederten sozialen Gebilden (hierarchische Abhängigkeit) oder paradigmatisch im Rahmen der primären Sozialisation als überwiegend gefühlsmäßige Beziehung zwischen Kleinkind und Dauerpflegeperson (emotionale Abhängigkeit). Dabei sind generell und über die Bedingungen der Primärsozialisation hinaus Verhaltensdispositionen wie die Suche nach körperlicher Nähe, Fürsorge, Beachtung und Anerkennung oder die Angst vor Trennung, sozialer Isolation und Einsamkeit charakteristisch (Abhängigkeitsbedürfnis). Es können sich daraus wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse ergeben, die unter dem Aspekt abweichenden Verhaltens zu untersuchen sind, insofern sie nicht für eine Übergangsphase soziokulturell gebilligt werden (z. B. bei Liebespaaren) oder sich auf soziale Phänomene des Tausches beziehen, die Gegenstand von kulturanthropologischen Tauschtheorien und verhaltenstheoretischen Austauschtheorien sind. Daneben wird der Begriff Abhängigkeit verwendet, um eine Beziehung von Personen zu Sachen zu kennzeichnen: etwa in der Arbeitsorganisation, wo sich die Rolleninhaber einer Steuerung und Kontrolle durch technische und nicht-technische Technologien unterwerfen (funktionelle Abhängigkeit), oder im Bereich des nicht mehr kontrollierbaren, süchtigen Konsums von psychotropen Substanzen, z. B. Alkohol (Abhängigkeitssyndrom), der Gegenstand der Soziologie sozialer Probleme ist. Siegfried Tasseit Abhängigkeitstheorien Die Abhängigkeitstheorien (Dependenztheorien, engl. dependency theories) entstanden Ende der 1960er Jahre in Lateinamerika als Reaktion auf ausbleibende Entwicklungserfolge. Bei den Abhängigkeitstheorien handelt es sich nicht um ein geschlossenes Theoriegebäude, sondern um eine beträchtliche Zahl konkurrierender bzw. aufeinander aufbauender Ansätze (zusammenfassend Menzel 2010: 97-124, Boeckh 1982). Allen gemein ist, dass sie sich von den bis dahin in der Entwicklungstheorie dominierenden ökonomischen Aushandelstheorien und den sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien absetzen und Entwicklungsprozesse im Rahmen internationaler ökonomischer und politischer Herrschaftsprozesse analysieren. Kurz gefasst sehen sie die fehlende Entwicklung der Dritten Welt als eine Folge der Entwicklung der Ersten Welt an. Während die Aushandelstheorien auf der Basis der Theorie komparativer Kostenvorteile (Ricardo) einen Wohlstandsgewinn durch die Eingliederung in den Welthandel unterstellen, blieb dieser Effekt in Lateinamerika aus. Singer und Prebisch (Prebisch 1968, Kapitel 1) verweisen zur Erklärung auf die im Vergleich zu Industrieprodukten langfristig fallenden Preise für Rohstoffe und sprechen von der Verschlechterung der Tauschverhältnisse (Terms of Trade). Marxistische Autoren, die wesentlich die weitere Debatte in den Abhängigkeitstheorien bestimmten, sehen in dieser Ungleichheit eine Grundstruktur des kapitalistischen Weltsystems, wobei zur Begründung auf frühere Imperialismustheorien (Lenin) bzw. auf Argumente im Rahmen neomarxistischer Überlegungen zurückgegriffen wurde (u. a. marxistische Arbeitswertlehre). Frank (1968) brachte das Kernargument auf die Formel »Entwicklung der Unterentwicklung«. Auf diesen Überlegungen aufbauend entwickelte Wallerstein (1982) seinen Weltsystemansatz. Die Abhängigkeitstheorien stehen auch im radikalen Gegensatz zu zentralen Annahmen »klassischer« Modernisierungstheorien (Rostow 1960, Lerner 1971), welche Entwicklung als vornehmlich endogenen Prozess bestimmen, der, sobald traditionelle Widerstände überwunden sind, gleichsam automatisch vonstattengehe. Aus Sicht der Abhängigkeitstheorien sind die sozioökonomischen Verhältnisse in der Dritten Welt durchaus dynamisch, allerdings <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 12 12 Aggregat, soziales führe die strukturelle Ungleichheit zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern sowie zwischen den kleinen entwickelten Bereichen der unterentwickelten Länder und dem überwiegenden unterentwickelten Teil (strukturelle Heterogenität) zu einem peripheren Kapitalismus (Galtung 1972). Dieser sei nur durch strukturelle Änderungen des ökonomischen Weltsystems unter sozialistischem Vorzeichen oder durch eine zeitweise Abkopplung (Dissoziation) vom kapitalistischen Weltsystem zu überwinden (Amin 1975). Diese theorielastige Argumentation konnte jedoch weder steigende Rohstoffpreise in den 1970er Jahren noch die wirtschaftliche Entwicklung einiger weltmarktorientierter Schwellenländer (u. a. Brasilien, Mexiko, Süd-Korea, Taiwan) erklären. Cardoso und Faletto (1976) argumentierten weniger ideologisch und betrachteten unterschiedliche Verläufe ausbleibender Entwicklung in Lateinamerika, wobei endogene und exogene Faktoren berücksichtigt wurden. Diese stärker empirisch begründeten Ansätze waren eher in der Lage, die veränderten Bedingungen in der Weltwirtschaft der 1970er Jahre zu erfassen. Trotz aller Unterschiede blieb der Analysefokus auf die als ungerecht empfundenen weltwirtschaftlichen Strukturen gerichtet. Spätere konsequent empirisch ausgerichtete Arbeiten von Menzel und Senghaas (1986) überwanden das dichotome Denken zwischen Erster und Dritter Welt. Sie entwickelten typische Muster von Entwicklung und Unterentwicklung, die durch das Zusammenspiel spezifischer historischer Bedingungen, Weltmarktkonstellationen und gezielter Wirtschaftspolitiken in Bezug auf selektive An- und Abkopplung an den Weltmarkt geprägt sind. Die Autoren distanzierten sich damit von zentralen Argumenten der Abhängigkeitstheorien und plädierten für empiriegeleitete Analysen von Entwicklungsprozessen, die seither anstelle »Großer Theorien« diskutiert werden. Die wichtige Erkenntnis, dass Entwicklung wesentlich durch globale Prozesse mitbestimmt wird, ist heute eine bedeutsame Grundlage der Globalisierungsdebatte. Insbesondere globalisierungskritische soziale Bewegungen (z. B. Attac) beziehen sich auf die Abhängigkeitstheorien und greifen beispielsweise die empirisch wenig fundierten Argumente der »Entwicklung der Unterentwicklung« auf. Literatur Amin, Samir, 1975: Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus, Hamburg.- - Boeckh, Andreas, 1982: Abhängigkeit, Unterentwicklung und Entwicklung. Zum Erklärungswert der Dependencia-Ansätze; in: Nohlen, Dieter; Nuscheler, Franz (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1 Unterentwicklung, Hamburg, 133-151.-- Cardoso, Fernando H.; Faletto, Enzo, 1976: Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M.- - Frank, André G, 1968: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M.- - Galtung, Johan, 1972: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus; in: Senghaas, Dieter (Hg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt, Frankfurt a. M., 29- 104.- - Lerner, Daniel, 1971: Die Modernisierung des Lebensstils: eine Theorie; in: Zapf, Wolfgang (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln/ Berlin, 362-381.-- Menzel, Ulrich, 2010: Teil I Entwicklungstheorie; in: Stockmann, Reinhard et al. (Hg.): Entwicklungspolitik. Theorien- - Probleme- - Strategien, München, 11-159.- - Menzel, Ulrich; Senghaas, Dieter, 1986: Europas Entwicklung und die Dritte Welt, Frankfurt a. M.-- Prebisch, Raúl, 1968: Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer, Berlin.-- Rostow, Walt W., 1960: Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen.-- Wallerstein, Immanuel, 1982: Aufstieg und künftiger Niedergang des kapitalistischen Weltsystems. Zur Grundlegeung vergleichender Analyse. In: Senghaas, Dieter (Hg.), Kapitalistische Weltökonomie, Frankfurt, 31-66. Dieter Neubert Aggregat, soziales Ein Aggregat (engl. social aggregate) bezeichnet (ähnlich den Begriffen Masse und Menge) eine Ansammlung von Personen, die sich in räumlicher Nähe befinden, zwischen denen jedoch Kommunikation und Interaktion nicht oder nur sporadisch stattfindet. Im Gegensatz zur »Kategorie« bezeichnet Aggregat eine reale, physisch abgrenzbare soziale Einheit. Aggregate weisen nach Fichter einen geringen Strukturierungsbzw. Organisationsgrad sowie zumeist einen territorialen und vorübergehenden Charakter auf (vgl. auch Esser 2000, Kap. 2). Die Personen, die ein Aggregat bilden, bleiben relativ anonym, haben (auch bei physischer Nähe) nur beschränkten sozialen Kontakt und zeigen in ihrem Verhalten nur geringe Modifikationen gegenüber ihrem Verhalten außerhalb des Aggregats (Fichter 1970, 57/ 58). Ordnet man Begriffe, die zur Charakterisierung einer sozialen Einheit dienen, nach dem <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 12 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 13 13 Aggression zunehmenden Grad von Organisiertheit, Interaktion und physischer Präsenz der Mitglieder, so entsteht die folgende Reihe: Kategorie (z. B. Gesamtheit aller Fußballfans unter 30 Jahren), Aggregat (Menge der Zuschauer eines Spiels), Kollektiv (Fußballverein), Gruppe (Fußballmannschaft). Literatur Esser, Hartmut, 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaften, Frankfurt a. M. u. a.-- Fichter, Joseph H., 1970: Grundbegriffe der Soziologie, 3. Aufl., Wien/ New York. Gerhard Berger Aggression Aggression (engl. aggression) umfasst eine individuelle oder kollektive Haltung, Einstellung (Feindseligkeit) oder Emotion (Ärger), resp. Verhalten gegenüber Menschen, Tieren, Dingen oder Einrichtungen, mit dem Ziel, sie zu beherrschen, zu schädigen oder gar zu vernichten (Schädigungsabsicht). Damit ist diese Definition von Vorstellungen abzugrenzen, die unter Aggression jede gerichtete, offensive Aktivität oder »Energie« verstehen. Aggressives Verhalten meint die Umsetzung der genannten Ziele; der Begriff Aggressivität bezeichnet die überdauernde Disposition zu aggressivem Verhalten. Entlang mehrerer Dichotomien werden verschiedene Ausprägungen aggressiven Verhaltens differenziert: z. B. feindselig vs. instrumentell, reaktiv vs. aktiv, offen vs. verdeckt, affektiv vs. räuberisch; zudem werden verbale, physische und indirekte/ relationale (auf Beziehungsebene) Formen unterschieden. Aggression kann auf individueller, interpersonaler und intergruppaler Ebene beobachtet werden und wird meistens gesellschaftlich als Normenverstoß betrachtet und negativ bewertet. Andererseits kann Aggression im Sinne von Durchsetzungsverhalten auch positiv konnotiert sein. Entscheidend ist dabei die kulturelle, zeitliche und situative Einbettung des Verhaltens. Aggressives Verhalten weist zudem einen Überschneidungsbereich zu Gewalt auf. Ansätze der Aggressionsforschung In der Aggressionsforschung lassen sich vielfältige Theorien finden, die auf unterschiedlichen Ebenen menschlichen Verhaltens und Erlebens Erklärungsmodelle anbieten. Letztlich ist Aggression nur multifaktoriell verstehbar, weshalb besonders integrative Ansätze, wie z. B. das integrative Prozess-Modell (Anderson) zu bevorzugen sind. Bei weitem nicht jede Aggression hat überwiegend psychologische oder psychopathologische Hintergründe. Nach evolutionsbiologischer Sicht wird Aggression als eine Form des Konkurrenzverhaltens um fitnessbegrenzende Ressourcen und Arterhaltung verstanden. Triebtheorien und die Ethologie sehen Aggression als biologisch determinierten/ angeborenen Instinkt/ Trieb. Aus tiefenpsychologischer Sicht ist Aggression als Ableitung/ Freisetzung negativer Energien und Versuch der Bewältigung von Angst, Unsicherheit und Enttäuschung zu verstehen. Die Frustrations- Aggressions-Theorie sieht Aggression als Folge von Frustration (Nicht-Erreichung von Zielen, Bedürfnisbefriedigung), während die lerntheoretische Sicht meint, aggressives Verhalten werde aufgrund der Vorbildfunktion aggressiver Menschen, die man beobachtet, erlernt (Lernen am Modell) und durch Verstärkung (Konditionierung) aufrechterhalten. Nach der Kognitiven Neoassoziationstheorie führen gewaltvolle Hinweisreize (z. B. Waffen, Provokationen) zu Aggression, indem sie aggressionsthematische semantische Inhalte aktivieren, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Die Sozial-Kognitive Informationsverarbeitungstheorie geht davon aus, dass Verzerrungen in der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung zur Interpretation von Signalen als feindselig und zu aggressiven Reaktionen führen. Soziologische Perspektiven Nach soziologischer Auffassung wird aggressives Verhalten nicht als Qualität der Handlung, sondern als Konsequenz der Existenz von Regeln und Normen verstanden, die im Prozess der Zivilisation zu einer zunehmenden Ächtung und Formung unkontrollierter Aggression geführt haben. Die Entstehung, Ausübung oder Stabilisierung aggressiven Verhaltens wird durch Bedingungen im sozialen und gesellschaftlichen Umfeld bestimmt, wobei Macht, Einfluss und Besitzverhältnisse eine bedeutsame Rolle spielen. Die Einstufung eines Verhaltens bzw. <?page no="13"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 14 14 Aktionsforschung einer Handlung als »aggressiv« hängt sowohl von der Existenz von Regeln ab, deren Verletzung »abweichendes Verhalten« darstellt, als auch von der Definition und Anwendung der Regeln durch andere, weshalb die klassischen Devianztheorien Anwendung finden: Nach der Anomietheorie entsteht Aggression durch die Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und dem Zugang bestimmter sozialer Schichten zu den dazu notwendigen Mitteln. Die Subkulturtheorie erklärt Aggression durch Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Teilkulturen (Subkulturen), die einen Teil der gesellschaftlichen Normen, Werte und Symbole ablehnen. Der Labeling approach versteht Aggression als Resultat von Zuschreibungs- und Etikettierungsprozessen im Verlauf interpersonaler Interaktion. Neuere Ansätze (z. B. Individualisierungsansatz, Sozialisationsansatz) sehen aggressives Verhalten als eine Form der Verarbeitung von Verunsicherung und Desintegration in Folge von Individualisierungs- und Modernisierungsprozessen bzw. als Ausdruck mangelnder sozialer Kompetenz und nicht gelungener Anpassung an Lebensanforderungen. Zur Erklärung intergruppaler Aggression existieren ebenfalls mehrere Theorien: Die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts (Sherif ) geht davon aus, dass Aggression gegen Fremdgruppenmitglieder entsteht, wenn sich eine Gruppe in einem Zielkonflikt mit einer anderen befindet und ihre Interessen gefährdet sind. Die Theorie der Sozialen Identität (Tajfel/ Turner) meint, dass Konfrontationen mit Fremdgruppen gesucht werden, um ein positives Bild der Eigengruppe und eine soziale Identität zu entwickeln. Nach der Theorie der relativen Deprivation entsteht Intergruppenaggression, wenn die Gruppenmitglieder glauben, dass ihre Gruppe benachteiligt ist. Neuere Untersuchungen (Meier et al.) können zeigen, dass Individuen in Gruppen aggressiver sind, da die Entstehung feindlicher Gesinnungen, negativer Gefühle und Enthemmung in Gruppen wahrscheinlicher ist. Literatur Anderson, Craig A.; Huesmann, L. Rowell, 2003: Human aggression: A social-cognitive view; in: Hogg, Michael A.; Cooper, Joel (Eds.): Handbook of Social Psychology, London.-- Baron, Robert A.; Richardson, Deborah R., 1994: Human aggression, 2nd ed., New York.- - Berkowitz, Leonard, 1993: Aggression. Its causes, consequences, and control, New York.- - Bierhoff, Hans-Werner; Wagner, Ulrich, 1998: Aggression-- Definition, Theorie und Themen; in: Dies. (Hg.): Aggression und Gewalt: Phänomene, Ursachen und Interventionen, Stuttgart, 2-25.- - Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus, 1994: Gewalt macht Schule, München.-- Heitmeyer, Wilhelm; Hagan, John, 2002: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Opladen.-- Selg, Herbert et al., 1997: Psychologie der Aggressivität, 2. Aufl., Göttingen. Vincenz Leuschner/ Herbert Scheithauer Aktionsforschung Aktionsforschung (engl. action research), auch Handlungsforschung genannt, ist eine Art Begleitforschung zu eigenem Praxishandeln oder, in einer Selbstdarstellung, »eine Forschungsstrategie, durch die ein Forscher oder ein Forschungsteam in einem sozialen Beziehungsgefüge in Kooperation mit den betroffenen Personen aufgrund einer ersten Analyse Veränderungsprozesse in Gang setzt, beschreibt, kontrolliert und auf ihre Effektivität zur Lösung eines Problems beurteilt. Produkt des Forschungsprozesses ist eine konkrete Veränderung in einem sozialen Beziehungsgefüge, die eine möglichst optimale Lösung des Problems für die Betroffenen bedeutet« (Pieper in Haag et al., 100/ 101). Produkt ist also nicht - wie nach der klassischen Wissenschaftstheorie - eine Erhärtung oder Widerlegung einer Hypothese, sondern Gestaltung der Wirklichkeit und eine daraus abgeleitete Beurteilung der Wirksamkeit verschiedener Wandelstrategien. Der von Kurt Lewin im Rahmen von sozialpsychologischen und -pädagogischen Konflikttherapien entwickelte Begriff wurde in die Soziologie übernommen und sollte insbesondere in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh.s ein Versuch zur Verbindung von Wissenschaft und Praxis sein. Der klassischen Wissenschaftstheorie wurde vorgeworfen, ihre Prinzipien von Objektivität und Neutralität führten zur Zementierung der gegenwärtigen Zustände. Demgegenüber müssten Wissenschaftler emanzipatorisch und politisch im Sinne von Beseitigung von Ungerechtigkeit und Naturwidrigkeit wirken; Wissenschaft und soziales Engagement müssten also verbunden werden. Wichtige Versuchsgebiete waren u. a. frühkindliche Sozialisation, Gastarbeiterintegration, Stadtteilsanierung, Straffälligensozialisation, Organisationswandel und viele Bereiche der Entwicklungshilfe. Entscheidendes Kriterium war nicht nur die Beteiligung der Wissenschaftler sowohl als Forscher als <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 14 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 15 15 Alltagswissen auch als Praxisveränderer, sondern auch die Einbeziehung der von der Veränderung Betroffenen in alle Phasen von der Planung bis zur Ergebnisfeststellung und -beurteilung. Forschungs- und Praxiszeiten lösten einander in prinzipiell unbegrenzter Zahl ab, gingen aber oft, besonders bei Alternativversuchen, nebeneinanderher und ineinander über. Damit war nur eine rudimentäre Evaluation möglich, aber keine hypothesenprüfende Forschung. Auch das Gebot der Wertfreiheit war nicht einzuhalten. Angesichts dieser Schwierigkeit ist sie immer mehr in Vergessenheit geraten. Literatur Haag, Fritz et al. (Hg.), 1972: Aktionsforschung, München.-- Friedrichs, Jürgen, 1990: Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Aufl., Wiesbaden, 370-375.- - Burns, Danny, 2007: Systematic Action Research, Bristol. Günter Endruweit Akzeptanz und Sozialverträglichkeit Akzeptanz (engl. acceptance) ist die Eigenschaft einer Innovation, bei ihrer Einführung positive Reaktionen der davon Betroffenen zu erreichen. Sozialverträglichkeit (engl. social compatibility) ist die Eigenschaft einer Innovation, sich funktional in eine bestehende Sozialstruktur einpflanzen zu lassen (evolutionärer Wandel) oder eine gegebene Sozialstruktur so verändern zu können, dass sie funktional in die neue Sozialstruktur passt (revolutionärer Wandel). Dabei ist »Innovation« nicht nur auf technische Änderungen (Lucke/ Hasse, 17), aber auch nicht nur auf Meinungen, Entscheidungen u. Ä. bezogen zu sehen, sondern als jede Neuheit gegenüber dem Bestehenden. Der methodologische Grundunterschied liegt im subjektiven Ansatz bei der Akzeptanz und im objektiven Ansatz bei der Sozialverträglichkeit (Endruweit, 204-210). In der Forschung ist Akzeptanz, durch Befragung oder Beobachtung ermittelt, ein einfacher, aber hinreichender Indikator dafür, dass eine Innovation nicht nur legal, sondern auch legitim ist. Die empirischen Ergebnisse zeigen große Unterschiede nach Objektbereich und persönlichen Daten der Befragten; selbst die Gesamttendenz in einem so oft beforschten Bereich wie der Technikakzeptanz ist nicht unstreitig (Renn/ Zwick, 21). Akzeptanz und Sozialverträglichkeit sind vor allem bei Großprojekten technischer (z. B. Bau von Windkraftanlagen) und politischer (z. B. Reform der Schulorganisation) Art von großer Bedeutung. Das Fehlen von Akzeptanz oder das (auch nur vermeintliche oder angebliche) Fehlen von Sozialverträglichkeit sind häufig Anlass für soziale Bewegungen des Protestes oder Widerstandes. Literatur Endruweit, Günter, 1997: Sozialverträglichkeits- und Akzeptanzforschung als methodologisches Problem; in: ders.: Beiträge zur Soziologie, Bd. I, Kiel, 202-218.-- Lucke, Doris; Hasse, Michael (Hg.), 1998: Annahme verweigert. Beiträge zur soziologischen Akzeptanzforschung, Opladen.-- Renn, Ortwin; Zwick, Michael M., 1997: Risiko- und Technikakzeptanz, Berlin. Günter Endruweit Alltagswissen Unter Alltagswissen (engl. knowledge of everyday life) wird seit Alfred Schütz der Wissensbestand verstanden, der der Lebenswelt des Alltags zuzurechnen ist. Der Alltag ist das Subuniversum der Lebenswelt, in dem wir handelnd und verändernd in die Welt eingreifen können. Anders als im Fall aller anderen subjektiven Erfahrungswirklichkeiten, die sich in unserem Bewusstsein konstituieren - sei es Traum, theoretische Einstellung oder religiöse Erfahrung -, teilen wir den Alltag mit anderen. Wir treten mit ihnen in Interaktion und bringen die Alltagswelt gemeinsam hervor. Die Alltagswelt ist insofern unser grundlegender Erfahrungsraum, als er uns als fraglos gegeben erscheint, alle anderen Welten in ihn hineinreichen und wir aus dem Alltag heraus in diese anderen Welten eintreten. Alltagswissen und Alltagshandeln sind untrennbar miteinander verbunden, da sich der Wissenserwerb im Handeln vollzieht und Handeln ohne Wissen nicht möglich ist. Der Alltagsmensch tritt der Welt in aller Regel in einer bestimmten Einstellung gegenüber: Als Handelnder, der in die Welt eingreift, um so die sich aufdrängenden Probleme seiner Existenz einer Lösung zuzuführen. Die auf diese Weise gekennzeichnete Welt des Alltags wird mithin beherrscht von einem ›pragmatischen Motiv‹. Als kategorialer Bewww.claudia-wild.de: <?page no="15"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 16 16 Alterssoziologie griff meint Alltagswissen damit den Bestand an Lösungen für eben diese Probleme, die mit seiner Hilfe ›problemlos‹ bewältigt werden können und sich deshalb im Alltag nicht als Probleme darstellen. Alltagswissen steht damit symbolischem Wissen gegenüber, das die Erfahrung transzendenter, nicht unmittelbar erfahrbarer Wirklichkeiten ermöglicht. Andererseits dient symbolisches Wissen der Legitimation von Alltagswelten und gibt ihnen ihr je spezifisches symbolisch-pragmatisches Gepräge - den sozialen Feldern der Politik und der Ökonomie genauso wie der Familie oder der Nachbarschaft. Da Wissen einerseits ein gesellschaftliches Produkt ist, andererseits aber auch subjektiv erworben und verwendet wird, kann zwischen subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat unterschieden werden. Der subjektive Wissensvorrat besteht zum großen Teil aus Routinewissen, das uns selbstverständlich erscheint und wiederum in Fertigkeiten, Gebrauchswissen und Rezeptwissen unterteilt werden kann, zum anderen aus explizitem Wissen, das in unterschiedlichem Maße vertraut, bestimmt und glaubwürdig ist. Der gesellschaftliche Wissensvorrat besteht aus Allgemeinwissen, das für jeden relevant ist und aus Sonderwissen, das nur von bestimmten Rollenträgern in bestimmten Situationen zum Einsatz gebracht wird. In empirisch-historischer Hinsicht verweist der Alltagsbegriff auf eine Vielzahl nebeneinander existierender sozialer Welten, an denen wir teilhaben und auf eine Fülle alltäglicher Situationen mit ihren je spezifischen alltäglichen Wissensbeständen und Handlungsmustern. Die Widersprüche zwischen den jeweiligen Wissensbeständen sind solange irrelevant, wie die Handlungsfelder voneinander separiert bleiben. Brüchig und fragwürdig wird Alltagswissen, wo es sich nicht bewährt. Die Verbreitung von Expertenwissen, die Verwissenschaftlichung der Alltagssprache und die gesellschaftliche Dauerkommunikation verweisen darauf, dass mit Technologisierung, der Zunahme von Risikolagen und gesellschaftlicher Pluralisierung der Bestand an selbstverständlichem Alltagswissen geringer wird. Literatur Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas, 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.- - Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas, 2003: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz (1975/ 1984).- - Soeffner, Hans-Georg, 2004: Auslegung des Alltags- - Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, 2. Aufl., Konstanz. Dariuš Zifonun Alterssoziologie Begriff Die Alterssoziologie (engl. sociology of aging), oftmals auch als Alternssoziologie, Soziologie des Alterns oder als Gerobzw. Gerontosoziologie bezeichnet, ist eine spezielle Soziologie, die mit den Instrumenten der allgemeinen Soziologie (Begriffe, Theorien, Methoden) ihren spezifischen Untersuchungsgegenstand - das Alter und Altern von Individuen und sozialen Gruppen - untersucht. Damit befasst sich die Alterssoziologie sowohl mit der Strukturkategorie Alter (als Status von Individuen oder sozialen Gruppen) als auch mit der Prozesskategorie Altern (als strukturell beeinflusste individuelle oder kollektive Prozesse, Verläufe, Sequenzen, Übergänge oder Veränderungen in Lebenslauf und Gesellschaft). Ihr Forschungsgegenstand sind die Einflüsse des Alters bzw. Alterns auf Gesellschaft und Kultur wie auch umgekehrt die Einflüsse von Gesellschaft und Kultur auf das Alter bzw. auf den Alterungsprozess. Dabei geht es sowohl um die Analyse der Gesellschaft als Bedingung von Opportunitätsstrukturen, Handlungsdispositionen, Lebenslagen, Handlungspotentialen usw. als auch um die Veränderungen der Gesellschaft und ihrer sozialen Institutionen als Resultat z. B. veränderter Lebenslagen und Handlungsbedingungen. Die Alterssoziologie ist gleichermaßen als spezielle Soziologie oder als Bindestrich-Soziologie in der allgemeinen Soziologie sowie als Teildisziplin in der interbzw. multidisziplinären Sozialen Gerontologie bzw. Sozialgerontologie verankert. Gerontologie ist keine Disziplin oder Fachwissenschaft im engeren Sinne, weil sie sich kaum auf gemeinsame Orientierungen, Paradigmen, theoretische Programme, erkenntnistheoretische und methodologische Grundlagen bezieht. Sie ist vielmehr als Versuch der gegenstandsbezogenen interdisziplinären Kooperation verschiedener Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften zu verstehen, die sich mit der Deskription, Analyse und Modifikation von physiologischen, <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 16 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 17 17 Alterssoziologie psychischen, sozialen und kulturellen Aspekten von Alter und Altern beschäftigen. Dabei können im Idealfall einzelwissenschaftliche Engführungen vermieden und transdisziplinäre Perspektiven entwickelt werden. Alter und Altern Das Alter im allgemeinen Sinne bezeichnet gemeinhin a) einen Zeitraum oder ein Zeitalter, z. B. die seit der Geburt bzw. Entstehung eines Lebewesens, einer Institution oder eines Gegenstandes verstrichene Zeitdauer (z. B. Lebenszeit), i. d. R. abgelesen an einem Kalender als Maßstab. Alter bezeichnet b) auch Lebensabschnitte oder Altersphasen als temporäre und transitive Abschnitte im individuellen Lebensverlauf (z. B. das hohe Alter), die c) von den Altersgruppen oder Altersschichten als klar abgrenzbare, sozial anerkannte und in unterschiedlichem Ausmaß intern organisierte soziale Gruppen zu unterscheiden sind. Alter und Altern sind keine natürlichen, quasi präkulturellen Erscheinungen, sondern auf unterschiedlichen Ebenen sozial konstruierte Kategorien (Reifikationen), die dann als faktisch vorhandene äußerliche Phänomene (Objektivationen) aufgefasst werden. In der Alterssoziologie wird das Alter als Status und soziales Strukturierungsprinzip bzw. gesellschaftliches Ordnungsmuster verstanden, durch welches zugleich Zugang und Ausschluss von sozialen Teilnahmechancen geregelt und soziale Beziehungen hergestellt oder unterbunden werden (Prahl, Schroeter 1996: 277). Das Altern drückt den dynamischen Aspekt des individuellen und kollektiven Altwerdens aus und bezieht sich auf das Durchschreiten von sozial bewerteten und an soziale Rollen gebundenen Altersstufen oder Lebensphasen. Es bezieht sich auf eine Sequenz von Ereignissen im individuellen Lebensverlauf, wobei einige dieser Ereignisse direkt mit dem chronologischen Alter verbunden sein können (z. B. wurden Altersgrenzen bzw. -spielräume für Schuleintritt oder Pensionierung festgelegt), während andere Ereignisse (z. B. Eheschließung, -scheidung) weniger durch formalrechtliche Vorgaben, sondern eher aus der sozialen Struktur und damit korrespondierenden Normen oder durch sozio-kulturelle Zugehörigkeiten geregelt sind. Auch psychische und physiologische Veränderungsprozesse (z. B. korporale Vulnerabilitäten wie Krankheit oder Pflegebedürftigkeit), die mit dem kalendarischen Alter korreliert sind, werden als Indikatoren von Alter und Altern verwendet. Alter und Altern sind also keine eindeutig definierten Begriffe, sondern je nach (disziplinärer) Perspektive unterschiedlich akzentuierte und semantisch verschieden gefasste, idealtypische soziale Konstruktionen. Das biologische Alter oder physiologische Alter bezeichnet z. B. den körperlichen Zustand des Menschen aufgrund biologischer Vorgänge von Wachstum, Reife, Abbau und Verfall. Diese »biologischen Grundbefindlichkeiten« (Schelsky [1959] 1965: 199) sind jedoch keine sozialen Realitäten sui generis, sondern stets einem sozialen Wandel unterworfen, wobei sich das je biologisch Vorgegebene und das gesellschaftlich Konstruierte im Erkenntnisprozess nicht vollständig voneinander trennen lassen. Als Maßstab wird zumeist das kalendarische oder chronologische Alter - die seit der Geburt vergangene (oder im Falle des prospektiven Alters die noch verbleibende) - Kalenderzeit verwendet, welche diese Prozesse zwar nicht misst - Uhren und Kalender sind an Erdrotation und Planetenkonstellationen ausgerichtet -, aber zumindest eine gewisse (wenn auch mit zunehmendem Alter abnehmende) statistische Korrelation aufweist. Mit der Verwendung des Kalenders als Messinstrument sind aber auch weitere (möglicherweise problematische) Annahmen wie gleichmäßig voranschreitende und irreversible Entwicklung verbunden. Eine Alternative ist das funktionale Alter - eine soziale Kategorisierung, die auf Einschränkungen bzw. Kompetenzen im Vergleich zu Durchschnittswerten abhebt. Mehrfach wurde auch versucht, die Altersphase im Lebenslauf im Sinne des funktionalen Alters in weitere Abschnitte zu untergliedern, also z. B. ein viertes oder fünftes Alter abzugrenzen. Während die Dreiteilung des Lebenslaufs aber durch relativ konkrete Altersgrenzen gesellschaftlich geregelt ist - die Schulpflicht auf der einen, und zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung das Rentenzugangsalter auf der anderen Seite -, wäre der Rekurs auf ein kalendarisches Alter hier ausgesprochen unpräzise und potentiell diskriminierend: Auch diese Prozesse sind mit der Kalenderzeit mehr oder weniger stark (und im Zeitverlauf abnehmend) statistisch korreliert, aber nicht selbst von Erdrotation oder Planetenkonstellationen abhängig. Letztlich handelt es sich auch hier um Varianten eines sozialen Alters, also gesellschaftlich zugeschriebene Größen. <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 18 18 Alterssoziologie Offensichtlicher ist dies beim administrativen Alter (gelegentlich auch als bürokratisches oder formales Alter bezeichnet) als Kategorisierung von Altersgruppen für Statistik, Verwaltung usw., bzw. dem rechtlichen Alter als Kennzeichnung für kulturell festgelegte Pflichten und Rechte (z. B. Geschäftsfähigkeit, Volljährigkeit). Hier ist die Bezugnahme auf das kalendarische Alter konstitutiv, was möglicherweise wiederum zur Selbstverständlichkeit beigetragen haben könnte, mit der der Kalender als Messinstrument für Prozesse menschlichen Alterns heute herangezogen wird. Konzepte psychologischen Alters schließlich beziehen sich u. a. auf kognitive Leistungsfähigkeit und Intelligenz (Denkfähigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Wortflüssigkeit, Wissen) sowie Alltagskompetenz, Weisheit und Erfahrung (Einsicht, Klugheit, Fakten-, Kontext-, Relativitäts-, Strategiewissen) und drücken die psychische bzw. kognitive Verfassung eines Menschen aus. Durch die breite Verwendung des kalendarischen Alters ist es möglich, dass kalendarisch gleichaltrige Personen oder Gruppen auf den verschiedenen genannten Konstruktionen oder in unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedliche Werte aufweisen können. Kalendarisch gleichaltrige Personen können z. B. durchaus biologisch mehr oder weniger »gealtert« sein - besonders drastisch macht dies das Hutchinson-Gilford-Syndrom (Progerie) deutlich. Sie können auch unterschiedlich »weise«, und in verschiedenen sozialen Kontexten sogar gleichzeitig unterschiedlich »alt« sein - man denke etwa an einen Fußballspieler, der in diesem Zusammenhang mit z. B. 30 Jahren schon zu den »Alten« zählt, während er in anderen sozialen Kontexten durchaus noch zu den »Jungen« zählen dürfte. Analoges gilt z. B. für Fußballmannschaften, Betriebe, Branchen oder Nationen. Eines der zentralen wissenschaftlichen Arbeitsgebiete der Alterssoziologie ist die empirische Beschreibung und theoretische Erklärung solcher Regelmäßigkeiten (wie auch der jeweiligen Abweichungen). Entwicklung Die Geschichte der soziologischen Alternsforschung geht zurück bis ins 19. Jh., als die ersten Sterbestatistiken erstellt wurden, doch erst im 20. Jh. wurden vermehrt empirische Studien über das Alter durchgeführt. Ein Markstein war das von Cowdry vorgelegte Werk über »Problems of Aging« (1939). In dieser Zeit wurden zunächst vor allem in den USA, später dann auch in anderen Ländern, verschiedene Netzwerke der Alternsforschung ins Leben gerufen. So entstanden die Deutsche Gesellschaft für Altersforschung (1938), die American Society of Geriatrics (ASG, 1942), die Gerontological Society (heute Gerontological Society of America, GSA, 1945) sowie im deutschsprachigen Raum die Schweizerische (SGG, 1953), Österreichische (ÖGG, 1955) und Deutsche Gesellschaft für Gerontologie (heute Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, DGGG, 1967). Innerhalb der soziologischen Fachverbände ist die Alterssoziologie u. a. in der International Sociological Association (ISA), in der European Sociological Association (ESA) sowie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) institutionell etabliert. Das Thema Alter wurde in der Soziologie bzw. der Thematisierung von Gesellschaft wohl schon immer, wenn auch eher am Rande thematisiert. Das Alter spielte etwa eine wichtige Rolle im Falle der Gerontokratie oder in Altersklassengesellschaften. Die Alterssoziologie als eigenständige Bindestrich- Soziologie entwickelte sich in Deutschland aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere seit Ende der 1950er Jahre wurde das Thema verstärkt prominent aufgegriffen (u. a. von R. König und H. Schelsky), sehr bald schon folgten eigene Abhandlungen (z. B. F.X. Kaufmann und R. Tartler 1961) und Übersichten zur Alterssoziologie insgesamt (H. P. Tews 1971). Auch größere empirische Untersuchungen folgten schnell - zunächst speziell zu einzelnen Bereichen wie z. B. der Aktivität im Alter (K. W. Boetticher 1975), ebenso breiter angelegte Darstellungen zu jeweils in der soziologischen Diskussion aktuellen Teilbereichen. Im Vergleich etwa zu den Themenbereichen Jugend und Familie wurde aber erst relativ spät mit dem Alters-Survey 1996 eine bundesweit repräsentativ angelegte Sozialberichterstattung zu Altersfragen begonnen (Kohli/ Künemund 2000). Soziologische Theorien des Alters Die Alterssoziologie ist zwar in weiten Teilen empirisch ausgerichtet, dennoch stand sie von Anbeginn immer auch unter einem theoretischen Fokus. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden zunächst in den USA unter den damals herrschenden Paradigwww.claudia-wild.de: <?page no="18"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 18 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 19 19 Alterssoziologie men von Funktionalismus und Rollentheorie verschiedene Studien zur sozialen Anpassung (social adjustment) im Alter durchgeführt (Pollak 1948; Cavan et al. 1949). Die Frage nach der Bewältigung des Übergangs in den Ruhestand erfolgte vor dem Hintergrund rollentheoretischer Ansätze, wobei der Ruhestand als eine »eigentümlich funktionslose Situation« (Parsons [1942] 1968: 82) wahrgenommen wurde. Dabei wurde der Rollenverlust im Alter als eine fortlaufende Schwächung der individuellen Position in der Gesellschaft gesehen (Rosow 1974: 117 ff.). Das ebenfalls bereits früh in diesem Kontext formulierte Aktivitätskonzept (z. B. Havighurst/ Albrecht 1953) geht davon aus, dass Menschen im Alter zufrieden sind, wenn sie sich als gebraucht und nützlich empfinden und folglich danach streben, die sozial bedingten Ausgliederungsprozesse aus sozial relevanten Funktionszusammenhängen und die damit verbundenen Rollen- und Statusverluste durch erweiterte Handlungsräume in anderen Rollen zu kompensieren. Die auf der strukturfunktionalen Theoriebildung fußende Disengagementtheorie (Cumming/ Henry 1961) sieht das Altern dagegen als einen, durch verminderte Interaktionen bedingten, unvermeidbaren sozialen Rückzug (Disengagement) älterer Menschen aus ihrem Sozialsystem, in dem eine gesellschaftlich notwendige, aber gleichsam entlastende und befreiende Entwicklung gesehen wird. Gesellschaftlich notwendig sei dieser Rückzug, damit die nachwachsenden Generationen die beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Positionen besetzen könnten. Individuell entlastend sei er, weil die Beschränkung auf die eigene Privatsphäre gesellschaftliche Enttäuschungen, Ablehnungen und Missachtungen vermeiden könne. Damit würde ein Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Interessen und den individuellen Rückzugsmotiven gewahrt. Die ebenfalls strukturfunktional gerahmte Modernisierungstheorie (u. a. Cowgill/ Holmes 1972) geht von einer relativen Verminderung des sozialen Status der Alten in der modernen im Vergleich zur traditionalen Gesellschaft aus. Als kritische Entgegnung auf die strukturfunktionalen Modelle wurde in den 1960er Jahren die Subkulturtheorie auch auf das Alter angewandt (Rose 1962). Demnach könnten ältere Menschen auf der Grundlage gemeinsamer Vorteile, Probleme oder lang andauernder Freundschaften eine positive Affinität zueinander entwickeln, zum anderen könnten sie aber auch aus der Interaktion mit anderen Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen sein. Die zunehmende Interaktion der Älteren untereinander bei gleichzeitiger Kontakteinschränkung zu anderen Generationen führe zu einem Altersgruppenbewusstsein und zu einer Altersgruppenidentität der Älteren. Das zeige sich z. B. an der Bereitschaft zum alterssegregierten Wohnen in den »Retirement Communities« sowie an der zunehmenden Partizipation an Altersorganisationen (z. B. »Golden Age Club«, »Senior Citizens Club«). Auch der Etikettierungsansatz (Labeling approach) ist in die Alterssoziologie überführt worden (Hohmeier 1978). Dabei wird argumentiert, dass die auf das Alter und Altsein bezogenen Definitionsprozesse als Stigmatisierungen gefasst werden können, weil sie a) zumeist monokausal in biologischen Veränderungen gesucht werden, b) auf Grund der Unvereinbarkeit mit den zentralen gesellschaftlichen Werten fast immer negativ ausfallen und weil sie c) für die subjektive und objektive Situation älterer Menschen zumeist negative Konsequenzen haben, wenn den Betroffenen über das attestierte Stigma (z. B. altersbezogene körperliche Einschränkungen) hinaus weitere negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Alter wird damit zu einem »master status« (Hohmeier 1978: 13), der die gesamte Identität eines Menschen festlegt. Das Hauptaugenmerk des Kontinuitätsansatzes (Atchley 1983) liegt dagegen auf der Entwicklung und Erhaltung der sozialen Anpassungsfähigkeit im späten Erwachsenenalter. Demnach versuchen Menschen mittleren und höheren Alters, innere psychische Muster und Dispositionen (z. B. Temperament, Gefühle, Präferenzen, Einstellungen, Wertvorstellungen, Überzeugungen) und äußere Strukturen (z. B. soziale Beziehungen und Handlungen, soziale Umwelten) zu bewahren. Aus der Perspektive der Tauschtheorie (Dowd 1975) werden mit fortschreitendem Alter die Machtressourcen der Akteure vermindert und ältere Menschen dadurch zunehmend unfähig, in ausgeglichene Austauschbeziehungen zu anderen Generationen zu treten. Der soziale Rückzug aus gesellschaftlich anerkannten Positionen ist das Tauschgut der Älteren. Als Gegenleistung erhalten sie materielle und soziale Sicherheit im Alter (u. a. Renten- und Pensionszahlung, Gesundheitsversorgung). <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 20 20 Alterssoziologie In dem Modell der Altersschichtung (Altersstratifikation) (Riley et al. 1972) wird das Alter in Analogie zur sozialen Klasse als eine Kategorie sozialer Ordnung gedacht. Doch während die Klassenschichtung im Wesentlichen nach ökonomischen und sozialen Kriterien vorgenommen wird, sei die Altersstratifikation bis zu einem gewissen Grade biologisch bedingt. Demnach sei jede Gesellschaft nach Schichten unterteilt, die sich aus der Aufeinanderfolge von Kohorten zusammensetzen (Kohortenfluss). Diese nach Zeit geordneten und grundsätzlich nicht umkehrbaren Altersschichten bilden eine geordnete Reihe entlang der Dimension von jünger nach älter und unterscheiden sich durch die den Menschen in den verschiedenen Entwicklungsstufen von der Gesellschaft zugeschriebenen sozialen Rollen, Rechte und Privilegien. In den 80er Jahren entstand mit der Lebens(ver)laufsperspektive ein neues Paradigma der Alternsforschung (Elder 1995). Der schon von Eisenstadt und Parsons formulierte Gedanke, dass der Mensch in seinen verschiedenen Sozialisationsphasen unterschiedlich strukturierte und zunehmend differenzierte Rollenbeziehungen durchläuft, fand seinen Niederschlag zunächst im strukturfunktionalen Altersnormensystem (Neugarten/ Datan 1973), später dann auch in dem Modell der Statusbiographie (Levy 1977). Dort wird der Lebenslauf als eine sozial geregelte Bewegung in der Sozialstruktur und als »eine mehr oder weniger stark institutionalisierte Sequenz von Status-Rollen-Konfigurationen umrissen und damit zum Vergesellschaftungsprogramm erklärt. Mit Fokus auf quantitative Methoden wird diese Perspektive in der Lebenslaufforschung fortgeführt, die ihr Augenmerk stärker auf die soziale Ungleichheit im Lebensverlauf richtet und die Altersstrukturen weniger als normierte Tatbestände, sondern vielmehr als »empirisch nachgeordnete Folgen« (Mayer 1996: 48) ansieht. Die lange Tradition der (qualitativen) Biographieforschung wurde in die Alterssoziologie integriert. In dem Modell der Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli 1985) werden beide Aspekte verbunden und die historisch beobachtbaren Veränderungen in den Lebensläufen in einen Zusammenhang mit dem Übergang zur Arbeitsgesellschaft gestellt. Als Pendant zur Individualisierung sei die Orientierung an Biographie und Lebenslauf an die Stelle stabiler Zugehörigkeiten getreten, wobei der Lebenslauf zu einem wichtigen sozialen Ordnungsprinzip wurde - eine soziale Institution, die gleichermaßen für die Organisation der Gesellschaft wie auch für die biographischen Perspektiven der Individuen zentral wurde. Parallel zu diesen Entwicklungen bildete der politisch-ökonomische Ansatz des Alters (u. a. Minkler/ Estes 1991) einen theoretischen Rahmen, um Altern in einen unmittelbaren gesellschaftlichen Bezug zu ökonomischen Strukturen und gesellschaftlichen Zwängen zu setzen. Er zielt vor allem auf eine Analyse der strukturellen Bestimmungsfaktoren von sozialer Ungleichheit im Alter. Das Altern wird im Wesentlichen in Beziehung zu Arbeit und Produktion gesetzt und unter den Aspekten der Dequalifizierung und des erzwungenen Ausschlusses aus dem Arbeitsprozess debattiert. Ein wichtiges Thema ist in diesem Kontext der Wohlfahrtsstaat (z. B. Myles 1984), der zwar auf die Linderung sozialer Ungleichheiten zielt, aber mit den Verteilungsprinzipien der sozialen Unterstützung, Versicherung und Steuerpolitik bestehende Klassen-, Alters- und Geschlechterstratifikationen verstärken und die Älteren in eine »strukturierte Abhängigkeit« drängen kann (Townsend 1981). Unter dem Label der Kritischen Gerontologie (z. B. Cole et al. 1993) hat sich ein Forschungsansatz entwickelt, der - z.T. in starker Affinität zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und zum Diskurs- und Disziplinierungsansatz von Foucault stehend (Green 1993; Katz 1996) - sich gegen die Vorstellung wendet, das Alter objektiv messen und durch den Erwerb eines solchen Wissens auch kontrollieren zu können. Die Kritische Gerontologie fordert ein im Zentrum der Alternstheorien und Lebenslaufentwicklung stehendes »emanzipatorisches Ideal« ein, das Altern als ein Fortschreiten in Richtung Freiheit (Autonomie, Weisheit, Transzendenz) jenseits von Beherrschung begreift (Moody 1988). Die Identitätstheorien von Mead und Goffman bilden die theoretische Grundlage der Mask-of- Ageing-Hypothese (Featherstone/ Hepworth 1991). Demnach kommt es mit zunehmendem Alter zu einer Diskrepanz zwischen der äußerlichen Erscheinung und dem inneren Selbst. Die sichtbare körperliche Hülle erscheint als nichts anderes als eine Maske, die das wirkliche Selbst nur verdeckt. Das individuelle Selbst wird quasi zum Gefangenen des alternden Körpers, der die wahre Identität nicht länger physisch zum Ausdruck bringen kann. Analog dazu geht das Ageless-Self-Konzept (Kaufman 1986) davon aus, dass mit zunehmendem Alter eine <?page no="20"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 20 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 21 21 Alterssoziologie wachsende Diskrepanz zwischen dem subjektiven Altersempfinden und dem chronologischen Alter einhergeht. Diese Konzepte wurden im Modell der Altersmaskerade reformuliert - als eine Strategie, um sich vor einer altersfeindlichen Umwelt zu schützen (Biggs 1993). Das ursprünglich als eine Neuformulierung der Disengagementtheorie konzipierte und später stärker entwicklungspsychologisch ausgerichtete Modell der Gerotranszendenz (Tornstam 1989) geht davon aus, dass der Rückzug und die Passivität älterer Menschen auch positiv zu interpretieren sind. Es stellt erneut das gesellschaftliche Aktivitätsideal grundlegend in Frage und stellt heraus, dass mit zunehmendem Alter veränderte bzw. ganz neue Sichtweisen des Lebens (u. a. verminderte Ich-Zentriertheit, kosmische Transzendenz, stärkere Generativität und Reminiszenz) an Bedeutung gewinnen (können). Auch die sozialkonstruktivistische Perspektive wurde mehrfach auf das Alter bezogen. Dort erscheint das Alter als a) in einem umfassenden symbolischen Verweisungszusammenhang konstruiert, b) in der sozialen Organisation gesellschaftlichen Handelns als objektive Struktur realisiert, c) in der Somatisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse materialisiert und d) zugleich in seiner sinnlich empfundenen Qualität als konstitutiver Bestandteil subjektiver Identitäten. Auf dieser Folie ist die Verwirklichung des Alters (Doing Age) (Schroeter 2012) idealtypisch auf vier Ebenen in den Blick zu nehmen: auf der symbolischen Ebene (allgemeine Alterssemantiken, -definitionen, -diskurse, -grenzen, -ordnungen), der interaktiven Ebene (korporale und soziale Performanzen, Präsentationen und Inszenierungen), der materiell/ somatischen Ebene (Körperpolitiken und -strategien) und auf der leiblich-affektiven Ebene (subjektiv empfundenes und körperlich/ leiblich gespürtes Altern). Aktuelle Schwerpunkte Ein großer Teil der gestiegenen Aufmerksamkeit für die Alterssoziologie ist vermutlich der zunehmend breiteren Thematisierung des demographischen Wandels und der damit verbundenen Problemlagen in der wissenschaftlichen Diskussion wie auch der breiteren Öffentlichkeit geschuldet. Entsprechend lassen sich Schwerpunkte in den Bereichen der Alterssicherung, der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung sowie generell der Familien- und Generationenbeziehungen ausmachen, wobei die Spannweite jeweils von der individuellen Ebene über die Analyse von Organisationen und Institutionen bis zum Vergleich von höher aggregierten Systemen reicht. Besondere Aufmerksamkeit erlangen z. B. die aufgrund der vorgenommenen Änderungen im System der Rentenversicherung zu erwartende Altersarmut bzw. zunehmende soziale Differenzierung, der politische Einfluss der Älteren, das Alter(n) nach Migration, die Belastungen der Pflegenden sowie die Möglichkeiten der Unterstützung der Älteren, der Pflegenden und auch der Versorgungsstrukturen insgesamt durch neue Technologien. Diskussionen gibt es auch um stärker (sozial-)politische Perspektiven und Positionen, etwa im Falle des »aktiven« oder »produktiven« Alterns als Gegenargument zur »Alterslast«-Interpretation auf der einen, als (unangemessene) Forderung für den Einzelnen auf der anderen Seite. Literatur Atchley, Robert C., 1983: Aging. Continuity and change, Belmont, CA.- - Biggs, Simon, 1999: The mature imagination. Dynamics of identity in midlife and beyond, Buckingham, UK.-- Boetticher, Karl W., 1975: Aktiv im Alter, Düsseldorf.- - Cavan, Ruth S. et al., 1949: Personal adjustment in old age, Chicago, IL.- - Cole, Thomas R. et al. (Eds.), 1993: Voices and visions of aging, New York, NY.- - Cowdry, Edmund V. (Ed.), 1939: Problems of aging, Baltimore, MD.- - Cowgill, Donald O.; Holmes, Lowell D. (Eds.), 1972: Aging and modernization, New York, NY.- - Cumming, Elaine; Henry, William E., 1961: Growing old. The process of disengagement, New York, NY.-- Dowd, James J., 1975: Aging as exchange. A preface to theory; in: Journal of Gerontology 30, 584-593.-- Elder, Glen H. Jr., 1995: The life course paradigm; in: Moen, Phyllis et al. (Eds.): Examining lives and context, Washington, DC, 101-140.- - Featherstone, Mike; Hepworth, Mike, 1991: The mask of ageing and the postmodern life course; in: Featherstone, Mike et al. (Eds.): The body. Social processes and cultural theory, London, UK, 371-389.- - Green, Bryan S., 1993: Gerontology and the construction of old age, New York, NY.- - Havighurst, Robert J.; Albrecht, Ruth, 1953: Older people, New York, NY.-- Hohmeier, Jürgen, 1978: Alter als Stigma; in: Ders.; Pohl, Hans-Joachim (Hg.): Alter als Stigma, Frankfurt a. M., 10- 30.- - Katz, Steven, 1996: Disciplining old age, Charlottesville, NC/ London, UK.- - Kaufman, Sharon R., 1986: The ageless self. Sources of meaning in late life, Madison, WI.-- Kohli, Martin, 1985: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37, 1-29.-- Ders.; Künemund, Harald (Hg.), 2000: Die zweite Lebenshälfte, Opladen.-- Levy, René, 1977: Der <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 22 22 Anomie Lebenslauf als Statusbiographie, Stuttgart.- - Mayer, Karl U., 1996: Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel; in: Behrens, Johann; Voges, Wolfgang (Hg.): Kritische Übergänge, Frankfurt a. M., 43-72.- - Minkler, Meredith; Estes, Carroll L. (Eds.), 1991: Critical perspectives on aging, Amityville, NY.-- Moody, Harry R., 1988: Toward a critical gerontology; in: Birren, James E.; Bengtson, Vern L. (Eds.): Emergent theories of aging, New York, NY, 19-40.-- Myles, John, 1984: Old age in the welfare state, Boston, MA.-- Neugarten, Bernice L.; Datan, Nancy, 1978: Lebensablauf und Familienzyklus; in: Rosenmayr, Leopold (Hg.): Die menschlichen Lebensalter, München 165-188.- - Parsons, Talcott, 1968: Alter und Geschlecht in der Sozialstruktur der Vereinigten Staaten; in: Ders.; Rueschemeyer, Dietrich (Hg.): Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied/ Berlin, 65-83 (1942).-- Pollak, Otto, 1948: Social Adjustment in Old Age, New York, NY.- - Prahl, Hans-Werner; Schroeter, Klaus R., 1996: Soziologie des Alterns, Paderborn.-- Riley, Matilda W. et al. (Eds.), 1972: Aging and society. A sociology of age stratification, vol. 3., New York, NY.-- Rose, Arnold M., 1962: The subculture of the aging; in: The Gerontologist 2, 123- 127.-- Rosow, Irving, 1974: Socialization to old age, Berkeley, CA.- - Schelsky, Helmut, 1965: Die Paradoxien des Alters in der modernen Gesellschaft; in: Ders.: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf/ Köln, 198-220 (1959).- - Schroeter, Klaus R., 2012: Altersbilder als Körperbilder; in: Berner, Frank et al. (Hg.): Individuelle und kulturelle Altersbilder, Wiesbaden, 153-229.-- Tews, Hans P., 1971: Soziologie des Alters, Heidelberg.- - Tornstam, Lars, 1989: Gerotranscendence; in: Aging. Clinical and Experimental Research 1, 55-63.-- Townsend, Peter, 1981: The structured dependency of the elderly; in: Ageing and Society 1, 5-28. Harald Künemund/ Klaus R. Schröter Anomie Quellentexte Der franz. Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) hat den Anomiebegriff (engl. anomy, aus dem Griechischen: Verneinung/ Fehlen von Gesetz/ Ordnung) in die Soziologie eingeführt, vor allem im Rahmen seiner Untersuchungen zur Arbeitsteilung (1992 [1893]) und zum Selbstmord (1983 [1897]). Die zweite autoritative Quelle, auf die sich fast alle Soziologen beziehen, die heutzutage das Anomiekonzept - vor allem zur Erklärung abweichenden oder kriminellen Verhaltens - heranziehen, sind Arbeiten von Robert K. Merton (1910-2003), insb. zwei Aufsätze in Merton 1968 ([1957], Kap. 6, 7). Zu den deutschen Autoren, die eigene Varianten des Anomiekonzepts ausgearbeitet haben, gehören Dahrendorf (1979), Opp (1974), Waldmann (2003). Zum gegenwärtigen Stand der internationalen Diskussion s. den Sammelband von Agnew/ Kaufman (2010). Zentrale Bedeutungskomponenten Zum Verständnis des Anomiekonzepts sind zwei analytische Unterscheidungen wichtig, die schon Durkheim (implizit) eingeführt hat: Als gesellschaftliches Strukturmerkmal bezeichnet Anomie verschiedene Formen einer »Störung der kollektiven Ordnung«, hervorgerufen vor allem durch eine unzulängliche normative Regulierung, die sich einerseits in der lebensweltlichen »sozialen Praxis« mehr oder weniger ungeplant vollzieht, andererseits durch bestimmte (nicht zuletzt staatl.) Instanzen und Akteursgruppen gestaltet wird. Durkheim konzentriert sich auf unzulängliche Koordination bzw. Kooperation zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen und den entsprechenden Akteursgruppen (z. B. Konflikte zwischen »Kapital« und »Arbeit«) sowie Formen einer »erzwungenen« Arbeitsteilung, die das Gerechtigkeitsprinzip verletzen und die Individuen an ihrer Selbstverwirklichung hindern. Auf der anderen Seite bezieht sich Anomie auf Persönlichkeitsmerkmale, insb. auf normative und kognitive Desorientierung, auf überschießende Bedürfnisse und Aspirationen, einen Verlust an Sinn gebenden moralischen Bindungen. Um die beiden Ebenen terminologisch auseinanderzuhalten, spricht man mit Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale auch von »Anomia« (verstanden als Folge gesellschaftlicher »Anomie«). Damit kommen wir zur Unterscheidung von prozess- und struktur-bedingter Anomie. Durkheim hatte zunächst vor allem jene Regulierungs- und Orientierungsdefizite im Blick, die durch einen rapiden, tiefgreifenden sozialen Wandel ausgelöst werden - weitgehend unabhängig von dessen spezifischer Entwicklungsrichtung (s. Thome 2010). Später entdeckte er die Möglichkeit einer »chronischen« Anomie in Form einer regulativ nicht mehr aufhebbaren Dominanz der Ökonomie über alle anderen Lebensbereiche. Merton greift Durkheims Überlegungen auf, abstrahiert und systematisiert sie. Ihm zufolge ist eine anomische Konstellation strukturell durch drei Komponenten gegeben: a) Kulturell sind Werte und Handlungsziele definiert, die allgemein akzeptiert <?page no="22"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 22 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 23 23 Arbeiterbewegung und angestrebt werden. b) Kulturell sind auch die Wege und Mittel festgelegt, die dabei legitimerweise eingesetzt werden dürfen. c) Die Sozialstruktur verteilt diese Mittel unter den Aspiranten in ungleichem Maße, so dass viele Akteure die legitimen Ziele nicht mit legitimen Mitteln erreichen können. Es entsteht also ein hoher Anreiz, sich illegitimer (auch gesetzwidriger) Mittel zu bedienen. Dieser Anreiz ist umso stärker, je dominanter ein einzelnes Ziel ist (insbesondere der eigene ökonomische Erfolg im Vergleich zum Erfolg Anderer). Zu beachten ist außerdem, dass auch die illegitimen Mittel sozial ungleich verteilt sind, was für diejenigen, die auch hierin benachteiligt sind, den Einsatz körperlicher Gewalt besonders attraktiv macht. Literatur Agnew, Robert; Kaufman, Joanne (Hg.), 2010: Anomie, Strain and Subcultural Theories of Crime, Surrey (GB).- - Dahrendorf, Ralf, 1979: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a. M.- - Durkheim, Emile, 1983: Der Selbstmord, Frankfurt a. M. (1897).-- Ders., 1992: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. (1893).-- Merton, Robert K., 1968: Social Theory and Social Structure, Glencoe, IL (Frühere Ausgaben 1957/ 1949).- - Opp, Karl-Dieter, 1974: Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, Neuwied.- - Thome, Helmut, 2010: Violent Crime (and Suicide) in Imperial Germany, 1883-1902: Quantitative Analyses and a Durkheimian Interpretation; in: International Criminal Justice Review 20, 5-34.-- Waldmann, Peter (Hg.), 2003: Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie, München. Helmut Thome Anspruchsniveau Das Anspruchsniveau (engl. level of aspiration) bezeichnet einen Maßstab, an dem ein Individuum seine eigene Leistung misst bzw. bewertet. Der Begriff stammt aus der psychologischen Entscheidungsforschung (Charakterdiagnostik; Leistungsmotivation) und wurde dort von Lewin und Mitarbeitern eingeführt (Lewin et al. 1944; Hoppe 1931). Untersucht wurden der Einfluss des individuellen Anspruchsniveaus auf Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse und seine Bedeutung als motivbildender Faktor in leistungsorientierten Situationen. Dem Anspruchsniveau ist ein Zeitfaktor inhärent, der in den Wirtschaftswissenschaften als Zielausmaß (bzgl. Leistung, Besitz und Möglichkeiten) gekennzeichnet wird, das ein Individuum gegenwärtig oder in der Zukunft erreichen möchte. Im Marketing dient das Anspruchsniveau auch zur Reduktion möglicher Handlungsalternativen. Entspricht eine individuelle Leistung dem Anspruchsniveau oder liegt sie darüber, so erlebt das Individuum dies als Erfolg und erhöht in der Regel sein Anspruchsniveau. Liegt die Leistung darunter, so wird das Anspruchsniveau herabgesetzt. Liegt eine Leistung sehr weit über oder sehr weit unter dem Anspruchsniveau, so wird diese externen Faktoren zugeschrieben. Eine große Abweichung des Anspruchsniveaus vom tatsächlichen Leistungsniveau kann auf einen mangelnden Realitätssinn zurückgeführt werden oder aber auf eine neurotische Fehlhaltung im Leistungsbereich. Die Herausbildung eines »realistischen Sinns« (Lewin/ Lewin 1953) wird von den Sozialisationsbedingungen mitbestimmt. Damit spielen, neben im weitesten Sinne individuellen Variablen (Leistungsmotiv; Aufgabenhaltung; persönliche Standards) auch überindividuelle bzw. soziale Faktoren (Gruppendruck; Macht; geschlechtsspezifische bzw. ethnische Unterschiede) eine nicht unbedeutende Rolle im Hinblick auf die Genese des Anspruchsniveaus. Auf der Makroebene verändern sich gruppen- oder gemeinschaftsspezifische Anspruchsniveaus unter Deprivationsbzw. Wohlfahrtsbedingungen. Literatur Hoppe, Ferdinand, 1930: Erfolg und Misserfolg; in: Psychologische Forschung 40, 1-62.-- Lewin, Kurt; Lewin, Gertrud W., 1953: Die Lösung sozialer Konflikte, Bad Nauheim.-- Lewin, Kurt et al., 1944: Level of aspiration; in: Hunt, J. McV (ed.): Personality and the behaviour disorders, New York, 333-378. Birgit Blättel-Mink Arbeiterbewegung Die Arbeiterbewegung (engl. labour movement) ist die dominante soziale Bewegung des 19. und frühen 20. Jh.s. Sie ist Produkt der kapitalistischen Industrialisierung (Industrielle Revolution) und ihrer sozialen Begleit- und Folgeerscheinungen (»Entfremdung«, »soziale Frage«, »Arbeiterfrage«). Die freie Lohnarbeit als dauerhaftes, »vererbbares« Schicksal wurde den besitzlosen, depossedierten, von zünftiwww.claudia-wild.de: <?page no="23"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 24 24 Arbeiterbewegung gen Privilegien entbundenen Schichten (Proletariat) zum gemeinsamen Ausgangspunkt solidarischer Selbsthilfe (Hilfskassen, Genossenschaften), kollektiver Gegenwehr (Streiks, Kampfkoalitionen, Gewerkschaften) und politischer Organisierung (Arbeiterparteien); daneben formierten sich - als »vierte Säule« der Arbeiterbewegung - Arbeiterbildungsvereine und proletarische Freizeitorganisationen. Aus den zunächst spontanen Rebellionen (Maschinensturm) und vielfältigen kollektiven Aktionen zur Verbesserung der sozialen Lage, Erkämpfung politischer Rechte und Hebung des Bildungsniveaus entwickelte sich eine mächtige Bewegung, die den von abhängiger Arbeit lebenden und gesellschaftlich benachteiligten Unterschichten das Selbstbewusstsein vermittelte, die eigentlich produktive und »werteschaffende« Klasse zu sein (Klassenbewusstsein). Hervorgegangen ist die Arbeiterbewegung nicht aus den verelendeten Schichten des Industrieproletariats; ihre ersten Trägergruppen kamen vielmehr aus der »Arbeiteraristokratie«, waren Handwerker- und Facharbeitergruppen, die sich gegen die Proletarisierung ihrer Arbeits- und Lebenssituation zur Wehr setzten. So gehörten die Buchdrucker zu den frühesten Gewerkschaftsgründern. Aus den bürgerlichen Schichten zur Arbeiterbewegung stoßende Intellektuelle wurden zu ihren wichtigsten Theoretikern (Marx, Engels, Lassalle, Lenin, Trotzki, Luxemburg). Bei allen Unterschieden der politischen Strömungen war das generelle Ziel der Arbeiterbewegung die soziale und politische Emanzipation der arbeitenden Klasse, die Aufhebung ihrer gesellschaftlichen Unterprivilegierung und Schaffung einer neuen, gerechten Gesellschaftsordnung. Der Marxismus, der sich als theoretischer Ausdruck der Arbeiterbewegung verstand, gewann auf die sozialistische Arbeiterbewegung Europas erheblichen Einfluss. Als Mitglied des Zentralrats der 1864 in London gegründeten »Internationalen Arbeiterassoziation« (IAA, später »Erste Internationale« genannt) formulierte Marx programmatische Aussagen (z. B. Inauguraladresse und Statuten der IAA). Sie postulierten als historische Aufgabe der Arbeiterbewegung die »Selbstbefreiung« des Proletariats durch Klassenkampf und revolutionäre Eroberung der politischen Macht zwecks Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft. Syndikalistische Richtungen der Arbeiterbewegung fanden vornehmlich in den romanischen Ländern Rückhalt; sie verwarfen - unter dem Einfluss des Anarchismus und ihrer Theoretiker (Proudhon, Bakunin) - Parlamentarismus, Wahlbeteiligung und politischen Kampf; stattdessen propagierten sie die »direkte Aktion«, letztlich den Generalstreik als »Revolution der gekreuzten Arme«. Sozialreformerische bzw. labouristische Tendenzen zeigten sich früh in der angelsächsischen Arbeiterbewegung; für sie war die pragmatisch-gradualistische Orientierung (Fabianismus) und die grundsätzliche Anerkennung des demokratisch-parlamentarischen Systems einschließlich des Bündnisses mit dem bürgerlichen Liberalismus kennzeichnend. Die christliche Arbeiterbewegung schließlich orientierte sich an der christlichen Soziallehre, die die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit fordert. - Nach der Russischen Revolution 1917 kam es zur Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung in eine sozialdemokratische und kommunistische mit jeweils eigenen internationalen Vereinigungen (Sozialistische Internationale, Kommunistische Internationale). Galten die früheren Bemühungen der Arbeiterbewegung der Beseitigung der rechtlichen Restriktionen (Koalitions- und Streikverbot) und der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, dann zielten später die sozialen und politischen Aktivitäten von Gewerkschaften und Arbeiterparteien in den westlichen Demokratien auf die Nutzung der Tarifautonomie und des Wahlrechts als Hebel zur Schaffung eines Systems kollektivvertraglicher und sozialstaatlicher Sicherungen ab, die die Integration der vordem »exterritorialen Klasse« in die Massendemokratien des westlichen Kapitalismus aktiv beförderten. Mehr noch als Sozialstaat und Massenwohlstand haben die Auflösung proletarischer Lebensmilieus und die unaufhaltsame Schrumpfung der traditionellen Industriearbeiterschaft der These vom »Ende der Arbeiterbewegung« (Gorz, Pirker) eine zunehmende Plausibilität verliehen. Literatur Abendroth, Wolfgang, 1975: Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M.- - Braunthal, Julius, 1978: Geschichte der Internationale, 3. Bde., Bonn.- - Gorz, André, 1980: Abschied vom Proletariat, Frankfurt a. M.- - Grebing, Helga, 1980: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 10. Aufl., München.- - Klönne, Arno, 1980: Die deutsche Arbeiterbewegung, Köln.-- Kocka, Jürgen, 1983: Lohnarbeit und Klassenbildung, Berlin.-- Mooser, Josef, 1984: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1979, <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 24 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 25 25 Arbeitsbeziehungen Frankfurt a. M.-- Pirker, Theo, 1984: Vom Ende der Arbeiterbewegung; in: Ebbinghausen, Rolf; Tiemann, Friedrich (Hg.): Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Opladen, 39-51.- - Ritter, Gerhard A. (Hg.), 1984 ff.: Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin/ Bonn (bisher erschienen: Bde. 1, 2, 5, 9, 10, 11, 12).- - Tennstedt, Florian, 1983: Vom Proleten zum Industriearbeiter, Köln. Walther Müller-Jentsch Arbeitsbeziehungen Die Begriffe Arbeitsbeziehungen oder industrielle Beziehungen sind - in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen synonym verwandte - wörtliche Übersetzungen aus dem Englischen (labour relations, industrial relations). Gebräuchlich sind auch die Begriffe: Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Sozialpartnerschaft, Konfliktpartnerschaft. In der älteren deutschen Literatur finden sich für den Gegenstandsbereich Umschreibungen wie »Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit« (A. Weber) oder »Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen« (Lederer, Marschak) oder einfach »soziale Arbeitsverhältnisse« (Geck). Arbeitsbeziehungen bezeichnen ganz allgemein die ökonomischen Austauschprozesse und sozialen Konfliktbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit in einem Betrieb, einem Wirtschaftszweig, einem Land oder einem regulierten transnationalen Wirtschaftsraum (z. B. Europäische Union) sowie die aus diesen Interaktionen resultierenden Normen, Verträge, Institutionen und Organisationen. Ihre Träger bzw. Akteure sind Verbände (Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen), Gruppen (Management, Betriebsrat, teilautonome Arbeitsgruppen) und Personen beider Seiten sowie staatliche Instanzen. Die Kapital und Arbeit repräsentierenden Akteure treten in der Regel als Kontrahenten im doppelten Sinne (Vertragspartner und Gegner) auf. Die staatlichen Instanzen nehmen a) hoheitliche Funktionen wahr (Setzung der institutionellen Rahmenbedingungen durch kollektives Arbeitsrecht, staatliches Schlichtungswesen etc.; Festlegung bestimmter Mindestnormen wie Mindestlohn, tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit und Mindestjahresurlaub), beeinflussen b) als »dritte Partei« den tarifpolitischen Prozess etwa durch einkommenspolitische Daten oder verhandeln c) als Tarifvertragspartei des öffentlichen Dienstes direkt über Lohnsätze und Arbeitsnormen. Arbeitsbeziehungen haben die kollektive Regelung von Arbeitsverhältnissen (d. h. Beschäftigungs-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen) zum Inhalt. Ihr Gegenstandsbereich umfasst 1. den kontrahierten wirtschaftlichen Austausch zwischen Kapital und Arbeit (Lohn gegen Arbeitsleistung), 2. eine daraus resultierende typische Konfliktkonstellation, die sich in Arbeits- und Verteilungskonflikten (industrieller Konflikt) manifestiert, und 3. ein historisch gewachsenes Institutionensystem (z. B. Tarifautonomie und Betriebsverfassung), das die Austauschprozesse und Konfliktbeziehungen normativ regelt. Die kollektiven Regelungen können unterschieden werden in 1. unilaterale, bilaterale und trilaterale, 2. formelle und informelle, 3. substantielle und prozedurale Regelungen. Zum Kernbestand der Arbeitsbeziehungen gehören die bilateralen Regelungen z. B. zwischen Betriebsrat und Management (Betriebsvereinbarungen) sowie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Tarifverträge). Unilaterale Regelungen können vom Staat (Gesetze, Verordnungen) erlassen, vom Management (Direktionsrecht) angeordnet, aber auch von starken Arbeitergruppen (Arbeiterkontrolle) durchgesetzt, in seltenen Fällen auch von Gewerkschaften der anderen Seite aufgezwungen werden (z. B. Closed Shop). Bei trilateralen Regelungen ist überdies der Staat beteiligt (z. B. Konzertierte Aktionen, Sozialpakte, trilaterale Abkommen). Formelle Regelungen werden meist in Schriftform erlassen, vereinbart oder angeordnet, aber auch förmliche mündliche Anordnungen und Abreden sind ihnen zuzurechnen. Insbesondere im betrieblichen Alltag werden die formellen Regelungen ergänzt, modifiziert, konkretisiert und nicht selten konterkariert durch informelle Regelungen bzw. Normen. Sie füllen einerseits Planungslücken und Koordinationsmängel der Betriebshierarchie durch selbstständige »Belegschaftskooperation« (Frielingshaus) aus und schützen andererseits die abhängig Arbeitenden gegen Leistungsverdichtung und umfassende Management-Kontrolle. Substantielle Regelungen beziehen sich auf inhaltliche Arbeitsnormen (Arbeitsentgelt, Arbeitsbedingungen); prozedurale Regelungen sind Verfahrensregeln (z. B. über Mitbestimmung, Schlichtung, Konfliktaustragung). <?page no="25"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 26 26 Arbeitssoziologie Retrospektiv betrachtet, sind Arbeitsbeziehungen eine historisch gewachsene Kompromissstruktur, die sich als »intermediäres Institutionensystem« zwischen die Arbeitsmarktparteien geschoben hat und deren unilaterale Konfliktstrategien durch bilaterale Verhandlungssysteme (»joint regulation«) überformte. Ihre Entstehung und Entwicklung verdankt sie zwei interagierenden und konfligierenden Kräften: dem (manifesten und latenten) Klassenkampf und der (reaktiven und prophylaktischen) Sozialpolitik von Unternehmern und Staatsapparat; zwischen beiden vermittelten bürgerliche Sozialreformer (vom Bruch). Die für Deutschland charakteristischen Institutionensysteme der Arbeitsbeziehungen bestehen aus Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Tarifautonomie. Betriebsverfassung und Tarifautonomie bilden ein duales System der Interessenrepräsentation. Es ermöglicht eine funktionale Differenzierung der Regelung von Interessenkonflikten in zwei - nach Interessen, Akteuren und Durchsetzungsformen - voneinander getrennten »Arenen« (Müller-Jentsch 1997, 195). Eine die Betriebsverfassung ergänzende Institution ist die Unternehmensmitbestimmung (Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat), die meist in Personalunion von den Vorsitzenden und geschäftsführenden Mitgliedern des Betriebsrats, neben gewerkschaftlichen Vertretern, wahrgenommen wird. Als neues Phänomen sind Systeme direkter Partizipation wie teilautonome Gruppenarbeit, Qualitätszirkel etc. (Müller-Jentsch 2007, 102 ff.) und »andere Vertretungsorgane« wie Runde Tische, Sprecher, Ältestenräte etc. (Hauser-Ditz et al. 2008, 73 ff.) anzusehen. Sie können als Ergänzung, Konkurrenz oder Substitut der repräsentativen Formen der Mitbestimmung durch den Betriebsrat in Erscheinung treten. Da das Forschungsgebiet zentrale gesellschaftliche Konflikte und widersprüchliche Interessen zum Inhalt hat, kann eine geschlossene und allseits akzeptierte Theorie der Arbeitsbeziehungen nicht erwartet werden. Es herrscht theoretischer Pluralismus vor. Ein erster systematischer Versuch zu einer Theorie der Arbeitsbeziehungen stammt von John T. Dunlop. Heute werden folgende Theorieansätze unterschieden: a) systemtheoretische, b) marxistische, c) institutionalistische, d) handlungstheoretische, e) strukturationstheoretische und f ) ökonomische bzw. modelltheoretische (vgl. Müller-Jentsch 2008, 239-283). Kennzeichnend für die Forschung ist indessen der pragmatische Umgang mit diesen sich nicht ausschließenden, z.T. komplementären Ansätzen. Literatur Dunlop, John T., 1958: Industrial Relations Systems, New York.- - Ferner, Anthony; Hyman. Richard (eds.), 1998: Changing Industrial Relations in Europe, Oxford.- - Geck, L. H. Adolph, 1931: Soziale Arbeitsverhältnisse, Berlin.- - Hauser-Ditz, Axel et al., 2008: Betriebliche Interessenregulierung in Deutschland, Frankfurt a. M.- - Keller, Berndt, 2008: Einführung in die Arbeitspolitik, 7. Aufl., München.-- Lederer, Emil; Marschak, Jakob, 1927: Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen; in: Grundriß der Sozialökonomik IX. Abt., Tübingen.- - Müller-Jentsch, Walther, 1997: Soziologie der Industriellen Beziehungen, 2. Aufl., Frankfurt a. M.- - Müller-Jentsch, Walther (Hg.), 1999: Konfliktpartnerschaft, 3. Aufl., München.- - Müller- Jentsch, Walther, 2007: Strukturwandel der Arbeitsbeziehungen, Wiesbaden.- - Müller-Jentsch, Walther, 2008: Arbeit und Bürgerstatus, Wiesbaden.- - Müller-Jentsch, Walther; Ittermann, Peter, 2000: Industrielle Beziehungen. Daten, Zeitreihen, Trends 1950-1999, Frankfurt a. M.-- vom Bruch, Rüdiger, 1985: »Weder Kommunismus noch Kapitalismus«. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland, München.- - Weber, Adolf, 1954: Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, 6. Aufl., Tübingen. Walther Müller-Jentsch Arbeitssoziologie Die Arbeitssoziologie (engl. sociology of work) ist eine spezielle Soziologie, die sich mit der besonderen Form des sozialen Handelns beschäftigt, das auf die Existenzsicherung gerichtet ist; dabei kann es sich um bezahlte Arbeit ebenso handeln wie um unbezahlte Arbeit, wobei in der Arbeitssoziologie traditionell die Erwerbsarbeit im Vordergrund steht (als Überblick Böhle et al. 2010; Minssen 2006). Während bis in die 1980er Jahre vor allem Industriearbeit Gegenstand der Untersuchungen war, ist in den letzten zwei Dekaden das Augenmerk verstärkt, dem gesellschaftlichen Wandel entsprechend, auf immaterielle Arbeit gerichtet worden, wobei Tätigkeiten mit eher geringen Qualifikationsanforderungen ebenso untersucht werden wie Tätigkeiten mit hohen Qualifikationsanforderungen (Wissensarbeit). Arbeitssoziologie wird häufig in einem Atemzug mit Industriesoziologie genannt, wobei eine Abwww.claudia-wild.de: <?page no="26"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 26 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 27 27 Arbeitssoziologie grenzung schwierig ist. In aller Vorläufigkeit kann der Unterschied darin gesehen werden, dass die Industriesoziologie ihren Blick auch auf die institutionellen Bedingungen richtet, unter denen die Produktion materieller und immaterieller Güter erfolgt; Forschungsthemen sind z. B. industrielle Beziehungen, die Folgen der als »Globalisierung« bezeichneten Veränderungen in der Weltwirtschaft oder die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Im Zentrum der Arbeitssoziologie hingegen steht stärker die Analyse der Bedingungen, Formen und Folgen der im Zeitverlauf wechselnden Lösungen der Transformationsproblematik, d. h. der Problematik, dass die unternehmerische Verfügbarkeit über Arbeitskraft noch keineswegs bedeutet, dass auch wie gewünscht gearbeitet wird. Zwar ist im Arbeitsvertrag geregelt, welche Arbeit für welche Vergütung zu leisten ist, es bleibt jedoch unbestimmt, wie die Arbeit geleistet wird, da nicht alle zu erbringenden Leistungen und Gegenleistungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Voraus zu spezifizieren sind (»Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages«). Die Überzeugungen, wie die Transformationsproblematik am besten zu lösen ist, verändern sich im Zeitverlauf. Themen bis in die 1940er Jahre Lange Zeit wurde die Subjektivität von Arbeitskraft als Störfaktor und das Allheilmittel für einen reibungslosen Arbeitsprozess in einer möglichst exakten Vorstrukturierung und einer rigiden Kontrolle der Arbeitsabläufe gesehen. Dies folgte den Überlegungen und Vorschlägen des amerikanischen Ingenieurs Frederick Winslow Taylor. Die Prinzipien des Taylorismus lassen sich in vier Punkten bündeln: Erstens eine Trennung von Hand- und Kopfarbeit, um die optimale Arbeitsausführung zu bestimmen, zweitens ein Wechsel vom Festzum Leistungslohn, um Leistungsanreize zu setzen, drittens eine weit vorangetriebene Arbeitsteilung, um durch die Zerlegung der Arbeit in einzelne Teilschritte eine hohe Spezialisierung bei der Ausführung dieser Teilschritte und damit einen hohen Leistungsgrad zu erzielen, und viertens schließlich eine sorgfältige Auslese und Anpassung der Arbeiter, um die Arbeitsaufgabe optimal zu erfüllen. Das technisch-organisatorische Rückgrat war das von Henry Ford 1913 für die Automobilproduktion nutzbar gemachte Fließband. Allerdings zeigten die sogenannten Hawthorne- Experimente schon recht frühzeitig die personalwirtschaftlichen Nachteile dieses Arbeitssystems. Diese Experimente (Roethlisberger/ Dickson 1939) begannen 1924 und zielten, durchaus in der Tradition tayloristischer Überlegungen, auf die Analyse der Auswirkungen von Arbeitsumgebungseinflüssen auf die Arbeitsleistung. In den Hawthorne-Werken der Western Electric Company in Chicago sollten die Auswirkungen der Beleuchtungsstärke auf die Arbeitsleistung von Arbeiterinnen untersucht werden. Die dabei durchgeführten Experimente wurden berühmt, weil sie (anfangs) scheiterten: alle Variationen der Beleuchtungsstärke gingen entgegen den Erwartungen einher mit Leistungssteigerungen der beobachteten Arbeiterinnen. Dies führte jedoch nicht zu einem Abbruch, sondern zu einer Weiterführung der Untersuchungen bis in die dreißiger Jahre, mit denen eine Forschungsgruppe um den Psychologen Elton Mayo beauftragt wurde. Diese Untersuchungen erbrachten vor allem zwei Ergebnisse: Zum einen wurde die Leistungssteigerung der Arbeitskräfte durch die Aufmerksamkeit erklärt, die diesen allein durch die Tatsache zuteilwurde, dass sie an einem wissenschaftlichen Experiment teilnahmen (der sogenannte Hawthorne-Effekt). Zum anderen wurden die informellen Gruppen entdeckt. Dies sind soziale Gruppen, die sich neben und außerhalb der formalen Organisationsstruktur aufgrund kooperativer Bezüge im Arbeitsprozess finden. Diese Entdeckung der Bedeutung menschlicher Beziehungen im Arbeitsprozess war Ausgangspunkt einer Managementlehre, der »Human-Relations- Bewegung«, die in den 1930er und 1940er Jahren (vor allem in den USA) auf die Bedeutung hinwies, die auch unter ökonomischen Aspekten den zwischenmenschlichen Beziehungen im Betrieb zukommt. Das führte nicht nur zu einem enormen Aufschwung der Organisationspsychologie an amerikanischen Universitäten, sondern auch zu einem veränderten Verständnis von Führung, demzufolge das Management auch die Bedürfnisse der Arbeiter zu berücksichtigen habe. Zum anderen zeigte die Existenz von informellen Gruppen, dass der Ansatz von Taylors »scientific management«, eine Optimierung des Produktionsprozesses durch die Optimierung des Arbeitsablaufs eines einzelnen Arbeiters anzustreben, zumindest verkürzt war, da informelle Gruppen in starkem Maße das Arbeitsverhalten ihrer Mitglieder prägen. <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 28 28 Arbeitssoziologie Themen 1950-1990 In Deutschland war die Themensetzung der Arbeitssoziologie bis in die 1980er Jahre zunächst, oftmals angeleitet durch die Marxsche Analyse des Produktionsprozesses, bestimmt durch das konflikthafte Verhältnis von Kapital und Arbeit. Dabei standen insbesondere zwei Themenbereiche im Vordergrund. Erstens ging es um das Verhältnis von technischem Wandel und Industriearbeit (Popitz et al. 1957a; Kern/ Schumann 1973). Der technische Wandel wurde als exogener Faktor begriffen, der prägenden Einfluss auf Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen hat. Im Laufe der Untersuchungen zeigte sich freilich, dass Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen durch Technik nicht determiniert sind, da sich die Annahme einer allgemeinen Entwicklungsrichtung (»je mehr Automatisierung, desto besser bzw. schlechter die Arbeitsbedingungen«) als verkürzt herausstellte. Zweitens wurden die Veränderungen im Arbeiterbewusstsein untersucht (Popitz et al. 1957b). Alle Studien bestätigten, dass die Arbeiter sich mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland arrangiert hatten, auch wenn sie die Gesellschaft in ein »oben« und ein »unten« geteilt sahen. Der ehemals angenommene enge Zusammenhang zwischen Arbeitssituation und Bewusstsein erwies sich als zu kurz gegriffen, da subjektive Aneignungsprozesse der Arbeitssituation durch die Arbeiter mit in Betracht gezogen werden mussten, für die auch Erfahrungen in der außerberuflichen Lebenswelt von Bedeutung sind. Eine tayloristische Arbeitsgestaltung galt in dieser Zeit als eine dem kapitalistischen Produktionsprozess angemessene Form der Arbeitsgestaltung. Zu Beginn der 1980er Jahre hatten sich freilich die Dimensionen von Rationalisierung sowohl hinsichtlich ihrer Ziele als auch hinsichtlich ihrer Reichweite verändert. Zum einen waren die Anforderungen an qualitative und quantitative Flexibilität gestiegen: vom Anbietermarkt zum Käufermarkt, so kann diese Entwicklung benannt werden. Damit wandelte sich auch die Perspektive von Rationalisierung: nicht mehr wie bisher Fertigung für einen Massenmarkt mittels standardisierter, hochproduktiver Maschinen und spezialisierter Arbeitskräfte, sondern flexible Spezialisierung, d. h. eine auf die jeweiligen Kundenwünsche ausgerichtete Fertigung durch Facharbeiter. Zum anderen waren komplexe Informations- und Kommunikationstechniken bis zur Anwendungsreife entwickelt worden. Die Mikroelektronik hielt auf breiter Front Einzug in die Produktion. Dadurch wurde die Realisierung der gewandelten Rationalisierungsperspektive überhaupt erst denkbar; ohne Mikroelektronik in der Produktion wäre eine zugleich flexiblere und kostengünstigere Produktion kaum möglich gewesen. Es entstand ein »neuer Rationalisierungstyp«, die systemische Rationalisierung (Altmann et al. 1986); er zeichnete sich dadurch aus, dass Rationalisierung nun in der Perspektive auf den gesamten betrieblichen Ablauf erfolgte und dabei durch die Nutzung der Mikroelektronik auch Liefer-, Bearbeitungs- und Distributionsprozesse einbezogen werden konnten. Zeitgleich diagnostizierten Kern und Schumann (1984) unter der Überschrift »Ende der Arbeitsteilung? « neue Produktionskonzepte - oder zumindest deren Möglichkeit. Lebendige Arbeit galt zunehmend weniger als ein Störfaktor der Produktion, deren Unberechenbarkeit durch Vorstrukturierung und Technisierung in Schach zu halten ist, sondern auch aus einer ökonomischen Perspektive war die Wertschätzung der qualitativen Potentiale von Arbeit gestiegen; selbst im Management fand sich zunehmend eine Sichtweise, der zufolge es Gestaltungsoptionen auszuschöpfen galt, um die Qualifikations- und Motivationspotenziale von Arbeitern zu nutzen. Einen nachhaltigen Einfluss übten dann die Ergebnisse einer weltweit durchgeführten Automobilstudie aus (Womack et al. 1990), die die Vorteile einer in Japan implementierten Produktionsweise herausstellte, von den Autoren »lean production« genannt. Der Erfolg dieser insbesondere bei Toyota entwickelten schlanken Produktion begründete sich nicht etwa in einer überlegenen Technik, einer weit vorangetriebenen Automation oder dergleichen, sondern in einer überlegenen Organisations- und Kooperationsform, die sich vor allem durch eine Dezentralisierung von Unternehmensstrukturen auf allen Ebenen auszeichnete. Für die Arbeitsebene popularisierte dies u. a. die Vorteile von Gruppenarbeit in der Fertigung, d. h. der Arbeit in dauerhaft eingerichteten Gruppen, der auch Entscheidungskompetenzen zugewiesen werden, die zuvor den unmittelbaren Vorgesetzten oblagen. Diese Form der Arbeitsgestaltung wurde nun nicht mehr nur als eine unter Aspekten einer Humanisierung der Arbeit wünschenswerte, sondern als eine auch ökonomisch <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 28 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 29 29 Arbeitssoziologie sinnvolle Form der Arbeitsgestaltung angesehen. Entsprechend wurde in vielen Unternehmen von der Einzelarbeit auf Gruppenarbeit umgestellt, so dass mittlerweile unter dem Label »Gruppenarbeit« eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Organisationsformen figuriert. Allen gemeinsam aber ist, dass die Arbeitsinhalte, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, erweitert und Entscheidungskompetenzen in die Gruppe verlagert worden sind. Neuere Entwicklungen Im Zusammenhang mit dem Konzept des »Shareholder Value« werden die auf Arbeit bezogenen Veränderungen in den letzten zwei Dekaden als Folgen einer »Vermarktlichung« rubriziert. Mit dieser Metapher soll darauf hingewiesen werden, dass Unternehmen sich gegenüber den Anforderungen externer Märkte geöffnet haben; der Erfolg am Markt soll für alle Unternehmensangehörigen zum Bezugspunkt ihres Handelns werden (»Unternehmer im Unternehmen«). Zugleich werden marktliche Elemente zunehmend als Steuerungsinstrumente genutzt, indem die unternehmensinterne Steuerung als (indirekte) Steuerung mit Hilfe von Kennzahlen erfolgt. Gewinnmargen und Ergebniserwartungen werden zu verbindlichen Zielgrößen. Auf Unternehmensebene geht dies bspw. einher mit einer Aufsplittung in Profit-Center, die in über Geld definierte Beziehungen treten - bis hin zu einer fiktiven oder faktischen Konkurrenz von Unternehmenseinheiten. Auf der Arbeitsebene bedeutet dies, dass die Leistungskontrolle verstärkt über marktlich bewertete Outputgrößen erfolgt und weniger als direkte Kontrolle des Arbeitsverhaltens; Steuerung qua Hierarchie tritt zurück zugunsten einer Selbststeuerung (»von der Prozesskontrolle zur Ergebniskontrolle«). Damit werden bislang gültige Standards der Arbeitsbedingungen, bisher übliche Formen der Beschäftigung und die bisher übliche Organisation von Arbeit verändert; Arbeitszeit und Personaleinsatz werden flexibilisiert, und seitens der Unternehmen wird vermehrt auf Selbstorganisation der Beschäftigten gesetzt. Dies geht einher mit einem veränderten Verständnis von Leistung: Als Leistung gilt nicht mehr eine der Aufgabe angemessene Leistungsverausgabung, sondern der Grad der Erreichung eines vereinbarten oder verordneten Ziels; letztlich zählt nicht mehr die Mühe, sondern der Erfolg, der sich auf dem Markt zu beweisen hat. Dies führt zu Phänomenen, die als Entgrenzung diskutiert werden. Durch Prozesse der Dezentralisierung sind ehemals klare Grenzen undeutlich geworden. Die organisatorischen Grenzen von Unternehmen werden unschärfer, wenn sie sich zu Netzwerken wandeln, die durch marktliche Beziehungen verbunden sind. Ebenso verwischen sich die durch die vertikalen und horizontalen Trennlinien gezogenen Grenzen innerhalb von Betrieben, wenn im Zuge der Selbstorganisation Kompetenzen »nach unten« verlagert werden. Und schließlich werden die Grenzen zwischen Arbeit und Leben undeutlicher, wenn von Arbeitnehmern verlangt wird, sich in ihrem Handeln an den Unternehmenszielen zu orientieren und die an sie gestellten zeitlichen und räumlichen Flexibilitätsanforderungen zu bewältigen. Dies geht einher mit einer Subjektivierung der Arbeit. Der Subjektivitätsbedarf seitens der Unternehmen ergibt sich daraus, dass Regeln, Routinen und Vorgehensweisen nur unvollständig vorab definiert werden können. Subjektive Fähigkeiten sollen deswegen für betriebliche Zwecke genutzt werden; Haltungen, Wissen, Fertigkeiten, Motive, Gefühle, Werte etc. werden in Verwertungsstrategien einbezogen. Dies trifft durchaus auf Ansprüche der Beschäftigten an die Gestaltung ihrer Arbeit. Im Zuge des Wertwandels sind die Ansprüche an Selbstverwirklichung gewachsen, und dies betrifft auch die Sphäre der Arbeit; auch hier wollen die Beschäftigten ihre Subjektivität stärker berücksichtig wissen. In diesem Sinne unterliegt Erwerbsarbeit einem doppelten Subjektivierungsprozess: Einerseits haben Betriebe einen erhöhten funktionalen Bedarf an Subjektivität, andererseits tragen die Individuen verstärkt subjektive Ansprüche an ihre Arbeit heran. Darin begründet sich die Ambivalenz von Subjektivierung. Subjektive Fähigkeiten und Eigenschaften dürfen nicht nur in den Arbeitsprozess eingebracht werden, sie müssen auch genutzt werden; eine Eigenleistung wird nicht nur erlaubt, sie wird selbst dann gefordert, wenn sie gar nicht gewollt ist. Die Möglichkeit, die eigene Subjektivität in den Arbeitsprozess einbringen zu können, bedeutet zugleich den Zwang, die eigene Arbeitskraft umfassend zu ökonomisieren. Dies ist nicht beschränkt auf die Sphäre der Erwerbsarbeit allein, sondern Ausdruck übergreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die in der Soziologie als Individualisierung diskutiert werden. Subjektivierung und Entgrenzung kulminieren in einem Typus von Arbeitskraft, für den sich die Bewww.claudia-wild.de: <?page no="29"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 30 30 Arbeitsteilung zeichnung »Arbeitskraftunternehmer« eingebürgert hat, einem Unternehmer, der die eigene Arbeitskraft vermarktet. Der relativ gesicherte und standardisierte Status eines Arbeitnehmers mit relativ stetigen Arbeitsvorgaben wird im Grundsatz ersetzt durch einen Auftragnehmer mit temporären Auftragsbeziehungen. Da eine eng kontrollorientierte Strategie der Nutzung von Arbeitskraft für die betrieblichen Produktivitätsziele zunehmend weniger ausreicht, wird das Problem einer Transformation von Arbeitskraft in Arbeit an die Arbeitenden gewissermaßen zurückgegeben; sie haben sicherzustellen, dass die erwartete Leistung erbracht wird, wobei es ihnen im Grundsatz überlassen bleibt, wie sie das erreichen. Die Ergebniskontrolle geht einher mit einer verstärkten Selbst-Kontrolle der Arbeitenden, die sich insbesondere bezieht auf die Arbeitszeit, den Arbeitsort, die Regulierung der interpersonalen Beziehungen, die fachliche Flexibilität und die Fähigkeit zur Eigenmotivation. Hinzu kommt eine Selbst-Ökonomisierung, die nicht nur eine aktive Entwicklung der individuellen Potenziale umfasst, sondern auch ein gezieltes Selbst-Marketing, um die Arbeitskraft potentiellen Auftraggebern anzubieten. Selbst-Kontrolle und Selbst-Ökonomisierung haben Einfluss auf die gesamte Lebensorganisation, auf das Verhältnis von Arbeit und Leben. Erforderlich ist eine Selbst-Rationalisierung des gesamten Lebenszusammenhanges. Es muss systematisch durchgestaltet und auf Erwerb ausgerichtet werden. Der Arbeitskraftunternehmer ist nicht der bereits quantitativ vorherrschende Arbeitskrafttypus, aber er ist doch Realität. Als Typus findet er sich in erster Linie in einigen Bereichen der modernen Dienstleistungs-, Medien- und Telekommunikationsindustrien, aber nicht im Dienstleistungssektor insgesamt oder gar in den industriellen Kernsektoren. Die für den Arbeitskraftunternehmer typische Arbeits- und Erwerbsorientierung allerdings ist weiter verbreitet als der Typus selbst und findet sich auch bei abhängig Beschäftigten, vor allem bei Angestellten. Literatur Altmann, Norbert et al., 1986: Ein »Neuer Rationalisierungstyp«-- neue Anforderungen an die Industriesoziologie; in: Soziale Welt 37, 189-207.-- Böhle, Fritz et al. (Hg.), 2010: Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden.- - Kern, Horst; Schumann, Michael, 1973: Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein, 2. Aufl., Frankfurt a. M.- - Dies., 1984: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierungsprozesse in der industriellen Produktion, München.- - Kratzer, Nick, 2003: Arbeitskraft in Entgrenzung. Grenzenlose Anforderungen, erweiterte Spielräume, begrenzte Ressourcen, Berlin.-- Lutz, Burkart; Schmidt, Gert, 1977: Industriesoziologie; in: König, René (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 8, 2. Aufl., Stuttgart, 101-262.-- Minssen, Heiner, 2006: Arbeits- und Industriesoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M./ New York.- - Pongratz, Hans J.; Voß, G. Günter, 2003: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin.- - Popitz, Heinrich et al., 1957a: Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, zit. nach 3. Aufl. 1976, Tübingen.- - Popitz, Heinrich et al., 1957b: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen.- - Roethlisberger, Fritz J.; Dickson, William J., 1939: Management and the Worker, Cambridge/ Mass.-- Schmidt, Gert et al. (Hg.), 1982: Materialien zur Industriesoziologie; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 24, Opladen.- - Womack, James P. et al., 1990: The Machine that Changed the World, New York. Heiner Minssen Arbeitsteilung Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Arbeitsbegriffes bezeichnet Arbeitsteilung (engl. division of labor) weitgefasst alle Formen der funktionalen Spezifizierung und sozialen Differenzierung (zumeist: ökonomisch) zweckorientierter produzierender Tätigkeit des Menschen. Teilung der Arbeit kann zunächst unter höchst unterschiedlichen Gesichtspunkten erfolgen: Alter, Fertigkeiten und Kenntnisse, Geschlecht, Geburtsstand, Macht und Einfluss etc. Grundsätzlich zu unterscheiden - historischkonkret freilich immer wechselseitig aufeinander bezogen - sind Formen sozialer Arbeitsteilung (Berufsdifferenzierung und soziale Spezifizierung von Arbeitsrollen) und Formen technischer Arbeitsteilung (Arbeitszerlegung, Arbeitsaufsplitterung, Arbeitszerstückelung). Auseinanderhalten lassen sich analytisch darüber hinaus drei Bezugsebenen von Arbeitsteilung: Handeln (die Prägung von Handlungskonstellationen durch Arbeitsteilung), Organisation (Arbeitsteilung als Strukturprinzip von Produktionsbetrieben und Verwaltungen) und Gesellschaft (die Bedeutung der Berufsgliederung für die soziale Struktur und Entwicklungsdynamik von Gesellschaften). <?page no="30"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 30 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 31 31 Arbeitsteilung Das Stichwort »internationale Arbeitsteilung« schließlich weist auf in den letzten Jahren zunehmend bedeutsame Formen der Verlagerung spez. Produktionsbereiche - insbesondere der Elektronik-, Bekleidungs- und Textilindustrie - aus den entwickelten Industriestaaten in Dritte-Welt-Länder und sog. Schwellenländer und auf die hiermit verbundenen Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftsregionen und deren Rückwirkung auf Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklungen. Arbeitsteilung ist eine grundlegende universale Voraussetzung für die Herausbildung von Gesellschaft. Komplexe Gesellschaften sind durch differenzierte Konfigurationen der Teilung von Arbeit gekennzeichnet. Bei ökonomischer und technischfunktionaler Betrachtung wird Arbeitsteilung vor allem unter den Gesichtspunkten der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte (Produktivitätsfortschritt) und der Effizienzsteigerung thematisiert. In soziologischer Sicht ist darüber hinaus Arbeitsteilung immer auch als Ausprägung und Problem sozialer Ungleichheit (z. B. gesellschaftsspezifische Arbeitsteilung) und als Ausdruck gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse (z. B. Differenzierung von disponierender Tätigkeit und ausführender Tätigkeit) Thema. Die große Bedeutung von Arbeitsteilung als Phänomen gesellschaftlicher Strukturierung zeigt auch das Studium der Staatsphilosophie seit der griechischen Klassik. Von Aristoteles stammt der Satz: ›Aus zwei Ärzten entsteht keine Gemeinschaft, wohl aber aus einem Arzt und einem Bauern.‹ Vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung wirtschaftlichen Handelns und der Ausweitung gewerblicher Produktion setzt im 18. Jh. mit den großen Arbeiten Adam Fergusons (1723-1816) - »Essay on the History of Civil Society« (1767) - und Adam Smiths (1723-1790) - »Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (1776) - die neuzeitliche sozialtheoretische Analyse der Arbeitsteilung ein. Smith rückt die produktionsorganisatorischen Aspekte ins Zentrum (Produktionssteigerung, Arbeitszerlegung - vgl. »Stecknadelbeispiel«), während Ferguson - Durkheim vorgreifend! - Arbeitsteilung als Strukturtyp von Solidarität fasst (Berufsdifferenzierung). Arbeitsteilung ist schon früh Thema wertender und interesseorientierter Stellungnahmen und Debatten: Charles Babbage (1792-1871) beispielsweise forciert den Unternehmerstandpunkt. Er rühmt: Verringerung der notwendigen Lehrzeit des Arbeiters, Austauschbarkeit der Arbeiter, Möglichkeit der Lohnsenkung. Demgegenüber hebt schon J. B. Say (1767-1832) hervor: extreme Arbeitszerlegung für den Arbeiter, Verkümmerung von Fähigkeiten und Unfreiheit. Karl Marx (1818-1883) unterscheidet zwischen »sozialer Arbeitsteilung« - gemäß natürlicher Merkmale der Menschen (Geschlecht, Alter etc.) oder als Ergebnis der Spezialisierung von Familien und Stämmen in verschiedenen Produktionsfeldern (Basis sind ganzheitliche Handwerksberufe), deshalb bei Marx auch »naturwüchsige Arbeitsteilung« - und »manufakturmäßige Arbeitsteilung« - die Zerlegung von Arbeit im Produktionsprozess einer Organisation gemäß technischer und ökonomischer Gesichtspunkte der Vereinfachung und Profitabilität. Seine auf eine theoretische Kritik der kapitalistischen Produktionsweise begründete Entfremdungstheorie, wonach der einzelne Arbeiter infolge der sozialen Trennung von Produktionsmittelbesitz und Arbeitskraft entfremdet ist vom Produkt seiner Arbeit, vom Produktionsprozess, von seinen Mitmenschen und letztlich von der Gattung, ist Ausgangspunkt späterer soziologischer Studien und politischer Frontstellungen zu Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung. Rapide Industrialisierung und Verstädterung, die Aktualität der sog. »sozialen Frage« und die Faszination an den arbeitsorganisatorischen Formen und den sozialen Folgen des »Fabrikwesens« provozieren Ende des 19. Jh.s Versuche, Struktur und Dynamik der »modernen« Gesellschaft über Konzepte von Arbeitsteilung auf den »Begriff« zu bringen. Gustav Schmoller (1838-1917) etwa versucht, Arbeitsteilung und ständische Ordnung konzeptionell zu verknüpfen und auch die berühmte Tönniessche (Ferdinand Tönnies, 1855-1936) Gegenüberstellung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« basiert auf Typen von Arbeitsteilung (der »natürlichen Arbeitsteilung« - Familie, Dorf - steht die marktgenerierte Arbeitsteilung, die Generalisierung kontraktuell fixierter Teilzeitarbeit gegenüber). Der wichtigste soziologische Klassiker der Theorie der Arbeitsteilung ist fraglos Emile Durkheim (1858-1917), dessen Dissertationsschrift »La Division du Travail« eine auf Modi der Arbeitsteilung fußende These zur Entwicklung von Gesellschaft vorträgt und speziell einen strukturell-funktionalen Analyseansatz forciert. Durkheim betont die Integrationsfunktion von Arbeitsteilung speziell in komwww.claudia-wild.de: <?page no="31"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 32 32 Arbeitswissenschaft plexen Gesellschaften. Komplexe Gesellschaften sind - Durkheim zufolge - über organische Solidarität (beruhend auf sozialer Konfiguration und Arbeitsteilung gleichartiger »Einheiten«) integriert. Durkheim nimmt auch wahr, dass Arbeitsteilung nicht in jedem Falle sozialintegrativ ist - es gibt ihm zufolge ungeregelte »anomische« Arbeitsteilung, insbesondere auch im Kontext der modernen Fabrikarbeit, wo Prozesse der Arbeitszerlegung nur produktionstechnischen und/ oder ökonomischen Kalkülen folgen, ohne Bindung an geltende sozialintegrierende Normen und Werte. Um die Jh.wende konzentriert sich das Interesse dann vor allem auf die forcierten, mit dem Thema »Taylorismus« (Frederick W. Taylor, 1856-1915) und mit den Stichworten »Scientific Management« und »One best Way« verbundenen Bemühungen um rationelle Arbeitsgestaltung. »Taylorismus« und »Fordismus« (Fließbandfertigung) werden Signate für Formen extremer Arbeitszerlegung und für Rationalisierungsstrategien der Anpassung des Menschen an die Maschine bzw. an den funktional-technisch optimalen Prozess. Die betriebliche Politik der Arbeitsteilung und der Arbeitszerlegung wurde in den 20er und 30er Jahren mit Berücksichtigung des »Human Factors« und des »Group Factors« (Elton Mayo, F. Roethlisberger u. a.) auf eine theoretisch breitere Grundlage gestellt. Die Kennzeichnung der modernen Industriearbeit als »anomisch« war zumindest nicht hinreichend: Auch auf Basis extrem arbeitsteiliger Strukturen bilden sich Formen sozialer Integration - nicht zuletzt als Ausdruck kollektiver Opposition - heraus (sog. informelle Gruppen). Georges Friedmann, Alain Touraine, Robert Blauner, Heinrich Popitz und andere haben die Wirklichkeit der modernen Industriearbeit in ihren extrem arbeitsteiligen und entfremdeten Formen und speziell bezüglich der Herausbildung technikvermittelter Arbeitsformen und Kooperationsstrukturen analysiert. Mit Blick auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wird deutlich, dass Technisierung und organisatorische Systemisierung von Produktionsprozessen hinsichtlich Arbeitskrafteinsatz und Gestaltung betrieblicher Arbeitsteilung höchst unterschiedlich umgesetzt werden. Neben der Einführung neuer »negativer« Formen von Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung wird in einigen Industriezweigen eine »arbeitspolitische Wende« hin zu stärker »ganzheitlicher« Nutzung von Arbeitskraft erkennbar (Stichwort: »Neue Produktionskonzepte« - Kern/ Schumann 1984 - zur daran anknüpfenden Fachdebatte siehe Malsch/ Seltz 1987 und Springer 1999). Literatur Kern, Horst; Schumann, Michael, 1984: Das Ende der Arbeitsteilung? München.- - Malsch, Thomas; Seltz, Rüdiger (Hg.), 1987: Die neuen Produktionskonzepte auf dem Prüfstand, Berlin.-- Springer, Roland, 1999: Rückkehr des Taylorismus? Frankfurt a. M. Gert Schmidt Arbeitswissenschaft Arbeitswissenschaft (engl. ergonomics) kann definiert werden als die Analyse und Gestaltung der technischen, organisatorischen, psycho-sozialen und medizinischen Bedingungen von Arbeitsprozessen. Verbunden wird damit das Ziel, dass die Arbeitenden in effizienten Arbeitsprozessen a) ausführbare und beeinträchtigungsfreie Arbeitsbedingungen vorfinden, b) Standards sozialer Angemessenheit erfüllt sehen, c) Handlungsspielräume entfalten und in Kooperation mit anderen ihre Persönlichkeit entwickeln können (Schlick et al., 7). Die International Ergonomics Association (IEA) hat 2000 die folgende Definition verabschiedet: »Ergonomics (or human factors) is the scientific discipline concerned with the understanding of interactions among humans and other elements of a system, and the profession that applies theory, principles, data and methods to design in order to optimize human wellbeing and overall system performance«. Die Anfänge einer systematischen Arbeitswissenschaft finden sich 1857 bei Jastrzebowki. Erste Studien und Institutsgründungen erfolgten seit Anfang des 20. Jh.s in einigen Ländern Europas und in Nordamerika. Weitreichende Institutionalisierungen des Fachs in Form der Einrichtung von Lehrstühlen und der Gründung wissenschaftlicher Vereinigungen setzen jedoch erst zu Beginn der 1950er Jahre ein. Sie wurden 1959 unter dem Dach der IEA zusammengefasst. Forschung und institutionelle Verortung dieses interdisziplinären Fachs haben heute drei primäre Ausrichtungen: a) Physische Ergonomie befasst sich mit anatomischen, anthropometrischen, physiologiwww.claudia-wild.de: <?page no="32"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 32 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 33 33 Arbeitswissenschaft schen und biomechanischen Eigenschaften der körperlichen Aktivität. Themen sind u. a.: Arbeitsplatz- und Maschinengestaltungen, Arbeitsumgebung wie Lärm, Strahlungen, Temperatur, etc. Körperbewegung, Kommunikation und Pausenregelungen (Kumar, Osborne). b) Die kognitive Ergonomie untersucht mentale Prozesse, wie Wahrnehmung, Denken, Bewegungsreaktionen etc. im Zusammenhang mit Interaktionen zwischen Menschen und anderen Elementen von Systemen. Themen sind u. a.: psychische Arbeitsbelastung und Stress, Entscheidungsfindung, Geschicklichkeitsleistung, Mensch-Computer-Interaktion (Kirlik). c) Organisatorische Ergonomie beschäftigt sich mit der Optimierung von soziotechnischen Systemen, einschließlich ihrer organisatorischen Strukturen, Verfahrensweisen und Prozesse. Themen sind u. a. Kommunikation, Projekt-, Team-, Gruppenarbeit, Partizipation, Vertrauen und Kontrolle, Arbeitszeitgestaltung, virtuelle Organisationen oder Qualitätsmanagement (O’Neill). Konzepte Unter den Leitkonzepten der Arbeitswissenschaft finden drei hervorgehobene Beachtung: das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept und Stresstheorien in der eher ingenieursbzw. in der humanwissenschaftlich ausgerichteten Mikroergonomie sowie Konzepte der Makroergonomie, die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Ursprünge haben. In den 1970er Jahren entwickelte Rohmert ein Belastungs-Beanspruchungs-Konzept. Kausalanalytisch werden hier äußere Arbeitsbedingungen (Belastungen) mit menschlichen Reaktionen (Beanspruchungen) verbunden und inter- und intraindividuelle Varianzen von Arbeitspersonen berücksichtigt. Belastungen werden in diesem arbeitsphysiologischen Modell als objektive Faktoren der Bewirkung subjektiver Beanspruchungen angesehen und über den Umweg der Bewertung von Beanspruchungen gemessen. In einigen Teilbereichen energetischer, körperlicher Arbeit und insbesondere bei der Wirkung von Strahlung oder Gefahrenstoffen konnten gesetzesmäßige Zusammenhänge von Belastung und Beanspruchung aufgedeckt werden. Insgesamt ließen sich jedoch nur für einige Formen körperlicher Arbeit exakte Zusammenhänge nachweisen. Einerseits lassen sich verschiedene Teilbeanspruchungen nur schwer zu Gesamtbeanspruchungen zusammenfassen, so gehen v. a. psychische Arbeitsbelastungen nur unzureichend in solche Modelle ein. Zudem tragen etwa Geschlechterdifferenzen, ethnische Faktoren, Klasse und Beruf und der säkulare Trend der körperlichen Akzelleration von Kohorte zu Kohorte zur ›human diversity‹ bei (zur Synopse anthropometrischer Daten und zur ›human diversity‹ siehe Pheasant). Allgemein kam es in den letzten Jahrzehnten in fortgeschrittenen Gesellschaften zu einer Bedeutungsverringerung physischer Arbeitsbelastungen und zu einer Bedeutungssteigerung psychischer Arbeitsbelastungen (Salvendy). Ein zweites zentrales Leitkonzept ist im Kontext der Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin der Stressbegriff. Als Stressbedingungen gelten Regulationshindernisse, -überforderungen und -unsicherheiten. Arbeitsmedizinische Studien haben Stress als wichtigen Gesundheitsfaktor belegt (Cox et al.). Zentral für das Stresskonzept ist, dass die Wirkung der Stressbedingungen durch personale und intersubjektive Ressourcen, etwa durch Netzwerke sozialer Unterstützung sowie den Grad der Handlungskontrolle, etwa durch Autonomie und Handlungsspielräume am Arbeitsplatz gemindert werden kann. In der Arbeitspsychologie, die Arbeit als bewusste, zielgerichtete Tätigkeit begreift, wird der zugewiesene Handlungsspielraum als eine zentrale Gestaltungsgröße menschengerechter Arbeit angesehen. Für diese subjektvermittelte Konzeptionalisierung von psychischen Arbeitsbelastungen spricht, dass sich neben negativen Stressfolgen auch positive Effekte von Stress (Eustress) feststellen lassen. Eine alternde Bevölkerung stellt Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin vor neue Aufgaben. Die Psychophysiologie des Alterns wird wichtiger mit Untersuchungen von Lernen, Gedächtnis, Wahrnehmung, Bewegungskontrolle, Anthropometrie, Biomechanik, Sprache und Kommunikation über den Lebensverlauf einschließlich der Möglichkeiten einer Pharmakologie des Verhaltens (Fisk/ Rogers). Zudem spielt die Kognitionsforschung in Verbindung von Psychologie und Medizin gegenwärtig eine besondere Rolle für Erwartungen an eine Verbesserung der Lebensqualität von Arbeit (Hancock). Auch die Makroergonomie (Organisatorische Ergonomie) gewinnt in Folge der Veränderungen der Arbeitswelt an Bedeutung (O’Neill; Hendrick, Kleiner). Hier werden Technik, Organisationen, Arbeitsgruppen und Individuen als Subsysteme im Wechselspiel untereinander und mit ihrer Umwelt betrachtet. Das deterministische Weltbild einseitiwww.claudia-wild.de: <?page no="33"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 34 34 Architektursoziologie ger kausaler Wirkungen ist aufgegeben. Stattdessen gelten technische, psychosoziale, organisatorische Komponenten und Umwelt als interdependent, sie können nur gemeinsam optimiert werden. In Abhängigkeit von der Wandlungsgeschwindigkeit und der Komplexität der Umwelt der Organisation bewähren sich unterschiedliche Organisationstypen. Der Maschine-Bürokratie-Typ zeichnet sich durch hohe Arbeitsteilung, Hierarchisierung und Formalisierung aus. Die Effizienz-, Kontroll- und Stabilitätsvorteile dieses Typs gleichen die mangelnde intrinsische Motivation der Beschäftigten aus, wenn eine überwiegend gering qualifizierte Arbeiterschaft routinisierte Systemoperationen in einer stabilen einfachen Umwelt zu vollziehen hat. Steigende Qualifikationsniveaus der Beschäftigten und komplexere, dynamischere Umwelten haben jedoch zu einer wachsenden Bedeutung von professionellen Bürokratie-Typen und zu verschiedenen Formen des Adhocracy-Typs geführt. Letztere sind durch geringere Formalisierung sowie durch projekt- und problembezogene Dezentralisierungen gekennzeichnet. Den Vorteilen einer schnellen, effizienten und kreativen Reaktion auf dynamische Umwelten stehen Nachteile in Form von aus mehrdeutigen Verantwortlichkeiten resultierenden Konflikten, sozialem und psychischem Stress und sich aus geringerer Routinisierung ergebender Ineffizienz entgegen. Die Arbeitswissenschaft ist konsequent anwendungsorientiert und interdisziplinär. Unter ihren Bezugswissenschaften spielt die Soziologie eine geringe Rolle, obwohl z. B. Max Weber mit seinen Studien zur Psychophysik der industriellen Arbeit früh Schnittstellen zwischen der Soziologie und der Arbeitswissenschaft hergestellt hat und obwohl es eine lange Tradition arbeits- und industriesoziologischer Forschung gibt. Die mit den heutigen Veränderungen der Arbeitswelt einhergehende, steigende Bedeutung der Makroergonomie bietet von der Problemstellung her erneut Anknüpfungspunkte für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Soziologie und Arbeitswissenschaft, insbesondere im Bereich der Industrie- und Organisationssoziologie. Literatur Cox, Tom et al., 2000: Research on work-related stress. European Agency for Safety and Health at Work, Luxembourg.- - Fisk, Arthur D.; Rogers, Wendy A. (Eds.), 1997: Handbook of Human Factors and the Older Adult, San Diego.- - Hancock, Peter A. (Ed.), 1999: Human Performance and Ergonomics, San Diego.- - Hendrick, Hal W.; Kleiner, Brian M. (Eds.), 2002: Macroergonomics: Theory, Methods, and Applications, Mahwah.-- International Ergonomics Association (IEA), 2000: What is Ergonomics? - - Kirlik, Alex (Ed.), 2006: Adaptive perspectives on human-technology interaction: Methods and models for human-computer interaction and cognitive engineering, New York/ Oxford.-- Kumar, Shrawan (Ed.), 1999: Biomechanics in Ergonomics, London.-- Osborne, David (Ed.), 1995: Ergonomics and Human Factors, 2 Vol., Aldershot.-- O’Neill, Michael, 1998: Ergonomic Design for Organizational Effectiveness, New York.- - Pheasant, Stephen, 1986: Bodyspace, London.- - Rohmert, Walter, 1973: Psychische Beanspruchung; in: Schmidtke, Heinz (Hg.): Ergonomie, Bd. 1, München.-- Salvendy, Gavriel (Ed.), 2006: Handbook of Human Factors and Ergonomics, 3rd ed., New York.-- Schlick, Christopher et al. (Hg.), 2010: Arbeitswissenschaft, Berlin/ Heidelberg.-- Weber, Max, 1998: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, Tübingen. Reinhold Sackmann/ Olaf Struck/ Ansgar Weymann Architektursoziologie Gegenstand der Architektursoziologie (engl. sociology of architecture) ist das Gebaute, sind die architektonischen Artefakte in ihrem Bezug zu den Akteuren (deren Aktionen und Interaktionen) respektive zur Gesellschaft insgesamt (mit all ihren Teilsystemen und Institutionen). Darin eingebettet ist als weiteres Thema die Profession der Architekten. Es handelt sich um eine junge Disziplin der Soziologie, die auf impliziten Klassikern aufbauen kann, sich aber vor allem aus neuen Theorieentwicklungen der Kultur- und Sozialwissenschaft speist: der Hinwendung zu Körper, Artefakten, Symbolischem, Affekten, Kreativem, zum Raum. Diese Architektursoziologie ist gesellschaftstheoretisch und diagnostisch angelegt sowie auf die interdisziplinäre Arbeit (v. a. mit der Architektur) angewiesen. Explizit kommt sie bisher vornehmlich aus dem deutschsprachigen Raum. Anders als die Stadtsoziologie geht sie davon aus, dass die Gesellschaft basal im Medium der architektonischen Artefakte zu beschreiben ist; anders als die Soziologie des Wohnens ist sie gesellschaftstheoretisch interessiert und umfasst alle Bautypen bis hin zur Infrastruktur (Verkehrsarchitektur, Kanalisierung); mit der Raumsoziologie hat sie Überschneidungen, wo diese sich den materialisierten Räumen widmet; mit der Artefaktsoziologie teilt sie <?page no="34"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 34 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 35 35 Aristokratie das Interesse für die Verschränkung von Artefakten und Akteuren. Anders als die Techniksoziologie berücksichtigt sie die Expressivität der Artefakte. Entwicklung von Architektur und Gesellschaft Die Entwicklung der Architektur ist so alt wie die Kultur - versteht man darunter auch alle nicht von Architekten entworfenen Gebäude, auch die gewebten und genähten Architekturen nichturbaner Gesellschaften. In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften ist es die Architektur, die in ihrer professionellen Kreativität stets neue Lebenswelten und zugleich bleibende Gestalten der Gesellschaft schafft. Entwicklung der Architektursoziologie Seit Gründung der Soziologie gibt es implizite architektursoziologische Klassiker, insbesondere französische (u. a. Mauss, Halbwachs, Maunier, Tarde, Foucault, Augé, Bourdieu, Lefebvre) und deutsche (u. a. Simmel, Krakauer, Benjamin, Elias). Sie lassen sich danach sortieren, ob sie die Architektur als bloßen Ausdruck der Gesellschaft verstehen oder ihr eine aktive Funktion in der Vergesellschaftung zusprechen. Wegen der Gegenstandsbestimmung der Allgemeinen Soziologie, die das Soziale als Interaktion intentional Handelnder oder als ›Kollektivbewusstsein‹ fasste, blieb die Thematisierung der Architektur insgesamt aber marginal. Erst in den 1970er Jahren etablierte sich eine explizite Beobachtung in einer kapitalismuskritischen oder aber sich an der Planung beteiligenden Architektursoziologie. Die neue Soziologie der Architektur (seit etwa 2000) ist demgegenüber grundlegend gesellschaftstheoretisch und -diagnostisch interessiert, offen für verschiedene Perspektiven. Forschungsstand Die neue Architektursoziologie wird u. a. von der ANT, der Philosophischen Anthropologie, der Praxeologischen Theorie, vom Poststrukturalismus aus entfaltet. Angesichts der faktischen Untrennbarkeit von Architektur und Sozialem hält sie die ganze Komplexität der Architektur im Blick (vom Entwurf bis zur Destruktion, vom Einzelhaus bis zur übergreifenden Struktur, von der Fassade über den Grundriss bis zu Baurecht, Eigentumsfragen, Finanzierung, von Interaktions-, Strukturbis zu Symbolperspektiven, diagnostisch historisch-genetisch arbeitend oder auf aktuelle Entwicklungen konzentriert). Auch die methodische Annäherung ist entsprechend vielfältig (von Diskursanalysen bis zu ethnografischen Methoden). Literatur Champy, Florent, 2001: Sociologie de l’architecture, Paris.-- Delitz, Heike, 2009: Architektursoziologie, Bielefeld.-- Fischer, Joachim; Delitz, Heike (Hg.), 2009: Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld.- - Jones, Paul, 2011: The Sociology of Architecture: Constructing Identities, Liverpool.- - Schäfers, Bernhard, 2006: Architektursoziologie. Grundlagen- - Epochen- - Themen, 2. Aufl., Opladen.- - Trebsche, Peter et al. (Hg.), 2010: Der gebaute Raum. Bausteine einer Soziologie vormoderner Architekturen, Münster. Heike Delitz Aristokratie Aristokratie (engl. aristocracy; aus dem Griechischen: Herrschaft der Besten) bezeichnet eine Herrschaftsform, wird aber auch synonym für die Gruppe der Edelleute, insbesondere des Hochadels, verwendet. Die Aristokratie beruht in der griechischen Staatslehre (Platon, Aristoteles, Polybios) auf der Führung durch eine auf Grund von Tugend und Verdiensten ausgezeichnete Gruppe. Sie unterscheidet sich von der Oligarchie durch die Orientierung am Gemeinwohl. In der Geschichte lassen sich Ritteraristokratien, Priesteraristokratien und Plutokratien differenzieren. Gesellschaften durchlaufen meist eine Phase der Aristokratie mit Ausnahme jener, die despotische Herrschaftsformen ausbilden (z. B. Osmanenreich). Da die Aristokratie auf Grund von internen Kämpfen keine stabile Herrschaftsform darstellt, geht sie früher oder später in Monarchie oder Demokratie über, wobei in beiden Fällen aristokratische Strukturelemente erhalten bleiben können. Als Stand entwickelte sich die Aristokratie in Europa erst im Zuge der Stärkung der zentralen Gewalt der Krone ab dem Hochmittelalter; davor waren die Vorrechte des Adels nicht generell erblich und auch nicht formell geregelt. Voraussetzungen der Anerkennung als adelig waren ein Vermögen aus Grundherrschaft und der über Generationen hinweg nachwww.claudia-wild.de: <?page no="35"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 36 36 Aristokratie gewiesene Status des Freien (Edelfreie). Der Adelsbrief enthielt die Genehmigung zum Ritterschlag, die Standesvertretung gegenüber der Krone und die Vorrechte des Adels, d. h. die Ehrenvorrechte (Adelsprädikate, Insignien etc.), rechtliche Privilegien, politische Rechte (auf bestimmte Ämter oder Ränge) und wirtschaftliche Vorrechte (Grunderwerb, Steuerbefreiungen, Jagdrechte etc.). Die Aristokraten stellten eine gesellschaftliche Elite dar, die sich durch ihre Werthaltung und Lebensweise von der Masse des Volkes abhob, sich auf die ehrenvolle Abstammung ihrer Familie berief und daher auf Grund des »Blutes« bzw. der Geburt eine hohe Stellung beanspruchte. Grundprinzipien der Aristokratie sind die Ausschließung durch »connubium« und die interne soziale Kontrolle über Lebensweise und Handlungen der Mitglieder sowie die Kontrolle über den Zugang zum Adel. Immer aber kam es auch zu einer gewissen sozialen Mobilität durch den Aufstieg von Personen aus dem Volk auf Grund von Verdiensten bzw. durch Reichtum. Im 18. Jh. nahmen die Nobilitierungen von Bürgerlichen und der Ämterkauf zu, weshalb sich der alte Schwertadel von diesem Amtsadel stärker abzugrenzen suchte. Der Adel weist eine interne Hierarchie zwischen dem Hochadel und den niederen Rängen auf. Zwischen Letzteren und dem Bürgertum bestanden oft kaum Unterschiede der Lebensweise, und der Übergang war, wie etwa bei der englischen »gentry«, fließend. Meist konnten die Adeligen aber von einem ererbten Vermögen, vorzugsweise an Grund und Boden, leben, ohne nicht ihrem Ansehen entsprechende Tätigkeiten ausüben zu müssen. Besondere Betätigungsfelder des Adels waren der Krieg, der hohe Staatsdienst, hohe kirchliche Ämter und das Mäzenatentum in Kunst und Kultur. Der auf Grund von Eheschließungen zwischen den Herrscherhäusern und Grundbesitz sowie Herrschaftsrechten in verschiedenen Regionen Europas stark internationale Charakter des Hochadels und seine Werte und Lebensstile sowie die »höfisch-aristokratische Kultur« prägten den europäischen Zivilisationsprozess (Elias). Mit der Französischen Revolution kam es in Frankreich vorübergehend zur Abschaffung des Adels, dann zum napoleonischen Neuadel und schließlich zur Restauration. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Vorrechte des Adels in allen Ländern Europas, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, abgeschafft; die Aristokraten wurden einfache Staatsbürger, sozial und kulturell werden sie aber auch heute noch in der Öffentlichkeit als eine besondere Gruppe mit eigenem Lebensstil wahrgenommen. Die Adeligen selbst sind sich einerseits ihrer Tradition bewusst, müssen sich andererseits aber der modernen Welt in Bezug auf Werte, Lebensformen und berufliche Tätigkeiten öffnen. Der aristokratische Habitus umfasst daher Strategien zur Reproduktion des sozialen und symbolischen Kapitals und seiner Rekonversion in ökonomisches und Bildungskapital (Bourdieu; Saint Martin). Noch immer ist auch die interne soziale Kontrolle in Bezug auf standesgemäßes Verhalten, Ehre und Würde der Familie relativ stark wirksam. Sie stellen daher in gewisser Weise einen »verborgenen Stand« dar, dessen Werte und Normen eine Art Gegenwelt konstituieren (Walterskirchen). Da der Adel noch über einen beträchtlichen Grundbesitz verfügt, ist er auch von wirtschaftlicher Bedeutung. Als Herrschaftsform wird der Begriff der Aristokratie zur Kennzeichnung von neuen Elitebildungen auch in demokratischen Gesellschaften (»labor aristocracy«, »Finanzaristokratie«) oder von überstaatlichen Eliten verwendet. Eine Elite als Aristokratie zu bezeichnen, betont das Bestehen einer starken sozialen Distanz in der Gesellschaft sowie die Wirkung eines Gruppencharismas und die Kontrolle über die gemeinsamen Werte und Lebensweisen der Gruppe. Literatur Beck, Hans et al. (Hg.), 2008: Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ›edler‹ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München.-- Bourdieu, Pierre, 2004: Der Staatsadel, Konstanz.- - Conze, Eckart; Wienfort, Monika (Hg.), 2004: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln/ Weimar/ Wien.- - Demel, Walter, 2005: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München.- - Elias, Norbert, 1969: Die höfische Gesellschaft, Darmstadt/ Neuwied.- - Roscher, Wilhelm, 1933: Naturgeschichte der Monarchie, Aristokratie, Demokratie, Leipzig, 57 ff.-- Saint Martin, Monique de, 2003: Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz.-- Simmel, Georg, 1908: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin, 545 ff.- - Walterskirchen, Gudula, 2010: Adel in Österreich heute. Der verborgene Stand, Innsbruck/ Wien. Gertraude Mikl-Horke <?page no="36"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 36 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 37 37 Armut und Reichtum Armut und Reichtum Armut (engl. poverty) und Reichtum (engl. wealth) sind extreme Erscheinungsformen sozialer Ungleichheiten, deren Bestimmung immer von normativen Wertungen abhängt. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Erscheinungen des Mangels oder des Überflusses als Armut bzw. Reichtum hängt dabei vom historischen, regionalen und sozialpolitischen Kontext ab. In modernen Gesellschaften ist der Begriff der Armut eng verbunden mit der Idee einer sozialstaatlich garantierten Mindestsicherung: Er verweist auf eine Schwelle, unterhalb derer Menschen nicht mehr in sozialer Würde leben können. Mit der Feststellung von Armut ist daher ein sozialpolitischer Handlungsimperativ verbunden: Armut ist zu bekämpfen. Wo jedoch diese Armutsschwelle liegt und wie sie abgeleitet werden kann, ist umstritten und bedarf grundsätzlicher normativer Entscheidungen. Von daher existiert eine Vielzahl an Armutskonzepten. Noch stärker hängt die Bestimmung von Reichtum von normativen bzw. konventionellen Abgrenzungen ab. Im Unterschied zu Armut provoziert die Feststellung der Existenz von Reichtum keinen unmittelbaren sozialpolitischen Handlungsbedarf: Reichtum ist nicht prinzipiell verwerflich. Offenbar beziehen sich Armut und Reichtum aber auf ein gemeinsames normatives Koordinatensystem der Bewertung (extremer) sozialer Ungleichheit. Armutsberichterstattung: Zwischen Sozialpolitik und Armutsforschung Eine zentrale Rolle für die Verbreitung von Armutskonzepten spielt die Armutsberichterstattung, d. h. das regelmäßige Monitoring der Entwicklung und Strukturen von Armut (vgl. BMAS 2001, 2005, 2008). Aufgrund des normativen Charakters von Armutskonzepten werden in Armutsberichten in der Regel verschiedene Armutskonzepte bzw. Armutsindikatoren zu Grunde gelegt und auf dieser Basis untersucht, wie sich Armut im Zeitverlauf entwickelt, wie Armutsrisiken bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verteilt sind oder nach Regionen und Ländern variieren. Während das Niveau der Armut stark vom verwendeten Armutskonzept abhängt, liefert der Vergleich über die Zeit oder zwischen Gruppen und Ländern belastbare Informationen, die etwa zur Bewertung sozialpolitischer Maßnahmen der Armutsbekämpfung genutzt werden können. Armutsberichte gibt es auf kommunaler, Länder- und nationaler Ebene sowie darüber hinaus auf suprastaatlicher (EU, OECD) und globaler Ebene (z. B. Weltbank). Die Armutsberichterstattung steht dabei im Schnitt- und Spannungsfeld zwischen einer sozialpolitisch eingebundenen Berichterstattung und der wissenschaftlichen Armutsforschung. Die wissenschaftliche Armutsforschung reicht in ihren Zielsetzungen und Erkenntnisinteressen über die Berichterstattung hinaus, indem sie sich intensiver mit den methodischen und theoretischen Aspekten der Armutsmessung beschäftigt und Armut im Kontext von ökonomischen und sozialen Ungleichheiten sowie gesellschaftlichen Entwicklungen analysiert. Armutskonzepte Viele Sozialstaaten verpflichten sich selbst dazu, ein »Existenzminimum« zu gewähren, das als eine politisch definierte Armutsschwelle interpretiert werden kann (zur Übersicht von Armutskonzepten vgl. Andreß 1999; Groh-Samberg 2008; Groh-Samberg/ Voges 2013). Dabei unterscheidet man zwischen Personen, die Mindestsicherungen beziehen (»bekämpfte Armut«) und Personen, die zwar Anspruch darauf haben, faktisch aber keine Leistungen beziehen (»verdeckte Armut«). Bei der Verwendung politisch definierter Armut tritt jedoch eine Paradoxie auf: So führte eine Herabsetzung der Bedürftigkeitsschwelle zu einer Reduktion der Armut, während umgekehrt eine Heraufsetzung von Mindeststandards eine wachsende Zahl von Armen mit sich bringt. Ebenso ist umstritten, inwiefern der Bezug von Mindestsicherungen, die ja die Bezieher/ innen über die politisch definierte Armutsschwelle heben sollen, als Armut zu bezeichnen ist (daher der Ausdruck »bekämpfte Armut«). Faktisch greift auch die Sozialpolitik bei der Bestimmung von Armut auf wissenschaftliche Verfahren zurück. Das traditionelle sozialpolitische Modell besteht in einer durch Experten vorgenommenen Festlegung von Mindestbedarfen an Ernährung, Kleidung, Obdach etc., die in entsprechende Warenkörbe umgesetzt und auf Basis gängiger Marktpreise in monetäre Armutsschwellen umgerechnet werden (sog. Warenkorbmodell). Der Schwellenwert zur Bestimmung von Armut kann reichen von der Festlegung eines physischen Exiswww.claudia-wild.de: <?page no="37"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 38 38 Armut und Reichtum tenzminimums bis hin zu einem darüber hinausgehenden »sozio-kulturellen Existenzminimum«, das am Wohlstandsniveau der Gesellschaft oder unterer Einkommensgruppen orientiert ist. Bei einem Schwellenwert, der die unmittelbare Bedrohung der physischen Existenz durch Hungern oder Erfrieren zum Kriterium erhebt, wird häufig von absoluter Armut gesprochen. Dahinter stand lange Zeit die Vorstellung, dass es ein zeit- und raumunabhängiges physiologisch bestimmbares Existenzminimum gibt; heute weiß man, dass dies unmöglich ist, da körperliche Mangelerscheinungen infolge von Armut in vielen graduellen Abstufungen vorkommen. Bei einem relativen Verständnis von Armut tritt die Relation zum Wohlstand aller Gesellschaftsmitglieder in den Vordergrund - Armut wird hier grundsätzlich als relativ zu konkreten Gesellschaften in historischer Zeit gedacht. Am bekanntesten und verbreitetsten ist das Konzept der relativen Einkommensarmut. Als arm gelten hier Personen, deren bedarfsgewichtetes verfügbares Einkommen unterhalb eines bestimmten Prozentanteils des Durchschnittseinkommens aller Personen liegt. Für die Festlegung einer relativen Einkommensarmutsgrenze gibt es kaum schlüssige theoretische oder inhaltliche Argumente, sondern nur politische Übereinkünfte. Nach den EU-Empfehlungen von Laeken 2001 wird ein Schwellenwert von 60 % des Median- Einkommens als Indikator für Armutsgefährdung verwendet. Einkommensarmutsschwellen lassen sich auch anhand repräsentativer Bevölkerungsumfragen zum notwendigen Mindesteinkommen bzw. zur Bewertung von Einkommenspositionen bestimmen (subjektive Einkommensarmut). Die Armutsgrenze wird an dem Punkt festgelegt, wo sich das tatsächliche Einkommen und die berichteten Mindesteinkommen entsprechen (in der Regel liegt sie für Alleinstehende über dem Wert von 60 % des Medianeinkommens). Einkommen und Lebenslage: Zur Definition von-Armut Einkommensbasierte Armutskonzepte sind nach wie vor am stärksten verbreitet, jedoch auch der Kritik ausgesetzt. So werden die tatsächlich verfügbaren monetären Ressourcen häufig nur unzureichend erfasst, weil etwa Vermögenswerte und Verschuldung meist ausgeblendet bleiben und auch die Messung von laufenden Einkommen nie fehlerfrei gelingt. Ungeachtet der dominanten Bedeutung monetärer Ressourcen lässt sich nicht umstandslos vom Einkommen auf den Lebensstandard schließen, weil eine Vielzahl vermittelnder Faktoren (soziale Netzwerke und Unterstützung, Eigenproduktion, Haushaltsausstattung, Sonderbedarfe aufgrund von Krankheiten und Behinderungen, Verwendungsweise der Ressourcen, Zeit) unberücksichtigt bleiben. Aus diesen Gründen wird statt von relativer Einkommensarmut vielmehr von Armutsgefährdung (at-risk-of-poverty) gesprochen. Nach einer (ursprünglich von Peter Townsend vorgeschlagenen) Definition des EU-Ministerrates sind diejenigen Personen als arm zu bezeichnen, »die über so geringe (materielle, soziale und kulturelle) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.« (BMAS 2001: XIV) Armut wird also verstanden als ein durch Ressourcenmangel (im Unterschied etwa zu Krankheit oder Lebensstilpräferenzen) verursachter Ausschluss vom minimalen Lebensstandard. Ressourcenmangel oder ein nicht mehr akzeptabler Lebensstandard allein erfüllen also noch nicht den Tatbestand der Armut: beides muss gleichzeitig vorliegen, und zwar als Kausalzusammenhang. Vor diesem Hintergrund werden ressourcenbasierte Armutskonzepte auch als indirekte Armutsmessungen bezeichnet. Der Deprivations- oder Lebensstandardansatz versucht demgegenüber, diese Armutsdefinition empirisch direkter umzusetzen. Anhand repräsentativer Umfragen, welche Güter oder Aktivitäten von der Bevölkerung als lebensnotwendig eingeschätzt werden, wird ein minimaler Lebensstandard direkt zu bestimmen versucht und gleichzeitig erfragt, ob sich die Befragten Elemente dieses Lebensstandards aus finanziellen Gründen nicht leisten können (vgl. Andreß 1999). Im Unterschied zum Lebensstandardansatz versucht der Lebenslagenansatz, die unterschiedlichen Lebenslagen - Einkommen, Konsum, Wohnen, Bildung, Gesundheit, Arbeit etc. - umfassender zu dokumentieren, also auch nicht finanziell bedingte Einschränkungen - z. B. Arbeitslosigkeit oder fehlende Bildungsabschlüsse - zu erfassen. Damit werden der Sozialpolitik einerseits konkretere Informationen über eventuelle Mangellagen bereitgestellt, wobei für die ausgewählten Lebenslagenbereiche jeweils Unterversorgungsschwellen definiert werden <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 38 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 39 39 Armut und Reichtum müssen. Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, diese vielfältigen Informationen in die eine Bestimmung von Armut vs. Nicht-Armut zu überführen. Armutsdynamik Eine tiefgreifende Wendung erfuhr die Beschäftigung mit Armut durch die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension, also der Dauer von Armutsepisoden und der individuellen Armutsgeschichten (vgl. Leibfried et al. 1995). Implizit denken wir bei Armut an ein dauerhaftes Phänomen: Ressourcenmangel wird erst dann zum Ausschluss von einer minimal akzeptablen Lebensweise und zu nachhaltigen Folgen für die Lebenschancen führen, wenn dieser Mangel von Dauer ist. Andererseits zeigt die empirische Längsschnittanalyse von Armut, dass Armutsepisoden häufig nur von kurzer Dauer sind (etwa weniger als ein Jahr). Häufig sind aber auch wiederholte und/ oder mehrjährige Armutsepisoden, wobei diese Haushalte auch in den Jahren der »Nicht-Armut« kaum über prekäre Lagen hinausgelangen. Damit wird bereits deutlich, dass der Einbezug der zeitlichen Dimension die Abgrenzung von Armut vs. Nicht-Armut noch einmal komplizierter macht, weil neben der »Stärke« (z. B. 40 %-Schwelle vs. 60 %-Schwelle) auch die Dauer bzw. das zeitliche Muster von Armut entscheidend ist. Die damit einhergehenden Herausforderungen sind in der Armutsberichterstattung noch nicht eingelöst worden. Die dynamische Betrachtungsweise hat vorrangig in der wissenschaftlichen Armutsforschung große Bedeutung erlangt. Sie ermöglicht etwa die genauere Analyse der Ursachen, die in Armut hineinführen, aber auch wieder aus der Armut herausführen können, und generell die Analyse von Mustern der Armutsbetroffenheit über den Lebenslauf hinweg. Armutsentwicklung und Armutsrisikogruppen Die Armutsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland weist einen langfristigen U-förmigen Verlauf auf: Nach einem steilen Absinken der Nachkriegsarmut durchlaufen die Armutsquoten in den 70er Jahren ihre Talsohle, um seit Ende der 1970er Jahre allmählich und relativ kontinuierlich - dabei dem stufenförmigen Anstieg der Arbeitslosigkeit folgend - wieder anzusteigen. Insbesondere seit der Jahrtausendwende hat sich dieser Trend deutlich beschleunigt: die Armut wächst in diesem Zeitraum in Deutschland schneller als in allen anderen OECD- Ländern. Dabei nehmen nicht nur die Armutsquoten zu, sondern auch die Dauer der Armutsepisoden. Die Armut verfestigt sich zunehmend (vgl. Groh-Samberg 2008). Nach wie vor ist das Armutsrisiko sozialstrukturell ungleich verteilt, mit besonders hohen Armutsrisiken bei Personen aus den Arbeiterschichten, gering Qualifizierten, Alleinerziehenden, kinderreichen Familien und Personen mit Migrationshintergrund - entsprechend kumuliert das Armutsrisiko bei Überlappung dieser Merkmale. Besonders betroffen vom Anstieg der Armut sind Personen aus Ostdeutschland und mit Migrationshintergrund sowie Alleinerziehende. Ebenfalls zugenommen hat die Armut in Erwerbstätigkeit (working poor). Armut und soziale Ungleichheit Die wissenschaftliche Armutsforschung befasst sich nicht nur intensiver mit den theoretischen Grundlagen und methodischen Problemen verschiedener Armutskonzepte, sondern analysiert auch die Erscheinungsformen und Entwicklungen der Armut in einer breiteren sozialwissenschaftlichen Perspektive. Hier geht es etwa um die Bewältigungsstrategien und Erfahrungsweisen von Armut, um eine stadt- und ungleichheitssoziologische Verortung von Armut im Sinne einer sozialen Exklusion oder underclass, um Fragen der sozialen Spaltung und ihrer Gefährdung politischer Demokratie, um den Einbezug von Prekarität und Unsicherheit und um die langfristigen Folgen von Armut im Lebenslauf, etwa in Bezug auf Bildung oder Gesundheit, kurz: um die individuellen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen von Armut (vgl. Kronauer 2010). Reichtum Die Abgrenzung von Armut als einem untersten Bereich sozialer Ungleichheit, der soziapolitisch nicht tolerierbar und daher zu bekämpfen ist, steht unmittelbar im Kontext von sozialstaatlichen Institutionen der Sicherung eines minimalen Lebensstandards. Für die Abgrenzung von Reichtum am entgegengesetzten Ende der sozialen Ungleichheit findet sich dazu kein Pendant: es gibt keine Schwelle, ab der Reichtum nicht mehr »tolerierbar« ist, und keine sozialpolitische Institution, die eine solche Idee der Deckelung des Reichtums legitimieren <?page no="39"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 40 40 Ausbeutung könnte (abgesehen vielleicht von der Bemessungsgrundlage in der Sozialversicherung); und es fehlt auch ein Pendant zur »absoluten« Schwelle des Todes. Dass Reichtum trotzdem Eingang in die Armuts- und Reichtumsberichterstattung gehalten hat, lässt sich gleichwohl mit Verweis auf das sozialpolitische Motiv des sozialen Ausgleichs und der Reduktion (übermäßiger) sozialer Ungleichheit begründen. Diese Verallgemeinerung ist im Kontext relativer Armutskonzepte insofern methodisch konsequent, als dass eine Zunahme des Reichtums zu einer Erhöhung des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens führt (zumindest beim arithmetischen Mittel; nicht beim Median, wenn nur die obere Bevölkerungshälfte immer reicher wird! ) und in der Konsequenz auch die Armut zunimmt. Im Sinne von Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit macht es daher Sinn, Armut stets auch im Zusammenhang mit Reichtum zu betrachten. Die Bestimmung einer Reichtumsschwelle ist aus den genannten Gründen jedoch arbiträr. Es hat sich die schwache Konvention gebildet, diese bei dem Zwei- oder Dreifachen des Durchschnittseinkommens anzusetzen. Freilich bereitet auch die Messung von Reichtum erhebliche Probleme, insbesondere, weil hier das Vermögen eine ungleich dominantere Rolle spielt. Die verfügbaren Daten für Deutschland zeigen, dass nicht nur die Einkommensarmut, sondern auch der Einkommensreichtum in den letzten Jahren zugenommen hat. Auch die im Vergleich zum verfügbaren Einkommen ungleich größere Vermögenskonzentration hat zwischen 2002 und 2007 noch zugelegt (vgl. Frick et al. 2010). Literatur Andreß, Hans-Jürgen, 1999: Leben in Armut. Analysen der Verhaltensweisen armer Haushalte mit Umfragedaten, Opladen.- - Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn (2003: Zweiter Bericht; 2008: Dritter Bericht).-- Frick, Joachim R. et al., 2010: Die Verteilung der Vermögen in Deutschland. Empirische Analysen für Personen und Haushalte, Berlin.-- Groh-Samberg, Olaf, 2008: Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multidimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven, Wiesbaden.- - Groh- Samberg, Olaf; Voges; Wolfgang, 2013: Armut und soziale Ausgrenzung; in: Mau, Steffen; Schöneck, Nadine M. (Hg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 3. Aufl., Wiesbaden, 58-79.- - Kronauer, Martin, 2010: Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, 2. Aufl., Frankfurt a. M./ New York.-- Leibfried, Stephan et al, 1995: Zeit der Armut: Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt a. M. Olaf Groh-Samberg/ Wolfgang Voges Ausbeutung In der ursprünglichen, heute noch geläufigen Bedeutung meint Ausbeutung (engl. exploitation) die Extraktion von Bodenschätzen. Als Aneignung fremder, unbezahlter Arbeit hat Marx - im Anschluss an die klassische Politische Ökonomie (A. Smith; D. Ricardo) und den Frühsozialismus (R. Owen) - Ausbeutung ins Zentrum seiner Kapitalismusanalyse und Klassentheorie gerückt. Dort erscheint Ausbeutung als Bedingung der Kapitalverwertung und Ursache des Klassenantagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital. In der Entfremdung und Verelendung des Proletariats werden ihre Begleit- und Folgeerscheinungen gesehen. Alle Klassensysteme beruhen auf Ausbeutung, auf dem Transfer von unbezahlter Arbeit von der ausgebeuteten zur ausbeutenden Klasse. Die vorkapitalistischen Formen der Ausbeutung (Sklaverei; Leibeigenschaft) sind leichter durchschaubar als die kapitalistische Ausbeutung, weil jene auf außerökonomischem Zwang beruhen und die Gratisarbeit der Ausgebeuteten offensichtlich ist, diese jedoch durch die frei kontrahierte Lohnarbeit verschleiert wird: »Auf Basis des Lohnsystems erscheint auch die unbezahlte Arbeit als bezahlt« (MEW 16, 134). Das »Geheimnis des Arbeitslohns« sah Marx darin, dass in Wirklichkeit nur die notwendige Arbeit (d. h. das Äquivalent für die Reproduktionskosten der Arbeitskraft) entlohnt wird und die Mehrarbeit den Kapitalbesitzern als Mehrwert zufließt. Die Mehrwertrate (Verhältnis der Mehrarbeitszeit zur notwendigen Arbeitszeit) ist das Maß für die Ausbeutung. Der Marxsche Ausbeutungsbegriff wird gewöhnlich als Bestandteil der Arbeitswerttheorie angesehen, Roemer und Holländer haben indes gezeigt, dass Ausbeutung und Klassenantagonismus auch unabhängig von dieser Theorie begründet werden können, wobei Holländer die Marxsche Annahme in Frage stellt, dass Ausbeutung ausschließlich in der Produktionssphäre stattfinde. Ein ökonomisch-mathematischer Beweis für die Ausbeutung stammt von Morishima. <?page no="40"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 40 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 41 41 Auswahlverfahren Mit der Theorie vom »ungleichen Tausch« hat Emmanuel, im Anschluss an Lenins Imperialismustheorie, den Ausbeutungsbegriff auf das Verhältnis der Industrieländer zu den Entwicklungsländern der Dritten Welt übertragen. Auch Wallersteins Weltsystemtheorie (1974 ff.; 1984) basiert auf der Annahme eines systematischen Profittransfers von den Ländern der Peripherie in die des kapitalistischen Zentrums. Literatur Emmanuel, Arghiri, 1972: Unequal Exchange, London.- - Holländer, Heinz, 1982: Class Antagonism, Exploitation and the Labour Theory of Value; in: The Economic Journal 92, 868-885.- - Marx, Karl, 1962: Das Kapital, 1. Bd.; in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, Berlin.- - Ders., 1968: Lohn, Preis und Profit; in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 16, Berlin.- - Morishima, Michio, 1973: Marx’s Economics, Cambridge.-- Roemer, John E., 1982: A General Theory of Exploitation and Class, Cambridge (Mass.).-- Wallerstein, Immanuel, 1974(I), 1980(II), 1989(III): The Modern World System, Vols. I ff., New York.-- Ders., 1984: Der historische Kapitalismus, Berlin. Walther Müller-Jentsch Auswahlverfahren Auswahlverfahren in der quantitativen Forschung Die quantitativen Auswahlverfahren (engl. sampling strategies) sind Methoden, die im Rahmen des quantitativen Forschungsparadigmas dazu dienen, aus einer bestimmten Grundgesamtheit gezielt jene Elemente auszuwählen, die einer empirischen Analyse unterzogen werden sollen. Untersuchungsansätze, die dem quantitativen Paradigma folgen, zielen in der Regel darauf ab, Parameter einer Grundgesamtheit anhand von bei Stichproben ermittelten Parametern zu schätzen. So könnte es beispielsweise darum gehen, den vermutlichen Stimmenanteil zu schätzen, der auf eine bestimmte Partei bei einer Wahl entfallen wird. Da es kaum möglich ist, für diesen Zweck alle Elemente der Grundgesamtheit - in unserem Beispiel alle wahlberechtigten Bürger - zu befragen, werden in der quantitativen Forschung Auswahlverfahren eingesetzt. Mittels solcher Stichprobenverfahren wird eine bestimmte Anzahl an Personen ausgewählt, die dann empirisch untersucht werden. Aus den so ermittelten Ergebnissen erfolgt dann die Schlussfolgerung auf die Grundgesamtheit. Die Bedeutung quantitativer Auswahlverfahren Quantitative Auswahlverfahren besitzen in der empirischen Sozialforschung eine hohe Bedeutung: Erstens verursacht die Erhebung von empirischen Informationen Kosten. Mit steigendem Stichprobenumfang nehmen diese Kosten zu. Gelingt es, für die Bearbeitung eines Problems eine optimale Stichprobengröße zu bestimmen, so können entsprechend Kosten gespart werden. Zweitens erlauben es die quantitativen Auswahlverfahren, Vertrauensintervalle zu bestimmen. Die Erhebung von Stichproben liefert - im Unterschied zu Totalerhebungen - stets nur unsichere Ergebnisse. Ist für die Auswahl der Elemente der Stichprobe ein Zufallsverfahren eingesetzt worden, so lässt sich ermitteln, in welchem Intervall der in der Stichprobe ermittelte Wert mit welcher Wahrscheinlichkeit auch in der Grundgesamtheit angetroffen werden kann. Die Frage, ob z. B. eine Partei die Fünfprozenthürde erreichen wird, wenn sie in einer Umfrage einen bestimmten Wert erreicht hat, lässt sich über die Bestimmung des Vertrauensintervalls beantworten. In der sozialwissenschaftlichen Umfragepraxis hat sich eine ganz Reihe an Auswahlverfahren etabliert. Dabei handelt es sich um die Zufallsverfahren, bewussten Auswahlverfahren und willkürlichen Verfahren zur Auswahl der Untersuchungseinheiten. Zufallsauswahlen Allen Zufallsauswahlen ist gemeinsam, dass die Wahrscheinlichkeit angegeben werden kann, mit der ein Element der Grundgesamtheit in die Stichprobe gelangt. Diese Wahrscheinlichkeit muss größer als null sein. Bei einstufigen oder einfachen Zufallsverfahren erfolgt die Auswahl ähnlich wie mithilfe einer Urne oder einer Lostrommel. Hier wird aus der Gesamtheit aller Elemente zufällig die gewünschte Anzahl gezogen. Dafür ist in der Praxis ein Auswahlrahmen (engl. frame) erforderlich, in dem diese Elemente vollständig verzeichnet sind und der von der Forschung für diesen Zweck genutzt werden darf. Für zahlreiche Untersuchungsanliegen existiert ein solcher Auswahlrahmen jedoch nicht, weshalb nach <?page no="41"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 42 42 Auswahlverfahren anderen Strategien gesucht werden muss. In der Bundesrepublik haben sich mehrstufige, geschichtete und geklumpte Zufallsverfahren durchgesetzt, um Stichproben in der Allgemeinbevölkerung zu ziehen. Dazu werden in einem ersten Schritt Gemeinden gezogen. Hier existieren dann Melderegister, aus denen beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen eine Zufallsauswahl an zu befragenden Personen gezogen werden kann. Hier handelt es sich also um ein zweistufiges Verfahren. Der ADM hat für diesen Zweck ein dreistufiges Design entwickelt (vgl. ADM 1999). Auch für telefonische Befragungen wurden Vorgehensweisen für die Ziehung von Zufallsstichproben ausgearbeitet, da hier ebenfalls nicht auf einen geeigneten frame zurückgegriffen werden kann. Bekanntlich sind zahlreiche Telefonanschlüsse nicht mehr in Verzeichnissen gelistet. Deshalb werden zunächst aus den zur Verfügung stehenden Verzeichnissen alle gelisteten Rufnummern heruntergeladen. Danach werden systematisch in bestimmten Abschnitten Nummernfolgen ergänzt und daraus dann zufällig die für die Stichproben zu verwendenden Nummern gezogen. Zu Einzelheiten bei dieser Vorgehensweise vgl. Gabler/ Häder (1997, 2002) und Häder et al. (2012). Bewusste und willkürliche Auswahlen Eine andere Klasse an Auswahlverfahren sind die bewussten Auswahlen, bei denen nicht zufällig, sondern bewusst ermittelt wird, wer in die Stichprobe gelangt. Gegenüber den Zufallsauswahlen kann hier eine Wahrscheinlichkeit, mit der ein Element in die Stichprobe gelangt, nicht angegeben werden. Insbesondere Quotenverfahren werden genutzt, um eine solche Auswahl vorzunehmen. Dazu werden den Interviewern bestimmte Merkmale der zu befragenden Personen vorgegeben. Diese werden als Quoten bezeichnet. Die Zusammenstellung der Quoten erfolgt nach Merkmalen wie der Ortsgröße, dem Geschlecht, dem Alter und der Tätigkeit der zu befragenden Person. Im Weiteren steht es den Interviewern frei, welche Personen sie für die Befragung aussuchen. Im Ergebnis erhält man eine Stichprobe, die in den genannten Kriterien die Struktur der Grundgesamtheit abbildet. Andere Verfahren, die zu einer bewussten Auswahl führen, suchen bspw. nach typischen Beispielen für eine konkrete Ausprägung von Merkmalen oder nach kontrastierenden Beispielen, um die bisherigen Erkenntnisse gezielt mittels weiterer Informationen zu ergänzen. Schließlich kommen auch willkürliche Auswahlen zum Einsatz. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Stichprobenelemente unkontrolliert rekrutieren, dass also die Auswahl nicht - wie bisher beschrieben - bestimmten Regeln folgt. Diese preisgünstige Strategie hat sich als gangbare Möglichkeit erwiesen, wenn es darum geht, bestimmte Modelle zu testen. Auch in der psychologischen Forschung sowie im Rahmen von Pretests hat ein solches Vorgehen Bedeutung. Auswahlverfahren in der qualitativen Forschung Auch in der qualitativen Forschung ist zu überlegen, welche Fälle man für eine Untersuchung auswählt. Wenngleich das Thema in der Methodenliteratur lange wenig Aufmerksamkeit erfuhr, so bezweckt die qualitative Forschung ebenfalls, Aussagen über die untersuchten Fälle hinaus zu treffen (und nicht etwa, einen Sachverhalt anhand beliebiger Fälle zu illustrieren). Verallgemeinerungen erfolgen hier allerdings nicht, wie in der quantitativen Forschung üblich, auf dem Weg der statistischen Repräsentativität einer möglichst großen Stichprobe für die Grundgesamtheit einer Population, sondern mit Hilfe anderer Verfahren (z. B. einer Typenbildung) und oft mit einem Schwerpunkt auf Theorieentwicklung. Für die Auswahl von Fällen heißt dies, dass das Sampling ein Abbild der theoretisch relevanten Kategorien widerspiegelt. Es sind verschiedene Verfahren des Samplings zu unterscheiden, die auch kombinierbar sind: In einer Einzelfallstudie wird ein bestimmter Fall untersucht (eine Person, Organisation, eine Situation etc.), wobei unterstellt wird, dass allgemeine Strukturen in dem Fall zum Ausdruck kommen (z. B. die Kulturhauptstadt Europas als ein Beispiel für ein ›Mega-Event‹ bei Hitzler et al. 2013). Teilweise dient eine Einzelfallstudie als (eigenständige) Exploration vor weiteren empirischen Forschungen zum Thema. Andere qualitative Auswahlverfahren zielen darauf, Fälle einzubeziehen, die die Bandbreite der für das Thema relevanten Kategorien spiegeln. Insbesondere gehört dazu das von B. Glaser und A. Strauss im Rahmen der Grounded Theory entwickelte Theoretische Sampling. Die Fälle werden hier nach und nach <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 42 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 43 43 Autorität im Laufe der Untersuchung bestimmt: Nach einer recht offenen Auswahl erster Fälle werden Hypothesen über relevante Kategorien bzw. Konzepte aufgestellt und auf dieser analytischen Basis mittels minimaler und maximaler Kontrastierung weitere Fälle ausgewählt. In einer Studie von Glaser/ Strauss über die Interaktion mit Sterbenden stellte sich etwa als relevante Kategorie heraus, in welchem Maße sich der Sterbende seines Zustands bewusst war. Der Prozess der Datenerhebung wird somit durch die sich entwickelnde Theorie kontrolliert. Die minimale Kontrastierung richtet sich auf ähnliche Fälle (mit der Frage, ob sie die Relevanz der Kategorien und Zusammenhänge bestätigen), die maximale Kontrastierung lotet die Varianz im Untersuchungsfeld aus, bis durch neue Fälle keine neuen Erkenntnisse mehr erzielt werden können. Man spricht hierbei von theoretischer Sättigung. Um diese Sättigung zu erreichen, wird unter anderem das Schneeballverfahren angewendet, wobei Akteure im Feld, z. B. Interviewpartnerinnen, auf andere Akteure verweisen und ggf. einen Kontakt zu ihnen herstellen. Ein anderer Weg, die Bandbreite eines Untersuchungsfeldes abzustecken, ist das selektive Sampling. Es handelt sich um eine Fallauswahl nach zuvor festgelegten Kriterien. Dies kann bspw. im Rahmen eines Mixed-Methods-Designs geschehen, wenn Befunde aus quantitativen Studien näher auf zugrunde liegende Mechanismen untersucht werden sollen und dann z. B. Teilgruppen in den Blick genommen werden (z. B. zum Thema Studienverläufe Absolvent/ innen, die ihr Studium besonders schnell abgeschlossen haben). Teilweise liegen auch vor der Datenerhebung Arbeitshypothesen über strukturell bedeutsame Einflussfaktoren vor, so dass ein Stichprobenplan mit einer Kombination der Ausprägungen dieser Merkmale erstellt wird (z. B. könnte festgelegt werden, aus mehreren Wirtschaftsbranchen jeweils Frauen und Männer zu befragen). Auch dieses Verfahren - das nicht zuletzt oft forschungspraktischen Erwägungen folgt - strebt die Berücksichtigung theoretisch bedeutsamer Merkmalskombinationen an und stellt nicht das Abbild einer Häufigkeitsverteilung dar. Literatur ADM, Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e. V. (Hg.), 1999: Stichproben-Verfahren in der Umfrageforschung. Eine Darstellung für die Praxis, Opladen.- - Gabler, Siegfried; Häder, Sabine, 1997: Überlegungen zu einem Stichprobendesign für Telefonumfragen in Deutschland; in: ZUMA-Nachrichten 41, 7-18.-- Dies. (Hg.), 2002: Telefonstichproben, Münster u. a.-- Häder, Sabine et al., 2012: Telephone Surveys in Europe, Research and Practice, Berlin/ Heidelberg.- - Hitzler, Ronald et al., 2013: Mega-Event-Macher. Zum Management multipler Divergenzen am Beispiel der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010, Wiesbaden.-- Kelle, Udo; Susann Kluge, 1999: Vom Einzelfall zum Typus, Opladen, Kap. 3.-- Kromrey, Helmut, 2009: Empirische Sozialforschung, 12. Aufl., Stuttgart, 251-295.- - Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika, 2008: Qualitative Sozialforschung, München, Kap. 4.- - Strauss, Anselm; Corbin, Juliet, 1996: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim, Kap. 11. Michael Häder/ Nicole Burzan Autorität Herkunft und Bedeutung des Begriffs Der Begriff Autorität (engl. authority) leitet sich aus dem lateinischen auctoritas ab, das für eine charismatische Macht stand, die den im Staat maßgeblichen Persönlichkeiten zugeschrieben wurde. Der Schlüsselsatz zum Verständnis des Begriffes findet sich im Tatenbericht des ersten römischen Kaisers Augustus, der im Jahr 27 v. Chr. seine vorher gewaltsam erworbenen Machtbefugnisse feierlich an die (allerdings politisch gleichgeschalteten) legitimen Verfassungsorgane zurückgab und seitdem formal als Privatmann lebte, faktisch jedoch auch weiterhin unangefochten über das Reich herrschte. Er schrieb: »Seit jener Zeit (nämlich seit der Rückgabe der Ämter) überragte ich alle an auctoritas, an Amtsgewalt aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte« (Augustus 1975, Abschnitt 34). Auctoritas steht für eine informelle, auf Ansehen, Würde und Respekt gegründete Machtposition und ist damit streng zu trennen von potestas, der formellen Amtsgewalt. Diese Bedeutung bildet auch heute noch den Kern des Begriffes »Autorität«. Der Pädagoge Winfried Böhm drückt es so aus: »Autorität ist streng zu unterscheiden von Macht und Gewalt. Während diese die faktische Möglichkeit bezeichnen, anderen zu befehlen und sie zu einem bestimmten Handeln und Verhalten zu zwingen, setzt jene grundsätzlich die freie Zustimmung dessen voraus, über den Autorität ausgeübt wird (…). Autorität meint also die <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 44 44 Autorität anerkannte Fähigkeit einer Person, einer Gesellschaft oder Einrichtung, auf andere einzuwirken, um sie einem bestimmten Ziel näherzubringen« (Böhm 1994, 60). Autorität und Autoritarismus Allerdings wird im Alltagsverständnis und auch in manchen wissenschaftlichen Diskussionen die logische Trennung zwischen Autorität und auf Gewalt gegründete Machtausübung nicht immer vollständig vollzogen. Die klare Unterscheidung zwischen authority und authoritarianism, wie sie im Englischen üblich ist, hat sich im Deutschen nicht gänzlich durchgesetzt. Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang vermutlich die berühmte Studie »The Authoritarian Personality« von Theodor W. Adorno und Mitarbeitern aus dem Jahr 1950 (Adorno 1967), die den Begriff des Autoritären prominent in der intellektuellen Debatte platzierte. Dieses Stichwort wurde in den folgenden Jahrzehnten in verschiedener Form aufgegriffen - etwa als »antiautoritäre Erziehung« - und dabei oft mit der Forderung verbunden, traditionelle Autoritäten in Frage zu stellen. Die dadurch entstandene Vermischung der Begriffe klingt im heutigen Wortverständnis nach. In Repräsentativumfragen zeigt sich, dass das Stichwort »Autorität« bei Teilen der Bevölkerung auch Assoziationen wie »Machtmissbrauch« oder »Gewalt« weckt, die eigentlich eher dem Begriff des Autoritären zuzuordnen wären (Petersen 2011, 23). Quellen der Autorität Autorität wird von der Bevölkerung überwiegend als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, sie ist aber zu einem gewissen Grad auch an Ämter und gesellschaftliche Positionen gebunden. Autorität ist deswegen nicht mit bloßer Gefolgschaft aufgrund von Vertrauen zu verwechseln, auch wenn beides miteinander verknüpft ist. Fragt man die Bevölkerung, welchen Personengruppen sie vertraut, und zum Vergleich, welche Personengruppen Autorität besitzen, erhält man unterschiedliche Ranglisten. Vertrauen wird beispielsweise Ärzten entgegengebracht, Nichtregierungsorganisationen oder Vereinen. Autorität besitzen aus Sicht der Bevölkerung beispielsweise die Polizei, Gerichte, aber auch Lehrer und Professoren (Petersen 2011, 65). Zur Bereitschaft, die Autorität einer Person anzuerkennen, gehört damit auch der Respekt vor deren gesellschaftlicher Position. Gesellschaftliche Bewertung von Autorität Autorität wird - trotz der beschriebenen Begriffsvermischung mit dem Stichwort des Autoritären - von der deutschen Bevölkerung überwiegend als etwas Notwendiges angesehen. Die positiven Assoziationen überwiegen deutlich die negativen. Auf die Frage »Glauben Sie, dass man in einer Gesellschaft Autoritätspersonen braucht, oder meinen Sie das nicht? « antworteten in einer Repräsentativumfrage vom Herbst des Jahres 2010 79 %: »Man braucht sie« (Petersen 2011, 34). Literatur Adorno, Theodor W., 1967: The Authoritarian Personality, 2 Bde, 3. Aufl., New York.-- Augustus, 1975: Res Gestae Tatenbericht (Monumentum Ancyranum). Lat.-griech. u. deutsch. Übers. u. hg. v. Marion Giebel, Stuttgart.-- Böhm, Winfried, 1994: Wörterbuch der Pädagogik, 14. Aufl., Stuttgart.- - Petersen, Thomas, 2011: Autorität in Deutschland. Bad Homburg. Thomas Petersen <?page no="44"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 44 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 45 45 Befragung B Bedürfnis Ein Bedürfnis (engl. need) ist zunächst das Gefühl eines Menschen, einen Mangel zu haben, und der Wunsch, diesen Mangel zu beheben. Das ist ein psychologischer Bedürfnisbegriff. Zum soziologischen wird er, wenn der Mangel von den Menschen in einer sozialen Gruppierung, z. B. einer Schicht oder einer Berufs- oder Altersgruppe, empfunden wird und die Behebung auf gesellschaftliche Weise stattfinden soll oder muss, z. B. durch Gesetzgebung oder Subvention. Ein soziologischer Bedürfnisbegriff könnte also lauten: Ein Bedürfnis ist ein sozialer Katalysator, bei dem die Menschen in einer sozialen Gruppierung einen Mangel empfinden und den Wunsch haben, den Mangel auf gesellschaftliche Weise zu beheben. Daneben gibt es noch andere Bedürfnisbegriffe, z. B. wirtschaftswissenschaftliche oder medizinische. Als sozialer Katalysator steuern Bedürfnisse das Handeln des Menschen. Beispielsweise wird ein Machthungriger für eine Wahl in eine Machtposition kandidieren, oder eine freiheitliche soziale Bewegung wird den Aufstand gegen einen Diktator wagen. Eine frühe, in der Forschung oft benutzte Theorie, die Theorie der Bedürfnispyramide von Abraham Maslow, teilt die Bedürfnisse in fünf Gruppen ein: 1) physiologische Bedürfnisse (Unterkunft, Schlaf, Nahrung), 2) Sicherheit (Ordnung des täglichen Lebens), 3) Zugehörigkeit zu anderen Menschen, 4) Selbstachtung und soziale Anerkennung, 5) Selbstverwirklichung (die Reihe wurde 1970 noch erweitert; in den Sozialwissenschaften wurde bisher aber meistens das ursprüngliche Fünferschema verwendet). Diese Theorie nimmt an, dass jedes Bedürfnis erst dann auftauche bzw. verwirklicht werde, wenn die jeweils vorherigen im Wesentlichen erfüllt sind. Empirisch ist diese Theorie manchmal bestätigt worden, manchmal nicht. Gleiches zeigten Untersuchungen zur Theorie von Ronald lnglehart, dass jedenfalls in entwickelten lndustriegesellschaften die zuvor herrschenden materiellen Bedürfnisse zunehmend von Immateriellen abgelöst würden. Eine andere Unterscheidung trennt primäre (naturgegebene, z. B. Triebe, lnstinkte) von sekundären (gelernten) Bedürfnissen. Das führt zu der Frage, ob Bedürfnisse auch"geweckt« werden können, etwa durch Werbung oder soziale Vorbilder. Beispiele (etwa Hula-Hoop oder Tamagotchi) zeigen bisher, dass das nur vorübergehend möglich ist. Anders ist es bei neuen Mitteln zur Befriedigung eines alten Bedürfnisses (z. B. neue Kommunikationsmittel). Politisch-praktisch wirksam wurde der Begriff der Grundbedürfnisse in der 2. Hälfte des 19. Jhs. Formuliert wurde er 1976 vom lnternationalen Arbeitsamt (ILO) in Genf. Dabei wurden private Konsumbedürfnisse (Unterkunft, Nahrung, Kleidung usw.) von sozialer lnfrastruktur (sauberes Trinkwasser, Abwasser- und Müllentsorgung, Gesundheitsdienst, öff. Verkehrsmittel, Ausbildung) unterschieden. Dieses Konzept sollte die Primärziele für nationale und internationale Entwicklungsmaßnahmen bestimmen helfen. Als empirisch gesichert kann gelten, dass die Bedürfnisse sich nach Zahl und Rang von einer Kultur zur anderen unterscheiden, dass aber auch innerhalb einer Kultur sich Subkulturen in ihren Bedürfnissen unterscheiden (z. B. zwischen Künstlern und lnvestmentbankern oder zwischen Jugendlichen und Rentnern). Damit sind Bedürfnisse großenteils die dynamische Seite der Wertordnung. Literatur Hondrich, Karl Otto; Vollmer, Randolph (Hg), 1983: Bedürfnisse im Wandel, Wiesbaden.- - lnglehart, Ronald F., 1977: The Silent Revolution, Princeton (dt. 1982).-- Maslow, Abraham H., 1954: Motivation and Personality, New York (dt. 1977/ 1981).-- UNESCO, 1978: Study in Depth on the Concept of Basic Human Needs in Relation to Various Ways of Life and its Possible lmplications for the Action of the Organization, Paris. Günter Endruweit Befragung Die Befragung (engl. interview) ist ein Datenerhebungsinstrument der empirischen Forschung neben der Beobachtung und der Inhaltsanalyse. Sie wird in der quantitativen Forschung in (teil-)standardisierter Form, in der qualitativen Forschung in nicht standardisierter Form angewandt. <?page no="45"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 46 46 Befragung Standardisierte Befragungen in-der-quantitativen Forschung In der quantitativen Forschung galt die Befragung lange als Königsweg der Datenbeschaffung und wird nach wie vor am häufigsten verwendet. Insbesondere bei der Untersuchung von Einstellungen ist sie oft das Instrument der Wahl. Große Längsschnittbefragungen in Deutschland, die mehrere Themen abdecken, sind z. B. der Mikrozensus, die Allgemeine Bevölkerungsumfrage (ALLBUS) und das Sozioökonomische Panel (SOEP). Meist handelt es sich um Einzel- (nicht Gruppen-)Befragungen möglichst vieler Personen. Standardisierung bedeutet, dass der Wortlaut der Fragen und der Antwortmöglichkeiten sowie die Reihenfolge feststehen (die zutreffende Antwort wird angekreuzt). Dies fördert die Vergleichbarkeit der Daten und mindert zudem den Aufwand für die Befragten und für den auswertenden Forscher. Formen der standardisierten Befragung • persönlich-mündlich • telefonisch • schriftlich (Papierform/ Online) Befragungen können persönlich-mündlich, telefonisch oder schriftlich (in Papierform oder als Online-Befragung) durchgeführt werden; oft erfolgt die Befragung dabei computerunterstützt (z. B. werden die Antworten direkt in den Computer eingegeben, was späteren Übertragungsfehlern vorbeugt und die Filterführung vereinfacht). Jede Form hat Vor- und Nachteile, der Forscher entscheidet je nach Fragestellung und Praktikabilität. So ist bei der persönlich-mündlichen Befragung die Ausschöpfung relativ groß, bei hoher Situationskontrolle sind auch längere Interviews möglich. Dem stehen eine mögliche Verzerrung durch den Interviewereinfluss (ggf. antwortet die ältere Frau einer anderen älteren Frau anders als einem jungen Mann) sowie ein vergleichsweise hoher Kosten- und Zeitaufwand gegenüber. Bei der schriftlichen Befragung entfällt der Interviewereinfluss, der Anonymitätsgrad steigt, die Kosten sind geringer. Jedoch fehlt auch die Situationskontrolle (z. B. Kontrolle der Anwesenheit anderer und der Ernsthaftigkeit der Antworten), und die Fragebögen müssen in noch höherem Maße selbsterklärend sein. Das größte Problem der schriftlichen Befragung ist die geringe Ausschöpfung (insbesondere in Papierform), selbst nach Erinnerungsschreiben. In der Online-Variante, in der die Befragten nicht persönlich angeschrieben werden, sondern einem Link zum Fragebogen auf einer Internetseite folgen, ist oft unklar, von welcher Grundgesamtheit der Forscher ausgehen kann, so dass die Repräsentativität der Befunde in Frage steht. Die Beurteilung der telefonischen Befragung liegt zum Teil in der Mitte, z. B. Aufwand und Kosten, die Ausschöpfung oder auch den Interviewereinfluss betreffend (der Befragte hört, aber sieht den Interviewer nicht). Zu beachten ist, dass visuelle Unterstützungen hier nicht ohne weiteres einsetzbar sind, z. B. Karten bei langen Listen von Antwortmöglichkeiten. Der Anteil der telefonischen sowie der Online-Befragungen hat im Zeitverlauf zugenommen, die Sozialforschung konkurriert hier mit der Marktforschung um Zielgruppen. Verzerrungsgefahren Verzerrungsquellen in der standardisierten Befragung: • Befragungssituation • Befragtenmerkmale • Fragebogen: Formulierungen, Reihenfolge, Gestaltung Neben Verzerrungsgefahren (die die Gütekriterien Zuverlässigkeit und Gültigkeit beeinträchtigen), die von der Befragungssituation ausgehen, gibt es auch solche, die sich entweder auf Merkmale des Befragten oder auf den Fragebogen beziehen. Zu den Befragtenmerkmalen, die die »richtige« Antwort gefährden, gehören etwa die Tendenz zu sozialer Erwünschtheit (man neigt z. B. dazu, eher zu wenig als zu viel Zeit für Fernsehen anzugeben) oder zu Response-Sets, also Antworttendenzen, die unabhängig vom Inhalt der Frage sind (z. B. in Einstellungsskalen keine Extremkategorien ankreuzen). Solche Reaktionen sind eng verknüpft mit den Formulierungen und ihrer Reihenfolge im Fragebogen sowie ggf. dessen visueller Gestaltung. Ziel ist, dass die Fragen und Antwortmöglichkeiten von allen Befragten in gleicher Weise verstanden werden. Es ist z. B. zu beachten, dass die Formulierungen einfach und eindeutig sein sollten (was in der Umsetzung nicht so banal ist, wie es sich anhört), dass sie Unterstellungen und soziale Erwünschtheit verwww.claudia-wild.de: <?page no="46"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 46 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 47 47 Befragung meiden (z. B. wäre die Formulierung: »Glauben Sie noch an …« zu vermeiden). Reihenfolgeeffekte sind in Tests nachgewiesen worden sowohl für einzelne Fragen (und Antwortkategorien) als auch für die gesamte Anlage des Fragebogens (sind die Eingangsfragen z. B. interessant und leicht zu beantworten? ). Richtet sich die Befragung an eine bestimmte Zielgruppe, sind zudem deren Spezifika zu berücksichtigen, wenn z. B. Kinder, Menschen mittleren Alters oder Ältere befragt werden. Besondere Anforderungen stellen Längsschnittuntersuchungen (haben z. B. Fragen nach dem Geschmack nach zehn Jahren noch die gleiche Bedeutung? ) und internationale Vergleichsstudien (die sorgfältige Übersetzungen erfordern). Ein Pretest mit wenigen Befragten kann Verzerrungen durch den Fragebogen teilweise erkennen, ein »perfekter« Fragebogen ist jedoch kaum realistisch. Die Methodenforschung untersucht kontinuierlich Verzerrungsgefahren und Möglichkeiten ihrer Vermeidung. Schließlich ist darauf aufmerksam zu machen, dass eine Untersuchung nicht mit der Fragebogenerstellung beginnen darf. Ein systematischer Bezug zu Hypothesen und ihrer Operationalisierung ist notwendig, um die Forschungsfrage nicht aus dem Auge zu verlieren und um in der Auswertungsphase keinen statistischen Datenfriedhof zu erzeugen. Nicht standardisierte Befragungen in-der-qualitativen Forschung Für Befragungen in der qualitativen Forschung hat sich die englische Bezeichnung Interviews durchgesetzt. Qualitative Interviews werden zumeist einmalig, mit einem Interviewpartner und face-to-face durchgeführt, d. h. Interviewer/ in und Befragte/ r begegnen sich persönlich und führen ein Gespräch. Davon wird eine Tonaufnahme, manchmal auch eine Bild- und Tonaufnahme angefertigt, die wortgetreu, teilweise auch parasprachliche Äußerungen berücksichtigend, verschriftet und dann ausgewertet wird. Die Dauer von Interviews variiert stark, vor allem wegen der unterschiedlichen Erzählbereitschaft von Befragten; 60 bis 90 Minuten sind eine gängige Länge. Als Erhebungsinstrument ist das qualitative Interview - im Gegensatz zur quantitativen Befragung - alltäglichen Gesprächssituationen nachmodelliert und macht sich deren grundlegende Eigenschaften, wie z. B. die Orientierung am Kenntnisstand und am Informationsinteresse des Gegenübers, zunutze. Der/ die Befragte kann in qualitativen Interviews auf die offen gestellten Fragen frei formulierend und ausführlich antworten, kann Themen nach eigenem Ermessen ansteuern und verknüpfen, kann auch Fragen an die Interviewerin richten und über die gestellten Fragen selbst sprechen. Das Gesprächsverhalten des Interviewers hingegen ist im Gegensatz zu alltäglichen Gesprächen sehr auf das möglichst offene, möglichst wenig steuernde Fragenstellen hin vereinseitigt, um die Einflussnahme auf die Darstellung des Befragten zu minimieren. Diese Erhebungsform setzt zwei zentrale Anforderungen einer qualitativen Sozialforschung um: »Offenheit« - was bedeutet, dass zuerst die Bedeutungsstrukturierung des Befragten möglichst vollständig erhoben und rekonstruiert wird, bevor dann eine theoretische Strukturierung in wissenschaftlicher Perspektive erfolgt - und »Kommunikation« - was bedeutet, dass zur Erhebung von bedeutungsstrukturierten Daten eine Kommunikationsbeziehung eingegangen werden muss, die den Kommunikationsregeln des Interviewpartners und nicht denen der wissenschaftlichen Forschung folgt (Hoffmann-Riem 1980, 343 f. und 346 f.). Formen qualitativer Interviews Die meistverwendeten Formen qualitativer Interviews: • Leitfadeninterview bzw. leitfadengestütztes Interview • Narratives Interview • Experteninterview Die verschiedenen Formen qualitativer Interviews können nach der Interviewführung, nach ihrem Gegenstand und teilweise auch nach bestimmten, dem Befragten zugeschriebenen Merkmalen unterschieden werden: Beim Leitfadeninterview handelt es sich um eine Interviewführung, die tendenziell stärker durch den Interviewer strukturiert wird. Er agiert anhand eines vorab entworfenen Fragenleitfadens, soll sich dabei allerdings an den Themensetzungen und -verknüpfungen des Befragten orientieren und den Leitfaden flexibel einsetzen. Inhalt sind hierbei sowohl Fragen nach Handlungen und Erleben als auch zu Einstellungen und Deutungen. Zu beachten ist, dass die Forschungsfragen nicht umwww.claudia-wild.de: <?page no="47"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 48 48 Beobachtung standslos in Leitfadenfragen umgesetzt werden können und dass die Fragen in alltagssprachlichen und nicht in wissenschaftlichen Begriffen formuliert sein müssen (also nicht: »Wann fällt Ihnen Ihr Doing Gender auf? « »In welchen Situationen ist Ihnen Ihr Habitus hinderlich? « »Welche Rolle spielt Bildungspanik bei Ihren Entscheidungen? «). Das narrative Interview ist eine Interviewform, in der die Befragte auf eine initiale Frage ohne Unterbrechungen antworten und das von ihr Erlebte vollständig ausformulieren kann. Gegenstand ist ein vergangener oder bis heute andauernder Handlungsprozess, an dem die Befragte selbst beteiligt war; am häufigsten werden narrative Interviews zur Erhebung von Biographien eingesetzt. Bei Experteninterviews handelt es sich zumeist um Leitfadeninterviews, bei denen dem Befragten ein besonderer Status zugeschrieben wird, nämlich Träger von »Expertenwissen« zu sein. Darunter wird meist Wissen über institutionalisierte Interaktionsbeziehungen oder über dritte Akteure verstanden (z. B. Richter, die über die Interaktion zwischen Strafverteidigern und Staatsanwälten und deren Einflüsse auf die Urteilsfindung befragt werden). Auswertung qualitativer Interviews Die so erhobenen Daten zeichnen sich durch eine geringe formale Vergleichbarkeit aus; dies erfordert eine kaum standardisierbare Auswertung der einzelnen Interviews. Die Auswertung beginnt mit einer Analyse des Interaktionsgeschehens, insbesondere beim Interviewbeginn, mit besonderem Augenmerk auf die Selbstdarstellung des Befragten. Nach einer Sequenzierung in Sinneinheiten bzw. einem Nachzeichnen des thematischen Verlaufs bei Leitfadeninterviews bewegt sich die Analyse am Textverlauf entlang. Es werden hierbei nicht allein die oberflächlichen Aussagen extrahiert (»hat sich für Karriere entschieden«, »ist mobil«, »hat aus Liebe geheiratet«), sondern anhand einer Analyse der formalen, sprachlichen und thematischen Besonderheiten werden die prägenden Deutungs- und Wahrnehmungsstrukturen und Handlungsverläufe des erhobenen Falls rekonstruiert; gerade auch im Widerspruch zur Selbstpräsentation. Wie bei quantitativen Befragungen gibt es auch in qualitativen Interviews Antworttendenzen, die sich an der sozialen Erwünschtheit orientieren; im Gegensatz zur quantitativen Erhebung erhält man jedoch in einem gelungenen qualitativen Interview ausreichend viele Kontextinformationen, um widersprüchliche Aussagen und die Handlungswirksamkeit von postulierten Einstellungen erkennen zu können. Dies verweist aber darauf, dass ein Interview vollständig, also als Fall, interpretiert werden muss. Das - bisweilen praktizierte - Herauspicken von einzelnen Passagen reicht von der Auswertungstiefe her nicht aus. Für das narrative Interview wurden unterschiedliche narrationsanalytische Auswertungsverfahren entwickelt. Grundsätzlich finden bei der Interviewanalyse die eingeführten qualitativen Auswertungsverfahren wie z. B. die Objektive Hermeneutik oder die Dokumentarische Methode der Interpretation Anwendung. Literatur Zur standardisierten Befragung: Diekmann, Andreas, 2007: Empirische Sozialforschung, 4. Aufl., Reinbek.- - Beiträge in der Zeitschrift »Methoden-Daten-Analysen. Zeitschrift für empirische Sozialforschung«, ab 2007 (s. a. die Publikationen unter www.gesis.org). Zu qualitativen Interviews: Bogner, Alexander et al. (Hg.), 2009: Experteninterviews, 3. Aufl., Wiesbaden-- Hoffmann- Riem, Christa, 1980: Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie- - der Datengewinn; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, 339-372.- - Küsters, Ivonne, 2009: Narrative Interviews, 2. Aufl., Wiesbaden.- - Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika, 2009: Qualitative Sozialforschung, 2. Aufl., München, 91-159. Nicole Burzan/ Ivonne Küsters Beobachtung Die Beobachtung (engl. observation) ist Grundlage empirischer Forschung, da wissenschaftliche Erkenntnisprozesse allgemein auf sinnlichen Erfahrungen der Wahrnehmung und Beobachtung beruhen (Bortz/ Döring, Kap. 4). Im engeren Sinne ist die Beobachtung eine empirische Methode der Untersuchung von Verhalten in den Human- und Sozialwissenschaften. Im Vergleich zu sprachbasierten Verfahren (z. B. Befragung) wird bei Methoden der Beobachtung eher der Anspruch betont, dass sie einen unmittelbaren, weitgehend unverfälschten Zugang zu menschlichem Verhalten liefern. In der experimentell orientierten Psychologie liegt dabei ein Schwerpunkt auf der Beobachtung unter standardisierten Bedingungen, um eine größtmögliche Konwww.claudia-wild.de: <?page no="48"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 48 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 49 49 Beobachtung trolle von Störvariablen zu gewährleisten. Da aus soziologischer Perspektive die Beobachtung eine geeignete methodische Zugangsweise zur Prüfung theoretischer Fragen hinsichtlich der Herstellung sozialer Wirklichkeit in alltäglichen Interaktionen ist, steht die Beobachtung in natürlichen Verhaltenskontexten im Mittelpunkt (z. B. teilnehmende Beobachtung). Zur ergänzenden Dokumentation werden hierzu auch visuelle Medien (Foto, Video) herangezogen, die z. B. mittels Bildanalyse untersucht werden (Flick, Kap. 17-21). Beobachtung ist ein Sammelbegriff für eine Reihe teilweise sehr unterschiedlicher Datenerhebungstechniken (z. B. Beobachtung sprachlichen und nicht-sprachlichen Verhaltens, Beobachtung kultureller Zeichen wie Kleidung). Davon abhängig variieren das methodische Vorgehen und damit einhergehende Probleme der Reaktivität (vgl. nicht-reaktive Verfahren). Formen der Verhaltensbeobachtung In Abgrenzung zur Alltagsbeobachtung bezieht sich systematische Beobachtung auf spezifische Fragestellungen und erfolgt daher zielgerichtet und geplant. Dies beinhaltet eine systematische Aufzeichnung der Daten sowie die Sicherstellung von Reliabilität und Validität (Hoyle et al.). Ferner wird eine Differenzierung zwischen systematischer und freier Beobachtung, die nicht hypothesengeleitet erfolgt, vorgenommen (Greve/ Wentura). Der Beobachtung durch trainierte externe Beobachter (Fremdbeobachtung) steht die systematische Beobachtung und Protokollierung des eigenen Verhaltens gegenüber (Selbstbeobachtung), die z. B. in der psychologischen Diagnostik Anwendung findet (z. B. Tagebuchmethode) (Bodemann). Methoden der Beobachtung lassen sich hinsichtlich ihres Standardisierungsgrades einteilen. Die Kontrolle über die Durchführungsbedingungen ist hoch in künstlich erzeugten Situationen, in der durch Stimuli gezielt ein bestimmtes Verhalten evoziert wird (z. B. emotionale Reaktion auf Musik). Je nachdem, ob Beobachtung im natürlichen Verhaltenskontext erfolgt oder in einem Labor, ist der Ort der Beobachtung ein weiteres Unterscheidungskriterium (Feld-/ natürliche vs. Laborbeobachtung). Ebenso ist zu berücksichtigen, inwieweit die untersuchten Personen wissen, dass sie Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung sind oder der Beobachter verdeckt agiert (offene vs. verdeckte Beobachtung). Bei der teilnehmenden Beobachtung ist der Beobachter in der Situation selbst anwesend, um eine bestimmte Rolle im sozialen Geschehen zu übernehmen oder gezielt mit den untersuchten Personen zu interagieren. Bei der nicht teilnehmenden Beobachtung hingegen ist der Beobachter nicht präsent (teilnehmende vs. nicht teilnehmende Beobachtung). Die Auswertung des beobachteten Verhaltens kann unmittelbar oder technisch vermittelt erfolgen. Die Auswertung aufgezeichneter Beobachtungsdaten (z. B. Ton-/ Videoaufnahmen, Transkripte) bietet Vorteile gegenüber einer unmittelbaren Kodierung in der aktuellen Situation. Aufzeichnungen erlauben die wiederholte Betrachtung der Beobachtungsepisoden und tragen zur Reduzierung von Beobachtungsfehlern bei. Verschiedene Verhaltensaspekte können getrennt und nacheinander ausgewertet werden. Dies erlaubt zu prüfen, wie hoch die Beurteilerübereinstimmung ist. Digitale Videoaufnahmen erleichtern heute übliche computergestützte Auswertungen mit Programmen, die komplexe Auswertungsprozeduren (z. B. Sequenzanalyse) vereinfachen (Bakeman/ Quera). Bei allen Auswertungsmethoden erfolgt eine Informationsreduktion. Diese Reduktion hängt davon ab, welche Aspekte des Verhaltens im Zeitverlauf erfasst werden sollen (z. B. sprachliches oder nicht sprachliches Verhalten) (Greve/ Wentura). Beobachtungs- und Beschreibungssysteme Grundlage einer systematischen Beobachtung ist die Festlegung für die Fragestellung relevanter Beobachtungseinheiten. »Als Beobachtungseinheit wird derjenige Bestandteil in einem Verhaltensablauf bezeichnet, der dem Untersucher als kleinstes, nicht reduzierbares Ereignis zur Analyse des Verhaltens notwendig erscheint« (Cranach/ Frenz: 286). Je nach theoretischem Interesse unterscheiden sich die gewählten Beobachtungseinheiten. In der Soziologie und Sozialpsychologie ist die Untersuchung von sozialen Interaktionen von Interesse (z. B. Kooperation in Gruppen), die Persönlichkeitspsychologie interessiert sich für individuelle Unterschiede in Verhaltensmustern (z. B. Wirkung von Stress auf Essverhalten), während in der Entwicklungspsychologie Veränderung und Stabilität von Verhalten im Mittelpunkt stehen (z. B. in Eltern-Kind-Interaktionen). Beobachtungseinheiten können qualitativer und quantiwww.claudia-wild.de: <?page no="49"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 50 50 Beobachtung tativer Natur sein und hinsichtlich der zeitlichen Auflösung variieren. In Studien zur emotionalen Entwicklung wurde festgestellt, dass kulturelle Unterschiede bestehen, wie Mütter auf negative Emotionen ihrer Kinder reagieren (d. h. Sensitivität; Trommsdorff ). Emotionen lassen sich hinsichtlich qualitativer (z. B. positiv, negativ) und quantitativer Merkmale (z. B. Intensität, Häufigkeit, Dauer) unterscheiden. Ebenso kann Sensitivität als eine qualitativ variierende Einheit (d. h. Formen der Sensitivität unterscheiden sich zwischen Kulturen) verstanden werden, deren Ausprägungen sich auf individueller Ebene einschätzen lässt. Bezieht sich die Erfassung von Sensitivität auf eine Interaktionssequenz mit einer Dauer von mehreren Minuten, lassen sich Verhaltensmerkmale auf der Mikroebene heranziehen (z. B. Position der Augenbrauen, Mundwinkel), um die Intensität des emotionalen Ausdrucks zu beurteilen (mikrovs. makroanalytische Beobachtung). Beobachtungseinheiten variieren, je nachdem, ob sie natürliche Verhaltenseinheiten (z. B. weinen) oder komplexe soziale Handlungen (z. B. Aufmerksamkeit suchen) abbilden (Bakeman/ Quera). Bei der Verhaltensbeobachtung nimmt ein Beobachter stets Zuschreibungen vor und erschließt Beobachtungseinheiten aufgrund des wahrgenommen Verhaltens (Cranach/ Frenz). Bei der Beobachtung von Begrüßungsritualen werden Beobachter mit hoher Übereinstimmung, zumindest in einer bestimmten Kultur, Förmlichkeit und Höflichkeit beurteilen können. Kann eine hohe intersubjektive Übereinstimmung nicht gelingen (z. B. Kulturvergleich), ist es unerlässlich, direkt wahrnehmbare Beobachtungseinheiten (z. B. Körperkontakt) zu wählen. Beobachtungen werden in Form von Beschreibungssystemen festgehalten. Aufzeichnungen in schriftlicher Form, die sich der Alltagssprache bedienen, umfassen Selbst- und Fremdbeobachtung (z. B. Tagebuch) oder Verlaufsprotokolle. Dies sind unsystematische Ereignisprotokolle, die einer weiteren inhaltsanalytischen Auswertung bedürfen. Index- Systeme beinhalten eine Aufzeichnung von Verhaltensmerkmalen, z. B. ethologische Verhaltensprotokolle, in denen bestimmte in einer Situation auftretende Verhaltensweisen oder Merkmale, die einen übergeordneten Aspekt (z. B. Verhaltensmuster) repräsentieren, registriert werden (Faßnacht). Ziel eines Kategoriensystems ist es, das beobachtete Verhalten möglichst erschöpfend zu beschreiben und anhand definierter Kategorien zu klassifizieren. Ein Kategoriensystem bestimmt Struktur und Regeln, die für eine systematische Zuordnung der beobachteten Verhaltenseinheiten zu einzelnen Kategorien erforderlich sind. Einzelkategorien müssen inhaltlich und definitorisch voneinander abgrenzbar sein, um eine eindeutige, exklusive Zuordnung der untersuchten Beobachtungseinheiten zu den Kategorien zu gewährleisten. Die Erstellung eines Kategoriensystems ist somit eine Voraussetzung für die spätere Übersetzung beobachteter Verhaltenseinheiten in numerische Variablen zwecks statistischer Datenverarbeitung. Mit diesem Schritt kann Beobachtung als eine Form der Messung im wissenschaftlichen Sinne verstanden werden (Greve/ Wentura). Eine Alternative zu nominalen Klassifikationssystemen stellen dimensionale Systeme dar, bei denen Ratingskalen zur Anwendung kommen. Die Verwendung von Ratingskalen anstelle kategorialer Maße kann die Erfassung sozial komplexer Verhaltensweisen erleichtern und Informationen liefern, die bei der Verwendung rein verhaltensbasierter Kategorien verborgen bleiben. Ein kulturinformierter Beobachter, der auf einer Skala die Qualität einer Mutter-Kinder-Interaktion beurteilt, berücksichtigt möglicherweise kulturelle Besonderheiten, die durch eine Erfassung von Häufigkeit und Dauer rein verhaltensbezogener Beobachtungseinheiten (z. B. Körperkontakt) nicht abgebildet würden. Im Vergleich zu nominalen Kategoriensystemen sind Ratingskalen weniger zeitintensiv und können vergleichbar zuverlässige Ergebnisse liefern (Bakeman/ Quera). Ein weiteres Beispiel ist die Sequenzanalyse, die es ermöglicht, Verhaltensmuster zu identifizieren und strukturelle Zusammenhänge im zeitlichen Verlauf zu untersuchen. Voraussetzung ist das Vorliegen zeitlich fortlaufend erhobener Daten zu mehreren Messzeitpunkten (Bakeman/ Quera). Objektivität der Verhaltensbeobachtung Einschränkungen der Zuverlässigkeit und Objektivität können aufgrund von Urteilsverzerrungen seitens der Beobachter und durch die Tatsache der Beobachtung selbst entstehen. Da Beobachtung auf der individuellen Wahrnehmungsleistung der einzelnen Beobachter basiert, ist die Herstellung einer hohen Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtern (Interrater-Reliabilität) eine Voraussetzung, um die Objektivität einer Beobachtung zu gewährleisten. Unterschiedliche Quellen für Beobwww.claudia-wild.de: <?page no="50"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 50 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 51 51 Berufssoziologie achtungsfehler sind bei der Auswertung zu berücksichtigen. Bei der Verwendung globaler Ratingskalen besteht die Gefahr, dass bei der Kodierung extreme Werte vermieden werden (zentrale Tendenz), die Beurteilung durch den Gesamteindruck oder besonders saliente Verhaltensmerkmale überlagert wird (Halo-Effekt) oder Erwartungshaltungen des Beobachters die Urteilsbildung beeinflussen. Auch können Personenmerkmale des Beobachters (z. B. Geschlecht, Alter) zu Urteilsverzerrungen führen. Neben Auswahl und Training der Beobachter ist die Kontrolle der Auswertung unerlässlich, um Verzerrungen infolge von Beobachtungsfehlern entgegenzuwirken (Greve/ Wentura). Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Kodierung werden sichergestellt, indem die Übereinstimmung zwischen unabhängigen Beobachtern ermittelt wird oder ein Abgleich der Auswertung mit einem zuvor etablierten Expertenrating erfolgt. Zur Prüfung der Interrater-Reliabilität wird z. B. Cohens Kappa als statistisches Maß verwendet (Bakeman/ Quera). Eine Alternative für die Prüfung der Interrater-Reliabilität bei qualitativen Verfahren, die mit weniger Einschränkungen hinsichtlich der Anzahl der Beobachter, Skalenniveau, Stichprobengröße und fehlender Werte verbunden ist, stellt Krippendorffs Alpha dar (Hayes/ Krippendorff ). Grundsätzlich können Beobachtungsfehler jedoch auch durch die untersuchten Personen verursacht werden. Insbesondere Beobachtung ist anfällig für Probleme der Reaktivität, wenn die untersuchten Personen ihr Verhalten aufgrund ihres Wissens über die Untersuchungsabsicht verändern (Versuchspersoneneffekt). Bei teilnehmender Beobachtung über einen längeren Zeitraum (z. B. Feldforschung), wenn Beobachter und untersuchte Personen direkt miteinander interagieren, ist nicht auszuschließen, dass die Messung anhaltende Änderungen im Verhalten zur Folge hat (z. B. um Erwartungen des Beobachters zu erfüllen; Hawthorne- Effekt; Greve/ Wentura). Methoden der Beobachtung stellen besondere Herausforderungen an Planung und Durchführung der Datenerhebung (z. B. Reaktivität) und -auswertung (z. B. Entwicklung eines Kategoriensystems, Training der Beobachter). Methoden der Beobachtung sind jedoch eine wichtige Alternative für die Erfassung von Verhalten, wenn die Verwendung anderer Verfahren (z. B. Befragung) schwierig ist (z. B. komplexe soziale Interaktionen in Gruppen) oder untersuchte Personen nicht über ihr Verhalten Auskunft geben können (z. B. Kleinkinder) (Greve/ Wentura; Schnell et al., Kap. 7). Generell empfiehlt es sich, unterschiedliche Datenquellen (z. B. Befragungen wie Selbst- und Fremdbericht) mit Methoden der Beobachtung zu kombinieren (Triangulation; Schnell et al., Kap. 7). Literatur Bakeman, Roger; Quera, Vincenç, 2011: Sequential analysis and observational methods for the behavioral sciences, New York.-- Bodemann, Guy, 2006: Beobachtungsmethoden; in: Petermann, Franz; Eid, Michael (Hg.): Handbuch der psychologischen Diagnostik, Göttingen, 151-159.- - Bortz, Jürgen; Döring, Nicola, 2009: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, Heidelberg.- - Cranach, Mario von; Frenz, Hans-Georg, 1969: Systematische Beobachtung; in: Graumann, Carl Friedrich (Hg.): Handbuch der Psychologie, Band 7, Sozialpsychologie, Göttingen, 269-331.-- Faßnacht, Gerhard, 1995: Systematische Verhaltensbeobachtung: Eine Einführung in die Methodologie und Praxis, München.- - Flick, Uwe, 2007: Qualitative Sozialforschung: Eine Einführung, Reinbek.- - Greve, Werner; Wentura, Dirk, 1997: Wissenschaftliche Beobachtung: Eine Einführung, Weinheim.- - Hayes, Andrew F.; Krippendorff, Klaus, 2007: Answering the call for a standard reliability measure for coding data; in: Communication Methods and Measures, 1, 77-89.- - Hoyle, Rick H. et al., 2009: Research methods in social relations, Belmont Drive, CA.-- Schnell, Rainer et al., 2011: Methoden der empirischen Sozialforschung, München.- - Trommsdorff, Gisela, 2007: Entwicklung im kulturellen Kontext; in Trommsdorff, Gisela; Kornadt, Hans-Joachim (Hg.): Enzyklopädie der Psychologie: Themenbereich C, Serie VII, Bd. 2: Kulturelle Determinanten des Erlebens und Verhaltens, Göttingen, 435-519. Tobias Heikamp Berufssoziologie Gegenstand In der Berufssoziologie (engl. occupational sociology/ sociology of occupations) bzw. in berufssoziologischen Analysen geht es um die Bedeutung des Berufs für Individuen, Organisationen und gesellschaftliche Teilbereiche und genauer: um eine soziologische Beschreibung dieser Verhältnisse. In der mittelalterlichen Gesellschaft war der Beruf nicht nur ein Teil des Lebens, sondern er bestimmte die <?page no="51"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 52 52 Berufssoziologie Existenz des ›ganzen Hauses‹ sowie das ›ganze Leben‹ der in ihm arbeitenden und wohnenden Personen. Der Beruf fungierte als Leitgesichtspunkt für die ganze Lebensführung und war der bestimmende Orientierungsrahmen für betriebliche Organisationen. Diese umfassende Stellung hat er in der modernen Gesellschaft freilich längst eingebüßt, was gleichwohl nicht heißt, dass er bedeutungslos geworden wäre, worauf schon Helmut Schelsky (1960/ 1965) in seinem einflussreichen Aufsatz »Die Bedeutung des Berufs in der modernen Gesellschaft« hingewiesen hat. Obwohl Schelsky sehr wohl die Gefahr sieht, dass der »in seiner Lebensbedeutung reduzierte Beruf nur als Mittel und Zweck für die Lebenserfüllung in anderen Lebensbereichen angesehen« und damit zum »bloßen Job« werden könnte (240), betont er, dass auch in dieser teilhaften Bedeutung, die der Beruf jetzt noch für das menschliche Leben hat, »die Berufstätigkeit immer noch der wichtigste Faktor für die soziale Bestimmung des menschlichen Lebens in unserer Kultur« ist (240) und dass die Menschen »im Wesentlichen nach ihren Berufen sozial eingeordnet« werden (S. 241). Der Beruf ermögliche nämlich den Menschen nach wie vor den Großteil ihrer Sozialkontakte und strukturiert ihren Alltag und ihren Lebenslauf; er bestimmt ihre Einkommens- und ihre Vermögensverhältnisse und damit auch ihren sozialen Status und ihr soziales Prestige; und schließlich prägt er ihre Selbst- und Fremdeinschätzung, also das Bild, das sie von sich beziehungsweise andere von ihnen haben. Und, so kann man hinzufügen, auch Organisationen sind natürlich immer noch zwingend auf das berufliche Wissen ihrer Mitarbeiter angewiesen. Hiermit ist bereits ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Arbeit und Beruf angedeutet. Der Arbeitsbegriff ist sehr weit gefasst: nicht nur Arbeiter arbeiten, sondern auch Angestellte, Beamte und Selbstständige, und die Gesellschaft mit ihren Teilbereichen und Organisationen ist auf diese Arbeit angewiesen. Der Berufsbegriff setzt dagegen spezifischer an und bezeichnet darüber hinaus die jeweilige Form der Arbeit. Als zusätzliches Moment kommt beim Beruf zum einen immer auch die Form der Ausbildung/ Qualifizierung für die (berufliche) Arbeit hinzu und zum anderen kann man von Berufen erst sprechen, wenn sich »Arbeit in ausdifferenzierter Rollenstruktur (…) konstituiert« (Luckmann, Sprondel 1972, 13). Berufe lassen sich so gesehen als »die soziale Organisation der Arbeit« (ebd.: 17) beschreiben oder anders: als berufliche Organisation des Arbeitens, d. h. als Berufsform. Und genau diese »Berufsform von Arbeiten in ihren vielfältigen Aspekten ist der Gegenstand der ›Berufssoziologie‹« (Daheim 2001, 22). Geschichte des Berufsbegriffs Die Geschichte des Berufsbegriffs hat ihren Ursprung in der Theologie. Gemeinhin gilt Martin Luther mit seiner Übersetzung des griechischen Wortes für Arbeit als Wegbereiter der reformatorischen Lehre vom Beruf - es geht jetzt um die Berufung zur Arbeit, die das alte Verständnis der Arbeit als Buße ergänzt. In enger Beziehung zur besonderen Form der Ehre fungiert der Beruf im Weiteren in der geburtsständischen Gesellschaft für lange Zeit als ein zugeschriebener sozialer Status. Und erst unter den rationalistischen Einflüssen der Aufklärung im 18. Jh. ist die Berufsidee dann zunehmend säkularisiert worden. In der Vorstellung des deutschen Idealismus erfolgt die Berufung zu einem Beruf nicht mehr durch Gott, sondern determiniert sich durch Eignung und Neigung des Menschen, womit gleichsam ein Weg der sozialen Positionierung von Herkunft zum Aufstieg über den Beruf auf Grund von Anlage, Talent und Begabung durch freie Berufswahl eingeleitet wurde. Die hier nur in aller Kürze angedeutete Geschichte des Übergangs von einem religiösen zu einem weltlichen Berufsbegriff nachgezeichnet zu haben, ist zunächst einmal das Verdienst des Soziologen Max Weber, der damit zudem das Berufsthema an theoretisch zentraler Stelle der neuen Disziplin Soziologie in Deutschland positioniert hat. In seiner Protestantismusstudie etwa fragt Weber nach den aus der modernen Berufsethik resultierenden Folgen für die kapitalistische Ökonomie und bestimmt das Berufsmenschentum und dessen Ausformungen als Fach- und Geschäftsmenschentum als grundlegendes Erklärungsmuster für den modernen Kapitalismus. Und in seiner Herrschaftssoziologie bestimmt er darüber hinausgehend auf der Grundlage des Fachmenschentums die Legitimation über Kompetenzen gleichsam als das Merkmal der modernen Gesellschaft - welche die Legitimation über Herkunft früherer Gesellschaftsformationen ersetzt - und versucht auf dieser Grundlage den modernen Staat, das Berufsbeamtentum und die bürokratische Organisationsform zu bestimmen. <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 52 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 53 53 Berufssoziologie Berufssoziologie als Disziplin Damit hat die Soziologie schon in ihrer Begründungsphase der Theorie und Geschichte des Berufs große Aufmerksamkeit gewidmet. Insbesondere in den Arbeiten von Max Weber und Émile Durkheim, die sicherlich noch nicht als Berufssoziologen bezeichnet werden können, finden sich bereits grundlegende, einen Anfang markierende Überlegungen zu einer Soziologie des Berufs. So hat etwa Durkheim (1996, 41 ff.) die Berufsgruppe als Vermittlungsglied zwischen den Individuen und der Gesellschaft herausgestellt, und Weber (1985, 80) hat mit seiner Bestimmung des Berufs als »jene Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person (…), welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance ist« sozusagen das Zeitalter der modernen Berufskonzeption eingeleitet. Im Weiteren ist dann insbesondere die Bedeutung von Talcott Parsons herauszustellen. Dieser war zwar wie Durkheim und Weber kein Berufssoziologe im engeren Sinne, hat aber gleichwohl mit der umfangreichen Thematisierung des Berufs- und Professionenkomplexes in seinem Werk für viele Jahre die berufssoziologischen Diskussionen bestimmt. Parsons verbindet dabei die Analysen von Durkheim zur beruflichen Rollendifferenzierung und von Weber zur Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche und arbeitet die Berufsrollen als Bestandteil der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme heraus. Diese Systeme sind auf eine fortschreitende Ausdifferenzierung von bestimmten Leistungen angewiesen, sie etablieren dazu passende berufliche Positionen, die sie sozialen Akteuren zuweisen, damit diese ihrer beruflichen Rolle erwartungsgemäß spezialisierte Leistungen erbringen. Als eigenständiges Fach kann sich die Berufssoziologie erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren; es kommen erste lehrbuchartige Monographien auf den Markt, die das Wissen der Disziplin systematisieren. In den folgenden Jahren werden dann verstärkt Monographien und Sammelbände zur Berufsproblematik mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen publiziert. In der Berufssoziologie geht es dann anders als etwa in der Berufspädagogik zum einen um die Ausarbeitung von nicht auf den Bildungsaspekt beschränkten Berufstheorien, die sowohl die Bedeutung der beruflichen Arbeit für Personen als auch die gesellschaftliche Funktion des Berufs untersuchen (s. etwa Beck et al. 1980). Und zum anderen geht es um empirische und theoretische Berufsanalysen, die sich nicht nur auf die Tätigkeiten auf der Ebene der Facharbeiter und Fachangestellten beschränken, die zumeist im dualen System ausgebildet werden, sondern auch noch den Bereich der hochqualifizierten akademischen Berufe wie Professionen und Wissensarbeit, aber auch solche neuen Arbeitsformen wie die des Arbeitskraftunternehmers (Voß, Pongratz 1998) einbeziehen. Gleichwohl wird in der Soziologie auch dem Berufsbildungsthema wieder verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt, was man insbesondere im Rahmen der Diskussionen um die moderne Wissensgesellschaft beobachten kann. Soziologisch sind an dem Thema Berufsbildung insbesondere zwei Themenkomplexe interessant, die jeweils Verknüpfungen zu anderen soziologischen Teildisziplinen erfordern. In Verbindung mit der Organisationssoziologie kann etwa untersucht werden, in welcher Art und Weise betriebliche Organisationen die im Beruf enthaltenen Kompetenzbündel zur Steigerung ihres Betriebskapitals nutzen. In den aktuellen Debatten über lernende und wissende Organisationen wird z. B. danach gefragt, wie das individuelle in den Köpfen der Mitarbeiter ›versteckte‹ Wissen in das kollektive Wissen der Organisationen inkorporiert werden kann. Und in Verbindung mit der soziologischen Ungleichheitsforschung wird nach der Bedeutung gefragt, die dem beruflichen Wissen im Ungleichheitsgefüge der modernen Gesellschaft zukommt. Obwohl also dem Berufsthema immer noch eine große Bedeutung zugeschrieben werden muss, mag es überraschen, dass es - zumindest in Deutschland - die Berufssoziologie als eigenständige Teildisziplin der Soziologie eigentlich gar nicht mehr gibt. So beheimatet etwa die Deutsche Gesellschaft für Soziologie keine Sektion Berufssoziologie mehr, wohl aber die Sektionen Arbeits- und Industriesoziologie, Organisationssoziologie, Professionssoziologie sowie Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse, die sich sozusagen das Berufsthema teilen. Exemplarisch seien hier nun zwei Aspekte des Berufsthemas, die Ungleichheitsdebatte und der Bereich der hochqualifizierten Berufe, angesprochen. <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 54 54 Berufssoziologie Beruf und soziale Ungleichheit Im Rahmen von Klassen- und Schicht-Konzepten war die Ungleichheitsforschung bis in die siebziger Jahre hinein weitgehend berufszentriert, der Beruf wurde als der zentrale Bestimmungsfaktor sozialer Ungleichheit und als der beste einzelne Indikator der Sozialstruktur einer Gesellschaft (Blau/ Duncan 1967) interpretiert. Dabei wird die Existenz und Struktur sozialer Ungleichheit im Wesentlichen durch ökonomische Ursachen erklärt. Obwohl seit den siebziger Jahren in zunehmenden Maße andere Ungleichheiten ins Bewusstsein gerückt sind, konnte man den Beruf noch viele Jahre lang (in Abkehr von Herkunft) als ein zentrales Medium der sozialen Differenzierung in der modernen Gesellschaft bestimmen. In der gegenwärtigen Soziologie wird jedoch mehr und mehr davon ausgegangen, dass dem Beruf diese Zentralstellung nicht mehr zugeschrieben werden kann. Die ehemals herausragende Bedeutung des Berufs ist vor allem in Zusammenhang mit konstatierten Entschichtungstendenzen der Gesellschaft in Frage gestellt worden. Neben der vertikalen Ungleichheit entlang der Berufshierarchie richtet sich das Augenmerk nun verstärkt auf horizontale Ungleichheiten wie Geschlecht, Kohorte, Region, Alter, Nation etc. Dieser Perspektive folgend sind die subjektiven Lebensweisen der Menschen nicht mehr im Wesentlichen Konsequenzen des Berufs; dieser ist nur noch eines unter vielen ungleichheitsrelevanten Kriterien in modernen hoch individualisierten Gesellschaften. Allerdings ist das nicht unbestritten, so wird dagegen argumentiert, dass - besonders durch die Verschiebung und Entwertung anderer sinnintegrierender Instanzen und Beziehungen wie Religion, Ehe und Familie bedingt - der Beruf eine zunehmend identitätsrelevante Bedeutung erhält. Auch wird ins Feld geführt, dass soziale Ungleichheiten und Lebenschancen in erheblichem Ausmaß von traditionellen Schichtkriterien wie Berufsposition und Bildungsniveau abhängen. Sicherlich ist der Beruf nur einer unter vielen Bestimmungsfaktoren für die Positionierung von Personen im sozialen Raum, dennoch kommt ihm etwa im Zusammenhang mit Organisationen immer noch eine bedeutende Rolle zu. Die Organisationsmitgliedschaft erfordert den Beruf als qualifizierte Erwerbsarbeit, wie Max Weber ihn definiert hat: Man ist ausgebildet für eine Tätigkeit in der Organisation und wird dafür von dieser bezahlt. Für die andere Seite der sozialen Positionierungsfunktion von Organisationen, der Partizipation des Publikums an organisationsspezifischen Entscheidungen, muss in der Regel Geld gezahlt werden, für dessen Erwerb der ausgeübte Beruf eine wesentliche Rolle spielt. In diesem Sinne ist der Beruf eine der Voraussetzungen für die Teilhabe an Gesellschaft, die über Organisationen vermittelt wird. Professionen und Wissensberufe Wer heute über die Form der qualifizierten Erwerbsarbeit nachdenkt, der bleibt nicht mehr bei der klassischen Steigerungsformel »Arbeit, Beruf, Profession« (Hartmann 1968) stehen, sondern unterscheidet im Bereich der hochqualifizierten akademischen Tätigkeiten professionelle Arbeit und die sogenannten Wissensberufe wie Experten, Ratgeber und Berater. Der Begriff der Wissensberufe ist ein Steigerungsbegriff, in der modernen Wissensgesellschaft tendiert immer mehr Arbeit zur Wissensarbeit. Demgegenüber haben wir es beim Begriff der Professionen mit einem exklusiven Begriff zu tun, Professionen können immer nur sehr wenige Berufe sein (s. a. das Stichwort »Professionalisierung«). Professionen sind in der Moderne akademische Berufsgruppen, die lebenspraktische Probleme von Klienten im Kontext einzelner gesellschaftlicher Teilbereiche wie dem Gesundheits-, dem Rechts-, dem Religions- und dem Erziehungssystem in Interaktionssituationen mit Klienten stellvertretend deuten, verwalten und bearbeiten. Die Professionellen wie Ärzte, Rechtsanwälte, Seelsorger und Lehrer fungieren dabei als verberuflichte Leistungsrollen dieser Sozialsysteme, denen sowohl bei der Ausdifferenzierung der Systeme wie auch bei deren Erfüllung der Leistung für andere Funktionssysteme der Gesellschaft eine besondere Bedeutung beigemessen werden konnte. Diese sogenannten Leitprofessionen (Stichweh 1996) verwalten jeweils den besonderen Wissenskorpus dieser Funktionssysteme und nehmen gegenüber den anderen im Kontext des Systems arbeitenden Berufen eine Kontroll- und Delegationsfunktion ein. Obwohl nun die neuen Wissensberufe gegenüber den klassischen Professionen weder unbedingt etwas mit lebenspraktischen Problemen von Klienten zu tun haben noch gesellschaftliche Zentralwerte abdecken müssen, kann man in Bezug auf die Form der <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 54 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 55 55 Berufssoziologie Wissensbasierung beider beruflichen Gruppen auch eine Gemeinsamkeit markieren. Auch die Handlungslogik der zunehmenden Wissensberufe ist nicht die einer technisch-instrumentellen Anwendung von wissenschaftlichem Regelwissen; wie das Wissen der Professionen ist auch das Expertenwissen der Wissensberufe interpretationsbedürftig, kontingent und im Handeln immer wieder neu zu reproduzieren. Ende des Berufs? Der Bedeutungsverlust der Berufssoziologie korrespondiert in gewisser Weise mit der in den Massenmedien und der Wissenschaft seit den 1980er Jahren geführten Debatte über eine Krise bzw. einem Ende von Arbeit und Beruf (Dahrendorf 1983), womit zwar nicht ausgesagt wird, dass der Erwerbsgesellschaft gleich die (berufliche) Arbeit ausgehen würde, wohl aber wird das Ende der sogenannten Vollzeiterwerbsarbeitsgesellschaft prognostiziert. Die Veränderungen, die wir gegenwärtig in der Arbeitswelt beobachten können, zeigen gleichwohl auch noch nicht das von vielen heraufbeschworene Ende der Berufsform überhaupt an. Auch in Zeiten, in denen wir in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft über das sogenannte bedingungslose Grundeinkommen diskutieren, werden Personen für Arbeit, die ihnen ihren Lebensunterhalt sichern soll, ausgebildet, und Organisationen müssen für die ausgeübte Arbeit, auf die sie angewiesen sind, bezahlen. Was sich aber vor allem verändert, ist das Verhältnis von Ausbildung und Arbeit/ Erwerb und damit ein inhaltlicher Wandel des Berufs. Im Übergang zur Wissensgesellschaft, in der immer mehr Arbeit zur reflexiven Wissensarbeit wird, muss sich das Bildungssystem darauf einstellen, dass mehr und mehr Personen mit überfachlichen Kompetenzen und entwicklungsoffenen Qualifikationspotentialen gesucht werden. Hier zeigen sich Tendenzen einer Annäherung von beruflicher und allgemeiner Bildung. Obwohl in zunehmendem Maße andere Formen von Arbeit an Bedeutung gewinnen, wird die berufliche Erwerbsarbeit auch weiterhin die dominante Form des Arbeitens bleiben (Daheim 2001). Die Veränderungen, die wir gleichwohl in der Arbeitswelt beobachten können, scheinen denn auch eher ein neues und sich immer schneller wandelndes Mischungsverhältnis anzudeuten; und zwar auf der einen Seite im Rahmen beruflicher Erwerbstätigkeit selber, auf der anderen Seite aber auch im Verhältnis der Erwerbsorientierung zu gemeinschaftsorientierten Tätigkeiten oder solchen im persönlich-familiären Bereich. Genauso wenig wie man von einem Ende des Berufs sprechen kann, ist auch die Berufssoziologie noch lange nicht überflüssig geworden, sie scheint sogar gegenüber anderen das Berufsthema bearbeitenden soziologischen Teildisziplinen einen analytischen Vorteil zu haben: So kann sie etwa das Themenspektrum der Arbeitssoziologie und der Professionssoziologie mit bearbeiten. Denn der zwischen Arbeit und Profession stehende Berufsbegriff schließt sowohl nur wenig berufliche Qualifikationen erfordernde Erwerbsarbeit als auch hochqualifizierte professionelle Arbeit bzw. Wissensarbeit ein. Und darüber hinaus kann sie Beiträge zu anderen soziologischen Debatten beisteuern, wie etwa denen der Organisationssoziologie oder der soziologischen Ungleichheitsforschung, so dass die Berufssoziologie aus der spezifischen Perspektive der Berufsform eine Verbindung zwischen diesen Teildisziplinen herstellen kann (Kurtz 2005). Literatur Beck, Ulrich et al., 1980: Soziologie der Arbeit und der Berufe. Grundlagen, Problemfelder, Forschungsergebnisse, Reinbek.-- Blau, Peter M.; Duncan, Otis D., 1967: The American Occupational Structure. New York u. a.- - Daheim, Hansjürgen, 2001: Berufliche Arbeit im Übergang von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft; in: Kurtz, Thomas (Hg.): Aspekte des Berufs in der Moderne, Opladen, 21-38.- - Dahrendorf, Ralf, 1983: Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht; in: Matthes, Joachim (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a. M./ New York, 25-37.- - Durkheim, Emile, 1996: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt a. M. (1893).- - Hartmann, Heinz, 1968: Arbeit, Beruf, Profession; in: Soziale Welt 19, 193-216.-- Kurtz, Thomas, 2005: Die Berufsform der Gesellschaft, Weilerswist.-- Luckmann, Thomas; Sprondel, Walter Michael, 1972: Einleitung; in: dies. (Hg.): Berufssoziologie, Köln, 11-21.-- Parsons, Talcott; Smelser, Neil J., 1956: Economy and Society. A Study in the Integration of Economic and Social Theory, London.-- Schelsky, Helmut, 1960/ 1965: Die Bedeutung des Berufs in der modernen Gesellschaft; in: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf/ Köln, 238-249.- - Stichweh, Rudolf, 1996: Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft; in: Arno Combe; Helsper, Werner (Hg.): Pädagogische Professionalität. Unwww.claudia-wild.de: <?page no="55"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 56 56 Bevölkerungssoziologie und-Demographie tersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt a. M., 49-69.-- Voß, G. Günter; Pongratz, Hans J., 1998: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50, 131-158.- - Weber, Max, 1984: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, Gütersloh (1920).- - Weber, Max, 1985: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen (1920). Thomas Kurtz Bevölkerungssoziologie und-Demographie Gegenstand und Thematik Demographie (engl. demography) ist der Oberbegriff für Analysen quantitativer und qualitativer Veränderungen der Bevölkerungsverhältnisse einer Region, eines Landes oder der Welt als Ganzes. Da gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische, kulturelle und biologische Faktoren demographische Entwicklungen beeinflussen, ist Demographie idealerweise eine interdisziplinär ausgerichtete Wissenschaft. Die Bevölkerungssoziologie - als Teildisziplin - eröffnet einen spezifischen soziologischen Zugang zu demographischen Prozessen und Strukturen, und sie setzt dabei soziologische Denk- und Theorieansätze zur Analyse demographischer Entwicklungen ein (Niephaus 2012, 13 ff.). Im Zentrum der Bevölkerungssoziologie stehen sowohl die Auswirkungen gesellschaftlicher Wandlungen auf demographische Größen (wie Geburtenniveau, Überlebensordnung, Migration, Altersverteilung der Bevölkerung) als auch die Auswirkungen demographischer Entwicklungen auf Gesellschaften, Organisationen, Familien und Individuen. Zu den zentralen demographischen Komponenten - welche bevölkerungssoziologisch auf ihre gesellschaftliche Einbettung und Bedeutung hin untersucht werden - gehören im Einzelnen: a) Familiengründung und Geburtenniveau: Die Zahl von neugeborenen Kindern wird zum einen durch die Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter bestimmt. Zum anderen wird die Geburtenzahl durch das Fertilitätsverhalten von jungen Frauen und Männern bestimmt. Das Fertilitätsverhalten seinerseits wird durch eine Reihe von Faktoren - wie Partnerschafts- und Familiengründungsverhalten, Kinderwunsch und Geburtenkontrolle - beeinflusst. Entsprechend ist das Geburtenniveau einer Gesellschaft eng mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen verknüpft. Eine demographische Analyse von Veränderungen des Fertilitätsverhaltens kommt deshalb nicht aus ohne Bezug etwa auf familiensoziologische Konzepte. Bedeutsam für das Verständnis von Familiengründung und Geburtenverhalten sind aber auch soziologische Ansätze der Genderforschung oder - da das Familiengründungsverhalten je nach sozialer Schicht variiert - Theorien sozialer Ungleichheiten. b) Sterbefälle (Mortalität) bzw. Absterbe- und Überlebensordnung: Veränderungen der Lebenserwartung innerhalb einer Gesellschaft sind von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und epidemiologischen Einflussfaktoren abhängig. Zwar müssen alle Menschen einmal sterben, aber die Lebenserwartung bzw. Überlebensordnung von Menschen unterliegt markanten sozialen Unterschieden bzw. Ungleichheiten, etwa nach Geschlecht oder sozialer Schichtzugehörigkeit. Umgekehrt wirken sich Veränderungen der Überlebensordnung tiefgreifend auf gesellschaftliche Lebensverhältnisse, intergenerationelle Beziehungen und individuelle Lebensverläufe aus. Soziologisch stehen vor allem Fragen sozialer Ungleichheiten der (aktiven) Lebenserwartung sowie die Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Lebenserwartung im Zentrum des Interesses. In der klassischen Bevölkerungsstatistik werden Geburten und Sterbefälle zur sog. ›natürlichen Bevölkerungsbewegung‹ gezählt. Aus soziologischer Sicht - und angesichts der nachweisbaren enormen Bedeutung sozialer Faktoren für Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeitsverläufe - greift der Begriff ›natürlich‹ zu kurz. Zudem genügen einzig auf globaler Ebene die Geburten- und Sterbezahlen formal zur Erklärung der Bevölkerungsentwicklung. Werden national oder regional begrenzte Gebiete analysiert, kommt eine weitere demographische Komponente hinzu: c) Wanderungsbewegungen (Migration): Abwanderung reduziert und Zuwanderung erhöht die Bevölkerungszahl eines gegebenen Gebietes. Speziell für kleinere geographische Einheiten (Regionen, Kommunen, Quartiere) kann die Bevölkerungsentwicklung primär von Zu- oder Abwanderungsprozessen bestimmt sein. Migrationsbewegungen <?page no="56"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 56 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 57 57 Bevölkerungssoziologie und-Demographie sind nicht nur ökonomisch begründet, sondern sozial determiniert und sozial eingebettet (wie etwa bei Familiennachzug, Kettenmigration usw.). Soziologisch betrachtet sind räumliche Wanderungsbewegungen bedeutsame Elemente (sozial ungleich gestalteter) sozialer Mobilitätsprozesse. In vielen Fällen beeinflussen Zu- oder Abwanderungsbewegungen nicht allein die Bevölkerungszahl, sondern auch die sozialstrukturelle und sozialkulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung einer Nation oder Region. Geburtenniveau, Sterbeverhältnisse und Migrationsprozesse bestimmen zusammen Bevölkerungsentwicklung (Zu- oder Abnahme der Bevölkerung) und Bevölkerungsstruktur, inklusive Alters- und Geschlechterverteilung innerhalb einer Bevölkerung. Der spezifische Einfluss der drei demographischen Komponenten (Geburten, Sterbefälle, Migration) auf Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstruktur variiert je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Starkes Bevölkerungswachstum kann sich aufgrund hoher Geburtenzahlen, aber auch aufgrund massiver Zuwanderung ergeben. Eine stagnierende Bevölkerungszahl kann sowohl das Ergebnis hoher Geburtenhäufigkeit gekoppelt mit geringer Lebenserwartung als auch das Resultat hoher Lebenserwartung bei geringer Geburtenhäufigkeit sein. Aktuell stehen in Europa vor allem Fragen einer ansteigenden demographischen Alterung und Szenarien einer schrumpfenden Bevölkerung im Zentrum demographischer und bevölkerungssoziologischer Diskurse. Aus soziologischer Sicht von Bedeutung ist die Tatsache, dass die jeweiligen demographischen Strukturen und Entwicklungen eng mit der vorherrschenden Sozial- und Wirtschaftsstruktur einer Gesellschaft verbunden sind. Veränderungen der demographischen Komponenten lassen sich zwar rein bevölkerungsstatistisch beschreiben, jedoch nie ohne Rückgriff auf soziologische Theorien - wie etwa sozialstrukturanalytische, modernisierungstheoretische oder lebensverlaufsanalytische Ansätze - verstehen. Bei bevölkerungssoziologischen Analysen stehen die gesellschaftlichen Determinanten und Konsequenzen quantitativer Veränderungen von Bevölkerungsindikatoren im Zentrum. Im Grunde geht es darum, quantitative Phänomene bevölkerungsstatistischer Art mit qualitativen Veränderungen der Gesellschaft zu verknüpfen. Demographische Prozesse und bevölkerungssoziologische Fragestellungen Wie andere Teilgebiete der Soziologie weist auch die Bevölkerungssoziologie eine Vielfalt unterschiedlicher Fragestellungen auf. Es gibt allerdings allgemeine Grundfragen, die schon seit jeher die Diskussionen innerhalb der Bevölkerungssoziologie bestimmt haben. Dazu gehören namentlich folgende Fragestellunggen (vgl. Höpflinger 2012): a) Welche wechselseitigen Zusammenhänge bestehen zwischen (quantitativen) demographischen und (qualitativen) gesellschaftlichen Wandlungen? Inwiefern sind Modernisierungsprozesse einer Gesellschaft systematisch mit spezifischen demographischen Wandlungen - wie etwa sinkende Geburtenhäufigkeit und steigende Lebenserwartung - verknüpft? b) Welche individuellen, familialen und gesellschaftlichen Faktoren bestimmen Familiengründung und Fertilität junger Frauen und Männer? Wie lässt sich sozial differenziertes Fertilitätsverhalten erklären? Und welche gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen sind längerfristig bei tiefem Geburtenniveau zu erwarten? c) Welche gesellschaftlichen Wandlungen führen zu verstärkten räumlichen Mobilitätsprozessen (Emigration oder Immigration), und von welchen gesellschaftlichen Folgeerscheinungen sind starke Ein- oder Auswanderungsbewegungen begleitet? Inwiefern sind räumliche und soziale Mobilität wechselseitig verknüpft? d) Welche sozialen Faktoren tragen zu einer Erhöhung der Lebenserwartung bzw. zum Rückzug eines vorzeitigen Sterbens bei? Was sind die gesellschaftlichen Wirkungen einer hohen Lebenserwartung? Aus welchen Gründen entstehen soziale Ungleichheiten der Lebenserwartung insgesamt und der gesunden Lebenserwartung im Speziellen? Neuerdings stehen in europäischen Gesellschaften zudem auch folgende Fragestellungen im Zentrum bevölkerungssoziologischer Aufmerksamkeit: e) Welche gesellschaftlichen und sozialpolitischen Auswirkungen resultieren aus Prozessen einer verstärkten demographischen Alterung? Und welche Folgen hat eine stagnierende oder schrumpfende Bevölkerungszahl auf gesellschaftliche und sozialpolitische Verhältnisse? <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 58 58 Bevölkerungssoziologie und-Demographie Bedeutung der Soziologie für demographische Analysen Die Bevölkerungssoziologie bewegt sich dabei zwischen Makro- und Mikroebene einerseits und zwischen quantitativen und qualitativen gesellschaftlichen Wandlungen andererseits. Bevölkerungswachstum, Geburtenhäufigkeit, Migration oder demographische Alterung beispielsweise sind gesamtgesellschaftlich relevante Phänomene, die ihre Wurzeln gerade auch in familialem und/ oder individuellem Verhalten und Handeln haben. Quantitative Veränderungen etwa von Bevölkerungszahl, Bevölkerungsverteilung und Bevölkerungsstruktur sind eng mit qualitativen Wandlungen von Gesellschaften verbunden. Vielfach lassen sich demographische Entwicklungen nur durch den gleichwertigen Einbezug von Statistik, Ökonomie, Soziologie und Sozialgeschichte erfassen und verstehen. Soziologische Versuche, die gesellschaftlichen Wirkungen und sozialen Einbettungen demographischer Prozesse zu untersuchen, kommen nicht ohne Berücksichtigung der Arbeiten anderer Fachrichtungen aus. Ein wichtiges Merkmal der modernen Bevölkerungssoziologie - im weitesten Sinne als gesellschaftstheoretische Analyse und Diskussion bevölkerungsstatistisch feststellbarer Wandlungen zu verstehen - ist ihre disziplinübergreifende Perspektive. Trotz der unbestreitbaren Bedeutung anderer Fachrichtungen (Bevölkerungsstatistik, Ökonomie, Sozialgeschichte usw.) kann allerdings mit einigem Recht behauptet werden, dass im Rahmen der Bevölkerungswissenschaften der soziologischen Betrachtungsweise eine zentrale Bedeutung zukommt. G. Mackenroth - einer der Klassiker der deutschen Bevölkerungslehre - stellte die Soziologie sogar explizit ins Zentrum: »Das letzte Wort hat in der Bevölkerungslehre immer die Soziologie, und die Soziologie kann wiederum nicht betrieben werden ohne Einbeziehung der historischen Dimension.« (1953, 111, zur Geschichte der deutschen Bevölkerungssoziologie Henßler/ Schmid 2007). Mackenroth brachte damit zum Ausdruck, dass rein bevölkerungsstatistische Analysen strukturblind sind. Da Bevölkerungsstatistiken von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abstrahieren, sind sie für eine Erklärung demographischer Veränderungen wenig geeignet. Modelle, welche Bevölkerungsentwicklungen nur mit Hilfe demographischer Variablen zu erklären versuchen, sind klar gescheitert. Mackenroth war gleichzeitig aber auch der Ansicht, dass Bevölkerungssoziologie ohne historische Betrachtung nicht betrieben werden kann, da Bevölkerungsverhältnisse ihren Ursprung oft in der Vergangenheit haben bzw. demographische Prozesse sich erst allmählich und mit beträchtlicher Zeitverzögerung auf Sozialstruktur, Wirtschaft und Politik auswirken. Auch der deutsche Demograph Josef Schmid (1984) vertrat die Ansicht, dass die Beschäftigung mit Bevölkerungsgeschichte ein notwendiger Bestandteil der Bevölkerungssoziologie sei: »Es geht ihr aber dabei nicht um ›Historie‹, sondern vielmehr um bevölkerungsbezogene Erforschung vergangener Epochen, die für unsere Gegenwart besonders konstitutiv sind und die zum Gegenwartsverständnis wesentlich beitragen.« (Schmid 1984: 18-19). In den letzten Jahrzehnten ergaben sich gesamthaft betrachtet verstärkte Überlappungen zwischen bevölkerungsstatistischen und bevölkerungssoziologischen Forschungsansätzen und Analyseverfahren, und zwar primär aus zwei Gründen: Erstens erhielten die Sozialwissenschaften vermehrt Zugang zu anonymisierten Grunddaten der Statistik. Die Verbreitung von Mikrozensus-Erhebungen und umfangreicher Paneluntersuchungen hat den traditionellen Unterschied zwischen sozialer Umfrageforschung und Bevölkerungsstatistik aufgeweicht. Große Datensätze erlauben es, demographische und soziale Fragestellungen - etwa im Rahmen von Mehrebenen-Analysen - empirisch zu verknüpfen. Umgekehrt flossen die klassischen Methoden der statistischen Demographie vermehrt in die Soziologie ein. So werden in soziologischen Forschungsarbeiten vermehrt Kohorteneffekte (= Verhaltensunterschiede zwischen Personen aus unterschiedlichen Geburtsjahrgängen) empirisch analysiert. Auch ereignisanalytische Studien bzw. die Benützung stochastischer Modelle für diskrete Ereignisse in kontinuierlicher Zeit erfuhren in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Aufschwung, wodurch vermehrt soziologische Variablen in demographische Analysen (zum Beispiel von Geburtenentwicklung oder Überlebensordnungen) einbezogen werden. Zweitens ergaben sich in konzeptueller und theoretischer Hinsicht deutliche Konvergenzen. Das wichtigste Beispiel ist die Entwicklung der Lebensverlaufsforschung, die traditionelle soziologische Forschungsfragen (wie z. B. Mobilitätsforschung) mit sozio-demographischen Fragen (z. B. Familienwww.claudia-wild.de: <?page no="58"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 58 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 59 59 Bevölkerungssoziologie und-Demographie gründung, Migration) verbindet. Damit werden klassische demographische Konzepte (Geburtsjahrgang bzw. Kohorte, generatives Verhalten, Migration, Sterblichkeit) mit sozialwissenschaftlichen Konzepten (Lebenslauf, Familienzyklus, kritische Übergänge und Statuspassagen) in Verbindung gesetzt. Eine verstärkte Verknüpfung von demographischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen ist auch im Bereich der historischen Familienforschung zu beobachten, wodurch die Beziehungen zwischen Geburtenentwicklung, Lebenserwartung und Familien- und Generationenstrukturen in verschiedenen Zeitepochen differenziert erfasst werden konnten. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene haben Fragen zum Zusammenhang von Sozialstruktur und Reproduktion (Geburtenentwicklung, Generationenfolge) ebenfalls eine theoretische Weiterentwicklung erfahren, wodurch sich beispielsweise die Wechselwirkungen zwischen wohlfahrtsstaatlichen Strukturen und soziodemographischen Wandlungen gezielter untersuchen lassen. Neuere bevölkerungssoziologische Ansätze und-Themen Die in den letzten Jahrzehnten feststellbaren markanten Veränderungen der Geburtenhäufigkeit, des Familiengründungsverhaltens wie auch der familialen Strukturen und Lebensformen waren Anlass zur Entwicklung einer Theorie einer Zweiten demographischen Transition in hochentwickelten Gesellschaften. Dabei wird davon ausgegangen, dass die neueren Entwicklungen des generativen Verhaltens in modernen Gesellschaften einen vollständig anderen Charakter aufweisen als der Wandel von hoher zu tiefer Fertilität in der Phase einer ersten demographischen Transformation. Die Theorie einer zweiten demographischen Transformation ist ein theoretischer Ansatz, der explizit von engen Zusammenhängen zwischen sozio-kulturellen Wertorientierungen, familialen Lebensentwürfen und sozio-demographischen Variablen, wie Form und Zeitpunkt der Familiengründung und Geburtenniveau, ausgeht (vgl. Surkyn, Lesthaeghe 2004). Im Bereich der Migrationssoziologie wird räumliche Mobilität vermehrt als zentrales Element sozialer Mobilität wahrgenommen, und Migrationsbewegungen wurden systematischer mit Lebensereignissen und Lebensverläufen in Verbindung gesetzt. Namentlich lebensverlaufsanalytische Ansätze bieten sich in besonderem Maße an, weil Migration häufig mit einem Wechsel im biographischen und sozialen Status verbunden ist (Kley 2009, 50). Bezüglich Lebenserwartung bzw. Überlebensordnung steht die Feststellung im Zentrum, dass soziale Ungleichheiten - von Bildung, Einkommen und Status - zu ausgeprägten Ungleichheiten der Lebenserwartung beitragen. Dahinter verbergen sich auch soziale Ungleichheiten der gesunden Lebensjahre, des erfolgreichen Alterns und allgemein der Lebensqualität (vgl. Richter, Hurrelmann 2006). Entsprechend sind soziale Unterschiede der (gesunden) Lebenserwartung harte Indikatoren für die negativen Auswirkungen sozialer Chancenungleichheiten. Die erhöhte Lebenserwartung - auch im Alter - führen gleichzeitig dazu, dass Langlebigkeit und Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Phänomene stark an Bedeutung gewinnen, mit bedeutsamen Auswirkungen auf Sozialpolitik, Generationenverhältnisse oder Pflegeaufwendungen. Da immer mehr Länder mit einer doppelten demographischen Alterung (wenige Geburten, längere Lebenserwartung im Alter) konfrontiert werden, bilden die festgestellten oder vermuteten gesellschaftlichen Auswirkungen veränderter Alters- und Generationenstrukturen einen zentralen Themenschwerpunkt demographischer und bevölkerungssoziologischer Analysen und Diskurse (vgl. Schimany 2003). In einigen Regionen zeichnet sich sogar eine schrumpfende Bevölkerung ab (Kaufmann 2005). Bevölkerungssoziologisch zentral ist die Feststellung, dass sich demographische Alterungsprozesse oder Bevölkerungsrückgänge immer nur in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen auswirken (und dass eine Gleichsetzung von demographischer Alterung mit gesellschaftlicher Alterung keineswegs zulässig ist). Sowohl demographische Alterung wie Bevölkerungsschrumpfung erfordern vielfältige Anpassungen von Sozial-, Gesundheits- und Siedlungspolitik wie auch von Arbeits- und Konsummärkten (was etwa den Bedarf nach soziodemographischer und bevölkerungssoziologischer Politikberatung erhöht) (vgl. Jansen et al. 2005). Literatur Henßler, Patrick; Schmid, Josef; 2007: Bevölkerungswissenschaft im Werden. Die geistigen Grundlagen der deutschen Bevölkerungssoziologie, Wiesbaden.- - Höpflinger, François; 2012. Bevölkerungssoziologie. Eine Einführung <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 60 60 Bewegung, soziale in bevölkerungssoziologische Ansätze und demographische Prozesse, Weinheim.-- Jansen, Stephan A. et al. (Hg.), 2005: Demographie. Bewegungen einer Gesellschaft im Ruhestand-- Multidisziplinäre Perspektiven zur Demographiefolgenforschung, Wiesbaden.- - Kaufmann, Franz- Xaver, 2005: Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a. M.- - Kley, Stefanie, 2009: Migration im Lebensverlauf. Der Einfluss von Lebensbedingungen und Lebenslaufereignissen auf den Wohnortwechsel, Wiesbaden.-- Mackenroth, Gerhard, 1953: Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin.-- Niephaus, Yasemin, 2012: Bevölkerungssoziologie. Eine Einführung in Gegenstand, Theorien und Methoden, Wiesbaden.- - Richter, Matthias; Hurrelmann, Klaus (Hg.), 2006: Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden.- - Schimany, Peter, 2003: Die Alterung der Gesellschaft. Ursachen und Folgen des demographischen Umbruchs, Frankfurt a. M.- - Schmid, Josef, 1984: Bevölkerung und soziale Entwicklung: Der demographische Übergang als soziologische und politische Konzeption, Boppard am Rhein.-- Surkyn, Johan, Lesthaeghe, Ron J., 2004: Wertorientierungen und ›second demographic transition‹ in Nord-, West- und Südeuropa: Eine aktuelle Bestandsaufnahme; in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 29, 63-98. François Höpflinger Bewegung, soziale Unter einer sozialen Bewegung (engl. social movement) versteht man ein soziales Subjekt, das aus einer relativ großen Anzahl von Menschen besteht, die unter einer zentralen, manchmal charismatischen, Führung, aber ohne sehr feste Organisation ein gemeinsames Anliegen gegenüber der Gesamtgesellschaft oder deren politischen Einrichtungen verfolgen. Meist will sie sozialen oder technischen Wandel herbeiführen, beschleunigen, umkehren oder verhindern und wirkt dann teilweise wie ein sozialer Katalysator. Dieses Anliegen kann sein: wirtschaftliche Besserstellung und Schutz vor Willkür (z. B. Arbeiterbewegung), Gleichberechtigung (Frauenbewegung, US- Bürgerrechtsbewegung), Gewährung von Freiraum für selbstbestimmte Lebensführung (Jugendbewegung), Selbstbefreiung von fremder Unterdrückung (nationale Bewegungen), Schutz der Natur vor dem Menschen (Umweltbewegung), Protest gegen die Nichtbeachtung von Minderheiteninteressen in der offiziellen Politik (außerparlamentarische Opposition), Kampf gegen die Unterdrückung von Menschen durch den Staat (Menschenrechtsbewegung), Abwehr von befürchteten Nachteilen durch weltweite Entwicklungen (Antiglobalisierungsbewegungen) usw. Regelmäßig geht es um einen Missstand, der nach Ansicht der Bewegung von den vorhandenen und zuständigen gesellschaftlichen und politischen Organen gar nicht oder nicht angemessen beachtet wird. Insofern sind soziale Bewegungen i. d. R. ein Anzeichen für fehlenden sozialen oder politischen Wandel und damit ein sozialer Indikator für potenziellen Konflikt, mindestens aber für Mangel an Legitimität der zurzeit zuständigen Instanzen. Wird dem Anliegen einer sozialen Bewegung nicht durch Anpassung der vorhandenen Institutionen Rechnung getragen, sind bei hinreichender Macht der sozialen Bewegung Unruhen, Bürgerkriege und gar Revolutionen nicht ausgeschlossen. Setzt sich die soziale Bewegung aber durch, wird sie zumeist in die bestehenden Strukturen eingebaut (z. B. Unterorganisation für Frauen oder Frauenquote in einer Partei), zur eigenständigen, formalen Organisation (Arbeiterbewegung als Gewerkschaft) oder von den bestehenden Einrichtungen aufgesogen (Umweltziele in die Programme aller Parteien integriert). Wegen ihres im Vergleich zu formellen Organisationen recht konturlosen, aber facettenreichen Erscheinungsbildes, nur wenig deutlicher als Massen oder Mengen, haben die sozialen Bewegungen bisher noch nicht sehr viel allgemeintheoretische Aufmerksamkeit erhalten. Bisher wurden daher eher einige Einzelfragen eingehender behandelt, Führer-Gefolgschafts-Beziehungen, Rekrutierungswesen, Umschlag von Unterdrückung in Aufstand, Zustandekommen von Kollektivhandeln, Mobilisierungsstrategien der Führung usw. Bürgerinitiativen unterscheiden sich von sozialen Bewegungen durch ihre lokale Begrenzung, geringe Mitgliederzahl, relativ enge Anliegen (Verlangen einer Umgehungsstraße, Verhinderung eines Gefängnisbaus) und relativ kurze Lebensdauer, so dass ihre Anliegen nicht auf sozialen Wandel deuten. Soziale Bewegungen werden wegen ihres Verlangens nach zumeist gesamtgesellschaftlichem Wandel an ihrem Anfang oft als illegitim angesehen, kriminalisiert und verfolgt, während Bürgerinitiativen fast regelmäßig erwartete und geduldete bis anerkannte Begleiterscheinungen z. B. eines jeden Bebauungsplans sind. <?page no="60"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 60 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 61 61 Beziehungen, soziale Literatur Eder, Klaus, 2000: Kulturelle Identität zwischen Tradition und Utopie. Soziale Bewegungen als Ort gesellschaftlicher Lernprozesse, Frankfurt a. M./ New York.- - Kern, Thomas, 2008: Soziale Bewegungen, Wiesbaden.- - Roth, Roland; Rucht, Dieter (Hg.), 2008: Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt a. M./ New York. Günter Endruweit Beziehungen, soziale Soziale Beziehungen (engl. social relationships) bestehen zwischen Personen, die voneinander abhängig sind und die ihre Interaktion koordinieren. Soziale Beziehungen werden durch Regeln organisiert, die der Koordination der beteiligten Personen dienen; sie setzen soziale Fertigkeiten voraus, sie verbinden Individuen, die ihre Ziele verfolgen, und sie werden durch die gegebenen Umweltfaktoren gefördert oder eingeschränkt (Argyle/ Henderson 1990). Beispiele, die die Spannweite von sozialen Beziehungen veranschaulichen, sind Geschäftsbeziehungen, Freundschaften und Paarbeziehungen, die im zweiten Teil auch ausführlicher behandelt werden. Im ersten Teil wird mit dem Begriff der Figuration ein sozialwissenschaftliches Rahmenkonzept für soziale Beziehungen dargestellt, und im Anschluss daran wird die Norm der Reziprozität beschrieben, die eine der zentralen Regeln darstellt, durch die soziale Beziehungen koordiniert werden. Figuration: Die Verbindung zwischen Individuum und Gruppe Elias (1997, urspr. 1939) schreibt in der Einleitung seines berühmten Werkes »Über den Prozess der Zivilisation«: »Das Geflecht der Angewiesenheit von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen, sind das, was sie aneinander bindet.« Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als »Figuration aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen« (S. 70). Er benennt diese Konfigurationen im Weiteren als Gruppen oder - auf einer höheren Ebene - als Gesellschaften. Mit dieser Begriffsbildung soll die Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft überwunden werden. Die Gesellschaft wird entsprechend als »das von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht« bezeichnet (S. 71). Eine Analogie kann das Verständnis dessen, was eine Konfiguration ausmacht, erleichtern: Figurationen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Gesellschaftstänzen wie Tango oder Rock’n Roll (Elias 1997, 71). Zwar können unterschiedliche Individuen miteinander tanzen, aber die Abhängigkeit unter den Tänzern, die ihre Tanzschritte koordinieren, ist ein konstituierendes Merkmal des Tanzes. Figuration umfasst also interpersonelle Abhängigkeit und Koordination unter den Handlungen der beteiligten Personen. Während der Tanz eine überschaubare Anzahl von Menschen umfasst und meist auf einer dyadischen Beziehung beruht, kann die Figuration ganze Gesellschaften beschreiben, indem sie die Beziehung der kleineren Gesellschaftseinheiten untereinander darstellt. An anderer Stelle verwendet Elias (2009, urspr. 1970) das Bild eines Gesellschaftsspiels, bei dem vier Personen zusammen Karten spielen. Die Spieler interagieren miteinander und bilden eine Figuration. Eine größere Figuration ergibt sich, wenn zwei Fußballmannschaften aufeinander treffen. An diesen Beispielen wird deutlich, dass Personen in Konfigurationen sowohl Verbündete als auch Gegner sein können (S. 142). Verbündete sind z. B. Lehrer und Schüler oder Arzt und Patient oder Mitglieder eines Stammtischs (zumindest wenn es gut läuft). Hingegen gilt es auch, Interessengegensätze zu berücksichtigen, wenn etwa die Bewohner einer Stadt in ihren Interdependenzen betrachtet werden. Die einen streben z. B. eine Reduzierung der Lärmbelästigung an, während andere den Ausbau des Regionalflughafens forcieren. Der Begriff der Figuration thematisiert die Interdependenz der Individuen und die Koordination ihrer Handlungen auf unterschiedlichen Ebenen. Dem liegt die Idee zugrunde, dass es ein Grundbedürfnis nach Gesellung gibt (Bierhoff 2006). Menschen leiden unter Einsamkeit und streben danach, ihre Bedürfnisse in sozialen Beziehungen zu befriedigen. Elias spricht von Gefühlsbefriedigungen, die durch die Verbundenheit mit anderen Personen möglich werden. Die Nähe anderer, mit denen eine Beziehung aufgebaut wird, ermöglicht soziale Vergleiche und das Lernen von angemessenen Strategien. Dadurch wird die Unsicherheit reduziert und die Selbstsicherheit gesteigert. Die Bedeutung der Interdependenz der Individuen, die Elias in den Mittelpunkt des Begriffs der Konfiguration rückt, wird in der sozialpsychologiwww.claudia-wild.de: <?page no="61"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 62 62 Beziehungen, soziale schen Interdependenztheorie genauer betrachtet (Bierhoff/ Jonas 2011). Dabei geht es um die Frage, wie individuelle Bedürfnisse und gemeinsame Interessen ein Muster der Interdependenz erzeugen, in dem die beteiligten Personen mehr oder weniger gut ihre Ziele erreichen können bzw. sich koordinieren müssen, um die Zielerreichung zu optimieren. Reziprozität als Basis der Kooperation Die Bedeutung der Reziprozität nimmt in der Moderne zu (Elias 2009, 159). In modernen, durch IT bestimmten Gesellschaften reduziert sich tendenziell die Bedeutung von Machtunterschieden, während ein System, das auf Gegenseitigkeit aufgebaut ist, an Bedeutung gewinnt. Reziprozität setzt eine gewisse Verlässlichkeit der Partner in sozialen Beziehungen voraus. Wenn das Vertrauen einer Person durch reziproke Verlässlichkeit der anderen Person bestätigt wird, nimmt das Vertrauen in der Folge zu. Wenn andererseits auf Vertrauen mit Misstrauen geantwortet wird, sinkt das Vertrauen dramatisch. Vertrauen baut sich langsam auf, wird aber schnell reduziert, wenn es in Frage gestellt wird. Soziale Beziehungen üben einen Druck im Hinblick auf Reziprozität aus (Blau 1964). Denn bei Einseitigkeit der Beziehung besteht eine Imbalance, die in Richtung Balance tendiert, wie sie bei der Ausgeglichenheit des Austauschs gegeben ist. Jede Machtdifferenz erzeugt eine Imbalance, die nach Möglichkeit vermieden und bei Fortbestehen durch Legitimität oder Loyalität gerechtfertigt wird. Die Bedeutung der Reziprozität ist nicht nur zwischen Familienmitgliedern, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen festzustellen (Worsley 1970). Die zunehmende Spezialisierung von Gruppen und Institutionen führt zu einem intensiven Austausch von Leistungen, die in einem gewissen Sinne alle von allen abhängig macht. Im Zuge der Globalisierung hat sich die regionale Abhängigkeit in eine weltweite Abhängigkeit entwickelt. Die Tit-for-Tat-Strategie wird häufig angewandt, um reziproke Beziehungen aufzubauen. Sie beinhaltet, dass die Vorgabe des ersten Akteurs durch eine kooperative Handlung gekennzeichnet ist. In den weiteren Handlungen findet eine Spiegelung der Wahlen der Interaktionspartner statt. Handelt der andere kooperativ, antwortet der Akteur mit Kooperation. Handelt der andere mit Wettbewerb, reagiert auch der Akteur wettbewerbsorientiert. Durch die Verwendung der Norm der Reziprozität werden im Regelfall kooperative soziale Beziehungen aufgebaut. Die Bewältigung der Vertrauensfrage beruht auf der Reziprozität kooperativer Wahlen. Reziprozität ist die Voraussetzung für einen florierenden Austausch. Die Regel der Reziprozität stellt eine soziale Norm dar, die kulturübergreifende Gültigkeit besitzt. Freundschaft/ Feindschaft in Beziehungen Freundschaft ist eine Sozialbeziehung, die zwischen zwei Personen in informeller Weise aufgebaut wird. Sie beruht wesentlich auf der Norm der Reziprozität. Man spricht dann von Freundschaft, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: Freiwilligkeit, Stabilität über die Zeit, positiver Erlebnischarakter und sexuelle Neutralität (Auhagen 1993). In Freundschaften spielt die Kommunikation eine große Rolle. Freundschaften tragen dazu bei, dass die beteiligten Personen ihre Biographie rekonstruieren und ihre Selbst- Identität entwickeln. Bemerkenswert sind die geschlechtsspezifischen Besonderheiten. Für Frauen sind Freundschaften generell häufiger und wichtiger als für Männer (Giddens 1992). Eine Feindschaft beruht auf Gegensätzlichkeit und Kontroverse, wie sie z. B. zwischen Binnengruppe und Außengruppe bestehen kann. Wenn die Gruppenbeziehung durch Feindschaft gekennzeichnet ist, kann sich ein permanenter Antagonismus bilden, bei der ethnozentrische Einstellungen vorherrschen (Campbell 1967). Feindseligkeit zwischen Gruppen ist nicht immer das Ergebnis der Gegenüberstellung von Binnengruppe und Außengruppe, sondern hängt auch von der Natur der Begegnung der Gruppen ab. Konflikte sind dann zu erwarten, wenn die Interessen kollidieren. Bei einer potenziellen Inkompatibilität der Interessen und Ziele der Gruppen nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass die Beziehung antagonistischer gestaltet wird (Fritsche/ Kessler 2008). Diese zuletzt genannte Kennzeichnung lässt sich auch auf individuelle Feindschaften übertragen. Je mehr die Personen Interessenkonflikte haben oder sich mit Gruppen solidarisieren, die Interessenkonflikte aufweisen, desto eher kann eine Feindschaft zwischen ihnen entstehen. Feindselige Konflikte entstehen häufig dadurch, dass das subjektive Empfinden von Unvereinbarkeit gegeben ist. Vielfach wird der Aspekt der subwww.claudia-wild.de: <?page no="62"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 62 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 63 63 Beziehungen, soziale jektiven Einschätzung betont. Denn wie eine potenzielle Konfliktsituation kognitiv interpretiert wird, hat einen erheblichen Einfluss auf den Konfliktverlauf. Unter Entstehungsbedingungen von sozialen Konflikten sind Äußerungen von Absichten zu fassen, der Mangel an Vertrauen sowie die Erfahrung der relativen Deprivation. Mit Letzterer sind Enttäuschung und Empörung über die Benachteiligung verbunden, die die Wahrscheinlichkeit von Konflikten erhöhen (Baros 2004). Feindschaften werden auch durch ein Null-Summen-Denken gefördert, wie es der Wettbewerbseinstellung entspricht: Der irrationale Glaube daran, dass es nur Gewinner und Verlierer geben kann, trägt zur Konflikteskalation bei. Eskalationsprozesse müssen nicht Stufe auf Stufe ablaufen, sondern entwickeln sich häufig nach dem Motto, zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. Wichtig ist auch, dass die Konfliktparteien sich in ihrem Eskalationsverlauf unterscheiden, da eine Partei eine höhere Eskalationsstufe erreicht hat als die andere. Konstruktive Konfliktbearbeitung beruht darauf, dass anstelle eines Null-Summen-Denkens das Prinzip der graduellen Verbesserung gestellt wird. Konfliktmanagement ist ergebnisorientiert und zielt auf tragfähige Win-win-Lösungen. Die Erreichung solcher Lösungen kann durch Mediation von dritter Seite erleichtert werden (Montada/ Kals 2007). Paarbeziehungen In Paarbeziehungen bezeichnet Liebe eine kulturabhängige Vorstellung. Man kann vier Komponenten der westlichen Vorstellung von Liebe unterscheiden: • Idealisierung des Partners • Überraschender Beginn (»Liebe auf den ersten Blick«) • Auftreten physiologischer Erregung (»Schmetterlinge im Bauch«) • Projektion einer langfristigen Bindung verbunden mit Opferbereitschaft. Liebe wird aufgrund empirischer Ergebnisse als emotionale Basiskategorie bezeichnet. Die Auswertung von philosophischen und literarischen Schriften des Abendlands führt zu der Identifikation der folgenden Bedeutungen der Liebe: • Physische/ emotionale Abhängigkeit vom Partner • Wunsch danach, den Partner zu umsorgen • Vertrauen in den Partner. Nach Barnes und Sternberg (1997) kann man zwischen leidenschaftlicher und kameradschaftlicher Liebe unterscheiden. Unter die erstgenannte Form fallen die romantische, besitzergreifende und spielerische Liebe. Unter die letztgenannte Form lassen sich pragmatische, freundschaftliche und altruistische Liebe einordnen (vgl. Rohmann et al. 2012). Empirische Studien von Bierhoff und Schmohr (2004) lassen erkennen, dass es eine allgemeine Entwicklungssequenz der Liebe gibt, wonach die besitzergreifende und die altruistische Liebe bei Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren überwiegt, während junge Erwachsene romantische Liebe und freundschaftliche Liebe bevorzugen (zusätzlich zur altruistischen Liebe). Im weiteren Verlauf der Beziehung nimmt die Bedeutung von altruistischer, pragmatischer und freundschaftlicher Liebe zu, während die Bedeutung der spielerischen Liebe abnimmt. Romantische und besitzergreifende Liebe bleiben bis zum mittleren Erwachsenenalter relativ unverändert. Das deutet darauf hin, dass kameradschaftliche (z. B. freundschaftliche) und leidenschaftliche (z. B. romantische) Liebe parallel hoch ausgeprägt sein können und gleichermaßen zur Initiierung und Aufrechterhaltung einer Beziehung beitragen. Geschäftsbeziehungen Geschäftsbeziehungen finden typischerweise zwischen Organisationen statt. Ein Beispiel ist die Beziehung zwischen einer Organisation, die als Kunde auftritt, und einer, die als Lieferant zur Verfügung steht. Geschäftsbeziehungen zeichnen sich durch ein Commitment aus, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Z. B. kann der Kunde ein enges Commitment an den Lieferanten entwickeln. Für Geschäftsbeziehungen ist außerdem das Vertrauen zwischen den Partnern von großer Bedeutung (Shapiro et al. 1992). Grundsätzlich lassen sich drei Stufen des Vertrauens unterscheiden: Vertrauen als kalkuliertes Risiko (Vertrauen hängt von erwarteten Belohnungen und Kosten ab), Vertrauen aufgrund von Vorerfahrungen mit dem anderen (Vertrauen ist eine Funktion der Verhaltenskonsistenz des anderen) und Vertrauen, das auf gemeinsamen Projekten und einer früheren Transaktion beruht (Vertrauen durch Identifikation). <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 64 64 Bildungssoziologie Literatur Argyle, Michael; Henderson, Monika, 1990: Die Anatomie menschlicher Beziehungen, München.-- Auhagen, Ann E., 1993: Freundschaft unter Erwachsenen; in: Dies.; Salisch, Maria von (Hg.): Zwischenmenschliche Beziehungen, Göttingen, 215-233.- - Barnes, Michael L.; Sternberg, Robert, 1997: A hierarchical model of love and its prediction of satisfaction in close relationships; in: Sternberg, Robert; Hojjat, Mahzad (Hg.): Satisfaction in close relationships, New York, NY, 79-101.- - Baros, Wassilios, 2004: Konfliktbegriff, Konfliktkomponenten und Konfliktstrategie; in: Sommer, Gert; Fuchs, Albert (Hg.): Krieg und Frieden, Weinheim, 208-221.- - Bierhoff, Hans-Werner, 2006: Sozialpsychologie, Stuttgart.-- Ders.; Jonas, Eva, 2011: Soziale Interaktion; in: Frey, Dieter; Bierhoff, Hans-Werner (Hg.): Sozialpsychologie. Interaktion und Gruppe, Göttingen, 131-159.- - Ders.; Schmohr, Martina, 2004: Romantic and marital relationships; in: Lang, Frieder R.; Fingerman, Karen L. (Eds.): Growing together, Cambridge, NY, 103-129.- - Blau, Peter M., 1964: Exchange and power in social life, New York, NY.-- Campbell, Donald T., 1967: Stereotypes and the perception of group differences; in: American Psychologist 22, 817-829.-- Elias, Norbert, 1997: Über den Prozess der Zivilisation (Bd. 1), Frankfurt a. M.-- Ders., 2009: Was ist Soziologie? , Weinheim.-- Fritsche, Immo; Kessler, Thomas, 2008: Die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts; in Peterson, Lars E.; Six, Bernd (Hg.): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung, Weinheim, 214-222.- - Giddens, Anthony, 1992: The transformation of intimacy, Cambridge, UK.- - Montada, Leo; Kals, Elisabeth, 2007: Mediation, Weinheim.- - Rohmann, Elke et al., 2012: Grandiose and vulnerable narcissism. Self-construal, attachment, and love in romantic relationships; in: European Psychologist 17, 279-290.- - Shapiro, Debra L. et al., 1992: Business on handshake; in: Negotion Journal 8, 365-377.-- Worsley, Peter, 1970: Introducing sociology, Harmondsworth, UK. Hans-Werner Bierhoff Bias Bias (engl. für »Verzerrung«) bezeichnet ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit, verursacht durch systematische oder zufällige Fehler. In der Empirie spricht man von Verzerrungen, wenn Forschungsergebnisse (beispielsweise von Umfragen) nicht die tatsächlichen Meinungen, d. h. nicht den »wahren Wert« abbilden und somit (Teil-) Ergebnisse überbzw. unterschätzt werden. Auftreten können diese Abweichungen in quantitativen und qualitativen Untersuchungen unter anderem bei der Stichprobenauswahl (Selection-Bias), bei Selbstauskünften von Befragten (z. B. Non-Response-Bias oder infolge von sozialer Erwünschtheit), aber auch durch die Untersuchungsperspektive der Forschenden (z. B. Bestätigungs-Bias). In der Statistik beschreibt eine Verzerrung der Schätzfunktion (Estimation-Bias) die Differenz zwischen dem Schätzwert aus der Stichprobe und dem wahren Wert in der Population. Erwartungstreue Schätzfunktionen haben per Definition einen Bias von 0 (Unverzerrtheit). Anders als zufällige Fehler können systematische Verzerrungen nicht durch (theoretisch unendlich) viele Messungen aufgehoben werden; allerdings können z. B. der Einsatz valider Messverfahren, eine Standardisierung der Erhebung oder Interviewerschulung Verzerrungen reduzieren. Literatur Diekmann, Andreas, 2009: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, 20. Aufl., Reinbek.- - Schnell, Rainer et al., 2011: Methoden der empirischen Sozialforschung, 9. Aufl., München. Silke Kohrs Bildungssoziologie Die Bildungssoziologie (engl. sociology of education) beschäftigt sich - trotz der teilweise mit dem Begriff Bildung verbundenen essentialistischen Diskussionen - vor allem mit den inneren Strukturen und den Ergebnissen des Bildungssystems. Im Mittelpunkt der Forschung stehen dabei das Verhältnis von Bildung und Arbeitswelt, die Effizienz der Schule sowie unterschiedlicher Bildungssysteme und insbesondere das Problem der sozialen Ungleichheit und der Rolle der Bildung und der Bildungssysteme bei der Perpetuierung derartiger (Ungleichheits-) Strukturen sowie schließlich mögliche Änderungspotentiale. Hierbei werden immer die ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialstrukturellen Bedingungen dieser Prozesse mitgedacht und untersucht (Kopp 2009; Becker 2009). Die Zahl, vor allem aber auch die Rezeption bildungssoziologischer Studien unterliegt dabei großen Schwankungen. Während in Westdeutschland im Anschluss an die Arbeiten von Dahrendorf (1965) bis in die Mitte der 1970er Jahre eine rege Diskussion zu finden ist, <?page no="64"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 64 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 65 65 Bildungssoziologie ist danach eine relativ lange Latenzphase zu beobachten, die erst wieder durch die Studien von Shavit und Blossfeld (1993) sowie Müller und Haun (1994) beendet wird. Seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 ist die Bildungsforschung eines der am stärksten beachteten Felder innerhalb der Soziologie. Dies ist sicherlich auch dadurch begründet, dass mit dem Thema Bildung eine der genuinen Fragestellungen der Soziologie, die Beschäftigung mit den Gründen sozialer Ungleichheit (Berger 2005) wieder stärker in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Die wohl zunehmende Bedeutung von Bildung für die soziale Platzierung und die vielfältig zu findenden unterschiedlichen Chancen im Bildungssystem vor allem im Bezug zur sozialen Herkunft machen das zunehmende Interesse an bildungssoziologischen Fragestellungen verständlich. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass gerade in Anbetracht des demographischen Wandels die Funktion von Bildung im ökonomischen Prozess insbesondere in modernen Industriegesellschaften wohl immer wichtiger wird. Historische Entwicklung und die Anfänge der-Bildungsforschung in der Bundesrepublik Ein erster Blick richtet sich auf die institutionelle Ausgestaltung des Bildungsbereiches und damit meist auf die historische Entwicklung und die aktuelle Situation des Bildungssystems. Bedingt durch ihre föderale Struktur weist die Bundesrepublik eine nur schwer nachvollziehbare Vielfalt der einzelnen Bildungsinstitutionen auf (vgl. für den Versuch eines Überblickes Cortina et al. 2008). Von besonderem Interesse ist dabei, dass die wesentlichen Züge des aktuellen Bildungssystems - die nahezu überall zu findende deutliche horizontale Gliederung des Bildungssystems mit einer frühen Entscheidung für einen bestimmten Bildungsgang sowie meist relativ geringen Übergangschancen, die Trennung zwischen einer grundständigen Ausbildung und einer Schulbildung als Vorbereitung für ein akademisches Studium, die territoriale Unterschiedlichkeit des Bildungssystems, aber auch die klare Trennung in der Ausbildung der Lehrkräfte für die einzelnen Bildungsgänge - ihre Wurzeln weit im 19. Jh. haben und trotz aller politischen Krisen und Umbrüche des 20. Jh.s eine erstaunlich hohe Persistenz bis in die heutige Zeit aufweisen (Herrlitz et al. 1998). Soziologische Aufmerksamkeit kommt Bildung jedoch nicht nur durch ihre Institutionen zu, sondern vor allem durch ihre gesellschaftlichen Funktionen. Ausgehend von der Idee einer geordneten und systematischen gesellschaftlichen Entwicklung galt Bildung etwa bei Talcott Parsons als Universalie im Rahmen des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses und als charakteristisches Differenzierungsmerkmal moderner, ausdifferenzierter Gesellschaften. Wenn man von einigen eher kultursoziologischen Studien im Anschluss an die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges absieht, die sich mit der Entstehung der Barbarei in einer selbst so definierten Bildungsnation befassten und den daraus zu ziehenden Konsequenzen beschäftigten (Adorno 1969), waren jedoch die empirischen Diagnosen von Georg Picht, Hansgert Peisert und - sicherlich am bekanntesten - Ralf Dahrendorf zur (ungleichen) Bildungsbeteiligung in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre bahnbrechend für eine empirisch orientierte Bildungsforschung. Diese führte u. a. zur Gründung eines Max-Planck-Instituts. Während die ersten Arbeiten noch vor allem auf die starken regionalen Unterschiede und die vermuteten Bildungsreserven hinwiesen (hierbei ging es unter anderem um das wirtschaftliche Entwicklungspotential), rückten mit den Studien von Peisert und Dahrendorf die »soziale Lage und die Bildungschancen in Deutschland« in den Mittelpunkt. Bei diesen Analysen lässt sich Bildungsungleichheit in vier Dimensionen zeigen: neben den schon erwähnten regionalen Mustern, die vor allem auch eine Stadt-Land-Differenzierung abbilden, zeigen sich konfessionelle Unterschiede, ungleiche geschlechtsspezifische Bildungschancen sowie schließlich eben auch dramatische Unterschiede hinsichtlich der sozialen Herkunft. Zusammenfassend wurde hierbei von der Problematik des ›katholischen Arbeitermädchens auf dem Lande‹ gesprochen. Diese auch große öffentliche Aufmerksamkeit erzeugende Untersuchungen waren der Beginn einer weitreichenden Diskussion über die sogenannte Bildungskatastrophe, die die Veränderung und hierbei vor allem den historisch unvergleichbaren Ausbau des Bildungssystems, der bereits seit den späten 1950er Jahren in der alten Bundesrepublik zu beobachten war, begleitete, wenn auch nicht verursachte. Die unterschiedliche Bildungsbeteiligung wurde dabei als Gefahr für die Gestaltung einer offenen und modernen Gesellschaft, als ökonomisches Entwicklungsrisiko aufgrund fehlenden Fachpersonals <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 66 66 Bildungssoziologie mit qualifizierten Kenntnissen und schließlich als soziales Problem wahrgenommen, da hierdurch soziale Mobilität und das Prinzip der Meritokratie beeinträchtigt werden. Obwohl sicherlich die ökonomischen Argumente die größte Rolle beim Ausbau des Bildungssystems spielten, kam auch der soziologischen Argumentation bei der Akzeptanz dieser Maßnahmen eine Bedeutung zu. Theoretisch kann Bildung dabei als Investition in Humankapital angesehen werden, das wiederum in verschiedenen Bereichen produktiv eingesetzt beziehungsweise in andere Kapitalien im Bourdieuschen Sinne umgewandelt werden kann. Variierende Bildungsbeteiligungen sind dann als unterschiedliche Investitionsstrategien zu verstehen. Alternativ lassen sich diese Unterschiede jedoch auch auf soziale Schließungsmechanismen und als Ergebnis sozialer Konflikte interpretieren. Der Zugang zu Bildungsabschlüssen wird erschwert und beispielsweise von der Verwendung bestimmter Sprachcodes abhängig gemacht. Wenn Bildungszertifikate allein nicht mehr den Zugang zu angestrebten sozialen Positionen eröffnen, werden nichtfunktionale und sogenannte feine Unterschiede im Sinne Bourdieus als Distinktionsmechanismus eingesetzt. Die Bildungssoziologie der 1970er und 1980er Jahre hatte einen Schwerpunkt bei der Erforschung der schulinternen Mechanismen, die diese Bildungsungleichheiten in der Schule reproduzieren. Hierbei wurde auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen, Erwartungen und Denksowie Verhaltensweisen, aber eben - wie gerade erwähnt - auch auf die schichtspezifische Verwendung bestimmter Sprachcodes (restringierter versus elaborierter Sprachcode) und deren unterschiedliche Einsetzbarkeit in Bildungsinstitutionen verwiesen. Begleitet wurde diese Diskussion durch einen enormen Ausbau des Bildungssystems und eine historisch einzigartige Bildungsexpansion. Als Ergebnis dieser Prozesse lässt sich ein deutlicher Rückgang der regionalen Unterschiede und damit einhergehend der Konfessionsunterschiede feststellen. Während bis in die 1970er Jahre noch deutlich schlechtere Bildungsergebnisse von Mädchen zu beobachten waren, hat in diesem Bereich eine Umkehr der Verhältnisse stattgefunden: der Frauenanteil in weiterführenden Schulen, aber auch an den Universitäten liegt über 50 Prozent, wobei sich jedoch immer noch deutlich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen etwa bei der universitären Ausbildung finden. Während die aktuellen Befunde auch für das wiedervereinigte Deutschland Gültigkeit beanspruchen, muss die historische Entwicklung für die DDR gesondert betrachtet werden (vgl. Kopp 2009). Hier wurde nach 1945 ein einheitliches und eben nicht föderal zersplittertes Schulsystem aufgebaut, dessen Kern zuerst eine verbindliche achtjährige Grundschule war, die - und das war nicht selbstverständlich - koedukativ unterrichtete. Anschließend stellte eine vierjährige Oberschule einen, aber nicht den einzigen Weg zur Hochschulreife dar. Unterstützt wurde dieses zentralisierte Schulbildungssystem durch die konsequente und nahezu flächendeckende Einrichtung von Institutionen der Vorschulerziehung wie Kinderkrippen und -gärten, die selbstverständlich als Ganztageseinrichtungen konzipiert waren. Aussagen zur sozialen Selektivität des Schulsystems in der DDR sind aufgrund der stark eingeschränkten Datenlage nur schwer möglich. Versuche der positiven Diskriminierung von Kindern aus der Arbeiterklasse in den frühen Jahren der DDR beinhalteten eine gezielte Benachteiligung von Kindern bürgerlicher Schichten und religiös gebundener Bevölkerungsteile. Zu bedenken ist jedoch auch, dass der Zugang zu höherer Bildung im Rahmen der Planwirtschaft auch quantitativ gesteuert und vor allem stark eingeschränkt wurde und dass später Bildungsprivilegien der sog. sozialistischen Intelligenz zunahmen und man deshalb durchaus von einer sozialen Schließung des Bildungssystems sprechen kann. Mit dieser anfänglichen sozialen Öffnung des Bildungssystems und der daran anschließenden Zunahme sozialer Ungleichheiten spiegelt sich in der DDR ein Muster wider, das auch in anderen sozialistischen Staaten zu beobachten war (Shavit/ Blossfeld 1993). Bildung und soziale Herkunft Während sich hinsichtlich der regionalen, konfessionellen und geschlechtsspezifischen Unterschiede also eine rasche Angleichung der Bildungserfolge beobachten lässt, sind die Befunde hinsichtlich der sozialen Selektivität der Bildung wesentlich unklarer und uneinheitlicher. Zwar hat die Bildungsbeteiligung in den unteren sozialen Schichten zugenommen, es ist jedoch offen, ob sich die Ungleichheitsrelationen auch verändert haben oder ob nicht vielleicht die Bildungsbeteiligung der oberen Schichten noch stärker gestiegen ist. Genau mit diesen Fragen beschäftigen <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 66 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 67 67 Bildungssoziologie sich verschiedene Studien aus den 1990er Jahren, wobei die Entwicklungen sowohl in der Bundesrepublik wie auch im internationalen Vergleich beobachtet wurden (Shavit/ Blossfeld 1993; Müller/ Haun 1994). Generell lässt sich als ein Ergebnis dieser Untersuchungen festhalten, dass trotz der nahezu in allen Ländern und auch in allen sozialen Schichten feststellbaren gestiegenen Bildungspartizipation und einigen Egalisierungsentwicklungen immer noch - teilweise sogar dramatische - Ungleichheiten zu konstatieren sind. Darüber hinaus gibt es Befunde, die eine Verschiebung der Trennungslinie vom Übergang Hauptschule versus Realschule und Gymnasium hin zum Übergang Hauptschule beziehungsweise Realschule versus Gymnasium - also einen Fahrstuhleffekt sozialer Ungleichheit - vermuten lassen. Die aktuelle bildungssoziologische Diskussion ist durch Spekulationen über den Einfluss der konkreten Organisation des Schulsystems geprägt. Schon in den 1970er Jahren wurde versucht, mit Hilfe der Einführung der Gesamtschulen der sozialen Selektivität von Bildung entgegenzusteuern. Hierzu wurden konkrete Bildungsreformen durchgeführt, die unter anderem die Einführung von integrierten Gesamtschulen als Regelschule umfassten. Der politische Widerstand gegenüber diesen Maßnahmen war allerdings so groß, dass diese Versuche wieder zurückgenommen werden mussten, bevor die begleitenden sozialwissenschaftlichen Evaluationen beendet und ihre relativ klaren und vor allem positiven Ergebnisse veröffentlicht werden konnten. Dabei sind diese Ergebnisse mit neueren Leistungstests nicht vergleichbar, da im heutigen Bildungssystem Gesamtschulen eine Option unter vielen, aber eben keine Regelschule darstellen und somit Prozesse der Selbstselektion zu beobachten sind (Fend 1982). Bildungsleistungen im internationalen Vergleich Die sicherlich in den letzten Jahren am häufigsten diskutierte bildungssoziologische Untersuchung stellt die sogenannte PISA-Studie dar, deren Ziel es war, vergleichende Daten über die Ressourcenausstattung, individuelle Nutzung sowie Funktions- und Leistungsfähigkeit ihrer Bildungssysteme zur Verfügung zu stellen. Ausgangspunkt war der Versuch, die Vermittlung bestimmter Basiskompetenzen in einzelnen Wissensbereichen zu überprüfen. Im Einzelnen stehen die Lesekompetenz, eine mathematische und eine naturwissenschaftliche Grundbildung 15-jähriger Jugendlicher im Mittelpunkt von PISA. Die öffentliche Diskussion fokussierte sich eher auf die Rangordnung der einzelnen Länder, Ursachen für die unterschiedlichen Platzierungen lassen sich aus den Daten aber nur schwer ableiten. Bildungssoziologisch relevanter ist aber die dabei zu Tage tretende große Streuung der Leistungen innerhalb der Bundesrepublik. Wenn man die Verteilung der Schüler und Schülerinnen auf fünf Kompetenzstufen betrachtet und davon ausgeht, dass vor allem Schüler, die bereits mit den Aufgaben der ersten Stufe Probleme aufweisen, eine besondere Risikogruppe darstellen, so zeigt sich rasch, dass in der Bundesrepublik besonders Kinder mit einem Migrationshintergrund in diese Risikogruppe fallen. Es zeigt sich zudem, dass diese Schüler sich konzentriert in Hauptschulen wiederfinden - und dort auch verbleiben. Darüber hinaus lassen sich auch mit den Daten von PISA einige bekannte Tatsachen über die soziale Ungleichheit von Bildungschancen replizieren. So interessant diese Befunde auch sind, wirklich überraschen konnten sie aufgrund der zuvor skizzierten Forschungsergebnisse nicht mehr. Die Befunde erneuern bekannte Ergebnisse und Probleme. Bildung und ethnische Herkunft Gerade auch in den PISA-Untersuchungen wird immer wieder auf die dramatische Ungleichheit hinsichtlich einer ethnischen Dimension hingewiesen. Auch in diesem Bereich kann man auf einige bahnbrechende Studien in den Vereinigten Staaten hinweisen wie beispielsweise die Untersuchung »Equality of Educational Opportunity«, in der unter der Leitung von James S. Coleman die Ursachen für die dramatischen Unterschiede im Bildungsniveau zwischen farbigen und weißen Schülern im Auftrag des amerikanischen Präsidenten geklärt werden sollen (vgl. Kopp 2009 für eine ausführliche Darstellung). Trotz aller im Nachhinein diskutierbaren methodischen Probleme wurde als wichtigste Ursache die fehlende ethnische Heterogenität der Schulen ausgemacht und durch konkrete sozialpolitische Maßnahmen - das sogenannte busing - in Angriff genommen. Auch in der Bundesrepublik finden sich in der Zwischenzeit erste Ergebnisse, die die Zusammensetzung beziehungsweise die hohe Segregation der Schulklassen als wichtigen Faktor des Bildungserfolwww.claudia-wild.de: <?page no="67"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 68 68 Biographieforschung ges diagnostizieren. Weiterhin wird auf die Bedeutung eines frühzeitigen Spracherwerbs hingewiesen. Gerade in diesen Bereichen besitzt die Bildungsforschung evaluativen Charakter für die verschiedensten schulpolitischen Maßnahmen (vgl. als weiteres Beispiel die Studie von Bowen und Bok (1998) über die Folgen der affirmative action bei der Zulassung zu Colleges und Universitäten in den Vereinigten Staaten). Aktuelle Entwicklungen der Bildungsforschung Die Schwierigkeiten der empirischen Bildungsforschung in der Bundesrepublik und die zunehmende Bedeutung von Bildung im Lebensverlauf haben zur Initiierung des Deutschen Bildungspanels (NEPS: National Educational Panel Study) geführt. In dieser Studie werden seit 2009 Längsschnittdaten zu Kompetenzentwicklungen, Bildungsprozessen, Bildungsentscheidungen und Bildungsrenditen in formalen, nicht-formalen und informellen Kontexten über die gesamte Lebensspanne erhoben. Zusammen mit einer zunehmend theoretisch beleuchteten Analyse der Bildungsentscheidungen der verschiedenen Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen des Bildungssystems (vgl. etwa Breen/ Goldthorpe 1997) erscheinen hierdurch die bildungssoziologischen Fragen dauerhaft gut beantwortbar. Literatur Adorno, Theodor W., 1969: Stichworte, Frankfurt a. M.-- Becker, Rolf (Hg.), 2009: Lehrbuch der Bildungssoziologie, Wiesbaden.-- Berger, Johannes, 2005: »Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen«. Zur Vergangenheit und Gegenwart einer soziologischen Schlüsselfrage; in: Zeitschrift für Soziologie 33, 354-374.-- Bowen, William G.; Bok, Derek, 1998: The Shape of the River. Long-Term Consequences of Considering Race in College and University Admissions, Princeton.- - Breen, Richard; Goldthorpe, John H., 1997: Explaining Educational Differentials. Towards a Formal Rational Choice Theory; in: Rationality and Society 9, 275-305.- - Cortina, Kai S. et al. (Hg.), 2008: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick, Reinbek.- - Fend, Helmut, 1982: Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs, Weinheim/ Basel.- - Herrlitz, Hans-Georg et al., 1998: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 2. Aufl., Weinheim/ München.- - Kopp, Johannes, 2009: Bildungssoziologie, Wiesbaden.-- Müller, Walter; Haun, Dietmar, 1994: Bildungsungleichheit im sozialen Wandel; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46, 1-42.-- Shavit, Yossi; Blossfeld, Hans-Peter (Hg.), 1993: Persisting Inequality: Changing Educational Stratification in Thirteen Countries, Boulder. Johannes Kopp Biographieforschung Biographieforschung (engl. biographical research) ist eine insbesondere in der Soziologie (Rosenthal 2005; Völter u. a. 2005), aber auch in den Erziehungswissenschaften (Krüger, Marotzki 1999) national und international etablierte Teildisziplin mit einer eigenen genuinen Theoriegrundlage und Methodologie, die in der Bundesrepublik in erster Linie auf dem Sozialkonstruktivismus in der Tradition von Peter L. Berger und Thomas Luckmann und interpretativen Methoden gründet. Zentrales Anliegen der soziologischen BF ist es, der gegenseitigen Konstitution von Individuen und Gesellschaften gerecht zu werden. Lebensgeschichtliche und kollektivgeschichtliche Prozesse werden in ihren »Wechselwirkungen« und unhintergehbaren Verflechtungen empirisch untersucht. Biographie wird also nicht als etwas rein Individuelles oder Subjektives, sondern als ein soziales Konstrukt verstanden, das auf kollektive Regeln, Diskurse und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist und sowohl in seiner Entwicklung als auch im deutenden Rückblick der AutobiographInnen immer beides zugleich ist: ein individuelles und ein soziales Produkt. Mit einem biographietheoretischen Ansatz sind neben dem von den Biographien und Handlungsgeschichten von Individuen ausgehenden Versuch, diesen »Wechselwirkungen« gerecht zu werden, noch zwei weitere Prämissen verbunden. Zum einen ist es die Forderung danach, Bedeutungen von Erfahrungen nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte zu interpretieren, und zum anderen der Anspruch einer Prozessanalyse, die den historischen Verlauf der Entstehung, Aufrechthaltung und Veränderung von sozialen Phänomenen im Kontext von Lebensverläufen rekonstruiert. Datenmaterial Neben meist in biographisch-narrativen Interviews erzählten bzw. präsentierten Lebensgeschichten sind auch niedergeschriebene und veröffentlichte Autowww.claudia-wild.de: <?page no="68"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 68 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 69 69 Biographieforschung biographien, biographische Thematisierungen in Alltags- oder Organisationskontexten, (familien-) biographische Dokumente (Fotoalben, Tagebücher oder Briefe etc.) und personenbezogene Akten (Lebensläufe in Gerichtsverfahren, Personalakten in Parteien, Anamneseakten etc.) und die Kombination dieser Materialien die Datengrundlage für die Rekonstruktion sozialen Handelns (sowie Erlebens) und sozialer Milieus in ihrer Entstehungsgeschichte. Ziele Das Anliegen biographischer Forschung kann in unterschiedliche Ziele differenziert werden. Zum einen geht es um die Analyse des gelebten Lebens bzw. spezifischer Lebensbereiche oder -phasen von bestimmten Personengruppen oder gesellschaftlichen Gruppierungen in bestimmten historischen Zeiträumen (z. B. die klassische Untersuchung von Thomas und Znaniecki zu polnischen Migranten in den USA oder Studien zu bestimmten Jugendszenen). Zum anderen geht es um die Rekonstruktion bestimmter sozialer Settings aus der Perspektive der Handelnden in spezifischen historischen Epochen und soziokulturellen Kontexten (z. B. eine Milieustudie über einen sozialen Brennpunkt in einer Großstadt). Ein weiteres Ziel ist die Analyse biographischer Selbst- und Fremdthematisierungen in sozialen Interaktionen (z. B. biographische Thematisierungen von Klient/ innen auf Ämtern). Für die gegenwärtige soziologische Biographieforschung sind weitere wichtige Anliegen die Analyse der biographischen Konstruktionen und der biographischen Selbstpräsentation in der Gegenwart (z. B.: Was sind die Regeln biographischer Selbstthematisierungen von Überlebenden kollektiver Gewalt aus Bosnien oder von ehemaligen Psychiatriepatienten? ) und, damit verbunden, die Rekonstruktion der Genese und Transformationen dieser Konstruktionen. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern biographische Thematisierungen in der Vergangenheit in bestimmten Settings (wie z. B. ein Asylverfahren oder auch Gespräche in der Psychiatrie) einen nachhaltigen Einfluss auf die Konstruktionen in der Gegenwart in anderen sozialen Kontexten und Situationen haben. Des Weiteren zielt biographische Forschung auf Konzeptionen für eine biographische Diagnostik sowie biographische Gesprächsführung in diversen Praxisfeldern ab. Biographisch-narrative Interviews und-Biographische Fallrekonstruktionen Fritz Schütze (1983) entwickelte in den 1970er Jahren die Technik des narrativen Interviews sowie eine Methode der textanalytischen Auswertung erzählter Lebensgeschichten. Die Methoden der narrativen Gesprächsführung wurden seither, insbesondere was die Nachfragetechniken betrifft, weiterentwickelt und in unterschiedlichen Forschungssowie Beratungskontexten erprobt (Rosenthal 1995, 186- 207). Im Interview werden die Befragten zunächst zur ausführlichen Erzählung ihrer Familien- und Lebensgeschichte oder bestimmter Phasen und Bereiche ihres Lebens aufgefordert, und erst in der zweiten Phase des Gesprächs werden erzählgeneriende Nachfragen gestellt. Neben der von Schütze vorgestellten Text- und Erzählanalyse, bei der die Unterscheidung von Textsorten (Erzählung, Argumentation und Beschreibung) und die Analyse der Funktionen ihrer Verwendung eine wesentliche Rolle spielen, gibt es mittlerweile mehrere Modifikationen und Versuche der Verbindung mit anderen interpretativen Verfahren, insbesondere mit der Objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann, wie sie z. B. von Bruno Hildenbrand, Monika Wohlrab- Sahr oder der Autorin vorgestellt wurden. Gemeinsam ist diesen Verfahren ihr rekonstruktives und sequenzielles Vorgehen. In der von der Autorin vorgestellten Methode biographischer Fallrekonstruktionen (Rosenthal 2005, 137-160, 173-198) ist es entscheidend, zwischen erzählter und erlebter Lebensgeschichte zu differenzieren und den beständigen Wandel von Bedeutungen im Lebensverlauf zu berücksichtigen. Um dies zu ermöglichen, ist es erforderlich, in getrennten Analyseschritten den biographischen Bedeutungen von Erlebnissen in der Vergangenheit und den Bedeutungen von Erinnerung und Präsentation in der Gegenwart nachzugehen. Einerseits wird versucht, die Chronologie der biographischen Erfahrungen im Lebensverlauf und deren Bedeutungen für den Biographen zu rekonstruieren. Andererseits wird die zeitliche Struktur der Lebenserzählung analysiert, d. h. der Frage nachgegangen, in welcher Reihenfolge, in welcher Ausführlichkeit und in welcher Textsorte die Biograph/ innen ihre Erfahrungen im Kontext derTextproduktion (in einem Interview oder auch in einem anderen Rahmen, wie z. B. einem Familiengespräch oder einer niedergeschriebenen Biographie) präsentieren. <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 70 70 Bürgertum Bei diesem Analyseschritt, der sich auf die aktuelle Präsentation der Lebensgeschichte konzentriert, wird vor allem der Interaktionsverlauf zwischen Befragten und Zuhörern rekonstruiert. Literatur Fuchs-Heinritz, Werner, 2000: Biographische Forschung, Opladen.- - Krüger, Heinz Hermann; Marotzki, Winfried (Hg.) (1999): Handbuch Biographieforschung, Opladen.- - Rosenthal, Gabriele, 1995: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, Frankfurt a. M.-- Dies., 2005: Interpretative Sozialforschung, Weinheim/ München, Kap. 5.4. Narratives Interview und narrative Gesprächsführung, 137-160; Kap. 6. Biographieforschung und Fallrekonstruktionen, 161-198.-- Schütze, Fritz, 1983: Biographieforschung und narratives Interview; in: Neue Praxis 3, 283-293.- - Völter, Bettina et al. (Hg.), 2005: Biographieforschung im Diskurs, Wiesbaden. Gabriele Rosenthal Boykott Boykott (engl. boycott) oder »Verrufserklärung« (bzw. Ächtung) bezeichnet primär ein wirtschaftliches und soziales Sanktionsmittel (benannt nach dem gleichnamigen irischen Gutsverwalter, der 1879/ 80 wegen seiner sozialen Härte allgemein geächtet wurde). Während der Früh- und Hochindustrialisierung diente er als Ersatz oder Ergänzung zu Streik und Aussperrung. So suchten Arbeiter, (zusätzlichen) Druck auf Unternehmer auszuüben durch organisierte Entziehung von Kaufbereitschaft (Warenboykott), z.T. auch durch Unterbindung des gesamten wirtschaftlichen Verkehrs; eine Steigerungsform stellen Blockaden dar, die dies auf direktem Weg, mit physischen Mitteln zu erreichen suchen. Unternehmer bedienten sich »schwarzer Listen«, um die Einstellung unliebsamer Arbeitnehmer (z. B. Agitatoren, Streikführer, Gewerkschaftskader) zu verhindern. Mit dem Ausbau der Gewerkschaften und der Institutionalisierung der Tarifautonomie verlor der Boykott als Mittel des industriellen Konflikts an Bedeutung. Als politisches Druckmittel ist er weiterhin gebräuchlich (Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nationalsozialisten 1933; Boykott südafrikanischer Produkte als Protest gegen die Apartheidpolitik). In neuerer Zeit kam es auch aus ökologischen Motiven zu organisierten Warenboykotts (z. B. gegen den Import von Robbenfellen oder Schildkrötenprodukten). Anwendung findet der Boykott als Störung und Unterbindung des wirtschaftlichen Verkehrs auch in den internationalen Beziehungen: Regierungen benutzen ihn als politisches Mittel gegen feindliche Staaten oder Staatengruppen. Literatur Binkert, Gerhard, 1981: Gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen im System des Arbeitskampfrechts, Berlin.- - Maschke, Richard, 1911: Boykott, Sperre und Aussperrung, Jena.- - Schwittau, Georg., 1912: Die Formen des wirtschaftlichen Kampfes, Berlin. Walther Müller-Jentsch Bürgertum Das Bürgertum (engl. bourgeoisie) bezeichnete in den europäischen Ständeordnungen den Dritten Stand. Der Begriff des Bürgers hingegen findet sich bereits in der Antike und verweist auf jene, die im Besitz der Bürgerrechte im Staat sind. Im Frühmittelalter kennzeichnete der Begriff jene, die sich um eine Burg ansiedelten, schließlich im Hochmittelalter die freien Bewohner der Städte, die sich zu einem Schwurverband zusammenschlossen und sich eine von der feudalen Grundherrschaft unabhängige kommunale Verwaltung erkämpft hatten. An der Spitze der Stadtgemeinde stand das Ratspatriziat aus Großkaufleuten und Adeligen, darunter das zünftische Handwerk, während die zunftlosen Gewerbe und das »kleine Volk« oft kein Bürgerrecht besaßen. Die politische Macht des Bürgertums war im Gegensatz zu seiner wirtschaftlichen Stärke in den absolutistischen Staaten der Neuzeit gering. Es stellte zwar in der herrschaftsständischen Privilegienordnung den Dritten Stand neben Adel und Klerus dar, aber jene dominierten politisch und kulturell. Das Bürgertum orientierte sich am adeligen Lebensstil und strebte nach Adelstiteln. Erst allmählich entwickelte es eigene Lebensweisen und Wertvorstellungen, ein Bewusstsein von »Bürgerlichkeit«, das nach allgemeiner Anerkennung strebte, so dass man im 18. Jh. von der Entstehung einer Zivilgesellschaft bzw. bürgerlichen Gesellschaft sprach, die eine außerpolitische Sphäre des Privaten zwischen Familie und Staat war. In ihr stellten Besitz, Bildung und <?page no="70"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 70 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 71 71 Bürokratie individuelle Leistung die wesentlichen Werte dar, die überständische Kriterien des sozialen Aufstiegs darstellten. Die Französische Revolution war eine bürgerliche Revolution, die sich aber aller Schichten bediente und zeitweise eine standeslose Bürgergesellschaft der »citoyens« ins Leben gerufen hatte (Labrousse). Obwohl die ständisch-aristokratische Herrschaftsstruktur das 19. Jh. überdauerte, bestimmten Ideen, Wertvorstellungen und Lebensstile des Bürgertums zunehmend die moderne Kultur und Bildung, ihre Ausrichtung auf Fortschritt und Wissenschaft. Es spaltete sich jedoch in das wohlhabende Besitzbürgertum und das oft von Armut bedrohte Bildungsbürgertum. Die Wirtschaftsbürger bezeichnete Karl Marx als Bourgeoisie und sah sie als die herrschende Klasse des Kapitalismus. Ihre Weltanschauung orientierte sich an Liberalismus und Individualismus, die auch die Kultur des Kapitalismus prägte (Sombart). Der Begriff des Bürgertums kann, wie Weber meinte, daher in politischem, in ständischem oder in ökonomischem Sinn verstanden werden. Noch heute wird der Begriff »bürgerlich« mitunter zur Bezeichnung ideologischer Anschauungen und ökonomischer Lage eingesetzt. In der Gegenwart macht sich jedoch auch eine Rückkehr zu einem mehr soziokulturellen Verständnis des Bürgerlichen bemerkbar. Die Existenz eines Bürgertums und sein Verhältnis zum »Mittelstand« sowie die Entstehung einer »neuen Bürgerlichkeit« werden in der Gegenwart diskutiert (Hettling/ Ulrich; Budde et al.). Damit verbunden ist die Frage, inwieweit noch von einer bürgerlichen Gesellschaft gesprochen werden kann und in welchem Verhältnis diese zum Begriff einer freien, verantwortlichen und solidarischen »Bürgergesellschaft« (Fürstenberg) im Zeitalter der transnationalen Vernetzung und der globalen Migrationsbewegungen steht. Literatur Budde, Gunilla et al. (Hg.), 2010: Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter, Göttingen.- - Fürstenberg, Friedrich, 2011: Die Bürgergesellschaft im Strukturwandel, Berlin.- - Gall, Lothar, 1889: Bürgertum in Deutschland, Berlin.- - Hettling, Manfred; Ulrich, Bernd (Hg.), 2005: Bürgertum nach 1945, Hamburg.-- Labrousse, Ernest et al., 1979: Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789, Frankfurt.- - Mommsen, Wolfgang J., 2000: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung, Frankfurt.- - Ruppert, Wolfgang, 1983: Bürgerlicher Wandel, Frankfurt.- - Schäfer, Michael, 2009: Geschichte des Bürgertums, Köln/ Wien/ Graz.-- Schulz, Andreas, 2005: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München.- - Sombart, Werner, 1913: Der Bourgeois, München.-- Weber, Max, 1958: Wirtschaftsgeschichte, München, 270 ff. Gertraude Mikl-Horke Bürokratie Begriff Der Begriff »Bürokratie« (engl. bureaucracy) wird seit dem 18. Jh. in einer polemischen Version vorgetragen; seit dem ausgehenden 19. Jh. koexistiert daneben ein begriffsgeschichtlicher Strang, in dem es um einen versachlichten, soziologischen Gebrauch mit theoretischer Unterlegung geht. Zwischen beiden Bestrebungen kam es jedoch bis in die Gegenwart hinein zu Verwischungen und Überlagerungen, bei denen z. B. der negative Beigeschmack des alltagssprachlichen Bürokratiebegriffs für beabsichtigte, implizite Wertungen nutzbar gemacht wird. Doch der polemische Sprachgebrauch selbst war nie einheitlich. Im spätabsolutistischen Staat wurde er als Etikett für eine Machtverschiebung - weg von den Ständen, hin zu den zentralisierenden »Bureaus« der Zentralverwaltung - eingeführt, so ursprünglich bei Vincent de Gournay. Die Brechung alter Strukturen und Privilegien durch Zentralisation und Beamtenherrschaft blieb im 19. Jh. ein wichtiger Anstoß für Klagen über Bürokratie - bezeichnenderweise vor allem aus konservativer Sicht, die darin vor allem die Nivellierung durch abstrakt-gleiche staatliche Verfahren kritisierte (Jacoby 1969, 78 ff.). Somit wurden schon früh zumindest drei Varianten der Begriffsverwendung erkennbar: Bürokratie als Bezeichnung einer durch Verwaltung machtausübenden Kaste, als eine bestimmte Verfasstheit des Staatswesens und als die Spezifik der Verfahren und der Maßnahmen, die dabei auf die Gesellschaft angewandt werden. Schon dabei treten eigenartige Paradoxien auf: als »bürokratisch« wird ebenso häufig ein Staatshandeln, das träge und schablonenhaft auftritt (»red tape«), wie auch ein interventionistisches und bevormundendes Agieren gegenüber den Untertanen kritisiert. Der gemeinsame Nenner ist hier Erstarrung: die Herrschaft der Prozeduren und des am Status quo ansetzenden Eigensinns der Kompetenzverwalter. Mit diesem Akzent erhielt der polewww.claudia-wild.de: <?page no="71"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 72 72 Bürokratie mische Bürokratiebegriff eine besondere Schlagkraft in der Kritik an Systemen des »real existierenden Sozialismus«. Die Herrschaft der Kader, die in Zeiten der revolutionären Umwälzung sich noch auf zukunftsgerichtete und begeisternde Ideologien stütze, wandele sich nach der Machtstabilisierung in eine Herrschaft bürokratischer Funktionäre, die mit revolutionären Lippenbekenntnissen ihre Privilegien und die Erstarrung im Status quo verschleierten (vgl. Hegedüs 1981, 86 f.). Diese Kritik bewegte sich in der Kontinuität der Parteiensoziologie Robert Michels: Dieser beobachtete an der Sozialdemokratie im wilhelminischen Deutschland Verselbstständigungstendenzen der Funktionsträger bis hinab zur Ortsebene, für die sich die Routine der Amtswaltung und der kleinlichen Kompetenzwahrung vor die deklarierten, umwälzenden Ziele schiebt. Über dieser bürokratischen Verkrustung erhebt sich dann die Darstellungspolitik der akademischen Führungseliten. Nachrevolutionäre, sozialistische Systeme schließen jedoch in noch einer anderen Weise an die Widersprüche der alten Bewegungspolitik an. Subalternfunktionäre ebenso wie abgehobene Spitzenkader benötigen nämlich weiterhin den Anschein der ideengeleiteten Massenmobilisierung als Rechtfertigungsmuster. Darum etablieren sich regelmäßig aktivierende Massenorganisationen, die Pseudo-Partizipation bei erzwungener Mitgliedschaft betreiben und Aktivitäten zugunsten von Kultur, Infrastruktur oder Zivilschutz usw. kanalisieren. Solche Organisationen sind keine Anfechtung für die Kader und Eliten, sondern schaffen ihnen eine zusätzliche, ideologisch verbrämte Bestätigung (Kasza 1995, 26 ff.). Bürokratie bei M. Weber Diese Dialektik von Wandel und Beharrung ist mit dem wichtigsten Versuch, den Bürokratiebegriff der polemischen Verwendung zu entkleiden, gut beschreibbar. Max Weber hat die Umsetzungsleistung eines bürokratischen Verwaltungsstabs als wesensmäßig dem Idealtypus einer legalen Herrschaftspraxis und -legitimation zugeordnet. Gehorsam wird hier inhaltsunabhängig für Befehle geleistet, weil diese aus allgemeinen Regeln abgeleitet sind, denen sich auch die Befehlenden fügen. Die Prinzipien der Bürokratie - z. B. Einsetzung nach Fachqualifikation, Trennung von den Amtsmitteln, Aktenkundigkeit, vorstrukturierte Arbeitsteiligkeit, hierarchische Gehorsams- und Rechenschaftspflicht - unterbinden alles, was von der administrativen Regelorientierung ablenken könnte. Solche Apparate handeln nach abstrakten Gleichheitsgrundsätzen, sie negieren alte (ständische) Besonderheiten ebenso, wie dies Märkte und moderne Staatsverfassungen tun. Hier markierte Weber den »rationalen« Zug der Bürokratie: sie füge sich in eine neuzeitliche Weltordnung, die natürliche und gesellschaftliche Verhältnisse gesetzesförmig zu durchschauen und beherrschbar zu machen trachte. Außerdem sei der bürokratische Verwaltungsstab in seiner »neutralen« Instrumentalisierbarkeit bestens dafür geeignet, einheitlichen Willen auf große Organisationen, bis hinauf zum Nationalstaat, auszuüben. Damit aber macht sich der Apparat tendenziell unentbehrlich. Wegen des in der Bürokratie akkumulierten Fach- und Dienstwissens sah auch Weber die Gefahr, dass sich Diener in Herrscher verwandeln, dass dadurch selbst politische Umwälzungen nur einen Austausch des Spitzenpersonals brächten. Zudem war der bürokratische Arbeitsmodus für ihn kein Privileg des Staates, sondern charakterisiere alle hochorganisierten Zusammenhänge in Wirtschaft und Gesellschaft (was wiederum einen Ausstieg aus dem ineinander verzahnten Arbeits- und Herrschaftsmechanismus erschwere! ). Damit ist es auch mit Webers Kategorien möglich, Bürokratie als Grundlage organisatorischer Fehlentwicklungen zu bestimmen. Er selbst hat dies in eher zeitbezogenen Schriften getan, als er die Selbstrekrutierung der politischen Führung aus den Verwaltungsstäben heraus als Ursache für Kreativitätsverlust und Kastenwesen (z. B. im Wilhelminischen Reich) kritisierte. Die Weber-Rezeption in der angelsächsischen Organisationssoziologie ab ca. 1930 übersah diesen Aspekt und missverstand das Rationalitätspostulat. Wollte Weber damit die Einordnung bürokratischer Elemente in den neuzeitlichen Rationalisierungsprozess verdeutlichen, so deuteten seine Kritiker »Rationalität« in die behauptete Leistungsfähigkeit dieser Elemente bei der Erfüllung einzelorganisatorischer Aufgaben um. Trotz ihrer Schieflage hat diese Kritik eine wichtige, empirisch fundierte Sicht auf Organisationen begründet (Morgan 1990, 63 ff.). Kernaussagen waren z. B. jeweils • dass Steuerung durch strikte Regeln und Hierarchien nur in standardisierten, wiederkehrenden Aufgabenstellungen Erfolg garantiere; <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 72 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 73 73 Bürokratie • dass gerade bei der Integration von professionellen Kompetenzen die Fixierung auf die offizielle, positionale Autoritätsstruktur zu starr sei; • dass Organisationen von komplexeren Zielstrukturen angeleitet würden als nur durch die autoritativen Festlegungen seitens der Spitze; • dass erfolgreiche, anpassungsfähige Verwaltungsführung Freiräume und eigenständige Umweltbeziehungen der nachgeordneten und dezentralen Einheiten zulassen müsse. »Weberanische« Bürokratie wurde für diesen Argumentationsstrang zum Typus einer überformalisieren, überzentralisierten und überroutinisierten Organisationsgestaltung; sie wurde somit implizit in die Nähe einer tayloristischen Arbeitsgestaltung gerückt, in der menschliche Spielräume als zu tilgende Störfaktoren erscheinen. In politologischer Kritik erschien der Typ als Korrelat einer Verwaltungskontrolle, die allein auf Gesetzeseinhaltung poche und ein repräsentativ-zentralistisches Demokratieverständnis pflege. Weitere Ansätze In noch stärkerem Maße machte sich eine andere Theorievariante den negativen, alltagssprachlichen Klang des Bürokratiebegriffs zunutze. Es handelt sich dabei um Argumentationen auf der Grundlage von »public choice«-Prämissen, die Bürokratie als Kernform des nicht-marktlichen Entscheidens bestimmen. Diese Zuordnung impliziert, dass solches Entscheiden regelmäßig zu Fehlallokation und Überproduktion öffentlicher Güter neigend beschrieben wird, da ihr die Gegenmacht von unverfälschten Konsumentenwünschen und Preisbildung fehle. Konkurrenz, wenn sie denn stattfindet, ist die der »Bureaus«, um die Anteile des öffentlichen Haushalts, mit denen günstige Beziehungen zu den fachspezifischen Umweltinteressen hergestellt werden, die selbst wieder (z. B. durch Lobbyismus) Vorteile suchen, für die die Allgemeinheit aufkommen muss. Kritik an Bürokratie meint in dieser Denkrichtung etwas Allgemeineres: nämlich die Verteilung von Vorteilen an Nutznießer, die ebenso wenig wie die Verteiler für die Kosten äquivalent aufkommen müssen (vgl. z. B. Mitchell/ Simmons 1994). Nicht zufällig erlangte diese Sicht politische Popularität, als Wohlfahrtsstaaten und Umverteilungspolitiken über das demokratische Mehrheitsprinzip ab ca. 1980 von konservativen/ libertären Bestrebungen geächtet wurden. Ausdruck dieser Ideologie waren Verwaltungsreformbestrebungen, die staatliche Leistungen privatisierten und staatliche Einrichtungen inneren oder äußeren Wettbewerbsanforderungen aussetzten (Suleiman 2003, 51 ff.). Bürokratie wird ökonomisch als Produktivitätsverlust für den Auftraggeber »Steuerzahler« in seiner Gesamtheit verbucht; Therapie kann für diese Optik in spezifischeren, dezentralen Käuferbeziehungen gegenüber einzelnen öffentlichen Gütern bestehen: durch Privatisierung, Verpreisung usw. Die Interessen des Gesamtsteuerzahlers können aber auch zentral gegen den Eigensinn der Bürokratie und ihrer Klientenbeziehungen geltend gemacht werden. Dies ist das Thema der »principal-agent«- Fragestellung, die ebenfalls meist in Kategorien der »public choice«-Ansätze erörtert wird. Der Ansatz hat seinen Ursprung in der Versicherungswirtschaft und beschreibt Vertragsbeziehungen mit riskanten Partnern. Der Prinzipal »Parlament« delegiert z. B. die Ausfüllung von Gesetzesinhalten an semi-autonome Behörden, ohne deren Agieren im Politikfeld hinreichend kalkulieren zu können. Die Stimulierung von rationalen Verhaltensanreizen oder von korrigierenden Einwirkungsmöglichkeiten ausgewählter Interessenten (»stakeholder«) kann die Delegationsrisiken mindern. Eine solche Minderung kann aber auch durch die altfränkische, hierarchische Einwirkungsform »Bürokratie« zustande kommen, die in einem neuen, sozialwissenschaftlichen Modenumschwung wieder respektvollere Bewertung erfährt (Olsen 2008). Regeln werden nicht nur als Einschränkungen, sondern auch als Entlastung eingestuft, da sie von ständigen Neuaushandlungen der Entscheidungskontexte befreien und die Akteure überhaupt erst entscheidungsfähig in ihren zugewiesenen Kompetenzen machen. Im Gegensatz dazu erscheint die horizontale und dezentrale Aushandlung in »Netzwerken« als eine, die häufig Privilegien, Verstetigung und Intransparenz erzeugt. Auch im organisierten Innenverhältnis wird die Steuerung durch Hierarchie- und Regelbindung inzwischen wieder milder gesehen, da sie bestimmten Persönlichkeitstypen und Arbeitssituationen angemessen erscheint und einen Sockel der routinehaften Erledigung schafft, auf dem anspruchsvollere Aufgabenzuweisung aufbauen kann (Bobic/ Davis 2003). Bürokrawww.claudia-wild.de: <?page no="73"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 74 74 Bürokratie tie im Weber’schen Sinne bleibt also ein anregendes Studienobjekt, an dem auch die Abkehr von ihr interpretativ zu bewerten ist. Literatur Bobic, Michael P.; Davis, William E., 2003: A Kind Word for Theory X: Or Why So Many Newfangled Management Techniques Quickly Fail; in: Journal of Public Administration Research and Theory 13, 239-264.- - Bozeman, Barry, 2000: Bureaucracy and Red Tape, Upper Saddle River, N. J.- - Derlien, Hans-Ulrich et al., 2011: Bürokratietheorie. Einführung in eine Theorie der Verwaltung, Wiesbaden.- - Hegedüs, András, 1981: Sozialismus und Bürokratie, Reinbek bei Hamburg.- - Jacoby, Henry, 1969: Die Bürokratisierung der Welt. Ein Beitrag zur Problemgeschichte, Neuwied/ Berlin.- - Kasza, Gregory J., 1995: The Conscription Society. Administered Mass Organizations, New Haven/ London.- - Mitchell, William C.; Simmons, Randy T., 1994: Beyond Politics. Markets, Welfare and the Failure of Bureaucracy, Boulder/ San Francisco/ Oxford.- - Morgan, Glenn, 1990: Organizations in Society, Houndsmills/ London.- - Olsen, Johan P., 2008: The Ups and Downs of Bureaucratic Organization; in: Annual Review of Political Science 11, 13-37.- - Suleiman, Ezra, 2003: Dismantling Democratic States, Princeton/ Oxford.-- Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl. 1972, Studienausgabe, Tübingen (1921). Rainer Prätorius <?page no="74"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 74 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 75 75 Clique C Charisma Mit dem Begriff »Charisma« (engl. charisma), der sich aus dem griechischen Wort für Gnadengabe herleitet und den M. Weber unter Rückgriff auf den Kirchenrechtler R. Sohm in die Soziologie eingeführt hat, wird eine außeralltägliche Eigenschaft bezeichnet, die einer Person durch andere zugeschrieben wird und als Legitimationsgrundlage eines spezifischen Herrschaftsverhältnisses dient, der charismatischen Herrschaft. Sie beruht wesentlich auf dem Glauben an den außeralltäglichen Charakter der Herrschaftsinhaber (Bewährung), mit dem Schwinden dieses Glaubens verliert sie ihren Anspruch auf Gehorsam. Beispiele für diesen Typus sind religiöse Bewegungen wie das Urchristentum, ebenso wie die totalitären Führerdiktaturen des 20. Jahrhunderts. Häufig entsteht Charisma in Krisensituationen aus Formen der Selbststigmatisierung (W. Lipp). Charismatische Herrschaft unterliegt regelmäßig einer Veralltäglichung, durch die sie in entweder traditionale oder legal-bürokratische Herrschaft übergeht, also auf Dauer institutionalisiert wird. Da sie Werte und Ordnungen radikal umzugestalten vermag, ist sie ein wichtiger Faktor in der soziologischen Erklärung kulturellen und gesellschaftlichen Wandels und hat daher ihren festen Ort in Theorien politischer Umwälzungen. Literatur Breuer, Stefan, 1994: Bürokratie und Charisma, Darmstadt.- - Kaesler, Dirk, 1977: Revolution und Veralltäglichung, München.- - Lindholm, Charles, 1990: Charisma, Oxford.- - Lipp, Wolfgang, 2010: Stigma und Charisma, 2. Aufl., Würzburg.-- Weber, Max, 1976: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen. Dirk Kaesler/ Matthias Koenig Clique Der Begriff Clique (engl. clique) stammt aus der Kleingruppenforschung. Verwendet wird er in der Jugend- und Organisationsforschung und aktuell insbesondere in der Netzwerkforschung. In der Jugendforschung wird darunter eine besondere Gesellungsform von Peers verstanden. Neben einer (relativ) festen Mitgliedschaft und einer hohen Kontakthäufigkeit weist eine Clique ein gesteigertes Zusammengehörigkeitsgefühl auf, das vielfach durch einen besonderen Kleidungsstil kommuniziert wird. In der Organisationsforschung reicht die Verwendung von Clique bis zur berühmten Hawthorne- Studie zurück. Synonym zum Konzept der informellen Gruppe wird damit eine Subgruppe bezeichnet, deren Mitglieder auf einer freundschaftlichen Ebene häufig miteinander interagieren, ein gemeinsames Normensystem besitzen und sich von den anderen Organisationsmitgliedern abgrenzen. In der Netzwerkforschung wird Clique als eine Teileinheit von Personen innerhalb eines Netzwerkes aufgefasst, in der jedes Mitglied für jedes andere direkt erreichbar ist. Eine Clique umfasst mindestens drei Personen, die durch enge Beziehungen direkt miteinander verknüpft sind. Literatur Roethlisberger, Fritz J. et al., 1964: Management and the Worker, Cambridge.-- Trappmann, Mark et al., 2005: Strukturanalyse sozialer Netzwerke. Konzepte, Modelle, Methoden, Wiesbaden.- - Whyte, William Foote, 1996: Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels, Berlin (1949). Karl Lenz <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 76 76 Definition der Situation D Datenanalyse Die Datenanalyse (engl. data analysis) umfasst alle Schritte der Aufbereitung und Auswertung empirischer Daten im Hinblick auf eine Fragestellung. Diese kann sich im Schwerpunkt etwa auf die Deskription eines Phänomens, die Überprüfung einer Theorie oder eine Evaluation richten. Das erkenntnistheoretische und empirische Konzept der Untersuchung sowie die qualitativen/ quantitativen Methoden der Datenerhebung (z. B. Befragung, Beobachtung, Inhaltsanalyse von Quellen) beeinflussen dabei erheblich das Spektrum der Auswertungsmöglichkeiten. So können standardisiert erhobene Daten nicht interpretativ ausgewertet werden, und das Messniveau der Merkmale bedingt, welche statistischen Analysen zweckmäßig sind. In der quantitativen Forschung erfolgt die Datenanalyse typischerweise mit Hilfe von Statistik (je nach Anzahl zugleich berücksichtigter Merkmale uni-, bi- oder multivariate Statistik, deskriptive/ schließende Statistik). So werden - unterstützt durch Analysesoftware (z. B. SPSS, Stata) - große Datenmengen zusammengefasst und vorab aufgestellte Hypothesen überprüft. Die qualitative Forschung nutzt interpretative/ hermeneutische, daneben kategorisierende Auswertungsmethoden (z. B. Narrationsanalysen, Objektive Hermeneutik, Grounded Theory, dokumentarische Methode), etwa um Sinndeutungen von Akteuren im Kontext struktureller Bedingungen zu rekonstruieren. Sie ist oft eher theorieentwickelnd statt -prüfend ausgerichtet. Nach der Datenanalyse im engeren Sinne folgt im Forschungsprozess eine umfassende Interpretation im Sinne der Fragestellung sowie eine Einschätzung des Erkenntnisgewinns, ggf. zudem ein Ausblick auf künftige Forschungen oder Empfehlungen bei anwendungsorientierter Forschung. Literatur Kühnel, Steffen-M.; Krebs, Dagmar, 2007: Statistik für die Sozialwissenschaften, 5. Aufl., Reinbek.-- Müller-Benedict, Volker, 2007: Grundkurs Statistik in den Sozialwissenschaften, 4. Aufl., Wiesbaden.- - Przyborski, Aglaja; Wohlrab- Sahr, Monika, 2010: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, 3. Aufl., München, bes. Kap. 5. Nicole Burzan Definition der Situation (engl. definition of situation) Menschliche Handlungen vollziehen sich i. d. R. in Situationen, d. h. innerhalb raumzeitlicher Ausschnitte der aktuellen Umwelt, die durch Akteure definiert werden und so ihr Handeln anleiten. Eine der ersten und bis heute maßgebenden soziologischen Konzeptionen der Situationsdefinition ist das sog. Thomas-Theorem, das auf den Zusammenhang der Deutung einer Situation und den daraus resultierenden Folgen aufmerksam macht. »If men define situations as real, they are real in their consequences.« (Thomas/ Thomas 1928: 572). Ein gemeingefährlicher Gefängnisinsasse, so ein Beispiel von Thomas, verstand beim Freigang Selbstgespräche von Passanten als Beschimpfungen seiner selbst mit der Konsequenz, diese Mitmenschen zu erschlagen. Bei der Situationsdefinition geht es um die Frage: »Was geht hier eigentlich vor? « (Goffman 1977: 26). Idealiter werden in Situationsdefinitionen zunächst die gegebenen äußeren und inneren Voraussetzungen (materielle Gegebenheiten, Normen, soziale Beziehungen, Einstellungen, Wünsche, aber auch etwa klimatische Bedingungen) registriert und geordnet (u. a. durch zweck-, oder wertrationale, emotionale oder identitätsbewahrende Ziele oder einem Abgleich von aktuell erfahrenen und früheren Situationsdefinitionen). Hierfür stehen den Akteuren durch Sozialisation sowie Erfahrung gesellschaftliche Deutungsmuster zur Verfügung. Esser beschreibt sie als mentale Modelle typischer Situationen und bezeichnet sie im Anschluss an Goffmans (1977) Rahmentheorie als »frames« (Esser 2001: 261 ff ). Sie vereinfachen die Situationslogik und ermöglichen so erst Handlungen. Würden in einer Situation alle verhaltensrelevanten Möglichkeiten berücksichtigt, wären Akteure handlungsunfähig. Daher sind alltägliche Situationsdefinitionen meist gesellschaftlich vorgegeben, selten individuell entwickelt. Die Anpassung an gesellschaftlich fixierte und oft verbindliche Situationsdefinitionen <?page no="76"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 76 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 77 77 Differenzierung ermöglicht Kooperation und Ordnung. Individuell relativ eigenständige Situationsdefinitionen können hingegen zu sozialem Wandel führen. Sie setzen i. d. R. Wissen über konventionelle Situationsdefinitionen voraus. Soziologische Konzeptionen der Situationsdefinition unterstellen häufig, dass Menschen zu hohen Intelligenzleistungen fähig sind. Dies schließt nicht aus, dass tatsächliche Situationsdefinitionen von schlichten, fast unbewussten bis hin zu hochkomplexen, analysierenden reichen. Literatur Esser, Hartmut, 2001: Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 6: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M./ New York.- - Goffman, Erving, 1977: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M.- - Thomas, William I.; Thomas, Dorothy S., 1928: The Child in America. Behaviour Problems and Programs, New York. Stefan Hradil/ Christian Steuerwald Differenzierung Differenzierung (engl. differentiation) ist das zentrale Konzept, um die Struktur sowie den Prozess der evolutionären Abfolge verschiedener Gesellschaften zu erfassen. Es hat eine lange Tradition und Kontinuität in der Geschichte der Soziologie. Linien differenzierungstheoretischen Denkens Drei Quellen und Linien differenzierungstheoretischen Denkens lassen sich identifizieren (Tyrell 2008: 107 ff.): a) Die biologienahe Tradition lässt sich von der Organismusanalogie inspirieren. Es wird von einem Ganzen ausgegangen, das sich aufgliedert und in der Teilung die Einheit wahrt; b) Eine zweite Variante stammt aus der Wirtschaftswissenschaft und arbeitet mit dem Begriff der Arbeitsteilung. Mit zunehmender Populationsdichte ergibt sich ein Zwang, ehemals fusionierte Tätigkeiten zu teilen, um dem Konkurrenzdruck durch Spezialisierung zu entgehen. Das Arbeitsteilungsparadigma bleibt sehr stark an die Rollenebene gebunden und erfasst weniger die Differenzierung auf weiteren Aggregatebenen von Ordnungen oder Systemen; c) Schließlich gibt es eine kulturwissenschaftliche Traditionslinie, in der die ideelle Differenzierung verschiedener Kultursphären im Mittelpunkt steht: Religion, Kunst, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft. Diese und andere Bereiche verdanken sich unterschiedlichen sinnspezifischen Orientierungen, die sich nicht mehr ohne Weiteres, wie in den beiden anderen sogenannten »Dekompositionsparadigmen«, miteinander vereinbaren lassen. Es geht hier nicht um die biologische oder ökonomische Teilung eines Ganzen, sondern die einzelnen Kultursphären und die ihnen korrespondierenden Gebilde und Strukturen beruhen auf ideellen Eigengesetzlichkeiten (Max Weber) oder Codes (Niklas Luhmann), die nicht mehr im Sinne der Teil-Ganzes-Vorstellung integrierbar sind. Diese drei Quellen und Traditionslinien differenzierungstheoretischen Denkens, biologisch, ökonomisch und kulturwissenschaftlich, werden schwerpunktmäßig von unterschiedlichen Autoren entwickelt. Bei Herbert Spencer, Emile Durkheim und noch bei Georg Simmel dominiert die biologische Ganzheits- und die ökonomische Arbeitsteilungsvorstellung. Auch bei Talcott Parsons steht das Ganzes-Teil-Modell noch im Vordergrund, allerdings erweitert um eine ideelle Dimension. Niklas Luhmanns konsequent systemtheoretisch entwickeltes Differenzierungsverständnis betont vor allem die Sinn- oder Codedimension, die freilich bei ihm in einer gewissen Spannung zur nach wie vor vorhandenen dekompositionstheoretischen Denkfigur steht. Von Durkheim über Parsons bis hin zu Luhmann wird die Thematik mittels des methodologischen Kollektivismus entfaltet. Max Weber folgt dagegen dem methodologischen Individualismus. Gemäß seiner verstehenden Soziologie interessiert er sich dafür, wie aus der sinnhaften Orientierung der Akteure soziale Ordnungen entstehen, die einer je spezifischen kulturellen Eigendynamik folgen. An diese Klassiker der Differenzierungstheorie wird auf verschiedene Weise in der neueren Diskussion angeknüpft. In den 1980er Jahren gab es in den USA den Versuch der sogenannten Neofunktionalisten um Jeffrey Alexander (Alexander/ Colomy 1990), Parsons kritisch in Richtung einer handlungstheoretischen und historischen Soziologie weiterzuentwickeln. Dieser Ansatz ist jedoch zum Erliegen gekommen und hat keine nachhaltige Theorieentwicklung angestoßen. In Deutschland ist dagegen die differenzierungstheoretische Diskussion bis heute virulent geblieben (Schwinn et al. 2011). Nicht Parsons, sondern Luhmann liefert hier die zentrale Bezugstheowww.claudia-wild.de: <?page no="77"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 78 78 Differenzierung rie. Eine Reihe seiner Schüler betreibt hierbei eine orthodoxe Interpretation, weniger die Weiterentwicklung seines Werkes. In Absetzung davon sind aus der Gründung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung einige Versuche entstanden, das Luhmann’sche Differenzierungsverständnis handlungstheoretisch zu korrigieren und zu erweitern (Mayntz et al. 1988; Schimank 2007). In Anknüpfung an Max Weber werden schließlich Anstrengungen unternommen, das Differenzierungsthema handlungstheoretisch und historisch detaillierter zu entwickeln (Schwinn 2001). Differenzierungsprozesse in-modernen-Gesellschaften Das Differenzierungsmodell wird vor allem für die moderne Gesellschaft entwickelt. Als Prozesskonzept beansprucht es, auch alle vormodernen Strukturmuster und ihre evolutionäre Abfolge zu erfassen; dies geschieht aber mehr im Hinblick auf eine Rekonstruktion des historischen Ablaufs auf die moderne Struktur hin. Die evolutionären Vorläufer, etwa die segmentäre und stratifikatorische Differenzierung, dienen als historische Kontrastfolien. Entsprechend hat das Konzept in der Geschichtswissenschaft nur eine spärliche Rezeption gefunden. Differenzierung meint die Entflechtung traditioneller Strukturen, in denen heterogene Aufgaben fusioniert und zusammengebunden sind. Durkheim und Parsons verstehen diesen Vorgang als eine Arbeitsteilung, in der eine funktionale, diffuse Einheit in Teile dekomponiert und im Austausch zwischen ihnen integriert wird. Ist es bei Durkheim die voranschreitende Spezialisierung auf der Rollenebene von Berufen, so ist es bei Parsons die funktionale Differenzierung auf der Systemebene, die als zentral herausgestellt wird. Nach Parsons müssen vier funktionale Erfordernisse gesellschaftlicher Reproduktion erfüllt werden (AGIL-Schema), die im Laufe der sozialen Evolution hin zur modernen Struktur immer stärker entflochten werden. Funktionale Spezialisierung betont die Vorteile der Leistungssteigerung, die als ein wesentlicher Motor der Differenzierungsdynamik angenommen wird. Dieses Dekompositions- und Arbeitsteilungsmodell, wie generell der Ausdruck »funktionale Differenzierung«, findet sich im Werk von Max Weber nicht. Hier läuft die Differenzierungsthematik unter dem Rationalitätsbegriff. Anders als bei Parsons, ist dies kein universeller evolutionärer Prozess, sondern charakteristisch für die Sondergestalt der okzidentalen Entwicklung, die durch eine spezifische Rationalisierung aller Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Rationalisierung als Differenzierung bedeutet die Entwicklung von immer schärfer auseinandertretenden Sphären des Lebens, die von ihren eigenen Sinn- und Sachlogiken geleitet werden. Dieser Prozess vollzieht sich auf den beiden Ebenen der Wert- und der Institutionendifferenzierung. Die verschiedenen institutionalisierten Sinn- und Leitkriterien stehen untereinander in spannungs- und konfliktreichen Beziehungen. Aus solchen Konfigurationen bestimmt sich die Dynamik einer Sozial- und Kulturordnung. Weber identifiziert die differenzierten Bereiche nicht über die Frage nach den Bestandsbedingungen sozialer Systeme, sondern durch seine historischen, insbesondere religionssoziologischen Untersuchungen stößt er auf unterschiedliche Möglichkeiten, dem Handeln einen differierenden Sinn zu geben und soziale Beziehungen und Ordnungen danach auszurichten. Trotz der grundlagentheoretischen Differenz (Handlungsversus Systemtheorie) weist Luhmann in Bezug auf verschiedene Aspekte eine größere Nähe zu Weber als zu seinem Vorgänger Parsons auf. Die Funktionen lassen sich nicht nach einem abstrakten Schema allgemein, sondern nur historisch bestimmen, und der Durchbruch zum modernen Ordnungsmuster vollzieht sich nicht nach einer evolutionären Zwangsläufigkeit, sondern ist historisch eher unwahrscheinlich und einmalig. Schließlich begreift Luhmann Differenzierung nicht nach dem Modell der Arbeitsteilung, sondern das Auseinandertreten von Sinnperspektiven ist primär. Während Parsons aus der privilegierten Stellung übergreifender Werte und aus dem einheitsverbürgenden AGIL-Schema jedem Teilsystem seinen angemessenen Platz im Ganzen anweisen konnte, ist es nach Luhmann nicht möglich, die funktional differenzierte Gesellschaft von einem privilegierten Wert oder einem Zentrum aus zu integrieren oder über ein theoretisch-allgemeines Schema notwendige Funktionen und ihre Beziehungen festzulegen. Die Differenzierungslogik wird hier auf die Spitze getrieben. Es dominiert ein Relativismus teilsystemspezifischer Perspektiven. Von der Wirtschaft aus stellt sich die Gesellschaft als kapitalistische dar und von der Politik aus als Demokratie, aus der Perspektive des Rechts als Rechtsstaat und aus der der Wissenwww.claudia-wild.de: <?page no="78"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 78 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 79 79 Differenzierung schaft als Wissensgesellschaft usw. Jede dieser Beschreibungen hat eine eingeschränkte Gültigkeit. In einer solchen polyperspektivischen und multizentrischen Gesellschaft erfolgen alle Aussagen und Operationen von einem bestimmten Systemgesichtspunkt aus, für den alles andere zur Umwelt gehört. Zweifel und Kritik werden geäußert, ob es angesichts des teilsystemischen Radikalismus noch sinnvoll ist, von einem Gesellschaftssystem zu sprechen. Theoretische und thematische Bezüge Die Differenzierungstheorie ist unverzichtbar für das Verständnis der historischen Entstehung und der Grundstruktur moderner Gesellschaften. Viele Aspekte, Probleme und Themen, die in der Soziologie bearbeitet werden, finden in ihr eine theoretische Klammer. So sind die speziellen Soziologien, wie z. B. die Wirtschafts-, Rechts-, Religions-, Familiensoziologie oder die Politische Soziologie, auf den allgemeinen Rahmen der Differenzierungstheorie angewiesen, der gleichsam ein soziales Koordinatensystem aufspannt, mittels dessen die Teilsoziologien verortet und Zusammenhänge hergestellt werden können. Ein Thema mit einer langen Tradition sind Individualisierungsprozesse. Mit der Differenzierung verschiedener Ordnungen oder Teilsysteme verändert sich das Person-Gesellschaftsverhältnis. Das moderne Ordnungsarrangement erzwingt vom Einzelnen eine gesteigerte Selbstthematisierung und Eigeninitiative, da es durch keinen sozialen Kontext mehr gänzlich umfasst und definiert wird. Und es ermöglicht ein individuell geführtes Leben, weil die nötigen Institutionen und die mit ihnen verbundenen Optionen und Leistungen zur Verfügung stehen. Die Kehrseite sind Entfremdung und Desintegration. Neben vielen anderen Themen, wie Säkularisierung oder Organisationswachstum, hat die Differenzierungstheorie gerade in den letzten Jahrzehnten einen Einsatz als zeitdiagnostisches Instrumentarium gefunden. Der Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften wurde mit ihrer mangelhaften Differenzierung erklärt. Die Überinstitutionalisierung der politischen Ordnung setzte der Freisetzung bereichsspezifischer, eigenständiger Rationalitäten enge Grenzen. In Konkurrenz mit dem westlichen Ordnungsmodell war der sozialistische Weg in die Moderne unterlegen, da wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, wissenschaftliche Autonomie und politische Freiheiten mit dem Machtmonopol der Partei nicht vereinbar waren. Sind die kommunistischen Staaten an ihrer Überintegration gescheitert, so werden für den westlichen Typ zunehmend die Folgeprobleme der mit der Differenzierung verbundenen Unterintegration thematisiert. War noch in den 1960er und 1970er Jahren ein enormer Steuerungs- und Planungsoptimismus verbreitet, gewinnt in der Folgezeit bis heute die Einschätzung einer schwer kontrol lierbaren, eigendynamischen Entwicklung des modernen differenzierten Ordnungsarrangements die Oberhand. Am prominentesten ist Ulrich Becks Diagnose einer »Risikogesellschaft«, die die ökologischen Probleme einer »organisierten Unverantwortlichkeit« zuschreibt. Moderne Gesellschaften sind auf eine Steigerung der Binnenrationalität der differenzierten Institutionen hin angelegt, nicht aber auf eine Rationalisierung und Integration des Zusammenspiels der Einzelrationalitäten. Die Forderung einer komplexen Modernisierung und reflexiven Rationalisierung sei nur mit einem neuen Differenzierungszuschnitt der verschiedenen institutionellen Kompetenzen verwirklichbar. Ein weiteres Themenfeld, das sehr gut mit der Differenzierungstheorie erschließbar ist und einen theoretischen Zugang im Kontrast zu den vielen konzeptarmen Arbeiten ermöglicht, ist die Globalisierung. Seine historische Entstehung ist an spezifische Bedingungen gebunden, die Ausbreitung der differenzierten Ordnungsform verdankt sich dagegen einem universellen Potenzial. Die Sinn- und Sachlogiken der einzelnen Sphären und Teilsysteme machen an nationalstaatlichen Grenzen nicht Halt: Ökonomische Chancen werden überall gesucht, tendieren zu einem Weltmarkt hin; genauso ist wissenschaftliche Wahrheit eine universelle Errungenschaft. Offen bleibt, wie man das Fortbestehen und das Neuentstehen verschiedener regionaler und kulturspezifischer Ordnungsformen erklärt. Während weltgesellschaftliche Ansätze auf globaler Ebene nur ein Differenzierungsmuster am Werk sehen, verfolgt die Multiple-Modernities-Perspektive die Vielfalt differenzierter Ordnungsmuster. Diese neueren Entwicklungen und Diskussionen haben theoretische und konzeptionelle Fragen aufgeworfen, auf die es bei den Klassikern keine Antworten gibt: Wenn das Differenzierungsprinzip alternativlos für moderne Gesellschaften ist, wie lässt sich seine ungebremste Eigendynamik steuern? Gibt es die Differenzierungsform moderner Gesellschaft <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 80 80 Diskriminierung nur im Singular oder auch im Plural? Wie sind die beiden Strukturprinzipien der Differenzierung und der sozialen Ungleichheit ins Verhältnis zu setzen (Schwinn 2007)? Nach wie vor nicht geklärt ist, nach welchen Kriterien man einen ausdifferenzierten Bereich bestimmt, wie viele Bereiche es gibt und ob man zwischen primären und sekundären Bereichen unterscheiden muss. Literatur Alexander, Jeffrey C.; Colomy, Paul (eds.), 1990: Differentiation Theory and Social Chance, New York.- - Durkheim, Emile, 1977: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. (1893).- - Luhmann, Niklas, 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.-- Mayntz, Renate et al., 1988: Differenzierung und Verselbständigung, Frankfurt a. M./ New York.- - Parsons, Talcott, 1971: Das System moderner Gesellschaften, München.- - Schimank, Uwe, 2007: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 3. Aufl., Wiesbaden.- - Schwinn, Thomas, 2001: Differenzierung ohne Gesellschaft. Umstellung eines soziologischen Konzepts, Weilerswist.- - Schwinn, Thomas, 2007: Soziale Ungleichheit, Bielefeld.-- Schwinn, Thomas et al. (Hg.), 2011: Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion, Wiesbaden.-- Tyrell, Hartmann, 2008: Soziale und gesellschaftliche Differenzierung, Wiesbaden.- - Weber, Max, 1978: Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung; in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen (1920). Thomas Schwinn Diskriminierung Diskriminierung (engl. discrimination) bedeutet die wahrgenommene ungerechtfertigte Schlechterbehandlung von Mitgliedern einer sozialen Gruppe oder einer sozialen Kategorie allein auf der Basis ihrer Gruppenbzw. Kategoriemitgliedschaft (Mummendey/ Otten 2001). Daher wird oft auch von sozialer Diskriminierung gesprochen, um den Aspekt der Gruppe oder Kategorie zu betonen und von individueller Schlechterbehandlung abzugrenzen, wie sie in frühen Definitionen beispielsweise von Allport (1954) noch vorkommt. Der Begriff Diskriminierung ist zunächst subjektiv und wird aus einer Opferperspektive definiert. Wahrnehmung von Diskriminierung muss zwischen Opfern, Tätern und nicht direkt betroffenen Gruppen ausgehandelt werden, da mitunter große Perspektivendivergenzen (d. h. unterschiedliche Ansichten über die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens) zwischen den jeweiligen Positionen bestehen. Nach der Überwindung dieser Perspektivendivergenzen handelt es sich entweder um einen legitimen kategorialen Unterschied, d. h. um Differenzierung, oder um eine Form von übereinstimmend als negativ anerkannter Schlechterbehandlung. Diskriminierung muss von einer Reihe anderer verwandter Konzepte unterschieden werden (Jonas/ Beelmann 2009), z. B. Vorurteilen. Der Begriff weist aber andererseits auch Verbindungen zu thematisch bezogenen Konzepten auf, z. B. Toleranz als Gegenmaßnahme zu Diskriminierung, oder gesellschaftliche Diversität als Kontext von diskriminierendem Verhalten. Obwohl einerseits Menschen versuchen, bloß nicht als diskriminierend zu erscheinen, wie Forschungen aus den USA zeigen (Monin/ Miller 2001), nehmen Diskriminierungsphänomene in der Gesellschaft kaum spürbar ab. Diskriminierung wird zumindest in unserem Rechtssystem nunmehr auch höchstrichterlich sanktioniert (z. B. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland), aber auch diese Instrumente scheinen angesichts vielfältiger gegenteiliger Beispiele zunächst wirkungslos. Diskriminierung kann möglicherweise auch nicht vollständig vermieden werden, da der Diskriminierung basale Kategorisierungs- und Differenzierungsprozesse menschlicher Wahrnehmung zu Grunde liegen, die an sich wünschenswerte Funktionen besitzen. Ohne den Rückgriff auf bestehende Kategorien oder die Konstruktion neuer Kategorien, also der Differenzierung von Information, wäre eine Verarbeitung komplexer sozialer Kontexte kaum möglich. Formen und Konsequenzen Unter Schlechterbehandlung wird eine große Bandbreite von Verhaltensweisen verstanden, die von Ausgrenzung, über den Entzug von Ressourcen, bis hin zur Zufügung von psychischem oder physischem Schaden gehen können. Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen, die Opfer von Diskriminierung werden, mit einer Vielzahl von negativen Konsequenzen umgehen müssen. Diese gehen von Verlust von individuellen, Bildungs-, oder beruflichen Chancen bis hin zu schweren körperlichen Schäden, z. B. Depression oder Herz-Kreislaufkrankheiten (Hansen 2009). <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 80 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 81 81 Dunkelziffer Normative Sanktionierung Diskriminierung ist insbesondere von umgangssprachlichem Wortverständnis abzugrenzen. Unter Diskriminierung versteht man alltagssprachlich häufig einfach eine illegitime oder nicht begründete schlechte Einschätzung oder schlechte Behandlung von Menschen. Dabei wird im Unterschied zum wissenschaftlichen Terminus die erwähnte Perspektivendivergenz vernachlässigt. Diese relationale Definition von Diskriminierung bedeutet jedoch nicht, dass Diskriminierung nicht auch durch normative Grundlagen bestimmt sein kann. Der Übergang von einer relationalen Definition von Diskriminierung zu einem »objektiven« Konsens der Mehrheitsgesellschaft ist ein Prozess der zunehmenden Akzeptanz von illegitimen sozialen Relationen als Diskriminierung. In der Gegenrichtung ist auch ein Wechsel von einer normativen hin zu einer relationalen Definition denkbar. Gerade abstrakte normative Definitionen von Diskriminierung verlieren schnell ihren Konsens-Charakter, wenn es um die konkrete Ausgestaltung geht. In der Folge sind dann wieder konkrete relationale Aushandlungen darüber, was Diskriminierung darstellt und was nicht, notwendig. Zeitliche Dimension Ein wichtiger Aspekt in der Auseinandersetzung mit der relationalen Definition von Diskriminierung ist die zeitliche Dimension. Individuelle Opfer können sich unrechtmäßig zu Diskriminierungsopfern machen und damit illegitim den Begriff ausnützen. Die für Diskriminierung notwendige Schlechterbehandlung muss aufgrund der Gruppenmitgliedschaft ex ante geschehen sein. Häufig wird jedoch eine Gruppe der Opfer ex post konstruiert, um der individuellen Position mehr Gewicht zu verleihen und zu einer Legitimitätsgrundlage zu verhelfen. Dem gegenübergestellt ist es jedoch auch denkbar, dass mehrere Individuen das gemeinsame Merkmal (der Gruppe oder Kategorie) als den Grund für ihre illegitime Schlechterbehandlung erst im Nachhinein erkennen. Individuelle Opfer können so gruppenbasierte Schlechterbehandlung erst ex post identifizieren. Beispiele hierfür sind Schlechterbehandlungen auf der Basis von nicht sichtbaren Merkmalen, z. B. Krankheiten, über die man sich auch nicht offen austauscht. In diesem Falle greift aber die relationale Definition von Diskriminierung wieder, die individuellen Opfer konstituieren tatsächlich eine soziale Gruppe oder Kategorie, auf deren Basis die Schlechterbehandlung stattfindet. In so einem Fall ist auch ein Konflikt mit der Täter- oder Mehrheitsposition zu erwarten, die diese Auffassung zunächst nicht teilen mögen wird. Literatur Allport, Gordon W., 1954: The nature of prejudice, Reading, MA.-- Hansen, Nina, 2009: Die Verarbeitung von Diskriminierung; in: Beelmann, Andreas; Jonas, Kai J. (Hg.): Diskriminierung und Toleranz, Wiesbaden, 155-170.-- Jonas, Kai J.; Beelmann, Andreas, 2009: Begriffe und Anwendungsperspektiven; in: Beelmann, Andreas; Jonas, Kai J. (Hg.): Diskriminierung und Toleranz, Wiesbaden, 19-42.- - Monin, Benoît; Miller, Dale T., 2001: Moral credentials and the expression of prejudice; in: Journal of Personality and Social Psychology 81, 33-43.-- Mummendey, Amélie; Otten, Sabine, 2001: Aversive Discrimination; in: Brown, Rupert; Gaertner, Samuel L. (Eds.): Blackwell handbook of social psychology. Intergroup processes, Malden, MA, 112-132. Kai J. Jonas Dunkelziffer Die Dunkelziffer (richtig eigentlich Dunkelzahl, engl. dark number, auch undetected/ unreported cases, dark figure) ist traditionell in der Kriminalsoziologie die Anzahl der von der amtlichen Statistik nicht erfassten Straftaten. Systematisch muss man in der Statistik darunter aber jede Differenz zwischen den wirklich stattgefundenen Ereignissen und den in einer i. d. R. amtlichen Statistik erfassten verstehen. Deshalb gibt es Dunkelziffern auch z. B. in der Gesundheits- (etwa Seuchen), Außenhandels- (wirklicher gegenüber von den Firmen nach Steuerüberlegungen gemeldetem Wert von Exporten), Arbeitslosen-, Einkommens- und sonstigen Statistik. Für den Forscher beginnt die Dunkelfeldproblematik schon, wenn er für eine Untersuchung eine Stichprobe ziehen will. Nimmt er als Grundgesamtheit die statistische Angabe, kann die Dunkelziffer nicht nur bewirken, dass die Stichprobe zu klein wird; wenn das Dunkelfeld nicht dieselbe Struktur hat wie die Gesamtheit (sondern z. B. überwiegend schwerere Fälle erfasst), kann die Stichprobe sogar inhaltlich falsch sein. Dann kommt es nicht nur zu <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 82 82 Dunkelziffer falschen Wirklichkeitsbeschreibungen, sondern auch zu unbrauchbaren Praxisempfehlungen. Die erste Frage ist bei der Dunkelfeldproblematik stets: Wie verlässlich ist die vorliegende Statistik? Eine Faustregel sagt: Je mehr eine Statistikstelle selber Daten unmittelbar erhebt, desto geringer ist die Dunkelziffer; die Dunkelziffer ist desto größer, je mehr negative Folgen mit der Datenangabe verbunden sein können (z. B. Besteuerung bei Einkommensangabe, Quarantäne bei Seuchenmeldung) und desto kleiner, je mehr positive Folgen damit verbunden sind (z. B. mehr Planstellen bei hoher Kriminalitätsbelastung in einem Polizeibezirk oder Arbeitslosengeld bei Arbeitslosmeldung trotz Einkommens aus Schwarzarbeit; hier kann es sogar zu einer »negativen Dunkelziffer« kommen, wenn die Statistik mehr Fälle meldet, als in der Wirklichkeit vorhanden sind). Intersystemische Statistikvergleiche sind wissenschaftlich nur brauchbar, wenn sie ganz genau das Erhebungsverfahren angeben. Zur Erforschung der Dunkelziffer bedient man sich meistens der Befragung einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe, deren Ergebnisse auf die Population des Erhebungsgebiets hochgerechnet und mit den Statistikdaten (desselben Gebiets und Zeitraums) verglichen werden. Literatur Leder, Hans-Claus, 1998: Dunkelfeld, Frankfurt a. M.- - Schwind, Hans-Dieter, 2009: Kriminologie, 19. Aufl., Heidelberg. Günter Endruweit <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 82 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 83 83 Ehe E Ehe Die Ehe (engl. marriage) ist eine durch Sitte und/ oder Gesetz normierte, auf Dauer angelegte Form gegengeschlechtlicher Paarbeziehung eigener Art. Diese eigene Art wird durch eine besondere Binnenstruktur und durch die Zuweisung gesellschaftlicher Funktionen, zumindest der biologischen Reproduktionsfunktion, begründet. Trotz aller kulturellen Unterschiede ist die Ehe überall - wenn auch mit unterschiedlichen Verpflichtungsgraden - als soziale Institution der legitimen Nachkommenssicherung anerkannt. Sie steht zumeist unter öffentlichem Schutz und ist - in mehr oder weniger starkem Maße - öffentlichen Regulierungen unterworfen. Sie begründet Erbfolgen und verlangt - zumindest dem Anspruch nach - von den Partnern und ihren Herkunftsfamilien gegenseitige Hilfeleistung und Kooperation. Die für die heutige Ehe in fast allen Industriegesellschaften konstitutiven Merkmale der Emotionalität und Intimität ihrer Binnenstruktur und die der relativen Autonomie gegenüber der Herkunftsfamilie sind neuartige Erscheinungen und gelten daher auch keineswegs für die Ehen aller Kulturen. Dass sich die sog. »romantische Liebe« in der westlichen Welt in allen Schichten immer mehr als einzig legitimer Heiratsgrund durchsetzte und zur unhinterfragten sozialen Norm für jede Eheschließung wurde, hat die Eheforschung seit langem beschäftigt. Das Konstrukt »romantische Liebe« jedoch wurde erst mit der Entwicklung der Emotionssoziologie zu einem intensiv behandelten Thema der Soziologie. Auch in den außereuropäischen Staaten setzt sich die »romantische Liebesehe« allmählich immer stärker durch. Gleichwohl überwiegen quantitativ weltweit die »arrangierten Ehen«. Diese waren - historisch gesehen - auch in unserem Kulturkreis nicht nur im Feudalsystem, sondern überall dort, wo Besitz zu vererben war, üblich. Hiervon sind zu unterscheiden die »Zwangsehen«, in denen Kinder von ihren Eltern gegen ihren Willen verehelicht werden. Weiterhin bleibt ein wesentliches Strukturmerkmal aller Ehen, auch der modernen, dass sie über das bloße personale Paarverhältnis auf Familie verweisen. Denn die Hochzeit, die überall mit bestimmten rituellen Handlungen vollzogen wird, beinhaltet einen Statuswechsel des Brautpaares sowohl im Hinblick auf die Öffentlichkeit als auch innerhalb des Familienverbandes. Die Eheschließung stellt nämlich insofern auch heute noch einen »rite de passage« dar, als mit ihr neue soziale Rollen mit genau festgelegten Rechten und Pflichten übernommen werden: Die Braut wird zur Schwiegertochter, die Mutter zur Schwiegermutter, der Bruder zum Schwager usw. Welche konkreten Folgen bzw. Pflichten und Rechte für die Einzelnen mit der Eheschließung und der Übernahme der neuen sozialen Rollen verbunden sind, ist kulturvariabel und von den bestehenden Verwandtschaftslinien abhängig, ob z. B. ein patri- oder matrilineares oder - wie in unserem Kulturkreis - ein duales Verwandtschaftssystem gegeben ist. Solche durch die Eheschließung zugeschriebenen Rollen werden lebenslänglich erworben und bleiben auch bei Tod des Ehepartners - und bei Ehescheidung neu definiert - sozial relevant. Insofern verweist die Eheschließung immer auf Familie (selbst bei Kinderlosigkeit), die Familie dagegen nicht auf Ehe, z. B. bei Alleinerzieherschaft. Die Differenz zwischen der Ehe und den heutigen nichtehelichen Lebensgemeinschaften liegt insbesondere auch in dem Nichtbestehen eines sozial regulierten Integrationsprozesses zu den Herkunftsfamilien und der fehlenden öffentlichen Absichtserklärung, die Paarbeziehung mit dem Anspruch der Dauerhaftigkeit erhalten zu wollen. Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind in Deutschland überwiegend eine neue Lebensform ohne Verpflichtungscharakter während der Postadoleszenz. In allen Kulturen gibt es die Möglichkeit der Eheauflösung, zumindest in der Form der Partnertrennung. Die Ehescheidung ist der letzte rituelle oder formal-rechtliche und somit an bestimmte öffentliche Vorschriften gebundene Vollzug der Eheauflösung. In vielen Staaten ist vor der Ehescheidung eine Trennungszeit formal-rechtlich vorgeschrieben. Die Zahl der gerichtlichen Ehescheidungen ist seit Ende des vorigen Jh.s in allen Industrienationen stetig gestiegen. In einigen Staaten wird von allen Ehen bereits wieder die Hälfte durch Scheidung aufgelöst (z. B. in den USA, Kanada), zumindest ein Drittel (z. B. in Deutschland). In Bezug auf die Eheformen ist zwischen Monogamie und Polygamie zu unterscheiden. Die polygame Ehe ist soziologisch zu definieren als die Mehrwww.claudia-wild.de: <?page no="83"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 84 84 Ehre fach-Besetzung einer Ehepartner-Rolle, entweder der des Ehemannes (=Polyandrie) oder der der Ehefrau (=Polygynie). Literatur Burkhart, Günter, 2001: Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts, Opladen.- - Lenz, Karl, 2003: Soziologie der Zweierbeziehungen, Wiesbaden.- - Nave-Herz, Rosemarie, 1997: Die Hochzeit. Ihre heutige Sinnzuschreibung seitens der Eheschließenden, Würzburg.-- Dies., 2006: Ehe- und Familiensoziologie, 2. Aufl., Weinheim/ München.- - Dies.; Markefka, Manfred (Hg.), 1989: Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. I: Familienforschung, Neuwied. Rosemarie Nave-Herz Ehre Begriffserklärung Die Ehre (engl. honour) ist eine psycho-soziale Gegebenheit, die Simmel zwischen Recht und Moral im Bereich der Sitte ansiedelt. Im Deutschen bezeichnet der Begriff Ehre ein Doppelphänomen, das sowohl die Subjektwie auch die Objekt-Perspektive erfasst: als subjektive Ehre meint sie das Selbstwertgefühl eines Menschen, Selbstachtung, Anstand, Redlichkeit, Glaubwürdigkeit, Integrität; als objektive Ehre die Ehrerbietung und Wertschätzung, die jmdm. vom Sozium entgegengebracht wird: Ansehen, Anerkennung, Respekt, Reputation, guter Ruf (Leumund). Als übergeordnete philosophische Kategorie gilt Würde, die den Menschen als vernunftbegabtes und zu moralischem Handeln fähiges Gattungswesen gegenüber dem Tier auszeichnet. Historischer Wandel »Nicht die Ehre ist veränderlich, sondern das, worin die Menschen ihre Ehre setzen« (Scheler). Was heutzutage ein Gebot der Höflichkeit und der guten Manieren ist, z. B. jemandem den Vortritt lassen, war in der vertikal differenzierten Gesellschaft eine Frage der Ehre (s. den Königinnen-Streit im »Nibelungenlied«). Signifikant ist etwa auch der Bedeutungswandel des Begriffs »unehrlich« von einer sozialen Kategorie zu einem mentalen Attributivum: »Unehrlich« bedeutet heute »unaufrichtig«, während man in der ständischen Gesellschaft unter »unehrlichen Leuten« die marginalisierte Gruppe der Fahrenden, Prostituierten, Henker, Abdecker und anderer Stigmatisierter verstand. Auch wenn die Ehre in der funktionalen Massengesellschaft gleichberechtigter Staatsbürger ihr ausgeprägtes soziales und kulturelles Profil eingebüßt hat, ist sie in Alltagsbereichen (etwa im Sport) und beim Staatszeremoniell noch von gewisser Relevanz; sie besitzt jedoch keine Geltung mehr als zentraler normativer Wert. Der Wandel im Begriffsumfang der Ehre besteht i.W. darin, dass die nichtverantworteten Eigenschaften einer Person (Abkunft, Alter, Geschlecht) sowie die Stellung im Gesellschaftsgefüge als Kriterien adäquater Ehrezuweisung an Gewicht verloren, während persönliche Leistung und Moralität als Prüfstein für Ehrbarkeit zu Dominanz gelangten. Gleichzeitig gingen moralitätsunabhängige Charakteristika der Ehre in Begriffe wie Prestige, Status und Image ein. Kulturspezifische Dimensionen Die europäische Ständegesellschaft prägten öffentliche Ehrenstrafen (Pranger etc.) und (seit dem 16. Jh.) Duelle, während in Japan die Familienehre durch rituellen Selbstmord (Seppuku bzw. Harakiri) restituiert werden konnte. Den vom indischen Kastenwesen ausgeschlossenen »Unberührbaren« entsprachen in etwa die »unehrlichen Leute«. In patriarchalischen Milieus traten und treten Blutrache oder der sogenannte Ehrenmord (literarisiert z. B. in Lessings »Emilia Galotti«) als Form von Selbstjustiz auf. Zugrunde liegt eine somatische Auffassung von Ehre, deren Berechtigung mit zunehmender Aufgeklärtheit in Zweifel gezogen wird. Aktualität der Ehre Weniger die Modernität der Ehre (Vogt) steht zur Debatte, sondern vielmehr die Frage ihres Fortbestehens in der Gegenwart. Im Gegensatz zur »völkischen Ehre« im Nationalsozialismus und der Gleichsetzung von Ehre und Parteitreue in sozialistischen Staaten wird in rechtsstaatlichen Systemen Würde (Menschenwürde) als Grund für die Ehrbarkeit des Menschen angesehen. Neben dem im Grundgesetz Art. 1, 2 und 5 verankerten oder aus diesen abzuleitenden Recht der persönlichen Ehre gibt es in der Bundesrepublik einen strafrechtlichen Schutz vor Beleidigung (StGB §§ 185-200) und einen zivilrechtlichen Ehrenschutz (BGB §§ 823, 824, 826). <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 84 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 85 85 Ehrenamt Zu konstatieren sind ein ausgeprägter Gabentausch in Form von Ordens- und Preisverleihungen, Selbstehrung durch Stiftungen, Ahndung des »unehrenhaften und berufswidrigen« Handelns von Journalisten (Pressekodex Ziffer 15) sowie Affären um das ehrlose Verhalten von Politikern, Wirtschaftsführern oder Wissenschaftlern (Korruption, Plagiat) bzw. deren Klagen gegen Rufmord (Diffamierung). Der Rufschädigung im Internet mittels weltweiter digitaler Anprangerung (Cyber-mobbing etc.). wird durch Online-Reputationsmanagement begegnet. Literatur Burkhart, Dagmar, 2006: Eine Geschichte der Ehre, Darmstadt.-- Scheler, Max, 1957: Über Scham und Schamgefühl. Ges. Werke, Bd. 10, Bern.- - Simmel, Georg, 1922: Soziologie, 2. Aufl., München/ Leipzig (1908).- - Speitkamp, Winfried, 2010: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, Stuttgart.- - Vogt, Ludgera, 1999: Die Modernität der Ehre; in: Ethik und Sozialwissenschaften 10, H. 3, 335-344, 384-393, dazu 20 Kritikartikel, 345-383. Dagmar Burkhart Ehrenamt Unter Ehrenamt (engl. volunteering) versteht man eine produktive Tätigkeit, die freiwillig und unentgeltlich geleistet wird und die der Förderung der Allgemeinheit dient. Eine Tätigkeit wird dann als produktiv bezeichnet, wenn die Leistung prinzipiell auch von Dritten gegen Bezahlung erbracht werden könnte. Der Aspekt der Freiwilligkeit ist wichtig, um das Ehrenamt abgrenzen zu können von verpflichtenden Tätigkeiten, wie den Arbeitsgelegenheiten für ALG II-Empfänger (Ein-Euro-Jobs) oder unbezahlten Praktika im Rahmen einer Ausbildung. Das Kriterium der Unentgeltlichkeit bedeutet, dass zwar Kostenersatz für Ausgaben (z. B. Fahrtkosten) oder auch Pauschalen (wie die Übungsleiterpauschale im Sport) geleistet werden können, dass aber nicht wie bei der Erwerbsarbeit der geleistete Zeitaufwand abgegolten werden darf. Das Kriterium der Förderung der Allgemeinheit dient der Abgrenzung gegenüber Familienarbeit, wie beispielsweise Pflegeaufgaben für Angehörige innerhalb oder außerhalb des eigenen Haushalts. Es schließt nicht aus, dass die ehrenamtlich tätige Person auch selbst Nutzen aus ihrer Tätigkeit ziehen darf. Das wird häufig der Fall sein, da von einem Motivmix der Ehrenamtlichen auszugehen ist, der neben altruistischen auch egoistische Motive umfasst; ein Grenzfall, bei dem kontrovers diskutiert wird, ob es sich um Ehrenamt handelt, sind Selbsthilfegruppen. Ehrenamt findet in seiner formellen Form in Vereinen und Verbänden statt. Darüber hinaus ist umstritten, ob auch informelle Freiwilligenarbeit außerhalb solcher Organisationsformen, wie beispielsweise Nachbarschaftshilfe, dem Ehrenamt zugerechnet werden sollte. Eine passive Mitgliedschaft in einem Verein sowie Geldspenden sind nicht als Ehrenamt zu bezeichnen. Der Begriff des Ehrenamts stammt aus dem 19. Jh. und betraf einerseits administrativ politische Ehrenämter, andererseits humanitär und karitativ christliche Hilfstätigkeiten gegenüber Armen. Heute wird alternativ auch von Freiwilligenarbeit bzw. bürgerschaftlichem Engagement gesprochen, wobei sich die Bezeichnung der Freiwilligenarbeit bewusst stärker an dem englischsprachigen Begriff des Volunteering orientiert. Theoretisch ist das Ehrenamt vor allem mit dem Begriff des Sozialkapitals verbunden. Nach dem politikwissenschaftlichen Verständnis von Sozialkapital erhöht das ehrenamtliche Engagement in einer Region das Sozialkapital derselben, was wiederum mit der wirtschaftlichen Prosperität der Region in Verbindung gebracht wird. Die soziologische Perspektive betrachtet Sozialkapital als individuelle Ressource; im Ehrenamt wird vor allem die Anzahl schwacher sozialer Bindungen erhöht, denen eine positive Funktion beispielsweise bei der sozialen Integration zugesprochen wird. Literatur Dathe, Dietmar, 2005: Bürgerschaftliches Engagement; in: SOFI et al. (Hg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Arbeit und Lebensweisen, Wiesbaden, 455-480.- - Gensicke, Thomas et al., 2005: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999- 2004, Wiesbaden. Susanne Strauß <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 86 86 Eigentum Eigentum Die Definition von Eigentum (engl. property) kann unterschiedlich eng bzw. weit erfolgen: Im weitesten Sinne lässt sich Eigentum als auf knappe Güter bezogenes Handlungspotenzial in einer sozialen Umwelt verstehen (Krüsselberg) oder eingegrenzter als rechtlich geschützte Ansprüche bzw. Verfügung über knappe Güter. In juristisch eingegrenzter Definition ist Eigentum das weitgehendste Verfügungsrecht über Sachen und Rechte, wobei zwischen Besitz und Eigentum zu trennen ist: Während mit Besitz die tatsächliche Verfügungsgewalt angesprochen ist, beinhaltet Eigentum die höchste Verfügungsmacht über eine Sache. Eine zentrale Unterscheidung ist die in Privateigentum und Kollektiveigentum. Damit ist deutlich gemacht, dass nicht bezüglich aller knappen Güter in einer sozialen Umwelt privates Einzeleigentum möglich oder gesellschaftlich akzeptabel erscheint: Dies kann einerseits mit der Unteilbarkeit des Gutes zusammenhängen (»die Luft zum Atmen«), kann andererseits aber auch eine politische Entscheidung sein: In sozialistischen Gesellschaften etwa ist festgelegt, dass Eigentum an Produktionsmitteln im Regelfall kollektiv verankert ist. Der französische Frühsozialist Proudhon verurteilte die zu seiner Zeit bestehende Eigentumsverfassung sogar mit dem Verdikt »Eigentum ist Diebstahl«. Eigentum hat verschiedene Funktionen. So ist mit Eigentum Verfügbarkeit und ein Zuwachs an Handlungsspielraum verbunden. Eigentum macht damit die Person z. B. unabhängiger von sonstigen Rahmenbedingungen (z. B. davon, zur Existenzsicherung täglich seine Arbeitskraft anbieten zu müssen). Des Weiteren bedeutet Eigentum »soziale Sicherheit«. In dem Maße, wie Eigentum unterschiedlich konvertibel ist (Geldeigentum vor allem; Eigentum an Grund und Boden je nach Marktlage; Eigentum an einer »Idee«, die erst noch zu erproben ist, am wenigsten), beinhaltet dies auch Sicherung der zukünftigen Existenz. Gerade in sozialer Hinsicht beinhaltet Eigentum auch einen Zuwachs an Prestige, ist somit eine wesentliche Teildimension für relative Rangpositionen und die soziale Positionszuweisung der Person. In dem Maße, wie Eigentum nicht ausschließlich und selbst genutzt wird, ist damit eine Delegation von Eigentumsbefugnissen verbunden. So ist die Trennung zwischen Eigentum (des Unternehmers) und Verfügung über Produktionsmittel (durch den Arbeitnehmer) das durchgängige Prinzip der Wirtschaftsstruktur heutiger (westlich/ kapitalistischer) Industriegesellschaften. In großen Wirtschaftsunternehmen ist die Rolle des Managers ein herausragendes Beispiel für weitreichende Entscheidungen auf der Basis von delegierten Eigentumsbefugnissen. Bezieht man die in der Theorie der »property rights« sowie in den sozialwissenschaftlichen Austauschtheorien zentrale Annahme des selbstinteressierten Handelns hier in die Überlegungen ein, so ist abzuleiten, dass die Ziele des Managers partiell anders gelagert sind als die Ziele des Eigentümers. Damit zeichnet sich bei delegierten Eigentumsbefugnissen grundlegend das Problem der Kontrolle ab. Die Delegation erscheint nur in dem Maße (ökonomisch) sinnvoll, wie die Kontrollkosten nicht die Gewinne aus der Delegation aufzehren. Delegation bedeutet durchweg eine Verdünnung von Eigentumsrechten. Je nach Sachkategorie bzw. nach Nutzercharakteristik können hohe Sicherungskosten entstehen; diese sind umso niedriger, je weniger Eigentumsrechte bestritten werden, je funktionaler Rechtspflege und Gerichtsbarkeit organisiert sind, je eindeutiger das Staatsmonopol zur Sicherung von Eigentumsrechten gegeben und allgemein anerkannt ist. Literatur Badura, Peter, 1998: Freiheit und Eigentum in der Demokratie, Köln.-- Bieszcz-Kaiser, Antonia (Hg.), 1994: Transformation- - Privatisierung- - Akteure, München.- - Engerer, Hella, 1997: Eigentum in der Transformation, FU Berlin.- - Hauck, Ernst, 1987: Wirtschaftsgeheimnisse- - Informationseigentum kraft richterlicher Rechtsbildung? Berlin.- - Heinsohn, Gunnar, 1996: Eigentum, Zins und Geld, Berlin.- - Kessler Rainer; Loos, Eva (Hg.), 2000: Eigentum: Freiheit und Fluch, Gütersloh.-- Krüsselberg, Hans-Günter 1977: Die vermögenstheoretische Dimension in der Theorie der Sozialpolitik; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 19, 232-259.-- Roggemann, Herwig (Hg.), 1996: Eigentum in Osteuropa, Berlin.- - Stehr, Nico, 1994: Arbeit, Eigentum und Wissen, Frankfurt a. M.- - Tomuschat, Christian (Hg.), 1996: Eigentum im Umbruch, Berlin.-- Wengorz, Lars H., 2000: Die Bedeutung von Unternehmertum und Eigentum für die Existenz von Unternehmen, Frankfurt a. M. Thomas Kutsch <?page no="86"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 86 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 87 87 Einstellung Einstellung Wenn wir mit dem Begriff »Einstellung« (engl. attitude) konfrontiert werden, können wir uns unmittelbar eine inhaltliche Vorstellung davon machen, was gemeint ist. Man denkt vielleicht an die Einstellung zu Politikern oder die Einstellung zu gesunder Ernährung oder evtl. auch an die Einstellung zu bestimmten Produkten im Smartphone-Bereich. Die Verwendung des Begriffs der sozialen Einstellung - im Unterschied zu der Einstellung, die an einer mechanischen Vorrichtung vorgenommen wird - beruht auf dem bekannten Werk »The Polish peasant in Europe and America« der Soziologen William Thomas und Florian Znaniecki von 1918. Einstellungen bilden soziale Gegebenheiten ab. Sie werden sowohl von individuellen Präferenzen als auch von gesellschaftlichen Werten beeinflusst. In der Regel hat eine Person eine Vielzahl von Einstellungen, die zusammengenommen ihre Einstellungsstruktur bilden. Diese dient als soziales Orientierungsschema. Damit ist gemeint, dass Einstellungen die Person darüber informieren, was sie vermeiden muss und wem sie sich annähern kann. Einstellungen sind emotional aufgeladen: Negative Einstellungen verweisen auf Sachverhalte, die die Person schwächer oder stärker ablehnt, während positive Einstellungen auf Gegebenheiten deuten, die die Person mit Freude erwartet. Einstellungsobjekt Eine Einstellung ist ein evaluatives Summenurteil über ein Objekt, das kognitive, affektive und behaviorale Komponenten beinhalten kann (Bierhoff/ Frey 2011, 304). Wenn von einem evaluativen Summenurteil gesprochen wird, soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass die Person das Einstellungsobjekt auf verschiedenen Dimensionen bewertet und dass der Einstellung die Summe dieser Bewertungen des Einstellungsobjekts zugrunde liegt. Betrachten wir z. B. ein Produkt wie das Smartphone der Marke X. Die Benutzerin kann es im Hinblick auf sein Design, seinen Preis, seine Beständigkeit, seine Benutzeroberfläche und weitere Aspekte bewerten. Diese Meinungen werden in der Einstellung zu dem Smartphone X zusammengefasst. Somit sind Einstellungen Zusammenfassungen, die in einer kurzen Aussage einen komplexen Sachverhalt wiedergeben und sowohl leicht im Gedächtnis gespeichert werden als auch als Handlungsanweisung benutzt werden können. Es besteht in der Tendenz ein positiver Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten, der substantiell ist, wenn die Einstellungsmessung in ihrem Abstraktionsniveau mit der Verhaltensmessung übereinstimmt. Die Einstellungsmessung erfolgt in der Regel durch die Bewertung eines Einstellungs-Objekts auf einer Urteilsskala. Ein Beispiel lautet: ›Das Smartphone X ist gut ------schlecht‹. Zusätzlich wird auch auf implizite Einstellungsmessungen zurückgegriffen, bei denen der Zweck der Messung für den Teilnehmer nicht transparent ist. Ein Beispiel ist der Implizite- Assoziations-Test. Einstellungen beziehen sich häufig auch auf die eigene Person. Dann spricht man von Selbstbewertung. Andere Einstellungen, die den Blickwinkel auf bestimmte Personengruppen verzerren, werden Vorurteile genannt. Wenn die Einstellung auf einzelne Personen gerichtet ist, spricht man von Sympathie und Antipathie. In der Regel wird zwischen einer bewertenden, einer kognitiven und einer Verhaltenskomponente der Einstellung unterschieden (Drei- Komponenten-Modell der Einstellung). Diese Unterscheidung lässt sich an dem Einstellungsobjekt Smartphone veranschaulichen. Wir hatten schon gezeigt, wie die bewertende Komponente gemessen wird. Die kognitive Komponente bezieht sich auf Meinungen über die Vor- und Nachteile des Smartphones. Diese beziehen sich z. B. auf Design, Preis, Beständigkeit und Benutzeroberfläche. Um die Meinung über diese Attribute direkt zu erfassen, kann man Feststellungen vorgeben wie: »Das Design von Smartphone X ist überhaupt nicht ------sehr gelungen«. Schließlich können auch Verhaltensabsicht und tatsächliches Verhalten erfasst werden. Die Verhaltensabsicht beinhaltet die subjektive Wahrscheinlichkeit dafür, Smartphone X zu kaufen, während die Erfassung des offenen Verhaltens den Bericht über den Kauf des Smartphones betrifft. Einstellungen haben bestimmte Funktionen. Sie beinhalten Wissen, das es erlaubt, Probleme zu lösen. Darüber hinaus dienen sie der sozialen Anpassung in einer gegebenen kulturellen Umwelt. Sie haben eine Wert-Ausdrucksfunktion, da sie bestimmte Präferenzen der Person kennzeichnen, und sie können der Funktion der Ich-Abwehr dienen, indem z. B. durch positive Einstellungen gegenüber <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 88 88 Einstellung Minderheiten Schuldgefühle gemildert werden, die durch die gesellschaftliche Benachteiligung dieser Minderheiten ausgelöst werden. Vertrauen Im Folgenden werden zwei wichtige Themen der Sozialwissenschaft angesprochen, die eng mit Einstellungen zusammenhängen: Vertrauen und subjektives Wohlbefinden. Vertrauen beinhaltet eine Einstellung gegenüber anderen Personen, die von deren wahrgenommener Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit abhängt. Hohes Vertrauen in die Information, die eine andere Person gibt, reduziert die Unsicherheit darüber, ob die andere Person wahrheitsgemäß Auskunft gibt. Vertrauensvorschuss ist aber auch mit einem Risiko der Enttäuschung verbunden. Hohes Vertrauen reduziert die Komplexität der sozialen Welt auf ein überschaubares Ausmaß (Luhmann 1973). Die Unsicherheit, die in der Zukunft liegt, wird durch Vertrauen verringert. Denn objektive (und möglicherweise lähmende) Unsicherheit wird in subjektive Sicherheit umgewandelt, die es der Person ermöglicht, die Initiative zu ergreifen und zu handeln. Die subjektive Sicherheit kann sich auf den Umgang mit Personen oder Systemen (wie Medien) beziehen und ist nicht weiter ableitbar (Giddens 1991). Vertrauen ist eine implizite soziale Orientierung, die auf einzelne Personen, Organisationen oder politische Systeme gerichtet ist. Die Entwicklung einer sicheren Bindung zu den Eltern trägt wesentlich zum Aufbau von Basisvertrauen bei. Während sichere Bindung mit hohem Vertrauen gegenüber der Bezugsperson einhergeht, hängt unsichere Bindung mit geringem Vertrauen zusammen. Glück und subjektives Wohlbefinden Einer der am meisten untersuchten Einstellungs-Inhalte ist die Einstellung zum eigenen Leben. Die bewertende Einschätzung des eigenen Lebens bezieht sich auf das Lebensglück. In empirischen Untersuchungen wird Lebensglück häufig als subjektives Wohlbefinden erfasst, das die Bewertung des eigenen Lebens betrifft, die sich entweder auf den Augenblick oder auf einen bestimmten Lebensabschnitt bezieht (Frey/ Bierhoff 2011). Ein Beispiel ist die Beantwortung der Frage: »Auf einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 10 (zufrieden), wie zufrieden sind Sie gegenwärtig mit Ihrem Leben insgesamt? « Glück ist subjektiv und stellt eine individuelle Erfahrung dar, die für jede Person besonders sein kann. Daher ist streng genommen das Glück der einen Person nicht vergleichbar mit dem der anderen. Vergleichbarkeit wird dadurch hergestellt, dass der Glückszustand sprachlich beschrieben oder auf einer Urteilsskala eingeschätzt wird. Die Einschätzung des Glücks wird sowohl durch aktuelle Gefühle als auch durch die allgemeine Lebenszufriedenheit beeinflusst. Die aktuellen Gefühle sind von dem Kontext abhängig, in dem sie auftreten. Wie Dostojewski eindrucksvoll geschildert hat, kann der Vorgang zu baden ein Erlebnis höchsten Glücks sein, wenn man Gefangener in einem russischen Gulag ist. Subjektives Wohlbefinden hängt eng mit Beziehungszufriedenheit, Vertrauen und Commitment an die Partnerschaft zusammen (Rohmann 2008). Unter glücklichen Menschen finden sich nur wenige, die keinen romantischen Partner haben. Von hohem subjektivem Wohlbefinden kann eine Aufwärtsspirale des Denkens und Handelns ausgehen, die sich ihrerseits wieder positiv auf das Wohlbefinden auswirkt. Der Begriff des Glücks kann sehr oberflächlich oder auch tiefergehend verstanden werden. Grundsätzlich lassen sich drei Ebenen unterscheiden: 1) Vergnügen, das sich kurzfristig ergibt, weil ein erfreuliches Ereignis eingetreten ist (z. B. das Erlebnis eines sonnigen Vormittags während eines Besuchs im Park) 2) Eudämonie. Unter diesem Begriff der Griechen, der so viel wie »Gelingen« bedeutet, versteht man ein tugendhaftes Leben, das das eigene Potenzial ausschöpft. Das Leben »blüht auf« (engl. flourish). Die Philosophie von Sokrates, Platon und Aristoteles lassen sich diesem Glücksbegriff zuordnen. 3) Flow bezeichnet ein Engagement für eine Aufgabe, das als erfüllend erlebt wird. Man widmet sich einer Aufgabe voll und ganz, vergisst Zeit und Umgebung und geht in der Tätigkeit auf. Die Erfüllung, die auf diese Weise erlebt wird, erzeugt das Gefühl, glücklich zu sein. Literatur Bierhoff, Hans-Werner; Frey, Dieter, 2011: Sozialpsychologie. Individuum und soziale Welt, Göttingen.-- Frey, Dieter; Bierhoff, Hans-Werner, 2011: Sozialpsychologie. Interaktion und Gruppe, Göttingen.- - Giddens, Anthony, 1991: <?page no="88"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 88 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 89 89 Elite Modernity and self-identity, Stanford, CA.-- Luhmann, Niklas, 1973: Vertrauen, Stuttgart.- - Rohmann, Elke, 2008: Zufriedenheit mit der Partnerschaft und Lebenszufriedenheit; in: Dies. et al. (Hg.): Sozialpsychologische Beiträge zur Positiven Psychologie, Lengerich, 93-117. Hans-Werner Bierhoff/ Elke Rohmann Einzelfallstudie Die Einzelfallstudie (engl. case study) stellt die genaue Beschreibung eines Falls dar (Ragin/ Becker 1992). Einzelfallstudien werden meist mit qualitativen, aber auch mit quantitativen Methoden durchgeführt (Yin 2009, Flick 2009). »Fall« kann sich auf Personen, Gemeinschaften (z. B. Familien), Organisationen und Institutionen (z. B. Unternehmen) beziehen. Zentral für die Beurteilung von Einzelfallstudien ist, wofür der Fall und seine Analyse stehen und was an ihm verdeutlicht werden soll: Geht es um die einzelne Person (Institution etc.)? Ist die Person typisch für eine bestimmte Teilgruppe der Studie? Steht der Fall für eine spezifische professionelle Perspektive? Nach welchen Kriterien wurde der Fall ausgesucht zur Erhebung, Analyse und Darstellung der Daten? Forschungsstrategisch entscheidend sind für Einzelfallstudien die Identifikation eines für die Untersuchung aussagekräftigen Falls und die Klärung, was zum Fall gehört und welche Methoden seine Analyse erfordert. Bei einer Einzelfallstudie zum Verlauf der chronischen Erkrankung eines Kindes: Reicht es, das Kind im Behandlungskontext zu beobachten? Sollte der Familienalltag beobachtet werden? Müssen Lehrer oder Mitschüler befragt werden? Einzelfallstudien verwenden häufig mehrere Erhebungsmethoden (z. B. Interviews, Beobachtungen, Dokumentenanalysen). Hermeneutische Interpretationen in qualitativer Forschung arbeiten oft zunächst mit Einzelfallstudien (ein Gespräch, Dokument oder Interview). Einzelfallstudien werden auch zur Illustration einer vergleichenden Studie verwendet, um Zusammenhänge zwischen verschiedenen Themenbereichen zu zeigen. So findet sich eine Reihe von Einzelfallstudien neben einer thematisch gegliederten fallübergreifend vergleichenden Darstellung in einer Studie zur Gesundheit obdachloser Jugendlicher (Flick/ Röhnsch 2008). Literatur Flick Uwe, 2009: Sozialforschung- - ein Überblick für die BA-Studiengänge, Reinbek.- - Flick, Uwe; Röhnsch, Gundula, 2008: Gesundheit auf der Straße. Vorstellungen und Erfahrungsweisen obdachloser Jugendlicher, Weinheim.-- Ragin, Charles; Becker, Howard (Hg.), 1992: What is a Case? Exploring the Foundations of Social Inquiry, Cambridge.-- Yin, Robert, 2009: Case Study Research-- Design and Methods, 4th. Ed., Thousand Oaks. Uwe Flick Elite Unter Elite (engl. elite) versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch eine durch besondere Merkmale aus der Gesamtbevölkerung herausgehobene Personengruppe. Man verwendet den Begriff sowohl für herausragende Sportler und Wissenschaftler als auch für Spitzenpolitiker und Topmanager. In der sozialwissenschaftlichen Eliteforschung fällt die Definition enger aus. Zur Elite zählen ihr zufolge im Wesentlichen nur diejenigen Personen, die (in der Regel qua Amt oder, im Falle der Wirtschaft, qua Eigentum) in der Lage sind, durch ihre Entscheidungen gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Die vier zentralen Eliten kommen deshalb aus den Bereichen Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Justiz. Sie haben in dieser Hinsicht den größten Einfluss. Der Elitebegriff (élire=auswählen), erstmals im 17. Jh. erwähnt, wurde ab dem 18. Jh. vom aufstrebenden französischen Bürgertum als demokratischer Kampfbegriff gegen die traditionellen Vorrechte von Adel und Klerus eingesetzt. Die individuelle Leistung sollte statt der familiären Abstammung zum entscheidenden Kriterium für die Besetzung gesellschaftlicher Spitzenpositionen werden. Ende des 19. Jh.s veränderte sich der Gebrauch des Begriffs grundlegend. Elite wurde nun nicht mehr als Gegenpol zum Adel, sondern als Gegenpol zur Masse verstanden. Das Bürgertum definierte Elite, als die es sich selbst begriff, in Abgrenzung zur (aus seiner Sicht) ungebildeten und unkultivierten Masse. Die drei Soziologen Mosca, Pareto und Michels formulierten vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund ihre klassischen Elitetheorien. In dem Gegensatz von Elite und Masse sehen sie ein allgemein gültiges Prinzip der Menschheitsgeschichte. Erstere <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 90 90 Emanzipation verfüge über die materiellen, intellektuellen und psychologischen Fähigkeiten, die zur Ausübung von Macht und damit zur Herrschaft erforderlich seien, Letztere nicht. Die klassischen Elitetheorien bildeten eine wichtige ideologische Grundlage für den Faschismus. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird der Begriff Elite überwiegend funktionalistisch definiert. Der Ansatz von den Funktionseliten besagt, dass es in modernen Gesellschaften keine einheitliche Elite oder gar herrschende Klasse mehr gibt, sondern nur noch einzelne, miteinander konkurrierende funktionale Teileliten an der Spitze der wichtigen gesellschaftlichen Bereiche. Der Zugang zu diesen Eliten stehe prinzipiell jedermann offen, weil die Besetzung von Elitepositionen im Wesentlichen nach Leistungskriterien erfolge. Die funktionalistischen Elitetheorien sind in der Soziologie allerdings nicht unumstritten. So weisen z. B. Mills und Bourdieu darauf hin, dass es auch in der heutigen Gesellschaft keine Vielzahl voneinander unabhängiger und prinzipiell gleichrangiger Teileliten gebe, sondern eine einzige Macht-Elite bzw. herrschende Klasse, die trotz ihrer internen Differenzierung einen starken inneren Zusammenhalt aufweise. Außerdem haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass die soziale Herkunft immer noch entscheidend für den Zugang zu den Eliten ist. Literatur Dreitzel, Hans P., 1962: Elitebegriff und Sozialstruktur, Göttingen.-- Hartmann, Michael, 2004: Elitesoziologie, Frankfurt a. M.-- Ders., 2007: Eliten und Macht in Europa, Frankfurt a. M.- - Mills, C. Wright, 1962: Die amerikanische Elite, Hamburg. Michael Hartmann Emanzipation Emanzipation (engl. emancipation) bezieht sich im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch auf jene Vielzahl historisch spezifischer, zumeist generationenübergreifender sozialer Prozesse, in denen sich Individuen bzw. Gruppen aus wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnissen selbst befreien. Emanzipationsprozesse treiben zumeist Individuen bzw. Gruppen voran, zu deren Gunsten sich das gesellschaftliche Machtgefüge im sozialen Wandel zu verändern beginnt bzw. verändert hat und die ihr Machtpotential in einer Stärkung ihrer Position nun auch realisieren wollen. Emanzipationsprozesse sind im Kern Auseinandersetzungen zwischen machtstärkeren (im Extremfall: Etablierten-) und machtschwächeren (im Extremfall: Außenseiter-, Rand-) Gruppen, bei denen die Mitglieder der Letzteren gegen ihren mehr oder minder starken Ausschluss von ökonomischen Ressourcen, sozialen Chancen, politischen Rechten und kultureller Teilhabe kämpfen. Die Kampfmittel reichen von Aufständen, Demonstrationen, Agitation, Boykott, Sabotage bis hin zum Einsatz geeigneter, die Emanzipation legitimierender Theorien, Philosophien, Utopien oder Ideologien. In dem Maße, in dem die Emanzipation einer sozialen Gruppe vorangetragen und damit die Sozialstruktur bzw. die Machtkonfiguration verändert wird, kann u. U. die Ausgangssituation für die Emanzipation einer anderen Gruppe erst geschaffen werden. Emanzipationsprozesse können evolutionären sozialen Wandel bewirken, indem sie sich funktional-integrativ noch in die bestehende Sozialstruktur einfügen. Andere Emanzipationsbewegungen zielen auf radikale Veränderung der bestehenden (z. B. Eigentums-) Verhältnisse und damit auf revolutionären sozialen Wandel ab. Analysiert man einzelne historische Emanzipationsbewegungen, hat man somit detailliert den folgenden Grundfragen nachzugehen: Welche Gruppe, Schicht oder Klasse trägt den Emanzipationsprozess und wie ist ihre Einbindung in das Machtgefüge? Warum und wohin verändert sich die Struktur dieser Konfiguration von Macht und sozialer Ungleichheit? Von welchen Machtquellen bzw. Ressourcen ist bzw. war diese Gruppe in welchem Maße ausgeschlossen und welches sind daher die Ziele des Emanzipationsprozesses? Welcher Mittel bedient sie sich zum Vorantreiben der Emanzipation? Wie Grass und Koselleck (1975) im Einzelnen darstellen, beginnt die Karriere des Begriffs mit der Proklamation von Menschenrechten in Europa und Nordamerika, mit der Aufklärung, mit dem Kampf des Bürgertums gegen feudale, absolutistische, ständische Vorrechte in den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jh.s. Das Bürgertum, dem zunehmend ökonomische Chancen und Funktionen zuwachsen, fordert nun Staatsbürgerrechte ohne Rücksicht auf Geburt und Stand. Verschränkt mit diesem Prozess kommt im Deutschland der ersten <?page no="90"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 90 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 91 91 Emergenz Hälfte des 19. Jh.s auch die Emanzipation der Juden mit dem Ziel ihrer politischen, ökonomischen und religiösen Gleichstellung voran. Die Frauenemanzipation hat ihre Ursprünge im späten 18. und frühen 19. Jh. ebenfalls darin, dass zunächst von einigen bürgerlichen Intellektuellen politische und soziale Gleichstellung für Frauen gefordert werden. Wie die Industrialisierung, verspätet sich im europäischen Vergleich in Deutschland auch der Beginn einer organisierten Frauenbewegung. Es geht zunächst und zentral um die Machtquelle des Zugangs zu Berufsausbildung, zu qualifizierterer Berufstätigkeit und den entsprechenden Arbeitsmärkten über die bestehende unqualifizierte Fabrik-Frauenarbeit hinaus. Das Frauenwahlrecht etwa folgt erst 1919. Mit dem Entstehen der Industriegesellschaft wurde das Bürgertum in Gestalt der »sozialen Frage« mit dem Emanzipationsstreben der Arbeiterbewegung konfrontiert, die teilweise die einstmals bürgerliche Forderung nach politischer Gleichstellung (z. B. Aufhebung von Wahlrechtseinschränkungen, Koalitionsfreiheit, Mitbestimmung) aufnahm und damit auf evolutionären Wandel zur Verbesserung der eigenen Position setzte, teilweise unter Übernahme des Marxschen Emanzipationsgedankens revolutionäre Wandlungen einleiten wollte. Für Marx war die erstgenannte Emanzipationsbestrebung (»politische Emanzipation«) »allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung« (Zur Judenfrage, MEW 1, 356). Die vollständige Emanzipation (»menschliche Emanzipation«) liegt für Marx jedoch erst in der Aufhebung des Privateigentums, in der Aufhebung der Entfremdung (vgl. Hartfiel 1975). Eine wichtige Rolle (vgl. Hartfiel 1975; Greiffenhagen 1973) spielt der Begriff auch in der sozialwissenschaftlichen Theorie- und Methodologiedebatte (Kritische Theorie der Frankfurter Schule als Wissenschaft mit »emanzipatorischem Erkenntnisinteresse«), in der Entwicklungssoziologie (Emanzipation ehemaliger Kolonialbzw. Entwicklungsländer), in der Pädagogik (»emanzipatorische Erziehung« etwa als Leitbild der Bildungsreformen der 70er Jahre; vgl. Bath 1974 m. w. N.) sowie in der Psychologie, in der Jugend- und Sozialarbeit. Literatur Bath, Herbert, 1974: Emanzipation als Erziehungsziel? , Bad Heilbrunn.- - Claußen, Bernhard, 1983: Emanzipation; in: Mickel, Wolfgang W. (Hg.): Handlexikon zur Politikwissenschaft, München.-- Grass, Karl Martin; Koselleck, Reinhart, 1975: Emanzipation; in: Brunner, Otto et al. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart, 153-197.- - Greiffenhagen, Martin (Hg.), 1973: Emanzipation, Harnburg.-- Habermas, Jürgen, 1968: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M.- - Hartfiel, Günter (Hg.), 1975: Emanzipation-- Ideologischer Fetisch oder reale Chance? , Opladen. Gerhard Berger Emergenz Emergenz (engl. emergence) bezeichnet das Auftreten »höherstufiger« Eigenschaften eines Phänomens, die sich von den Eigenschaften der zugrunde liegenden Elemente unterscheiden. Höherstufig kann sich auf das Verhältnis von Ebenen (wie Mikro-Makro) oder von Teil und Ganzem beziehen. Emergenz findet sich vielfältig in allen Bereichen der Wirklichkeit (etwa als V-Form eines Vogelschwarms, im Bewusstsein, das auf neuronalen Prozessen beruht, die selbst nicht über Bewusstsein verfügen), aber auch in der sozialen. Bspw. besitzen Gruppen die Eigenschaft der Gruppengröße, wohingegen die einzelnen Mitglieder keine solche Eigenschaft aufweisen. In diesem Fall ist die höherstufige Eigenschaft auf einfache Weise »reduzierbar« (Gruppengröße = Zahl der Mitglieder der Gruppe). Umstritten ist, ob es Fälle gibt, in denen eine Reduktion der emergenten Eigenschaften des Phänomens prinzipiell nicht möglich ist (häufig als »starke« Emergenz bezeichnet). Wenn Soziales nicht auf biologische oder psychologische Eigenschaften reduzierbar ist, so würde dies die (klassisch von Emile Durkheim formulierte) Annahme stützen, dass soziale Phänomene solche eigener Art (»sui generis«) sind. Daher ist die Emergenzdebatte auch zentral für die Auseinandersetzung um Individualismus und Holismus. Literatur Greve, Jens; Schnabel, Annette (Hg.), 2011: Emergenz, Berlin.-- Stephan, Achim, 2007: Emergenz, Paderborn. Jens Greve <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 92 92 Empirie Emotionen Unter »Emotionen« oder »Gefühlen« (engl. emotions, sentiments, feelings) versteht man die neben dem Denken und Wollen dritte Grundfunktion des Bewusstseins, die die Eigenschaft aufweist, dass sie mit bestimmten affektiven Zuständen verbunden ist. In der Soziologie findet sich eine Vielfalt von Emotionskonzepten, die sich darin unterscheiden, ob sie Emotionen vornehmlich als physiologische, kognitive, kulturelle oder leibliche Zustände betrachten. Die Soziologie analysiert die Zusammenhänge zwischen Emotionen und sozialen Sachverhalten. Ihr Erkenntnisinteresse besteht darin, die Bedeutung von Emotionen für die Genese von sozialen Sachverhalten wie auch umgekehrt die sozialen Bedingungen der Genese von spezifischen Emotionen zu untersuchen. Schon beginnend mit der Gründungsphase der Soziologie werden die wechselseitigen Konstitutionsprozesse von emotionalem Erleben und der Selektion von Handlungen (Max Webers Idealtypus des affektiven Handelns), aber auch die Rolle von Emotionen für die Bildung bestimmter sozialer Phänomene (Durkheims Untersuchungen zur kollektiven Efferveszenz) oder Vergesellschaftungsformen in den Blick genommen (Gemeinschaft vs. Gesellschaft). Meist spielt in den klassischen Untersuchungen der Gegensatz von »Emotionalität« und »Rationalität« als zwei unterschiedlich reflexiven Formen der Handlungssteuerung eine Rolle. In der heutigen Forschung geht man hingegen oft davon aus, dass Emotionen und Kognitionen oder Emotionalität und Rationalität sich wechselseitig bedingen. Wichtige Forschungsfelder sind die Funktion von Emotionen für die Aufrechterhaltung sozialer Interaktionen (so bspw. in der »Affekttheorie des sozialen Austauschs«), die emotionale Bedeutung von sozialen Diskursen für die Handlungsmodifikation (so in der »Affekt- Kontroll-Theorie«) oder die Rolle von Emotionen bei der Genese von sozialen Bewegungen. Einen Schwerpunkt stellt die Organisations- und Arbeitssoziologie dar. Das Konzept der »Emotionsarbeit« weist darauf hin, dass zahlreiche Arbeitstätigkeiten insbesondere im Bereich der Dienstleistungsarbeit vornehmlich eine interaktive, emotionsbezogene Dimension aufweisen. Literatur Schnabel, Annette; Schützeichel, Rainer (Hg.), 2012: Emotionen, Sozialstruktur und Moderne, Wiesbaden.-- Schützeichel, Rainer (Hg.), 2006: Emotionen und Sozialtheorie, Frankfurt a. M./ New York.- - Stets, Jan E.; Turner, Jonathan H. (Hg.), 2007: Handbook of the Sociology of Emotions, New York. Rainer Schützeichel Empirie Der Begriff Empirie (engl. empirical, empiricism) ist aus dem Griechischen (empeiria) abgeleitet und bedeutet Sinneserfahrung. Empirie bezeichnet in den Sozialwissenschaften ein auf systematischen Erfahrungen sowie auf theoretischen Modellen basierendes Wissen. Empirische Informationen sind damit eine spezifische Form von Aussagen zur Beschreibung der Wirklichkeit. Die Gewinnung des empirischen Wissens erfolgt auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und ist nicht voraussetzungslos. Somit unterscheidet sich die Empirie sowohl von der Alltagserfahrung als auch von der Theorie und auch von der Praxis. Empirie und Alltagserfahrung Während man sich Alltagserfahrungen voraussetzungslos, spontan und unsystematisch aneignet, werden die empirischen Aussagen gezielt und systematisch gewonnen. Alltagserfahrungen können jedoch durchaus als Auslöser für die Gewinnung empirischen Wissens fungieren, dies z. B. dann, wenn aufgrund der Alltagserfahrung Lücken im Wissen ausgemacht werden. In den Sozialwissenschaften werden für die Gewinnung empirischen Wissens elaborierte Instrumente eingesetzt. Vor allem mithilfe solcher Methoden wie den Befragungen, den Beobachtungen, den Inhaltsanalysen und den sozialen Experimenten gelingt es, empirische Aussagen zu gewinnen. Die dabei erhobenen Daten müssen, ebenfalls im Unterschied zu den Alltagserfahrungen, bestimmten Anforderungen genügen. So sollen diese vor allem objektiv, reliabel und valide sein. Diese Eigenschaften stellen zugleich wichtige Kriterien der Wissenschaftlichkeit dar, wobei Objektivität die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Datengewinnung meint. Wenn unterschiedliche Forscher zu den <?page no="92"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 92 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 93 93 Empirie gleichen Befunden gelangen, so sind diese objektiv. Dritte müssen die Möglichkeit haben, die Gewinnung der Daten nachzuvollziehen. Mit Reliabilität wird die Genauigkeit bzw. die Exaktheit einer Messung und mit Validität deren Gültigkeit bezeichnet. Die Reliabilität kann ermittelt werden mithilfe der Wiederholung einer Messung unter den gleichen Bedingungen. Validität liegt dann vor, wenn bei einer Erhebung auch jener Gegenstand gemessen worden ist, der beabsichtigt war, gemessen zu werden. Empirie und Theorie Die Empirie steht in einem engen Zusammenhang mit der Theorie. Aufgrund empirischer Erkenntnisse kann es erstens zur Weiterentwicklung des theoretischen Wissens kommen. Opp (1995: 188) spricht von einer notwendigen »empirischen Konfrontation von Theorien.« Zweitens kann aber auch aufgrund des theoretischen Wissens und aufgrund von hier ausgemachten Defiziten gezielt nach neuen empirischen Erfahrungen gesucht werden. Die Theorie geht von daher der Empirie voraus. Dies bedeutet, dass empirische Informationen aufgrund einer gezielten, theoretisch begründeten Auswahlstrategie gewonnen werden. Da es nicht möglich ist, die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zu erfassen, ist eine gezielte, theoretisch begründete Selektion erforderlich. So gilt es, jene Merkmale der zu untersuchenden Objekte zu bestimmen, die für die Lösung des Problems geeignet sind. In diesem Zusammenhang kommt auch den Indikatoren eine wichtige Bedeutung zu. Sie stellen die Verbindung zwischen dem theoretischen und dem empirischen Wissen her. Auch die Indikatoren werden aufgrund theoretischer Überlegungen über das Funktionieren der Gesellschaft gebildet. Sie dienen dem Ziel, empirische Informationen zu gewinnen. Empirische Daten werden beispielsweise ge nutzt, um die in Hypothesen enthaltenen Vermutungen zu prüfen und diese dann schrittweise in theoretisches Wissen zu überführen. In dieser Beziehung geht nun die Empirie der Theorie voraus. Empirie und Praxis Schließlich gilt es auch, Theorie, Empirie und Praxis voneinander abzugrenzen. Trotz der wissenschaftlich begründeten, d. h. theoretisch fundierten Vorgehensweise bei der Gewinnung empirischen Wissens ist dieses nicht unfehlbar. Somit muss sich die Theorie (ausreichend und umfassend) in der Praxis bewähren. Eine solche Funktion kann von der Empirie nicht wahrgenommen werden. Die Empirie steht damit quasi vermittelnd zwischen Theorie und Praxis. Der Übergang von empirischem oder Erfahrungswissen zum theoretischen Wissen ist zudem fließend. Auch in dieser Beziehung geht die Empirie der Theorie voraus. Theorie und Empirie stehen damit in einem dialektischen Verhältnis. Sie bedingen einander und gehen ineinander über. Empirismus Unter Empirismus wird eine Denkrichtung bzw. auch eine philosophische Strömung verstanden, bei der alles Wissen lediglich als auf Erfahrungen basierend verstanden wird. Die Empirie wird hier zu der zentralen Quelle der Erkenntnis der Wirklichkeit. Zugleich ignoriert der Empirismus damit jedoch die oben beschriebene theoriegeleitete Forschung zur Gewinnung des empirischen Wissens. Der Positivismus knüpft am Empirismus an. Es lassen sich verschiedene Richtungen des Empirismus unterscheiden. Der logische Empirismus, der vor allem von den Wissenschaftlern des Wiener Kreises (Rudolf Carnap, Hans Reichenbach, Herbert Feigl) entwickelt worden ist, lehnt beispielsweise - im Unterschied zum Kritischen Rationalismus - jede Induktionslogik ab. Dem Begriffsempirismus folgend sind alle gehaltvollen Begriffe Erfahrungsbegriffe, während der Aussagenempirismus davon ausgeht, dass es sich bei den gehaltvollen Aussagen um Erfahrungsaussagen handelt. Der naive Empirismus unterstellt, dass Begriffe Abbilder von Sinneserfahrungen sind, und der moderne Empirismus vertritt die Auffassung, dass die Begriffe auf Beobachtungen zurückgeführt werden können. Der reduktionistische Empirismus nimmt gegenüber dem schwachen Empirismus an, dass die Begriffe vollständig auf Beobachtungen zurückgeführt werden können. Schließlich vertritt der dogmatische Empirismus die Auffassung, die empirische Erkenntnis gewährleiste Sicherheit, während der kritische Empirismus die Fehlbarkeit empirischer Aussagen annimmt. Literatur Carnap, Rudolf, 1929: Abriss der Logistik, mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien.- - Chalmers, Alan, 2007: Wege der Wissenwww.claudia-wild.de: <?page no="93"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 94 94 Entscheidung schaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 6. Aufl., Berlin.-- Gadenne, Volker, 2004: Empirische Forschung und normative Wissenschaftstheorie. Was bleibt von der Methodologie des kritischen Rationalismus? In: Diekmann, Andreas (Hg.): Methoden der Sozialforschung, Sonderheft 44 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden, 33-50.-- Haller, Rudolf, 1993: Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener Kreises, Darmstadt.- - Opp, Karl-Dieter, 1995: Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theoriebildung und praktischen Anwendung, Wiesbaden. Michael Häder Entscheidung Wahl zwischen beziehungsweise Selektion von Alternativen. In der Soziologie werden Entscheidungen (engl. decision) in sozialtheoretischer Perspektive vorwiegend mit Blick auf das soziale Handeln der Menschen untersucht - wie (menschliche) Akteure Handlungsoptionen wählen und Entscheidungen treffen. In dieser Sicht geht es vornehmlich darum zu verstehen und zu erklären, wie das Entscheiden »funktioniert«, was genau eine Entscheidung ist, wie Handeln und Entscheiden voneinander zu unterscheiden sind und worin der Zusammenhang zwischen Entscheider/ in und Entscheidung besteht. In gesellschaftstheoretischer und -diagnostischer Perspektive wird danach gefragt, wie sich Menschen in historisch-spezifischen Situationen entscheiden und wie sich die Praxis des Entscheidens unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wandelt. In der Moderne, so beispielsweise Schimank (2005), vervielfältigen sich die Entscheidungsmöglichkeiten und -spielräume, aber auch die Zwänge, Entscheidungen zu treffen. In der soziologischen Theoriebildung werden mit Blick auf das Entscheiden unterschiedliche Ansätze vertreten. ›Entscheidung‹ in Theorien der rationalen Wahl In der bis heute dominierenden Tradition der Theorien der rationalen Wahl wird unter einer Entscheidung der Prozess oder das Ergebnis einer Wahlhandlung verstanden: Eine Entscheidung zu treffen bedeutet, eine Handlungsalternative aus mehreren im Hinblick auf ein bestimmtes Handlungsziel auszuwählen. Modellhaft besteht ein Entscheidungsprozess darin, dass der Akteur eine Entscheidungssituation wahrnimmt und deutet, das Entscheidungsproblem definiert, die Entscheidungskriterien möglichst vollständig erfasst, diese in eine stabile und widerspruchsfreie Rangfolge von Prioritäten bringt, sich aller Handlungsalternativen und ihrer Folgen vergewissert und dann im Hinblick auf die Prioritätenordnung und das vorab definierte Ziel die Handlungsoption auswählt, die am besten geeignet ist, das Ziel zu erreichen. Im Anschluss an die Auswahl wird die Entscheidung kommuniziert und umgesetzt; von Beobachtern wird sie als Entscheidung interpretiert und dem Akteur als Entscheidung zugeschrieben. Betont wird dabei a) die Intentionalität der Entscheidung und b) die Nutzenorientierung des entscheidenden Akteurs. Da die zeitlichen Ressourcen und die Informationsverarbeitungskompetenzen menschlicher Akteure begrenzt sind, kann eine vollständige Rationalität des Entscheidens unter Abwägung aller Möglichkeiten nicht erreicht werden. Die Rationalität ist vielmehr sowohl mit Blick auf die Entscheidung selbst als auch mit Blick auf das Entscheidungsverfahren begrenzt (»bounded rationality«, March/ Simon): Entscheider suchen nicht nach optimalen, sondern nach zufriedenstellenden Lösungen (»satisficing«), wählen die nächstbeste Handlungsalternative (»simple minded search«) und gehen im Entscheiden inkrementalistisch vor (»muddling through«, Lindblom). An einem Entscheidungsprozess können ein oder mehrere Akteure beteiligt sein; das gemeinsame und bewusste Abstimmen einer Entscheidung wird als kollektive Entscheidung bezeichnet. Grundsätzlich bedeutet Entscheiden Handeln unter Unsicherheit - wenn das Ergebnis der Wahl von vornherein feststeht, kann man nicht mehr von einer Entscheidung sprechen: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.« (Foerster 1993, 153). Im Rahmen der Annahmen der Theorien rationaler Wahl entwerfen und analysieren spieltheoretische Modelle interaktive Entscheidungssituationen. Sie versuchen, das (rationale) Entscheidungsverhalten der Beteiligten in sozialen Konfliktsituationen zu prognostizieren. <?page no="94"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 94 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 95 95 Entwicklung ›Entscheidung‹ in weiteren theoretischen-Ansätzen Im Gegensatz zu einer akteurbzw. handlungstheoretischen Fassung wird aus der Perspektive der neueren Systemtheorie Entscheiden nicht als mentaler Akt eines Akteurs verstanden, sondern als spezifische Form der Kommunikation. Entscheidungen sind auf Erwartungen reagierendes Verhalten, so Luhmann; sie bestehen nicht in der Auswahl einer Alternative, sondern dokumentieren sich an ihr. Nicht der Wille und Entschluss eines denkenden und handelnden Akteurs sind maßgeblich, sondern die Anschlussfähigkeit der Entscheidung an eine andere - und die Tatsache, dass eine Entscheidung ihre eigene Kontingenz thematisiert (Luhmann 1984, 1993, 2005). Die neuere Forschung der Neurobiologie und der Psychologie betont, dass eine Entscheidung nicht notwendig als kognitive Handlungsvorbereitung zu verstehen ist. Entscheidungen fallen vielmehr automatisch, gefühlsmäßig oder intuitiv; sie sind die Folge neuronaler Vernetzungen von Handlungsimpulsen und Mustern der Handlungsdurchführung (Roth 2007). Auch der Ansatz des »Naturalistic Decision Making« weist darauf hin, dass Entscheidungen im Moment des Wiederkennens einer Situation fallen: Mit der Typisierung einer Situation fällt die Entscheidung, wie gehandelt werden soll. So gesehen, bestehen Entscheidungen nicht mehr in der Auswahl einer Handlungsoption, denn es werden keine Alternativen gegeneinander abgewogen, sondern sie fallen zusammen mit der Repräsentation der Situation (Zsambok/ Klein 1997). Auch neuere, praxistheoretisch inspirierte Überlegungen zum Entscheiden diskutieren, inwieweit Entscheidungen kein klar begrenztes Ereignis und Produkt eines zielgerichteten Denkprozesses sind, sondern im Prozess des Zusammenwirkens von Akteuren im Fluss des Handelns fallen und als Entscheidung interpretiert werden (Wilz 2009). Entscheiden wird dort als bewusste oder unbewusste Handlungsvorbereitung eines Akteurs (dann ist die daraus folgende Handlung die Umsetzung der Entscheidung) und/ oder als spezifische Form sozialen Handelns betrachtet. Neben der soziologischen Theoriebzw. Begriffsbildung wird die Entscheidungsforschung vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Organisationssoziologie, aber auch der Biographieforschung und vor allem im Feld der Wirtschaftswissenschaften betrieben. Literatur Diekmann, Andreas; Voss, Thomas (Hg.): 2004: Rational- Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften, München.- - Esser, Hartmut, 1991: Die Rationalität des Alltagshandelns. Eine Rekonstruktion der Handlungstheorie von Alfred Schütz; In: Zeitschrift für Soziologie 20, 430-445.- - Foerster, Heinz von, 1993: KybernEthik, Berlin.-- Kirsch, Werner, 1998: Die Handhabung von Entscheidungsproblemen, 5. Aufl., München.- - Lindblom, Charles E., 1969: The science of »muddling through«; in: Etzioni, Amitai (Hg.): Readings on modern organizations, Englewood Cliffs, 154- 166.- - Luhmann, Niklas, 1984: Soziologische Aspekte des Entscheidungsverhaltens; in: Die Betriebswirtschaft 44, 591-603.-- Ders., 1993: Die Paradoxie des Entscheidens; in: Verwaltungs-Archiv 83, 287-310.- - Ders., 2005: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, 4. Aufl., Opladen.-- March, James G., 1994: A primer on decision making. How decisions happen, New York.- - March, James; Simon, Herbert A., 1958: Organizations, New York.-- Roth, Gerhard, 2007: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, Stuttgart.-- Schimank, Uwe, 2005: Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden.-- Schmid, Michael, 2004: Rationales Handeln und soziale Prozesse, Wiesbaden.-- Simon, Herbert A., 1957: Models of man-- social and rational, New York.-- Wilz, Sylvia Marlene, 2009: Entscheidungen als Prozesse gelebter Praxis; in: Böhle, Fritz; Weihrich, Margit (Hg.): Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden, 105-120.-- Zsambok, Caroline E.; Klein, Gary, 1997: Naturalistic decision making, New Jersey. Sylvia Marlene Wilz Entwicklung Als Entwicklung (engl. development) bezeichnet man im alltäglichen und im politischen Sprachgebrauch zumeist jeden positiven technischen oder sozialen Wandel in vor- oder frühindustriellen Gesellschaften (»Entwicklungsländer«). Wissenschaftlich brauchbarer ist es, Entwicklung als eine der Formen von Veränderung der Sozialstruktur anzusehen und sie damit von anderen Formen zu unterscheiden. Sozialer Wandel beschreibt schwerpunktmäßig die Veränderung von charakteristischen, typischen Elementen der Sozialstruktur, Fortschritt ist eine positiv beurteilte Veränderung, und Evolution eine Veränderung, die in einer quasi-genetisch determinierten Weise von einfacheren zu komplexeren Ebenen führt. Dann könnte man Entwicklung als einen Prozess definieren, durch den Elemente <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 96 96 Entwicklung der Sozialstruktur verändert werden und bei dem die realen Veränderungen im Verhältnis zu den objektiven Möglichkeiten gesehen werden (Endruweit, 12). Das ist die auf Natur, Technik usw. erweiterte Fassung der nur menschenbezogenen Definition von Entwicklung als »the realisation oft the potential of human personality« (Seers, 2). Damit wird der Begriff auch der nur bei diesem Wort bestehenden Vorstellung von Unter- und Überentwicklung gerecht. In Wissenschaft und Praxis werden aber auch viele andere Definitionen benutzt, oft auch im Sinne anderer Formen von Veränderung der Sozialstruktur (so Harrison, XII, i. S. von Fortschritt) oder unnützerweise wertbeladen (so z. B. Behrendt, 130; Seers, 2). Etymologisch zeigen sowohl der deutsche Entwicklungsbegriff (dazu Kößler, 15-47) als auch viele fremdsprachige Entsprechungen, so im Frz. (développement), Span. (desarrollo), Russ. (razvitije), Schwed. (utweckling) und Türk. (gelişme), wie beim Evolutionsbegriff die Vorstellung, dass alles aus einem vorhandenen Potenzial entstehe und dadurch auch in seinen Möglichkeiten determiniert sei. Damit würde soziale, politische und ökonomische Entwicklungspraxis eine Potenzialanalyse voraussetzen, für die die methodologischen Grundlagen noch weitgehend fehlen (zum Zusammenhang von Definition und Messung von Entwicklung vgl. auch Barnett, 173-193). Als Grundbegriff in der nicht nur auf die Entwicklungsländer zu beschränkenden Entwicklungssoziologie, aber auch in anderen Wissenschaften, ermöglicht dieser Begriff eine Untersuchung von stattfindenden, möglichen oder geplanten Veränderungen im Hinblick auf ihre Ausgangslage, Randbedingungen und mögliche Reichweite. Damit ließe sich dann u. U. auch die ungleiche Entwicklung, entweder mehrerer Gesellschaften oder verschiedener Sektoren innerhalb derselben Gesellschaft, evtl. kausal erklären oder gar vorhersagen und dann sinnvoll steuern (vgl. auch Seers bei Goetze, 187-189). In der Allgemeinen Soziologie hat der Entwicklungsgedanke schon an ihrem Beginn, etwa bei Comte, Ferguson und Spencer, eine oft beherrschende Rolle gespielt und gar zur Aufstellung vermeintlicher Entwicklungsgesetze geführt. Dabei wurde manchmal aus Ethnozentrismus oder Ideologisierung der Geschichte der eigenen Gesellschaft deren Verlauf als alternativloses Modell dargestellt, bei dem die Möglichkeit von funktionalen Äquivalenten gar nicht erst erwogen wurde. In der Allgemeinen Soziologie weitgehend aufgegeben, setzt sich dieser Ansatz aber in manchen Entwicklungstheorien noch fort. Der in neuerer Zeit häufig benutzte Begriff der nachhaltigen Entwicklung (engl. sustainable development) geht zurück auf den Kgl. Sächs. Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (Sylvicultura Oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht, Leipzig: J. F. Braun 1713). Er bestimmt Nachhaltigkeit für die Forstwirtschaft eindrucksvoll klar: Man holze im Wald nicht mehr ab, als in derselben Zeit nachwächst. Wenn man in diesem Sinne den obigen Entwicklungsbegriff einengt, kann man nachhaltige Entwicklung definieren als eine Entwicklung, die Dauerhaftigkeit dadurch erreicht, dass sie die notwendigen Ressourcen nie erschöpft. Nachhaltige Entwicklung überschreitet also nie die Grenze zur Überentwicklung. Weltweite Aufmerksamkeit erhielt der Begriff der nachhaltigen Entwicklung seit einer UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro. Sie baute auf dem Bericht der sog. Brundtland-Kommission über »Our Common Future« aus dem Jahr 1987 auf. Nachhaltige Entwicklung wurde darin definiert als eine Entwicklung, die weltweit die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Lebenschancen zukünftiger Generationen zu gefährden. Das ist ein politischer Begriff, weil er die gegenwärtige Verteilungsgerechtigkeit umfasst, für die es keinen wissenschaftlichen Maßstab gibt. Konkrete Folgerungen aus der allgemeinen Definition sind u. a.: Abkehr vom quantitativen Wachstum; Nutzung regenerativer statt fossiler Energiequellen; Schutz der Trinkwasservorräte; Einschränkung des Individualzugunsten des öffentlichen Verkehrs; Vermeidung von Nahrungsmittelverschwendung; Aufrechterhaltung der biologischen Vielfalt; Vermeidung von Überfischung und Verunreinigung von Flüssen und Meeren. Das alles wurde 2002 auf einer UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung in Johannesburg bekräftigt, wird aber bisher nur minimal umgesetzt, weil es dafür am notwendigen Wandel der Wertordnung, der Verhaltensmuster und anderer Sozialstrukturelemente in den einzelnen Gesellschaften fehlt. Im Grundgesetz steht seit 1994 in Art. 20a: »Der Staat schützt auch in Verantwortung für künftige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfaswww.claudia-wild.de: <?page no="96"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 96 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 97 97 Entwicklungssoziologie sungsrechtlichen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung.« Literatur Barnett, Tony, 1988: Sociology and Development, London.-- Behrendt, Richard F., 1965: Soziale Strategie für Entwicklungsländer, Frankfurt a. M.-- Brand, Karl-Werner (Hg.), 1997: Nachhaltige Entwicklung für Deutschland. Eine Herausforderung an die Soziologie, Opladen.- - Endruweit, Günter, 1986: Elite und Entwicklung, Frankfurt a. M.-- Goetze, Dieter, 1976: Entwicklungssoziologie, München.-- Grober, Ulrich, 2010: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit, München.- - Harrison, David, 1991: The Sociology of Modernization and Development, London.-- Kößler, Reinhart, 1998: Entwicklung, Münster.-- Otto, Siegmar, 2007: Bedeutung und Verwendung der Begriffe Entwicklung und Nachhaltigkeit, Bremen.-- Renn, Ortwin et al. 2007: Leitbild Nachhaltigkeit, Wiesbaden.- - Seers, Dudley, 1977: The meaning of development; in: International Development Review 19, 2-7.- - Statistisches Bundesamt (Hg.), 2008: Nachhaltige Entwicklung in Deutschland, Indikatorenbericht 2008, Wiesbaden.- - European Union (ed.), 2009: Sustainable Development in the European Union, Brussels.- - Umweltbundesamt (Hg.), 2002: Nachhaltige Entwicklung in Deutschland, Berlin. Günter Endruweit Entwicklungssoziologie Der Entwicklungssoziologie (engl. sociology of development) geht es um die Analyse von Modernisierungsprozessen innerhalb der Moderne. Bis in die siebziger Jahre konnte die Frage, um was es bei Entwicklung geht und welches die Perspektive der Soziologie dabei sein könnte, relativ klar entlang zweier Paradigmen beantwortet werden: Auf der einen Seite wurde Entwicklung als nachholende Modernisierung und Überwindung traditioneller Relikte gesellschaftlicher Organisation in den Entwicklungsländern verstanden. Die »westliche« Moderne galt als Maßstab, mit der Annahme, dass früher oder später die Strukturen sich im Sinne einer universalisierten globalen Moderne angleichen. Auf der anderen Seite wurde genau diese Idee linearer Modernisierung in Frage gestellt. Demgegenüber wurde betont, dass Unterentwicklung nicht den Fortbestand von Traditionen oder vor-modernen Strukturen (feudale Formen des Großgrundbesitzes, Subsistenzproduktion usw.) bezeichnet, sondern selbst Teil der internationalen Entwicklung der Moderne ist. (Goetze 2002, 18 ff.) Ein Kennzeichen der Modernisierungsprozesse ist, dass sie zum einen auf einer gesellschaftlichen und kulturell-ideologischen Grundlage erfolgen, die sich von der generischen Modernisierung in Westeuropa im 18. und 19. Jh. unterscheiden, und zum weiteren direkt verbunden sind mit globalen Interaktionen (Kolonialismus, Globalisierung). Diese globalen Interaktionen in Form des Kolonialismus waren gleichzeitig ein Faktor der europäischen Modernisierung wie der Transformation vor-kolonialer Gesellschaften. Industrialisierung, Ausweitung der Marktwirtschaft und Nationalismus in Westeuropa sind eng verbunden mit kolonialer Ausbeutung, bzw. diese war selbst eine Bedingung für die Entwicklung der Moderne. Gleichzeitig begrenzte Kolonialismus Transformationsprozesse in den Kolonien, was als »abhängige Entwicklung« beschrieben wurde. Unterentwicklung ist damit nicht Ergebnis fehlender oder begrenzter Modernisierung, das Fortbestehen traditionaler oder feudaler Gesellschaftsformen, sondern eine spezifische Form von Modernisierung innerhalb der Moderne. Ebenso wie sich innerhalb Europas die Bedingungen für Modernisierung unterschieden, bestehen weitreichende Differenzen zwischen den »Entwicklungsländern« oder »Entwicklungsregionen«. Amerika wurde von Europa besiedelt, so dass sich dort eine leicht modifizierte europäische Moderne ergab. In Asien und Afrika traf koloniale Modernisierung auf lang etablierte vor-koloniale Strukturen, die in diesen Prozessen aufgehoben wurden. Deutlich äußert es sich z. B. in der Integration vor-kolonialer Eliten in die Kolonialverwaltung und Wirtschaft. Diese Differenzen spielen eine erhebliche Rolle für die entwicklungssoziologische Theoriebildung. In der lateinamerikanischen Erfahrung stellte sich die Frage, warum der Norden sich rapide modernisierte und zu einer Weltmacht wurde, während der Süden des Kontinentes sich »unterentwickelte«. Dieses bildete die Grundfrage der Dependenztheorien seit den 1960er Jahren. Das Hauptargument dieser Theorien, von denen Wallersteins »Weltsystemtheorie« als die ausgearbeitetste Version angesehen werden kann, ist, dass Modernisierung als globaler Prozess verstanden werden muss, der durch massive Machtdifferentiale zwischen einem Zentrum und Peripherien charakterisiert ist. Da diese Machtwww.claudia-wild.de: <?page no="97"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 98 98 Entwicklungssoziologie differentiale mit Ausbeutung verbunden sind, die durch gesellschaftliche und politische Strukturbildungen (Kompradorenbourgoisie, autoritäre Entwicklungsregimes etc.) gefestigt werden, erlauben sie Entwicklung des Zentrums und führen zur Unterentwicklung der Peripherien. In Asien, wo viele Gesellschaften bis mindestens zum 18. Jh. in ihrer Entwicklungsdynamik durchaus vergleichbar waren mit Europa, ging es um die Frage, ob eine eigenständige Modernisierung der Gesellschaften möglich gewesen wäre, wie das Beispiel Japans belegt. Mit der Diskussion der Postmoderne wurde Moderne als universelle Kategorie in Frage gestellt. Damit wurde es möglich, eine »asiatische Renaissance« basierend auf einer islamischen oder neo-konfuzianischen Moderne zu diskutieren. (Anwar 1996) Die rapide wirtschaftliche Entwicklung Ost- und Südostasiens sowie Indiens in den neunziger Jahren, während die westliche Welt vor Wirtschaftskrisen stand, konnte als empirischer Beleg dafür gesehen werden. Mit der Asienkrise Ende der neunziger Jahre und der Vereinnahmung dieser Diskussion als Herrschaftsideologien waren Ideen einer auf »asiatischen Werten« basierenden asiatischen Moderne allerdings weitgehend diskreditiert. Entwicklungssoziologie oder Soziologie der-Entwicklungsländer? Als vergleichende Soziologie von Modernisierungsprozessen verfolgt die Entwicklungssoziologie ein sehr breites Programm, was eine eingrenzende Bestimmung des konkreten Gegenstandes erschwert. Vor allem drei Perspektiven lassen sich unterscheiden. Als allgemeine Soziologie der Entwicklung knüpft sie an Theorien des sozialen Wandels, der Zivilisationstheorien und der Sozialgeschichte an. Ein deutlich engerer Fokus ist, Entwicklungssoziologie als Soziologie der Entwicklungsländer zu verstehen, der es darum geht, die besonderen gesellschaftlichen Formen und Dynamiken der Entwicklungsländer zu erfassen. Eine noch weitergehende Einschränkung ist Entwicklungssoziologie als Soziologie der Entwicklungsorganisationen und Entwicklungsprojekte zu definieren. Hier bilden organisationssoziologische sowie Theorien sozialer Bewegungen eine Grundlage. Ein besonderes Feld der Entwicklungssoziologie sind Globalisierungsprozesse, in denen diese diversen Fragestellungen verbunden sind. Internationale Entwicklungsorganisationen und soziale Bewegungen sind Kernbereiche der Globalisierung. Durch Globalisierung verschwimmen regionale Differenzen wie z. B. zwischen Zentrum und Peripherie oder entwickelten und Entwicklungsländern. Nicht zuletzt durch Auslagerungen von Industrien im Rahmen der »neuen internationalen Arbeitsteilung«, die ein Faktor der rapiden Industrialisierung in den Schwellenländern und struktureller Arbeitslosigkeit in den Industrieländern darstellt, der Transnationalisierung der Medien und Informationstechnologie sowie globaler Migration haben sich diese Differenzen in die Länder und Regionen selbst verlagert. Ebenso wie es in den Entwicklungsländern höchst entwickelte Regionen gibt, finden sich in den entwickelten Ländern unterentwickelte Gebiete. Zentrum und Peripherie sind damit keine Kategorien regionaler Differenzierung, sondern finden sich als Inklusion und Exklusion überall. Über die Analyse allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, zu denen Globalisierungsprozesse gehören, lassen sich Prozesse der Inklusion und Exklusion auf globaler Ebene erfassen, was es erlaubt, räumliche Festlegung im Sinne von Entwicklungs- und entwickelten Ländern aufzulösen. Weiterhin gelingt es, spezifische Organisationsformen globaler Gesellschaft, nämlich transnationale Organisationen und Bewegungen zu benennen und in ihrer Bedeutung für Differenzierungen innerhalb der globalen Gesellschaft zu erfassen. Die besondere Perspektive der Analyse von Globalisierungsprozessen der Entwicklungssoziologie verbindet so lokale Dynamiken und globale Prozesse im Sinne der Lokalisierung des Globalen, was am offensichtlichsten in den Städten ist, als auch die Untersuchung der Globalisierung lokaler gesellschaftlicher Spezifika. Entwicklungssoziologische Analyse der-Entwicklungsländer Entwicklungssoziologie als Soziologie gesellschaftlicher Entwicklung oder als Soziologie der Entwicklungsländer verbindet sich, wenn die Kreation der Entwicklungsländer selbst das Thema ist. Folgt man den statistischen Daten der Weltbank und dem Human Development Index, so zeigt sich, dass einige »Entwicklungsländer« deutlich höhere Werte aufweisen als manche Länder, die nicht als solche bezeichnet werden. Hier drückt sich eine Form von Orientalismus aus: »As much as the West itself, the Orient (or Entwicklungsländer) is an idea that has a <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 98 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 99 99 Entwicklungssoziologie history and a tradition of thought, imagery, and vocabulary that have given it reality and presence in and for the West« (Said 1978, 4 f.). Mit der Konstruktion der Entwicklungsländer als Teil einer modernen Weltgesellschaft, ist es einerseits möglich, Prozesse der Modernisierung moderner Gesellschaften zu beschreiben und andererseits diejenigen Aspekte der Moderne, die nicht dem europäischen Idealtypus entsprechen - wie Despotie, dauerhafte Verarmung, Patronage etc. - als spezifische regionale Sonderfälle auszuklammern. Indem in einer entwicklungssoziologischen Perspektive die Geschichte der Interaktionen und Machtdifferentiale der globalen Gesellschaft einbezogen werden, wird eine implizite Verräumlichung der Soziologie vermieden, wie sie z. B. Peters vornimmt. Nach Peters ist Gesellschaft »eine individuierte Entität mit eindeutigen Grenzen und Mitgliedschaft nach dem Muster nationalstaatlich organisierter Gesellschaften. Solche Gesellschaften werden als relativ autark betrachtet in dem Sinne, dass sie wesentliche Voraussetzungen zu ihrer Selbstreproduktion erschließen« (Peters 1993, 59). In einer entwicklungssoziologischen Perspektive ist es demgegenüber möglich, die »Vielfalt der Moderne« (Eisenstadt 2002) empirisch zu untersuchen und damit auch einige der impliziten Annahmen zu relativieren. Die entwicklungssoziologisch relevante Frage ist dann nicht, wie traditionale Gesellschaften sich modernisieren, was für die Modernisierungstheorien seit den 1950er Jahren zentral war, sondern Modernisierung als globalen Prozess umstrittener Institutionalisierung zu analysieren, im Rahmen dessen besondere Differenzierungen institutionalisiert werden. Postkoloniale und Postdevelopment-Kritik am-Entwicklungskonzept Ab der Mitte der 1980er Jahre etablierte sich eine gegenläufige Strömung zum vorherrschenden Entwicklungsparadigma. Esteva (1985) und Sachs (1992) dekonstruierten »Entwicklung« als Legitimation zum Eingriff in die Lebenswelten der »Unterentwickelten«. Auch die stetige Umdefinition von »Entwicklung« durch Anhängen von Suffixen wie grundbedürfnisorientiert, nachhaltig, partizipativ oder menschlich änderten daran nichts. Durch Escobar (1995), der in Rekurs auf Michel Foucault »Entwicklung als Diskurs« bezeichnete, ermöglicht dieser eine hegemoniale Form der Wissensproduktion (durch den globalen Norden) und damit eine Fortschreibung der Herrschaftsausübung über die »Dritte Welt«. Diese postkoloniale Perspektivierung, die in den Protagonisten E. Said (1978), G. Spivak (1988) und H. Bhabha (2000) ihre prominentesten AnhängerInnen findet, untersucht Kontinuitäten und Diskontinuitäten kolonialer Repräsentation und der darin verwirklichten Machtverhältnisse. Eine gänzliche Ablehnung des Konzeptes »Entwicklung« ist im Anschluss an die Postdevelopment-Kritik formuliert worden, die den Entwicklungsdiskurs als eurozentrisch, entpolitisierend und autoritär bezeichnet (Ziai 2007). Durch die Zweiteilung in entwickelte und unterentwickelte Länder begreift der eurozentrische Entwicklungsdiskurs die historische Entstehung der westlichen Gesellschaften als universell und impliziert eine Fortsetzung kolonialen Überlegenheitsdenkens als ideale Norm und defizitäre Abweichung: Der Süden hat Probleme und der Norden bietet die Lösungen an. Er ist entpolitisierend, da »Entwicklung« suggeriert, ein Land habe einen gemeinsamen Lebensstandard und entwicklungspolitische Maßnahmen würden dem Allgemeinwohl dienen, wobei strukturelle Ungleichheiten, unterschiedliche Interessen der Bevölkerungsgruppen und Konflikte ausgeblendet werden. Und drittens sei »Entwicklung« autoritär, da Expert/ innenwissen implizit von der notwendigen Veränderung anderer Lebensformen ausgehe und somit die Durchsetzung sozialtechnologischer Maßnahmen auch gegen den Willen der Betroffenen erlaube. Und dennoch gilt es im Sinne von Ferguson letztlich zu konstatieren: »Es erscheint uns heute nahezu unsinnig, abzustreiten, dass es ›Entwicklung‹ gibt, oder das Konzept als bedeutungslos zu verwerfen, gerade so wie es im 19. Jahrhundert schlichtweg unmöglich gewesen sein muss, das Konzept ›Zivilisation‹ abzulehnen oder im zwölften Jahrhundert das Konzept ›Gott‹.« (1994, xiii). Literatur Anwar, Ibrahim, 1996: The Asian Renaissance, Singapore/ Kual Lumpur.- - Bhabha, Homi, 2000: Die Verortung der Kultur, Tübingen.- - Eisenstadt, Shmuel N., 2002: Multiple Modernities, Brunswick, New Jersey.- - Escobar, Arturo, 1995: Encountering Development: The making and unmaking of the Third World, Princeton, New York.-- Esteva, Gustavo, 1985: Development. Metaphor, Myth, Threat; in: Development: Seeds of Change, No. 3, 78-79.- - Ferguson, <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 100 100 Erbe-Umwelt-Theorie James, 1994: The Anti-Politics Machine. ›Development‹, Depolitization and Bureaucratic Power in Lesotho, Minneapolis.- - Goetze, Dieter, 2002: Entwicklungssoziologie. Eine Einführung, Weinheim/ München.- - Menzel, Ulrich, 1992: Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorien, Frankfurt a. M.-- Peters, Bernhard, 1993: Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M.- - Sachs, Wolfgang (Hg.), 1992: Dictionary of development, London.- - Said, Edward W., 1978: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London/ New York.- - Spivak, Gayatri C., 1988: Can the subaltern speak? In: Grossberg, Lawrence; Nelson, Cary (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana, 271-313.-- Ziai, Aram, 2007: Development Discourse and Its Critique. An Introduction to Post-Development; in: ders. (Hg.): Exploring Post-Development. Theory, Practice, Problems and Perspectives, London, 3-17. Rüdiger Korff/ Eberhard Rothfuß Erbe-Umwelt-Theorie Sie fragt nach dem relativen Beitrag von Erbe und Umwelt (engl. nature - nurture) auf körperliche und Verhaltensmerkmale, in denen sich Individuen derselben biologischen Art unterscheiden. Das Erbe wird dabei klassischerweise durch das von den Eltern geerbte Genom definiert. Alles andere ist Umwelt (z. B. die mütterliche Eizelle ohne Genom, die pränatale Umwelt). Die Gene (funktional definierte Abschnitte des Genoms) unterscheiden sich innerhalb einer biologischen Art fast nicht. Was variiert, sind die Allele (Varianten desselben Gens). Z. B. haben alle Menschen ein Blutgruppen-Gen, das in den Varianten A, B, 0 vorkommt. Bei Menschen lautet daher die Erbe-Umwelt-Frage: Welcher Anteil der in einem bestimmten Alter beobachtbaren Merkmalsvariation geht auf Unterschiede in den Allelen und welcher Anteil auf Unterschiede in den erfahrenen Umweltbedingungen zurück? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es zwei völlig verschiedene Methoden. Indirekte Schätzungen durch genetisch sensitive Designs Hierbei wird die Ähnlichkeit von Merkmalen zwischen genetisch Verwandten ähnlichen Alters bestimmt, z. B. zwischen eineiigen Zwillingen (genetisch identisch), zweieiigen Zwillingen und biologischen Geschwistern (50 % in Allelen identisch) und Adoptivgeschwistern (0 % identisch). Eine höhere Merkmalsähnlichkeit bei genetisch ähnlicheren Paaren wird dabei interpretiert als genetischer Einfluss, wobei der genetische Anteil an der Merkmalsvarianz (die Heritabilität des Merkmals) quantitativ durch Korrelationsdifferenzen bestimmt wird (vgl. z. B. Asendorpf 2007, 336 ff. für die Methodik). Die Ergebnisse variieren u. a. mit dem Merkmal (die Heritabilität ist bei Körpergröße ca. 85 %, bei Testintelligenz ca. 50 %, bei vielen Einstellungen nahe 0 %) und mit dem Alter (z. B. beträgt sie bei Testintelligenz ca. 20 % im Vorschulalter, aber ca. 75 % im hohen Alter. Diese relativen Einflussschätzungen verdecken die Tatsache, dass es Genom-Umwelt-Interaktionen und -Korrelationen gibt, die als »neutrale« Anteile in die Schätzungen eingehen. Bei G-U-Interaktionen hängen die Effekte genetischer Unterschiede von den Umweltbedingungen ab und umgekehrt. Bei Korrelationen häufen sich bestimmte Genome in bestimmten Umwelten, wobei dies daran liegen kann, dass bestimmte Umwelten aufgesucht oder vermieden werden (aktive G-U-Korrelation), dass andere aufsuchend oder vermeidend auf genetisch mitbestimmte Merkmale eines Individuums reagieren (reaktive G-U-Korrelation) oder dass genetisch Verwandte diese Umwelt herbeigeführt haben (passive G-U-Korrelation). Deshalb können empirisch gefundene Korrelationen zwischen Umweltbedingungen und Persönlichkeitsmerkmalen (z. B. Erziehungsstil der Eltern und Aggressivität ihrer Kinder) genetisch mitbedingt sein (alle drei Korrelationsarten können dazu beitragen). Direkte Schätzungen durch Genomanalysen Hierbei werden weite Anteile des Genoms molekulargenetisch sequenziert und Merkmalsunterschiede mit dem Vorkommen bestimmter Allele korreliert. In derartigen genomweiten Assoziationsstudien werden typischerweise tausende von Allelen gleichzeitig untersucht, so dass das Hauptproblem die Kontrolle zufälliger Korrelationen ist. Einzelne Allele erklären bei Persönlichkeitsmerkmalen höchstens 2 % der beobachteten Unterschiede, so dass an deren Zustandekommen sehr viele Gene beteiligt sein müssen (Asendorpf 2011). <?page no="100"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 100 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 101 101 Erklärung Epigenetik Letztlich ist das Vorhandensein von Allelen nur insofern relevant, als sie tatsächlich Funktionen im Stoffwechsel ausüben (Genexpression). Deshalb interessiert sich die neuere Genetik vor allem für die Epigenetik (die z.T. umweltabhängige »Programmierung« der Expression von Genen). Da es Beispiele der Vererbung umweltbedingt erworbener epigenetischer Effekte im Tierversuch gibt, gilt die Gleichsetzung Erbe = Gene heute nicht mehr (Asendorpf 2011). Literatur Asendorpf, Jens B., 2007: Psychologie der Persönlichkeit, 4. Aufl., Heidelberg.-- Ders., 2011: Verhaltens- und molekulargenetische Grundlagen; in: Schneider, Wolfgang; Lindenberger, Ulman (Hg.): Entwicklungspsychologie, 7. Aufl., Weinheim, 81-96. Jens B. Asendorpf Erklärung Im Alltagssprachgebrauch ist eine Erklärung (engl. explanation) jede Erläuterung, die zum besseren Verständnis eines Sachverhaltes oder Vorgangs dienen kann. Erklärungen sind »kommunikative Akte«, das heißt grundsätzlich eingebunden in soziale Interaktionen. Um den Begriff der (sozial)wissenschaftlichen Erklärung existiert eine umfangreiche philosophische Debatte. Ein wichtiger Bezugspunkt dieser Debatte ist das Konzept der »deduktiv-nomologischen (DN-)Erklärung« von C. G. Hempel und P. Oppenheim (1948). Bei einer DN-Erklärung wird ein Satz über einen zu erklärenden Sachverhalt, das sog. »Explanandum« (lat: »das zu Erklärende«) dadurch erklärt, dass eine Reihe von allgemeinen Gesetzesaussagen herangezogen wird, bei deren Geltung das Explanandum-Ereignis dann notwendigerweise eintreten muss, wenn bestimmte Anfangs- oder Randbedingungen gegeben sind. Gesetzesaussagen und Sätze über Anfangsbedingungen bilden zusammengenommen das »Explanans« (lat: das »Erklärende«). Zur Erläuterung einer DN-Erklärung nach dem sog. »Hempel-Oppenheim (HO) -Schema« werden meist naturwissenschaftliche Alltagsbeispiele verwendet: Dass eine volle Bierflasche, die man zur schnellen Kühlung in eine Tiefkühltruhe gelegt und dann vergessen hat, zerbricht (das Explanandum), kann man dadurch erklären, dass Wasser (und damit auch Bier) beim Gefrieren an Volumen zunimmt (eine allgemeine Gesetzmäßigkeit) und dass das Eisfach eine Temperatur unter 0 Grad Celsius hatte und die Bierflasche vorschlossen war (die konkreten Anfangsbedingungen). Für eine DN-Erklärung nach dem HO-Schema gelten drei sog. »logische Adäquatheitsbedingungen«: das Explanans muss erstens mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten, das Explanandum muss sich zweitens logisch aus dem Explanans ableiten lassen und drittens empirisch überprüfbar sein. Hinzu kommt eine »empirische Adäquatheitsbedingung«: Gesetzesaussagen und Aussagen über Anfangsbedingungen müssen wahr sein. Zusammengenommen führen diese Anfangsbedingungen dazu, dass eine DN-Erklärung einer Prognose logisch äquivalent ist: Das bedeutet, dass eine Erklärung nur dann als wissenschaftliche Erklärung nach dem HO- Schema gelten kann, wenn sie sich zu einer Vorhersage nutzen lässt: Wenn man eine Flasche Bier in die Tiefkühltruhe legt und dort vergisst, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass sie irgendwann zerbricht. Ein Merkmal pseudowissenschaftlicher Erklärungen ist es demgegenüber, dass diese oft erst nach dem Geschehnis (»ex post«) formuliert werden und zur Prognose von Ereignissen nicht geeignet sind. Hempel und Oppenheim vertreten in Bezug auf ihr Erklärungsschema eine einheitswissenschaftliche Position, das heißt sie legen Wert auf die Feststellung, dass das HO-Schema für alle Wissenschaften gleichermaßen gültig ist. Auch soziales Handeln, soziale Prozesse und soziale Strukturen müssten sich dementsprechend auf Gesetze zurückführen lassen, die wie die Naturgesetze raumzeitlich universell gelten. Ob solche Gesetze allerdings existieren und gefunden werden können, ist streitig. Einer Unterscheidung des Erziehungswissenschaftlers und Philosophen W. Dilthey zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichen Verstehen folgend sehen viele Autoren deshalb im Konzept des sozialwissenschaftlichen »Verstehens« eine Alternative zur DN-Erklärung, mit deren Hilfe eine spezifisch geistes- und sozialwissenschaftliche Methodologie begründet werden kann. Da aber auch das Verstehen sozialen Handelns einen Rückgriff auf allgemeinere Konzepte (etwa auf kulturell geteilte <?page no="101"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 102 102 Ernährungssoziologie (Soziologie-des Essens) Wissensbestände) voraussetzt, existiert eine sehr langdauernde und teilweise ausgesprochen komplexe philosophische Debatte in der Handlungsphilosophie über die Frage, inwieweit Verstehen und Erklären tatsächlich verschiedene Erkenntnismodi zugeordnet werden können (Wright 2008). Im Zentrum steht dabei die Frage, bis zu welchem Ausmaß Handlungsbegründungen analog zu den von den Naturwissenschaften untersuchten kausalen Ursachen von Ereignissen betrachtet werden können. Literatur Dilthey, Wilhelm, 1900: Die Entstehung der Hermeneutik; in: Strübing, Jörg; Schnettler, Bernt (Hg.), 2004: Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte, Konstanz, 19-42.- - Hempel, Carl Gustav; Oppenheim, Paul, 1948: Studies in the Logic of Explanation; in: Philosophy of Science 15, 135-175.- - Wright, Georg Henrik von, 2008: Erklären und Verstehen, Frankfurt a. M. Udo Kelle Ernährungssoziologie (Soziologie-des Essens) Die Ernährungssoziologie (engl. sociology of food) gehört bislang nicht zu den etablierten, theoretisch und methodisch ausgearbeiteten speziellen Soziologien. Auch die soziologischen Klassiker haben sich mit dem Essen bis auf wenige Ausnahmen - etwa Norbert Elias’ Studie »Über den Prozess der Zivilisation« und Pierre Bourdieus Untersuchung »Die feinen Unterschiede« - nur punktuell befasst. Dies liegt insbesondere daran, dass das Verhältnis von Natur (Ernährung) und Kultur (Essen) für die Soziologie schwer zu fassen ist, die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses zum Alltagsgeschehen gehört und deshalb als von geringer sozialer Gestaltbarkeit gilt. Zudem waren Beschaffung und Zubereitung von Nahrung traditionell weibliche Tätigkeiten und wurden entsprechend dem Geschlechterverhältnis gesellschaftlich abgewertet (Setzwein 2004). Dieser geringen soziologischen Beachtung steht die enorme soziale Tragweite der Ernährung und des Essens gegenüber. Nicht nur lassen sich beinahe alle sozialen Phänomene am Beispiel des Essens studieren, das Nahrungsbedürfnis gilt zudem als Ursprung grundlegender gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse, weshalb Marcel Mauss (1990) von einem »gesellschaftlichen Totalphänomen« sprach und Claude Lévi-Strauss (1973) davon ausging, dass in der Nahrung die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturen auf unbewusste Weise ausgedrückt wird. Georg Simmel (1957) führte am Beispiel der Mahlzeit aus, wie aus einem »primitiv« physiologischen Bedürfnis ein soziales »Gebilde« von »unermeßlicher Bedeutung« entsteht, für Max Weber (1990) stand fest, dass »die Entfaltung des rationalen Wirtschaftens« aus dem »Schoße der instinktgebundenen reaktiven Nahrungssuche« stammt, und George Ritzer (1997) hat am Beispiel des Essens dargelegt, was er unter der McDonaldisierung der Gesellschaft versteht. Dies sind typische Beispiele für soziologische Thematisierungen des Essens: Es wird zur Veranschaulichung allgemeiner sozialer Phänomene genutzt oder bildet den Ausgangspunkt für umfassende gesellschaftliche Analysen. Die soziale Eigenlogik des Essens wird dagegen kaum untersucht. Für die Ausarbeitung einer speziellen Soziologie des Essens ist eine solche Vorgehensweise jedoch unzureichend. Sie steht vor der Aufgabe, sowohl der Eigenart des Gegenstands gerecht zu werden, ohne sich in Details zu verlieren, als auch zu zeigen, wie Essen in allgemeine soziale Strukturen und Prozesse eingebunden ist (Barlösius 2011). Die Soziologie des Essens ist deshalb eine spezielle Soziologie, die einerseits für ihren Gegenstand angemessene spezifische Erklärungen und Systematisierungen entwickelt und andererseits auf allgemeine soziologische Theorien zurückgreift, um ihr Sujet in größere gesellschaftliche Zusammenhänge wie Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungs-, Differenzierungs- und Desintegrationsprozesse einzubetten. Literatur Barlösius, Eva, 2011: Soziologie des Essens, Weinheim.- - Bourdieu, Pierre, 1984: Die feinen Unterschiede, 3. Aufl., Frankfurt a. M. (1979)-- Elias, Norbert, 1981: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1., 8. Aufl. Frankfurt a. M. (1939).- - Kiple, Kenneth; Ornelas, Connee K. (Eds.), 2000: The Cambridge World History of Food, New York.- - Lévi-Strauss, Claude, 1973: Mythologie III. Der Ursprung der Tischsitten, Frankfurt a. M.- - Mauss, Marcel, 1990: Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M.- - Ritzer, George, 1997: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a. M.- - Setzwein, Monika, 2004: Ernährung-- Körper-- Geschlecht, Wiesbaden.-- Simmel, Georg, 1957: Soziologie der Mahlzeit; ders. (Hg.): Brüwww.claudia-wild.de: <?page no="102"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 102 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 103 103 Erwünschtheit, soziale cke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart, 243-250.-- Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen. Eva Barlösius Erwünschtheit, soziale Soziale Erwünschtheit (engl. social desirability) oder auch ›Effekt der Konformität‹ bezeichnet in empirischen Umfragen eine systematische Antwortverzerrung in eine bestimmte Richtung. Soziale Erwünschtheit liegt vor, wenn der Befragte dazu neigt, seine Einstellungen, Eigenschaften oder Verhaltensweisen in ein günstigeres Licht zu stellen, indem er nicht seine eigene Antwort gibt, sondern eine solche, von der er annimmt, dass sie (eher) der gesellschaftlichen Norm entspricht. Soziale Erwünschtheit basiert auf der theoretischen Annahme, dass für die vom Befragten gegebene Antwort im Prinzip ein »wahrer Wert« existiert, von der die tatsächlich gegebene Auskunft im Falle von sozialer Erwünschtheit jedoch abweicht. Liegt soziale Erwünschtheit in einer Befragung vor, ist die Gültigkeit der Aussage nicht mehr in vollem Umfang gegeben. Grundsätzlich sind alle Fragen, die Werte und Normen der Gesellschaft betreffen, anfällig für soziale Erwünschtheit; der Grad der sozialen Erwünschtheit hängt dabei jedoch stark mit dem Thema bzw. den erfragten Merkmalen (Items) der Untersuchung zusammen, indem sie einen unterschiedlich hohen Anreiz für soziale Erwünschtheit auslösen (trait desirability). Beispiele für solche Themen sind allgemein heikle oder peinliche Themen, Umfragen zum Alkohol- oder Drogenkonsum, zur Parteipräferenz bzw. Einstellungen zu Extremparteien, Fremdenfeindlichkeit, aber auch Fragen über Fernsehsendungen (hier z. B. Aussagen hinsichtlich bevorzugter Fernsehprogramme im Vergleich zu den tatsächlichen Einschaltquoten). Zu den Entstehungsbedingungen von sozialer Erwünschtheit zählen zum einen der persönlichkeitstheoretische Ansatz, bei dem das Verhalten auf ein generelles Bedürfnis nach sozialer Anerkennung (Need for Social Approval) zurückgeführt wird und zum anderen der handlungstheoretische Ansatz: Hierbei differenziert Esser zwischen sozial erwünschten Antworten, die eine Anpassung an gesellschaftliche Normen beabsichtigen (kulturelle Erwartungen) und solchen, die situationsspezifisch durch Merkmale wie z. B. Geschlecht oder Alter, Eigenschaften oder Verhaltensweisen des Interviewers oder die Anwesenheit Dritter verursacht werden (situationelle Erwartungen). Auch hier wird die Angabe sozial erwünschter Antworten als Strategie erklärt, eine Maximierung der sozialen Anerkennung (Verhaltensbestätigung, Vermeidung negativer Sanktionen) anzustreben. Das tatsächliche Ausmaß bzw. der Effekt von sozialer Erwünschtheit ist nur schwer zu bestimmen. Nach Paulhus (1984) werden die beiden Dimensionen Selbsttäuschung und Fremdtäuschung unterschieden, wobei nur die Fremdtäuschung als eine absichtliche, bewusste Täuschung verstanden werden kann; bei der Selbsttäuschung handelt es sich dagegen um eine »Tendenz, die Realität in einer optimistischen Weise verzerrt wahrzunehmen« (Winkler et al. 2006, 3); dabei zeichnet »ein gewisses Maß an Selbsttäuschung ein psychisch gesundes Individuum aus« (ebd.). Maßnahmen, um soziale Erwünschtheit in Umfragedaten zu vermeiden bzw. gering zu halten, sind während der Interviewsituation z. B. geschickte Frageformulierungen, der Einsatz von Skalen oder die sog. Randomized-Response-Technik, wodurch der Anteil der ehrlichen Antworten geschätzt werden soll, sowie nachträgliche statistische Kontrollprozeduren (einen Überblick zu den Gegenmaßnahmen bietet Diekmann 2010, 446 ff.). Literatur Diekmann, Andreas, 2010: Empirische Sozialforschung, Reinbek.- - Esser, Hartmut, 1991: Die Erklärung systematischer Fehler in Interviews; in: Wittenberg, Reinhard (Hg.): Person- - Situation- - Institution- - Kultur, Berlin, 59-78.- - Paulhus, Delroy L., 1984: Two-Component Models of Socially Desirable Responding; in: Journal of Personality and Social Psychology 46, 598-609.- - Schnell, Rainer et al., 2011: Methoden der empirischen Sozialforschung, 9. Aufl., München.- - Winkler, Nils et al., 2006: Entwicklung einer deutschen Kurzskala zur zweidimensionalen Messung von sozialer Erwünschtheit, Berlin (DIW). Silke Kohrs <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 104 104 Ethnomethodologie Ethnomethodologie Die Ethnomethodologie (engl. ethnomethodology) ist ein von Harold Garfinkel (1967) begründeter wissenssoziologisch-konstruktivistischer Forschungsansatz, der sozialtheoretische Fragestellungen mit Hilfe empirischer Untersuchungen sozialer Praktiken verfolgt. Der Ausdruck ›Ethnomethodologie‹ leitet sich vom Begriff Ethnoscience her, einem Ansatz in der Ethnologie, der sich für das Wissen interessiert, mit dem die Angehörigen einer fremden Kultur die Dinge ihrer Welt wahrnehmen, definieren, klassifizieren und ihnen so eine Bedeutung zuschreiben. Diese ›Ordnung der Dinge in den Köpfen der Leute‹ umfasst etwa ihre Ethnokosmologie, Ethnobiologie und Ethnomedizin. Von dort führen drei Verschiebungen zur Ethnomethodologie als (1.) kulturbeobachtendem, (2.) reflexivem und (3.) praxistheoretischem Ansatz: Was heißt Ethnomethodologie? 1. Der Ethnomethodologie geht es um das Wissen in der eigenen Gesellschaft. Diese wird also einem ethnologischen Blick ausgesetzt. Einen solchen Blick muss man sich erarbeiten. Die Ethnomethodologie entwickelt daher ähnlich wie Erving Goffman eine Reihe von Strategien der Verfremdung des soziologischen Gegenstands und der Entfremdung und Distanzierung des soziologischen Beobachters (s. u.). 2. Der Ethnomethodologie geht es um die Ethnosoziologie: das Alltagswissen über Gesellschaft in der Gesellschaft, das man soziologisch kennen muss, um zu verstehen, warum die Leute tun, was sie tun. Damit betreibt sie zugleich eine reflexive Aufklärung von Denkvoraussetzungen der Soziologie. Sie kritisiert an deren szientistischen Überwindungsversuchen des Alltagswissens, dass sie dessen Prämissen verhaftet bleibt. Eine professionell betriebene Soziologie dürfe nicht laufend als Denkmittel und Ressource einsetzen, was doch ihr primärer Gegenstand sei, den sie sich vor Augen führen müsse: das Alltagswissen vom Sozialen. Sonst entstünde nur ›folk-sociology‹, distanzlos verwachsen mit den kulturellen Selbstverständlichkeiten des Untersuchungsfeldes. 3. Dieses Alltagswissen unterscheidet sich in drei Hinsichten von sozialwissenschaftlichem Wissen: (1) Seine sprachlichen Ausdrücke sind äußerst ungenau, sie bekommen ihre Eindeutigkeit nur in den jeweiligen Umständen ihres situativen Gebrauchs. Garfinkel sieht eben diese Vagheit (im Einklang mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins) als etwas Rationales: Sie ist essentiell für das Funktionieren alltäglicher Sozialität. (2) Das Alltagswissen besteht, wie schon Alfred Schütz in seiner Sozialphänomenologie betonte, wesentlich aus stillschweigenden Annahmen, Glaubensüberzeugungen und Unterstellungen, die zu selbstverständlich sind, als dass darüber gesprochen würde: ein implizites Wissen. (3) Es ist z.T. überhaupt nicht sprachfähig, eher ein stummes körperliches Können, ein praktisches Wissen, etwas zu beherrschen, ohne genau sagen zu können, wie wir es vollziehen: etwa ein Gespräch führen (das Thema der ethnologischen Konversationsanalyse: Atkinson/ Heritage 1984), eine Frau darstellen (ein Thema der ethnologischen Gender Studies: West/ Zimmerman 1987), ein Klavier spielen (Sudnow 1978, eines von vielen Themen der ethnologischen studies of work: Garfinkel 1986) oder einen Text zu formulieren und zu gebrauchen (der Fokus der ethnologischen Diskursanalyse: Smith 1986). Eben diese Form des Wissens ist der Grund, von Ethnomethodologie zu sprechen. Gemeint sind die praktischen Methoden der Leute, ihre Alltagswelt hervorzubringen, ihr praktisches Wissen, Handlungen zu vollziehen. Mit diesem praktischen Wissen, wie etwas zu tun ist, vollziehen sie (wir) zugleich ihre (unsere) kulturellen Annahmen darüber, woraus die soziale Welt besteht. Die rationalitätskritische Betonung der Implizität praktischen Wissens teilt die Ethnomethodologie dabei mit anderen praxistheoretischen Ansätzen (etwa von Erving Goffman, Pierre Bourdieu oder Clifford Geertz). Forschungstechniken der Befremdung Im Versuch, stillschweigendes und körperlich vollzogenes Wissen empirisch beobachtbar zu machen, entwickelten ethnologische Studien unterschiedliche Befremdungstechniken. Fünf seien hier genannt: 1. Die sogenannten Krisenexperimente arrangieren eine Störung der sinnhaften Normalität von Situationen durch ein Fehlverhalten, das es ihren Teilnehmern unmöglich macht zu begreifen, was gewww.claudia-wild.de: <?page no="104"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 104 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 105 105 Ethnomethodologie rade vor sich geht, und ihre Sinnwelt wieder zu ordnen. Garfinkel forderte etwa seine Studenten auf, ihre Eltern einen Tag lang zu siezen. Das Ziel war, auf diese Weise sichtbar zu machen, welch fundamentale Erwartungen unsere Interaktionen regulieren. Die Krisenexperimente sollten dabei nicht Personen, sondern Situationen verwirren und ›verrückt‹ machen. Es stellte sich aber heraus, dass es zu den elementaren Reparaturmaßnahmen gehört, die Verwirrtheit der Situation Personen zuzuschreiben. Die Zurechnung auf Personen (»entweder der spinnt oder ich«) ist bereits eine Normalisierungsmaßnahme, mit der wir die Sinnstörung einer Situation auf Personen abschieben. 2. Der Rückgriff auf ›Fremde in der eigenen Kultur‹ nutzt diese als Beobachtungsexperten für Normalität. Das gilt etwa für Behinderte (in den Disability Studies), die ein geschärftes Bewusstsein von der Rolle des Körpers in Arbeitsvollzügen und Kommunikation haben (etwa Länger 2002), und es gilt für Garfinkels klassische Studie über eine Transsexuelle: Ihre Außenseiterposition wirkte wie ein Vehikel, das dem Soziologen die Distanzierung von seinen erlernten Denkgewohnheiten erleichterte. Wer sich selbst nicht für normal halten kann (keinen Platz in vorgefundenen kulturellen Kategorien findet), kann auch seine Umwelt nicht so betrachten. Und die Soziologie profitiert von der Krisenhaftigkeit dieser Weltwahrnehmung durch ›unfreiwillige Soziologinnen‹. 3. Die Konversationsanalyse arbeitet mit einem Befremdungseffekt, der durch die gewaltige Entschleunigung realzeitlicher Abläufe entsteht: Wenn sekundenkurze Sprechereignisse ›unter die Lupe genommen‹ werden, wird etwas so Vertrautes wie ein Gespräch zu einem staunenswerten Koordinationskunstwerk. Wer sich selbst einmal auf einem Tonband anhörte, alle Stotterer, Räusperer und Satzabbrüche transkribierte und deren Funktionen analysierte, versteht schnell, warum sich manche Ethnomethodologen auch Molekularsoziologen nennen und beanspruchen, wie Molekularbiologen Grundlagenforschung zu betreiben. 4. Eine begriffsstrategische Verfremdungsmaßnahme (ähnlich Goffmans Theatermetapher) schlug Harvey Sacks, ein Kollege Garfinkels, vor, um die soziologische Aufmerksamkeit beharrlich auf die Prozesshaftigkeit und praktische Vollzugsbedürftigkeit aller sozialen Tatsachen zu lenken. Soziologen sollten alle von ihnen wahrgenommenen Zustände mit der heuristischen Annahme betrachten, sie seien methodisch hervorgebracht: ein ›doing being‹. Wenn Soziologen z. B. jemanden als »wütend« wahrnehmen, also eine spontane Motivzuschreibung vornehmen, machen sie einfach nur von Alltagskompetenzen der Dechiffrierung eines Gesichtsausdrucks Gebrauch. Sacks empfiehlt, zur Verlangsamung dieses alltäglichen Verstehens die Unterstellung dazwischenzuschieben, dass dieses Wütendsein getan wird. Wir sollen uns also fragen, wie »doing being angry« geht, wie man das also macht. Wer einen Professor vor sich sieht, sollte sich fragen, wie »doing being a professor« geht, wie man es also bewerkstelligt, als ein solcher zu erscheinen und spontan erkannt zu werden. Das ›doing‹ ist also die methodologische Maxime der Praxisforschung der Ethnomethodologie: Betrachte jedes Phänomen so, als würde es gerade erst gemacht. 5. Gewissermaßen in Summierung dieser und anderer Techniken haben insbesondere die ethnologischen Science Studies (Lynch 1991, 1993) zu einer beträchtlichen Steigerung soziologischer Reflexivität beigetragen. Auf der Basis einer unbefangen ›ethnologischen‹ Beobachtungshaltung, einer temporären Indifferenz gegenüber Geltungsansprüchen und mit einer schamlos empiristischen Neugier auf soziale Praktiken lassen sich selbstverständlich auch soziologische Forschungspraktiken empirisch untersuchen, einschließlich der Schreib- und Formulierungspraktiken beim Verfassen eines Lexikonartikels und eines Satzes wie diesem. Theoretische Positionierung Sozialtheoretisch grenzte sich Garfinkel zunächst von Émile Durkheim ab, der soziale Tatsachen als Sachverhalte betrachtete, die unabhängig vom Erleben und Handeln gegeben sind. Die Ethnomethodologie soll genau dieses Erleben von der Faktizität des Sozialen hintergehen und das, was die Handelnden als objektiv gegeben wahrnehmen, als deren eigene praktische Hervorbringungen aufdecken. Für die Ethnomethodologie ist soziale Wirklichkeit eine reine Vollzugswirklichkeit, sie wird laufend ›verwirklicht‹. Die soziale Welt, in der wir handeln, ist die, die wir uns ›erhandeln‹ - die wir herbeireden, zuwww.claudia-wild.de: <?page no="105"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 106 106 Ethnomethodologie rechtinterpretieren, körperlich durchführen, uns gegenseitig zeigen und bestätigen. Gegen die strukturell-funktionale Theorie von Talcott Parsons wandte Garfinkel ein, dass dieser die Akteure als »Beurteilungstrottel« erscheinen lasse, als Marionetten, die nur mehr auszuführen haben, was ihnen ein »kulturelles System« vorschreibt. Er ignoriere damit jene Sinnstiftungsleistungen, mit denen Handelnde kulturelle Regeln laufend situieren und interpretieren, was erforderlich ist, weil Regeln die Art ihrer Befolgung nicht selbst festlegen können. Das Problem sozialer Ordnung ist für Garfinkel daher ein Dauerproblem des »Ordnens«, das Interaktionsteilnehmer stets neu zu lösen haben. Sie bewerkstelligen dieses beständige Ordnen, indem sie mit ihren Handlungen nicht nur die soziale Wirklichkeit einer Situation herstellen (etwa eine Warteschlange formen), sondern zugleich zum einen den Kontext dieser Situation anzeigen (etwa eine Warteschlange ›vor dem Bankschalter‹ und nicht etwa ›an der Bushaltestelle‹), zum anderen diese Praxis selbst als solche kenntlich (›accountable‹) machen (als Warteschlange und nicht als Pulk, zufällige Aufreihung, Polonaise o. Ä.). Menschliches Handeln ist insofern immer reflexiv auf sich selbst bezogen, als es immer auch metakommunikativ anzeigt, als was es verstanden sein will. Nicht nur in reflexiven ›Auszeiten‹ und nicht nur in sprachlichen Ausdrücken, die explizit bezeichnen, was man tut (z. B. »ich warne dich, das zu tun! «), auch schon in der einfachen körperlichen Orientierung beim Gehen tun Handelnde mehr als bloß eine Richtung zu nehmen: Sie zeigen an, dass sie es tun, und tragen so zur lokalen Produktion einer für alle beobachtbaren sozialen Ordnung bei. Einordnung der Ethnomethodologie Die Ethnomethodologie ist zum großen Teil eine empirische Umsetzung der Phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz. Zugleich hat sie mit deren bewusstseinsphilosophischen Prämissen gebrochen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt nicht beim Subjekt, sondern in der sozialen Situation. Während Schütz den Sinn einer Handlung im vorangehenden subjektiven Entwurf des Handelnden suchte, zeigten ethnologische Studien, dass der Sinn ihrer Äußerungen erst ex post in der Interaktion mit dem Gegenüber festgelegt wird. Insofern hat die Ethnomethodologie die soziologische Aufmerksamkeit von der Intersubjektivität auf die Interaktivität verschoben. Dabei verweisen Handlungen und Äußerungen auch beständig und unvermeidlich auf den situativen Kontext, in dem sie gerade ablaufen. Sinn, so Garfinkel, ist daher ein öffentliches, beobachtbares Phänomen, es liegt nicht »unter der Schädeldecke«, sondern vollständig und ausschließlich in der Verhaltensumgebung einer Person. Garfinkel sieht die Soziologie also wie George Herbert Mead und Erving Goffman als Verhaltenswissenschaft. Die Grenzen der Ethnomethodologie liegen vor allem in ihrer Beschränkung auf eine empirische Mikrosoziologie. Ein Ansatz, der in großem Respekt vor den Handelnden deren interpretative und performative Leistungen beschreibt und analysiert, bleibt reserviert gegenüber theoretischen Ansprüchen, neben der Interaktivität in sozialen Situationen auch die Intersituativität des Sozialen zu denken. Jüngere Autor/ innen in der Nachbarschaft und Nachfolge der ethnomethodologischen Tradition (etwa Karin Knorr Cetina und Bruno Latour) verweigern sich daher auch weiterhin makrotheoretischen Abstraktionen. Stattdessen öffnen sie ihren Denkstil ›posthumanistischen‹ Überlegungen, die die Beteiligung von Artefakten, Medien und Körpern an Handlungsketten für die Soziologie zu erschließen versuchen. Literatur Einführend: Bergmann, Jörg, 2000: Ethnomethodologie; in: Flick, Uwe et al. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek, 118-135.- - Zimmerman, Don H.; Pollner, Melvin, 1976: Die Alltagswelt als Phänomen; in: Weingarten, Elmar; Sack, Fritz (Hg.): Ethnomethodologie, Frankfurt a. M., 64-104. / Weiterführend: Atkinson, Paul; Heritage, John, 1984: Structures of Social Action. Studies in Conversation Analysis, Cambridge.-- Garfinkel, Harold, 1967: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, NJ.- - Ders., 1986: Ethnomethodological Studies of Work, London.- - Länger, Caroline, 2002: Im Spiegel von Blindheit. Eine Kultursoziologie des Sehsinnes, Stuttgart.- - Lynch, Michael, 1991: Pictures of Nothing? Visual Construals in Social Theory; in: Sociological Theory 9, 1-21.-- Ders., 1993: Scientific Practice and Ordinary Action, Cambridge.- - Smith, Dorothy, 1986: The Active Text. Texts as Constituents of Social Relations; in: dies. (ed.): Texts, Facts, and Femininity. Boston, 120-158.- - Sudnow, David, 1978: Ways of the Hand. The Organization of Improvized Conduct, London.-- West, Candace; Zimmerman, Don, 1987: Doing Gender; in: Gender and Society 1, 125-151. Stefan Hirschauer <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 106 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 107 107 Ethnologie Ethnologie von gr. ethnos (ἔθνος) »Volk, Völkerschaft« und logos »Lehre«. Als Sozial- und Kulturwissenschaft hat Ethnologie zum Ziel, das Handeln von Menschen in der gesamten Breite des dem Menschen Möglichen zu verstehen und in seinen natürlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen und Zusammenhängen zu erklären. Aufgrund des allgemeinen, vergleichenden Ansatzes ist im englischen Sprachraum die Bezeichnung social anthropology (GB) bzw. cultural anthropology (USA) üblich. Zentrale methodologische Grundannahme ist, dass sich das Erkennen anthropologischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede vor allem in der Auseinandersetzung mit anderen Gesellschaften und Kulturen bildet (daher »Wissenschaft vom kulturell Fremden«). Wandel der Forschungsperspektive Das Erkenntnisinteresse der Ethnologie als akademische Disziplin hat sich seit ihrer Entstehung im 19. Jh. stark verschoben. Als spezifischer Gegenstand der Ethnologie wurden lange Zeit Gesellschaften verstanden, die sich vermeintlich grundlegend von der eigenen, d. h. modernen, unterschieden: Naturvölker vs. Kulturvölker, primitive vs. zivilisierte, schriftlose vs. alphabetisierte, traditionelle vs. moderne, nichtstaatliche vs. staatliche, vorindustrielle vs. industrialisierte, unterentwickelte vs. entwickelte etc. Derartige universale Dichotomien haben sich durchweg als pseudowissenschaftliche Konstrukte erwiesen, die teilweise kolonialen Grundideen verpflichtet blieben, in deren Kontext sich die Ethnologie als Fach etabliert hatte. Sie bestätigten den »höheren Stand« der eigenen Gesellschaft und legitimierten den Imperialismus. Als allgemein vergleichende Wissenschaft des Kulturellen und Sozialen konstituierte sich die Ethnologie erst sukzessive im 20. Jh. Im Laufe dieses Prozesses erwies sich auch die zweite Grundüberzeugung der Ethnologie, d. h. die wissenschaftliche Darstellbarkeit fremder sozialer Realität, als zunehmend zweifelhaft. Die folgende Krise der Repräsentation hat die Ethnologie seit den 1970er Jahren in einen tiefgreifenden Prozess der Selbstreflektion und Aufklärung geführt. Er lässt sich als verspätete Entkolonialisierung deuten, hängt aber auch mit anderen intellektuellen Strömungen der Zeit, v. a. der Postmoderne, zusammen. Die Ethnologie ist seitdem themenoffen und nicht auf einen bestimmten Typus von Gesellschaften fixiert. Als Anthropologie geht es ihr um die Aufklärung dessen, was den Menschen in allen Gesellschaften als soziales Wesen auszeichnet. Ethnos und Ethnizität Auch der Ethnos als Gegenstand der Ethnologie hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Es hat sich gezeigt, dass ein primordiales Verständnis von Ethnien als geschlossene soziale Formationen mit eigener Sprache, Herkunft, Geschichte, Territorium, sozialer Organisation und Kultur sowie darauf rekurrierender Identität mehr imaginiert ist, als dass es auf historische oder gesellschaftliche Tatsachen verweist. Kulturelle Differenz und die Konstitution eigener Identität werden vielmehr durch den Austausch mit anderen gesellschaftlichen Akteuren erst geschaffen. Die als unwandelbar imaginierte eigene Identität wächst mithin aus einem diskursiven Prozess, dessen Akteure je eigene Interessen verfolgen und der nur politisch zu verstehen ist. Ethnizität in diesem konstruktivistischen Sinne ist die regelmäßige Kommunikation sozialer und kultureller Unterschiede. Als Gegenstand einer diskursiven Formation ist sie trotz ihrer grundsätzlichen Formbarkeit nicht frei wählbar oder volatil und in der Regel mit der Ausübung von Macht oder Herrschaft verknüpft. Ethnizität kann in allen sozialen Figurationen entstehen, früheren wie zeitgenössischen. In modernen Staaten hat sie sich vielfach mit einem restriktiven Verständnis von Nationalität verschränkt und deren politische Instrumentalisierung befördert. Methodischer Ansatz Trotz wichtiger Beiträge zu politischen Debatten in der eigenen Gesellschaft bleibt die Auseinandersetzung mit fremden Lebenswelten zentral für die Identität der Ethnologie. Um essentialistische, notwendig normative Gegenstandsdefinitionen zu umgehen, definierte sich die neuere Ethnologie mehr über ihren methodischen Ansatz. Im Zentrum standen und stehen partizipative Methoden, die seit B. Malinowski (1922) unter dem Begriff Teilnehmende Beobachtung zusammengefasst werden. Spezifikum der Ethnologie als empirische Sozialwissenschaft ist, dass sich dabei der Ethnograph physisch und psychisch in die andere Gesellschaft einbringt. Elementar sind dichte Teilnahme am Leben der anderen Menschen <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 108 108 Ethnozentrismus über einen langen Zeitraum, Beherrschung ihrer Sprache, Erwerb von Handlungsroutinen etc., die zur Integration in den Alltag führen. Dabei sollen auch jene als selbstverständlich hingenommenen Teile des fremden Alltags erfasst werden, die nicht reflektiert werden und sich folglich nur unzureichend mittels der Sprache und Interviews erfassen lassen. Obwohl Teilnahme und Beobachtung unterschiedlichen Modi der Erfahrung verpflichtet sind und unterschiedliche Daten generieren, treffen sie sich in einem grundsätzlich induktiven Vorgehen, welches in einem zirkulären Verfahren allfällige Hypothesen ständig hinterfragt und revidiert. Ziel ist, die Außenperspektive des Ethnographen, d. h. die etische Sichtweise des Sozialen zu überschreiten und ihr die Binnenperspektive der Akteure, die emische Sicht, entgegenzusetzen. Erst aus dem Kontrast beider lassen sich sowohl das Eigene wie das Fremde erkennen. Diese gegenseitige Artikulation lässt sich als Kern einer ethnologischen Perspektive beschreiben. Theoretische Grundlage bleibt die Annahme, dass sich soziale und kulturelle Unterschiede nur aufgrund einer allen Menschen gemeinsamen anthropologischen Grundlage erkennen lassen. Quantitative Methoden spielen v. a. dort eine Rolle, wo die Ethnologie thematisch in den Bereich der Naturwissenschaften hineinreicht. Neuere Ansätze Universalien und anthropologische Konstanten auf der einen Seite sowie Kulturrelativismus auf der anderen Seite waren lange Zeit Gegenstand ethnologischer Debatten. In der jüngeren Ethnologie hat die Auseinandersetzung zwar an theoretischer Relevanz verloren, aber an politischer gewonnen. V.a. die fortlaufenden Auseinandersetzungen, ob Menschenrechte universal definiert werden können oder kulturell gebunden sind, haben erkennen lassen, dass es einmal mehr um eine diskursive Formation geht, in der die einzelnen Positionen sich eng mit Interessen der Akteure verknüpfen. Als ethnologische Denkfigur ist der Relativismus aber wirkungsmächtig geblieben, da er oft als methodologische Voraussetzung für die Überwindung des relativ natürlichen Ethnozentrismus ausgewiesen wird. Die Ethnologie hat sowohl zu allgemeinen wie zu thematischen Sozialtheorien beigetragen. Neben den Kerndebatten um Ethnizität und Interkulturalität hat die Ethnologie spezifische Theorien vor allem im Bereich der Kultur, der sozialen Organisation und Verwandtschaft, der staatenlosen Gesellschaften, der Rolle dieser im kolonialen und postkolonialen Staat, der Gabe und des Tausches, des Rituals und der Kognition entwickelt. In der jüngeren Ethnologie sind u. a. allgemeine Beiträge zu Migration, Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen sowie Konfliktforschung hinzugekommen. Die theoretischen und methodischen Beziehungen zwischen der Soziologie und der Ethnologie sind vielfältig. So hat die Ethnologie maßgeblich die Reflexivitätsdebatte in der Soziologie beeinflusst, oder in neuerer Zeit die Netzwerkanalyse bereichert. Der Ort der Ethnologie ist die vergleichende Perspektive, indem sie die Auseinandersetzung mit dem Fremden in den Mittelpunkt von spezifischen und allgemeinen Erkenntnis- und Deutungszusammenhängen rückt. Literatur Barnard, Alan, 2000: History and Theory in Anthropology, Cambridge.-- Eriksen, Thomas Hylland, 2001: Small Places, Large Issues: An introduction to social and cultural anthropology. London.- - Fischer, Hans; Beer, Bettina (Hg.), 2003: Ethnologie: Einführung und Überblick, Berlin.-- Kohl, Karl- Heinz, 1993: Ethnologie, die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München. Till Förster/ Lucy Koechlin Ethnozentrismus Ethnozentrismus (engl. ethnocentrism) ist eine weltweit verbreitete, in der Entwicklungsgeschichte des Menschen angelegte und angesichts des Aufwachsens in einer bestimmten sozialen Umwelt unvermeidbare Neigung, Fremdes zuerst einmal nach dem Maßstab der eigenen Gesellschaft, Schicht, Berufsgruppe usw. zu erfassen und zu beurteilen. Damit ist er oft die Grundlage für Vorurteile, wenn man diese wertfrei als Urteile ohne gründliche »Beweiserhebung« ansieht. Erst wenn solche Neigungen und Einstellungen resistent gegen Korrekturen werden, die Wahrnehmung von Gegeninformationen verhindern und in Ideologie übergehen, werden sie zur Grundlage von Selbsttäuschung, Desorientierung und Konflikt. Dann wird die Eigengruppe überschätzt und jede Fremdgruppe abgewertet. Angesichts der Unausweichlichkeit von Ethnozentrismus beim erstmaligen Wahrnehmen und <?page no="108"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 108 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 109 109 Evaluation Überdenken von sozialen Phänomenen sind sowohl Alltagsals auch wissenschaftliche Theorien in ihrem Anfangsstadium häufig ethnozentrisch. Werden sie ohne Überprüfung auf ihre Richtigkeit auch in einer anderen Kultur dort zur Grundlage von praktischen Maßnahmen gemacht, können sie zu schwersten Schäden führen. »Die meisten Studien aus der ›Comparative Management‹ Schule sind amerikanisch-ethnozentrisch. Um den Ethnozentrismus zu beschränken, ist es unentbehrlich, dass Kulturforscher Toleranz für abweichende Werthaltungssysteme entwickeln und dass sie versuchen, ihre eigenen Werthaltungen explizit zu machen. Es ist wünschenswert, dass die Forschungsgruppen Forscher verschiedener Kulturen umfassen und/ oder zwei- oder mehrkulturelle Forscher, d. h. Personen, die in mehr als einer Umweltkultur erzogen sind, gelebt und/ oder gearbeitet haben« (Hofstede, Sp. 1176). Gesellschafts- oder Kulturvergleich sind unabdingbarer Bestandteil der Theorieprüfung, wenn die Theorie nicht nur für eine einzige Gesellschaft gelten soll. Dabei sind Idealtypen ein Instrument zur Vermeidung von Ethnozentrismus, ebenso die automatische Suche nach funktionalen Äquivalenten oder überhaupt funktionale Analysen, möglichst noch in mathematischer Formulierung. Die kleine Schwester des Ethnozentrismus ist die persönliche Voreingenommenheit (engl. bias). Ansätze zur Vermeidung des intrasozietären Ethnozentrismus bieten etwa die Verstehende Soziologie (vgl. Max Webers Begriff des Handelns) und die Ethnomethodologie. Das Gegenteil von Ethnozentrismus und für die Validität der Ergebnisse genauso schädliche Abweichen von der wissenschaftlichen Objektivität ist das »going native« (Lamnek, Bd. 1, 49, 235; Bd. 2, 259). Literatur Forbes, Hugh Donald, 1985: Nationalism, Ethnocentrism, and Personality, Chicago/ London.-- Hofstede, Geert, 1980: Kultur und Organisation; in: Grochla, Erwin (Hg.): Handwörterbuch der Organisation, 2. Aufl., Stuttgart, Sp. 1168- 1182.- - Lamnek, Siegfried, 1993 bzw. 1989: Qualitative Sozialforschung, Bd. 1, 2. Aufl., Bd. 2, 1. Aufl., München. Günter Endruweit Evaluation Evaluation (engl. evaluation) steht nicht nur für spezifisches Handeln, das die Bewertung von empirisch gewonnenen Informationen zum Ziel hat, auf deren Basis rationale Entscheidungen getroffen werden können, sondern auch für das Ergebnis dieses Prozesses. Wissenschaftlich durchgeführte Evaluationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie (a) auf einen klar definierten Gegenstand bezogen sind; (b) dass für die Informationsgewinnung objektivierende empirische Datenerhebungsmethoden eingesetzt werden und dass (c) die Bewertung anhand präzise festgelegter und offengelegter Kriterien, (d) mit Hilfe systematisch vergleichender Verfahren vorgenommen wird. Die Evaluation wird (e) in der Regel von dafür besonders befähigten Personen (Evaluatoren) durchgeführt, um (f ) auf den Evaluationsgegenstand bezogene Entscheidungen zu treffen. Damit das Nutzungspotenzial von Evaluationen möglichst optimal ausgeschöpft wird, hat sich jede professionell durchgeführte Evaluation mit folgenden fünf Fragen auseinanderzusetzen: 1) Was (welcher Gegenstand), wird 2) wozu (zu welchem Zweck), 3) anhand welcher Kriterien, 4) von wem, 5) wie (mit welchen Methoden) evaluiert? 1) Gegenstand: Im Prinzip gibt es bei der Wahl des Evaluationsgegenstands kaum Einschränkungen. Objekte der Bewertung können Gesetze, Produkte, Dienstleistungen, Organisationen, Personen, Prozesse sowie soziale Tatbestände jedweder Art oder gar Evaluationen selbst sein. Häufige Evaluationsgegenstände sind allerdings Reformmaßnahmen, Projekte, Programme oder Policies. 2) Funktionen: Evaluationen können folgenden vier unterschiedlichen, aber miteinander verknüpften Funktionen dienen: (a) Der Gewinnung von Erkenntnissen, um die Prozessabläufe oder die Wirkungszusammenhänge in einem Programm zu verstehen. (b) Um Kontrolle auszuüben, indem festgestellt wird, ob die in der Planung festgelegten Ziele erreicht wurden. (c) Um Lernpotenziale zu eröffnen, die für die Weiterentwicklung von Programmen genutzt werden sollen. (d) Um Programme zu legitimieren, indem öffentlich belegt wird, wie nützlich, wirksam oder nachhaltig sie waren. Da Evaluationen mittlerweile als Ausdruck moderner, »evidence based policy« gelten, werden <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 110 110 Evaluation Evaluationen mitunter auch missbraucht, indem sie dazu verwendet werden, politisch bereits getroffene Entscheidungen nachträglich mit Hilfe von Evaluationsergebnissen zu legitimieren. Diese »taktische« Funktion von Evaluation lässt sich jedoch nicht mit ihrem eigentlichen Zweck begründen, sondern stellt eher ihre pathologische Seite dar. Die Festlegung auf eine prioritäre Funktion steuert die Herangehensweise und bestimmt das Design und die Durchführung von Evaluationen. Diese können nicht nur verschiedene Funktionen erfüllen, sondern im Rahmen der einzelnen Phasen der Programmentwicklung auch unterschiedliche Analyseperspektiven und Erkenntnisinteressen verfolgen. Evaluationen können dazu genutzt werden, (a) die Planung eines Programms oder einer Maßnahme zu verbessern (ex-ante Evaluation), (b) die Durchführungsprozesse zu beobachten (ongoing Evaluation) oder (c) die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Interventionen ex-post zu bestimmen (ex-post Evaluation). Evaluationen können demnach mehr formativ, d. h. aktiv-gestaltend, prozessorientiert, konstruktiv und kommunikationsfördernd angelegt sein, oder mehr summativ, d. h. zusammenfassend, bilanzierend und ergebnisorientiert. Die Begleitforschung kann als eine besondere Form der Evaluation gelten, die sich ex-ante mit den Voraussetzungen bzw. der Planung oder (ongoing) mit der Implementation von Programmen beschäftigt. Anders als die meisten Evaluationen wird sie nicht nur punktuell, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Programmverlauf eingesetzt, sondern kontinuierlich - programmbegleitend. Dadurch können Längsschnittdaten gewonnen werden, die nicht nur kontinuierlich über Veränderungsprozesse informieren, sondern auch Ursache-Wirkungszuschreibungen erleichtern. Eine besonders wichtige Form der Evaluation stellt die Wirkungsevaluation dar, die zum einen darauf abzielt, (idealerweise) möglichst alle beabsichtigten (intendierten) und nicht-intendierten Wirkungen zu erfassen und die zum anderen mit größtmöglicher Zuverlässigkeit feststellen soll, welche Ursachen (die Programminterventionen oder andere Faktoren) dafür verantwortlich sind. Diese Aufgabe stellt eine der größten Herausforderungen einer Evaluation dar. Dies liegt vor allem daran, dass die soziale Welt einen hohen Komplexitätsgrad aufweist, d. h. die meisten sozialen Phänomene auf vielen Ursachen basieren. Interventionen haben zudem in der Regel nur einen geringen Eingriffsspielraum und ein niedriges Veränderungspotenzial. Oft sind die Programm- oder Leistungswirkungen nur schwach ausgeprägt, und es besteht selbst bei professionellem Einsatz von Auswertungsverfahren die Gefahr, dass sie im allgemeinen ›Rauschen‹ gar nicht erkannt werden. 3) Kriterien: Im Unterschied zu Normenreihen (wie ISO, oder EFQM) kann Evaluation nicht auf einen fixierten Kanon von Bewertungskriterien zurückgreifen. Sehr häufig orientieren sich die Bewertungskriterien allerdings am Nutzen eines Gegenstands, Sachverhalts oder Entwicklungsprozesses für bestimmte Personen oder Gruppen. Die Festlegung der Kriterien kann durch den Auftraggeber (direktiv), durch den Evaluator (wissens-/ erfahrungsbasiert) oder durch alle Stakeholder (partizipativ) erfolgen, um möglichst viele Perspektiven zu berücksichtigen. 4) Evaluierende Akteure: Evaluationen können prinzipiell von internen oder externen Experten durchgeführt werden. Als intern werden Evaluationen bezeichnet, wenn sie von der gleichen Organisation vorgenommen werden, die auch das Programm oder das Projekt durchführt. Wird diese interne Evaluation von Mitarbeitern der Abteilung (dem Referat) durchgeführt, die gleichzeitig mit der operativen Durchführung des Programms betraut sind, dann wird von ›Selbstevaluation‹ gesprochen. »In-house«- Evaluationen haben den Vorteil, dass sie rasch und mit geringem Aufwand durchgeführt werden können, dass die Evaluatoren in der Regel über eine hohe Sachkenntnis verfügen und dass die Ergebnisse sich unmittelbar umsetzen lassen. Schwächen der internen Evaluation werden vor allem darin gesehen, dass die Evaluierenden zumeist nicht über eine ausreichende Methodenkompetenz verfügen, dass es ihnen an Unabhängigkeit und Distanz mangelt und dass sie möglicherweise so sehr mit ihrem Programm verhaftet sind, dass sie aussichtsreichere Alternativen nicht erkennen. Externe Evaluationen werden von Personen durchgeführt, die nicht dem Fördermittelgeber oder der Durchführungsorganisation angehören. In der Regel weisen externe Evaluatoren deshalb <?page no="110"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 110 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 111 111 Evolutionstheorie eine größere Unabhängigkeit, eine profunde Methodenkompetenz und professionelles Evaluationswissen auf und kennen das Fachgebiet, in dem das Programm bzw. das Projekt angesiedelt ist. Zudem können externe Evaluationen reformerischen Kräften innerhalb einer Organisation zusätzliche Legitimität und Einflussstärke verleihen, die sie benötigen, um Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. 5) Methodische Ansätze: Grundlegend für die Frage, wie evaluiert wird, ist die Wahl des Forschungsparadigmas. Grob kann zwischen zwei Hauptrichtungen unterschieden werden. Die einen betrachten Evaluation als ein empirisch-wissenschaftliches Verfahren, das der kritisch-rationalen Forschungslogik folgt und prinzipiell alle bekannten empirischen Forschungsmethoden für einsetzbar hält. Evaluation ist somit als angewandte Sozialforschung zu verstehen, die besondere Forschungsbedingungen zu berücksichtigen und ein spezifisches Erkenntnis- und Verwertungsinteresse hat, bei dem der Nutzen der Evaluationsergebnisse für die ›Praxis‹ im Vordergrund steht. Die zweite Hauptrichtung verbindet mit Evaluation einen anderen Anspruch und geht von anderen Voraussetzungen aus. Das Vorhandensein einer real existierenden Welt, die prinzipiell erkannt und »objektiv« mit Hilfe empirisch-wissenschaftlicher Verfahren erfasst werden kann, auch wenn diese Instrumente unvollständig und teilweise fehlerhaft sein können, wird bestritten. Stattdessen wird angenommen, dass »Realität« aus verschiedenen Perspektiven sozial konstruiert ist, die in Konflikten zueinander stehen können. Deshalb fordern die Anhänger dieses Ansatzes ein ›qualitatives‹ Denken, um die verschiedenen Sichtweisen und Interpretationen der ›Realität‹ erfassen zu können. Je nach wissenschaftstheoretischer Ausrichtung werden unterschiedliche Designs und Verfahren angewendet. In der Evaluationspraxis wird häufig ein sogenannter Methodenmix angewendet, der aus qualitativen und quantitativen Verfahren besteht. Dadurch sollen die Schwächen einzelner Ansätze durch die Stärken anderer ergänzt werden. Literatur Fitzpatrick, Jody L. et al., 2004: Program Evaluation. Alternative Approaches and Practical Guidelines, 3. Aufl., Boston u. a.-- Rossi, Peter H. et al., 2004: Evaluation. A systematic Approach, Thousand Oaks u. a.-- Shaw, Ian F. et al. (Hg.), 2006: The SAGE Handbook of Evaluation, Thousand Oaks u. a.- - Stockmann, Reinhard, 2006: Evaluation und Qualitätsentwicklung, Münster.- - Ders. (Hg.), 2007: Handbuch zur Evaluation, Münster.- - Ders.; Meyer Wolfgang, 2010: Evaluation. Eine Einführung, Opladen/ Farmington Hills. Reinhard Stockmann Evolutionstheorie (engl. evolution theory) Zur Evolution des Evolutionsbegriffes Wenn man erklären will, wie etwas entstanden ist, brauchen wir eine Theorie, die diese Genese erklärt. Solche Entstehungsgeschichten gehören zum universalen Erklärungsrepertoire des Menschen. Meist handelt es sich dabei um die Erzählung einmaliger Ereignisse, die mit einem oft religiös begründeten Schöpfungsakt einhergehen und eine zeitlose, statische Welt zum Ergebnis haben. Bemerkenswerterweise sind hingegen evolutionäre Ideen, also Gedanken über langfristige, kontinuierliche und graduelle Prozesse der Veränderung oder Entwicklung erst recht spät in der Wissenschaftsgeschichte entstanden. Vorsokratikern wie Thales und Anaximander wurde zwischenzeitlich der Verdienst zugeschrieben, erste evolutionäre Ideen wie die der naturalistischen Erklärung des Lebens, der Anpassung und der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen formuliert zu haben (Osborn 1894). Aus biophilosophischer Sicht können all diese Ansätze jedoch nicht als Vorläufer eines Evolutionskonzeptes angesehen werden, da ihnen noch ein Selektionsmechanismus und die geschichtliche Idee des immerwährenden Wandels fehlt (Mayr 1984). Eine geschichtliche Dimension der Evolution kam erst mit dem in der Aufklärung aufkeimenden Fortschrittsglauben hinzu. Die historische Dimension wurde auch von H. Spencer (1862) aufgegriffen. Dessen Idee des »survival of the fittest« und seine teleologische Missinterpretation des evolutionären Geschehens als zielgerichtete Vervollkommnung hin zu einem idealen Endzustand sind jedoch irreführend, wurden allerdings unter dem Begriff des Sozialdarwinismus gefasst und in den Sozialwissenschaften teilweise bis zum heutigen Tage fälschlicherweise Darwin zugeschrieben. Als echter Vorläufer, <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 112 112 Evolutionstheorie der als Erster eine konsequente Theorie evolutionären Wandels formulierte, kann Lamarck (1809) gelten, allerdings erlag er dem Irrtum, den evolutiven Mechanismus in der Vererbung erworbener Eigenschaften zu suchen. Praktisch alle soziologischen Evolutionstheorien zeigen eine gewisse Affinität zu diesem Konzept der intergenerationalen Weitergabe erlernter Eigenschaften. Dies zeigt sich am prägnantesten darin, der biogenetischen Weitergabe von Information einen tradigenetischen Transmissionmodus gegenüberzustellen und neben der biologischen eine soziokulturelle Evolution zu postulieren (dual inheritance theory; Boyd/ Richerson 1985, 2005). Diese dualistische Sicht führte zu unterschiedlichen Auffassungen über deren Beziehung, deren einer Pol für die völlige Unabhängigkeit oder gar Emanzipation der soziokulturellen Evolution steht, bei der die soziokulturelle der biologischen Evolution gewissermaßen enteilt ist und bei dessen Gegenpol die biogenetische Evolution in einer Art Basis-Überbau- Beziehung das Primat über die soziokulturelle Evolution hat. Der aktuell interdisziplinär favorisierte Ansatz scheint jedoch eher darin zu bestehen, von zwei parallel verlaufenden Evolutionsprozessen auszugehen, die koevolvieren und über epigenetische Regeln miteinander verbunden sind. Dieser Ansatz, bei dem der Organismus sich in gewisser Weise seine Umgebung selbst definiert, geht auf das ökologische Konzept der »niche construction« zurück (Odling-Smee et al. 2003; Dawkins 1982; zur Grundidee bereits Darwin 1881). Eine Art, den Unterschied zwischen biogenetischer und tradigenetischer Transmission von Information (Boyd/ Richerson 1985, 2005) zu verdeutlichen, liegt in der Kontrastierung zum individuellem Lernen: Während Letzteres schnelle Anpassungen erlaubt, indem es eine unmittelbare, aktualgenetische Adaptation auf veränderte Bedingungen ermöglicht und genetische Veränderungen (genetisches »Lernen«, Dennett 1995) mit etwa 100 Generationen langsam vonstatten gehen, gelingen Anpassungen an soziokulturelle Veränderungen in der Regel innerhalb einer Generation (Berry et al. 2011). Werden diese unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten typologisiert, indem man ihnen unterschiedliche Transmissionseinheiten zuordnet, erfolgt eine unzulässige Reifikation des prozeduralen Geschehens, da kein Unterschied in dem, was letztlich übermittelt wird, vorliegt: Das zugrunde liegende Substrat, das letzlich Informationen übermittelt, ist sowohl beim bio- und tradigenetischen »Lernen« als auch beim individuellen Lernen nur das Gen. Dementsprechend ist eine befriedigende Definition, geschwiege denn Identifikation exogenetischer Transmissionseinheiten trotz intensiver interdisziplinärer Debatte seit dem Dawkinschen Mem-Postulat (1976) immer noch nicht gefunden (Aunger 2007). Die Debatte über den Platzhalter- Status des Mems erinnert hier stark an den von »Kultur« in der kulturvergleichenden Psychologie (Chasiotis 2007, 2011b). Die Evolutionstheorie der natürlichen Selektion Darwins (1844 bzw. Wallace 1858) Evolutionstheorie stellt genaugenommen eine Integration mehrerer untergeordneter Theorien mit geringerem Geltungsbereich dar, mit der Theorie der natürlichen Selektion als ihrem charakteristischen Bestandteil (neben Phylogenese, Speziation, gemeinsamer Abstammung und Gradualismus, Mayr 1984). Die drei zentralen Annahmen der modernen Evolutionstheorie sind Reproduktion, Vielfalt und Selektion (Campbell 1970; Dennett 1995). Darwin ging bei der Formulierung seiner Evolutionstheorie davon aus, dass der formgebende Mechanismus im Evolutionsgeschehen die natürliche Selektion sei, welche die einzelnen, genetisch einzigartigen Varianten (Individuen) danach ausliest, wie erfolgreich sie sich fortpflanzen. Diese Schlussfolgerung basierte auf der Beobachtung, dass innerhalb einer Art eine individuelle Vielfalt der Erbeigenschaften besteht. Wenn einige Eigenschaften eher zur Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit beitragen, breiten sich diese erblichen Eigenschaften in der Population aus, so dass sich im Laufe der Zeit die Verteilung der erblichen Merkmale in der Population einer Art verändern. Diesen Prozess nannte er natürliche Selektion durch differentielle Reproduktion. Die biologische Evolution erfolgt zufällig oder durch Neukombination entstehende, geringfügige und meistens unauffällige genetische Änderungen (Mutation, Gen-Drift, Migration) an der Genmenge eines Individuums bzw. der Gesamtpopulation. Durch diese Selektion ist die Evolution nicht - wie noch bis Mitte der 1960er Jahre angenommen - ein arterhaltender, sondern ein artenschaffender Prozess. Kriterium dieser in der Regel individuellen Selektion ist die Güte der Anpassung neuer Merkmalsausprägungen an die Umweltbedingungen, d. h. an die ökologische Nische und beim Menschen in besondewww.claudia-wild.de: <?page no="112"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 112 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 113 113 Evolutionstheorie rer Weise an die soziale Komplexität der Umwelt. Da neue, durch zufällige genetische Änderungen auftretende Eigenschaften eines Lebewesens in der Regel keine Vorhandenen ersetzen, sondern den bestehenden hinzugefügt werden, zeichnet sich der Mensch wie alle anderen Lebewesen durch eine »geschichtliche Natur«, d. h. durch in seiner stammesgeschichtlichen Vergangenheit erworbene genetische Programme aus, die unsere gegenwärtigen phänotypischen Eigenschaften bestimmen (Mayr 1984, 2000). Tinbergen (1963) hat vorgeschlagen, zwischen phylogenetischen (ultimat-funktionalen), ontogenetischen (distalen) und aktualgenetischen (proximaten) Fragen zu unterscheiden. Die Differenzierung von Fragen nach den unmittelbaren Ursachen (»Wie kommt dieses augenblickliche Verhalten zustande? «) und solchen nach den stammesgeschichtlichen Ursachen (»Welche stammesgeschichtliche Anpassung erfüllt dieses Verhalten? «; zur Unterscheidung Mayr 1984, 2000) wurde zum zentralen Charakteristikum moderner evolutionärer Ansätze. Die Einbeziehung der Funktionslogik des Entstehens bietet eine völlig neue Perspektive auch für soziologische Fragestellungen (Berry et al. 2011; Brown et al. 2011). So gelang Lamba und Mace (2011) in einer neueren Untersuchung, in der sie intrakulturelle Varianz mitberücksichtigten, der Nachweis, dass Kooperationsverhalten eher von demographischen und ökologischen Faktoren abhängt als von kulturellen Normen. Sie interpretieren diesen Befund explizit als empirisches Gegenargument zu gruppenselektionistischen Annahmen zur Evolution von Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene. Evolutionstheorien in der Soziologie Die Evolutionstheorien in der Soziologie, die sich über Weber bis hin zur Theorie des sozialen Wandels in den 1960er Jahren erstrecken, gehen zumeist auf H. Spencer zurück und beinhalten dementsprechend mehr oder weniger explizit die Untersuchung von Selektionsmechanismen und einen gerichteten Fortschrittsgedanken. Problematisch ist neben dem Postulat einer Fortschritts- oder Steigerungsdynamik des sozialen Wandels die fehlende Anbindung an das individuelle Verhalten (Schmid 1998). Als ein Gegenentwurf können funktionalistische Theorien angesehen werden, deren Abwehr gegen den teleologischen Historizismus der Spencerschule darin bestand, Nützlichkeitserwägungen zur Erklärung sozialer Strukturen heranzuziehen. Beispiele dieses Funktionalismus sind vor allem die Theorien von Durkheim (z. B. zur sozialen Funktion der Religion, 1915), Parsons (1977) und in neuerer Zeit Luhmann (1984, 1997). Problematisch daran ist, aristotelisch gesprochen, Zweckursachen heranzuziehen, wo Wirkursachen gefragt sind: der Funktionalismus erklärt, warum eine soziale Institution ein Problem löst, kann aber nicht erklären, wie diese Institution entstanden ist. Ein weiteres Problem, das der Funktionalismus mit dem Strukturalismus teilt, ist seine Zeitlosigkeit. In gewisser Weise das Kind mit dem Bade ausschüttend, wurde der zielgerichtete Zeitpfeil nicht durch weniger teleologische Entwicklungsmodelle, sondern durch eine Wiederkehr des Immergleichen ersetzt, die am ehesten der aristotelischen Formursache entspricht (Bischof 1985, 2008). Das Hauptproblem in der Rezeption des Evolutionskonzepts in der Soziologie sind seine Gleichsetzung bzw. fehlende Abgrenzung von a) Entwicklung durch die Konfundierung von Phylo- und Ontogenese (Parsons 1977; s. auch das Autopoiese-Konzept von Luhmann 1983) und von b) Geschichte und somit von schlichtem historischen Wandel (Schmid 1998; Wortmann 2010). Diese fehlende Differenzierung zeigt sich auch bei der Beschreibung externer Einflussgrößen auf das Sozialverhalten; eine adäquate Umwelttheorie, die etwa Adaptationsleistungen auf der phylogenetischen (Selektion), ontogenetischen (Alimentation) und aktualgenetischen Ebene (Stimulation) zu unterscheiden vermag (Bischof 2008; Chasiotis 2010), ist schlichtweg nicht vorhanden. Als Fazit ist Wortmanns Diktum (2010) somit zuzustimmen, dass es sich bei der Evolutionstheorie des Sozialen immer noch nur um ein, wenn auch vielversprechendes, Desideratum handelt. Laut Mayr (1984, 2003) bestand bis zum Beginn des 21. Jh.s das größte Hindernis auf dem Weg zu einer hinreichenden Wissenschaftsphilosophie darin, den Unterschied zwischen einer physikalistischen und biologischen Auffassung von Evolution nicht herausgearbeitet zu haben. So wäre der Versuch einer essentiellen Typologie menschlicher Gesellschaften laut Mayr (1984, 2003) physikalistisch. Diese auf Pythagoras und Platon zurückgehende Denkweise, deren ungünstige Einflüsse auf die abendländische Philosophie (Mayr 1991), vor allem auf die biologische (Mayr 1984), aber auch auf die psychologische Gedankenwelt (Bischof 2008) noch nicht gänzlich überwunden sind, geht davon aus, dass es in der <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 114 114 Experiment Wissenschaft darum geht, den zugrunde liegenden unveränderlichen »Typus«, die »Idee« oder »Essenz« eines veränderlichen Phänomens zu identifizieren (Chasiotis 2010, 2011b). Evolutionistische Theorien in der Soziologie zeichnen sich dadurch aus, dass sie in typisch essentialistisch-physikalistischer Weise entweder alle Individuen als identisch, austauschbar und somit ignorierbar ansehen oder keine befriedigende Verhaltenstheorie für Individuen aufweisen (Wortmann 2010). Was Darwin jedoch im Wirken der artenschaffenden Evolution erkannt hat, ist das »Populationsdenken«, d. h. die Art nicht als zu erhaltenden Typus, sondern als variable Population zu betrachten. Damit postulierte er, die historisierte Einzigartigkeit der Individuen als Grundlage der Wissenschaft des Lebens zu betrachten. Dies ist ein Vermächtnis, dessen Implikationen immer noch erst in Ansätzen eingelöst worden sind. Literatur Aunger Robert, 2007: Memes; in: Dunbar, Robin; Barrett, Louise (eds.): Oxford Handbook of Evolutionary Psychology, Oxford, UK, 599-604.- - Berry, John W. et al., 2011: Cross-cultural psychology. 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Athanasios Chasiotis Experiment Das Experiment (lateinisch: experimentum für »Versuch«, »Probe«; engl. experiment) ist eine methodisch kontrollierte Vorgehensweise, die in allen empirischen Wissenschaftsdisziplinen eingesetzt wird, um aus Theorien abgeleitete Kausalhypothesen (»T bewirkt Y«) zu überprüfen. In einem Experiment liegt eine Situation vor, in der die unabhängige Variable (T), also die vermutete Ursache eines Phänomens, systematisch variiert wird und Veränderungen der abhängigen Variablen (Y) gemessen werden. Zu einem idealen experimentellen Versuchsaufbau gehören im einfachsten Fall drei Elemente: die Aufteilung in eine Experimental- (oder engl. Treatment-) Gruppe und eine Kontrollgruppe, die zufällige Aufteilung der Versuchsobjekte des Experiments auf diese beide Gruppen (sog. Randomisierung) und das <?page no="114"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 114 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 115 115 Experiment kontrollierte Setzen des Treatments, also die Manipulation durch die Versuchsleiter. Ronald A. Fisher (1935) hat in seiner Abhandlung »The Design of Experiments« die wesentliche Grundlage für die statistische Behandlung von experimentell erhobenen Daten geschaffen. Wenn die genannten drei Voraussetzungen erfüllt sind, können, je nach Anzahl der Versuche bzw. Versuchspersonen, durch die Wahrscheinlichkeitstheorie abgesicherte Schlüsse gezogen werden. Experimentelle Designs Experimentelle Studien werden vor allem in den Naturwissenschaften, sehr häufig in der Psychologie und seltener in den empirischen Sozialwissenschaften eingesetzt. In den letzten Jahren hat sich das Experiment jedoch in der verhaltenswissenschaftlichen Ökonomik (behaviorial economics) als Methodik zur Datengenerierung verbreitet (Fehr/ Gintis 2007). In der Soziologie werden experimentelle Designs vergleichsweise selten verwendet. Ein von Soziologen durchgeführtes Experiment stellt zum Beispiel die Studie von M. Salganik, P. Dodd und D. Watts (2006) dar, in der Ungleichheit und die Prognostizierbarkeit von Erfolg auf Märkten für kulturelle Güter untersucht wurden. Die Teilnehmer dieses Experiments sollten Musikdownloads unbekannter Bands bewerten, entweder mit (Treatmentgruppe) oder ohne Information (Kontrollgruppe) über die Bewertungen anderer. Ein wichtiges Ergebnis des Experiments war, dass vorhandene Information über Präferenzen anderer die Ungleichheit des Erfolgs deutlich erhöht. Der Vorzug eines methodisch kontrollierten Experiments gegenüber anderen Wegen, Daten zur Prüfung von Zusammenhängen zu erheben, liegt darin, die schwierige Aufgabe kausalen Schließens in idealtypischer Weise zu lösen. Voraussetzung ist allerdings, dass alle drei aufgeführten Elemente eines Experiments eingesetzt werden. Gegeben, dass die Randomisierung auf die Treatment- und Kontrollgruppe erfolgreich war und das Treatment nur durch die Versuchsleiter manipuliert wird, geht die Variation der abhängigen Variablen (Y) nur auf das Treatment (T) zurück und ein Kausalschluss »T bewirkt Y« wird möglich. Der Unterschied von Y (etwa im Mittelwert) zwischen beiden Gruppen wird Treatmenteffekt genannt. Sind einzelne Elemente eines Experiments nicht oder nur unvollständig gegeben, dann ist ein Kausalschluss nicht mehr zulässig. Experimentelle Versuchspläne können auch wesentlich komplexer ausfallen. So ist es oft von Interesse, durch Vergleiche von Vorher- und Nachhermessungen in Treatment- und Kontrollgruppen zeitliche Veränderungen zwischen t 1 und t 2 zu erfassen. Der Treatmenteffekt wird in solchen Fällen mittels der Differenz zwischen den Gruppen und den zwei Messzeitpunkten berechnet. Solche Designs sind angebracht, wenn man davon ausgeht, dass auch ohne Setzen eines Treatments messbare Veränderungen (z. B. Reifung, Lernen) stattfinden. Außerdem ist es möglich, dass man den Zweigruppenvergleich systematisch erweitert. So können mehrere Treatment-Gruppen miteinander verglichen werden, etwa wenn verschiedene Treatment-Stärken eingesetzt werden. In den berühmten Milgram-Experimenten zur Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten wurde etwa die Distanz-Nähe-Beziehung zu den vermeintlichen Opfern variiert und hinsichtlich der gezeigten Reaktionen verglichen (Milgram 1963, 1974). Außerdem ist häufig von Interesse, mehrere Bedingungen (mehrere unabhängige Variable) zugleich systematisch zu variieren und dabei jeweils mehrere Ausprägungen von Treatments zu berücksichtigen. Man spricht dann von mehrfaktoriellen Designs, wobei hier häufig sog. Moderatoreffekte erforscht werden: Je nach Ausprägung einer Drittvariable Z fällt der Zusammenhang von T und Y anders aus. Beispielhaft sind etwa Studien zum sog. Stereotype-Threat zu erwähnen. Nach der Theorie des Stereotype-Threat ist die Aktivierung eines negativen Selbstbilds, das dann nachfolgend zur Leistungsverschlechterung in Testsituationen führt, von situationalen Faktoren (z. B. der konkreten Aufgabenstellung) abhängig (Aronson et al. 1999). Qualitätskriterien Qualitätskriterien der mittels Experiment gewonnenen Daten sind die interne und die externe Validität (oder Gültigkeit). Von interner Validität spricht man, wenn die Randomisierung und das Setzen des Treatments durch die Versuchsleiter den Anforderungen entsprechend erfolgt. Die Zufallsaufteilung von Versuchsobjekten (in den Sozialwissenschaften: Probanden) ist deswegen elementar, weil nur so weitere, unkontrollierte Einflussfaktoren in ihrer Wirkung ausgeschaltet werden können. Man geht davon aus, dass durch die Randomisierung mögliche Störgrößen zufällig auf Treatment- und Kontrollwww.claudia-wild.de: <?page no="115"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 116 116 Experiment gruppe verteilt werden und sich in ihrer Wirkung aufheben. Damit dies wahrscheinlich wird, ist eine gewisse Mindestbesetzung beider Gruppen notwendig. Weiterhin kann die Setzung des Treatments misslingen oder beeinträchtigt werden. In diesem Fall ist die interne Validität nicht gegeben. Externe Validität bezieht sich auf die Verallgemeinerbarkeit des Treatmenteffekts aus der experimentellen Situation, häufig in Laboren, auf nicht-experimentelle Situationen. Ein allgemeines Problem experimenteller Forschung ist die mögliche Reaktivität der Erhebungssituation auf die Probanden. Sie reagieren nicht nur auf das gegebene Treatment, sondern unkontrolliert auf die Randbedingungen der Durchführung des Experiments. Bekannt sind etwa Versuchsleitereffekte. Je nachdem, wer die Experimente durchführt, zeigen sich andere Resultate. Wenn Probanden oder Versuchsleiter über die Forschungshypothese Bescheid wissen oder nur meinen, Bescheid zu wissen, kann dies die Ergebnisse beeinflussen. Diesbezüglich werden Doppeltblindversuche, bei denen weder Probanden noch Versuchsleiter wissen, wer in der Treatment- und wer in der Kontrollgruppe ist, empfohlen. Außerdem sind in vielen Experimenten die Probanden eine selektierte Gruppe, oftmals handelt es sich um Studierende. Selbst wenn man diese Probanden zufällig auf Treatment- und Kontrollgruppe verteilt, sind die Ergebnisse des Experiments hinsichtlich der Generalisierbarkeit oft stark beeinträchtigt. Feld- und natürliche Experimente Man kann neben Laborexperimenten auch sog. Feldexperimente durchführen, die in für die Versuchspersonen gewöhnlichen (Alltags-)Kontexten stattfinden. Bei Feldexperimenten wissen die Probanden in der Regel nicht, dass sie an Experimenten teilnehmen. In solchen Fällen sind Feldexperimente nicht reaktiv. In den letzten Jahren haben sich zur Aufdeckung von Diskriminierung sog. Audit-Studien und Korrespondenztests etabliert (Überblick bei Pager/ Sheperd 2008). Dabei variiert man in realen Bewerbungssituationen etwa in Anschreiben und Lebensläufen den ethnischen Hintergrund von Bewerbern und analysiert die Reaktionen der Adressaten. Hier stellt sich die Frage der externen Validität nicht, allerdings müssen die Forscher den erzielbaren Wissensfortschritt gegenüber ethischen Bedenken abwägen. Von Feldexperimenten, bei denen die Versuchsleiter in einer gewohnten Umgebung experimentelle Bedingungen herstellen, sind natürliche Experimente zu unterscheiden, bei denen ein exogenes (oft natürliches, nicht vorhersehbares) Ereignis eine Randomisierung in Treatment- und Kontrollgruppe bewirkt. Joshua Angrist und William Evans wollten beispielsweise die Auswirkungen eines dritten Kinds auf die Arbeitsmarktbeteiligung von Müttern untersuchen (1998). Sie betrachteten die Geschlechtermischung von Familien mit zwei Kindern als eine Art von Zufallsaufteilung, weil der Geschlechtermix nicht manipulierbar erscheint. Bei zwei gleichgeschlechtlichen Kindern ist die exogen (d. h. nicht durch Präferenzen oder Arbeitsmarktchancen) beeinflusste Wahrscheinlichkeit größer, ein drittes Kind zu bekommen, als bei Familien mit zwei gegengeschlechtlichen Kindern. Die Ergebnisse natürlicher Experimente müssen besonders sorgfältig daraufhin geprüft werden, ob die gewünschte Zufallsaufteilung nicht durch kaum zu bemerkende Selektionsprozesse unterlaufen wurde. In diesen Fällen wäre der Kausalschluss wiederum gefährdet. Experimente in der Evaluationsforschung Ein wichtiges Anwendungsfeld experimenteller Forschung in den Sozialwissenschaften ist die methodisch kontrollierte Evaluationsforschung. Selten kann in Evaluationsstudien (»was bewirkt eine bestimmte Maßnahme«? ) ein reines Experiment durchgeführt werden. Etwa ist eine wirkliche Randomisierung auf die Treatment- und Kontrollgruppe nicht möglich. Man spricht dann von sog. Quasi-Experimenten. In der Evaluationsforschung haben sich verschiedene Methoden etabliert, die experimentelle Idealsituation möglichst gut anzunähern. So wird etwa über das sog. Propensity-Matching, eine statistische Technik zur Bildung von Treatment- und Kontrollgruppe, angestrebt, in beiden Gruppen möglichst ähnliche Verteilungen hinsichtlich gemessener Störgrößen zu erreichen. Solche Verfahren waren in den letzten Jahren sehr hilfreich, die Logik experimenteller Designs mit dem Ziel kausalen Schließens auch in der empirischen Soziologie zu verbreiten (Gangl 2010). Hauptprobleme in Evaluationsstudien sind die Selbstselektion in die Treatment- und Kontrollgruppe. Dies kann man sich leicht an Hand der in vielen Universitäten üblichen Evaluation der Lehrwww.claudia-wild.de: <?page no="116"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 116 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 117 117 Experiment veranstaltungen verdeutlichen. Die Studierenden verteilen sich nicht zufällig auf die unterschiedlichen Veranstaltungen. Präferenzen nach Fach bzw. Wahl- oder Pflichtveranstaltung oder Rahmenbedingungen der Veranstaltungen (Uhrzeit, Gruppengröße, etc.) machen einen Vergleich der Resultate pro Veranstaltung schwierig bis unmöglich. In der Praxis der (quasi-)experimentellen Forschung muss man sich mit dem Problem der Randomisierungsverzerrung beschäftigen. Es sollte ausgeschlossen sein, dass mit der Teilnahme an der Treatmentgruppe (und nicht durch das Treatment) eine Veränderung gegenüber der Kontrollgruppe einhergeht. Weiterhin sollte vermieden werden, dass Probanden, die der Treatmentgruppe zugeordnet wurden, aus systematischen, also nicht-zufälligen Gründen das Treatment verweigern. Eine Substituierungsverzerrung tritt auf, falls Mitglieder der Kontrollgruppe das nicht erhaltene Treatment ersetzen. Der Einsatz von Experimenten in der Soziologie Der vergleichsweise seltene Einsatz von Experimenten in der Soziologie hat mit ihren Forschungsgegenständen zu tun. Die in der Soziologie interessierenden sozialen Prozesse lassen sich vielfach nicht sinnvoll in Laboren nachstellen - etwa wenn es um die Wirkung von Bildung auf berufliche Chancen geht. Selbst wenn man hinsichtlich der institutionellen Variation von Bildungssystemen, in denen Probanden beschult wurden, von einer angenäherten Randomisierung ausgehen könnte (allerdings unter der Annahme: Eltern und ihre Kinder wählen das Bundesland, in dem sie wohnen, nicht nach dem Schulsystem), sind doch zu viele unkontrollierte Faktoren bedeutsam, etwa die wirtschaftliche Situation der Bundesländer, die dadurch ausgelöste regionale Mobilität etc. Oder: Bei der Untersuchung geschlechtsspezifischer Lohnunterschiede kann man nicht davon ausgehen, dass sich Männer und Frauen randomisiert auf unterschiedliche Treatment-Bedingungen verteilen - etwa in den öffentlichen Dienst und die Privatwirtschaft. Es bleiben bei der Auswertung von sog. ex post facto Daten nur die nachträglichen Versuche, die Probleme durch Selektionsprozesse und (beobachtete und unbeobachtete) Störgrößen durch geeignete statistische Verfahren möglichst zu reduzieren bzw. auszuschalten. Dennoch gibt es neben der verhaltenswissenschaftlichen Ökonomik Bereiche, in denen experimentelle Designs in der empirischen Soziologie an Bedeutung gewinnen. Z. B. integriert man experimentelle Versuchsaufbauten in die Umfrageforschung. In Umfragestudien werden spieltheoretische Experimente integriert (Naef/ Schupp 2009). Weiterhin finden sich interessante Studien zu stated preferences in sog. Choice Experimenten. Probanden werden mit hypothetischen Alternativen konfrontiert, die sich hinsichtlich verschiedener Dimensionen systematisch unterscheiden (Auspurg/ Liebe 2011). Ähnlich werden in faktoriellen Surveys Situationsbeschreibungen, etwa zur Geltung von Normen und zu Prinzipien von Gerechtigkeit, manipuliert (Jasso 2006). In diesen Anwendungen werden zunächst die Entscheidungsalternativen bzw. Situationsbeschreibungen experimentell variiert, dann erfolgt eine Randomisierung der Entscheidungsalternativen bzw. Situationsbeschreibungen auf die ausgewählten Befragten, die im Idealfall eine Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung darstellen. Beide Verfahren können damit die Beschränkungen herkömmlicher Experimente auf die üblichen Probanden vermeiden (Mutz 2011). Auswertung experimenteller Daten Die Auswertung von experimentellen Daten ist im Vergleich zu anderen Designs verhältnismäßig einfach (Brown/ Melamed 1990; Kirk 1982). Es müssen - sofern echte Experimente vorliegen - keine Drittvariablenkontrollen in komplexen statistischen Modellen eingesetzt werden. Es genügen einfache Tests, etwa Mittelwertvergleiche (sog. T-Tests bei metrischen Variablen). Sofern Daten mittels mehrfaktorieller Designs erhoben wurden, arbeitet man meist mit der Varianzanalyse (ANOVA), um die erwähnten Moderatoreffekte (die Wirkung von T auf Y fällt je nach Ausprägung der Drittvariablen Z anders aus) zu identifizieren und sie besonders anschaulich darzustellen. Bei der Auswertung ist zu beachten, ob vollständig randomisierte Designs oder sog. Blockdesigns umgesetzt wurden. Bei Blockdesigns sind bestimmte Faktoren bewusst nicht randomisiert, die Probanden werden auf Grund von Vorwissen bestimmten Faktorgruppen zugewiesen. Ein Vorteil der Blockbildung liegt in der größeren statistischen Power. Es sind weniger Probanden nötig, um einen Treatmenteffekt statistisch signifikant schätzen zu können. Dies verweist auf die generell von Fisher vorgeschlagene Methode des Signifikanztests, <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 118 118 Explorationsstudie welche in der großen Mehrheit der experimentellen Forschung Anwendung findet. Wenn eine explizite Nullhypothese formuliert wurde, bevor das Experiment geplant und durchgeführt wurde, kann diese Hypothese zwar nicht bestätigt, aber mit einer akzeptablen Irrtumswahrscheinlichkeit (i. d. R. unter 5 %) zurückgewiesen werden. Die Publikation experimenteller Forschungsergebnisse unterliegt der Gefahr einer Verzerrung. Wann immer die statistische Signifikanz die Chancen der Rezeption der Ergebnisse beeinflusst, liegt ein sog. publication bias vor (Auspurg/ Hinz 2011). Ethische Fragen An den meisten Experimenten in den Sozialwissenschaften nehmen menschliche Versuchspersonen teil. Damit sind besondere ethische Fragen aufgeworfen. Die empirischen Wissenschaften haben sich auf die Einhaltung eines Ethik-Codex verständigt. Die Teilnahme an Experimenten ist freiwillig, die Probanden willigen explizit in die Teilnahme und die Möglichkeit der Datenauswertungen ein, die Probanden können jederzeit abbrechen, eine angemessene Kompensation für die Teilnahme ist üblich, und die Versuchspersonen dürfen nicht getäuscht bzw. geschädigt werden. Die Einhaltung dieser Anforderungen ist in bestimmten Fällen nicht möglich - gerade in Feldexperimenten oder in der Sozialpsychologie, in der die tatsächlichen Forschungsinteressen mitunter verschleiert werden. Wie man an den bekannten Milgram-Experimenten sieht, liegt in der vorübergehenden Täuschung von Probanden die Chance auf besonderen Erkenntnisgewinn. In solchen Fällen sind Beratungen von Ethik-Kommissionen vorgesehen und für die Teilnehmer an den Experimenten immerhin eine nachträgliche Aufklärung. Literatur Angrist, Joshua; Evans, William N., 2005: Children and their parents’ labor supply: Evidence from exogenous variation in family size; in: American Economic Review 88, 450- 477.-- Aronson, Joshua et al., 1999: When White Men Can’t Do Math: Necessary and Sufficient Factors in Stereotype Threat; in: Journal of Experimental Social Psychology 35, 29-46.-- Auspurg, Katrin; Hinz, Thomas, 2011: What Fuels Publication Bias? Theoretical and Empirical Analyses of Risk Factors Using the Caliper-Test; in: Journal of Economics and Statistics 235, 630-660.-- Auspurg, Katrin; Liebe, Ulf, 2011: Choice Experimente und die Messung von Handlungsentscheidungen in der Soziologie; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63, 301- 314.- - Brown, Steven R.; Melamed, Lawrence E., 1990: Experimental Design and Analysis, Newbury Park.- - Fehr; Ernst; Gintis Herbert, 2007: Human Motivation and Social Cooperation: Experimental and Analytical Foundations; in: Annual Review of Sociology 33, 43-64.-- Fischer, Ronald A., 1935: The Design of Experiments, Oxford.-- Gangl, Markus, 2010: Causal Influence in Sociological Research; in: Annual Review of Sociology 36, 21-47.-- Jasso, Guillermina, 2006: Factorial Survey Methods for Studying Beliefs and Judgments; in: Sociological Methods & Research 34, 334-423.-- Kirk, R. E., 1982: Experimental Design. Procedures for the Behavorial Sciences, 2. Aufl., Belmont.- - Milgram, Stanley, 1963: Behavorial Study of Obedience; in: Journal of Abnormal and Social Psychology 67, 371-378.- - Milgram, Stanley, 1982: Das Milgram Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Rowohlt (zuerst: Obedience to Authority. An Experiment View, New York, 1974).-- Mutz, Diana C., 2011: Population Based Survey Experiments, Princeton.- - Naef, Michael; Schupp, Jürgen, 2009: Measuring Trust. Experiments and Surveys in Contrast and Combination, SOEP Papers 167, Berlin.- - Pager, Devah; Sheperd, Hana, 2008: The Sociology of Discrimination: Racial Discrimination in Employment, Housing, Credit, and Consumer Markets; in: Annual Review of Sociology 34, 181- 209.-- Salganik, Matthew J. et al., 2006: Experimental Study of Inequality and Unpredictability in an Artificial Cultural Market; in: Science 311, 854-856. Thomas Hinz Explorationsstudie Explorationsstudien (engl. exploratory study) sind einerseits relevant, wenn das existierende Wissen (über ein Feld, eine Zielgruppe, ein Thema, einen Zusammenhang) nicht ausreicht, Hypothesen zu formulieren und zu testen und standardisierte Instrumente (z. B. Fragebogen mit einer begrenzten Anzahl vorgegebener Antwortmöglichkeiten) zu verwenden. Eine Explorationsstudie stellt dann eine Vorstudie einer solchen Studie mit dem Ziel der Entwicklung von Hypothesen und Methoden dar. Explorationsstudien stellen anderseits einen eigenständigen Forschungsansatz dar, bei dem es darum geht, Neues in einem wenig bis nicht erforschtem Feld zu entdecken und aus der Studie eine gegenstandsbegründete Theorie (Grounded Theory, Strauss 2007) zu entwickeln. <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 118 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 119 119 Explorationsstudie In Explorationsstudien werden häufig qualitative Methoden (teilnehmende Beobachtung, Interviews) verwendet, um dem Untersuchten möglichst offen gegenüberzutreten. Ethnographische Studien sind i. d. R. als Explorationsstudie angelegt. Bei komplexen Datensätzen können Explorationsstudien zur Entdeckung von bislang unbekannten Zusammenhängen in den Daten mit statistischen Methoden durchgeführt werden (Tukey 1977). Relevant für die Beurteilung von Explorationsstudien ist: Handelt es sich tatsächlich um einen noch zu explorierenden Gegenstand? Ist der methodische Zugang offen und sensibel genug konzipiert, so dass das Neue im Untersuchten sichtbar werden kann? Fragestellungen und Methoden werden bei Explorationsstudien oft erst im Laufe der Studie (weiter) konkretisiert. Für die Bedeutung als eigenständiger Untersuchungsansatz ist bei Explorationsstudien zentral, inwieweit sich die Ergebnisse nicht nur auf die Entwicklung von Instrumenten für eine Folgeuntersuchung beschränken, sondern auch Erkenntnisse über das untersuchte Feld bzw. den Gegenstand etwa in einer aus dem empirischen Material entwickelten Typologie oder Theorie darstellen. Literatur Flick Uwe, 2009: Sozialforschung- - ein Überblick für die BA-Studiengänge, Reinbek.-- Ders., 2011: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, 4. Aufl., Reinbek.- - Strauss, Anselm, 2007: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Stuttgart.- - Tukey, John, 1977: Exploratory Data Analysis, Reading, MA. Uwe Flick <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 120 120 Familiensoziologie F Familiensoziologie (engl. sociology of family) Traditionell wird Familie als eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen Mann und Frau mit einem gemeinsamen Kind und einer gemeinsamen Haushaltsführung definiert. Innerhalb der familiensoziologischen Forschung findet die dadurch angelegte Einengung praktisch jedoch kaum Beachtung, und die Untersuchung der unterschiedlichsten Lebensformen und deren Veränderung, wie beispielsweise die Entstehung und Entwicklung von ersten Partnerschaften ebenso wie die Arbeitsteilung in homosexuellen Paarbeziehungen oder die soziale Integration kinderloser Paare sind Gegenstand der Forschung. Versuche, neue Begrifflichkeiten (Soziologie der Zweierbeziehung, Soziologie partnerschaftlicher Lebensformen) zu etablieren, erscheinen wenig sinnvoll und stoßen auf geringe Akzeptanz. Eine der wichtigen Aufgaben einer derart breit angelegten Familiensoziologie besteht dann auch darin, die Entwicklung und Verbreitung der unterschiedlichen partnerschaftlichen und familialen Lebensformen zu beschreiben und erklären. Zur historischen Entwicklung von-Partnerschaften und Familie Anthropologische Forschungen und evolutionsbiologische Erkenntnisse legen nahe, dass Partnerschaft und Familie zu den ursprünglichen Institutionen in der Menschheitsgeschichte gehören. Die Ethnographie zeigt aber andererseits, dass sich hier eine nahezu unbegrenzte Vielfalt der konkreten Organisationsformen finden lässt, die häufig anhand der Heiratsformen (Polygamie versus Monogamie), der Lokalitätsregeln (patri-, matri- oder neolokal), der Deszendenzregeln (patri-, matri- oder ambilateral), der formalen und informellen Herrschaftsregeln (Patriarchat oder Matriarchat) sowie der Verwandtschaftsterminologie zu systematisieren ist (Hill/ Kopp 2006). Während über längere Zeit die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten vorherrschte - beispielsweise von einem ursprünglichen Matriarchat (Bachofens These des Mutterrechts) oder urkommunistischen Formen mit einer hohen Promiskuität (Engels Vermutungen zum Ursprung der Familie) hin zu eher patriarchischen Formen oder von der erweiterten Familie zur Kleinfamilie (Kontraktionsgesetz der Familie bei Durkheim) - dominiert in der modernen Familienforschung der Versuch, die genauen Bestimmungsgründe einzelner familialer Organisationsformen zu untersuchen und auf strukturelle Unterschiede zurückzuführen. So ist beispielsweise die Polygynie (ein Mann hat mehrere Frauen), aber auch die wesentlich seltener vorkommende Polyandrie (eine Frau hat mehrere Männer) das Ergebnis dauerhafter ökonomischer Ungleichheit und Knappheit und - wie nahezu alle genannten komplexeren Familienformen - meist nur in Gartenbau- und einfachen Ackerbaugesellschaften zu finden. In Europa und den Vereinigten Staaten wurde von der historischen Familienforschung mit Hilfe verschiedenster Verfahren - unter anderem der Ableitung von Biographien aus alten Kirchenbüchern - die familiale Lebenssituation in den einzelnen Epochen rekonstruiert (vgl. Gestrich et al. 2003; Ketzer/ Barbagli 2001). Viele Vermutungen mussten aufgrund dieser Ergebnisse revidiert werden: so war die Familiengröße nie besonders hoch, unvollständige Familien waren bei den Bauern selten, kamen jedoch in unterbäuerlichen Schichten durchaus häufig vor, Stieffamilien waren aufgrund der hohen Sterblichkeit vor allem von Frauen und einem ökonomisch bedingten Rollenergänzungszwang keine Seltenheit, das Heiratsalter war in der Regel relativ hoch, und durch die Industrialisierung lassen sich vielerorts sogar stärkere und nicht schwächere familiale Beziehungen beobachten. Bei allen Problemen hinsichtlich der Datenlage lässt sich zudem vermuten, dass die Emotionalität zwischen den (Ehe-)Partnern, aber auch gegenüber Kindern keine Erfindung der Moderne ist. Familiale Verhaltensweisen waren immer eine Reaktion auf die äußeren Umstände, Emotionen waren ein Bestandteil des Handlungskalküls. Zur demographischen Entwicklung von-Partnerschaften und Familie Während sich für die Zeit bis etwa zum Ende des 19. Jh.s mit Hilfe dieser geschichtswissenschaftlichen Verfahren nur lokal vereinzelt Aussagen über die Struktur familialen Lebens machen lassen, ist es im 20. Jh. mit Hilfe der amtlichen Statistik und verwww.claudia-wild.de: <?page no="120"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 120 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 121 121 Familiensoziologie stärkt seit Mitte der 1970er Jahre aufgrund der Ergebnisse der empirischen Sozialforschung möglich, die Entwicklungen genauer zu erfassen und zu untersuchen. Hierbei werden zuerst die einzelnen familiendemographischen Prozesse wie das Heiratsalter und die Zahl der Eheschließungen, die Zahl der Geburten und das Alter der Frau bei der ersten Geburt, die Zahl der Ehescheidungen oder die durchschnittliche Größe der einzelnen Haushalte genauer fokussiert. Auch wenn bei diesen Studien durchaus interessante Ergebnisse zu beobachten sind - das Heiratsalter sinkt bis Mitte der 1970er Jahre und hat seitdem einen historisch nie erreichten Höchststand erlangt, einen ähnlich u-förmigen Verlauf kann man hinsichtlich des Alters bei der Erstgeburt beobachten, die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig, die Zahl der Ehescheidungen steigt seit 1880 nahezu linear an und die Zahl der in einem Haushalt lebenden Personen nimmt stetig ab - stellte sich rasch heraus, dass derartige Trendbeschreibungen nur sehr wenig Erkenntnisse hinsichtlich der Ursachen dieser Prozesse und vor allem auch nur ein geringes Potenzial zur Vorhersage der weiteren Entwicklung hervorbringen, zumal sich in einer regional und international vergleichenden Perspektive deutliche Unterschiede beobachten lassen. Mit der Einsicht in die Unmöglichkeit allgemeiner makrotheoretischer Trendaussagen ist auch ein Wechsel in der theoretischen Sichtweise der Familie verbunden. Theoretische Perspektiven der-Familienforschung Wenn man von eher soziographischen Versuchen der Erfassung unterschiedlicher Lebensformen innerhalb einer funktionalistisch orientierten Sozialanthropologie und ihren mikrotheoretischen Fortsetzungen in einzelnen Milieustudien absieht, so dominieren heute vor allem theoretische Überlegungen aus dem Bereich der Handlungs- und Austauschtheorie, die zugleich eine Lebensverlaufsperspektive einnehmen (vgl. als Überblick Hill/ Kopp 2006; White 2005). Besonders hervorzuheben sind dabei die Überlegungen der Familienökonomie bzw. der »new home economics« (Becker 1981), die die vielfältigsten Aspekte menschlichen Sozialverhaltens mit Hilfe eines gemeinsamen handlungstheoretisch fundierten Rahmens erklären. Die Bedeutung der verschiedenen theoretischen Ansätze lässt sich jedoch am besten anhand ihrer Erklärungsleistung hinsichtlich konkreter Beziehungs- und Familienprozesse beurteilen. Hierzu werden im Folgenden die wichtigsten Schritte in diesen Abläufen nacheinander betrachtet und einige empirische Befunde berichtet - ohne dabei jedoch auf die Details der theoretischen Argumente und empirischen Analysen eingehen zu können. Die Entstehung und Verfestigung von Partnerschaften und die Wahl der Lebensform Es erscheint unbestritten, dass der Wunsch nach einer romantischen Beziehung sicherlich zu den Universalien menschlichen Daseins gehört. Soziologisch interessant sind dann die Umstände der Partnerwahl sowie die ersten Entwicklungsschritte von Partnerschaften. Auch wenn sich innerhalb der Psychologie ab und an Versuche finden, die Entstehung einer konkreten Liebes- und Paarbeziehung zu erklären, so liegt das Augenmerk soziologischer Forschungen doch eher auf strukturellen Gemeinsamkeiten. Wenn allein die sicherlich bedeutsame ›romantische Liebe‹ die Entstehung von Partnerschaften bestimmen würde, wäre die in vielen Dimensionen beobachtbare Ähnlichkeit zwischen den Partnern nicht erklärbar. Sozialstrukturell homogene Partnerschaftsmärkte - hier ist nur an die Bildungsinstitutionen zu denken - und die Partnerwahl im engeren sozialen Umfeld bilden dabei wichtige Ergänzungen. Gerade in der ersten Phase der Partnerschaftsentwicklungen sind dabei vielfältige kleine Schritte der Institutionalisierung beobachtbar, die letztlich auch als Investitionen in die Beziehung verstanden werden können, die dann wiederum ihre Stabilität erhöhen (Kopp et al. 2010). Trotz aller Vermutungen finden sich kaum verlässliche Daten, die eine Aussage über das Alter bei Beginn der ersten Liebesbeziehung im Zeitvergleich erlauben. Erste Hinweise sprechen dafür, dass sich in den letzten Jahrzehnten keine dramatischen Veränderungen beobachten lassen. Analytisch sind mit der Paarbildung und dem entsprechenden gegenseitigen Commitment, der Gründung eines gemeinsamen Haushaltes, der Heirat und der Geburt eines Kindes verschiedene Dimensionen der Verfestigung von Partnerschaften zu unterscheiden. Während bis in die 1970er Jahre in der Bundesrepublik diese Prozesse relativ zeitnah stattgefunden haben, lassen sich heute vielfältige Unterschiede, vor allem aber klare zeitliche Muster ausmachen. Wähwww.claudia-wild.de: <?page no="121"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 122 122 Familiensoziologie rend die Aufnahme sexueller Beziehungen und das Commitment zu dieser Beziehung relativ zeitnah und rasch stattfinden, erfolgt die Gründung eines gemeinsamen Haushaltes und damit einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung. Ein wichtiger Erklärungsfaktor ist dabei sicherlich neben allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungstrends die durch die Bildungsexpansion bedingte späte und unsichere berufliche Platzierung beider Partner. Besonders hervorzuheben ist aber, dass diese Phase des nichtehelichen Zusammenlebens heute immer mehr zum Lebenslauf gehört und nicht immer durch eine Eheschließung beendet wird. Als Dimensionen dieser Entscheidung zwischen Partnerschaften mit getrennten oder gemeinsamen Haushalten werden die Möglichkeiten gemeinsamer Aktivitäten, die - berufs- oder ausbildungsbedingten - Opportunitäten, aber auch der Wunsch nach einer weiteren Verfestigung der Partnerschaft genannt. Ergänzend muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass derartige Fragestellungen eine biographische und lebensverlaufsorientierte Herangehensweise und vor allem entsprechende Daten nötig machen. Trotz vielerlei Fortschritte ist hier ein deutliches Forschungsdefizit zu konstatieren. Der Übergang zur Ehe Trotz der zunehmenden Verbreitung nichtehelicher Lebensgemeinschaften stellt die Ehe keine überholte Institution dar, sondern ist ein fester Bestandteil der Lebensplanung der meisten Menschen. Immer mehr wird die Eheschließung dabei mit der Familiengründung, also mit der Geburt eines ersten Kindes, verbunden. Neben normativen Aspekten und dem subjektiv vielleicht wichtigsten Motiv der Liebe spielen dabei auch Überlegungen eine Rolle, die sich auf die rechtliche Absicherung der durch die neue Lebenssituation entstandenen Unsicherheiten beziehen. Ehen stellen darüber hinaus den verfestigten institutionellen Rahmen, das ›nomoserzeugende Instrument‹, in dem Paare ihre jeweils eigene Lebenswelt bilden, dar (Berger/ Kellner 1965). Immer noch wird zudem ein traditionelles Familienmodell durch sozialstaatliche Regelungen unterstützt. Trotz aller Angleichungsprozesse lassen sich hinsichtlich der verschiedenen partnerschaftlichen und familialen Prozesse deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, aber auch im internationalen Vergleich feststellen. So scheinen sowohl in den skandinavischen Ländern als auch in Ostdeutschland nichteheliche Lebensgemeinschaften als dauerhafte Alternative zur Ehe eher Verbreitung zu finden als in den südeuropäischen Ländern und Westdeutschland. Familiengründung und -erweiterung In der Zwischenzeit stellt die Familiengründung, also die Geburt eines ersten Kindes, den bedeutsamsten Schritt in der Familienbiographie dar. Im historischen Vergleich ist dabei sowohl eine Veränderung des Timings festzustellen, bedingt durch die deutliche Bildungsexpansion gerade von Frauen und den damit verbundenen längeren Zeitraum bis zur Etablierung einer eigenen beruflichen Position, als auch ein Rückgang der Geburtenzahlen. Genauere Analysen lassen jedoch vermuten, dass dieser historische Rückgang vor allem die Geburten höherer Parität betrifft und deshalb trotz der sicherlich steigenden Anzahl von dauerhaft kinderlosen Frauen die Geburt eines Kindes immer noch zum Lebenslauf der meisten Frauen gehört. Weitere Analysen befassen sich mit der Familienerweiterung und hierbei vor allem mit der Geburt eines zweiten Kindes und untersuchen dabei unter anderem den Zeitabstand zwischen den Geburten sowie Bestimmungsgründe der Familienerweiterung und die damit einhergehenden Änderungen in der Familie wie beispielsweise die - geschlechtsspezifisch unterschiedlichen - Konsequenzen für das Erwerbsverhalten oder für die innerfamiliale Teilung der häuslichen Arbeit. Interaktion in Partnerschaft und Familie Neben diesen auch demographisch interessanten Phänomenen - Wahl der Lebensform, Heirat und Fertilität - beschäftigt sich die Familienforschung mit den internen Prozessen in Partnerschaften und Familien. Ein wichtiges Forschungsfeld in diesem Zusammenhang bilden Analysen zur emotionalen Grundlage der Beziehung und zur Erklärung entsprechender Veränderungen im Zeitverlauf. So finden sich Studien, die einen Wandel in der Grundlage der Beziehung - ein Rückgang der romantischen und eine Zunahme der sogenannten kameradschaftlichen Liebe - diagnostizieren, aber auch Arbeiten, die generell einen u-förmigen Verlauf des Eheglücks im Beziehungsablauf feststellen. Eine Schwierigkeit <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 122 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 123 123 Familiensoziologie vieler dieser Analysen ist auch hier wiederum die fehlende längsschnittliche Datenbasis. Trotz ihrer letztendlich sicherlich gegebenen Alltäglichkeit sind ernstzunehmende Studien zur Sexualität, aber auch zu Konflikten in Partnerschaften selten. Im Gegensatz hierzu, sind die Determinanten innerfamilialer Arbeitsteilung empirisch relativ deutlich: so finden sich zahlreiche Belege, dass die von der Familienökonomie formulierten Hypothesen - die Arbeitsteilung sollte mit den relativen Ressourcen und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt korrelieren - zutreffen, gleichzeitig erklären sie das Phänomen ungleicher Arbeitsteilung nur partiell. Offensichtlich spielen normative oder machtorientierte Motive ebenfalls eine große Rolle (Treas/ Dronic 2010). Neben dieser paarbezogenen Perspektive stehen vielfach auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und neuerdings auch zwischen Großeltern und Enkeln sowie vereinzelt zwischen Geschwistern oder Beziehungen zur erweiterten Verwandtschaft im Mittelpunkt. Neben Untersuchungen zur (frühkindlichen) Bindung und Sozialisation werden dabei vor allem die Bestimmungsfaktoren der intergenerationalen Beziehungen im Erwachsenenalter und die Interdependenz der einzelnen Dimensionen dieser Beziehung fokussiert (vgl. Bengtson 2001). Einen letzten Themenbereich bilden Studien zur Machtverteilung in Beziehungen, aber auch zur Gewalt in Partnerschaft und Familie. Vor allem in den Vereinigten Staaten werden hierzu Studien durchgeführt, die verschiedene Risikofaktoren für Gewalt in Beziehungen herausarbeiten (Straus/ Gelles 1990). Stabilität von Paarbeziehungen Sicherlich nicht unabhängig von der Interaktion der Partner ist die Dauerhaftigkeit und Stabilität partnerschaftlicher oder ehelicher Beziehungen. Zahllose empirische Studien haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte international, aber auch in der Bundesrepublik mit den Bestimmungsgründen für das Scheitern von Paarbeziehungen und Ehen beschäftigt. Neben eher psychologisch orientierten Untersuchungen, die beispielsweise die Rolle von Interaktions- und Konfliktstilen betonen, lässt sich - wiederum auf der theoretischen Grundlage der Familienökonomie - eine Fülle sozialstruktureller Einflussfaktoren ausmachen: eine frühe Eheschließung erhöht das Trennungsrisiko, gemeinsame Kinder und andere Investitionen in sog. beziehungsspezifisches Kapital fördern hingegen die Stabilität. Neben diesen Determinanten der Stabilität rücken immer mehr auch die Konsequenzen einer Trennung in den Mittelpunkt. Hier lassen sich Folgen für die Partner sowie für die Kinder unterscheiden, ebenso sind kurzfristige und langfristige Folgen zu differenzieren. Generell sind Trennungen sicherlich ein bedeutsamer Einschnitt im Lebensverlauf, wobei vor allem die kurz- und mittelfristigen finanziellen Folgen für Frauen auch sozialpolitische Relevanz besitzen. In den letzten Jahren findet zudem die familiale Organisation nach einer Trennung und hierbei vor allem die Rolle von Alleinerziehenden und Stiefelternschaft zunehmende Aufmerksamkeit. Zur Zukunft der Familie Gerade in der allgemeinen Soziologie wird die Organisation privater Lebensformen häufig als Beispiel für die Folgen unterschiedlichster allgemeiner Entwicklungen wie der Urbanisierung, Modernisierung oder Differenzierung herangezogen. Je nach theoretischer und teilweise auch ideologischer Ausrichtung wird dann über die Krise oder teilweise sogar das Ende der Familie spekuliert. Wenn man seinen Blick von der kurzfristigen Veränderung einzelner demographischer Kennziffern abwendet und sowohl kulturell wie historisch seinen Blickwinkel erweitert, so kann bei aller Veränderung der konkreten Organisation familialen und privaten Lebens festgehalten werden, dass sowohl normativ wie auch konkret derartige partnerschaftliche und familiale Lebensformen ihre Bedeutung nicht verloren haben. Literatur Becker, Gary S., 1981: A Treatise on the Family, Cambridge/ London.-- Bengtson, Vern L., 2001: Beyond the Nuclear Family: The Increasing Importance of Multigenerational Bonds; in: Journal of Marriage and the Family 63, 1-16.- - Berger, Peter L., Kellner, Hansfried, 1965: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit; in: Soziale Welt 16, 220- 235.-- Gestrich, Andreas et al., 2003: Geschichte der Familie, Stuttgart.- - Hill, Paul B.; Kopp, Johannes, 2006: Familiensoziologie, 4. Aufl., Wiesbaden.- - Kertzer, David I.; Barbagli, Marzio (Hg.), 2001: Family Life in Early Modern Times, 1500-1789. New Haven/ London.-- Kopp, Johannes et al., 2010: Verliebt, verlobt, verheiratet. Institutionalisierungsprozesse in Partnerschaften, Wiesbaden.- - Straus, Murray A.; Gelles, Richard J. (eds.), 1990: Physical Violence in American Families. Risk Factors and Adaptations to Viowww.claudia-wild.de: <?page no="123"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 124 124 Feldforschung lence in 8145 Families, New Brunswick, NJ.-- Treas, Judith; Drobnic, Sonja, 2010: Dividing the Domestic. Palo Alto.- - White, James M., 2005: Advancing family theories, Thousand Oaks. Johannes Kopp Feldforschung Feldforschung (engl. field research) ist ein Datenerhebungsansatz, der in der Ethnologie und Anthropologie entwickelt wurde und dort immer noch vorwiegend benutzt wird. Seit einigen Jahrzehnten ist er auch in der Soziologie und der Psychologie übernommen worden. Methodischer Ansatz Feldforschung muss im Gegensatz zur Laborforschung gesehen werden, die als Begriff aber kaum benutzt wird. Feldforschung bedeutet dann, dass die Daten in der natürlichen Umgebung der Untersuchungspersonen erhoben werden und nicht in einer Umgebung, in die die Untersuchungspersonen nur zum Zweck der Untersuchung kommen. Ein Extrem an Laborforschung sind etwa Untersuchungen mancher empirischer Ökonomen zum lnvestitionsverhalten, bei denen man Versuchspersonen in einen Universitätsraum oder in einen gemieteten Wirtshaussaal einlädt, damit sie dort, durch Sichtblenden getrennt, mit Spielgeld Investitionsentscheidungen in verschiedenen angenommenen Konjunktursituationen fällen. Demgegenüber sollen in der Feldforschung die Daten in der alltäglichen Umgebung der Versuchspersonen erhoben werden, weil dort alle die Faktoren auf die Versuchsperson einwirken, die auch außerhalb der Forschungssituation auf sie wirken. Am deutlichsten wird der Gegensatz beim Experiment, wo die Unterscheidung von Feld- und Laborexperiment auch gängiger Sprachgebrauch ist. lm Gegensatz zum eben skizzierten Laborexperiment zum lnvestitionsverhalten würde man in einem Feldexperiment beispielsweise Handwerkern aus verschiedenen Branchen echtes Geld geben, um zu sehen, wie sich die unterschiedliche Konjunktur der Branchen auf die Risikobereitschaft beim Investieren auswirkt. Entsprechend dem Beginn der Feldforschung in der Ethnologie ist einer ihrer Hauptzwecke ein Vorteil für den Forscher: Er erhält Kenntnis vom sozialen (und natürlichen) Umfeld seines Forschungsgegenstandes und vermag ihn erst dadurch zutreffend zu deuten. Ethnologie ist ein interkulturelles Vorhaben. Forscher aus einer Kultur forschen über eine andere, für sie fremde Kultur. Selbst wenn sie die Sprache der beforschten Kultur fließend beherrschen sollten, kennen sie noch nicht die Bedeutung von Gesten, Traditionen, die Wirkung von Ängsten, religiösen Normen, die Rücksicht auf Bräuche, Loyalitäten usw. und geraten so in die Gefahr von Ethnozentrismus bei der Deutung ihrer Ergebnisse. Wer etwa als mitteleuropäischer Forscher nicht weiß, dass in manchen Kulturen ein deutliches Nein auf eine Frage eine ungezogene Unhöflichkeit ist und deshalb durch zurückhaltende Zustimmung ersetzt wird, der würde sich wundern, dass er auf die Frage, ob jemand bereit wäre, ehrenamtlich in einer Hilfsorganisation mitzuarbeiten, sehr oft scheinbare Bereitwilligkeit findet in Antworten wie »Wenn mich jemand fragte und ich hätte gerade Zeit übrig, wäre ich grundsätzlich sicherlich interessiert daran«, die in Wirklichkeit aber eine Verneinung bedeutet. In solchen Situationen ist die langfristige teilnehmende Beobachtung ein methodisch angezeigter Ausweg. Dabei ist aber eine große methodische Schwierigkeit, dass der Beobachter allein durch seine Teilnahme schon das Feld verändert. Das kann sich allerdings im Laufe der Zeit durch Gewöhnung des personalen Umfeldes ändern; so wurde ein Forscher, der in der Rolle des Protokollanten an den Sitzungen eines Betriebsrates teilnahm, nach Wochen stillen Mitschreibens gefragt, warum er sich aus allem heraushalte und nie seine Meinung sage, wie es sich für ein Mitglied des Betriebsrates gehöre. Eine methodisch ziemlich unproblematische, aber in ihrer Validität sehr begrenzte Datensammlungstechnik für Feldforschung ist das Informantengespräch oder -interview. Elemente von Feldforschung werden auch bei der mündlichen Befragung benutzt, wenn diese in einer Umgebung durchgeführt wird, die dem Befragungsthema entspricht, also eine Befragung zur Arbeit am Arbeitsplatz, zu Erziehungszielen am Wohnzimmer- oder ggf. am Küchentisch usw. Das soll die Forderung nach »Einheitlichkeit der (Daten-)Erhebungssituation« verwirklichen, die man bei der schriftlichen Befragung gar nicht erst erheben kann. Die Begriffe Feldphase und Feldarbeit haben nichts mit der Feldforschung zu tun. Sie bezeichnen die Datenerhebung außerhalb des Arbeitszimmers auch bei jeder Laborforschung. <?page no="124"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 124 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 125 125 Feldforschung Vor- und Nachteile Am geschilderten Experimentbeispiel wird deutlich: lm Laborexperiment können wir die uns hier interessierende unabhängige Untersuchungsvariable, das lnvestitionsverhalten unter verschiedenen Konjunktursituationen, schön eindeutig messen, weil alle »Störvariablen« ausgeschaltet werden können. Wir können aber die Ergebnisse nicht als Entwicklungsprognose für die Wirklichkeit verwenden, weil dort die Störvariablen nicht ausgeschaltet werden können. lm Feldexperiment haben wir diese Störvariablen (z. B. Familiensituation, Gesundheitszustand) enthalten, können aber ihren jeweiligen Anteil an der lnvestitionsentscheidung nicht bestimmen. Ein Nachteil der Feldforschung ist - neben den viel höheren Kosten und der längeren Dauer - gegenüber der Laborforschung die Gefahr, dass Forscher sich mit ihren Objekten (über-)identifizieren (»going native«, wie die Ethnologen sagen) und so das Qualitätsmerkmal der Objektivität verletzen. Repräsentativität kann in der Feldforschung nicht erreicht, nicht einmal angestrebt werden. Sie eignet sich daher - das aber hervorragend - zur Einzelfallstudie, zur Hypothesenfindung und auch überhaupt zur Darstellung des Bühnenbildes für folgende methodisch strengere Untersuchungen. Die externe Validität der Feldforschung ist sehr hoch. Feldforschung ist also weitgehend deskriptiv und qualitativ. Sie wird daher oft im Vorlauf zu quantitativen Untersuchungen durchgeführt. Verbindungen zur soziologischen Theorie bestehen u. a. darin, dass die Feldforschung manche Überlegungen Max Webers zur Verstehenden Soziologie aufgegriffen hat. Andererseits hat sich der Symbolische lnteraktionismus Gedanken der Feldforschung zur Grundlage gemacht; in dieser Beziehung war die Feldforschung wohl fruchtbarer als alle quantitativen Methoden. Beispiele für Feldforschung Zu den einflussreichsten Werken der Feldforschung gehören die Untersuchungen von A. R. Radcliffe- Brown (The Andaman lslanders. 1922), B. Malinowski (Argonauts of the Western Pacific, 1922) und Feldforschung Boas mit seinen Forschungen über die Eskimos (ab 1886) und die lndianer-Studien seiner Schüler. Alle drei waren Mitbegründer der Ethnologie, die beiden Ersten waren ihrerseits beeinflusst von dem Soziologen Emile Durkheim. Die Soziologie nahm ihre Anregungen für Feldforschung vor allem von diesen Arbeiten auf, nicht zuletzt wegen der methodologischen Einleitung von Malinowski. Ebenfalls ethnologisch waren die Feldforschungen, die M. Mead ab 1931 in Neuguinea durchführte und die viele methodologische Diskussionen auslösten. Vor diesen Anstößen aus dem lndischen bzw. Pazifischen Ozean gab es eigentlich schon geeignete Anregungen aus Europa, so etwa von W. H. von Riehl und C. Booth. Aber der erste Autor war Schriftsteller, Journalist, Theater- und Museumsdirektor, und der Zweite war Geschäftsmann und Sozialpolitiker, und ihre Werke waren weniger wissenschaftlich als sozialpolitisch ausgerichtet. Bahnbrechend für die moderne soziologische Feldforschung war die »Chicagoer Schule« in den USA. Zugleich mit der Begründung der Stadtsoziologie wurden dort Subkulturen erforscht. Als Beispiele sind zu nennen: W. I. Thomas: The Polish Peasant in Europe and America (1918-1922); The Unadjusted Girl (1923); R. E. Park: The Press and lts Control (1922); L. Wirth: The Ghetto (1922); P. G. Cressey: The Taxi-Dance Hall (1932). Hier entstand auch die Verbindung zum Symbolischen lnteraktionismus. Eine ebenfalls viele Folgestudien anregende Feldforschung unternahm W. F. Whyte, der vier Jahre unter Jugendlichen in einem italienischen Stadtteil von Boston zubrachte und die Ergebnisse 1943 im Buch »Street Corner Society« veröffentlichte. Auch hier ist der methodologische Anhang noch heute interessant. lm deutschsprachigen Raum war die Marienthal-Studie von M. Jahoda, P. Lazarsfeld und H. Zeisel ein Pionier der Feldforschung. Diese psychologisch-soziologische Untersuchung aus einer Zeit, als die beiden Fächer noch nicht so säuberlich geschieden waren, beschreibt das Leben von einzelnen Menschen und Familien in einem niederösterreichischen Dorf, nachdem der beherrschende Betrieb geschlossen worden war und praktisch alle Bewohner arbeitslos waren. Um einen Eindruck von der Vielfalt der Feldforschung zu erhalten, seien hier die Datenquellen aufgezählt: Karteikarten für jeden der 1.486 Einwohner mit allen erreichbaren Daten; Lebensgeschichten von 62 Personen; Zeitverwendungsbögen; Anzeigen und Beschwerden; Schulaufsätze, u. a. über Berufswünsche; Preisausschreiben für Jugendliche über Zukunftsvorstellungen; lnventare der Mahlzeiten in 40 Familien; Protokolle über Weihnachtsgeschenke, Gesprächsthemen in Läden, Umsätze in Geschäften <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 126 126 Feldtheorie und der Gastwirtschaft usw.; Statistiken über den Konsumverein, Bibliotheksentleihungen, Vereinsmitgliedschaften usw.; historische Angaben über Fabrik, Gewerkschaften, Parteien usw.; Bevölkerungsstatistik; Erkundungen durch teilnehmende Beobachtung in Parteien, Zuschneidekurs, Arztsprechstunden, Mädchenturnkurs und Erziehungsberatung. Aus der neueren Feldforschung sind vor allem die zahlreichen Studien von R. Girtler über die verschiedensten Subkulturen zu nennen, von Prostituierten über Polizeibeamte, Stadtstreicher, Wilderer bis zu den Nachfahren des ehemaligen österreichischen Adels. Für die französische Soziologie wurden besonders die Feldforschungen von P. Bourdieu in Algerien wichtig, sowohl methodisch wie theoretisch. Literatur Booth, Charles, 1891-1903: Life and Labour of the People of London, 17 Bde., London.-- Girtler, Roland, 2001: Methoden der Feldforschung, Stuttgart.- - Jahoda, Marie et al., 1960: Die Arbeitslosen von Marienthal, Allensbach/ Bonn.-- Riehl, Wilhelm H. von, 1851-1869: Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, 4- Bde., Stuttgart.- - Sutterlüty, Ferdinand; lmbusch, Peter (Hg.), 2008: Abenteuer Feldforschung. Soziologen erzählen, Frankfurt a. M.- - Whyte, William F., 1943: The Street Corner Society, Chicago (dt. 1996). Günter Endruweit Feldtheorie Die sozialwissenschaftliche Entwicklung der Feldtheorie (engl. field theory) basiert auf der Übertragung der physikalischen Entdeckungen des elektromagnetischen Feldes und des Gravitationsfeldes. Diese natürlichen Felder sind Kraftfelder, innerhalb derer Objekte ihre Positionen durch auf sie einwirkende Kräfte erhalten. Bereits seit Galilei wird die Erde nicht mehr als das Zentrum des Universums verstanden, sondern erhält nach Newton eine relative Position innerhalb eines Systems von Planeten. Die Position wird damit durch die Gravitationskräfte der Planeten bestimmt. Übertragen auf den sozialwissenschaftlichen Bereich bedeutet dies, dass die soziale Position eines Menschen nicht auf das Individuum selbst zurückgeführt werden kann, sondern durch ein soziales bzw. gesellschaftliches Kraftfeld bestimmt wird. Der erste sozialwissenschaftliche Feldbegriff geht auf Kurt Lewin zurück, der ab den 1920er Jahren für seine Sozialpsychologie einen mikrosoziologischen Feldbegriff entwarf. Lewins Ziel bestand darin, mithilfe der Konzeption eines psychologischen Feldes das Verhalten von einzelnen Menschen zu erklären. Demzufolge sind Menschen von einem Kraftfeld umgeben, auf das ihr Verhalten zurückgeführt werden muss (Lewin 1982a: 159). Das den Menschen umgebende Feld besteht für Lewin aus zwei Teilen: der psychologischen Umwelt, also dem Lebensraum oder der sozialen Welt, und der psychologischen Innenperspektive der Person, also ihren inneren Motiven zu einem bestimmten Verhalten, das sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit und den Erwartungen an die Zukunft ergibt (Lewin 1982d: 196 ff., 1982b: 375 ff.). Somit bilden die Person und ihre Umwelt zusammen die beiden Teile eines dynamischen psychologischen Feldes (Lewin 1982c: 294, 1982d: 207). Die Struktur dieses Feldes betrachtet Lewin als dynamisch, weil es aus einer Reihe von gerichteten Kräften besteht, den Vektoren (Lewin 1982e: 68, Vester 2002: 62). Das Verhalten einer Person ergibt sich aus allen zu einem bestimmten Zeitpunkt wirkenden Kräften des psychologischen Feldes. Lewin spricht dabei von einer Konstellation oder Topologie (Lohr 1963: 24 f.). Mit seiner Konzeption des psychologischen Feldes intendiert Lewin zwar vorrangig die Beschreibung der psychologischen Innenperspektive, jedoch denkt er dabei explizit auch das äußere soziale Umfeld einer Person mit (Lewin 1982a: 160, 1982d: 187 ff.). Unter anderem auf der Basis von Lewins Feldkonzeption entwickelte Pierre Bourdieu einen makrosoziologischen Feldbegriff (Bourdieu 1993, 1996). Die theoretische Grundkonzeption des Feldes entwickelte Bourdieu in Auseinandersetzung mit Max Webers Religionssoziologie (Weber 1972: 245- 381, Bourdieu 1986: 156). Weber analysierte darin, dass der Prozess zur Produktion, Reproduktion und Verbreitung religiöser Güter von der sozioökonomischen Entwicklung der Gesellschaft relativ unabhängig verlief, weshalb er den Bereich der Religion als »relativ autonomes religiöses Feld« veranschaulichte (Bourdieu 2000: 53). Bourdieu analysierte im Rahmen seiner Feldtheorie eine Reihe von sozialen Bereichen als Felder. Neben dem religiösen Feld widwww.claudia-wild.de: <?page no="126"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 126 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 127 127 Forschung mete er dem wissenschaftlichen (Bourdieu 1988, 1998) dem künstlerischen (1999) und dem politischen Feld (2001) jeweils eigene Untersuchungen. Zudem übernahm auch Bourdieu für seine Feldkonzeption das physikalische Paradigma, also die Vorstellung des Feldes als Kräftefeld: Entsprechend der Feststellung in der Physik, »dass die Sterne nicht auf einem Gerüst hängen, sondern miteinander ein bewegtes Energiefeld bilden«, ist ein soziales Feld bei Bourdieu nicht einfach ein feststehendes, hierarchisch geordnetes »Klettergerüst« der sozialen Positionen, sondern ein Kräftefeld, das erst durch den Kampf der sozialen Akteur/ innen untereinander zustande kommt (Vester 2002: 63). Soziale Felder erhalten ihre Struktur also erst durch konkurrierende Positionen von Akteur/ innen (Bourdieu 1993: 107). Eine Position auf einem Feld ergibt sich dem zufolge in Relation bzw. Abgrenzung zu anderen Positionen. Damit ist ein Feld »ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen« (Bourdieu 1996: 127). Soziale Felder sind folglich Arenen, in denen Konkurrent/ innen um die Bewahrung und Veränderung der Struktur des jeweiligen Kräftefeldes kämpfen: »Das generierende und vereinheitlichende Prinzip dieses ›Systems‹ ist der Kampf selbst.« (Bourdieu 1999: 368). Zwar nehmen die Kämpfe auf den unterschiedlichen Feldern unterschiedliche Formen an, jedoch besteht die Grundstruktur immer in der feldinternen Auseinandersetzungen zwischen den auf dem Feld Etablierten, den Herrschenden, und den Anwärter/ innen auf die Herrschaft (Bourdieu 1993: 107). Die etablierten Akteur/ innen mit den höchsten Positionen neigen unter den gegebenen Kräfteverhältnissen zum Konservativismus, d. h. zu Erhaltungsstrategien, während die Akteur/ innen mit niedrigen Positionen zu feldinternen Revolutionen und Umsturzstrategien tendieren (Schumacher 2011: 140). Literatur Bourdieu, Pierre, 1986: Der Kampf um die symbolische Ordnung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit A. Honneth, H.-Kocyba und B. Schwibs; in: Ästhetik und Kommunikation 62/ 16.- - Ders., 1988: Homo academicus. Frankfurt a. M.- - Ders., 1992: Rede und Antwort. Frankfurt a. M.- - Ders., 1993: Über einige Eigenschaften von Feldern; in: ders. (Hg.): Soziologische Fragen, Frankfurt a. M., 107-114.- - Ders., 1996: Die Logik der Felder; in: ders; Wacquant, Loïc J. D (Hg.): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M., 124- 147.- - Ders., 1998: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz.-- Ders., 1999: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M.- - Ders., 2000: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz.-- Ders., 2001: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz.- - Lewin, Kurt, 1982a: Feldtheorie des Lernens; in: Graumann, Carl-Friedrich (Hg.): Feldtheorie, Bern/ Stuttgart, 157-185.- - Lewin, Kurt, 1982b: Verhalten und Entwicklung als Funktion der Gesamtsituation; in: Weinert, Franz E.; Gundlach, Horst (Hg.): Psychologie der Entwicklung und Erziehung, Bern/ Stuttgart, 375-448.- - Lewin, Kurt, 1982c: Psychologische Ökologie; in: Graumann (Hg.) [s. o.], 291-312.-- Lewin, Kurt, 1982d: Feldtheorie und Experiment in der Sozialpsychologie; in: Graumann (Hg.) [s. o.], 187-213.- - Lewin, Kurt (1982e): Formalisierung und Fortschritt in der Psychologie; in: Graumann (Hg.) [s. o.], 41-72.-- Lohr, Winfried, 1963: Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe; in: Cartwright, Dorwin (Hg.): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften, Bern/ Stuttgart, 15- 42.- - Schumacher, Florian, 2011: Bourdieus Kunstsoziologie, Konstanz.-- Vester, Michael, 2002: Das relationale Paradigma und die politische Soziologie sozialer Klassen; in: Bittlingmayer, Uwe H. et al. (Hg.): Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus, Opladen, 61- 121.- - Weber, Max, 1972: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen (1921). Florian Schumacher Forschung Forschung (engl. research) ist in den beiden Hälften der empirischen Sozialwissenschaften, der Theorie und der Empirie, die Tätigkeit des Wissenschaftlers im Bereich der Empirie, d. h. die Tätigkeit, durch die er mit objektspezifischen Methoden in der Wirklichkeit Erkenntnisse über sein Objekt sammelt oder auch die Suche »nach Erkenntnissen durch systemische Auswertung von Erfahrungen (›empirisch‹ aus dem Griechischen: ›auf Erfahrung beruhend‹)« (Bortz/ Döring, 5). Damit sind quantitative und qualitative Methoden gleichermaßen gemeint, aber stets grundsätzlich Methoden der Feldforschung, auch in deren Modifikation als Laborforschung, weil es auch in dieser um Erforschung am Erkenntnisobjekt geht, nur eben in einer künstlichen Situation. Ausgeschlossen ist damit die »Schreibtischforschung« (desk research im Gegensatz zu field research), die nur ein Irrtum erregender Ausdruck für Theoriearbeit ist. Diese ist entweder vor der Forschung angesiedelt, wenn es um <?page no="127"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 128 128 Freizeit erste hypothetische Erklärungen der Forschungsfragen geht, oder nach der Forschung, wenn deren Ergebnisse für eine revidierende, nun validere Fassung der Theorie ausgewertet werden; dieser zweite Bereich ist in der Soziologie allerdings bisher völlig unterentwickelt. Damit stehen Theoriekonstruktion und Forschung in den empirischen Sozialwissenschaften in einem untrennbaren Zusammenhang, auch wenn dieser im Wissenschaftsalltag längst nicht immer beachtet wird (Babbie, 35-54; Endruweit, 66-69, 78, 125-128), u. a. auch dadurch nicht, dass Theorien i. d. R. nicht »überprüfungsorientiert« formuliert werden. Der Grundsatz von Forschung als Feldforschung wird nur vermeintlich durchbrochen von Datensammlungsverfahren, die in der Tat am Schreibtisch, jetzt eher am Computertisch angewendet werden, so etwa bei der Inhaltsanalyse. Hierbei ist beispielsweise das eigentliche Forschungsobjekt die Sozialisationspraxis der Adelsfamilien im 17. Jh., die »im Feld« nicht mehr beobachtet oder durch Befragung erforscht werden kann, sondern die z. B. nur aus autobiografischem Material als der Wirklichkeit noch nächster Quelle ermittelt werden kann, gewissermaßen als Interviewersatz, also indirekte Feldforschung. Über die Unterschiede zwischen qualitativer und quantitativer Forschung gibt es viele idealtypische Aussagen (vgl. z. B. die Tabellen bei Lamnek, 244, und Bortz/ Döring, 299-302), die alle einige sehr fragwürdige Elemente enthalten. Ob man quantitativ oder qualitativ vorgeht, hängt nicht zuletzt davon ab, was man einerseits an Daten hat oder haben kann und was man andererseits mit den Daten aussagen will. Wenn Totalerhebungen oder Stichproben unmöglich sind, ist auch quantitative Forschung unmöglich. Wenn man dagegen, wie so oft, aus keiner Theorie eine Hypothese für das ins Auge gefasste Forschungsthema finden kann, ist ein qualitatives Interview manchmal weit aufschlussreicher als jede quantitative Explorationsstudie. Allerdings darf in den Sozialwissenschaften nie vom Teil auf das Ganze geschlossen werden (ebenso nicht vom Ganzen auf ein Teil), weil sie keine den Naturgesetzen entsprechende Erkenntnisse haben. Aber nicht nur zur Hypothesenfindung ist qualitative Forschung brauchbar, sondern auch zur Hypothesenprüfung, wenn es sich um Es-gibt-Hypothesen handelt (Beispiel: Es gibt nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung durch die Vergabe von Mikrokrediten). Je-desto-Hypothesen sind dagegen immer nur mit quantitativer Forschung zu überprüfen. Das hier beschriebene Konzept von Forschung ist am Kritischen Rationalismus orientiert. Daneben gibt es noch andere Auffassungen, etwa in der Kritischen Theorie oder in der marxistischen Soziologie (dazu u. a. Friedrichs, 18-32; Aßmann/ Stolberg, 30-40), die aber in der tatsächlichen Forschung schon immer eine geringe Bedeutung hatten und jetzt eine fast nur noch Historische. Literatur Aßmann, Georg; Stollberg, Rudhart (Hg.), 1979: Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin.- - Babbie, Earl, 1989: The Practice of Social Research, 5. ed., Belmont.- - Bortz, Jürgen; Döring, Nicola, 2006: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, 4. Aufl., Heidelberg.- - Endruweit, Günter, 1997: Beiträge zur Soziologie, Bd. I, Kiel.- - Friedrichs, Jürgen, 1990: Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Aufl., Opladen.- - Lamnek, Siegfried, 1995: Qualitative Sozialforschung, Bd. 1, 3. Aufl., Weinheim. Günter Endruweit Freizeit Freizeit im sozialen Wandel Freizeit (engl. leisure time, free time) im 21. Jh. hat eine andere Qualität als in den Nachkriegszeiten der fünfziger und sechziger Jahre oder den Wohlstandszeiten der siebziger bis neunziger Jahre: Steigende Lebenserwartung auf der einen und sinkende Realeinkommen auf der anderen Seite lassen erwerbsfreie Lebensphasen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Lebensstandardsicherung und soziale Ungleichheiten, Gesundheitserhaltung sowie neue Sinnorientierungen des Lebens jenseits von Konto und Karriere machen den ehemaligen »Wohlstandsfaktor Freizeit« zu einer gleichermaßen ökonomischen wie sozialen Frage: Wie kann die persönliche und gesellschaftliche Lebensqualität auch in politisch und wirtschaftlich schwierigen Krisenzeiten erhalten und nachhaltig gesichert werden? Frei verfügbare Zeit- und Lebensabschnitte werden immer mehr zur Investition in lebenslanges Lernen, in Wohlfühlkonzepte, in Familien- und Nachbarschaftshilfen, aber auch in Unterhaltungs- und Entspannungsprowww.claudia-wild.de: <?page no="128"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 128 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 129 129 Fremdenfeindlichkeit gramme genutzt. Aus dem »Frei von« bezahlter Arbeit wird zunehmend ein »Frei für« eine lebenswerte Zukunft. Das »spart« Geld, aber »kostet« Lebenszeit. Freizeitbegriff Das Freizeitverständnis hat sich grundlegend gewandelt. Quantitativ und qualitativ unterscheidet sich die Freizeit heute von früheren Freizeitformen. Auch gegenwärtig findet Erholung von der Arbeit in der Freizeit statt, aber die Freizeit ist nicht mehr nur - wie in den fünfziger Jahren - Erholungszeit. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat die Freizeit einen eigenständigen Wert bekommen. So vertritt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Auffassung, dass Freizeit in erster Linie eine Zeit ist, in der man tun und lassen kann, was einem Spaß und Freude macht. Aus einem arbeitsabhängigen Zeitbegriff, der Freizeit negativ als Abwesenheit von Arbeit definierte, hat sich ein positives Freizeitverständnis entwickelt: Freizeit ist eine Zeit, in der man für etwas frei ist. Freizeitverhalten Nur auf den ersten Blick verändert sich im Freizeitverhalten nichts. Doch im Zeitvergleich der letzten 50 Jahre hat es fast erdrutschartige Veränderungen gegeben. Die Lieblingsbeschäftigung »Aus dem Fenster sehen« wurde durch das »Fernsehen« ersetzt und »Telefonieren« macht regelmäßige »Verwandtenbesuche« weitgehend entbehrlich. Fest behauptet hat sich dagegen das »Radiohören« als wichtiges Begleitmedium des Freizeitalltags. Die Wirklichkeit des Freizeitverhaltens der Deutschen vermittelt auf den ersten Blick ein ernüchterndes Bild: Die reale Freizeitqualität spielt sich zwischen Medien- und Erlebniskonsum ab. Und gesellschaftlich hoch bewertete Kulturaktivitäten in der Freizeit wie Opern-, Konzert- und Theaterbesuche, Rock-, Pop- und Jazzkonzertbesuche oder Museums- und Kunstausstellungsbesuche rangieren in der Beliebtheitsskala am unteren Ende. Der Medienkonsum ›frisst‹ den größten Teil der Freizeit. Im Westen wie im Osten Deutschlands widmen sich die Bundesbürger am meisten dem Medienkonsum. Tourismus und Erlebnismobilität »Travel« und »Travail«, Reisen und Arbeiten, haben die gleiche Wortwurzel und deuten auf das gleiche Phänomen hin: Der Mensch kann auf Dauer nicht untätig in seinen eigenen vier Wänden verweilen. Noch nie in der Geschichte des modernen Tourismus reisten so viele so viel. Reisen gilt als die populärste Form von Glück. Nach dem Bahn-, Auto- und Flugtourismus steht die vierte Welle der Demokratisierung des Reisens unmittelbar bevor: Trotz globaler Finanz- und Wirtschaftskrisen expandiert der Kreuzfahrttourismus - und die Wachstums-Ära der Billigflieger geht bald zu Ende. Literatur Opaschowski, Horst W., 2008: Einführung in die Freizeitwissenschaft, 5. Aufl., Wiesbaden.-- Carius, Florian; Gernig, Björn, 2010: Was ist Freizeitwissenschaft? , Aachen. Horst W. Opaschowski Fremdenfeindlichkeit Definition Fremdenfeindlichkeit (griech. Xenophobie, engl. xenophobia) bezeichnet ablehnende Einstellungen und aggressive Verhaltensweisen von Personen, die zu e in er Gemeinschaft (»ingroup«, »Wir-Gruppe«) gehören, gegenüber Mitgliedern anderer Gemeinschaften (»outgroup«, »Sie-Gruppe«). Dabei kann die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft real oder vorgestellt sein. Als fremdenfeindlich kann auch jede Weigerung ausgelegt werden, die Mitglieder der anderen Gemeinschaft als gleichwertig anzuerkennen und ihnen die allgemeinen Menschenrechte zu gewähren. Bei der Fremdenfeindlichkeit handelt es sich um eine komplexe Wertorientierung, die einerseits die eigenen kulturellen Praktiken, Werte und Normen als positiv und verbindlich definiert und andererseits die Fremden als bedrohlich und feindlich stigmatisiert. Voraussetzung für die Fremdenfeindlichkeit ist, dass die Zugehörigkeitsmerkmale, z. B. Religionszugehörigkeit, Nationalität, Rassenzugehörigkeit, Sprache, Kultur, regionale Zugehörigkeit etc. von einem Kollektiv negativ markiert und als fremd empfunden werden. Grundlage der Fremdenfeindlichkeit ist der sog. »Ethnozentrismus«, d. h. die <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 130 130 Fremdenfeindlichkeit empfundene Überlegenheit der eigenen kulturellen Werte, Lebensweise, Weltanschauung, Religion, Rasse, Nation, Region und ethnischen Zugehörigkeit. Die Fremdenfeindlichkeit kann gesetzlich verankert und staatlich legitimiert werden, wie z. B. in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. In der Fachliteratur wird zwischen latenter (versteckter) und manifester (offener) Fremdenfeindlichkeit unterschieden. Entwicklung des Begriffs Die Fremdenfeindlichkeit ist ein altes Phänomen. Dieses beruht auf der Erfassung der Welt durch binäre Kategorien, z. B. »gut« und »böse«, »groß« und »klein«, »weiß« und »schwarz«, »unsere« und »fremde« etc. Ursprünglich bedeutete das Wort »Xenophobie« »Angst vor den Fremden«. In der Fachliteratur wird die Bedeutung auf das komplette Spektrum der negativen Einstellungen und Handlungen ausgeweitet. Die ursprüngliche Anwendung des Begriffs fokussierte auf Gruppen und Personen, die außerhalb eines Territorialstaates lebten - die »Ausländer«. Fremdenfeindlichkeit gehört, historisch gesehen, zu den wichtigsten Konflikt- und Kriegsursachen. Prozesse wie Globalisierung und Pluralisierung der Kulturen, sowie die zunehmenden Migrationsbewegungen stellen moderne Gesellschaften vor die Herausforderung, das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen im Alltag zu gestalten. Aus diesem Grund beziehen sich sowohl die analytische Kategorie als auch das Phänomen »Fremdenfeindlichkeit« immer mehr auf Personen und Gruppen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammen, aber innerhalb einer Gesellschaft oder eines Staates leben, z. B. Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund. Sie werden von einzelnen sozialen Gruppen oder von der ganzen Gesellschaft als »anders« oder als »fremd« gekennzeichnet und in ihrer »Fremdheit« benachteiligt. In den modernen kulturpluralistischen Gesellschaften gehört die Fremdenfeindlichkeit zu den wichtigsten Ursachen der Diskriminierung. Eine weitere Anwendung des Begriffs »Fremdenfeindlichkeit« geht über die ethnischen, nationalen und religiösen Dimensionen hinaus. Als »fremd« können Minderheiten, Subgruppen oder Randgruppen empfunden und stigmatisiert werden. Typologisierung der Fremdenfeindlichkeit Der Begriff der Fremdenfeindlichkeit ist definitorisch unscharf. Er umfasst die »Ausländerfeindlichkeit«, die als eine Unterart der Fremdenfeindlichkeit primär auf die nationalen Unterschiede fokussiert: Eine Person wird aufgrund einer realen oder vermuteten nationalen Zugehörigkeit ausgegrenzt und diskriminiert. Vor allem in Einwanderungsgesellschaften verliert das Kriterium Staatsangehörigkeit an Bedeutung. Die fremdenfeindlichen, im Unterschied zu den ausländerfeindlichen, Einstellungen beziehen sich auf Personen, die aufgrund ihres Äußeren, ihre Sprache oder ihre Kultur als »fremd« empfunden werden. In der Forschung gewinnt der Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (engl. »group-focused enmity«) zunehmend an Bedeutung. Dieser Begriff ist umfangreicher und reduziert die feindlichen Einstellungen nicht auf die ethnischen und nationalen Aspekte der Problematik. Vielmehr fokussiert der Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« auf reale oder vorgestellte Gruppenzugehörigkeiten, die folgende Merkmale berücksichtigen: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Behinderten, Islamophobie, klassischer Sexismus, Etabliertenvorrechte, Abwertung von Langzeitarbeitslosen. Der Begriff wurde von W. Heitmeyer und dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld geprägt. Die Formen der Fremdenfeindlichkeit sind unterschiedlich: Sie reichen von verbaler Stigmatisierung (»hate speech«) bis hin zur Ausgrenzung, Vertreibung oder Vernichtung. Determinanten der Fremdenfeindlichkeit Das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit wird von vielen Fachdisziplinen analysiert, unter anderem von der Anthropologie, (Sozial-)Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Medienwissenschaften. Sie machen unterschiedliche Ursachen für die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit aus. In der Forschung wird diskutiert, ob die Fremdenfeindlichkeit auf ein Abwehrmuster, das bei allen Kulturen und Individuen vorhanden und damit universal ist, zurückzuführen ist oder ob sie sozial hergestellt und erlernt wird und damit typisch für einige Gesellschaftsformen und individuelle Problemlagen ist. Die Anthropologie und die Soziobiologie versuchen, die Fremdenfeindlichkeit als eine »natürliche« <?page no="130"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 130 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 131 131 Fremdenfeindlichkeit Reaktion und eine instinkthafte Abwehrhaltung des Individuums gegen Einwirkungen von außen darzustellen und den universalen Charakter der Fremdenfeindlichkeit zu beweisen. Die Sozialpsychologie hingegen betont die Bedeutung der sozialen Anbindung der Individuen für die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit. Klassisch in dieser Hinsicht ist die Kontakthypothese von G. Allport. Nach dieser führt der Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen zum Abbau der Vorurteile und der fremdenfeindlichen Einstellungen. Die Grundlage dieser Hypothese ist die Annahme, dass die fremdenfeindlichen Einstellungen aus Mangel an Information und Interaktion resultieren. Diese Hypothese wird oft diskutiert in den Sozialwissenschaften, denn nicht jeder Kontakt führt nachweislich zum Abbau von Vorurteilen und dadurch zur Reduzierung fremdenfeindlicher Einstellungen. Unter Umständen können Kontakte sogar die fremdenfeindlichen Einstellungen erhöhen. Die Qualität des Kontakts, der (gleiche) Status der Kontaktpartner und die (gemeinsamen) Ziele, die durch den Kontakt verfolgt werden, sind von Bedeutung. Die Psychologie akzentuiert die Bedeutung der »autoritären Persönlichkeit« für die Entstehung fremdenfeindlicher Einstellungen auf individueller Ebene. Die repressiven Einwirkungen der Eltern und der Gesellschaft können zu einer Schwäche der Persönlichkeit führen, die kompensatorisch hierarchische Strukturen sucht und Gewalt billigt. Auch die Pädagogik betont die Bedeutung der Sozialisation für die fremdenfeindlichen Einstellungen: Erlebte Gewalt in der Familie und in den sog. »Peer- Gruppen« wirken in diese Richtung ein. Präventiv können hingegen Bildung und Erziehung sein. Die soziologische Perspektive auf die Fremdenfeindlichkeit betont die Frage nach den sozial-strukturellen Ursachen. Die Zubzw. Abnahme der fremdenfeindlichen Einstellungen hängt u. a. auch von der wirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft ab. Gesellschaften, die wirtschaftlich stabil sind, sind in geringerem Maß fremdenfeindlich. Hingegen erhöhen sich in einer wirtschaftlichen Krise die fremdenfeindlichen Einstellungen. Diese These wird von der sog. »Konkurrenztheorie« unterstützt. Die reale oder empfundene Konkurrenz um knappe Ressourcen (z. B. Arbeitsplätze oder Wohnungen) erhöht die fremdenfeindlichen Einstellungen in einer Gesellschaft. Insgesamt wirkt sich die gesellschaftliche Desintegration, z. B. die Auflösung familiärer Strukturen, Verunsicherung, Perspektivlosigkeit, Verlust verbindlicher Normen auf die fremdenfeindlichen Einstellungen aus und kann als eine Ursache der Fremdenfeindlichkeit angesehen werden. In der soziologischen Forschung wird diskutiert, in wieweit Fremdenfeindlichkeit schicht-, milieu-, und genderspezifisch ist. Die These, dass fremdenfeindliche Einstellungen bei bestimmten sozialen Schichten häufiger vorkommen, ist nicht unumstritten. Auch bei sozial etablierten Schichten sind fremdenfeindliche Einstellungen festzustellen. Besonders im Kontext der sog. »Sarrazin-Debatte« ist die Rede von einem zunehmenden »Extremismus der Mitte«. Umstritten in den Sozialwissenschaften ist die These, dass die Fremdenfeindlichkeit von der Anzahl der Fremden in einer Gesellschaft, von der Dauer ihres Aufenthaltes und von ihrem Aufenthaltsstatus abhängig ist. Es ist lediglich nachgewiesen, dass die öffentliche Wahrnehmung der »Fremden« auf Problemgruppen, z. B. Asylbewerber und Flüchtlinge, fokussiert. Dieses Forschungsthema ist zentral für die Medienwissenschaften. Sie befassen sich mit der diskursiven Konstruktion und mit den Techniken der medialen Darstellung der »Fremdheit«. Ausblick In der öffentlichen Debatte über Fremdenfeindlichkeit wird die These vertreten, dass durch die Demokratisierung und durch die Erhöhung des Lebensstandards die Fremdenfeindlichkeit abnehmen würde. Allerdings zeigt sie sich resistent: Komparative europaweite Studien verdeutlichen, dass die Fremdenfeindlichkeit ein fester Bestandteil der europäischen Gesellschaften ist. Die Zunahme fremdenfeindlicher, insbesondere antisemitischer und homophober, Einstellungen und eine Verschlechterung der Lage der Roma in Osteuropa sind auch nach der EU-Osterweiterung festzustellen. In einer kulturpluralistischen Gesellschaft stellt sich die Frage nach der Begründung der Abgrenzung einer Gruppe als fremd und auch nach dem, aus welcher Perspektive definiert werden kann, was »fremd« ist. Zur gesellschaftlichen und politischen Diskussion steht die Frage, ob eine kulturpluralistische Gesellschaft verbindliche Werte und Normen braucht und welche diese sein sollen. <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 132 132 Führung Literatur Agency for Fundamental Rights, 2007: Bericht über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den Mitgliedstaaten der EU, Wien.- - Ahlheim, Klaus, 2011: Sarrazin und der Extremismus der Mitte. Empirische Analysen und pädagogische Reflexionen, Hannover.- - Allport, Gordon, 1971: Die Natur des Vorurteils, Köln.-- Frindte, Wolfgang (Hg.), 2002: Fremdenfeindliche Gewalttäter, Wiesbaden.-- Heitmeyer, Wilhelm, 2011: Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt a. M.- - Institut für Sozialforschung (Hg.), 1992: Aspekte der Fremdenfeindlichkeit: Beiträge zur aktuellen Diskussion, 5. Aufl., Frankfurt a. M.-- Jäger, Siegfried, 2007: Mediale Barrieren: Rassismus als Integrationshindernis, Münster.- - Möller, Kurt; Schuhmacher, Nils, 2007: Rechte Glatzen: Rechtsextreme Orientierungs- und Szenezusammenhänge-- Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads, Wiesbaden.- - Sommerfeld, Alkje, 2010: Fremdenfeindlichkeit durch Emotionen? Subjektive Deutungsmuster Jugendlicher gegenüber Zuwanderern, Weinheim/ München.- - Willems, Helmut; Steigleder, Sandra, 2011: Jugend in einem marginalisierten Stadtteil: Perspektivlosigkeit, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und interethnische Konflikte, Wiesbaden. Marina Liakova Führung Das Thema der »Führung« (engl. leadership) von Personen genießt in unterschiedlichen Wissenschaften (z. B. Sozial- und Organisationspsychologie, Organisations- und Betriebssoziologie, Betriebswirtschaftslehre) seit längerem besondere Beachtung. Vereinfacht kann Führung als »zielbezogene Einflussnahme auf andere« beschrieben werden (Rosenstiel et al. 1988). Unterschieden wird dabei zwischen einer Führung durch Strukturen (z. B. durch Anreizsysteme oder Vorschriften) und einer Führung durch Menschen. Diese Darstellung fokussiert auf Führung durch Menschen: eine Person versucht, auf andere Personen Einfluss auszuüben, sie zu motivieren oder sie dazu zu bringen, einen Beitrag zum Erreichen eines kollektiven Ziels einer Gruppe oder Organisation zu leisten (vgl. Chhokar et al. 2007; Yukl 2012). Drei Elemente sind deshalb typisch für Führungsdefinitionen: Gruppe, Einfluss und Ziel (Bryman 1992). Alle Führungstheorien verfolgen explizit oder implizit das Ziel, Führungserfolg (z. B. Produktivität der geführten Gruppe, Mitarbeiterzufriedenheit) zu erklären, vorherzusagen und Beeinflussungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Sie unterscheiden sich jedoch in den Bedingungen oder Prozessen, die dabei im Zentrum des Interesses stehen: Klassische Führungstheorien fokussieren auf die Führungskraft (z. B. ihre Eigenschaften, ihr Verhalten). Interaktionale Führungstheorien konzeptualisieren Führung als Wechselspiel zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Neuere Entwicklungen in der Führungsforschung betonen u. a. die soziale Konstruktion von Führung und sozialer Identität im Gruppenkontext (vgl. Kerschreiter et al. 2011). Ein umfassender Überblick über Führungstheorien findet sich bspw. bei Yukl (2012). Klassische Führungstheorien Eigenschaftstheoretische oder personalistische Ansätze: Ein Großteil der Führungsforschung konzentrierte sich bis in die 1960er Jahre auf Persönlichkeitsmerkmale, die für Führungspersonen charakteristisch sind. Dabei wurde implizit angenommen, dass die Fähigkeit, andere zu führen, eine relativ stabile, von Zeit und Situation unabhängige Persönlichkeitsdisposition ist. Ziel war die Identifikation des Eigenschaftsprofils von Führungspersönlichkeiten und, darauf aufbauend, die Erstellung eines idealen Eigenschaftsprofils, das die Auswahl geeigneter Personen für Führungspositionen ermöglichen sollte (bspw. durch den Einsatz von Persönlichkeitstests). Metaanalysen (Judge et al. 2002; Judge et al. 2004) bestätigen zwar positive Zusammenhänge zwischen bestimmten Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Intelligenz) und Kriterien des Führungserfolges, jedoch sind diese Zusammenhänge im kleinen bis mittleren Bereich der Effektgröße und erklären Führungserfolg bei weitem nicht erschöpfend. Verhaltenstheoretische Ansätze: Um den Führungserfolg besser vorhersagen zu können, als dies mit den persönlichkeitsorientierten Ansätzen möglich war, wandten sich zahlreiche Forscher zu Beginn der 1950er Jahre dem Einfluss des Führungsverhaltens auf den Führungserfolg zu. Dabei wurden beobachtbare Führungsverhaltensweisen beschrieben und klassifiziert, mit Hilfe des Konzepts des Führungsstils systematisiert und der Einfluss des jeweiligen Führungsstils für den Führungserfolg untersucht. Aufbauend auf den frühen Arbeiten Kurt Lewins und seiner Schüler (vgl. Lewin et al. 1939) entwickelte die sog. Ohio-Gruppe (Stogdill, Fleishwww.claudia-wild.de: <?page no="132"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 132 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 133 133 Führung man, Hemphill et al.) mit Hilfe von Fragebögen zur Beschreibung des Führungsverhaltens ein Konzept zur Systematisierung des Führungsverhaltens, das zwei voneinander unabhängige Dimensionen des Führungsverhaltens unterscheidet: Mitarbeiterorientierung (engl. consideration), gekennzeichnet durch freundliches und unterstützendes Verhalten den Mitarbeitern gegenüber sowie Interesse am Wohlbefinden der Mitarbeiter zeigend, und Aufgabenorientierung (engl. initiating structure), gekennzeichnet durch eine Ausrichtung des Verhaltens an Zielerreichung und Aufgabenerledigung. Eine neuere Metaanalyse (Judge et al. 2004) bestätigt moderate Beziehungen zwischen Mitarbeiterorientierung sowie Aufgabenorientierung und verschiedenen Kriterien des Führungserfolgs (z. B. Arbeitszufriedenheit, Zufriedenheit mit der Führungskraft, Motivation der Geführten, Effektivität der Führungskraft). Kontingenztheoretische Ansätze: Die Kontingenztheorien ergänzen die bisher genannten Ansätze um verschiedene Aspekte der Situation (z. B. Merkmale der Arbeitsaufgabe, der Mitarbeiter, des Organisationskontexts) und fokussieren auf die Frage, in welchen Situationen welcher Führungsstil besonders erfolgreich ist. Wegbereiter dieser Ansätze war das mittlerweile inhaltlich überholte Kontingenzmodell von Fiedler (1967; Fiedler/ Mai-Dalton 1995), das als erstes Führungsmodell auch Merkmale der Situation berücksichtigt. Hohe bzw. geringe Ausprägungen von drei Situationsmerkmalen (in absteigender Wichtigkeit: Qualität der Führer-Geführten-Beziehung, Positionsmacht, Aufgabenstruktur) ergeben acht unterschiedliche Grade der Situationskontrolle der Führungskraft. Auf Seiten der Führungskraft werden über die Einstellung der Führungskraft zum am wenigsten geschätzten Mitarbeiter (sog. »least preferred coworker«, LPC) mitarbeiterorientierte (vergleichsweise positive Einschätzung des LPC) und aufgabenorientierte (negative Einschätzung des LPC) Führungskräfte unterschieden. Fiedler zufolge sind bestimmte Kombinationen von Situationskontrolle und Führungsstil besonders günstig für den Führungserfolg, was für die meisten Kombinationen auch bestätigt werden konnte, allerdings eher in Laborals in Feldstudien (vgl. Strube/ Garcia 1981; Peters et al. 1985; Schriesheim et al. 1994). Vereinfacht sind mitarbeiterorientierte Führungskräfte in mittelgünstigen Situationen (z. B. gute Beziehung zu den Geführten, eher unstrukturierte Aufgaben und geringe Positionsmacht) erfolgreich, während aufgabenorientierte Führungskräfte eher in sehr ungünstigen (z. B. schlechte Beziehung zu den Geführten, geringe Aufgabenstrukturierung und schwache Positionsmacht) oder sehr günstigen Situationen (z. B. gute Beziehung zu den Geführten, strukturierte Aufgaben und hohe Positionsmacht) erfolgreich sind. Fiedlers Modell ist vielfach kritisiert worden (vgl. im Überblick Brodbeck et al. 2002). Ein bleibender Verdienst Fiedlers ist, die Führungsforschung in eine neue Richtung geführt und die Entwicklung zahlreicher weiterer Kontingenztheorien stimuliert zu haben. Die Weg-Ziel- (engl. path-goal) Theorie von Evans (1970; 1979) und House (1971; House/ Mitchell 1974) spezifiziert, aufbauend auf den Instrumentalitäts- oder Erwartungstheorien der Motivation (z. B. Vroom 1964), unter welchen Bedingungen welches Führungsverhalten motivierend auf die Mitarbeiter wirkt. Je nach Struktur der Aufgabe und Merkmalen der Geführten sollten sich bestimmte Arten der Führung (klassifiziert in unterstützend, direktiv, partizipativ und leistungsorientiert) unterschiedlich auf Motivation und Zufriedenheit der Geführten auswirken. Allerdings kommen Wofford und Liska (1993) in ihrer Metaanalyse zu dem Schluss, dass die Befunde wesentliche Annahmen der Weg-Ziel-Theorie nicht stützen. Die Bedeutung, die der Weg-Ziel-Theorie trotzdem zukommt, gründet sich vor allem auf neue, in dieser Theorie enthaltene Überlegungen, die zur Entwicklung einiger sehr erfolgreicher Führungstheorien führten, z. B. zu der Theorie der Führungssubstitution (Kerr/ Jermier 1978; Kerr/ Mathews 1995), der Theorie der impliziten Führungstheorien (Lord/ Mahler 1991) oder den Theorien über charismatische (House 1977) bzw. transformationale versus transaktionale Führung (Bass 1998). Interaktionale Führungstheorien Diese Gruppe von Führungsansätzen befasst sich mit den wechselseitigen sozialen Einflussprozessen zwischen Führenden und Geführten. Die Grundlagen der Macht nach French und Raven: Im Führungsprozess kommt »Macht« als der Möglichkeit einer Person, auf eine oder mehrere andere Personen Einfluss auszuüben, besondere Bedeutung zu. Die bekannteste Taxonomie der Grundlagen der Macht stammt von French und Raven <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 134 134 Führung (1959), die fünf Arten von Machtgrundlagen unterscheiden: (1.) Belohnungsmacht, (2.) Bestrafungsmacht, (3.) Expertenmacht, (4.) legitimierte Macht und (5.) Identifikationsmacht. Menschen stützen sich nicht notwendigerweise nur auf eine dieser Grundlagen von Macht, sondern können eine oder mehrere Arten der Macht benutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Positive Zusammenhänge mit der Leistung und der Zufriedenheit der Mitarbeiter gibt es bei Führungskräften hinsichtlich Experten- und Identifikationsmacht; die Ergebnisse hinsichtlich der anderen Machtgrundlagen waren bisher uneinheitlich (vgl. Yukl 2012). Auch bei politischen Führern, die zumindest in demokratischen Systemen über legitimierte Macht verfügen, spielt die Identifikationsmacht eine besondere Rolle. Große politische Führer sind immer Identifikationsfiguren, die über die Fähigkeit verfügen, ihre Anhänger zu begeistern und für ihre Ideen zu gewinnen, so dass diese ihnen »freiwillig« folgen. Insgesamt kommt in unserer Gesellschaft der Identifikationsmacht mehr und mehr Bedeutung zu. Als Folge dieser Entwicklung gewinnen Führungsansätze an Beachtung, die die emotionale Beziehung zwischen Führendem und Geführtem thematisieren (z. B. transformationale Führung, charismatische Führung). Die Leader-Member-Exchange (LMX)-Theorie: Als eine der ersten Führungstheorien überhaupt konzentrierte sich die von Graen und Kollegen (Dansereau et al. 1975; Graen/ Uhl-Bien 1995) entwickelte LMX-Theorie auf die wechselseitige Beeinflussung von Führenden und Geführten. Nach der LMX-Theorie entwickelt eine Führungskraft zu jedem Mitarbeiter eine individuelle dyadische Beziehung, weshalb der Ansatz auch als »Führungstheorie der vertikalen Dyadenverbindungen« oder »vertical dyad linkage«-Ansatz bezeichnet wird. Die Qualität dieser dyadischen Beziehung ist der LMX-Theorie zufolge in verschiedenen Führer-Geführten-Dyaden unterschiedlich und wirkt sich nicht nur auf das Verhalten der Führungskraft gegenüber dem Mitarbeiter aus, sondern ist auch entscheidend für die Ergebnisse auf der Ebene von Individuum, Gruppe und Organisation. Empirische Studien bestätigen, dass gute LMX-Beziehungen positiv mit Einstellung und Verhalten der Mitarbeiter zusammenhängen (z. B. Commitment und Leistung, Gerstner/ Day, 1997). Deshalb wird empfohlen, mit allen Mitarbeitern eine gute Beziehungsqualität aufzubauen (Graen/ Uhl-Bien, 1995). Ferner empfehlen Schyns und Day (2010), dass Organisationen und Führungskräfte nach LMX-Excellence streben sollten, das heißt, nach einer guten Beziehungsqualität bei gleichzeitig hoher Übereinstimmung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft in der Bewertung ihrer Beziehung sowie hohem Konsens der Mitarbeiter bezogen auf die Einschätzungen ihrer Beziehung zur Führungskraft. Transaktionale und transformationale Führung: In einer Arbeit über politische Führer verwendete Burns (1978) erstmals den Begriff »transformationale Führung« in Abgrenzung zur sogenannten »transaktionalen Führung«. Transaktionale Führung ist aus Aushandlungsprozessen aufgebaut, d. h. der Führende bringt die Geführten dazu, ein vom ihm gewünschtes Verhalten im Austausch für Belohnungen/ Vorteile, die für die Geführten wertvoll sind, zu zeigen. Damit werden Ziele, Werte und Bedürfnisse des Geführten implizit als gegeben angesehen. Im Unterschied dazu konzentriert sich transformationale Führung auf jene Aktivitäten des Führenden, die in einer Veränderung der Ziele, Bedürfnisse und Ansprüche der Geführten resultieren. Die spezifische Wirkung transformationaler Führung geht damit über das Erbringen von Leistungen im Austausch für Belohnungen hinaus, indem die Geführten durch das Führungsverhalten beispielsweise dazu motiviert werden, sich für höhere Ziele wie eine gemeinsame Vision einzusetzen und nicht nur im Eigeninteresse zu handeln (vgl. Bass/ Steyrer 1995). Bass und Mitarbeiter (Bass 1998; Bass/ Steyrer 1995) haben das Konzept der transformationalen Führung weiterentwickelt und einen standardisierten Fragebogen entwickelt, den »Multifactor Leadership Questionnaire« (MLQ). Dieser differenziert zwischen vier Komponenten transformationaler Führung: (1.) Charisma, (2.) Motivation durch begeisternde Visionen, (3.) Anregung und Förderung von kreativem und unabhängigem Denken und (4.) individuelle Unterstützung und Förderung (vgl. Felfe 2006). Metaanalysen zeigen, dass transaktionale und transformationale Führung mit Erfolgsfaktoren wie Leistung zusammenhängen (Judge/ Piccolo 2004; Lowe et al. 1996). Ferner gibt es Hinweise, dass transformationale Führung über transaktionale Führung hinaus Leistung erklärt (Bass/ Avolio 1993), weshalb empfohlen wird, sowohl transaktional als auch transformational zu führen. Charismatische Führung: Die charismatischen Führungsansätze gehen zurück auf die Konzeptualiwww.claudia-wild.de: <?page no="134"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 134 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 135 135 Führung sierung von Charisma durch Max Weber und umfassen u. a. die Theorie der charismatischen Führung von House (1977) und die charismatische Attributionstheorie von Conger und Kanungo (1987). Charismatische Führung wird enger definiert als transformationale Führung und spezifiziert die Eigenschaften eines idealisierten Führers, wie sie von den Geführten wahrgenommen und dem Führenden zugeschrieben werden (u. a. hohes Machtmotiv, hohe Selbstsicherheit, feste Überzeugung von den eigenen Ideen, ausgeprägte verbale Fähigkeiten). Typische Verhaltensweisen eines charismatischen Führers sind beispielsweise die Artikulation einer ansprechenden Vision, das Einschlagen ungewöhnlicher Wege, um die Vision zu erreichen, die Selbstdarstellung als kompetent und erfolgreich sowie der Ausdruck hoher Erwartungen an und hoher Zuversicht in die Geführten (vgl. Bass 1998). House et al. (1991) untersuchten die Amtszeiten amerikanischer Präsidenten mit verschiedenen Maßen nationaler Effektivität und fanden, dass es eine positive Beziehung zwischen persönlichem Charisma und Effektivität gibt, speziell in Krisensituationen. Insbesondere in der Politik gewinnen Themen v. a. durch die Personen, die sie vertreten, an Kontur. Charismatische politische Führer können daher Entwicklungen beschleunigen (z. B. Martin Luther King, Nelson Mandela). Zum Problem wird das Charisma eines politischen Führers, wenn dieser seinen Einfluss missbraucht und beispielsweise Gefolgschaft für eine menschenverachtende Ideologie erzielt (z. B. Adolf Hitler). Im Vergleich zur zuvor beschriebenen transformationalen Führung fällt bei den Ansätzen zu charismatischer Führung auf, dass diese die Rolle der Geführten und die Effekte, die charismatische Führung auf Mitarbeiter hat (u. a. die Veränderung ihrer Wertesysteme), stärker betonen. Mitarbeiterzentrierte Führungstheorien In den letzten Jahren haben sich einige weitere Führungsansätze und -theorien in der Führungsforschung etabliert, die zentral auf die geführten Mitarbeiter fokussieren und die soziale Konstruktion von Führung in einer Gruppe betonen (vgl. Avolio et al. 2009). Zwei dieser Ansätze werden im Folgenden exemplarisch zusammengefasst. Implizite Führungstheorien: Aufbauend auf dem Konzept der impliziten Persönlichkeitstheorien von Schneider (1973) entwickelten Eden und Leviatan (1975) das Konzept der impliziten Führungstheorien. Dabei handelt es sich um Alltagstheorien über Eigenschaften und Verhaltensweisen von Führungskräften, die situationsspezifisch abgerufen werden, beispielsweise dann, wenn man eine Führungskraft trifft. Lord und Kollegen (Lord et al. 1984) entwickelten eine Kategorisierung von impliziten Führungstheorien, die auf der obersten Ebene Führungskräfte von Nicht-Führungskräften unterscheidet, auf der nächsten Ebene Führungskräfte in verschiedenen Bereichen (z. B. Politik, Wirtschaft), bis hin zu immer spezifischeren Theorien über Führungskräfte. Studien belegen, dass implizite Führungstheorien die Wahrnehmung tatsächlicher Führungskräfte beeinflussen (z. B. Schyns et al. 2007). Insbesondere wenn Führungskräfte von verschiedenen Personen Feedback erhalten, ist dies bedeutsam, weil dieses Feedback durch die jeweiligen impliziten Führungstheorien von Mitarbeitern oder Kollegen verzerrt sein kann. Soziale Identitätstheorie der Führung: In der sozialen Identitätstheorie der Führung (Hogg 2001) kommt der geteilten Gruppenmitgliedschaft von Führungskraft und Geführten besondere Bedeutung zu (Tajfel/ Turner, 1986). Die geteilte Gruppenmitgliedschaft und damit die soziale Identität bilden nach den Annahmen der Theorie die Grundlage für Reaktionen der Geführten auf Einflussbestrebungen durch die Führungskraft: je stärker sich die Geführten mit dem jeweiligen Kollektiv (z. B. Gruppe, Organisation, Nation) identifizieren, desto offener sind sie gegenüber dem Einfluss von solchen Führungskräften, die als prototypisch für die Gruppe wahrgenommen werden, desto mehr bildet also ein spezifischer Gruppenprototyp und nicht etwa ein abstrakter Führungskraftprototyp (vgl. Lord/ Maher 1991) den Bezugsrahmen für die Wirkung von Führung (Hogg 2001). Als prototypisch für eine Gruppe wiederum werden solche Führungskräfte wahrgenommen, die das repräsentieren, was die Gruppenmitglieder gemeinsam haben und was die Gruppe von anderen Gruppen unterscheidet (z. B. bestimmte Werte, Verhaltensweisen, Ziele). Prototypische Führungskräfte verkörpern gewissermaßen die soziale Identität der Gruppe. Zahlreiche Labor- und Felduntersuchungen bestätigen die Grundannahmen der sozialen Identitätstheorie der Führung (vgl. Haslam et al. 2011). Insgesamt wird deutlich, dass neuere Führungsansätze nicht mehr versuchen, Führungserfolg auf <?page no="135"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 136 136 Führung ein einzelnes Merkmal (bspw. ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal oder einen bestimmten Führungsstil) zurückzuführen, sondern sich vermehrt den wechselseitigen Anpassungsprozessen von Person-, Verhaltens- und Situationsvariablen zuwenden und die soziale Konstruktion von Führung in einer Gruppe betonen. Dennoch gibt es bisher keine etablierte, allgemeine Theorie der Führung und Motivation, die die weitgehend getrennten Ansätze in der Führungsforschung integriert. Das von Frey und Mitarbeitern (z. B. Frey et al. 2001) entwickelte Prinzipienmodell der Führung versucht auf der Grundlage sozialpsychologischer Theorien Hinweise zu geben, auf welche Aspekte bei der Entwicklung eines solchen Modells geachtet werden sollte. Literatur Avolio, Bruce J. et al., 2009: Leadership: current theories, research, and future directions; in: Annual Review of Psychology 60, 421-49.-- Bass, Bernard M., 1998: Transformational leadership, Mahwah NJ.- - Ders.; Avolio, Bruce J., 1993: Transformational leadership: A response to critics; in: Chemers, Martin M.; Ayman, Roya (Eds.): Leadership theory and research, San Diego, 49-80.-- Ders.; Steyrer, Johannes, 1995: Transaktionale und transformationale Führung; in: Kieser, Alfred et al. 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C.; Liska, Laurie Z., 1993: Path-goal theories of leadership: A meta-analysis; in: Journal of Management 19, 857-876.- - Yukl, Gary, 2012: Leadership in organizations, 8th ed., Upper Saddle River, NJ. Rudolf Kerschreiter/ Dieter Frey Funktion Funktion (engl. function, lat. functio), ›Tätigkeit‹, ›Verrichtung‹, die Beschreibung einer Leistung, die ein Teil in einem Ganzen, aber auch das Ganze für ein Teil erfüllt, bzw. die Beschreibung einer Abhängigkeit, in der die Variable einer Gleichung oder Ungleichung von einer anderen Variablen steht. Der erste Funktionsbegriff ist teleologisch und betont eine Hierarchie, der Zweite ist mathematisch und betont eine Interdependenz. Man unterscheidet Funktionen und Dysfunktionen. Funktionen dienen der Hierarchie oder Interdependenz, Dysfunktionen sind Störungen der Hierarchie bzw. der Interdependenz. Dysfunktionen können ihrerseits eine funktionale Rolle spielen, wenn sie dazu führen, dass die Hierarchie oder die Interdependenz gegen die Störung verteidigt und so gestärkt werden. Diese Verteidigung wiederum kann dysfunktional werden, wenn sie die Beweglichkeit der Hierarchie oder der Interdependenz angesichts geänderter Umstände einschränkt. Man unterscheidet überdies manifeste und latente Funktionen und Dysfunktionen. Manifeste Funktionen und Dysfunktionen sind allen oder einigen Beteiligten bekannt, möglicherweise auch von ihnen intendiert, latente Funktionen und Dysfunktionen wirken hinter ihrem Rücken, obwohl es auch dann den einen oder anderen Beobachter geben muss, dem sie auffallen, denn andernfalls könnten sie nicht beschrieben werden. In Frage steht, ob manifeste oder latente Funktionen und Dysfunktionen zuverlässiger sind. Stärkt oder schwächt ihre Reflexion die Funktion oder Dysfunktion? Beides ist möglich, da die Reflexion die Engführung fördert, aber auch zu Ausweichverhalten einlädt. In beiden Fällen stellt sich die Frage, wer warum die Engführung fördert und wer sich warum zu Ausweichverhalten eingeladen fühlt. Die funktionale Analyse bewegt sich in diesen Unterscheidungen von Hierarchie und Interdependenz, Funktion und Dysfunktion, Manifestation und Latenz, Beobachter und Akteur. Die unvermeidbare Verwicklung der Beobachtung in ihren Gegenstand führt zu Konfusionen, die in der Anthropologie unter dem Gesichtspunkt des Verstehens und in der Soziologie unter dem Gesichtspunkt der Kritik zu kontrollieren versucht werden. Verstehen heißt, dass die funktionale Analyse den Gegenstand nicht ändern darf, sondern schützen muss, Kritik heißt, dass sie ihn ändern muss, weil man andernfalls mit ihm einverstanden wäre. Die Ideologie beider Positionen ist nur durch eine weitere Ideologie zu korrigieren, die auf der freien Beweglichkeit der Relationen von Teil und Ganzem bzw. der Variablen besteht und sich so des Modernismus verdächtig macht. Kingsley Davis hat die Position vertreten, dass die funktionale Analyse in der Soziologie keine Methode unter anderen ist, die ihre Stärken und Schwächen hätte, sondern dass sie mit dieser Disziplin identisch und dementsprechend heterogen ist. Die funktionale Analyse ist die wissenschaftliche Analyse schlechthin, insofern sie Relationen zwischen Phänomenen herstellt und so das eine aus dem anderen erklärt. Ihre Funktion ist in der Soziologie seit Emile Durkheim die Abwehr reduktionistischer Positionen, die soziale Phänomene auf psychologische oder biologische Determinanten reduzieren, sowie die Abwehr von Positionen, die sich mit der Datensammlung und Beschreibung begnügen, ohne Relationen zu unterstellen und zu testen. Abgelehnt wird der Funktionalismus vor allem von Positionen, die ein Phänomen aus sich heraus verstehen und würdigen wollen, oder auch von Positionen, die sich aus Werturteilen heraus weigern, funktionale Beiträge unerwünschter Phänomene (Armut, Reichtum, Ungleichheit, Korruption, Kriminalität, Krieg) zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen. Teleologie und Mathematik Der teleologische Funktionsbegriff leitet sich von der ›causa finalis‹, der Zweckursache, im aristotelischen Kausalitätsschema ab. Er verweist damit auf ein Ganzes, bei den alten Griechen den Kosmos, die Polis und die Psyche, aus dem heraus der Platz (telos) und damit die Leistung eines Teils zu erklären sind. Eine teleologische Funktion kann entweder perfekt erfüllt oder korrupt verfehlt werden. Sie <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 138 138 Funktion kann überdies von einer ›Regierung‹ in den Funktionszusammenhang wieder eingeführt werden, um ihre Leistung zu bestätigen oder ihr Versagen zu korrigieren. Umgekehrt kann von der ›Kritik‹ angemahnt werden, dass das Ganze seine Aufgabe nicht erfüllt, bestimmte Teile in ihrer Leistungserbringung zu unterstützen. Der mathematische Funktionsbegriff beschreibt seit René Descartes, Gottfried Leibniz und Leonhard Euler eine Abhängigkeit zwischen Variablen y = f(x) derart, dass mithilfe der Funktion »f« die Variable »y« bestimmt werden kann, wenn »x« bekannt ist. Man spricht auch von einem Input »x« in eine Funktion »f(x)«, um den Output »y« errechnen zu können. Solche Funktionen sind die Grundlage eines Kalküls. Im Gegensatz zum teleologischen Funktionsbegriff der Antike, der ontologisch konzipiert ist, das heißt Feststellungen über das Wesen des Seienden trifft (nämlich: Teil eines Ganzen zu sein), ist der mathematische Funktionsbegriff modern, indem er nach der Variation von Variablen in einem Zusammenhang von Abhängigkeiten fragt, die vorab keinen Einschränkungen unterworfen sind, sondern es ermöglichen, nach faktischen Einschränkungen zu suchen und sie unter Umständen aufzulösen. Beide Funktionsbegriffe sind heuristisch fruchtbar, doch der antike Begriff ist auf eine endliche Menge natürlicher Einheiten beschränkt, während der moderne Begriff sich auf eine unendliche Menge auch technisch erweiterbarer Möglichkeiten bezieht. Soziologie Für die theoretische und empirische Arbeit der Soziologie faszinierend ist dabei weniger die Frage nach »x« und »y« als vielmehr die Frage nach »f«. Wer oder was stellt die funktionale Verknüpfung »f« zwischen »x« und »y« her? Worin besteht sie? Wie häufig muss sie vorkommen, um als Verknüpfung aufzufallen? Wie zuverlässig ist sie? Muss man von ihr wissen, damit sie wirkt, oder ist es hilfreich, wenn man nichts von ihr weiß? Und wer muss etwas wissen und wer sollte nichts wissen? Man kann hier Natur und Technik, Akteur und System, Intention und Fatalität, Kultur und Zufall als Formen des Ausbuchstabierens von f unterscheiden, ohne diese Fragen je abschließend beantworten zu können. Vor allem Robert K. Merton und Niklas Luhmann dekonstruieren den Funktionsbegriff im Hinblick auf seine teleologischen Komponenten und plädieren für eine Reduktion auf den mathematischen Funktionsbegriff. Merton kritisiert die bisherigen drei Postulate des Funktionalismus, die darauf hinauslaufen, eine funktionale Einheit der Gesellschaft, eine positive Funktionalität aller sozialen Phänomene und die funktionale Unersetzbarkeit jedes einzelnen Phänomens anzunehmen, und plädiert stattdessen für einen strengen Äquivalenzfunktionalismus, der für jedes soziale Phänomen von einem Variationsspielraum zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Leistungen ausgeht. Merton schlägt vor, zwischen manifesten Funktionen, die Akteuren bekannt sind und von ihnen intendiert werden, und latenten Funktionen, die nur der Beobachter durchschaut, zu unterscheiden, lässt dabei allerdings die Fragen offen, wie Akteure etwas intendieren können, ohne die Funktion zu gefährden, und woraus Beobachter schließen können, dass den Akteuren etwas nicht bewusst ist. Und Luhmann kritisiert die kausalwissenschaftliche Einschränkung eines Funktionalismus, der die Funktion, also Wirkung, eines Phänomens zu dessen Ursache erklärt. Diesem Vorgehen widerspricht, dass die kausale Erklärung in der Moderne einen zeitlichen Richtungssinn erhalten hat, den sie in der eher zirkulären Kosmologie der Antike nicht hatte. Die ›causa finalis‹ gerät damit in die Schwierigkeit, das Vorhergehende aus dem Nachfolgenden zu erklären. Überdies musste man in der Moderne mit dem Abschied von der Ontologie einsehen, dass die Anzahl möglicher Ursachen und Wirkungen unendlich ist. Damit wird die funktionalistische Behauptung invarianter Bedürfnisse, Leistungen und Reziprozitäten problematisch. Die Invarianz kann nicht mehr als die des Forschungsgegenstands behauptet werden, sondern fällt auf den Beobachter und dessen ideologische Voreinstellung zurück. Die funktionale Analyse eröffnet einen Vergleichshorizont von Möglichkeiten, der funktionale Äquivalente und Substitute in den Blick rückt, jedoch nur eingelöst werden kann, wenn eine Struktur, ein Bezugssystem, benannt wird, das die Auswahl der Variationsmöglichkeiten steuert. <?page no="138"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 138 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 139 139 Funktion Literatur Cassirer, Ernst, 1980: Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt (1910).- - Davis, Kingsley, 1959: The Myth of Functional Analysis as a Special Method in Sociology and Anthropology; in: American Sociological Review 24, 757-772.-- Durkheim, Emile: 1895: Les règles de la méthode sociologique, Paris (dt. 1961).- - Luhmann, Niklas, 1962: Funktion und Kausalität; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14, 617-644.-- Malinowski, Bronislaw, 1944: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, Chapel Hill, NC (dt. 2005).- - Merton, Robert K., 1968: Manifest and Latent Functions; in: ders.: Social Theory and Social Structure, revised and enlarged edition, New York, 73-138 (1948).- - Radcliffe-Brown, Alfred R., 1935: On the Concept of Function in Social Sciences; in: American Anthropologist 37, 394-402. Dirk Baecker <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 140 140 Gemeinschaft G Gemeinschaft Als Gemeinschaft (engl. community) werden jene Formen des menschlichen Zusammenlebens bezeichnet, die auf einem primär emotional und/ oder traditional bestimmten Zusammengehörigkeitsgefühl aller Beteiligten beruhen und durch eine zumindest relative Dauer gekennzeichnet sind. Als soziologischer Grundbegriff geht Gemeinschaft auf Ferdinand Tönnies und sein 1887 erstmalig erschienenes Werk ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ zurück. Gemeinschaft bezeichnet Tönnies hier als eine Sozialform, in der die Menschen miteinander verbunden sind auf der Grundlage enger persönlicher und um ihrer selbst willen bejahter Beziehungen. Gemeinschaft beruhe auf der Betonung des Gemeinsamen, auf Verzicht bestimmter Formen der Selbstbehauptung und einzelhafter Ich-Interessen, auf Selbsthingabe, Liebe, Direktheit, Unvermitteltheit, auf der Ausschaltung aller distanzierenden menschlichen und technischen Zwischeninstanzen, kurz: auf Wärme, Nähe, Intimität und Rückhaltlosigkeit. Als typische Formen von Gemeinschaft nennt er die Familie als ›Gemeinschaft des Blutes‹, die Nachbarschaft als ›Gemeinschaft des Ortes‹ und die Freundschaft als ›Gemeinschaft des Geistes‹. Der ›organischen‹ Gemeinschaft stellt er die ›mechanische‹ Gesellschaft gegenüber, die er - gestützt auf die Marxsche Gesellschaftsanalyse - wesentlich durch die Defizite bestimmt, die sie im Vergleich mit der Gemeinschaft aufweise. Gesellschaftlich miteinander verbundene Menschen seien gar nicht wirklich miteinander verbunden. Gesellschaft sei vielmehr ein bloßes Nebeneinander wesentlich getrennter einzelner Individuen, kein echtes, sondern nur ein scheinbares, ein künstliches Zusammenleben, ein mechanischer Artefakt. Gesellschaft beruhe auf Entscheidung, auf Egoismus, auf Begierde und Furcht, auf »vernunftgemäßer Berechnung von Nutzen und Annehmlichkeiten«, kurz: auf einer grundsätzlich »negativen Haltung« (Tönnies 1979: 34). Deshalb überrascht es auch nicht, wenn Tönnies keinen Zweifel daran lässt, dass er Gemeinschaft nicht nur für die ursprünglichere, sondern auch für die höherwertige Sozialform hält und dass »der Begriff der Gesellschaft … den gesetzmäßig normalen Prozeß des Verfalls aller Gemeinschaft« (Tönnies 1925, 71) bezeichne - eine Sichtweise, die in der Geschichte der Soziologie deutliche und vielfältige Spuren hinterlassen hat. Dies gilt nicht nur für die Soziologie der Weimarer Republik, in der zum Beispiel Hans Freyer forderte, die Soziologie müsse nun mithelfen, die gemeinschaftszersetzende industrielle Gesellschaft durch eine »geistige Welt« zu ersetzen, »die Gemeinschaft ermöglichen soll« (Freyer 1930: 245), sondern beispielsweise auch in den sozialphilosophischen Lehren Jürgen Habermas’ mit seiner Unterscheidung von ›System‹ und ›Lebenswelt‹ und den Zeitdiagnosen des - vor allem - angelsächsischen Kommunitarismus. Dieser - geschichtsphilosophisch inspirierten, ›kulturkritischen‹, ja ›kulturpessimistischen‹ - Sichtweise von der Überlegenheit der Gemeinschaft über die Gesellschaft hat Helmuth Plessner in seiner frühen Studie ›Grenzen der Gemeinschaft‹ (1924/ 2002) dezidiert widersprochen. Für Plessner sind Distanz, Indirektheit und Vermitteltheit als Grundrelationen ›gesellschaftlicher‹ Beziehungen keine defizienten, weil künstlichen Modi wie bei Tönnies, sondern in der ›leib-seelischen Konstitution des Menschen‹ selbst begründet. Gesellschaft als Sphäre ›indirekter Direktheit‹, ›natürlicher Künstlichkeit‹, als paradoxer und doppelsichtiger Spielraum des menschlichen Lebens, die der objektivierten Formen des Taktes, des Prestiges und der Zeremonie bedarf, ist für ihn genauso ›natürlich‹ wie Gemeinschaft. Gemeinschaft und Gesellschaft stehen deshalb für Plessner nicht in einer hierarchischen Beziehung, sondern gelten als zwei gleichberechtigte, historisch schon immer vorhanden gewesene Formen des menschlichen Zusammenlebens. Auch Max Weber war bemüht, Tönnies’ dichotomische Begriffsbildung geschichtsphilosophisch zu entschärfen und sie zu de-ontologisieren. In seinen ›Soziologischen Grundbegriffen‹ verwandelt er Gemeinschaft und Gesellschaft in idealtypische Prozessbegriffe und spricht von Formen der ›Vergemeinschaftung‹ und der ›Vergesellschaftung‹. Letztere wird definiert als eine soziale Beziehung, »wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht«, erstere als eine solche, »wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns … auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligen beruht« (Weber 1976, 21). Mit dieser <?page no="140"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 140 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 141 141 Generationen Konzentration auf die Motive des sozialen Handelns kann Weber nicht nur der Frage nach der ›Naturgemäßheit‹ der Sozialformen aus dem Weg gehen, sie ermöglicht es ihm auch, den Begriff der Gemeinschaft - jenseits persönlicher Nahverbände wie der Liebesgemeinschaft, der Familie oder der Freundschaft - auf ›größere‹ Sozialgebilde wie der Nation auszuweiten, die er als ›sekundäre Vergemeinschaftung‹ bezeichnet. Ohne Zweifel lassen sich die Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft auch heute noch gewinnbringend für die Analyse der Formen menschlichen Zusammenlebens einsetzen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass im Zuge von Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozessen die bisherigen ›klassischen‹ Gemeinschaften und Gesellschaften an Attraktivität und Bedeutung verlieren und sich neuartige, weniger verbindliche und nur kurzfristig wirksame Sozialformen ausbilden, in denen sich vor allem das Bedürfnis nach ›authentischen‹ Gemeinschaftserlebnissen situativ Ausdruck verschafft. Manfred Prisching bezeichnet diese Formen als ›temporäre Vergemeinschaftungen‹, Ronald Hitzler spricht in Anschluss an Michel Maffesoli von ›posttraditionalen Vergemeinschaftungen‹. Beiden ist gemeinsam, dass sie Elemente von Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander kombinieren. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sich Individuen oftmals zufällig dafür entscheiden, sich freiwillig und zeitweilig mehr oder weniger intensiv und mehr oder weniger dauerhaft als mit anderen zusammengehörig zu betrachten, mit denen sie nicht nur eine gemeinsame Interessenfokussierung haben oder vermuten, sondern mit denen sie sich - jenseits aller gemeinsamen Interessen - in einer Art von ›Gesinnungsbrüderschaft‹ auch affektuell verbunden fühlen. Konkrete Ausgestaltungen solcher posttraditionalen Gemeinschaften streuen und reichen von (Jugend-) Szenen und ihren Events, über (virtuelle) soziale Netzwerke bis hin zu situativen Event-Vergemeinschaftungen wie flash-mobs oder public-viewingevents, in denen das auf den Moment beschränkte, ekstatische, grenzenlose und deshalb weitgehend unverbindliche, weil folgenlose Gemeinschaftserlebnis im Mittelpunkt steht. Literatur Gebhardt, Winfried, 1999: ›Warme Gemeinschaft‹ und ›kalte Gesellschaft‹. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur; in: Meuter, Günter; Otten, Henrique R. (Hg.): Der Aufstand gegen den Bürger, Würzburg, 165-184.- - Hitzler, Ronald et al., 2008: Zur Einleitung: ›Ärgerliche‹ Gesellungsgebilde? In: Dies. (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften, Wiesbaden, 9-31.-- Freyer, Hans, 1930: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Berlin.-- Maffesoli, Michel, 1996: The Time of the Tribes, Thousand Oaks.- - Plessner, Helmuth, 2002: Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt a. M. (1924)- - Prisching, Manfred, 2009: Das Selbst. Die Maske. Der Bluff, Wien u. a.-- Tönnies, Ferdinand, 1925: Zur Einleitung in die Soziologie; in: Ders.: Soziologische Studien und Kritiken, Bd. 1, Jena, 65-74.- - Tönnies, Ferdinand, 1979: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt (1887).- - Weber, Max, 1976: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen (1922). Winfried Gebhardt Generationen Generation (engl. generation) ist ein schillernder Begriff, der in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht wird. Generell kann man zwischen Gesellschafts- und Familiengenerationen unterscheiden. Gesellschaftsgenerationen Gesellschaftsgenerationen bezeichnet im Sinne des einflussreichen Aufsatzes von Karl Mannheim (1928) Personengruppen, die in einem Zeitraum von wenigen Jahren geboren wurden und sich durch besondere Gemeinsamkeiten auszeichnen. Dabei können generationstypische Erfahrungen wie bedeutende historische Umbrüche zu spezifischen Lebensläufen, Lebensstilen und einem besonderen Generationsbewusstsein führen. Idealerweise unterscheiden sich solche Generationen sowohl von vorherigen als auch von nachfolgenden Geburtsjahrgängen. Damit wäre für bloße Geburtsjahrgänge eher der Kohortenbegriff geeignet. Eine Generation umfasst demnach zwar eine bestimmte Kohorte, eine Kohorte jedoch nicht unbedingt eine Generation. Gesellschaftsgenerationen lassen sich darüber hinaus als politische, ökonomische und kulturelle Generationen konzipieren. Mannheim bezieht sich generell auf politische Generationen und unterscheidet hierbei zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheiten. Eine Generationslagerung betrifft Personen, die zur selben Zeit in derselben historisch-sozialen Lebensgemeinschaft geboren wurden. Daraus kann ein Generationszusammenhang entstehen, also eine Teilnahme <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 142 142 Generationen an den gemeinsamen Erfahrungen dieser Geburtsjahrgänge. Generationseinheiten sind dann Personengruppen mit ähnlichen Ansichten, Zielen und Verhaltensweisen, die innerhalb desselben Generationszusammenhangs durchaus in Widerstreit stehen können. Übertragen auf die sogenannte 68er-Generation würden die in den 1940er Jahren geborenen Westdeutschen einer gemeinsamen Generationslagerung angehören. Ein Generationszusammenhang würde im Kern auf politisch Aktive, vor allem Studierende zutreffen, wobei als Generationseinheiten sowohl die politisch linke außerparlamentarische Opposition als auch der konservative RCDS genannt werden können. Kulturelle Generationen lassen sich durch besondere kulturelle (Lebens-) Erfahrungen, Einstellungen und Stile charakterisieren. Allerdings kann man vielen Generationenetiketten im Sinne kultureller Generationen mit Skepsis begegnen, wenn damit lediglich aktuelle Moden in den Blick genommen werden und kaum langfristige, idealerweise lebenslange Charakteristika bestimmter Kohorten. Ökonomische Generationen schließlich können sich über spezifische ökonomische Chancen und Risiken ergeben, bspw. durch den Arbeitsmarkt oder (Wohlfahrts-) Staat. Hieraus kann eine dauerhafte Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Geburtsjahrgänge resultieren. Weitere Generationenbegriffe beziehen sich auf Einwanderergenerationen (die zumeist über das Geburtsland definiert werden), pädagogische Generationen (Lehrer und Schüler), bevölkerungsstatistisch auf den durchschnittlichen Abstand zwischen Geburtsjahren von Eltern und Kindern sowie auf Technikgenerationen. Alltagssprachlich werden zuweilen auch Altersgruppen als Generationen bezeichnet (z. B. als »junge« oder »alte« Generation), wobei diese Personengruppen zeitlebens nicht derselben Generation angehören. Auch bei Debatten um eine sogenannte »Generationengerechtigkeit« macht es Sinn, zwischen Altersgruppen, Kohorten und Generationen zu unterscheiden. Familiengenerationen Familiengenerationen stellen Generationen im ursprünglichen Sinne dar (»Erzeugung«) und beziehen sich auf Enkel, Kinder, Eltern, Großeltern, usw. Hierfür ist der Generationenbegriff unproblematisch, und einige Autoren schlagen sogar vor, ihn lediglich für die Linienverwandten zu verwenden. In Hinblick auf die sogenannte Generationensolidarität wird untersucht, in welchem Maße Familiengenerationen durch emotionale Bindungen, Kontakte und Unterstützungen miteinander verbunden sind (affektive, assoziative und funktionale Solidarität). Empirische Studien zeigen, dass die Generationenbeziehungen auch nach dem Auszug der erwachsenen Kinder aus dem Elternhaus nicht abbrechen. Vielmehr existieren lebenslang enge Bindungen, häufige Kontakte und vielfältige Unterstützungen, bspw. in Form von Hilfe, Pflege, aktuellen finanziellen Transfers und Vererbungen. Faktoren für einen mehr oder weniger ausgeprägten Generationenzusammenhalt lassen sich mittels Opportunitäts-, Bedürfnis-, familialer und kulturell-kontextueller Strukturen ermitteln. Damit werden individuelle Ressourcen und Bedarf sowie familienbezogene und gesellschaftliche Bedingungen unterschieden, innerhalb derer sich die Generationenbeziehungen ausdrücken und entwickeln (z. B. Sozial-, Wirtschafts- und Steuersystem, Arbeits- und Wohnungsmarkt, Rollen und Normen). Studien belegen bspw. deutliche Länderdifferenzen bei Häufigkeit und Intensität intergenerationaler Unterstützungen. Ein weiterer Forschungsstrang widmet sich Generationenambivalenzen. Hierbei geht es insbesondere um unauflösbare Widersprüche bei Eltern- Kind-Beziehungen, die bspw. in den Spannungsfeldern von Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Autonomie auftreten können (z. B. Lüscher/ Pillemer). Untersucht werden auch Generationenkonflikte (wobei Konflikt, Ambivalenz und Solidarität nicht als Gegensätze erachtet werden müssen), Herausforderungen des demographischen Wandels für sowie Verbindungen zwischen Familien- und Gesellschaftsgenerationen. Generationenbeziehungen sind ein wichtiges Thema zentraler soziologischer Teilgebiete. Hierzu zählen neben der politischen Soziologie und Wohlfahrtsstaatsforschung u. a. die Alters-, Familien-, Geschlechter-, Gesundheits-, Lebenslauf-, Migrations- und Wirtschaftssoziologie. Bedeutsam sind auch Verbindungen mit Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit. Empirische Studien belegen, dass Eltern ihre (erwachsenen) Kinder lebenslang unterstützen, wobei höher gebildete und reichere Eltern hierzu in besonderem Maße in der Lage sind. Die Bandbreite <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 142 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 143 143 Gerechtigkeit reicht vom Bildungserwerb in frühen Lebensjahren bis hin zu Erbschaften in der zweiten Lebenshälfte. Damit zeigt sich ein prekäres Verhältnis zwischen lebenslanger Generationensolidarität und sozialer Ungleichheit. Literatur Höpflinger, François, 1999: Generationenfrage. Konzepte, theoretische Ansätze und Beobachtungen zu Generationenbeziehungen in späteren Lebensphasen, Lausanne.- - Kohli, Martin, 1999: Private and Public Transfers Between Generations; in: European Societies 1, 81-104.- - Künemund, Harald; Szydlik, Marc (Hg.), 2009: Generationen. Multidisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden.-- Lüscher, Kurt; Pillemer, Karl, 1998: Intergenerational Ambivalence. A-New Approach to the Study of Parent-Child Relations in Later Life; in: Journal of Marriage and the Family 60, 413- 425.-- Mannheim, Karl, 1928: Das Problem der Generationen; in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, 157-185 u. 309-330.-- Nauck, Bernhard, 2009: Patterns of Exchange in Kinship Systems in Germany, Russia, and the People’s Republic of China; in: Journal of Comparative Family Studies 40, 255-278.-- Silverstein, Merril; Bengtson, Vern L., 1997: Intergenerational Solidarity and the Structure of Adult Child-Parent Relationships in American Families; in: American Journal of Sociology 103, 429-460.- - Szydlik, Marc, 2000: Lebenslange Solidarität? Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern, Opladen. Marc Szydlik Gerechtigkeit Gerechtigkeit (engl. justice) ist ein Gebot, auf dessen Einhaltung Menschen größten Wert legen. Gerechtigkeitsmaßstäbe werden bei der Beurteilung von Verteilungen von Gütern und Belohnungen, der Zumutung von Belastungen und Strafen, an individuelles Handeln und institutionelle Entscheidungen sowie an Lebenslagen und Schicksale angelegt. Gerechtigkeit spielt insbesondere in Kontexten eine Rolle, in denen Akteure unterschiedliche oder gar gegenläufige Interessen verfolgen. Beispiele sind die Vergütung von Arbeit, der Preis für Waren, die Zahlung von Steuern und Abgaben, die Nutzung begrenzter Ressourcen sowie die Bewahrung der Lebensgrundlage künftiger Generationen. Zu Konflikten kommt es, wenn eine Partei die Verletzung eines Anspruchs wahrnimmt, der aus einem Gerechtigkeitsprinzip abgeleitet werden kann, z. B. den Anspruch auf Gleichbehandlung. Normative Wissenschaften wie die Philosophie streben die Begründung von allgemeingültigen Gerechtigkeitsprinzipien an. Deskriptive Wissenschaften wie die Soziologie interessieren sich dafür, welche Ereignisse und Entscheidungen von Menschen als gerecht oder ungerecht empfunden werden und welche Reaktionen auf Ungerechtigkeit folgen. Soziologische und psychologische Gerechtigkeitstheorien Die Theorie der relativen Deprivation besagt, dass subjektive Benachteiligung weniger durch objektiv schlechte Lebensumstände erzeugt wird als durch enttäuschte Erwartungen, die aus sozialen Vergleichen abgeleitet werden. Relative Benachteiligung im Vergleich zu anderen Mitgliedern der eigenen Gruppe bezeichnet man als egoistische Deprivation, relative Benachteiligung der eigenen Gruppe im Vergleich zu einer anderen Gruppe als fraternale Deprivation. Erwartet, aber nicht in allen Untersuchungen bestätigt wurde, dass egoistische Deprivation primär das Wohlbefinden schädigt, während fraternale Deprivation primär zu Protest führt (Schmitt et al. 2009b). Die Equity-Theorie nimmt an, dass auch ungleiche Verteilungen von Gütern als fair beurteilt werden, wenn sie mit entsprechenden Leistungsunterschieden gerechtfertigt werden können. Vorhersagen der Theorie konnten vor allem im Bereich der Lohngerechtigkeit und der Partnerschaftszufriedenheit bestätigt werden (Walster et al. 1978). Theorie der relativen Privilegierung: Die Equity Theorie sagt vorher, dass außer unverdienten Nachteilen auch unverdiente Vorteile als ungerecht und belastend empfunden werden. Dieser Überlegung folgend konnte entsprechend einer Theorie der Relativen Privilegierung (Montada et al. 1986) in mehreren Untersuchungen gezeigt werden, dass Menschen existentielle Schuldgefühle entwickeln, wenn sie ihre relative Besserstellung nicht rechtfertigen können. Theorien der Verfahrensgerechtigkeit: Außer Verteilungen von Gütern und Lasten sind auch die Verfahren, die zu Verteilungsentscheidungen und anderen, z. B. juristischen Entscheidungen führen, Gegenstand von Gerechtigkeitsurteilen. Verfahren werden als gerecht erlebt, wenn sie den Kriterien der Genauigkeit, Unvoreingenommenheit, Korrigierbarkeit, Konsistenz, Repräsentativität und ethischen Legitimität genügen (Leventhal 1976). <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 144 144 Geschichte der Soziologie Die Gerechtigkeitsmotivtheorie von Lerner (1980) nimmt an, dass Menschen ein Bedürfnis haben, an eine gerechte Welt zu glauben. Wird dieser Glaube durch die Beobachtung einer Ungerechtigkeit bedroht, versuchen Menschen zunächst, diese zu beseitigen, z. B. durch Bestrafung des Täters oder Unterstützung des Opfers. Ist dies nicht möglich, wird Gerechtigkeit jedoch durch eine Umdeutung der Situation wieder hergestellt, z. B. durch Selbstverschuldungsvorwürfe an das Opfer. Individuelle Unterschiede im-Gerechtigkeitserleben Die genannten Theorien beanspruchen, Wahrnehmung von und Reaktionen auf Ungerechtigkeit für alle Menschen gleichermaßen zu beschreiben. In zahlreichen Untersuchungen wurde jedoch gefunden, dass Menschen auf die gleiche gerechtigkeitsrelevante Situation durchaus unterschiedlich reagieren. Erklärbar sind solche Unterschiede damit, dass Menschen unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien bevorzugen (Sabbagh et al. 1994), unterschiedlich stark an eine gerechte Welt glauben (Maes, 1998) und unterschiedlich sensibel für Ungerechtigkeit sind (Schmitt et al. 2009a). Literatur Lerner, Melvin J., 1980: The belief in a just world, New York, NY.-- Leventhal, Gerald S., 1976: Fairness in social relationships; in: Thibaut, John W. et al. (Eds.): Contemporary topics in social psychology, Morristown, NJ, 211-239.- - Maes, Jürgen, 1998: Eight stages in the development of research on the construct of belief in a just world; in: Montada, Leo; Lerner, Melvin J. (Eds.): Responses to victimizations and belief in a just world, New York, NY, 163-186.-- Montada, Leo et al., 1986: Thinking about justice and dealing with one’s own privileges; in: Bierhoff, Hans-Werner et al. (Eds.): Justice in social relations, New York, NY, 125-143.- - Sabbagh, Clara et al., 1994: The structure of social justice judgments; in: Social Psychology Quarterly 57, 244-261.-- Schmitt, Manfred et al., 2009a: Sensibilität für Ungerechtigkeit; in: Psychologische Rundschau 60, 8-22.-- Schmitt, Manfred et al. 2009b: Longitudinal effects of egoistic and fraternal relative deprivation on well-being and protest; in: International Journal of Psychology 44, 1-9.- - Walster, Elaine et al. 1978: Equity. Theory and research, Boston, MA. Anna Baumert/ Manfred Schmitt Geschichte der Soziologie Definition und Vorgehensweise Die Geschichte der Soziologie (engl. history of sociology) beinhaltet den historischen Prozess, in dem sich das soziologische Denken über gesellschaftliche Zusammenhänge und menschliches Sozialverhalten herausgebildet hat. Bei der Geschichte der Soziologie geht es über die reine Ideengeschichte hinaus um die Institutionengeschichte, d. h. um die Formierung des soziologischen Denkens zu einer eigenständigen Fachdisziplin und deren organisatorische Verankerung im Wissenschaftssystem. Die Ideengeschichte lässt sich anhand der in der Soziologie paradigmatisch gewordenen Theorieansätze, empirischen Forschungsmethoden und Zeitdiagnosen nachvollziehen. Hierbei wird den soziologischen Klassikern eine innovative Rolle zugesprochen, da sie instruktive Problemstellungen und Lösungsansätze entwickelt haben, an die nachfolgende Soziologen bis heute anknüpfen (Kaesler 2006a). Wichtige Quellen für die Analyse solcher »hidden points of continuity« (Turner 1999, viii) sind die wissenschaftlichen Werke und persönlichen Aufzeichnungen der Klassiker und auf sie Bezug nehmenden Soziologen. Geht es um die soziologische Institutionengeschichte, wird stärker auf archivierte Dokumente inner- und außeruniversitärer Einrichtungen und für das Fach wichtige Publikationen, wie Fachzeitschriften, Lexika, Lehrbücher und Tagungsdokumentationen zurückgegriffen. Die Geschichte der Soziologie wird von Wissenschaftshistorikern und Soziologen - hier oftmals als ein Gegenstandsbereich der Allgemeinen Soziologie - untersucht und ist inzwischen institutionalisiert. Seit Mitte der 1960er Jahre gibt es spezielle nationale und internationale Publikationsorgane, in denen Studien zur Geschichte der Soziologie regelmäßig veröffentlicht werden, wie der von der International Sociological Association (ISA) ab 1976 herausgegebene ›Research Committee on the History of Sociology‹ Newsletter, oder das ›Jahrbuch für Soziologiegeschichte‹, das in Deutschland seit 1990 erscheint. Wie jede Geschichtsschreibung muss auch die Historiografie der Soziologie eine teleologische Verkürzung und idiosynkratische Verklärung der Vergangenheit systematisch vermeiden. Typische soziologiegeschichtliche Fehlinterpretationen sind die Annahmen einer Ideenkontinuität und eines kumuwww.claudia-wild.de: <?page no="144"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 144 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 145 145 Geschichte der Soziologie lativen Erkenntnisfortschritts. Sie resultieren in der Regel daraus, dass die Geschichte der Disziplin »von hinten aufgerollt wird«, d. h. dass Begriffe, Theoriekonzepte und Fragestellungen der Gegenwart als Projektionsfläche bei der Betrachtung der Vergangenheit benutzt werden. Neben diesem Präsentismus führt auch die Nichtbeachtung sozialer, kultureller und historischer Kontextbedingungen der Theorieproduktion zu systematischen Fehlinterpretationen der Geschichte der Soziologie (Merton 1967; Lepenies 1981). Fundierte Untersuchungen rekurrieren auf die wechselseitige Beeinflussung zwischen Ideen- und Institutionengeschichte. In diesem Zusammenhang wird häufig auf die Einflussnahme von Schulen innerhalb der Soziologie verwiesen. Die Schulen bündeln jeweils Anhänger einer bestimmten soziologischen Theorie bzw. eines Forschungsprogramms. Da sie untereinander um die Deutungshoheit innerhalb der Scientific Community konkurrieren, gestaltet sich die Entwicklung der Soziologie insgesamt als ein dynamischer, von Paradigmenwechseln geprägter Prozess. Angeregt durch Studien (beginnend mit Sorokin 1928) über soziologische Schulen setzt sich seit den 1970er Jahren eine wissenssoziologische Betrachtung der Geschichte der Soziologie durch. Auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind Gegenstand einer solchen Betrachtung. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Soziologie - anders als etwa die Physik oder Chemie - ein- und rückgebunden ist in ihren Untersuchungsgegenstand, d. h. in die von ihr beobachteten gesellschaftlichen Prozesse. Tatsächlich trat die Soziologie in der Vergangenheit häufig mit dem Anspruch auf, als Reflexions- und Krisenwissenschaft der modernen Gesellschaft die sozialen Veränderungen nicht nur adäquat widerzuspiegeln, sondern sie auch wissenschaftlich mitzugestalten. Rückblickend lässt sich konstatieren, dass die gesellschaftliche Reputation der Soziologie als Wissenschaft und die Nachfrage nach soziologischen Erkenntnissen gewissen Schwankungen unterworfen sind. Mal galt sie als moderne Leitwissenschaft und hatte ein sehr hohes Ansehen, mal hatte sie den Status einer Begleitwissenschaft von anderen Gesellschafts-, Sozial- und Humanwissenschaften. Nimmt man das Prestige der Soziologie zum Maßstab, lässt sich ihre Ideen- und Institutionengeschichte durch drei historische Perioden grob nachzeichnen: Anfänge des soziologischen Denkens und Etablierung als Wissenschaft im 19. Jh.; Professionalisierung und Prestigezuwachs in den 1950er und 1960er Jahren; Soziologie als eine multiperspektivische Sozial- und Humanwissenschaft seit den 1970er Jahren. Anfänge der Soziologie und Etablierung als-Einzelwissenschaft Bereits aus früheren Hochkulturen sind Gedanken über das menschliche Zusammenleben überliefert. Man findet sie beispielsweise im Babylonischen Gilgamesch-Epos um 2100-1800 v. Chr. ebenso wie in der Konfuzianischen Lehre aus dem alten China 500 v. Chr. oder der christlichen Bibel. Mit dem Brüchigwerden der traditionalen Feudalordnung in Europa kommt es seit dem 15. Jh. verstärkt zu systematischen Überlegungen zur Herrschaftsausübung (Machiavelli, Hobbes, Hume), zur Arbeitsteilung als Grundlage des gesellschaftlichen Reichtums (Smith), zum gesellschaftlichen Fortschritt (Montesquieu, Turgot, Saint-Simon) und zur Demografie (Quetelet). Soziologische Erkenntnisse im strengen Sinne werden jedoch erst seit Mitte des 19. Jh.s hervorgebracht. Der soziale Wandel (insb. Kapitalismus, Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, revolutionäre Bewegungen, Bildung von Nationalstaaten) lässt sich mit den Wissensbeständen der Geschichts- und Staatswissenschaften, der Ökonomie, Psychologie oder Philosophie nicht angemessen beschreiben und erklären. Die neu aufkommende Denkweise, für die Auguste Comte die Bezeichnung ›Soziologie‹ prägt, lenkt den Blick auf die Gesamtgesellschaft und ihre historischen Entwicklungsstadien. Neben Comte haben zu dieser Zeit auch Karl Marx mit seinem antagonistischen Klassenmodell und Herbert Spencer mit systemtheoretischen Überlegungen das soziologische Denken maßgeblich vorangetrieben. Die drei Theoretiker gelten als die frühen Klassiker der Soziologie. Während sie noch der Idee einer gesetzmäßigen und wissenschaftlich steuerbaren Höherentwicklung der Zivilisation anhängen, konzipieren Ende des 19. Jh.s bis zum 1. Weltkrieg Theoretiker wie Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel die Soziologie als Erfahrungswissenschaft auf der Grundlage einer eigenständigen Begriffs-, Methoden- und Theoriebildung. Die von ihnen untersuchten Phänomene der Individualisierung, gesellschaftlichen Desintegration, Rationalisierung und Geldwirtschaft deuten sie - getragen von einem pessimistischen Zeitgeist - als Krisensymptome der modernen Gesellschaft. <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 146 146 Geschichte der Soziologie In dieser Zeit etabliert sich die Soziologie als akademische Disziplin. Die ersten soziologischen Lehrstühle und Abteilungen an Universitäten werden in den 1890er Jahren in Frankreich und in den USA, etwas später auch in England und Deutschland eingerichtet. Es entstehen nationale Vereinigungen, wie die heute noch existierenden American Sociological Association (1905) und die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (1909). Forschungsprogrammatisch ist die Geschichte der Soziologie bis in die 1940er Jahre hinein stark von länderspezifischen Unterschieden geprägt. In Frankreich erlangt die positivistisch ausgerichtete Durkheim-Schule großen Einfluss, während in Deutschland die Soziologie stärker kulturwissenschaftlich und historisch orientiert ist, bis sie in der NS-Zeit politisch vereinnahmt wird und vollkommen an Bedeutung verliert. Viele jüdische Soziologen emigrieren ins Ausland, darunter die Vertreter der Frankfurter Schule. In den USA gehen wichtige Impulse von der Chicago School aus, die am Pragmatismus George H. Meads anknüpft und wegweisende empirische Untersuchungen zum urbanen Leben in der multiethnischen Großstadt durchführt. Professionalisierung und Prestigezuwachs Mit der 1949 gegründeten ISA wird eine organisatorische Struktur für einen besseren Austausch und eine dauerhafte Vernetzung zwischen den Soziologen aus verschiedenen Ländern geschaffen. Parallel zu dieser Transnationalisierung findet die Soziologie immer stärker Anerkennung als Normalwissenschaft. Talcott Parsons hat daran einen großen Anteil, indem er Ende der 1930er Jahre verschiedene Theorieströmungen der europäischen Soziologie konzeptionell zusammenführt und in der Folgezeit eine Sozialwissenschaft vorantreibt, die mit logisch verknüpften Axiomen (im Sinne eines theoretischen Systems) operiert. Der von ihm und seinen Schülern ausgearbeitete Strukturfunktionalismus wird nach dem 2. Weltkrieg bis in die frühen 1960er Jahre zum dominanten Paradigma innerhalb der Soziologie. Der wirtschaftliche Aufschwung und die damit verbundene Verbesserung der Lebensverhältnisse in den westlichen Nachkriegsgesellschaften wecken ebenso wie die Dekolonialisierung in vielen Regionen der Welt das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Planung und Steuerung der eingeleiteten Modernisierungsprozesse. Nicht nur die gesellschaftliche Nachfrage auch das in dieser Zeit vermehrte universitäre Lehrangebot für Soziologie einschließlich der aufgewerteten empirischen Datenerhebung und -analyse führen schließlich dazu, dass sich diese Wissenschaft zu einer stark professionalisierten, thematisch ausdifferenzierten Disziplin mit hohem Prestige in der akademischen Rangordnung entwickelt. Dies gilt allerdings nicht für die sozialistischen Länder, in denen die Soziologie im Schatten der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft steht. Im Sog der 68er-Bewegung gewinnen marxistische Positionen an Einfluss innerhalb der Soziologie Westeuropas (insbesondere Deutschlands und Frankreichs) und - wenn auch in abgeschwächter Form - der USA. Eine entsprechende Politisierung des Faches macht sich Anfang der 1970er Jahre sowohl in der akademischen Diskurskultur bemerkbar als auch in Stellenbesetzungen und Lehrinhalten an Hochschulen und Universitäten. In dieser Zeit entfaltet die Soziologie eine gewisse Außenwirkung. Ihre Erklärungsansätze und Untersuchungsmethoden werden verstärkt nachgefragt, wenn es um gesellschaftliche Krisenszenarien und soziale Probleme geht. Gemessen an den bereitgestellten Finanzmitteln kommt es zu einem deutlichen Forschungsboom. Die Ausstrahlung der Soziologie ist so groß, dass sich selbst benachbarte Disziplinen wie Linguistik, Kultur- und Geschichtswissenschaften, Psychologie und Kriminologie zu »soziologisieren« beginnen. Soziologie als eine multiperspektivische Sozial- und Humanwissenschaft Obwohl einzelne Vertreter der Soziologie immer wieder eine Einheitswissenschaft anstreben, ist dieses Ideal bislang nicht verwirklicht worden. Selbst in der strukturfunktionalistischen Hochzeit und der politisch aufgeladenen Phase um 1970 firmieren unter dem Dach der Soziologie ein Vielzahl von Ansätzen, Schulen und Methodologien, die nicht immer miteinander kompatibel sind. Teilweise kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Vertretern, wie etwa beim Positivismusstreit Anfang der 1960er Jahre oder im Hinblick auf die seit den 1980er Jahren verstärkt diskutierte Frage, in welcher Moderne wir leben (Spät-, Post-, Zweite Moderne etc.). Seit den späten 1970er Jahren gilt die Pluralität von Theorieschulen und -paradigmen, empirischen <?page no="146"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 146 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 147 147 Geschlechterforschung Forschungsmethoden und Untersuchungsfeldern als ein Markenzeichen der Soziologie. Die Wissenschaft spreizt sich in viele Spezialisierungsrichtungen (»Bindestrich-Soziologien«, spezielle Soziologien) auf und deckt ein großes Spektrum an gesellschaftsrelevanten Themen ab. Stärker als in den Jahrzehnten zuvor wenden sich Soziologen Phänomenen der kulturellen bzw. symbolischen Sinnwelt, der Massenmedien und der alltäglichen Lebenswelt zu. Im Zuge dieses cultural turns gewinnt das interpretative Paradigma an Gewicht, werden elaborierte Methoden der qualitativen Sozialforschung entwickelt, und es entstehen neue Forschungsrichtungen wie bspw. die soziologischen gender oder science studies. Weiterhin gibt es Versuche, die »multiple Paradigmatase« (Luhmann) in der soziologischen Theoriebildung durch grand theories zu überwinden. Zum einen gehen diesbezüglich wichtige Impulse von Theoretikern aus, die ihre jeweilige Konzeption als eine Synthese bestehender (oftmals gegensätzlicher) soziologischer Paradigmen entwickeln. Hierzu zählen vor allem Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns), Pierre Bourdieu (praxeologische Soziologie), Anthony Giddens (Strukturationstheorie) und Jeffrey Alexander (Neofunktionalismus). Andere Soziologen, wie James S. Coleman (Rational Choice Theory), Luhmann (Systemtheorie), Bruno Latour (Actor-Network Theory) grenzen sich schärfer von den Klassikern ab, um eine innovative Wende in der soziologischen Theoriebildung voranzutreiben. Ihr Anspruch ist es, ein Fächer und Disziplinen übergreifendes Forschungsprogramm auf den Weg zu bringen. Es sind aber weniger die abstrakten Großtheorien als vielmehr die Zeitdiagnosen, durch die die Soziologie in den 1980er und 1990er Jahren öffentliche Aufmerksamkeit erlangt - nicht zuletzt die Diagnose der Risikogesellschaft (Ulrich Beck) oder der McDonaldisierung (George Ritzer). Die diagnostizierte Globalisierung wird in den Folgejahrzehnten zum beherrschenden Themenfeld für die Soziologie. Erkennbar wird dies u. a. daran, dass internationale und nationale Kongresse, die als Wegweiser für Forschungstrends fungieren, sehr stark auf Phänomene des globalen Wirtschafts- und Finanzmarktes, Transnationalität, Migration, Multikulturalität sowie massenmediale Kommunikation fokussiert sind. In den letzten Jahrzehnten ist die Soziologie spürbar einer starken Konkurrenz benachbarter Disziplinen ausgesetzt, insbesondere der Wirtschafts-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften. Auch die neu aufkommenden Life Sciences (Neurophysiologie, Hirnforschung, Genforschung, Demografie) fordern den Deutungs- und Erklärungsanspruch der Soziologie in Hinblick auf menschliche Verhaltensweisen heraus. Allerdings steht dem Prestigeverlust, den die Soziologie als akademisches Fach hinnehmen musste, eine verstärkte Nachfrage nach Soziologen und ihrem Know-how in der Politik-, Organisations- und Unternehmensberatung gegenüber. Auf der institutionellen Ebene bleibt die Umstrukturierung der Studiengänge (Bologna-Prozess) nicht folgenlos für die Soziologie als akademisches Fach. An europäischen Universitäten kommt es zur Reduzierung von soziologischen Studiengängen und Instituten bzw. zur Zusammenlegung mit artverwandten Disziplinen. Inwiefern die Soziologie dadurch als akademische Disziplin insgesamt geschwächt ist, wird sich in der Zukunft zeigen. Literatur Bottomore, Tom; Nisbet, Robert (ed.), 1978: A History of Sociological Analysis, London.- - Jonas, Friedrich, 1968: Geschichte der Soziologie, 2 Bde., Reinbek.- - Kaesler, Dirk, 2006: Was sind und zu welchem Ende studiert man die Klassiker der Soziologie? In: Ders. (Hg.): Klassiker der Soziologie, Bd. 1, München, 11-38.-- Lepenies, Wolf (Hg.), 1981: Geschichte der Soziologie, 4 Bde., Frankfurt a. M.-- Merton, Robert K., 1967: On the History and Systematics of Sociological Theory; in: Ders.: On Theoretical Sociology, New York, 1-37.-- Oberschall, Anthony (ed.), 1972: The Establishment of Empirical Sociology, New York.- - Parsons, Talcott et al., 1975: Soziologie- - autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft, Stuttgart.-- Sorokin, Pitirim A., 1928: Contemporary Sociological Theories, New York.-- Turner, Bryan S., 1999: Classical Sociology, London.-- Young, Robert M., 1966: Scholarship and the History of the Behavioral Sciences; in: History of Science 2, 1-41. Uwe Krähnke Geschlechterforschung Definition und Charakteristika Das Wissensfeld der Geschlechterforschung, zunehmend auch Genderforschung in Anlehnung an den englischen Begriff gender research (mit Schwerpunkt auf Lehre: gender studies), lässt sich durch mindestens drei Merkmale charakterisieren: kritische Reflexivität, die Befassung mit dem Gegenwww.claudia-wild.de: <?page no="147"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 148 148 Geschlechterforschung stand Geschlecht bzw. Geschlechterordnung, und Inter- und Transdisziplinarität. Die kritische Reflexivität der Geschlechterforschung besteht zum einen in ihrem Selbstverständnis als Wissenschaftskritik, die sich auf die Epistemologien, Theorien und Methodologien ihrer Herkunftsdisziplinen bezieht und dabei vor allem an die sich als kritisch verstehenden Ansätze anschließt wie Marxismus, Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Diese Kritiken sind inzwischen in die Produktion eigener Epistemologien, Theorien und Methodologien eingemündet. Zum anderen ist die Geschlechterforschung selbstreflexiv: Viele ihrer Protagonistinnen und Protagonisten reflektieren, dass und wie ihr wissenschaftliches Tun durch eine geschlechtshierarchische Gesellschaft und Kultur bedingt ist und welche Auswirkungen dies auf die daraus erwachsenden Epistemologien, Theorien und Methodologien hat. Unverzichtbares Grundtheorem der Geschlechterforschung ist die Kategorie Geschlecht und daran anschließende Begrifflichkeiten. Geschlecht stellt dabei den zentralen Gegenstand der Geschlechterforschung und/ oder ihre Erkenntnisperspektive dar. Der Gegenstand der Geschlechterforschung ist folglich die Bedeutung der Geschlechterunterscheidung in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Die Anwendung von Geschlecht als Erkenntnisperspektive beinhaltet hingegen eine spezifische, durch die Kategorie Geschlecht geprägte Art und Weise zu forschen, die die Geschlechterunterscheidung als bedeutsam für den Erkenntnisprozess ansieht. Beide Ebenen können miteinander verbunden sein, müssen es aber nicht. Schließlich findet sich in der Geschlechterforschung auch eine Hochschätzung von Inter- und Transdisziplinarität, mittels der gegenüber der disziplinären Perspektive eine umfassendere Analyse und Kritik der Bedeutung von Geschlecht erreicht werden soll. Der Begriff Geschlechterforschung wird seit den 1990er Jahren als Sammelbegriff für verschiedene Strömungen der Forschung zu geschlechterbezogenen Fragen verwendet. Insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren wurde Geschlechterforschung als Frauenforschung bzw. women’s research (mit Schwerpunkt auf Lehre: women’s studies) verstanden, deren Gegenstand Frauen, ihre Lebenszusammenhänge und ihre Positionierung in der Geschlechterordnung sind. In Anlehnung an diese Anfänge der Geschlechterforschung und ihre starken Wurzeln in den Befreiungsbewegungen ist häufig auch die Rede von Frauen- und Geschlechterforschung. Feministische Forschung ist demgegenüber explizit normativ auf die Überwindung der Geschlechterhierarchie im Interesse einer Geschlechtergleichheit ausgerichtet und insofern politischen Zielsetzungen verhaftet, die bereits in den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jh.s entwickelt wurden. Die in den 1990er Jahren entstandene queer theory (mit Schwerpunkt auf der Lehre der queer studies) zielt in ihren kritischen Analysen auf normalisierende Praxen und Glaubenssätze rund um Geschlecht, Sexualität und andere »Normalitäten« wie etwa Weißsein oder Nichtbehinderung und begründet damit eine eigene Wissenschaftsrichtung. Die verschiedenen Begriffe für geschlechterbezogene Forschung deuten auf die Heterogenität und Multiperspektivität des damit verbundenen Wissensfelds hin und sind ebenfalls Gegenstand der selbstreflexiven Auseinandersetzungen der Geschlechterforschung. Die theoretischen Auseinandersetzungen mit Geschlecht sind nicht auf einen Nenner zu bringen und werden in der Geschlechterforschung als eine ihrer Stärken gesehen. Entstehungsgeschichte und Entwicklung Die Entstehung und Professionalisierung der Geschlechterforschung ist eng mit der Geschichte der Frauenbewegungen verknüpft, als deren »akademischer Arm« sie häufig auch bezeichnet wird. In Deutschland kämpfte bereits der bürgerliche Flügel der ersten Frauenbewegung seit dem 19. Jh. für die Zulassung von Frauen zum akademischen Studium und zur Wissenschaft als Beruf von Frauen. Dieser Flügel war von intellektuellen Frauen dominiert und entwickelte auch erste Ansätze zur Frauenforschung. Doch erst in den 1970er Jahren, im Zuge der Studentenbewegung und dem Erstarken anderer sozialer Bewegungen, begann sich aus der quantitativ und qualitativ ausgerichteten Kritik der zweiten Frauenbewegungen an den Institutionen Wissenschaft und Hochschule, aber auch aus ihrer Gesellschaftskritik die Frauenforschung bzw. feministische Forschung herauszubilden. Aufgrund der Verknüpfung von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik schlug die neue Forschungsrichtung starke Wurzeln in den Sozialwissenschaften, aber auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Hinzu kam angestoßen durch die in den 1980er Jahren einsetzenden <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 148 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 149 149 Geschlechterforschung Männerbewegungen und die an diese anschließende Männerbzw. Männlichkeitsforschung (englisch men’s studies) die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Männerwelten. Wichtige Anstöße für die Entwicklung und Institutionalisierung der Geschlechterforschung in Form von Forschungsschwerpunkten, -zentren, Professuren und Studiengängen kamen und kommen aus den USA und den angelsächsischen Ländern. Neben dieser in Selbstbeschreibungen der Geschlechterforschung dominierenden Sichtweise auf ihre Entstehung finden sich auch Stimmen, die darauf verweisen, dass die Bedeutung von Geschlecht und damit verbundener Phänomene seit den Anfängen der Sozialwissenschaften zu deren Gegenstandsbereich zählte, da diese Fächer untrennbar mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der Gesellschaftsordnung verknüpft sind. Eine besondere Rolle in der gesellschaftlichen Selbstthematisierung kommt hierbei der Soziologie und insofern auch der soziologischen Geschlechterforschung zu. Von den als Klassikern aus den Anfängen der Disziplin akzeptierten Soziologen beschäftigte sich insbesondere Georg Simmel ausführlich mit geschlechterbezogenen Fragestellungen. Erkenntnisperspektive, disziplinärer Teilbereich oder eigene Disziplin? Aus den verschiedenen Sichtweisen auf die Bedeutung von Geschlecht haben sich idealtypisch betrachtet drei Positionen zum disziplinären Status der Geschlechterforschung im Wissenschaftssystem ausgeprägt, die nebeneinander existieren. Die erste Position beschreibt die Geschlechterforschung als geschlechterbezogene Erkenntnisperspektive innerhalb der bestehenden Wissenschaftsdisziplinen. Demzufolge ist Geschlecht in der Soziologie eine generelle Kategorie, die im Sinne eines Mainstreaming in allen disziplinären Gegenstandsbereichen Anwendung finden muss, also in der Allgemeinen Soziologie, in den diversen Speziellen Soziologien, in der soziologischen Theorienbildung und in der empirischen Sozialforschung. Die als verschieden voneinander und/ oder als asymmetrisch angenommenen Lebensweisen und -lagen der Geschlechter begründen somit die Notwendigkeit, das Phänomen der Geschlechterdifferenz und/ oder -hierarchie in allen soziologischen Erkenntnisprozessen zu berücksichtigen. Demnach wäre jegliche Soziologie, die Geschlecht als Erkenntnisperspektive berücksichtigt, soziologische Geschlechterforschung. Die zweite Position beschreibt die Geschlechterforschung über ihren spezifischen Gegenstand und begründet so einen eigenständigen Teilbereich in der Soziologie, der beispielsweise Geschlechtersoziologie oder Soziologie der Geschlechterverhältnisse genannt wird. Demzufolge sind die Erforschung der Bedeutung von Geschlecht und die als verschieden voneinander und/ oder als asymmetrisch angenommenen Lebensweisen und -lagen der Geschlechter ein ebenso spezieller soziologischer Gegenstand wie etwa Familie, Politik oder Migration, die in der disziplinären Systematik der Soziologie jeweils eigenständige Spezielle Soziologien begründen. Die dritte Position schließlich versteht die Geschlechterforschung als autonom existierende Disziplin, die im Wissenschaftssystem neben der Soziologie und anderen Disziplinen besteht. Demzufolge ist der Gegenstandsbereich Geschlecht der Geschlechterforschung so umfassend, dass er die Herausbildung und Etablierung einer eigenen Disziplin mit einem eigenen Kommunikationszusammenhang, einer eigenen wissenschaftlichen Gemeinschaft und einer eigenen historischen Identität rechtfertigt. Die Koexistenz dieser drei Positionen und die damit verbundenen spezifischen Verortungen der Geschlechterforschung im Wissenschaftssystem belegen die inzwischen hohe Ausdifferenzierung dieses Wissensfelds und verdeutlichen, dass es sich bei Geschlechterforschung nicht um ein einheitliches Paradigma oder etwa eine in sich geschlossene Wissenschaftsrichtung handelt. Geschlecht als soziologische Kategorie In der Geschlechterforschung finden sich idealtypisch gesehen drei Sichtweisen auf das Geschlecht als Kategorie: Geschlecht ist demnach eine Stratifikationskategorie, eine Strukturkategorie und eine Prozesskategorie. Je nach wissenschaftstheoretischem Standort der Forscherin bzw. des Forschers kommt die eine oder andere Sichtweise oder auch eine Verknüpfung der Sichtweisen auf das Geschlecht im wissenschaftlichen Handeln zum Einsatz. In den Sozialwissenschaften wurde das Geschlecht schon vor dem Entstehen der Geschlechterforschung als sozialstatistische Variable bzw. Stratifikationskategorie beachtet und zwar in der Bewww.claudia-wild.de: <?page no="149"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 150 150 Geschlechterforschung schreibung von Verteilungen nach Geschlecht in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen wie Arbeitsmarkt, Familie, Bildung, Kultur und Politik. Geschlecht wurde und wird in dieser Sichtweise weitgehend alltagsweltlich naiv als vermeintlich natürliche Unterscheidung zwischen Frauen und Männern verstanden und dient dem empirischen, i. d. R. quantifizierenden, Nachweis von Phänomenen sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Geschlechterdifferenz, verstanden als Zweigeschlechtlichkeit, steht in dieser Sichtweise nicht in Frage. Neu unter dem Einfluss der Geschlechterforschung in den 1980er Jahren zu den sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen hinzugekommen ist ein Verständnis von Geschlecht als sozialer Strukturkategorie. Hier verweist der Begriff von Geschlecht auf die konstitutive, historisch sedimentierte Verbindung zwischen dem Geschlechterverhältnis und der Gesellschaftsstruktur. Demnach begründet eine bestimmte Form des Geschlechterverhältnisses einen kapitalistisch verfassten Gesamtzusammenhang und wird zugleich durch diesen begründet. Dieser beruht auf einem spezifischen, hierarchischen und durch die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit bestimmten sozialen Verhältnis der Genusgruppen, in dem die private und unentgeltliche Erbringung von Versorgungsleistungen organisiert wird. Die Perspektive von Geschlecht als Strukturkategorie ermöglicht also, die historische Konstitution geschlechtsbezogener Herrschaftsverhältnisse zu analysieren. Die Geschlechterdifferenz gilt hier als gesellschaftlich, kulturell und historisch produziert, wird in ihrer soziokulturellen Ausprägung als Zweigeschlechtlichkeit zumeist aber nicht hinterfragt. Als problematisch gilt in dieser Sichtweise vor allem die mit der Geschlechterdifferenzierung verbundene gesellschaftliche Hierarchisierung der Geschlechter, derzufolge Frauen und Männern gesellschaftlich je unterschiedliche Plätze zugewiesen und durch Sozialisation wie auch entsprechende Institutionalisierungen reproduziert werden. Diese makrosoziologisch orientierte Sichtweise auf Geschlecht, die beispielsweise von Regina Becker-Schmidt, Ursula Beer und Gudrun-Axeli Knapp geprägt wurde, lehnt sich an marxistische Denkweisen an. Neben dieser strukturtheoretischen Sicht findet sich in der Geschlechterforschung auch eine prozesstheoretische Sicht auf das Geschlecht. Der Begriff von Geschlecht als Prozesskategorie lehnt sich an sozialkonstruktivistische Denkweisen an, allen voran an die Ethnomethodologie, in der die Herstellung von Geschlecht und der Zweigeschlechtlichkeit bereits vor dem Aufkommen der zweiten Welle der Frauenbewegungen und der Frauenforschung analysiert wurde, beispielsweise von Harold Garfinkel oder Erving Goffman. Geschlecht ist demnach eine soziale Konstruktion, die in alltäglichen Interaktionen des doing gender immer wieder als unreflektierter Zuschreibungsprozess reproduziert und institutionalisiert wird. Die an diese Sichtweise anschließende mikrosoziologisch orientierte Geschlechterforschung, zu deren Hauptvertreterinnen Carol Hagemann-White, Regine Gildemeister und Angelika Wetterer gehören, setzt sich vor allem mit der Rekonstruktion des »Wie« der Geschlechterkonstruktionen auseinander. Gefragt wird hier auch, ob und inwiefern ein undoing gender möglich ist und ob mehr als zwei Geschlechter denkbar sind. In Anlehnung an die im angelsächsischen Sprachraum übliche Unterscheidung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender, dem sozialen Geschlecht, wird in dieser Sichtweise bspw. von Judith Butler gezeigt, dass sex auch gender ist, also auch die Zweigeschlechtlichkeit eine soziokulturelle Konstruktion ist. Diese auf verschiedene sozial- und geschlechtertheoretische Vorstellungen gründenden Sichtweisen existieren in der Geschlechterforschung nebeneinander. Ergänzend finden sich Versuche einer umfassenden Definition, etwa von Karl Lenz und Marina Adler, die über den herkömmlichen Gegensatz von Makro und Mikro hinausweisen und Geschlecht als Gefüge sozialer Beziehungen verstehen, als Komplex kultureller Leitvorstellungen und Zuschreibungen und als Komplex sozialer Praktiken, die allesamt Körperunterschiede aufgreifen und herausstellen, um eine Differenzierung der Lebensführung, einschließlich der Zuweisung ungleicher Lebenschancen und Ressourcen, zu generieren und zu legitimieren. In diesem Zusammenhang wird in der Geschlechterforschung auch der Begriff der Geschlechterordnung geprägt, der die Gesamtheit des Arrangements der Geschlechter erfasst und ein Stratifikationssystem umschreibt, in dem Frauen und Männer verschiedene Positionen einnehmen, und das die mit ihrem Geschlecht verbundenen Aufgaben und Verhaltensweisen unterschiedlich bewertet bzw. die Lebenschancen von Frauen und Männern beeinflusst. <?page no="150"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 150 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 151 151 Geschlechterforschung Geschlecht als Rolle Trotz einer breiten Kritik ist vor allem in der psychologischen und sozialpsychologischen Geschlechterforschung der Begriff der Geschlechterrollen weit verbreitet. Er beinhaltet die kulturell geteilten Überzeugungen und Normen hinsichtlich der für Frauen und Männer (bzw. Mädchen und Jungen) sozial geteilten typischen und angemessenen Fähigkeiten, Eigenschaften, Motive und Verhaltensweisen. Geschlecht ist demnach eine soziale Rolle, verstanden als Position innerhalb einer Gesellschaft, die mit spezifischen Erwartungen an die Rollenträger und -trägerinnen einhergeht. Diese Erwartungen haben normativen Charakter hinsichtlich der Ausprägungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, z. B. hinsichtlich Identität, Verhalten und Präsentation, und deren Verhältnis, die von beiden Geschlechtern geteilt werden und in der sozialen Praxis wirksam sind. Die Geschlechterrollen erhalten ihre normative Kraft durch Habitualisierung, Institutionalisierung und Inkorporation. Im Vergleich zu anderen spezifischeren und klarer definierten sozialen Rollen (z. B. Lehrerin bzw. Lehrer) gelten Geschlechterrollen als eher diffus, da sie ja für alle Mitglieder einer Gesellschaft gelten und für viele zwischenmenschliche Prozesse von Bedeutung sind. Gemäß den Erwartungen an traditionell komplementäre Geschlechterrollen übernehmen aus rollentheoretischer Sicht Frauen gesellschaftlich die Rolle der Mutter und Hausfrau und regeln die familialen Innenbeziehungen, während Männer die Ernährerrolle übernehmen und die familialen Außenbeziehungen regeln. Dieses Rollenmodell, das die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung abbildet und über den Sozialisationsprozess auf die nachfolgende Generation übertragen wird, wurde bereits in den 1950er Jahren von Talcott Parsons und Robert Freed Bales im Rahmen der Analyse von Interaktionsprozessen in der Familie beschrieben. Die soziale Geschlechterrollentheorie betont, dass Geschlechterrollen das gesellschaftlich vorherrschende Ungleichgewicht von Frauen und Männern in verschiedenen sozialen Rollen widerspiegeln. Neuere Ansätze aus den 2000er Jahren nehmen aber auch an, dass Geschlechterrollen dynamisch sind, insofern als sich Erwartungen an Frauen und Männer ändern können, wenn sich die Geschlechterverteilung in verschiedenen Lebensbereichen verändert. Am Geschlechterrollenmodell kritisiert wird u. a., dass es an individuellen Einstellungen und Meinungen ansetzt und die Ungleichheitsstrukturen zwischen den Geschlechtern ignoriert. Zudem trennt dieses Modell strikt zwischen sex und gender, indem es davon ausgeht, dass die Geschlechterrolle situationsbezogen übernommen, aber auch abgelegt werden kann. Herausforderungen der Geschlechterforschung Eine Herausforderung der Geschlechterforschung entspringt der konstruktivistischen Sicht auf Geschlecht, denn hier wird Geschlecht als soziale, wenn auch wirkmächtige Konstruktion und nicht als soziale Tatsache angesehen. Aus dieser theoretischen Perspektive sieht sich die Geschlechterforschung folglich dem Vorwurf ausgesetzt, eine Geschlechterdifferenz entdecken, ja affirmieren, zu wollen, die selbst als sozial konstruiert zu dechiffrieren wäre. Hinzu kommt eine weitere Herausforderung, die die Arbeit der Geschlechterforschung an und mit der Kategorie Geschlecht bereits seit den 1970er Jahren zunehmend ergänzt um die Forderung nach Berücksichtigung weiterer Kategorien der Differenz und Ungleichheit, von denen vor allem Klasse bzw. Schicht und Milieu für die soziale Dimension und »Rasse« bzw. Ethnie für die kulturelle Dimension genannt werden. Erweitert werden diese Achsen der Differenz und Ungleichheit noch durch ebenfalls einflussreiche andere Kategorien wie Alter und sexuelle Orientierung. Das Zusammenwirken der Kategorie Geschlecht mit anderen Kategorien der Differenz und Ungleichheit wird in der Geschlechterforschung unter dem Stichwort Intersektionalität diskutiert. Diese Erweiterung und wachsende Komplexität der für die Geschlechterforschung originäre, an der Kategorie Geschlecht orientierte Erkenntnisperspektive geht erstens zurück auf kritische Einwürfe von Akteurinnen in diesem Wissensfeld, die die Eindimensionalität der Geschlechterforschung mit ihrer impliziten Orientierung am Weißsein, an der Mittel schichtzugehörigkeit und der Heterosexualität kritisier(t)en. Sie geht zweitens zurück auf Einflüsse aus angrenzenden Wissenschaftsgebieten wie beispielsweise den Cultural, Queer, Critical Whiteness und Postcolonial Studies, die das Zusammenwirken der verschiedenen Differenz- und Ungleichheitskategorien bereits länger in den Blick nehmen, ohne Geschlecht zentral zu setzen. <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 152 152 Gesellschaft In der Geschlechterforschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass durch diese Herausforderungen die Geschlechterforschung nicht obsolet wird. Sie weisen aber darauf hin, dass auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlecht kontingent ist und die Einflüsse anderer, insbesondere sich als kritisch verstehender, Wissenschaftsrichtungen aufzunehmen hat. Will die Geschlechterforschung nicht veralten und so ihr reflexives Potenzial schmälern oder gar einbüßen, ist sie weiterhin aufgefordert, die auf sie einwirkenden und durch sie ausgelösten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen wie die wachsende Komplexität ihres Gegenstands reflexiv zu verarbeiten. Literatur Athenstaedt, Ursula; Alfermann, Dorothee, 2011: Geschlechterrollen und ihre Folgen. Eine sozialpsychologische Betrachtung, Stuttgart.- - Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hg.), 2010: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie-- Methoden-- Empirie, 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden.-- Degele, Nina, 2008: Gender/ Queer Studies. Eine Einführung, München.- - Hark, Sabine, 2005: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a. M.- - Kahlert, Heike, 2005: Wissenschaftsentwicklung durch Inter- und Transdisziplinarität: Positionen der Frauen- und Geschlechterforschung; in: Kahlert, Heike et al.(Hg.): Quer denken-- Strukturen verändern. Gender Studies zwischen Disziplinen, Wiesbaden, 23-60.- - Kahlert, Heike; Weinbach, Christine (Hg.), 2012: Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung- - Einladung zum Dialog, Wiesbaden.- - Lenz, Karl; Adler, Marina, 2010: Geschlechterverhältnisse. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung Bd. 1. Weinheim/ München.- - Lenz, Karl; Adler, Marina, 2011: Geschlechterbeziehungen. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung Bd. 2. Weinheim/ München.- - Lutz, Helma et al. (Hg.), 2010: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, Wiesbaden.-- Villa, Paula-Irene, 2009: Feministische und Geschlechtertheorien; in: Kneer, Georg; Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden, 111-132. Heike Kahlert Gesellschaft Mit dem Begriff der Gesellschaft (engl. society) wird gemeinhin eine alle anderen sozialen Einheiten (Familie, Gemeinde, Unternehmen, etc.) einschließende Gesamtheit bezeichnet, in der Menschen, zumeist innerhalb eines abgegrenzten Raums, zusammenleben. Die im 19. Jh. entstandene Soziologie, die mit diesem Begriff ihren eigenen Gegestand bezeichnete, steht damit in der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition des Nachdenkens über die Ordnung menschlichen Zusammenlebens. Sie verarbeitet jedoch auch den von Th. Hobbes (Leviathan, 1651), J.-J. Rousseau (Du contrat social, 1762), G. W.F. Hegel (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821) und anderen politischen Philosophen der europäischen Neuzeit vollzogenen Bedeutungswandel des Gesellschaftsbegriffs. Insbesondere greift sie die in den Theorien des Gesellschaftsvertrags artikulierte Vorstellung auf, dass sich die Welt - auch die soziale Welt - keiner festen gottgegebenen Ordnung fügt, sondern von Menschen gestaltet und verändert werden kann. Und ferner reflektiert sie die Erfahrungen von Wandel und Entzweiung der sozialen Welt, wie sie in der begrifflichen Scheidung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft artikuliert werden. In erfahrungswissenschaftlicher Wendung des politischphilosophischen Diskurses der Moderne versuchen die Gründungsväter der Soziologie die Frage zu beantworten, wie angesichts menschlicher Autonomie und Individualität und rapidem sozialen Wandel gesellschaftliche Ordnung überhaupt möglich ist. Besonders E. Durkheim stellte den Begriff der Gesellschaft ins Zentrum seiner disziplinären Begründung der Soziologie. In kritischem Bezug auf die v. a. bei A. Comte und H. Spencer anzutreffende organizistische Metapher des Gesellschaftskörpers, seiner Differenzierung und seiner Integration, versuchte Durkheim nachzuweisen, dass auch die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft durch soziale Solidarität, eine bindende Moral und, wie er im religionssoziologischen Spätwerk ausführte, kollektive Repräsentationen zusammengehalten werden kann. Indem er die »organische« Solidarität moderner, hochgradig arbeitsteiliger Gesellschaft von der »mechanischen« Solidarität vormoderner, segmentär organisierter Gesellschaft unterschied, formulierte er eine typologische Unterscheidung, die für die Soziologie insgesamt prägend war. Bei F. Tönnies (Gewww.claudia-wild.de: <?page no="152"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 152 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 153 153 Gesellschaft meinschaft und Gesellschaft, 1887) wird sie zur begrifflichen Gegenüberstellung von einer auf kollektivem »Wesenswillen« basierenden Gemeinschaft und einer auf individuellem »Kürwillen« basierenden Gesellschaft. M. Weber, der die prozessualen Begriffe von »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« einer statischen Begrifflichkeit vorzog, setzte andere Akzente. Er sah die Aufgabe der Soziologie weniger darin, eine umfassende Gesellschaftstheorie zu formulieren, sondern das soziale Handeln von Menschen in sozialen Beziehungen verstehend zu erklären. Nicht die Integration der Gesellschaft steht daher im Mittelpunkt seiner Soziologie, sondern die Analyse sozialer Ordnungen wie Wirtschaft, Herrschaft, Recht oder Religion und deren je eigenlogische Rationalisierung. Ging es Weber primär um das verstehende Erklären historisch bedeutsamer Vorgänge, insbesondere die Entstehung des okzidentalen Kapitalismus, so bestimmte G. Simmel die reinen (räum lichen, zeitlichen, zahlenmäßigen) Formen von Wechselwirkung und Vergesellschaftung als eigentlichen Gegenstand der Soziologie. In seiner neukantianischen Erkenntnistheorie der Gesellschaft beantwortet er die Frage »Wie ist Gesellschaft möglich? « durch die drei Apriori-Bedingungen der verallgemeinerten Wahrnehmung des Anderen, der lückenlosen Wechselwirkung und der Doppelstellung des Individuums in der Gesellschaft als Teil und Nicht-Teil zugleich. Mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen versuchen die soziologischen Klassiker zwischen Individuum und Gesellschaft, Handlungs- und Ordnungstheorie zu vermitteln und damit die Extrempositionen vom Individuum ausgehender Vertragstheorien und des vom Kollektiv ausgehenden Organizismus zu vermeiden. Die bis heute prominenteste Synthese der klassischen Soziologie und ihrer Überlegungen zum Begriff der Gesellschaft stammt von T. Parsons. Als Teil einer funktionalistischen Theorie sozialer Systeme definierte er Gesellschaft als das umfassendste selbstgenügsame Sozialsystem, das im Laufe der gesellschaftlichen Evolution einen Prozess der inneren Differenzierung durchlaufe, aber durch zunehmend generalisierte und von den Einzelnen internalisierte kulturelle Werte integriert werde. Die integrative Funktion des Gesellschaftssystems verortete er dabei im Subsystem der »gesellschaftlichen Gemeinschaft« (societal community), womit er die Tönnies’sche Begriffsopposition zu überwinden und die gemeinschaftlichen Elemente innerhalb der gesellschaftlichen Prozesse anderer Subsysteme, insbesondere Wirtschaft und Politik, herauszuarbeiten versuchte. Mit dem Plausibilitätsverlust von Parsons‹ theoretischer Synthese seit den 1970er Jahren verlor auch das Projekt einer anspruchsvollen Gesellschaftstheorie an Aufmerksamkeit, vor allem in der zunehmend mikrosoziologisch und empirisch orientierten USamerikanischen, aber auch in der europäischen Soziologie. Die Häufung zeitdiagnostisch zugespitzter Komposita-Begriffe (»Risiko-Gesellschaft«, »Multioptions-Gesellschaft« etc.) zeugt ebenso davon, wie die Renaissance der älteren politisch-philosophischen Begriffstradition der »Zivilgesellschaft«, die in den Bürgerrechtsbewegungen der staatssozialistischen Staaten Mitteleuropas eine wichtige Rolle gespielt hat. Prominente Ausnahmen sind die Gesellschaftstheorien von J. Habermas und N. Luhmann. Ersterer hält ausdrücklich an dem Anspruch fest, die Soziologie habe - anders als andere sozialwissenschaftliche Disziplinen wie etwa Politik- oder Wirtschaftswissenschaft - ihre theoretische Energie aufs Ganze der (modernen) Gesellschaft zu richten. Er formuliert eine sprachtheoretisch fundierte Theorie kommunikativen Handelns, auf deren Grundlage er die zunehmende Durchdringung der als Sprachgemeinschaft konzipierten Lebenswelt durch die gesellschaftlichen Systeme von bürokratischem Staat und kapitalistischer Wirtschaft analysiert. Reformuliert Habermas in kritischer Absicht die Tönnies’sche Begriffsopposition, so geht Luhmann, der soziale Systeme streng kommunikationstheoretisch bestimmt, andere Wege. Den Gesellschaftsbegriff definiert er als das umfassendste Sozialsystem, das den Horizont jeglicher anschlussfähiger Kommunikation darstellt und analytisch von mitgliedschaftsbasierten Organisationen und anwesenheitsbasierter Interaktion zu unterscheiden sei. Die Evolution der Gesellschaft sei durch den Wandel der Kommunikationsmedien sowie den Übergang von segmentärer, über stratifikatorische zu funktionaler Differenzierung gekennzeichnet, in dessen Folge die noch von Durkheim und Parsons geteilte Vorstellung normativer Integration an Plausibilität verliere. Die moderne Gesellschaft könne angesichts der Entwicklung elektronischer Verbreitungsmedien und angesichts der Eigenlogik funktional differenzierter Teilsysteme nur noch als »Weltgesellschaft« gedacht werden. Mit dem zuletzt genannten Argument nimmt Luhmann jene gegenwärtig verbreitete Kritik vorweg, wonach die klassische Soziologie einem »methowww.claudia-wild.de: <?page no="153"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 154 154 Gewalt dologischen Nationalismus« unterliegt. Damit ist gemeint, dass das allgemeine und teilweise auch das soziologische Nachdenken über Gesellschaft implizit deren Kongruenz mit dem in der europäischen Neuzeit entstandenen, territorial begrenzten Nationalstaat unterstellt. Der Einfluss dieser impliziten Annahme greift bis in die Organisation statistischer Daten und damit bis in die soziologische Forschungspraxis hinein, wenn Phänomene wie öffentliche Meinung, soziale Schichtung, Integration von Einwanderern etc. stets auf die Einheit einer nationalstaatlich gerahmten Gesellschaft bezogen werden. Angesichts gegenwärtiger Prozesse der Globalisierung und unter dem Eindruck der gewachsenen Sensibilität für die Bedeutung von Kolonialismus und Imperialismus für ein historisches Verständnis der Moderne, verliert diese implizite Unterstellung indessen an Plausibilität. Kritiker des »methodologischen Nationalismus« plädieren daher für ein Begriffsinstrumentarium, das dezidiert quer zu nationalen Räumen steht und deren historische Entstehung daher besser zu erfassen vermag. Manche Soziologen, wie M. Albrow, U. Beck oder A. Giddens folgen dabei Webers Desinteresse an einem umfassenden Gesellschaftsbegriff und stellen auf die Analyse weltumspannender Ordnungen, transnationaler Figurationen und globaler Systeme ab. Andere hingegen versuchen den Begriff der Gesellschaft auf globaler Ebene anzusetzen: N. Luhmanns Gesellschaftstheorie ist hier ebenso zu nennen, wie die stärker empirisch gesättigte neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie von John W. Meyer. Inwieweit Konzepte der Weltgesellschaft noch an den in der politisch-philosophischen Tradition mittransportierten Bedeutungsgehalt von Ordnung und Einheit anschlussfähig sind, ist offen. Dennoch signalisiert die Debatte um Weltgesellschaft ebenso wie die Diskussion um das Entstehen einer »europäischen Gesellschaft« eine Erfahrungslage, die zukünftige soziologische Forschung über Interdependenzen der Menschengesellschaft nicht ignorieren kann. Literatur Chernilo, Daniel, 2007: A Social Theory of the Nation-State, London.-- Durkheim, Emile, 1984: Die Regeln der soziologischen Methode, 6. Aufl., Frankfurt a. M. (1885).- - Elias; Norbert, 1999: Die Gesellschaft der Individuen, 4. Aufl., Frankfurt a. M.-- Göbel, Andreas, 2003: Gesellschaft, Bielefeld.-- Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.- - Ders.; Luhmann, Niklas, 1990: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 2. Aufl., Frankfurt a. M.- - Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme, 14. Aufl., Frankfurt a. M.-- Ders., 1998: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 7. Aufl., Frankfurt a. M.- - Meyer, John W., 2005: Weltkultur. Frankfurt a. M.-- Nassehi, Armin, 2009: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.-- Parsons, Talcott, 1964: The Social System, New York (1951).- - Ders., 2009: Das System moderner Gesellschaften, 7. Aufl., Weinheim (1971).- - Ritsert, Jürgen, 2000: Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt a. M./ New York.- - Schimank, Uwe, 2000: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 2. Aufl., Stuttgart.- - Simmel, Georg, 1991: Soziologie, Frankfurt a. M. (1908).-- Tönnies, Ferdinand, 2005: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt (1887).- - Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen (1922).-- Wobbe, Theresa, 2000: Weltgesellschaft, Bielefeld. Dirk Kaesler/ Matthias Koenig Gewalt Gewalt (engl. violence) ist eine physische oder psychische Verletzung oder deren Androhung. In der kaum noch zu übersehenden Literatur begegnet man den unterschiedlichsten Formen der Gewalt. So unterscheidet man z. B. legitime von illegitimer Gewalt, direkte von indirekter Gewalt, organisierte von spontaner Gewalt, Gewalt gegen Sachen von der Gewalt gegen Personen und personaler von struktureller Gewalt (Schönfeld 1993, Maurer 2004: 15 ff.). Gewalt ist vor allem ubiquitär. Sie hat es immer gegeben und wird es immer geben, was sich schon an dem Begriff der strukturellen Gewalt (Galtung 1975) zeigen lässt, nach der z. B. jede Form sozialer Ungleichheit als Gewalt bezeichnet werden kann. Absolute Gleichheit kann es aber nicht geben, wie schon Durkheim am Beispiel des Nonnenklosters expliziert hat. Trotz der Gelübde von Armut und Frömmigkeit werden doch einige Nonnen frommer sein als andere und sich daraus Macht- und Herrschaftsverhältnisse (Weber 1972) bilden, die immer durch den Besitz und die Anwendung von Gewalt gekennzeichnet sind. Der Begriff »strukturelle Gewalt« ist so allgemein, dass man damit in der wissenschaftlichen Analyse nichts anfangen kann (Claessens 1995: 117). Eine der wichtigsten Ursachen der Gewalt liegt in der Knappheit begehrenswerter Güter. Die Denkfigur, dass der Mensch des Menschen Wolf sei <?page no="154"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 154 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 155 155 Gewohnheit (Hob bes), hat hier ihren Ursprung. Die »Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit« (Weber 1972: 519) war die notwendige Vorbedingung für die Errichtung des modernen Staates. Der Einsatz staatlicher Gewalt unterliegt wiederum rechtlichen Bindungen. Nur so lässt sich das Gewaltmonopol rechtfertigen. Wer aber kontrolliert den Staat? Ein Kennzeichen des modernen Rechtsstaates ist eine Trennung der staatlichen Gesamtgewalt in eine gesetzgebende (legislative), ausführende (exekutive) und in eine rechtsprechende (judikative) Gewalt, um so die gegenseitige Kontrolle zu erhöhen und einer Machtkonzentration entgegenzuwirken. Wann allerdings der Punkt erreicht ist, an dem die Legitimität staatlicher Machtanwendung fraglich ist und ein Widerstandsrecht reklamiert werden kann, ist umstritten. Die Geschichte kennt unterschiedliche Ausformungen. Sie reichen vom Tyrannenmord bis zum »aktiven Pazifismus« (Kobler 1928). Beispiele für die Bundesrepublik: Außerparlamentarische Opposition (APO), Sitzblockaden, Rote Armee Fraktion (RAF), Schottern. In der Entwicklung der Gewalt stellen Heitmeyer und Soeffner (2004: 13) Qualitätssprünge (11. September 2001, Amokläufe an Schulen) sowie eine Re-Theologisierung der Gewalt fest. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Staaten versucht man mit mäßigem Erfolg durch supranationale Organisationen zu vermeiden (Völkerbund, UNO). Die Sehnsüchte der »Menschen nach unverletzter Integrität« und nach einer friedfertigen Welt (Heitmeyer/ Hagan 2002: 17) bleiben ungestillt. Die Soziologie der Gewalt ist sehr ausdifferenziert und faktenreich, aber auch widersprüchlich, weil wenig theoriegeleitet. So ist es z. B. umstritten, ob die Gewalthäufigkeit insgesamt zugenommen hat. Eindeutiger postuliert man einen Anstieg der Jugendgewalt (Greve 1999) und dass rechte Gewalt in Ostdeutschland häufiger sei als in Westdeutschland. Thome und Birkel betten jedoch in ihrem Ländervergleich (Deutschland, England, Schweden) unter Rückgriff auf Durkheimsche Ideen ihre Fragestellungen in einen gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen ein (2007). Literatur Claessens, Dieter, 1995: Macht und Herrschaft; in: Korte, Hermann; Schäfers, Bernhard (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 3. Aufl., Opladen, 111-125.- - Galtung, Johan, 1975: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek.- - Greve, Werner, 1999: Kriminalität und Gewalt in Deutschland; in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 2-3, 95-110.- - Heitmeyer, Wilhelm; Hagan, John (Hg.), 2002: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden.- - Heitmeyer, Wilhelm; Soeffner, Hans-Georg (Hg.), 2004: Gewalt, Frankfurt a. M.- - Kobler, Franz (Hg.), 1928: Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, Zürich/ Leipzig.- - Schönfeld, Gerhard, 1993: Gewalt in der Gesellschaft, Bonn.-- Thome, Helmut; Birkel, Christoph (Hg.), 2001: Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität, Halle.- - Trotha, Trutz von (Hg.), 1997: Soziologie der Gewalt, Opladen/ Wiesbaden.- - Weber, Max, 1972: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen. Heinz Sahner Gewohnheit Gewohnheit (engl. habit) beschreibt die »automatisierte«, unreflektierte Verbindung zwischen Reizkonstellationen und Reaktionsformen auf kognitivem (Wahrnehmungshypothesen, Stereotypien, Vorurteile), affektivem (Angst, Phobien) und konativem (Handlungsmuster, Skripte, Etiketten) Gebiet. Neben dieser qualitativen Unterscheidung kann man auch eine quantitative vornehmen, die sich auf die unterschiedlichen Systemumfänge bezieht: Individual-, Mikro-(Kleingruppe), Meso- (konkrete Organisationseinheit) und Makrosystem (Kultur, Justiz etc. sowie die Gesamtgesellschaft). Man kann damit 3 x 4 = 12 unterschiedliche Gewohnheitsformen differenzieren, die auch alle in der Literatur vorkommen, nur manchmal wird der Gewohnheitsaspekt nicht besonders betont, wie z. B. bei der Betrachtung von Tradition, Sitte und Gebräuchen, aber auch bei Essgewohnheiten, Denkkollektiven (Fleck), kollektiven Repräsentationen nach Durkheim und sozialen Repräsentationen nach Moscovici. Die Gewohnheit ist wissenschaftlich nicht so sehr im Zentrum, weil man vor allem Veränderungen betrachtet, die auffälliger sind. Erst durch die Betrachtung von synchronen Unterschieden werden diese Konstanten, die in der Gewohnheit liegen, erkennbar (Verplanken/ Aarts). Die Gewohnheitsbildung hat mehrere Funktionen: individualsystemisch wirkt sie entlastend, aber macht auch unflexibel; mikrosystemisch ist sie strukturbildend, aber auch konformitätsfördernd; mesosystemisch ist sie kooperationsfördernd, aber <?page no="155"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 156 156 Globalisierung auch bürokratisch; und makrosystemisch fördert sie die Anpassung ohne Repression, aber verhindert auch Innovationen. In der theoretischen Konstruktion finden wir die Gewohnheit auf individuellem Niveau im Behaviorismus als »habit«-Stärke sowie in der Wahrnehmungs- und Einstellungsforschung, z. B. in der Hypothesentheorie der Wahrnehmung und in der Drei-Komponenten-Theorie der Einstellung von Triandis. Dabei ist die Grundlage dieser Ansätze das individuelle Lernen durch Verstärkung. Im Mikrosystem kann man die Interaktionsstrukturen unter dem Aspekt der Gewohnheit betrachten. Die Grundlage ist ein Gesetz des geringsten Aufwandes, so dass sich in einer konkreten Gruppe eine Differenz der Redebeiträge einstellt und so beibehalten wird. Im Mesosystem kann man die Frage der Organisationskultur unter dieser Perspektive betrachten. Die Grundlagen sind Modelllernen und Verstärkungslernen. Unter dem Blickwinkel des Makrosystems kann man z. B. die Wertekonstanz von Gesellschaften und ihre Differenzen untereinander ins Zentrum rücken. Die Grundlagen sind implizites Lernen während der Sozialisation, indem durch Geschichten und Darstellungen Inhalte und Ansichten übernommen werden. Literatur Durkheim, Emile, 1976: Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied (1895).-- Fleck, Ludwik, 1980: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a. M. (1935).-- Moscovici, Serge, 1995: Geschichte und Aktualität sozialer Repräsentationen; in: Flick, Uwe (Hg.): Psychologie des Sozialen, Reinbek, 266-314.- - Verplanken, Bas; Aarts, Henk, 1999: Habit, attitude, and planned behaviour; in: European Review of Social Psychology 10, 101-134.- - Witte, Erich H., 1994: Lehrbuch Sozialpsychologie, 2. Aufl., Weinheim. Erich H. Witte Globalisierung Globalisierung (engl. globalization) lässt sich als weltweite Vernetzung ökonomischer Aktivitäten bezeichnen. Globalisierung ist jedoch ein mehrdeutiger Begriff, mit dem sowohl ein Zustand als auch ein Prozess bezeichnet wird, oft sogar die Folgen der Globalisierung zum Bestandteil der Definition gemacht werden. Vernetzt bzw. internationalisiert sind nicht nur Kapitalströme, sondern auch Arbeitsmärkte, Informationen, Rohmaterial, Management und Organisation. Andere Autoren betonen die Bedeutung von finanz- und unternehmensbezogenen Dienstleistungen, u. a. Versicherungen, Banken, Finanz-Dienstleistungen, Immobilien, Rechtsberatung, Wirtschaftsprüfung und professionelle Vereinigungen (Sassen 1988, 1991). Eine weitere Position ist, die Globalisierung über die Aktivitäten der transnationalen Unternehmen (transnational corporations, TNC) für den Prozess der Globalisierung zu bestimmen. Ihre Investitionen sind es vor allem, die weltweit unterschiedliche Märkte zusammenführen. Das geschieht durch die Verlagerung der Produktion, die Diversifizierung der Produkte und Dienstleistungen und durch Direktinvestitionen in zahlreichen Ländern (Dicken 2011). Die beiden wichtigsten Ursachen sind: 1. die politische Deregulierung nationaler Wirtschaftsmärkte, beginnend mit dem Abkommen von Bretton Woods (1944) und dem GATT-Abkommen von 1947 sowie den folgenden GATT-Runden. Sie ermöglichten sowohl eine steigende internationale Verflechtung der Güter- und Finanzmärkte als auch eine höhere Mobilität des Kapitals; 2. die modernen Transport- und Kommunikationsmittel, die eine Übermittlung von Nachrichten praktisch in Echtzeit ermöglichen, ferner die historisch niedrigen Transportkosten. Zu den wichtigsten Folgen der Globalisierung zählen: a) die Deregulierung nationaler Märkte; b) die Senkung von Lohn- und Lohnnebenkosten, was wiederum zu einer Verringerung wohlfahrtstaatlicher Leistungen führt; c) die Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigeren Löhnen; d) die durch Fusion von Unternehmen und transnationale Unternehmen (TNU) steigende Tendenz zu Oligopolen; e) verstärkter Standortwettbewerb zwischen großen Städten; f ) sinkender Handlungs- und Regulierungsspielraum nationaler Regierungen (»Denationalisierung«); g) steigender Druck, supranationale Institutionen zu schaffen, um den Wettbewerb zu regulieren; h) steigende Internationalisierung der Kultur und der Unterhaltungsindustrie, z. B. Filme, Bücher; i) veränderte persönliche Identitäten durch globale und lokale Zugehörigkeit (»Hybridkultur« und »Glokalisierung«); j) steigende Konzentration <?page no="156"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 156 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 157 157 Grounded Theory unternehmensbezogener Dienstleistungen in wenigen Städten, den »global cities«. Literatur Altvater, Elmar; Mahnkopf, Brigitte, 1997: Grenzen der Globalisierung, Münster.- - Dicken, Peter, 2011: Global Shift. The Internationalization of Economic Activity, 6. Aufl., New York/ London.- - Friedrichs, Jürgen, 1997: Globalisierung- - Begriff und grundlegende Annahmen; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33/ 34, 3-19.-- Mayer, Tilman et al., 2011: Globalisierung im Fokus von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden.-- Sassen, Saskia, 1988: The Mobility of Labor and Capital. A Study of International Investment and Labor Flow, Cambridge, MA.- - Sassen, Saskia, 1991: The Global City, Princeton, NJ. Jürgen Friedrichs Grounded Theory Die Grounded Theory oder Grounded Theory- Methodologie ist ein methodologischer Ansatz, zugleich eine Auswertungsmethode innerhalb der qualitativen Sozialforschung, die ab den 1960er Jahren von B. Glaser und A. Strauss (später von A. Strauss/ J. - Corbin) entwickelt wurde mit dem Ziel, empirische Forschung und in ihr gründende Theoriebildung (daher der Name) zu verknüpfen. Theorien werden also nicht aufgestellt und dann empirisch überprüft, sondern bereits die Theoriebildung wird mit empirischer Fundierung verschränkt. Vorgehen der Grounded Theory: • Vielfältige Formen der Datenerhebung • Theoretisches Sampling • Datenauswertung durch Kodieren: offen, axial, selektiv • Erstellen von Konzepten/ Kategorien durch Vergleiche und Fragen, flankiert durch die Erstellung von Memos • Theoretische Integration der Forschungsschritte Zentrale Elemente Ausdrücklich ist eine vielfältige Datenbasis erwünscht, z. B. Beobachtungsprotokolle, offene Interviews, Dokumente. Es werden jedoch nicht erst alle Daten erhoben und dann ausgewertet, sondern schon mit Hilfe der ersten Materialien formuliert der Forscher heuristische Hypothesen zu seiner Fragestellung, die ihn dann anleiten, weitere Situationen, Konstellationen etc. gezielt zu erheben, die die Hypothesen prüfen bzw. hinterfragen und erweitern können. Diese theoriegeleitete Fallauswahl bezeichnet man als Theoretisches Sampling. Die Hypothesenerstellung und ihre Prüfung auf Robustheit (am Fall und im Fallvergleich), damit ein Zusammenspiel von induktivem und deduktivem Vorgehen, erfolgen durch drei Formen des Kodierens, im Idealfall durch eine Gruppe von Forschern durchgeführt: 1. Das offene Kodieren in Form einer extensiven sequentiellen Analyse (Wort für Wort oder Zeile für Zeile) dient der Erstellung erster theoretischer Konzepte, z. B. »Ablehnung des früheren Lebensstils« bei einer Studie über Krebskranke (Corbin 2010). 2. Das axiale Kodieren ist auf Kategorien (abstraktere Konzepte) und Verknüpfungen zwischen ihnen ausgerichtet. Das Kodierparadigma, wonach Prozesse nach Bedingungen, Handlungsstrategien und Konsequenzen zu kodieren sind, bietet hier eine Hilfestellung. 3. Beim selektiven Kodieren wird systematisch nach einer Schlüsselkategorie kodiert, die die Analyse herausgearbeitet hat, so dass sich viele Einzelbefunde allmählich zu einem Ergebnis verdichten. Wichtige Forschungsstrategien bestehen in diesem Prozess darin, Fragen an das Material zu stellen und Vergleiche vorzunehmen, um über den Einzelfall hinaus zu abstrakteren Kategorien zu gelangen. Im obigen Beispiel könnte der Forscher z. B. gezielt nach dem Fall eines Krebskranken suchen, der seinen früheren Lebensstil nicht ablehnt, sondern anders (wie? ) mit der Krankheit umgeht und im Vergleich die Gründe dafür analysieren. Formal dient dabei das Erstellen von Memos dazu, den Prozess der Theoriegenerierung zu fördern, zu dokumentieren und zu reflektieren. Am Ende steht die Formulierung theoretischer Erklärungszusammenhänge, z. B. verschiedene Typen des Umgangs mit schweren Krankheiten mitsamt entsprechenden Bedingungskonstellationen ihres Vorkommens (Aussagen über Häufigkeitsverteilungen streben qualitative Methoden demgegenüber nicht an). Einen Abschluss findet die Datenerhebung bei theoretischer Sättigung, wenn weitere Daten also keine neuen Konzepte mehr hervorbringen. Stärken und Schwächen Eine Stärke des Ansatzes besteht darin, im Idealfall komplexe Phänomene beschreiben und erklären zu <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 158 158 Gruppe können, dabei auch im Gegensatz z. B. zu einer Inhaltsanalyse nicht nur zu klassifizieren, sondern Sinnstrukturen in ihrem Kontext zu rekonstruieren. An Grenzen stößt die Methode dadurch, dass sie hohe Ansprüche an den Forscher stellt, insofern die kreative Theorieentwicklung nur schwierig als Technik erlernbar ist. Dieses Problem wird auch durch Kodierungen unterstützende Software (z. B. AT- LAS/ ti oder MAXQda) nicht gelöst. Literatur Im Überblick: Corbin, Juliet, 2010: Grounded Theory; in: Bohnsack, Ralf et al. (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung, 3. Aufl., Opladen, 70-74.- - ausführlicher mit Beispiel: Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika, 2010: Qualitative Sozialforschung, 3. Aufl., München, Kap. 5.1.- - Strauss, Anselm; Corbin, Juliet, 1996: Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim. Nicole Burzan Gruppe Wir alle leben normalerweise von Geburt an in Gruppen (engl. group). Gruppen prägen unser Verhalten in fast allen Lebensbereichen. Selbst wenn keine anderen Personen anwesend sind, überlegen wir uns nicht selten, was andere über uns denken und wie wir auf andere wirken. Der homo sapiens ist ein Gruppenmensch. Die Gruppen helfen uns beim Überleben der Art, und wir sind damit sehr erfolgreich. Historisch gesehen wird die Gruppe von den vier Schwesterdisziplinen der Sozialpsychologie (Witte 1994) beforscht: a) Die Anthropologie mit der kulturellen Position erforscht die Unterscheidung in »in-group« und »out-group« als Grundlage des Ethnozentrismus, ihre biologische Ausrichtung konzentriert sich auf die genetische Ausstattung des homo sapiens als Gruppenmensch (Witte 2006); b) die Soziologie, die schon früh natürliche Kleingruppen wie Ehe, Familie, Arbeitsgruppe, und »Gang« thematisiert hat; c) die Psychologie, die insbesondere die Auswirkungen des Gruppenkontextes auf Massen, Konformität und Leistung betrachtet hat; sowie d) die Sozialarbeit als angewandte Sozialpsychologie, die sich mit Teamentwicklung, Gruppenmoderation und Gruppentherapie beschäftigt (s. zusammenfassend theoretische Ansätze bei Witte/ Davis 1996). Wir gehen von folgenden äußeren Merkmalen aus: 1. Gruppen bestehen aus mehreren Personen. Die untere Anzahl ist drei, obwohl auch Dyaden gewisse Eigenschaften von Gruppen besitzen, nämlich die Berücksichtigung einer Außenperspektive und die damit verbundene Anpassung. Bei Dyaden fehlt die Möglichkeit einer Koalitionsbildung, um den Anpassungsdruck auf eine Minderheit zu erhöhen. Die obere Anzahl einer (kleinen) Gruppe zu bestimmen ist ebenfalls nicht einfach. Je länger die Personen sich in diesem Gruppenkontext befinden, desto größer kann die Zahl sein, damit jeder mit jedem kommunizieren kann. So können Schulklassen von 20 bis 30 Schülern noch immer den Charakter einer Gruppe haben, weil sie über so lange Zeit gemeinsam im Unterricht interagieren. Dass solche Gruppen auch in Untergruppen nach Sympathie und Kommunikationshäufigkeit zerfallen, ist an dieser Stelle nicht relevant. Faktisch gibt es aber die Selbst- und Fremdzuschreibung dieser Gruppe als über-individuelle Einheit. Die obere Grenze ergibt sich dadurch, dass man die Mitglieder nicht mehr als Personen wahrnimmt und keinen individuellen Kontakt mehr herstellen kann. Üblicherweise aber sind Gruppen sehr viel kleiner. Sie umfassen nicht mehr als die magische Zahl 7 plus oder minus 2. Die genaue Zahl ist auch nicht von besonderer Bedeutung, weil es um die psychologischen Prozesse geht, die durch die Anwesenheit anderer Personen ausgelöst werden. Das wesentliche Merkmal in der Gruppensituation ist also die Beeinflussung der eigenen Handlung durch die Bewertung anderer Personen, die direkt oder indirekt auf meine Handlung reagieren können, weil wir in Interaktion stehen, aber nicht unbedingt in einer Face-to-face Interaktion. 2. Diese Interaktion in der Gruppe ist zielorientiert. Dieses Ziel kann mehr oder weniger präzise, es kann von außen gesetzt sein oder von der Gruppe selber festgelegt werden. Die Interaktionen werden also gesteuert. Damit gibt es fast immer zwei Aufgaben zu bewältigen: zum einen die intendierte Zielverfolgung und zum anderen die Steuerung der Interaktion in der Gruppe, Letzteres häufig als verborgene Aufgabe. In Gruppen gibt es Strukturen, nach denen die Interaktionen ablaufen und die die individuelle Einflussstärke auf das Endergebnis der Gruppe festlegen. Die einzelnen Mitglieder einer Gruppe <?page no="158"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 158 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 159 159 Gruppe können also nach dem Ausmaß ihrer Beiträge und dem Gewicht bei der gemeinsamen Entscheidung differenziert werden. Hier spielt natürlich der Status in einer Organisation keine unwesentliche Rolle, der diese Personen mit Ressourcen (Belohnungsmöglichkeiten) ausstattet, über die andere Personen nicht verfügen. Aber auch die Persönlichkeit ist nicht unwichtig. Die Vielredner sind sozial weniger ängstlich und haben ein höheres Selbstvertrauen. Schaut man sich die Unterschiede in den durchschnittlichen Redebeiträgen z. B. in Fünf-Personen-Gruppen an, so kommen auf den ersten Vielredner 69 % der Beiträge und auf den Zweiten nur mehr 22 % in freien Diskussionen, wenn man ein recht gut bestätigtes Gesetz heranzieht. Man würde jetzt weiterhin naiverweise annehmen, dass zumindest eine längere Erfahrung in der Gruppe bei ähnlichen Aufgaben die Identifikation der individuellen Fähigkeiten bei der Lösung von Problemen verbessert. Leider finden sich in diesem Zusammenhang sogar Ergebnisse, die zeigen, dass sich die Identifikation leistungsfähiger Mitglieder der Gruppe mit der Gruppenerfahrung verschlechtert hat. Es bestehen also erhebliche Diskrepanzen zwischen den subjektiven Eindrücken und den realen Verhältnissen, wie sie sich im Ausmaß der Einflussstärke widerspiegeln. 3. Ferner gibt es in Gruppen Bindungskräfte, die zu einer gewissen Abhängigkeit der einzelnen Mitglieder von der Gesamtgruppe führen. Die Abhängigkeit ist keine reine instrumentelle Abhängigkeit, weil die Gruppe eine Unterstützung zur Erreichung eigener Ziele darstellt, sondern auch eine emotionale, weil man die Gruppenmitglieder mag und selber gemocht werden möchte. Diese Bindung an die Gruppe ist unterschiedlich intensiv, von der emotionalen Bindung an die Familie bis zur Bindung an eine kurzfristige Projektgruppe. Im ersten Fall handelt es sich um natürliche Primärgruppen, die ein Leben lang Bestand haben, und im zweiten Fall sind es kurzfristige funktionale Gruppen zur Erledigung einer Aufgabe. Im ersten Fall macht es Sinn, die Gruppe als Einheit zu betrachten, weil die Abhängigkeiten so stark sind, dass man kaum unabhängig von den anderen Familienmitgliedern wichtige Entscheidungen treffen kann. Demgegenüber wird in Projektgruppen auf das individuelle Verhalten Bezug genommen. Die anderen Gruppenmitglieder sind für das Individuum nur eine von mehreren möglichen relevanten Umwelten. Im Fokus stehen aber das individuelle Vorgehen und das zwar gemeinsame, aber zeitlich begrenzte Projekt. 4. Das Verhalten von Gruppen und in Gruppen wird durch die Mitglieder selber bewertet, aber auch durch unabhängige Beurteiler, die die Leistung einer Gruppe einschätzen sollen. Eine solche Bewertung hat Konsequenzen. Zum einen kann man sich als Gruppenmitglied fragen, ob man weiterhin in dieser Gruppe bleiben soll, zum anderen können externe Beurteiler sich fragen, ob man an der Gruppe etwas ändern muss, um eine bessere Zielerreichung zu ermöglichen. Wichtig ist dabei, dass die Beurteilungskriterien häufig nicht übereinstimmen, wenn man diese zwei Qualitätsmaßstäbe vergleicht. Die internen Kriterien beziehen sich fast ausschließlich auf die Abläufe und kaum auf die Handlungsergebnisse. Vielfach kann man sie auch gar nicht einschätzen, weil man keine Vergleichsmaßstäbe hat. Demgegenüber kann ein externer Beurteiler zwischen Gruppen vergleichen und vor allem die erbrachten Ergebnisse zur Bewertung heranziehen und nicht nur die internen Verläufe. Diese Bewertungsgrundlagen sind einmal intern für die Mitglieder handlungsleitend, weil man diesen Kriterien, die Erwartungen an das eigene Handeln darstellen, genügen möchte. Die externen Kriterien sind nicht direkt handlungsrelevant, sie werden erst nachträglich bei der Beurteilung des Ergebnisses herangezogen. Daran wird dann auch schon deutlich, dass es hier erhebliche Widersprüche geben kann. Auf jeden Fall ist zu beachten, dass das Verhalten in Gruppen einem kontinuierlichen Bewertungsprozess ausgesetzt ist, der aber nach unterschiedlichen Kriterien vorgenommen wird bzw. werden muss, je nach Innen- oder Außenperspektive. Das Gruppenmitglied kann nur den Gruppenprozess selber heranziehen, jedoch ist dem unabhängigen Beobachter die Möglichkeit gegeben, das Ergebnis mit anderen Gruppen oder mit einem theoretischen Konstrukt zu vergleichen. Er kann also externe Bezugspunkte wählen, um eine Bewertung vorzunehmen. Dann kann das als qualitativ hochwertig angesehene Ergebnis aus der Sicht der Teilnehmer wegen des positiv bewerteten Gruppenverlaufes für die Beurteilung eines externen Beurteilers minderwertig sein oder fehlerhaft, weil jetzt andere Kriterien <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 160 160 Gruppe herangezogen werden. Die beiden Grundlagen zur Beurteilung einer Gruppenleistung können erheblich divergieren. Man kann sich also nicht auf die interne Beurteilungsgrundlage bei der Bewertung eines Leistungskriteriums verlassen. Die unterschiedlichen Begriffsbildungen lassen sich auf zwei typische Formen reduzieren, wobei die eine in der soziologischen Tradition steht und Verbindungen zur Kultur-Anthropologie aufweist und die andere in der psychologischen mit Verknüpfungen zur Sozialarbeit als Veränderung des Einzelnen in der Gruppe. Die soziologische Perspektive einer Explikation von Gruppe lässt sich gut in der Darstellung von Neidhardt erkennen: »Gruppe ist ein soziales System, dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist.« (1979, 642). Mit dem Begriff »Sinnzusammenhang« ist die symbolische Abgrenzung der Gruppe nach außen gemeint, wie gemeinsame Bezeichnungen, gemeinsame Ziele etc. Durch die Charakterisierung »unmittelbar« wird auf die Face-to-face-Kommunikation hingewiesen, und »diffus« bedeutet, dass die Mitglieder Beziehungen auf sehr verschiedenen Ebenen gleichzeitig haben, z. B. über gemeinsame Interessen, emotionale Bindungen, Zielsetzungen. Inhaltlich ist eine solche Explikation deutlich auf natürliche Kleingruppen wie Ehe, Familie, Arbeitsgruppe etc. abgestellt. Wenn ich dieser soziologischen Variante meine eigene psychologische Explikation gegenüberstelle, so wird die andere Extremposition aus psychologischer Sicht deutlich: »Gruppensituation = df eine Situation, in der man als Einzelperson veranlasst wird, das eigene Urteil (Reaktion) in Beziehung zu anderen Urteilen (Reaktionen) zu setzen.« (Witte 1979, 125). Hier kommt die Gruppe nur als Umgebungsvariable vor, die Einfluss auf das individuelle Handeln nimmt. Wichtig ist, diese Extrempositionen - Gruppe als Mikrosystem und Gruppe als Umgebung für ein Individualsystem - herauszuarbeiten und sie nicht in Form einer vermittelnden Explikation klassischer Art zu verschleiern : Eine klassische Explikation der Kleingruppe lautet (Shaw 1971, 10): »A group is defined as two or more persons who are interacting with one another in such a manner that each person influences and is influenced by each other person.« Grundsätzlich handelt es sich um zwei verschiedene Ebenen mit unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, wie sie z. B. an dem Begriff der Gruppenkohäsion erläutert werden können: Man kann diese über das durchschnittliche, gegenseitige »Mögen« der einzelnen Gruppenmitglieder operationalisieren (Psychologie) oder über das »Mögen der Gruppe« als Einheit aus der Sicht der einzelnen Gruppenmitglieder (Soziologie). Ebenfalls hat sich schon frühzeitig die Frage gestellt, womit man den Leistungsgewinn von Gruppen gegenüber Einzelpersonen vergleichen soll. Ist es zulässig die Lösewahrscheinlichkeit von N-Personen-Gruppen mit Einzelpersonen zu vergleichen? Wenn man die Qualität von Gruppenleistungen mit der von Einzelpersonen vergleicht, dann muss man triviale Effekte der Anzahl ausschalten. So kann man einfache Effekte der Mitteilung einer richtigen Lösung an andere Personen kaum als Gruppenleistung ansehen. Man kann diesen Mitteilungseffekt als Beurteilungsgrundlage für die Leistungsgüte von Gruppen heranziehen, wobei man erwarten würde, dass Gruppen letztlich besser sind, als durch solche einfachen Mitteilungen der Wahrheit zu erwarten wäre. Man hat dann die psychologische Definition von Gruppe als Ausgangspunkt gewählt. Um solche Effekte der einfachen Mitteilung in Abhängigkeit der Gruppengröße erfassen zu können, hat man ein Modell entwickelt. Die Annahmen sind Folgende: 1. Die einzelnen Mitglieder suchen unabhängig voneinander; 2. Wenn ein Mitglied die richtige Lösung weiß, dann teilt es diese den anderen mit, und diese akzeptieren sie. Formal gilt dann Folgendes: P i : durchschnittliche individuelle Lösungswahrscheinlichkeit 1-P i : durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass ein Gruppenmitglied die Aufgabe nicht löst. P N : Wahrscheinlichkeit, dass die Gruppe aus N Mitgliedern die Aufgabe löst. P N = 1-(1-Pi) N Die Lösungswahrscheinlichkeit von 1 wird um genau die Wahrscheinlichkeit reduziert, die sich ergibt, wenn alle Gruppenmitglieder die Aufgabe nicht lösen. Wenn eine Person die richtige Lösung kennt, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit 1, dass die Aufgabe gelöst wird. Dieses Modell unterstellt sehr einfache Prozesse in einem System von N Personen: Es gibt Mitteilungen über richtiges Wissen und Akzeptierung dieses <?page no="160"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 160 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 161 161 Gruppe Wissens in dem Mikrosystem Kleingruppe. Betrachtet man jetzt ein Beispiel: Man nehme an, dass die individuelle Lösungswahrscheinlichkeit 0.50 beträgt (reiner Zufall) und man 4-Personen-Gruppen zusammengestellt hat, um die komplexe Aufgabe zu bearbeiten. Die beobachtete Wahrscheinlichkeit der Gruppenlösung beträgt 0.80. Ist dieser Zuwachs größer als ein einfacher Mitteilungseffekt? Die individuellen Lösungswahrscheinlichkeiten liegen bei: 0.60, 0.60, 0.40, 0.40. Daraus ergibt sich: P N = 1-(1-0.50) 4 = 0.94. Bei einem einfachen Mitteilungseffekt sollte die Lösungswahrscheinlichkeit einer 4-Personen-Gruppe bei 0.94 liegen. Dieser einfache Mechanismus der Mitteilung der richtigen Lösung führt bereits zu einer erheblich höheren Lösungswahrscheinlichkeit der Gruppe, als mit 0.80 beobachtet wurde. Letztere Wahrscheinlichkeit wiederum ist erheblich besser als die Lösungswahrscheinlichkeit des besten Individuums von 0.60. Ob man diesen Zuwachs als einen »assembly bonus effect« (Gruppengewinn) bezeichnen kann, bleibt sehr umstritten (Larson 2010). Generell ist der Vergleich von Einzelpersonen mit Gruppen unzulässig, weil eine simple Mitteilung an andere noch keine Gruppenleistung darstellt, höchstens einen Effekt der Wissensverbreitung, aber keinen Effekt der Wissensschöpfung. Man müsste also nicht einmal reale Gruppen zusammenstellen, um diesen Effekt zu erzielen. Dieser ist also nicht an eine Gruppe mit ihren spezifischen Charakteristika der gemeinsamen Zielsetzung, interner Strukturierung nach Rollen, Normen der Interaktion, gewisse Kohäsion etc. gebunden. Das Ergebnis hängt nur von der Anzahl der Personen ab, die diese Mitteilung bekommen. Trotzdem liegt die theoretische Lösungswahrscheinlichkeit noch weit höher, als bei realen Gruppen beobachtet wird (0.94 zu 0.80). Dieser Verlust liegt häufig daran, dass nicht bereits dann eine Lösung als richtig akzeptiert wird, wenn eine Person sie vorschlägt, sondern eine Majorität muss sich für diese Lösung entscheiden. Allgemein gilt: P N : Wahrscheinlichkeit, dass eine Gruppe der Größe N die richtige Lösung wählt, wenn die Majorität zustimmt. h: 1, 2, …., N m: Anzahl der Mitglieder, die eine Majorität bilden P i : individuelle Lösungswahrscheinlichkeit Für das obige Beispiel mit N = 4 und P i = 0.50 gilt Folgendes: P N (N=3,4) = ( 43 ) 0.50 3 (1-0.50) 1 + ( 44 ) 0.50 4 (1-0.50) 0 = 4 · 0.125 · 0.50 + 1 · 0.06 · 1 = 0.25 + 0.06 = 0.31 Wenn man als Beispiel 4-Personen-Gruppen betrachtet, dann müssen mindestens 3 Personen die richtige Alternative vorschlagen, damit sie als richtig von allen akzeptiert wird. Folglich wächst die von der Gruppe akzeptierte Lösung sehr viel langsamer. Man kann die obige Gleichung so erweitern, dass man die Wahrscheinlichkeit berechnet, die sich ergibt, wenn nur 1 Mitglied die richtige Lösung kennt. Dann muss man nicht nur die Majoritätskonstellationen, sondern auch noch die für h = 1 und h = 2 hinzuaddieren. Dann ergibt sich: P N (N=1,…,4) = ( 43 ) 0.50 3 (1-0.50) 1 + ( 44 ) 0.50 4 (1-0.50) 0 + ( 42 ) 0.50 2 (1-0.50) 2 + ( 41 ) 0.50 1 (1-0.50) 3 = 0.25 + 0.06 + 0.38 + 0.25 = 0.94 Dieser Wert ist mit dem des anderen Modells zu vergleichen, der ebenfalls 0.94 beträgt. Man sieht also, dass die beiden Formeln zu identischen Resultaten führen. Sie haben nur einen verschiedenen Rechenweg: Die erste Formel betrachtet das Nicht-Wissen und die Zweite das Wissen als Grundlage. Theoretisch wichtig ist jetzt aber an dieser Formel für die Majorität, dass nur dann die Majorität die richtige Lösung in der Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit findet, wenn die individuelle Lösung größer ist als 0.50, eine reine Zufallswahl. Bei einer geringeren Lösungswahrscheinlichkeit als 0.50 sinkt die Gruppenleistung und bei 0.50 bleibt sie konstant unabhängig von der Gruppengröße. Das gilt aber nur für ungerade Anzahlen von Gruppenmitgliedern (3, 5, 7, 9 …). Bei geraden Anzahlen (4, 6, 8, 10 …) muss man noch die Hälfte der Lösungswahrscheinlichkeit bei einer Gleichvertei- ∑ = − − ⋅ ⋅     = N m h h N i h i N N P P h P ) 1 ( <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 162 162 Gruppe lung hinzuzählen, um die Konstanz auf 0.50 erhalten zu können, weil die Gleichverteilung keine eindeutige Entscheidung für eine statistische Majorität bedeutet: P N = 0.06 + 0.25 + (0.38) · 1/ 2 = 0.50 Ferner ergeben sich bei Gruppengrößen zwischen 3 und 7 Mitgliedern, wie sie häufig zu beobachten sind, dass die Majoritätslösung dann deutlich besser ist als die durchschnittliche Einzellösung, wenn die individuelle Lösungswahrscheinlichkeit zwischen P i = 0.66 und P i = 0.87 liegt. Unter P i = 0.66 ist der Zuwachs gering, weil die Majorität sich häufig auf falsche Lösungen einigt, über P i = 0.87 ist generell eine Gruppenentscheidung kaum nötig. Damit ist der sinnvolle Einsatz von Gruppen auf einen engen Schwierigkeitsbereich beschränkt, wobei es immer Experten sein müssen, die besser als der Zufall (P i > 0.50) eine richtige Lösung finden können, sofern man eine Majoritätsregel unterstellt. Hinter dieser Forderung verbergen sich implizit Kritikpunkte an demokratischen Regeln bei Aufgaben, die eine richtige Lösung zum Gegenstand haben. Die obige Kritik an der Unvergleichbarkeit der beiden Systemebenen Gruppe mit Individuum lässt sich so auflösen, dass man die Wahrscheinlichkeit der Gruppenlösung wieder zu einer individuellen Lösewahrscheinlichkeit transformiert, indem man nach der Gruppenlösung (t) die individuelle Übernahmewahrscheinlichkeit der richtigen Lösung betrachtet: t P i = α · P N t P i : die individuelle Wahrscheinlichkeit der Übernahme der in der Gruppe gefundenen Lösung durch ein Durchschnittsindividuum. α : die Übernahmewahrscheinlichkeit der Lösung aus der Gruppe. P N : die Wahrscheinlichkeit, die richtige Lösung in der Gruppe von N Personen zu finden. Wenn jetzt alle Personen die gefundene Gruppenlösung übernehmen (α=1), dann hat die Gruppe den einzelnen Personen geholfen und ihre durchschnittliche Lösungswahrscheinlichkeit verbessert von 0.50 auf 0.80. Nur auf diesem Hintergrund sind die Wahrscheinlichkeiten zu vergleichen. Man erkennt an diesen einfachen Beispielen auch, dass Gruppen häufig hinter ihrem Leistungspotenzial zurückbleiben. Diese Leistungsminderungen bei Gruppen sind vielfältig: bei der Motivation, der Kreativität, dem Helfen, dem komplexen Problemlösen etc. (Witte/ Kahl 2008). Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Prozessverluste in Gruppen bereits genetisch angelegt sind. Es lässt sich nämlich zeigen, dass diese Verluste in der Gruppe gleichzeitig individuelle Vorteile darstellen, wie es oben gezeigt werden konnte, wenn man die Problemlösewahrscheinlichkeit des durchschnittlichen Individuums vor der Gruppendiskussion (P i ) und nach der Gruppendiskussion ( t P i ) vergleicht, wobei dann die Übernahmewahrscheinlichkeit (α) nahe bei 1 liegen muss und die Gruppenmitglieder Kenntnisse über die Problemstellungen haben müssen (P i > 0.50). Dann ist die Majoritätsregel zwar der Grund, die optimale Möglichkeit in der Gruppe nicht ausschöpfen zu können, aber gleichzeitig der Anlass die individuelle Übernahmewahrscheinlichkeit zu erhöhen. Faktisch könnte die Gruppe eine bessere Leistung erzielen, aber der Gruppenkontext verbessert die individuelle Lage in ausreichendem Maße (zur Erhöhung der Fortpflanzungswahrscheinlichkeit). Aus diesem Grund findet man in der wissenschaftlichen Diskussion diesen Widerspruch zwischen Prozessverlusten in Gruppen und Gruppenvorteilen im Vergleich zu individuellen Reaktionen. Es ist kein Widerspruch: Im ersten Fall vergleicht man die Gruppenreaktion mit einem theoretisch möglichen Potenzial einer Gruppe, im zweiten Fall mit einer individuellen Reaktion ohne Gruppeneinfluss. Diese bereits für den homo sapiens genetisch vorgeprägten Verhaltensweisen in Gruppen hat auch eine kulturelle Verankerung erfahren: Wir glauben an die Leistungsfähigkeit von Gruppen und richten unsere soziale Praxis danach aus. Deshalb ist unsere soziale Praxis auch so organisiert, dass wir Gruppen eher vertrauen als Einzelpersonen: Die Minister lassen ihre Vorstellungen durch das Kabinett bestätigen, das Urteil eines schwerwiegenden Verbrechens wird nicht vom Einzelrichter, sondern vom Schöffengericht gefällt, die Beurteilung einer Dissertation wird von zwei Gutachtern vorgenommen, Punktrichter beim Boxen oder beim Eiskunstlauf beurteilen in kleinen Gruppen das Ergebnis usw. Ferner haben wir eine soziale Repräsentation von Gruppen entwickelt, die das gute Funktionieren von Gruppen verbindet mit positiver emotionaler Beziehung untereinander, Gleichbehandlung aller, Vermeidung von persönlichen, auch sachlichen Konflikten und der gezielten Steuerung des positiven Zusammenhaltes (Witte/ Engelhardt 1998). Unter solchen nach Harmonie <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 162 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 163 163 Gruppe strebenden Verhaltensweisen mit hoher Konformität lassen sich Probleme durch eine sachliche Auseinandersetzung qualitativ hochwertig kaum angehen, weil diese Auseinandersetzungen vermieden werden. Gleichzeitig erhöhen diese Vorstellungen die konformen Verhaltensweisen in Gruppen, wodurch die individuelle Übernahme dieser Gruppenentscheidung verbessert wird. Das aber ist die Voraussetzung für den individuellen Vorteil durch den Gruppenkontext, wenn die Gruppenteilnehmer bessere Entscheidungen zeigen können, als es rein zufällig geschehen würde. Verbunden mit dieser sozialen Repräsentation von Gruppen gibt es auch die soziale Repräsentation von Teamfähigkeit, also die Eigenschaften, die eine Person mitbringen sollte, damit sie sich zum Vorteil der Gruppe an ihren Zielen beteiligen kann (Seelheim/ Witte 2007): Kommunikationsfähigkeit, Kontaktfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Integrationsfähigkeit, Konsensfähigkeit, Konfliktfähigkeit. Faktisch führen diese Eigenschaften aber nicht zu einem Erfolg der Gruppe. Sogar dann, wenn man zeigen kann, dass die Gruppe durch eine abweichende Meinung zu einem besseren Ergebnis kommt, wird dieser Person mit der abweichenden Meinung keine hohe Teamfähigkeit zuerkannt (Seelheim 2011). Nach diesen sozial vermittelten Vorstellungen ist es nicht verwunderlich, dass Personen einer einheitlich falsch urteilenden Mehrheit in einer Wahrnehmungsaufgabe entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung in ca. 33 % diesen Reaktionen folgen (Asch- Experiment). Wir ändern auch eher unser Verhalten, wenn wir in Gruppen darüber diskutiert, als wenn wir nur einen Vortrag gehört haben, wie es Lewin im Zweiten Weltkrieg bei der Verwendung von Nahrungsmitteln gezeigt hat (s. zusammenfassend Witte 1979). Verstärkt man den sozialen Druck in einer Gruppensituation, dann kann man in einem solchen Gruppenkontext erreichen, dass ca. 66 % der Personen einen tödlichen elektrischen Schlag austeilen (Milgram-Experiment). Konzentriert man sich jetzt auf die soziologische Definition von Gruppe als ein Mikrosystem (Arrow et al. 2000), dann verlässt man die individuelle Ebene und betrachtet über-individuelle Parameter und Prozesse. Die Bildung eines Mikrosystems braucht aber Zeit. Sie findet als Minimalvoraussetzung dann statt, wenn die Mitglieder sich als ähnlich betrachten und hinzukommend ein gemeinsames Schicksal erfahren. Solch eine Bildung eines Systems scheint über verschiedene Phasen zu laufen: Das Forming als gemeinsames Kennenlernen, das Storming als den Versuch individuelle Interessen durchzusetzen, das Norming als die Kompromissbildung auf gemeinsame Regeln und Standards und dann das Performing als die angestrebte Zielverfolgung. Bei der Zielerreichung kann dann die Gruppe als (Quasi-)System aufgelöst werden (Adjourning oder Termination), was manchmal als Verlust empfunden wird. Die mikrosystemische Betrachtung lässt sich unter ein Konzept subsumieren, das aus drei Komponenten besteht: Systemtransparenz als geteiltes Wissen über die Gruppe verbunden mit der Meta- Kommunikation über die Gruppenprozesse, die Strukturflexibilität als innere Ordnung der Gruppe und die Außenkontaktsteuerung als Abgrenzungsstrategie von außen und nach außen. Die konkreten Ausprägungen ändern sich über die Zeit durch interne und externe Einflüsse, die über die Interaktion, Sympathie und die Aktivitäten in der Gruppe verändert werden (Homanssche Regel). Generell gilt: Die Erwartungen an Gruppen sind überzogen, die Menschen streben Gruppen an und die Organisation des Verhaltens in Gruppen wird selten thematisiert. Literatur Arrow, Holly et al., 2000: Small groups as complex systems, London, UK.-- Larson, James R., 2010: In search of synergy in small group performance, New York, NY.- - Neidhardt, Friedhelm, 1979: Das innere System sozialer Gruppen; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, 639-660.-- Seelheim, Tanja, 2011: The perception of team skills, Hamburg (unver. Diplomarbeit).-- Dies.; Witte, Erich H., 2007: Teamfähigkeit und Performance; in: Gruppendynamik und Organisationsberatung 38, 73-95.- - Shaw, Marvin E., 1971: Group Dynamics, 3. Aufl., New York, NY.-- Witte, Erich H., 1979: Das Verhalten in Gruppensituationen, Göttingen.- - Ders., 1994: Lehrbuch Sozialpsychologie, 2. Aufl., Weinheim.- - Ders., 2006: Gruppenleistung. Eine Gegenüberstellung von proximater und ultimater Beurteilung; in: Ders. (Hg.): Evolutionäre Sozialpsychologie und automatische Prozesse, Lengerich, 178-198.- - Ders.; Davis, James H. (Eds.), 1996: Understanding group behavior, Vol.I/ II, Mahwah.- - Ders.; Engelhardt, Gabriele, 1998: Zur sozialen Repräsentation der (Arbeits-)Gruppe; in: Ardelt-Gattinger, Elisabeth et al. (Hg.): Gruppendynamik, Göttingen, 25-29.-- Ders.; Kahl, Cara H., 2008: Small group performance. Reinterpreting proximate evaluations from an ultimate perspective, Hamburger Forschungsberichte zur Sozialpsychologie Nr. 85, Hamburg. Erich H. Witte <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 164 164 Gütekriterien Gütekriterien Gütekriterien (engl. quality factors) der empirischen Forschung dienen zur Beurteilung, welche Qualität die Befunde (bzw. die Messoperationen) haben, ob sie somit als wissenschaftlich fundiert gelten können. Die wichtigsten Gütekriterien der quantitativen Forschung lauten: Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Repräsentativität und Objektivität bzw. Intersubjektivität. Gültigkeit (Validität) Gültig sind Ergebnisse dann, wenn man das gemessen hat, was man messen wollte. Dies bedeutet z. B., dass man angemessene Indikatoren verwendet hat und dass das Instrument und die Erhebungssituation (z. B. die Anwesenheit Dritter bei einer Befragung) die Ergebnisse nicht systematisch verfälschen. Würde ein Forscher z. B. als Indikator für »Schulerfolg« allein die Note in der letzten Mathearbeit wählen, wäre der Sachverhalt wohl nicht gültig gemessen worden. Es werden verschiedene Arten der Validität unterschieden: Inhaltsvalidität bedeutet, dass möglichst alle Aspekte einer forschungsrelevanten Dimension berücksichtigt wurden (z. B. wäre es zu einseitig, »Patientenzufriedenheit« nur an der Beurteilung des Essens im Krankenhaus festzumachen). Kriteriumsvalidität richtet sich auf den Zusammenhang zwischen dem Messergebnis und einem von dieser Messung unabhängigen Kriterium. Dieses kann zur gleichen Zeit erfasst werden (Übereinstimmungsv.) oder zu einem späteren Zeitpunkt die Vorhersagekraft der ersten Messung überprüfen (Vorhersagev.). Konstruktvalidität (mit den Kriterien der konvergierenden und diskriminierenden Validität) richtet sich auf den empirischen Nachweis theoretisch hergeleiteter Zusammenhänge. Intern valide ist etwa ein Experiment dann, wenn Unterschiede beim zu erklärenden Merkmal (z. B. aggressives Verhalten) ausschließlich auf die experimentelle Variation des erklärenden Merkmals (z. B. einen vorher gezeigten Film) zurückgehen. Externe Validität liegt dann vor, wenn die Ergebnisse eines Experiments zutreffend auf andere Personen und Situationen (außerhalb des Labors) verallgemeinert werden können. Zuverlässigkeit (Reliabilität) bezeichnet die interpersonelle, intertemporale und interinstrumentelle Stabilität empirischer Ergebnisse und damit das Ausmaß, in dem ein wissenschaftlicher Befund reproduzierbar ist. Für das empirische Ergebnis sollte es also unerheblich sein, von welcher Person die Messung durchgeführt wird, zu welchem genauen Zeitpunkt dies geschieht oder mit welchem Instrument. Andere Forschende, die die Messung mit dem gleichen Messkonzept unter vergleichbaren Bedingungen überprüfen, müssten entsprechend zum gleichen Befund gelangen. Zur Überprüfung der Zuverlässigkeit eines Tests oder Fragebogens werden verschiedene Koeffizienten eingesetzt. So wird etwa bei der Split-half- Reliabilität ein Test in zwei äquivalente Hälften aufgeteilt und das Ergebnis korreliert. Eine hohe Korrelation spricht dabei für eine hohe Zuverlässigkeit. Bei der Beobachtung oder Inhaltsanalyse können die Kategorisierungen der Beobachter/ Kodierer verglichen werden, das heißt die Kategorisierungen des gleichen Sachverhalts durch zwei Personen (Intercoder-Reliabilität) oder durch eine Person zu verschiedenen Zeitpunkten (Intracoder-Reliabilität). Eine hohe Übereinstimmung spricht für die Zuverlässigkeit der Ergebnisse. Zum Zusammenhang von Gültigkeit und Zuverlässigkeit: Ein Ergebnis, das nicht zuverlässig ist, kann auch nicht gültig sein. Die Zuverlässigkeit stellt somit eine notwendige Bedingung für Gültigkeit dar. Sie ist andererseits noch nicht hinreichend für Gültigkeit, so führen etwa zuverlässige Messungen bei unangemessenen Indikatoren trotzdem zu einem ungültigen Ergebnis. Repräsentativität bedeutet, dass eine Stichprobe ein verkleinertes Abbild einer angebbaren Grundgesamtheit darstellt, dass die Ergebnisse aus der Stichprobe also auf diese Grundgesamtheit verallgemeinerbar sind. Die Grundgesamtheit umfasst alle Fälle, über die eine Untersuchung Aussagen treffen will. Ob die Ergebnisse der Stichprobe repräsentativ sind, hängt neben der Größe der Stichprobe und der Ausschöpfung (über wie viele der ausgewählten Fälle gibt es tatsächlich Daten, z. B. wie viele Befragte füllen einen Fragebogen letztlich aus? ) insbesondere vom Auswahlverfahren ab. Hierbei sind grob zufallsgesteuerte und nicht zufallsgesteuerte Verfahren zu unterscheiden. Auf einer wahrscheinlichkeitstheoretischen Basis fördern Zufallsauswahlen (jeder Fall der <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 164 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 165 165 Gütekriterien Grundgesamtheit hat die gleiche bzw. bekannte Chance, in die Stichprobe zu gelangen) Repräsentativität am ehesten. Objektivität/ Intersubjektivität Versteht man Objektivität in diesem Kontext als Unabhängigkeit von subjektiven Eigenschaften und (Wert-)Haltungen des Betrachters bzw. des Forschers, so ist es unmöglich, einen Forschungsgegenstand vollständig objektiv wahrzunehmen und zu untersuchen. Zur Annäherung an dieses Ideal können Forscher jedoch ihr Vorgehen für andere klar dokumentieren, ihre Forscherrolle dabei reflektieren und so ihre Untersuchung für andere intersubjektiv nachvollziehbar, kontrollierbar, damit kritisierbar machen. Die Güte der Befunde steigt danach, wenn die scientific community die Ergebnisse (zustimmend) nachvollzieht. Standardisierte Instrumente dienen in der quantitativen Forschung als Mittel, die Intersubjektivität zu fördern. Gütekriterien in der qualitativen Forschung Durch einen anderen erkenntnistheoretischen Zugang und andere (nicht-standardisierte) Verfahren in der qualitativen Forschung sind diese Gütekriterien nicht problemlos auf qualitative Methoden übertragbar. Es ist umstritten, ob sie für diese reformulierbar sind oder ob eigene, je nach Untersuchung zu konkretisierende Gütekriterien verwendet werden sollten. Beispiele für solche Kriterien sind neben intersubjektiver Nachvollziehbarkeit die empirische Verankerung, die kommunikative Validierung (die Untersuchten bewerten die Gültigkeit der Ergebnisse) oder die Festlegung des Geltungsbereichs (vgl. Steinke 2005). Literatur Diekmann, Andreas, 2007: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, 4. Aufl., Reinbek, Kap. VI 3.- - Rammstedt, Beatrice, 2004: Zur Bestimmung der Güte von Multi-Item-Skalen: Eine Einführung, ZUMA How-to-Reihe Nr. 12.-- Schnell, Rainer et al., 2008: Methoden der empirischen Sozialforschung, 8. Aufl., München/ Wien, Kap. 4.3.2.-- Steinke, Ines, 2005: Gütekriterien qualitativer Forschung; in: Flick, Uwe et al. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 8. Aufl., Reinbek, 319-331. Nicole Burzan <?page no="165"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 166 166 Habitus H Habitus Begriff Als soziologischer Grundbegriff ist der Begriff Habitus (engl. habitus) von Pierre Bourdieu in das sozialwissenschaftliche Denken eingeführt worden. Bourdieu bezeichnet damit eine Instanz im Individuum, in die Denk- und Sichtweisen, Wahrnehmungsschemata, Prinzipien des Urteilens und Bewertens eingelagert sind, die unser Handeln, alle unsere expressiven, sprachlichen, praktischen Äußerungen strukturieren. Entscheidend für das Verständnis des Habitus-Konzepts - und neu im Verhältnis zur herkömmlichen soziologischen Vorstellung vom sozialen Akteur - ist zunächst, dass der Habitus nicht auf den ›Geist‹ des Menschen reduziert werden kann, sondern den Körper mit einbezieht: Die Menschen sind als körperliche Wesen in der Welt, und so ist soziales Handeln immer auch körperliches Handeln, gestützt auf eine sinnliche Wahrnehmung, die ihrerseits ›sozial codiert‹ ist. Der sozialisierte Körper ist daher nicht als das Gegenteil von Gesellschaft zu sehen, sondern als eine ihrer Existenzformen; er ist »das Körper gewordene Soziale« (Bourdieu/ Wacquant 1996, 161). Damit ist soziales Handeln nicht etwas, das sich allein auf die Ebene des Bewusstseins bezieht, vielmehr handeln die Individuen über weite Strecken intuitiv. Der Habitus als Produkt der individuellen Geschichte und als generatives Prinzip Der Habitus ist nicht angeboren, er ist etwas Gewordenes. In ihm wirkt die ganze Vergangenheit des Individuums, die ihn hervorgebracht hat, in der Gegenwart fort. Die Erfahrungen, die ein Individuum in seiner praktischen Auseinandersetzung mit der Welt macht, die Sichtweisen und Einteilungen der Welt, die es sich dabei als zunächst selbstverständliche Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata aneignet, werden in den Habitus eingelagert und prägen das Handeln eines Menschen, seine Haltung zur Welt und zu anderen Menschen in charakteristischer Weise. Der Habitus eines Menschen ist also zugleich etwas sehr Individuelles, sofern sich darin die jeweils individuellen Erfahrungen mit der Welt niederschlagen, und etwas sehr Soziales, insofern man bestimmte grundlegende Erfahrungen mit Individuen in den gleichen sozialen Verhältnissen teilt. Der Habitus einer Person existiert auch nicht ›für sich‹, er ist vielmehr immer bezogen auf den sozialen Kontext. Es gibt, wie Bourdieu schreibt, zwei Formen, in denen sich Geschichte objektiviert, die Objektivierung in den Institutionen und die Objektivierung im Menschen, eben: als Habitus (Bourdieu 1987, 106). Dies bedeutet allerdings auch, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse den Akteuren nicht äußerlich sind. Vielmehr ist die Ordnung der sozialen Welt mit den in sie eingelassenen Ungleichheits- und Herrschaftsstrukturen als symbolische Ordnung in den Sachen, in den Handlungen, in den Köpfen und in den Körpern präsent. Der Habitus funktioniert als eine Art generatives Prinzip im Menschen; er macht uns handlungsfähig; er bewirkt, dass wir uns in der Welt zurechtfinden. Dabei verfährt er nach einer dem lebenden Organismus eigenen, d. h. nach einer flexiblen, nicht mechanistischen Logik, als »ein offenes Dispositionensystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird« (Bourdieu/ Wacquant 1996, 167). Der Habitus hat also das Potenzial einer ars inveniendi, einer Erfindungskunst - allerdings in den durch die bisherigen Erfahrungen vorgegebenen Grenzen. Diese Begrenzung der Flexibilität des Habitus, eine Art eingebautes Trägheits-Moment, nennt Bourdieu Hysteresis. Sie kommt insbesondere bei tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen zum Tragen, in denen die bislang selbstverständlichen Sichtweisen und Gewohnheiten des Handelns dazu führen, dass man in den neuen Verhältnissen nicht mehr intuitiv weiß, worauf es ankommt (Bourdieu 2010). Würdigung Es geht Bourdieu darum, mit Hilfe des Habitus- Konzepts die herkömmliche Sichtweise des homo sociologicus zu überwinden, die von der Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft ausgeht, und statt dessen den Menschen von vornherein als vergesellschaftetes Individuum zu begreifen, als ein handelndes, fühlendes, denkendes Individuum, das in seinem Handeln die Welt herstellt und zugleich von ihr hergestellt wird. Dagegen ist angeführt worwww.claudia-wild.de: <?page no="166"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 166 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 167 167 Handeln, soziales den, das Habitus-Konzept bestimme den Menschen als ein durch und durch von der Gesellschaft beherrschtes, ja deterministisch festgelegtes Wesen und sei daher nicht in der Lage, das Aufbegehren und die Emanzipation des Individuums analytisch zu erfassen (Honneth 1984, Witz 2004). Doch sucht Bourdieu die Potenziale für gesellschaftliche Veränderung nicht im Individuum an und für sich oder gar im aufgeklärten Bewusstsein des Individuums, sondern in den gesellschaftlichen Bedingungen, die im Zusammenwirken von Gesellschaftskritik, individuellem Widerstand und der Bündelung der Aktivitäten einer ›kritischen Masse‹ von Individuen dazu führen, dass Herrschaft als solche sichtbar wird und durch eine veränderte Alltagspraxis der Individuen, aber auch durch ihre politische Aktion auf kultureller, juristischer und politischer Ebene abgebaut wird. Literatur Bourdieu, Pierre, 1987: Sozialer Sinn, Frankfurt a. M.-- ders. 2010: Algerische Skizzen, Frankfurt a. M.- - ders.; Wacquant, Loïc, 1996: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M.- - Honneth, Axel, 1984: Die zerrissene Welt der symbolischen Formen; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 36, 147-164.-- Jurt, Joseph, 2008: Bourdieu, Stuttgart.-- Krais, Beate; Gebauer, Gunter, 2002: Habitus, Bielefeld.-- Witz, Anne, 2004: Anamnesis and amnesis in Bourdieu’s work: the case for a feminist anamnesis; in: Adkins, Lisa; Skeggs, Beverley (Hg.): Feminism after Bourdieu, Oxford, 211-223. Beate Krais Handeln, soziales Maßgeblich geprägt worden ist der Begriff des sozialen Handelns (engl. social action) durch Max Weber: »›Soziales‹ Handeln […] soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird« (Weber 1980, 1). Für Weber bildet das soziale Handeln einen Unterfall von Handeln und dieses wiederum von Verhalten: »›Handeln‹ soll […] ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.« (Weber 1980, 1) Verhalten Handeln (Verhalten mit subjektiv gemeintem Sinn) soziales Handeln (Handeln, das am Verhalten anderer orientiert ist) soziale Beziehung (wechselseitig aneinander orientiertes soziales Handeln) Die im Alltag häufiger anzutreffende Konnotation von »sozial« als gut, positiv etc. ist dabei nicht gemeint (wer einen Tee vergiftet, um den anderen zu töten, handelt ebenfalls sozial). Der Begriff des Sinns wird von Weber weit gefasst (als etwas, das verständlich ist), im Falle des Handelns lässt sich der subjektive (aus der Sicht des Handelnden gesehene) Sinn gut mit dem Begriff des Motivs erfassen. Handlungserklärungen bestehen demnach in einer Bestimmung der (freilich nicht immer voll bewussten) Motive des Handelns. Weber unterscheidet dabei u. a. vier idealtypische Bestimmungsgründe des Handelns: zweckrationale, wertrationale, traditionale und affektuelle. Weitere Perspektiven Alfred Schütz schließt an Weber an, unterscheidet aber Handlung (als abgeschlossenes Ereignis) und Handeln (als Entwurf der Handlung). Zudem führt er über Weber hinaus die Unterscheidung zwischen »weil-Motiven« (aus Vergangenem motiviert) und »um-zu-Motiven« (auf die Zukunft hin gerichtet) ein. Für das Handlungsverstehen rückt die Einbettung in die alltägliche Lebenswelt in eine zentrale Position. Gemeinsame Unterstellungen und Typisierungen in der Lebenswelt lösen für Schütz das Intersubjektivitätsproblem (Zugang zum Weltverstehen des anderen) sowie die Frage nach erfolgreicher Handlungskoordination. Talcott Parsons unterscheidet in seiner frühen Werkphase an der Handlung als basaler Einheit (unit act) der Handlungstheorie vier Elemente: den »Aktor«, das »Ziel« der Handlung, die »Situation« - diese beinhaltet Mittel (kontrollierbar) und Bedingungen (nicht kontrollierbar) - sowie einen Modus der Relationierung zwischen diesen Elementen, die »normative <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 168 168 Handlungstheorien Orientierung«. Für Parsons bezieht sich diese immer auch auf letzte Werte, die für die soziale Ordnung eine unverzichtbare Rolle spielen. In seiner späteren Ausformulierung der Systemtheorie werden soziale Systeme als Interaktionssysteme gefasst, deren normative Ordnung sich in Rollenerwartungen niederschlägt. Aus der Sicht von Niklas Luhmann ist die basale Einheit des Sozialen nicht Handlung, sondern Kommunikation. Handeln erscheint als Teilaspekt der Kommunikation, nämlich der Mitteilungskomponente (die neben Information und Verstehen Kommunikation ausmacht). Die Beschreibung als Handlung dient für Luhmann so der Selbstsimplifikation sozialer Systeme. Die Theorien rationaler Wahl verstehen Handlungen als Resultat von Entscheidungen für Handlungen, welche aus der Sicht der Handelnden ihren Nutzen maximieren (Webers Fall der Zweckrationalität). Die Praxistheorie (darunter Bourdieu, Giddens und Taylor) betont die Eingebettetheit des Handelns in körperliche Bezüge, implizites Wissen und soziale Praktiken. Interaktion Interaktion meint häufig dasjenige, was Weber als soziale Beziehung bezeichnet hat, die wechselseitige Orientierung der Handelnden aneinander. George H. Mead betont hingegen die Bedeutung der zunächst über Reiz-Reaktionsbeziehungen vermittelten Interaktion in der Herausbildung des Selbstbewusstseins. Der an Mead anschließende symbolische Interaktionismus hebt den Umstand hervor, dass die dem Handeln jeweils zugrunde liegenden Bedeutungen gemeinsam festgelegt werden. Ein spezifisches Verständnis von Interaktion wird von Erving Goffman formuliert. Interaktion bedeutet für ihn wechselseitige Wahrnehmung unter Bedingungen der körperlichen Ko-Präsenz (Face-to-face-Situation). Diskurs und Anerkennung Einen engen Zusammenhang zwischen sozialem Handeln und Diskurs sieht Jürgen Habermas in seinem Konzept kommunikativen Handelns. Im kommunikativen Handeln erheben Sprecher mit ihren Äußerungen stets drei Geltungsansprüche: dass das Gesagte wahr ist (Wahrheitsanspruch), dass es legitim ist (Richtigkeit) und dass der Sprecher aufrichtig ist (Wahrhaftigkeit). Werden diese Ansprüche strittig, können sie in einem rationalen Diskurs geprüft werden. Andere Anerkennungskonzeptionen betonen eher die Bedeutung der grundlegenden Anerkennung von Personen, weniger von Rationalitätsansprüchen (so Honneth). Michel Foucault betont zum einen die enge Verflechtung von Diskursen und Machtstrukturen, zum anderen die subjektkonstituierende Leistung von Diskursen. Literatur Goffman, Erving, 2005: Interaktionsrituale, 7. Aufl., Frankfurt a. M.-- Habermas, Jürgen, 1987: Theorie des kommunikativen Handelns. 4. Aufl., Frankfurt a. M.-- Honneth, Axel, 1994: Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M.- - Joas, Hans; Knöbl, Wolfgang, 2004: Sozialtheorie, Frankfurt a. M.-- Luckmann, Thomas, 1992: Theorie des sozialen Handelns, Berlin.- - Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme. Frankfurt a. M.-- Mills, Sara, 2007: Der Diskurs, Tübingen.-- Parsons, Talcott, 1949: The Structure of Social Action, New York (1937).- - Schütz, Alfred, 1993: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 6. Aufl., Frankfurt a. M.- - Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen. Jens Greve Handlungstheorien Handlungstheorien (engl. theories of action oder action theories) werden, im Plural, in einem engeren Sinne gebraucht als Oberbegriff für solche Theorien der Allgemeinen Soziologie, die mit einem mikrosoziologischen, individualistischen Ansatz grundsätzlich alle Objekte vom Handeln her erklären wollen und dementsprechend auch untersuchen müssen. Das sind im Wesentlichen die Phänomenologische Soziologie, der Symbolische Interaktionismus und die Ethnomethodologie. In einem weiteren Sinne fasst man darunter neben den eben erwähnten auch solche Theorien, die u. a. eine ausgearbeitete Theorie des (sozialen) Handelns, oft gar als Grundstock ihrer Soziologie, enthalten, ohne es aber gleich zum notwendigen Ausgangspunkt jeden Ansatzes zu machen. Hierzu würden z. B. auch die Theorien von Max Weber, Durkheim und Parsons gehören. Hier könnte man, weil die Aussagen über das Handeln eher partialtheoretischen Charakter haben, besser von einer Theorie des Handelns sprechen. Da es auch noch quasi intermediäre Theorien über soziales Handeln und seine Folgen gibt (so <?page no="168"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 168 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 169 169 Herrschaft etwa Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, z.T. auch Elsters Theorie der rationalen Wahl), gibt es keinen einheitlichen Sprachgebrauch. Literatur Lenk, Hans (Hg.), 1977 ff.: Handlungstheorien-- interdisziplinär, 4 Bde., München.-- Luckmann, Thomas, 1992: Theorie des sozialen Handelns, Berlin.-- Münch, Richard, 1988: Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. Günter Endruweit Herrschaft Herrschaft (engl. authority, domination) »soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden« (Weber 1972, 28). Der Begriff bezieht sich also auf Über- und Unterordnungsverhältnisse, doch im Unterschied zur Macht, die als amorph gilt, wird er näher bestimmt. So spricht Popitz (1992: 232) in diesem Zusammenhang von institutionalisierter Macht, und für Weber tritt »normalerweise« der Legitimitätsglaube hinzu, wenn es um Herrschaft geht (122). Nach Weber gibt es drei reine Typen legitimer Herrschaft: »Ihre Legitimitätsgeltung kann nämlich primär sein: 1. rationalen Charakters: auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen (legale Herrschaft), - oder 2. traditionalen Charakters: auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen (ruhen) (traditionale Herrschaft), - oder endlich 3. charismatischen Charakters: auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnung ruhen (charismatische Herrschaft)« (Weber 1972, 124; hierzu auch Imbusch 2010). Diese Definitionen Webers werden zwar regelmäßig zitiert, wurden für die Forschung aber nur partiell fruchtbar gemacht, am ehesten noch dann, wenn es um Fragen der Legitimität, Rationalität und Effizienz von Herrschaft ging. Fragen der Entstehung und Reproduktion von Herrschaft blieben weitgehend ausgespart, erst recht wartet man auf empirisch abgesicherte Antworten. Dies ist umso erstaunlicher, weil mit diesen Fragen Grundprobleme der Soziologie angesprochen werden, wie z. B. die nach Entstehung und Veränderung der sozialen Ordnung. Dabei weist der Herrschaftsdiskurs selbst eine lange Tradition auf, die in der Antike (Platon) wurzelt und über das Mittelalter und die Renaissance (Machiavelli: Methoden monarchischer Herrschaft) und über die Herrschaftstheoretiker vor allem des 17. Jh.s (vor allem T. Hobbes: Vertragstheorie) bis in die Gegenwart reicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Diskussion vor allem durch die US-amerikanische Forschung befruchtet. Reinhard Bendix mit seinem interkulturellen Ansatz und Gerhard Lenski mit seiner leistungsbasierten Herrschaftstheorie sind Beispiele dafür. Auch an aktuellen Theorieangeboten mangelt es nicht. Eine Pluralität von Ansätzen ist zu verzeichnen, die von Ralf Dahrendorf (Konflikttheorie), Karl Otto Hondrich (leistungs- und entscheidungstheoretischer Ansatz), Jürgen Habermas (Diskurstheorie), Niklas Luhmann (Systemtheorie), Hans Haferkamp (Handlungstheorie) über Michel Foucault (Disziplinierungsansatz), Pierre Bourdieu (Habituskonzept), Anthony Giddens (Theory of Structuration) bis zu Karola Maltry (feministische Ansätze) reichen. So unterschiedlich Ansätze und Fragestellungen sein mögen, gemeinsam ist ihnen allen der Mangel, eine befriedigende Antwort auf die Frage zu liefern, wie Herrschaft - und damit soziale Ordnung - entsteht und wie sie sich - prekär wie sie ist - verändert. Prekär ist sie schon deshalb, weil sie in einem Spannungsverhältnis zu individueller Freiheit und sozialer Ordnung steht. Man sollte meinen, dass aufgrund von Individualisierungstendenzen und damit wachsender Wahlmöglichkeiten der Individuen dieses Spannungsverhältnis eher noch angewachsen ist. Für diese Vermutung gibt es empirisch aber keine Anhaltspunkte. Nimmt man die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, so lassen sich Konjunkturen feststellen, in denen die »gesatzte Ordnung« (Weber 1972, 124) in unregelmäßigen Zyklen herausgefordert wurde (Stichwörter: Halbstarkenkrawalle, außerparlamentarische Opposition, Studentenbewegung, die Rote-Armee-Fraktion (RAF), Friedensbewegung, Umweltbewegung etc.). Aber die Zeiten, in denen von »Unregierbarkeit« gesprochen wurde, sind eher vorbei - was nicht ausschließt, dass sie schon morgen wieder präsent sein können. Die Frage bleibt, wie sich die in den letzten <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 170 170 Hypothese Jahrzehnten gewachsenen Wahlmöglichkeiten der Individuen einerseits und die vergleichsweise hohe Stabilität der Gesellschaft andererseits vereinbaren lassen. Die Erklärung könnte darin liegen, dass diese Gesellschaft durch ihr Institutionensystem über ausreichend Flexibilität verfügt und über die Institution Konkurrenzdemokratie z. B. in der Lage ist, Gruppierungen, die die »gesatzte Ordnung« herausfordern, wieder zu integrieren. Schließlich sind soziale Bewegungen nicht ohne Auswirkung auf die »gesatzte Ordnung« geblieben. Und da Individuen sich innerhalb strukturell vorgegebener Rahmenbedingungen verhalten, müsste eine Herrschaftstheorie sowohl die individualistische als auch die kollektivistische Theorietradition inkorporieren. Generelle Ansätze dafür (constraint-choice-Ansatz, strukturell-individualistischer Ansatz, Büschges et al. 1995), die nicht nur die Brücke zwischen Makro-Mikro-Makro-Ebene, sondern sogar den Hiatus zwischen »Verstehen« und »Erklären«, zwischen naturwissenschaftlich und geisteswissenschaftlich geprägter Sozialwissenschaft überbrücken wollen, sind in der jüngeren Vergangenheit entwickelt worden (Modell soziologischer Erklärung, Esser 1993, 3 ff., 83 ff.; 2010), und sind durchaus für die Analyse von Herrschaftsverhältnissen anwendbar (Esser 1993, 97 ff.). Einen ehrgeizigen und erfolgversprechenden Versuch, die weiter oben beklagten Defizite zu beheben, unternimmt Andrea Maurer (1999). Mit Bezug zu James S. Coleman, der selbst auf der Basis eines austauschtheoretischen Modells über Herrschaft als Verteilung von Rechten gearbeitet hat (1990), entwickelt sie ihr Thema »Herrschaft und soziale Ordnung«. Ausgehend von der Definition, Herrschaft sei ein »sozial konstituierter Ordnungsmechanismus« (1999, 196), geht sie der Frage nach, »warum formal freie Akteure soziale Ordnungen herrschaftlich organisieren und unter welchen Bedingungen sie diese aufrechterhalten bzw. verändern« (1999, 11). Schwierigkeiten, die mit der Beantwortung solcher Fragen verbunden sind, »lassen sich durchaus aufheben« (Maurer 2004, 151; Maurer/ Schmid 2010). Literatur Bendix, Reinhard, 1980: Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat, 2 Bde., Frankfurt a. M. (1978)- - Bourdieu, Pierre, 1982: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. (1979)-- Büschges, Günter et al., 1995: Grundzüge der Soziologie, München/ Wien.- - Coleman, James S., 1990: Foundations of Social Theory. Cambridge, Mass./ London (dt.: Grundlagen der Sozialtheorie. Handlungen und Handlungssysteme, München, 3 Bde. 1991, 1992, 1993)- - Dahrendorf, Ralf, 1963: Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München.- - Esser, Hartmut, 1997: Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl., Frankfurt a. M./ New York.- - Ders., 2010: Sinn, Kultur, Verstehen und das Modell der soziologischen Erklärung; in: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Kultursoziologie, Wiesbaden, 309-335.- - Foucault, Michel, 1976: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. (1975).- - Giddens, Anthony, 1988: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a. M./ New York.-- Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M.- - Haferkamp, Hans, 1983: Soziologie der Herrschaft, Opladen.-- Hobbes, Thomas, 1965: Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates, Reinbek (1651).- - Hondrich, Karl Otto, 1973: Theorie der Herrschaft, Frankfurt a. M.- - Imbusch, Peter, 2010: Macht und Herrschaft; in: Korte, Hermann; Schäfers, Bernhard (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 8. Aufl., Wiesbaden, 163-184.- - Lenski, Gerhard, 1977: Macht und Privileg, Frankfurt a. M. (1966)- - Luhmann, Niklas, 1975: Macht, Stuttgart.- - Machiavelli, Niccoló, 1963: Der Fürst, Stuttgart.-- Maltry, Karola, 1993: Die neue Frauenfriedensbewegung, Frankfurt a. M.- - Maurer, Andrea, 1999: Herrschaft und soziale Ordnung, Opladen/ Wiesbaden.-- Dies., 2004: Herrschaftssoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M./ New York.- - Maurer, Andrea; Schmid, Michael, 2010: Erklärende Soziologie, Wiesbaden, 278-362.-- Popitz, Heinrich, 1992: Phänomene der Macht. 2. Aufl., Tübingen.- - Weber, Max, 1972: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen (1922). Heinz Sahner Hypothese Bei einer Hypothese (engl. hypothesis) handelt es sich um wissenschaftlich begründete Vermutungen über einen Tatbestand oder über einen Zusammenhang zwischen mindestens zwei Merkmalen. Hypothesen enthalten sowohl gesichertes Wissen als auch unbestätigte Vermutungen. Hypothesen sollen mithilfe der Empirie überprüft werden. Sie dienen damit der Weiterentwicklung des Wissens. Das gesicherte Wissen sorgt sowohl für eine widerspruchsfreie Formulierung der in den Hypothesen enthaltenen Vermutungen als auch für eine Einordnung dieser Vermutung in ein theoretisches Gebäude. Die Prüfung einer Hypothese beginnt damit mit deren widerspruchsfreier Formulierung. <?page no="170"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 170 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 171 171 Hypothese Während in der quantitativen Forschung das Ziel darin besteht, das in der Hypothese enthaltene noch unbestätigte Wissen zu überprüfen, widmet sich die qualitative Forschung der empiriegestützten Erstellung von Hypothesen. Die Hypothesen üben damit in der quantitativen Forschung eine wichtige forschungsleitende Funktion aus. Die notwendigen Schritte für die Hypothesenprüfung ergeben sich aus den in den Hypothesen enthaltenen Vermutungen. In der Statistik sind auch die Begriffe Null- und H 1 -Hypothese gebräuchlich. Während die H 1 -Hypothese eine Vermutung über einen Zusammenhang enthält, beinhaltet die Null-Hypothese die entsprechende Alternative. Mithilfe statistischer Tests wird untersucht, ob die Alternativhypothese abgelehnt werden kann. In diesem Fall gilt die Annahme als nicht widerlegt und kann beibehalten werden. Literatur Diekmann, Andreas, 2011: Empirische Sozialforschung, Reinbek. Michael Häder <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 172 172 Identität I Identität Identität (engl. identity) ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer spezifischen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln und Denken eine gewisse Konsequenz zu zeigen, in der Auseinandersetzung mit den Anderen eine Balance zwischen eigenen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben und in dieser individuellen Besonderheit (persönliche Identität) auch von den Anderen wahrgenommen zu werden (soziale Identität). Mead: sich mit den Augen des Anderen sehen Nach George H. Mead (1973) entwickelt sich unser Bewusstsein von uns selbst in der permanenten Kommunikation zwischen uns und den Anderen. Nach der Phase des Rollenspiels (»play«), in dem das Kind sich mit »signifikanten Anderen« identifiziert, als sie denkt und handelt, ohne sich dessen und seiner selbst bewusst zu werden, gerät es in geregelte Spielsituationen (»game«), in denen viele Andere gleichzeitig und nach einem bestimmten Prinzip handeln. Um im Spiel zu bleiben, muss das Kind sich in die Perspektive aller hineinversetzen, es muss ihre Rollen verstehen. Die Summe aller Perspektiven in einem bestimmten sozialen Handlungszusammenhang nennt Mead den »generalisierten Anderen«. Das Bild, das das Kind (wie später auch der Erwachsene in jeder sozialen Kommunikation) von sich aus der Erfahrung mit den Anderen gewonnen hat, bezeichnet Mead als »me«. Da das Individuum in immer neue und unterschiedliche Kommunikationen gerät, ist diese soziale Identität keineswegs fest gefügt, sondern differenziert, manchmal sogar widersprüchlich und in ständiger Bewegung. Zum Bewusstsein seiner Ich-Identität, die Mead als »self« bezeichnet, gelangt das Individuum, indem es sich in die Rolle des Anderen hineinversetzt (»taking the role of the other«) und sein Handeln mit dessen Augen beobachtet. (300 f.) Parsons: stabile Orientierung in einer strukturell differenzierten Gesellschaft Die zunehmende »strukturelle Differenzierung der Gesellschaft«, so legt Talcott Parsons das Problem der Identität an, bringt eine »zunehmende Pluralisierung der Rollenverpflichtungen« und eine verwirrende Fülle von »Wahlmöglichkeiten« mit sich (1980, 68). Dadurch stellt sich dem Individuum immer drängender die Frage, wer es in den vielen sozialen Systemen ist, welche Bedeutung es für sie hat (und sie für sein eigenes Selbstbild), welches motivationale Engagement erwartet wird und welche Bindung es selbst eingehen will. Es wird »unerlässlich, ein angemessenes Niveau der Integration dieser einzelnen Komponenten herzustellen.« (73) Das Orientierungsmuster, das das Individuum in Abwägung seiner Rollenverpflichtungen und eigener Interessen ausbildet, bezeichnet Parsons als »Identität«. Es ist der »individuelle Code des Persönlichkeitssystems« (83), das sich im Prozess der Sozialisation nach Maßgabe eines gegebenen kulturellen Systems ausbildet. Riesman: Außenleitung Im 20. Jh. zeichnet sich zunächst in den USA und dann auch in Europa eine typische Verhaltenssteuerung ab, die David Riesman (1958) als »Außenleitung« bezeichnet. Der moderne Mensch folgt immer weniger eingelebten Wertvorstellungen, sondern ist offen für jede neue Mode, seien es Optionen, Verpflichtungen oder Überzeugungen. Er spielt flexibel immer neue Rollen und weiß schließlich nicht mehr, »wer er eigentlich wirklich ist und was mit ihm geschieht« (152). Das Individuum zeigt nicht, wer es ist, sondern was es kann. Goffman: soziale Identität, impression management, Rollendistanz Bei der »presentation of self« im Alltag stellt sich für Erving Goffman (1991b) unausweichlich das dramaturgische Problem des »impression management«: Wir wollen ein bestimmtes Bild von uns vermitteln, also einen bestimmten Eindruck erwecken, und damit das gelingt, müssen wir das Bild, das sich die Anderen von uns machen (soziale Identität), genau kontrollieren. Eine Voraussetzung, zu einem Bewusstsein der persönlichen Identität zu <?page no="172"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 172 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 173 173 Identität gelangen, ist, sich die Erwartungen der Anderen und die Rolle, die man spielt, klar zu machen. Die Fähigkeit, von der eigenen Rolle zurückzutreten und sie aus einer neuen Perspektive zu betrachten und die Zumutungen der Anderen an die soziale Identität abzuweisen, nennt Goffman Rollendistanz (1973). Es ist eine Strategie, eigene Erwartungen gegen fremde ins Spiel zu bringen, seine persönliche Identität durch selbstdefiniertes Handeln zu schützen und eine neue soziale Identität zu präsentieren. Wo die Definitionsmacht der Anderen zu groß ist (z. B. in totalen Institutionen, Goffman 1991a), flüchten sich die einen in eine Scheinidentität, andere, denen wegen eines bestimmten Stigmas (1996) Diskreditierung droht, sehen sich gezwungen, das sozial definierte Defizit einer »normalen« Identität zu kaschieren und eine Scheinnormalität vorzuspiegeln. Strauss: Spiegel und Masken und-die-soziale-Geschichte der Identität Auf der »Suche nach Identität« präsentiert sich das Individuum vor sich selbst und den Anderen in Masken, die es nach seinen Antizipationen ihrer Urteile geformt hat. (Strauss 1968, 7) Gleichzeitig betrachtet es die Anderen als Spiegel, die das Bild, das es von sich vermittelt, reflektieren. Sie sind es mit ihren Erwartungen, Anerkennungen und Sanktionen, die seine Identität von außen mitformen. Die persönliche Identität ist eingewoben in die soziale Geschichte der Gesellschaft und bestimmter Bezugsgruppen in ihr. (178) Erikson: Ich-Identität als Methode, Gleichheit-und Kontinuität zu wahren Nach Erik H. Erikson entwickelt sich die Identität in der kontinuierlichen Bewältigung phasenspezifischer »Kernkonflikte« (z. B. in der Kindheit zwischen sozialem Urvertrauen und Misstrauen, in der Jugendphase zwischen Identität und Diffusion oder im reifen Erwachsenenalter zwischen Ich-Integrität und Verzweiflung). Die Konflikte entstehen aus der Differenz zwischen dem eigenen Können und Wollen und den sozialen Erwartungen der Umwelt. In jeder Phase wird eine bestimmte Grundhaltung oder Tugend (1971, 96) ausgebildet. Die Summe der Tugenden bildet die Ich-Qualität, mit der sich der Mensch aktiv durch sein Leben »steuert« (98). Die lebensgeschichtlich entscheidende Phase ist die Jugend, in der sich der Heranwachsende aus der sicheren Orientierung an seinen primären Bezugspersonen löst und in der peer group die ersten Antworten auf die Fragen »wer bin ich? «, »wer bin ich nicht? « und »wie sehen mich die Anderen? « finden muss. Das Muster, das sich durch die biographische Entwicklung eines Individuums zieht, nennt Erikson »persönliche Identität«. Seine bewusste Erfahrung, dass es dieses Muster auch kontinuierlich durch sein Handeln zum Ausdruck bringt und dass auch die Anderen es nach diesem gleichen Muster immer wieder wahrnehmen und anerkennen, bezeichnet Erikson als Ich-Identität (1974, 17) Sie ist die »Methode« (18), über das ganze Leben hin und »angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten« (1971, 82). Krappmann: Balance der Identität und-identitätsfördernde Fähigkeiten Um seinen eigenen Vorstellungen gerecht zu werden und gleichzeitig seine »weitere Beteiligung an Interaktionen zu sichern« (Krappmann 1997, 81), muss das Individuum bestimmte »identitätsfördernde Fähigkeiten« haben: Es muss sich seinen Rollen gegenüber kritisch reflektierend verhalten (Rollendistanz) und eigene Vorstellungen gegen unberechtigte Erwartungen setzen; es muss sich in die Rolle eines Anderen hineinversetzen und ihn von seinem Standpunkt aus verstehen können (Empathie); es muss aushalten, dass Rollen widersprüchlich (lat. ambiguus) interpretiert werden und dass nicht alle seine Bedürfnisse in einer Situation befriedigt werden (Ambiguitätstoleranz); und schließlich muss es zeigen, wer es unter den Normalitätserwartungen der Anderen und in der Kontinuität der eigenen Biographie ist (Identitätsdarstellung). (Krappmann 1971, 132 ff.) In dem Maße, wie es die Balance zwischen fremden und eigenen Erwartungen immer neu findet und darstellen kann, erreicht das Individuum Ich-Identität (208). Taylor: Kampf um die Anerkennung einer-individualisierten Identität Charles Taylor sieht den Gedanken einer »individualisierten Identität (…), die allein mir gehört und die ich in mir selbst entdecke« (1997, 17), Ende des 18. Jh.s (besonders bei Herder) auftauchen: »Es gibt eine bestimmte Art, Person zu sein, die meine Art <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 174 174 Identität ist. Ich bin aufgerufen, mein Leben in dieser Art zu leben und nicht das Leben eines Anderen nachzuahmen.« (19) Diese individuelle Art finden wir nur im Dialog mit »signifikanten Anderen« (22); von ihnen wollen wir anerkannt werden. »Das Verlangen nach Anerkennung ist (…) ein menschliches Grundbedürfnis« (15). Sie konstituiert erst Identität, aber die Chancen, sich der eigenen Identität bewusst zu werden und dafür Anerkennung zu finden, sind angesichts wachsender struktureller gesellschaftlicher Widersprüche ungleich verteilt. Keupp: Identitätsarbeit-- Passungen zu einem Patchwork der Identitäen In einer ambivalenten, komplexen Welt ist »das Inventar übernehmbarer Identitätsmuster ausgezehrt« (Keupp 1997, 34); weder gibt es die eine Identität, noch gibt es eine feste Identität. Stattdessen muss das Individuum in »alltäglicher Identitätsarbeit (…) Passungen (…) und Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten« vornehmen. (ebd.) So kommt es zu einem immer neuen Patchwork der Identitäten (Keupp et al. 2002). Bourdieu: Sozialer Raum und Habitus Es gibt eine enge Wechselbeziehung zwischen dem sozialen Raum, in dem Akteure interagieren, und klassenspezifischen Mustern zu denken, zu handeln und sich selbst zu sehen. Diese verinnerlichten Muster bezeichnet Pierre Bourdieu als Habitus. (1983, 132) Die Akteure handeln nicht nach einer »gedanklichen Setzung« (1998, 144), sondern verkörpern »klassenunbewusst« in ihrer Praxis, was die objektiven Strukturen vorgeben und erzwingen. Das »Subjekt« setzt Bourdieu deshalb auch in Anführungszeichen, weil es in Wirklichkeit kein selbstbewusstes Subjekt, »kein bewusstes Ich« ist, sondern in den allermeisten Fällen wie ein Automat funktioniert. (1987, 740; 2001, 165) Berger et al.: Krise der modernen Identität Peter L. und Brigitte Berger und Hansfried Kellner erklären die Krise der modernen Identität, worunter sie »die tatsächliche Erfahrung des Ich in einer bestimmten sozialen Situation« verstehen, mit der Segmentierung und »Pluralisierung der sozialen Lebenswelten« (1975, 60/ 69). Die moderne Identität ist (im Sinne Riesmans) besonders offen für alle möglichen Anregungen, Erwartungen und Transformationen. Auf die vielen verschiedenen sozialen Wirklichkeiten stellt sich der moderne Mensch mit einer besonders differenzierten Identität ein. Da alles in der Welt mit allem zusammenzuhängen scheint, muss auch alles reflektiert werden, was auch beinhaltet, das eigene Ich in seiner permanenten Umstellung auf die flüchtigen Welten zu beobachten. Deshalb kann man die moderne Identität auch als besonders reflexiv bezeichnen. Schließlich ist sie besonders individuiert, denn jeder reklamiert als oberstes aller individuellen Rechte, die ihm die Moderne beschert hat, »das Recht, sein Leben so frei wie möglich zu planen und zu gestalten«. (70 ff.) Bauman: Ambivalenz, Ende der Eindeutigkeit Für Zygmunt Bauman ist das Signet der Moderne ihre »Ambivalenz« (1992): die Moderne hat uns zwar von vielen Zwängen und auch dazu befreit, eine Identität selbst zu wählen, aber es ist »nicht mehr möglich, sie festzuhalten« (1993). Mit dem »Ende der Eindeutigkeit« (1991) ist auch das Fundament zerbröckelt, auf dem man eine sichere Entscheidung über sich und die sozialen Verhältnisse treffen könnte. Entscheidungen, wenn sie überhaupt getroffen werden, mangelt es »an Gewicht und Festigkeit«; sie gelten als jederzeit widerrufbar. »Freiheit gerät zu Beliebigkeit; das berühmte Zu-allem-Befähigen, für das sie hochgelobt wird, hat den postmodernen Identitätssuchern alle Gewalt eines Sisyphos verliehen. (…) Heutzutage scheint alles sich gegen ferne Ziele, lebenslange Entwürfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bündnisse, unwandelbare Identitäten zu verschwören.« (1993) Literatur Abels, Heinz, 2010: Identität, 2. Aufl., Wiesbaden.- - Bauman, Zygmunt, 1992: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg (1991).-- Ders, 1993: Wir sind wie Landstreicher, München (Süddeutsche Zeitung).-- Berger, Peter L. et al., 1975: Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a. M. (1973).-- Bourdieu, Pierre, 1983: Die feinen Unterschiede oder: Die Abhängigkeit aller Lebensäußerungen vom sozialen Status; in: L’80. Demokratie und Sozialismus, Köln.- - Ders., 1987: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. (1979).- - Ders., 1998: Praktische Vernunft, Frankfurt a. M. (1994)- - Ders., 2001: Wie die Kultur zum Bauern kommt, Hamburg. (2000)- - Erikson, Erik H., 1971: <?page no="174"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 174 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 175 175 Ideologie Einsicht und Verantwortung, Frankfurt a. M. (1964).-- Ders., 1974: Identität und Lebenszyklus, 2. Aufl., Frankfurt a. M. (1946).- - Goffman, Erving, 1973: Interaktion: Spaß am Spiel. Rollendistanz (1961)- - Ders., 1991a: Asyle, 8. Aufl., Frankfurt a. M. (1961).-- Ders., 1991b: Wir alle spielen Theater, 7. Aufl., München (1959).- - Ders., 1996: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, 12. Aufl., Frankfurt a. M. (1963).-- Keupp, Heiner, 1997: Diskursarena Identität; in: Ders.; Höfer, Renate (Hg.): Identitätsarbeit heute, Frankfurt a. M.-- Ders. et al., 2002: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 2. Aufl., Reinbek.- - Krappmann, Lothar, 1971: Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart (1969).-- Ders., 1997: Die Identitätsproblematik nach Erikson aus einer interaktionistischen Sicht; in: Keupp, Heiner; Höfer, Renate (Hg.), 66-92.-- Mead, George Herbert, 1973: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. (1934).- - Parsons, Talcott, 1980: Der Stellenwert des Identitätsbegriffs in der allgemeinen Handlungstheorie; in: Döbert, Rainer et al. (Hg.): Entwicklung des Ichs, 2. Aufl., Hanstein (1968).- - Riesman, David, 1958: Die einsame Masse, Reinbek (1950).- - Strauss, Anselm L., 1968: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität, Frankfurt a. M. (1959).- - Taylor, Charles, 1997: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. Heinz Abels Ideologie Die Ideologie (engl. ideology) hat trotz der relativ kurzen Existenz des Wortes in der Begriffsgeschichte von Philosophie, Politik, Wissenssoziologie und Psychologie eine übergroße Vielfalt von Bedeutungen hinterlassen (vgl. Dierse/ Romberg 1976). Deshalb soll sie hier nur in mehr umgangssprachlicher Bedeutung als allgemeinsoziologisch-wissenschaftstheoretischer Begriff im Gegensatz zur Theorie gesehen werden. Talcott Parsons definiert Ideologie als »a system of beliefs, held in common by the members of a collectivity, i. e., a society, a sub-collectivity of one - including a movement deviant from the main culture of the society - a system of ideas which is oriented to the evaluative integration of the collectivity, by interpretation of the empirical nature of the collectivity and of the situation in which it is placed, the processes by which it has developed to its given state, the goals to which its members are collectively oriented, and their relation to the future course of events« (1951: 349). Damit beschreibt er zwar eine wichtige soziale Funktion der Ideologie, die Integrationsfunktion, aber er beschreibt nicht das Typische der Ideologie, sondern eine Mischung aus Wertordnung, Geschichtsbewusstsein und Zukunftsorientierung, also wichtige Kulturbestandteile, die Ideologie sein können, aber nicht müssen. Sprachlich ist Ideologie weder von vielen anderen Kulturelementen (Mythen, Tradition u. Ä.) noch von einer wissenschaftlichen Theorie zu unterscheiden. Alle bestehen aus Aussagesätzen (anders etwa normative Systeme, die auch Kulturbestandteile sind). Der Unterschied liegt im Umgang mit ihnen: Im Gegensatz zu den kognitiven Kulturelementen und vor allem zu den Theorien ist Ideologie falsifikationsresistent (Endruweit, 119 f.). Wird eine Theorie widerlegt, gibt der Wissenschaftler sie bereitwillig auf. Erweist sich eine historische Überlieferung als falsch, wird sie korrigiert (oder augenzwinkernd, etwa als Nationalepos, in mehr oder weniger folkloristischer Absicht weiterhin gepflegt, aber nicht geglaubt). Eine Ideologie wird auch bei Gegenbeweis aufrechterhalten. Der Widerspruch zur Wirklichkeit wird mit »falschem Bewusstsein« oder als Oberflächenphänomen o. Ä. erklärt. Es ist wohl etwas überspitzt zu sagen: »Zwei Merkmale sind es vor allem, die den Ideologie-Charakter eines Aussagensystems kennzeichnen: Es enthält unwahre Aussagen, und diese dienen dazu, das System als Waffe im politischen Kampf verwendbar zu machen. Unwahrheit und darauf beruhende politische Brauchbarkeit machen also das Wesen der Ideologie aus« (Albert, 126, mit Verweis auf Theodor Geiger, der viel für die soziologische Modernisierung des Ideologiebegriffs getan hat); das kann auch auf eine wissenschaftliche Theorie vor gründlicher empirischer Überprüfung zutreffen. Richtig daran ist, dass bei der Formulierung insbesondere von agitatorisch-aktionistischen Ideologien offensichtliche Wahrheiten mit verdeckten Handlungszielen und obskuren Rechtfertigungen vermischt werden, so dass sie »eine nicht-objektive, von subjektiven Werturteilen beeinflusste, den Gegenstand der Erkenntnis verhüllende, sie verklärende oder entstellende Darstellung dieses Gegenstandes« (Kelsen, 111) ergeben und die Anhänger diskussionsimmun und manipulierbar machen. Das kann gerade wegen der sprachlichen Gleichheit auch leicht unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit geschehen: »Unter ›ideologischer Verzerrung‹ soll … der Versuch verstanden werden, praktische <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 176 176 Indikator Werturteile als wissenschaftliche Annahmen auszugeben, d. h. in Form wissenschaftlicher Annahmen anzubieten, was nachweislich jenseits empirischer Prüfbarkeit beheimatete Werterklärungen sind« (Dahrendorf, 84). Ideologie ist also bestenfalls eine »Para-Theorie« (Geiger, 57). Literatur Albert, Hans, 1972: Ökonomische Ideologie und politische Theorie, Göttingen.- - Dahrendorf, Ralf, 1967: Pfade aus Utopia, München.- - Dierse, Ulrich; Romberg, Reinhard, 1976: Ideologie; in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt, 158-185.-- Eagleton, Terry, 1991: Ideology. An Introduction, London.-- Endruweit, Günter, 1997: Theorie- Empirie-Praxis; in: ders.: Beiträge zur Soziologie, Bd. I, Kiel, 118-143.-- Geiger, Theodor, 1953: Ideologie und Wahrheit, Stuttgart.-- Kelsen, Hans, 1960: Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien.- - Parsons, Talcott, 1951: The Social System, New York/ London. Günter Endruweit lmage Das Image (engl. image) eines Objekts ist die Vorstellung, die sich einzelne oder mehrere Menschen von dem Objekt (Mensch, Sache, Organisation wie z. B. einer Gewerkschaft, lnstitution wie z. B. Strafvollzug oder lnvestmenthandel usw.) machen. Sie kann auf eigener Kenntnis, gelerntem Wissen, Informationen aus Medien, Erwartungen, Gefühlen, Gerüchten und weiteren Quellen beruhen. Liegt keinerlei hinreichende Sachkenntnis zu Grunde, stimmt das lmage weitgehend mit dem Vorurteil überein. Oft enthält das lmage auch ein Werturteil über das Objekt. Als sozialer Katalysator bestimmt das lmage einen großen Teil nicht nur der Einstellungen, sondern auch des Handelns gegenüber den Objekten. Deshalb versuchen diese, sofern sie handlungsfähig sind (z. B. Politiker, Firmen, Schauspieler) ihr Image positiv zu beeinflussen, und Gegner (etwa Konkurrenten in Politik oder Wirtschaft) bemühen sich, es, oft heimlich, negativ zu beeinflussen. Das kann nicht nur durch lnformation, sondern auch durch Unterdrückung von lnformation oder durch Desinformation geschehen. lmageberatung ist daher eine eigene Branche geworden, die nicht nur in der Wirtschaft (Markenartikel, Produktgestaltung), der Politik (Wahlkampfkonzeption) und der Selbstdarstellung von Schauspielern und Politikern (Platzierung von"home stories« in Boulevard-Blättern), sondern auch in der Berichterstattung über Staaten in der Weltpolitik (›Verbesserung des Deutschlandbildes‹) große Bedeutung hat. Man unterscheidet Selbstbild und Fremdbild, je nachdem, ob man selbst (indem man sich gewissermaßen selbst als Objekt behandelt) oder ein anderes Objekt Gegenstand der Vorstellung ist. Entstehung und Wirkungsweise sind im Wesentlichen gleich. Wenn sich die Vorstellungen stark verfestigen und gar noch korrekturresistent werden, spricht man von Autobzw. Heterostereotypen. Dabei bezieht sich das Verfestigen oft auf das Festhalten an früher zutreffenden, inzwischen aber überholten Vorstellungen. Das wichtigste Verfahren zur Messung von lmages ist das semantische Differenzial nach C. E. Osgood. Dazu wird Befragten eine Liste von Adjektiven (so der häufigste Fall), Substantiven oder Verben und deren jeweiligem Gegenteil vorgelegt, die Eigenschaften, Bestandteile, Aktivitäten o. Ä. des Objekts bezeichnen; zwischen den jeweiligen Paaren ist eine Skala, auf der die Befragten ihre Meinung über die Verwirklichung dieses Merkmals bei dem Objekt angeben sollen. So lassen sich nicht nur Beschreibungen des lmages ermitteln, sondern - durch die Verbindung der Skalenpunkte - auch graphische Vergleiche und - durch formelhafte Fassung der Skalendaten - (pseudo-)genaue quantitative Vergleiche von Objekten. Literatur Kautt, York, 2008: lmage, Bielefeld.- - Kleining, Gerhard, 1961: Über soziale lmages; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5. Günter Endruweit Indikator Unter Indikatoren (engl. indicators) werden allgemein Anzeiger verstanden. Die Eigenschaften bestimmter Sachverhalte können dazu dienen, auf nicht direkt beobachtbare Eigenschaften anderer Sachverhalte hinzudeuten. Letzteres wird auch als das Indikatum bezeichnet. Bekannt ist das Beispiel des Quecksilbers, das die Eigenschaft besitzt, sich bei <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 176 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 177 177 Indikatoren, soziale veränderten Temperaturen auszudehnen oder zusammenzuziehen. Diese Funktion wird dann im Thermometer genutzt, um die Temperatur zu ermitteln. Indikatoren in der empirischen Sozialforschung Indikatoren sind vor allem dann hilfreich und erforderlich, wenn es sich beim Indikatum um einen Sachverhalt handelt, der selbst nicht direkt beobachtbar ist, wie etwa die Temperatur. Da sich gerade die empirische Sozialforschung für zahlreiche Sachverhalte interessiert, für die dies zutrifft, gewinnen hier Indikatoren eine wichtige Funktion. So lässt sich beispielsweise das Alter einer Person - hier das Indikatum - nicht ohne weiteres beobachten. Die Antwort auf eine Frage wie: »In welchem Jahr sind Sie geboren? « vermag nun eine Indikatorfunktion auszuüben und eine Information zum Alter der betreffenden Person zu liefern. Ein Problem in der empirischen Sozialforschung besteht darin, dass man aus dem Indikator zumeist lediglich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf das Indikatum schließen kann. So könnte eine befragte Person bemüht sein, vor dem Fragenden jünger (oder älter) zu erscheinen und deshalb ihr Geburtsjahr in die entsprechende Richtung korrigieren. Zahlreiche sozialwissenschaftlich interessante Sachverhalte lassen sich zudem nicht über eine einzelne Frage ermitteln, sondern machen es erforderlich, eine ganze Reihe an Informationen zu ermitteln. So benötigt die Erhebung der sozialen Stellung einer Person beispielsweise eine ganze Reihe an Auskünften. Wichtig ist nun, solche Indikatoren einzusetzen, die in einem theoretisch begründeten, möglichst engen Verhältnis zur sozialen Stellung stehen bzw. auf diese gut zu verweisen vermögen. Dies ist der Gegenstand des Prozesses der Operationalisierung. Dabei werden Korrespondenzregeln herangezogen, die die Verknüpfung zwischen dem beobachtbaren und dem nicht beobachtbaren Sachverhalt theoretisch erklären. Indexbildung und Indikator Eng verbunden mit der Indikatorentwicklung ist auch die Bildung von Indices. Während es bei der Operationalisierung darauf ankam, (mehrere) Indikatoren zu finden, die auf einen komplexen bzw. latenten Sachverhalt - wie etwa die soziale Stellung - hindeuten, werden bei der Bildung eines Index die unterschiedlichen Informationen mithilfe von Rechenoperationen wieder zu einem Wert zusammengefasst. Dieser drückt dann den gesuchten Sachverhalt aus. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Schichtungsindex, der die Dimensionen Bildung, Einkommen und Berufsposition vereint (vgl. Scheuch/ Daheim 1970: 102 f.). Weitere Bedeutungen des Begriffs Indikator Der Begriff des Indikators wird bei der Gestaltung von Fragebögen noch in einem besonderen Verständnis benutzt. Hier werden die einzelnen Fragebogenfragen synonym auch als Indikator bezeichnet. Dies liegt nahe, da solche Fragen innerhalb eines Erhebungsstandards eine Indikatorfunktion erfüllen: Sie veranlassen eine befragte Person dazu, die entsprechenden Auskünfte zu geben. Schließlich wird im Rahmen der Wohlfahrtsforschung auch von Sozialen Indikatoren gesprochen. Damit ist ein komplexes System von Messinstrumenten gemeint, das genutzt wird, um das in einer Gesellschaft vorhandene Wohlfahrtsniveau abzubilden und um die Wirkung einer spezifischen Sozialpolitik zu erkennen. Literatur Habich, Roland; Noll, Heinz-Herbert, unter Mitarb. V. Wolfgang Zapf, 1994: Soziale Indikatoren und Sozialberichterstattung, Bundesamt für Statistik, Reihe »Statistik der Schweiz«, Bern.-- Häder, Michael, 2009: Empirische Sozialforschung, Wiesbaden.- - Opp, Karl-Dieter, 1970: Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek.- - Scheuch, Erwin K.; Daheim, Hansjürgen, 1970: Sozialprestige und soziale Schichtung; in: Glass, David W.; König, René (Hg.): Soziale Schichtung und soziale Mobilität, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 5, 4. Aufl., 65-103. Michael Häder Indikatoren, soziale Soziale Indikatoren (engl. social indicators) sind statistische Maßzahlen, die gesellschaftlich bzw. gesellschaftspolitisch relevante Sachverhalte und Ziele quantitativ darstellen. Soziale Indikatoren beziehen sich typischerweise auf individuenbezogene Endprodukte oder Leistungen (outputs). Es kann sich sowww.claudia-wild.de: <?page no="177"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 178 178 Indikatoren, soziale wohl um einfache Ziffern als auch um zusammenfassende Indizes handeln, sowohl um Angaben für einen bestimmten Zeitpunkt als auch um Zeitreihen, sowohl um aggregierte Maße für eine Nation als auch um disaggregierte Maße für Bevölkerungsgruppen und Regionen. Soziale Indikatoren dienen einer kontinuierlichen Analyse des sozialen Wandels und kennzeichnen all jene Daten, »die uns in irgendeiner Weise ›aufklären‹ über Strukturen und Prozesse, Ziele und Leistungen, Werte und Meinungen« (Krupp/ Zapf ). Ein Beispiel für einen sozialen Indikator ist die Säuglingssterblichkeit (Gestorbene je 100 Lebendgeborene). Dieser Indikator erhielt in der Vergangenheit hohe Aufmerksamkeit, und es bestand ein umfassender gesellschaftlicher Konsens darüber, dass der Rückgang des Zahlenwerts eine positive Entwicklung anzeigt. Eine in den sozialen Schichten und Nationen unterschiedlich hohe Säuglingssterblichkeit weist darauf hin, dass für die schlechter gestellten Gruppen Verbesserungsmöglichkeiten bestehen. Die Veränderung der Messziffer ist im Zusammenhang mit gesundheitspolitischen Maßnahmen untersucht werden. Im Rahmen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) werden seit 1990 jährlich Berichte vorgelegt, in denen komplexere und aus mehreren Einzelindikatoren zusammengesetzte soziale Indikatoren entwickelt wurden. Neben dem Index für menschliche Entwicklung (HDI), der drei bzw. vier Teilindikatoren zu einem Wert zusammenfasst, wurden weitere Indizes erarbeitet, um multidimensionale Aspekte des Wohlergehens zu erfassen. Hierzu zählen insbesondere Ungleichheit, Geschlechtergerechtigkeit sowie Armut. Diese Indizes wurden auf der Grundlage verbesserter Methoden und einer verbesserten Datenverfügbarkeit entwickelt. Drei zentrale Fragestellungen bestimmen die Sozialindikatorenforschung: Erstens geht es um die Messung von Lebensqualität und Wohlfahrt: Dabei dienen Sozialindikatoren als Messzahlen, die anzeigen, wie sich objektiv beobachtbare Lebensbedingungen und subjektiv wahrgenommene Lebensqualität zwischen Bevölkerungsgruppen und zwischen Nationen unterscheiden und im Zeitablauf verändern. Als Bewertungskriterien für die erreichte »Wohlfahrt« werden Expertenstandards, gesellschaftspolitische Ziele und die Urteile der betroffenen Individuen herangezogen. In neueren Ansätzen wird das Ziel der Nachhaltigkeit betont. Die zweite Frage bezieht sich auf die Beobachtung von sozialem Wandel und gesellschaftlicher Entwicklung und Transformation. Soziale Indikatoren sind dabei die Maßzahlen, an denen sich Richtung, Schnelligkeit und Tiefgang gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ablesen lassen. Der dritte Ansatz besteht in der Durchführung von Prognosen und Wirkungsanalysen. Soziale Indikatoren bilden dabei die Variablen eines Modells, mit dessen Hilfe Vorhersagen gemacht oder Wirkungszusammenhänge analysiert werden. Vor allem dieser Anspruch wird mittlerweile innerhalb der Forschung zu sozialen Indikatoren eher skeptisch reflektiert (Smith), da sich mit Hilfe aggregierter Indikatoren in der Regel keine kausalen Wirkungsanalysen erzielen lassen. Insgesamt trägt die Sozialindikatorenforschung mit ihren mehrdimensionalen Indikatorensystemen wesentlich zu einer aufgeklärten gesellschaftlichen Ziel- und Gestaltungsdiskussion bei, da sie Probleme verschiedener Ziele zumindest transparent macht und damit einer rationalen gesellschaftlichen Planung und Transformation dient. Mitte der sechziger Jahre bildete sich in den Sozialwissenschaften eine »Sozialindikatorenbewegung«, die ein Erkenntnisinteresse an Sozialberichterstattung bzw. gesellschaftlicher Berichterstattung förderte (vgl. die Fachzeitschrift »Social Indicators Research«). Die sogenannte »Soziale Indikatoren-Forschung« fand damals nicht allein an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen statt, sondern erstreckte sich auch auf die Arbeit der amtlichen Statistik, nationaler Behörden und internationaler Organisationen. In zahlreichen Staaten wurden - überwiegend von amtlichen Stellen - Sozialreports erstellt, die über die »Lage der Nation« Bericht erstatten (vgl. für Deutschland: Statistisches Bundesamt, 1985, mit dem Datenreport, der 2011 in der 13. Auflage erschien). In Deutschland arbeiten mittlerweile im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) die wichtigsten Produzenten der Datengrundlagen zusammen. Diese Experten stammen sowohl aus dem Bereich der amtlichen Statistik als auch aus der wissenschaftsgetragenen Forschungsdateninfrastruktur. Für die Erweiterung der Europäischen Union spielten soziale Indikatoren eine besondere Rolle, und es wurden auch methodische Qualitätskriterien entwickelt: Zum Beispiel wurde gefordert, dass ein Indikator in ausreichend vergleichbarer Weise für alle <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 178 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 179 179 Individualisierung Mitgliedstaaten messbar sein müsse und soweit wie möglich mit den internationalen Standards, die durch die Vereinten Nationen und die OECD verwendet werden, verglichen werden müsse (Atkinson et al. 2002). Insbesondere im Rahmen der Weiterentwicklung der europäischen Sozialpolitik liefern soziale Indikatoren als Instrumente der offenen Methode der Koordinierung einen wichtigen Beitrag und finden sich als Zielindikatoren auch im auf zehn Jahre angelegten Entwicklungsprogramm der Europäischen Union Europa 2020. Mit dem Beginn der Finanzmarktkrise wurde in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wieder über Möglichkeiten einer statistischen Messung von Wohlstand und Lebensqualität jenseits des Bruttosozialprodukts diskutiert. Diese Debatte über die Festlegung von einem Bündel an erstrebenswerten Zieldimensionen greifen nun vor allem Ökonomen erneut auf und entwickeln sie weiter. Eine von den Wirtschafts-Nobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen geleitete französische Sachverständigenkommission brachte eine solche alternative Wohlstandsmessung »Beyond GDP« wieder als erstrebenswertes Ziel auf die politische Agenda. Auch der Deutsche Bundestag setzte im Jahr 2010 eine Enquete-Kommission ein, die unter dem Titel »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft« Vorschläge erarbeiten soll, wie die Einflussfaktoren auf Lebensqualität und gesellschaftlichen Fortschritt angemessen berücksichtigt und eventuell zu einem gemeinsamen Indikator zusammengeführt werden können. Die Suche nach alternativen sozialen Indikatoren wirft dabei eine Reihe praktischer nach wie vor nicht gelöster Fragen auf, die Krupp/ Zapf bereits in den 70er Jahren thematisierten: Auf Grundlage welcher Statistiken können solche Indikatoren gebildet werden? Gelingt es, sie zeitnah zu liefern? Und welche Rolle sollen statistische Ämter dabei spielen, vor allem wenn es um die Erhebung subjektiver Indikatoren geht? Literatur Atkinson, Tony et al., 2002: Social Indicators, Oxford, UK.-- Ballerstedt, Eike; Glatzer, Wolfgang, 1979: Soziologischer Almanach. Handbuch gesellschaftlicher Daten und Indikatoren, 3. Aufl., Frankfurt/ New York.- - Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.), 2010: Der wahre Wohlstand der Nationen, Berlin.-- Glatzer, Wolfgang; Zapf, Wolfgang, 1984: Lebensqualität in der Bundesrepublik, Frankfurt/ New York.- - Krupp, Hans-Jürgen; Zapf, Wolfgang, 1986: »Indikatoren, soziale«; in: Albers, Willy et al. (Hg.): Handwörterbuch für die Wirtschaftswissenschaften, Göttingen, 119-133- - OECD, 2009: Gesellschaft auf einen Blick. OECD Sozialindikatoren, Paris.-- Smith, Tom W., 1981: Social Indicators. A Review Essay; in: Journal of Social History 14, 739-747.- - Statistisches Bundesamt (Hg.) in Zusammenarbeit mit dem SFB 3 der Universitäten Frankfurt und Mannheim, 1985: Datenreport 1985, Stuttgart.-- Statistisches Bundesamt/ WZB/ SOEP (Hg.), 2011: Datenreport 2011, Bonn.-- Stiglitz, Joseph E. et al., 2010: Mismeasuring Our Lives, New York/ London, UK. Jürgen Schupp/ Wolfgang Glatzer Individualisierung Es ist schwer, Individualisierung (engl. individualization) nicht misszuverstehen. Individualisierung als realgeschichtlicher Prozess meint nicht die Ideengeschichte des Individualismus (d. h. die Betonung der Autonomie, der Würde und Eigenverantwortung des Individuums, wie sie auf die griechische Philosophie zurückgeht und in der europäischen Aufklärung ausformuliert wurde). Individualisierung ist nicht Individuation - ein Begriff, der von Psychologen benutzt wird, um den Prozess zu beschreiben, wie man ein autonomes Individuum wird; und Individualisierung darf auch nicht verwechselt werden mit Marktegoismus, Thatcherismus oder Egogesellschaft. Schließlich ist es ein weitverbreitetes Missverständnis, Individualisierung fälschlich gleichzusetzen mit Emanzipation (im Sinne Jürgen Habermas’). Individualisierung als realgeschichtlicher (und nicht nur ideengeschichtlicher) Prozess ist ein soziologisches Konzept, das eine strukturelle Transformation sozialer Institutionen und der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft beschreibt (Beck 1983; Beck-Gernsheim 1983; Berger 1996; Vester 1997). Man kann eine Geschichte der Soziologie verfassen, indem man nachzeichnet, wie Durkheim, Weber, Simmel, Marx, Foucault, Elias, Giddens, Bauman u. a. die Idee der Individualisierung verwendet und interpretiert haben (Schroer 2001). Es handelt sich also keineswegs schlicht um ein Phänomen, das für die zweite Hälfte des 20. Jh.s charakteristisch ist. Frühe historische Phasen der Individualisierung lassen sich in der Renaissance beobachten, in <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 180 180 Individualisierung der Hofgesellschaft des Mittelalters, in der innerweltlichen Askese des Protestantismus, in der Freisetzung der Bauern aus feudalen Bindungen sowie in der Auflösung bzw. Lockerung intergenerationaler Familienbindungen im 19. und frühen 20. Jh. Nicht nur die Ideengeschichte des Individualismus, auch die Realgeschichte der Individualisierung zeigt, dass die europäische Moderne die Individuen freigesetzt hat aus historisch vorgegebenen und zugewiesenen Rollen. Traditionelle Sicherheiten (z. B. religiöse Glaubensgemeinschaften, Klassenstrukturen) wurden unterminiert, während zugleich neue Formen sozialer Einbindungen (Nation, Zivilgesellschaft, Bürgerrechte) kreiert wurden. Worin liegt dann aber das historisch Spezifische des Individualisierungsschubs seit den 1960er Jahren und der Individualisierungsdebatte seit Beginn der 1980er Jahre in den Sozialwissenschaften? Auf eine Formel gebracht: Individualisierung in der Zweiten Moderne meint »disembedding without reembedding«, Freisetzung ohne Wiedereinbettung. Zum ersten Mal in der Geschichte wird das Individuum zur Einheit sozialer Reproduktion (Beck 1986). Anders gesagt: Individualisierung selbst wird zur paradoxen Sozialstruktur der Zweiten Moderne (Beck/ Beck-Gernsheim 2002). Zentrale Institutionen (wie zivile, politische und soziale) Grundrechte sind an das Individuum adressiert, gerade nicht an Kollektive oder Gruppen. Das Bildungssystem, die Arbeitsmarktdynamik, Karrieremuster, ja Märkte ganz allgemein sind in diesem Sinne »individualisierende Strukturen«, individualisierende Institutionen, also »Motoren« der Individualisierung Ebenso bedeutet die laufende Flexibilisierung der Erwerbsarbeit Individualisierung von Risiken und Lebenszusammenhängen. Der westliche Typ einer individualisierten Gesellschaft verpflichtet die Individuen dazu, biographische Lösungen für systemische Widersprüche zu suchen (Leibfried et al. 1995). Bspw. zeigen Spannungen im Familienalltag, wie schwierig oder unmöglich es geworden ist, zwei Arbeitsmarkt- Karrieren mit den Rollen der Elternschaft und der Partnerschaft zu verbinden. Es ist praktisch ausgeschlossen, die Gleichheit von Männern und Frauen in einer institutionalisierten Familienstruktur zu verwirklichen, welche die Ungleichheit voraussetzt und verstärkt (Beck/ Beck-Gernsheim 1990; Beck- Gernsheim 2010). Individualisierung allein, gleichsam als autistischer Massenindividualismus gedacht, ist ein Unding. Individualisierung steht unter dem normativen Anspruch der Co-Individualisierung, d. h. der Individualisierung mit- oder gegeneinander. Individualisierung (der) des Einen ist oft genug die Grenze der Individualisierung des (der) Anderen. So werden mit zunehmender Individualisierung auch die nervigen Grenzen derselben miterzeugt. Anders gesagt: Individualisierung ist ein durch und durch gesellschaftlicher Sachverhalt oder gar nichts. Die Vorstellung eines autarken Ich ist pure Ideologie. Wo Individualisierung und Globalisierung sich überschneiden, heißt es: die Welt als Gegensatz zu begreifen - und zu leben. Der Zwang, zwischen Kulturen, Gewissheiten, Lebensstilen wählen und vermitteln zu müssen, verlangt nach öffentlichem Austausch über die eingebauten Widersprüche der Wahl-Lebensformen und ihrer Konsequenzen für andere und alle. Dies aber bedeutet: Das Rollenmodell des sozialen Lebens, nach dem das eigene Leben als Kopie nach der Vorgabe traditionaler Blaupausen gelebt werden konnte, läuft aus. Individualisierung ersetzt das Leitbild der »Kopisten-Existenz« durch das der »dialogischen Existenz«, dialogischen Imagination, in welcher die Gegensätze der Welt im eigenen Leben ausgehalten, überbrückt werden müssen. Jeder und jede muss sich nun, im Zurückkommen auf sich selbst, einen Reim machen auf die Vor- und Nachteile, diejenigen zu sein, die sie sind. Welche politischen Implikationen hat Individualisierung? Politik, verstanden als parlamentarische und Regierungspolitik, setzt aggregierte Interessen voraus, und dies wiederum eine (relativ) übersichtliche und stabile Sozialstruktur sowie dazu passende Parteien und Verbände. Der Interessenbegriff (wie er insbesondere von der Politikwissenschaft zugrunde gelegt wird) unterstellt eine kollektive Sozietät, die im Zuge von Individualisierung und Globalisierung fragwürdig wird. Was hält im Individualisierungsprozess das Bewusstsein dafür wach, dass Grundlagen des eigenen Lebens nur im öffentlichen und politischen Austausch mit anderen gewonnen und verteidigt werden können? Wie wird es möglich, dass Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, Israelis und Araber, Christen und Moslems eine nicht-individualistische und nicht-essentialistische Definition der conditio humana dennoch teilen? Kultur wird damit - wie Alain Touraine bemerkt - zu einem Experiment mit dem Ziel herauszufinden, »wie wir zusammenleben können als Gleiche und doch Verschiedene«. <?page no="180"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 180 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 181 181 Individualismus, methodologischer Das Zeitalter der Individualisierung ist also keineswegs durch die Gespenster bedroht, die in den öffentlichen Debatten an die Wand gemalt werden: Werteverfall und Ich-Sucht. Es ist vielmehr dadurch gefährdet, dass es erstens nicht gelingt, die schöpferischen Impulse der experimentellen Normativität der Individualisierung in politisch-öffentliche Formen und Prioritäten zu übersetzen; und dass zweitens sich die Suche nach den Grundlagen des eigenen Lebens in einem unendlichen Regress des Privaten (des Psychologischen, Esoterischen) verläuft und verliert. Das Zeitalter der Individualisierung kann also nicht mehr durch Kontrollnormen geregelt und gegängelt werden. Es muss vielmehr durch Konstitutivnormen angeregt und abgesichert werden, welche die Experimente der Individualisierung ermöglichen, also gegen die schiefe Ebene der Atomisierung absichern. Bei der Weiterentwicklung des Individualisierungstheorems (Bauman 2001; Beck 2007; 2008; Beck/ Beck-Gernsheim 1994; 2002; Berger/ Hitzler 2010; Friedrichs 1998; Giddens 1991; Kron 2001; Kron/ Horáček 2009; Schroer 2001) muss es darum gehen, eine vergleichende Perspektive einzunehmen und verschiedene Variationen der Individualisierung, insbesondere im außereuropäischen Vergleich, zu erkennen. Der Prozess der Individualisierung bringt nicht überall die gleichen institutionellen Formen (z. B. im Recht, in der Familie, in den Geschlechterbeziehungen) oder auch gleiche biographische Muster und gesellschaftliche Widersprüche bzw. Konflikte hervor. Gilt es doch vielmehr konzeptionell-empirisch auszuarbeiten, dass selbst der europäische Individualisierungspfad in seiner Besonderheit überhaupt erst im Vergleich mit außereuropäischen Variationen von Individualisierung erklärt und verstanden werden kann (Beck/ Beck-Gernsheim 2010; 2011; Chang/ Song 2010; Hansen/ Svarverud 2010; Shim/ Han 2010; Suzuki et al. 2010; Yan 2009; 2010). Literatur Bauman, Zygmunt, 2001: The Individualized Society, Cambridge.- - Beck, Ulrich, 1983: Jenseits von Stand und Klasse? ; in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen, 35-74.-- Ders., 1986: Risikogesellschaft auf den Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.-- Ders. (Hg.), 1997: Kinder der Freiheit, Frankfurt a. M.-- Ders., 2007: Tragische Individualisierung; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5, 577-584.- - Ders., 2008: Jenseits von Klasse und Nation: Individualisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten; in: Soziale Welt 59, 301-325.- - Ders./ Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.), 1994: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M.-- Dies., 2002: Individualization: Institutionalized Individualism and its Consequences, London.-- Dies., 2010: Chinesische Bastelbiographie? Variationen der Individualisierung in kosmopolitischer Perspektive, in: Honer, Anne et al. (Hg.), 2010: Fragile Sozialität, Wiesbaden, 199-206.- - Dies., 2011: Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Berlin.-- Beck-Gernsheim, Elisabeth, 1983: Vom »Dasein für andere« zum Anspruch auf ein »eigenes Leben«; in: Soziale Welt 34, 307-340.-- Dies., 2010: Was kommt nach der Familie? , München.- - Berger, Peter A., 1996: Individualisierung: Statusunsicherheit und Erfahrungsvielfalt, Opladen.- - Ders.; Hitzler, Ronald (Hg.), 2010: Individualisierungen, Wiesbaden.- - Chang, Kyung- Sup; Song, Min-Young, 2010: The Stranded Individualizer under Compressed Modernity: South Korean Women in Individualization without Individualism; in: British Journal of Sociology 61, 539-564.-- Friedrichs, Jürgen (Hg.), 1998: Die Individualisierungs-These, Opladen.- - Giddens, Anthony, 1991: Modernity and Self-Identity: Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge.- - Hansen, Mette H.; Svarverud, Rune (Hg.), 2010: iChina: The Rise of the Individual in Modern Chinese Society, Copenhagen.- - Kron, Thomas (Hg.), 2001: Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen.-- Ders.; Horáček, Martin, 2009: Individualisierung, Bielefeld.- - Leibfried, Stephan et al., 1995: Zeit der Armut, Frankfurt a. M.-- Schroer, Markus, 2001: Das Individuum der Gesellschaft, Frankfurt a. M.- - Shim, Young- Hee; Han, Sang-Jin, 2010: »Family-Oriented Individualization« and Second Modernity; in: Soziale Welt 61, 237-255.- - Suzuki, Munenori et al., 2010: Individualizing Japan; in: British Journal of Sociology 61, 513-538.- - Vester, Michael, 1997: Soziale Milieus und Individualisierung; in: Beck, Ulrich; Sopp, Peter (Hg.): Individualisierung und Integration, Opladen, 99-124.- - Yan, Yunxiang, 2009: The Individualization of Chinese Society, Oxford.-- Ders., 2010: The Chinese Path to Individualization; in: British Journal of Sociology 61, 489-512. Ulrich Beck Individualismus, methodologischer Will man mit einer bündigen Umschreibung auf den Begriff bringen, was »methodologischer Individualismus« (engl. methodological individualism) bedeutet, stellt man fest, dass dies nicht so ohne weiteres möglich ist, da es verschiedene Varianten gibt (Udehn 2002; Hodgson 2007). Im Wissen um diese Vielfalt sind der groben Linie nach jedoch einige <?page no="181"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 182 182 Individualismus, methodologischer Punkte zu benennen, die den methodologischen Individualismus übergreifend beschreiben lassen. Grundlinien des Konzepts Als wesentliches Kennzeichen ist zunächst festzuhalten, dass der methodologische Individualismus für die Begründung eines methodischen Vorgehens steht, um Soziales kausal erklären zu können. Grundlegend ist die Annahme, dass jegliches soziale Geschehen - von einfachen sozialen Phänomenen bis hin zu komplexen, auch »emergent« genannten sozialen Gebilden und Konstellationen - im Kern aus nichts anderem besteht, als aus in bestimmter Weise sozial gerichteten und dadurch miteinander verbundenen Handlungen, Erwartungen, Einstellungen individueller Entitäten (Schmid 1996, 76, 80). Insofern, auch wenn die Charakterisierung »methodisch« signalisiert, dass der methodologische Individualismus im Grunde kein sozialtheoretisches Konzept ist, impliziert der methodologische Individualismus Annahmen über die Beschaffenheit des Sozialen, auf denen das Konzept aufbaut. Mit »individuellen Entitäten« sind dabei in der Regel sinnhafte Einheiten - Akteure, Personen, Individuen, Prozessoren usw. - gemeint, die auf der Basis generalistisch-reflexiver Intentionalität und damit koordinierbarem körperlichen Verhalten operieren. Erklärung sozialer Sachverhalte durch-methodisches Reduzieren Für das angesprochene Erklären wird deshalb so zentral auf solche Entitäten Bezug genommen, weil nur sie als aktiv-dynamische Kräfte begriffen werden, die jeweiliges Soziales produzieren können. Konsequenz dieser Annahme ist, dass kausale Erklärungen der Reproduktion bzw. des Wandels überindividueller Entitäten - sozialer Gebilde, Strukturen bzw. Prozesse - notwendigerweise auf Erklärungen von in bestimmter Weise disponierten und handelnden individuellen Prozessoren rekurrieren müssen, weil die genannten überindividuellen Entitäten keine eigene Produktionskraft haben (Greshoff 2011). In der Einschätzung, dass bei diesen Entitäten keine derartige Kraft zu erkennen ist, unterscheidet sich der methodologische Individualismus von - manchem - methodologischen Holismus, der davon ausgeht, dass etwa soziale Strukturen - Normen, Institutionen - als soziale Strukturen eine eigene Wirkkraft haben. Im Sinne der erläuterten Erklärungsnotwendigkeiten ist auch Max Webers Reduktionsmaxime im Kategorienaufsatz zu begreifen. Auf diese wird immer wieder als paradigmatisch für eine methodologisch-individualistische Position verwiesen: um verstehen und also kausal erklären zu können, so Weber, ist es Aufgabe der Soziologie, soziale Gebilde auf verständliches Handeln der beteiligten Einzelmenschen zu reduzieren (Weber 1973: 439). Mit diesem Reduzieren ist eine methodische, keine gegenständliche Reduktion gemeint (methodische und gegenständliche Perspektive unterscheiden methodologischen und ontologischen Individualismus; Bunge 2000). Reduktion auf »Handeln der Einzelmenschen« steht somit nicht - wie irrtümlich oft angenommen - im Sinne von »Letztelement« für eine Minimalbestimmung von Sozialem, sondern für eine methodische Verstehensperspektive, die die Erklärung sozialen Geschehens ermöglichen soll. Varianten des methodologischen Individualismus Den methodologischen Individualismus gibt es in verschiedenen Versionen. Diese unterschieden sich vor allem darin, mit welchem Zuschnitt und mit welcher Situierung im Sozialen individuelle Prozessoren konzipiert werden. Grob differenziert wird zwischen einem starken und einem schwachen methodologischen Individualismus, die jeweils noch einmal in verschiedene Varianten untergliedert sind (Udehn 2002, 497-502). Im starken methodologischen Individualismus werden die individuellen Entitäten vor allem in frühen Versionen als eigenständig-»naturale«, nicht-sozialisierte Größen, später jedoch als sozialisierte - bzw. sozialisiert werdende - Prozessoren begriffen, die durch ihr Tun und dessen Folgen soziales Geschehen produzieren. Im schwachen methodologischen Individualismus wird sozialen Gebilden gegenüber individuellen Entitäten ein anders gewichteter Stellenwert zugemessen. Individuelle Entitäten werden in soziale Gebilde eingebettet und als deren Teile in ihrem Tun etwa von den Strukturen solcher Gebilde auf irgendeine Weise beeinflusst angenommen, ohne damit zu negieren, dass diese Gebilde immer von irgendwelchen individuellen Prozessoren hergestellt werden. Ein solcher methodologischer Individualismus wird auch als strukturtheoretischer Individualismus bezeichnet. Erklärungen sozialer Phänomene, die in diesem <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 182 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 183 183 Individuum Rahmen vorgenommen werden, basieren auch auf dem oben erläuterten methodischen Reduzieren, gehen aber insofern darüber hinaus, als sie versuchen, im sozialen Zusammenhandeln soziale Mechanismen zu entdecken und darüber Regelmäßigkeiten überindividueller Abläufe zu erklären (Little 2010, Greshoff 2011). Sozialwissenschaftliche Vertreter eines methodologischen Individualismus finden sich in Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie. Als Gründergeneration sind Carl Menger, Joseph Schumpeter, Friedrich A. von Hayek, Ludwig von Mises und Max Weber zu nennen, als wichtige spätere Repräsentanten Karl R. Popper, George Homans, James Coleman, Raymond Boudon, Jon Elster, Hartmut Esser, Siegwart Lindenberg, Karl-Dieter Opp, Michael Schmid, Reinhard Wippler, Reinhard Zintl. Literatur Bunge, Mario, 2000: Ten Modes of Individualism-- None of Which Works- - And Their Alternatives; in: Philosophy of the Social Sciences 30, 384-406.- - Greshoff, Rainer, 2011: Die Produktion des Sozialen als Erklärungsproblem. Oder: Ist es irrational, komplexes Sozialgeschehen mittels methodologisch-individualistisch fundierter Konzepte zu erklären? ; in: Maurer, Andrea; Schimank, Uwe (Hg.): Die Rationalitäten des Sozialen, Wiesbaden, 183-213.-- Hodgson, Geoffrey M., 2007: Meanings of methodological individualism; in: Journal of Economic Methodology 14, 211-226.-- Little, Daniel, 2010: Methodological Individualism; in: Bevir, Mark (ed.): Encyclopedia of Political Theory, Los Angeles u. a., 880-883.-- Schmid, Michael, 1996: Rationalität und Theoriebildung, Amsterdam/ Atlanta.- - Udehn, Lars, 2002: The Changing Face of Methodological Individualism; in: Annual Review of Sociology 28, 479-507.- - Weber, Max, 1973: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen. Rainer Greshoff Individuum Ein Individuum (lat.: das »Unteilbare«, engl. individual [person]) ist das in seiner raumzeitlichen und qualitativen Besonderung einmalige Wesen, das nicht mehr geteilt werden kann, ohne seine besondere Identität zu verlieren, die in seiner geschlossenen Ganzheit begründet ist. Die Gegenüberstellung von Individuum und Kollektiv (Gemeinschaft und Gesellschaft), eine der grundlegenden Fragestellungen soziologischen Denkens, hat eine lange Tradition in der abendländischen Philosophie. In der Soziologie behauptet der Individualismus den Vorrang des Einzelnen vor gesellschaftlichen Gebilden. Letztere seien nichts weiter als die Summe individueller Aktivitäten. Ein Hauptvertreter dieser Sichtweise ist Gabriel Tarde. Vorläufer finden sich bei den griechischen Sophisten, den Nominalisten im Mittelalter und den Aufklärern des 17. und 18. Jh.s. Demgegenüber ist für universalistische (kollektivistische) Denker das Ganze dem Einzelnen übergeordnet. Die Gesellschaft gilt ihnen als das Ursprüngliche, das Einzelwesen als das Abgeleitete. Ein Hauptvertreter dieser Richtung ist Emile Durkheim. Vorläufer waren Plato, Aristoteles, die neuplatonischen Scholastiker sowie idealistische Philosophen wie Hegel und jene, die das gesellschaftliche Geschehen in Analogie zu den Entwicklungsgesetzen natürlicher Organismen deuten. Eine dritte Theorietradition schließlich lehnt sowohl die Denkfigur des losgelösten, verselbstständigten Individuums ab wie die Vorstellung von der festen und allseitigen Einbindung des Individuums in das gesellschaftliche Ganze. Für sie ist das Individuum von vornherein ein vergesellschaftetes ebenso wie es gesellschaftliche Gebilde nur insoweit gibt, als ihre Existenz von den Individuen getragen und immer wieder neu geschaffen wird. Der Einzelne lebt zwar in gesellschaftlichen Gebilden, aber nicht minder leben sie in ihm. Hervorragende Vertreter dieser Denkrichtung sind Karl Marx und Franz Oppenheimer. Im gegenwärtigen soziologischen Denken wird das Individuum als entscheidender Faktor des Vergesellschaftungsprozesses angesehen. Gesellschaft erscheint als Resultat menschlichen Handelns. Während einige Autoren die Chancen und Freiheitsräume, die sich dem Individuum eröffnen, hervorheben, betonen andere die damit verbundenen Verhaltenszumutungen und Risiken. Es wird zwar zur Kenntnis genommen, dass das Individuum an Vergesellschaftungsprozessen leiden kann, aber im Mittelpunkt der Interessen steht der gewachsene Möglichkeitsraum des Individuums zur Beeinflussung und Mitgestaltung von Vergesellschaftungsprozessen. In soziologischen Theorien, die auch Artefakten und nicht-menschlichen Wesen Handlungsträgerschaft zubilligen, etwa, in der Tradition Tardes stehend, bei Bruno Latour, kann jedes materielle System (»Netzwerk«, »Assoziation«, »Kollektiv«) als Individuum angesehen werden, da es über Eigenschaften verfügt, die keines seiner Elewww.claudia-wild.de: <?page no="183"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 184 184 Industriesoziologie mente losgelöst von den anderen Elementen besitzt und in dieser spezifischen Ausprägung auch kein anderes System. Literatur Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.), 1994: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M.- - Brose, Hanns-Georg; Hildenbrand, Bruno (Hg.), 1988: Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen.- - Junge, Matthias, 2002: Individualisierung, Frankfurt a. M.-- Sennett, Richard, 1983: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M.-- Tarde, Gabriel, 2008: Monadologie und Soziologie, Frankfurt a. M. (1893). Arno Bammé Industriesoziologie Begriff und Gegenstandsbezug Der Blick auf die soziologische Forschung zu Problemen der Industriegesellschaft lässt eine schlanke Definition von Industriesoziologie (engl. industrial sociology) nicht zu - statt einer Definition mag folgende Annäherung nützlich sein: Industriesoziologische Forschung richtet sich auf die historisch außerordentlich varianten ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen der Herausbildung und des Wandels von Strukturen industrieller Produktion, auf die mit der Dynamik der Industrialisierung verknüpften Formen und sozialen Folgeprobleme gesellschaftlicher Arbeitsteilung und betrieblicher Arbeitsorganisation, auf die begleitenden Prozesse individuellen und kollektiven Bewusstseins und die hiermit eng verbundenen Handlungsorientierungen insbesondere von abhängig Beschäftigten sowie auf die gesellschaftsspezifischen Strukturen und Prozesse der Interessenauseinandersetzung um die Gestaltung und um die politische Kontrolle von Produktion und Arbeitskräfteeinsatz in der Industriegesellschaft. Das skizzierte Verständnis von Industriesoziologie impliziert drei Analyseebenen von industriesoziologischer Forschung: 1. Die Rekonstruktion gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen - z. B. die Analyse des Prozesses der Verrechtlichung der Konfrontation zwischen »Kapital« und »Arbeit« und die Veränderung der Inhalte industrieller Konflikte (»Institutionalisierung des Klassenkonfliktes«, Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes und wachsende Bedeutung arbeitsinhaltlicher und betriebspolitischer Aspekte für Tarifabkommen), Untersuchung der Auswirkungen sozialstruktureller Veränderungen (etwa Gliederung der Beschäftigten nach Qualifikation, Alter, Geschlecht etc.) und sozio-ökonomischer Entwicklungen (Energieverteuerung, Neubestimmung des »Nord-Süd-Dialoges«, die Funktionskrise des formellen Arbeitsmarktes, neue Formen industrieller Arbeitslosigkeit, Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaftsaktivität etc.) auf das industrielle System sowie die Untersuchung der Bedeutung von herrschenden, kollektiven Handlungsorientierungen und Wertwandel (Abbau der protestantischen Arbeits- und Berufsauffassung, wachsende Technikfeindlichkeit und zunehmende kritische Sensibilität gegenüber »naturwüchsiger« Wirtschafts- und Technikentwicklung und -umsetzung) für Identität und weitere Entwicklung von Industriegesellschaften. 2. Darstellung und Analyse betrieblicher Strukturveränderungen und betrieblicher Sozialphänomene - z. B. das Studium der Veränderung tradierter Kooperations- und Herrschaftsbeziehungen im Zusammenhang mit technisch-organisatorischen Veränderungen (Veränderung von Arbeitszusammenhängen durch Informatisierung, »Versachlichung« von Herrschaftsverhältnissen etc.), Analyse betriebsspezifischer »Umsetzung« neuer technischer, marktbedingter oder rechtlicher Gegebenheiten über veränderten Arbeitskräfteeinsatz (Forcierung betriebsspezifischer Qualifizierung, Entwicklung und Durchsetzung neuer differenzierender Entlohnungsformen, sich wandelnde Zusammensetzung und Bedeutung von betrieblichen »Stammbelegschaften« etc.). 3. Analyse von Veränderungen der Arbeitssituationen sowie der hieran geknüpften Erfahrungen und Verhaltensreaktionen von Arbeitskräften - hierzu zählt bspw. die Untersuchung von veränderten Qualifikationsanforderungen und vom Wandel der Belastungsstruktur (etwa zunehmende Bedeutung abstrakt theoretischer Kenntnisse, tendenzielle Verschiebung von physischer und psychischer Beanspruchung), Situationserfahrung und Reaktion der von technisch-organisatorischen Veränderungen betroffenen Arbeitskräfte (z. B. Widerstand gegen Veränderungen auf Seiten der Beschäftigten - »Resistance to Change«), Wandel der inhaltlichen »Besetzung« von Lohn-Leistungs-Relawww.claudia-wild.de: <?page no="184"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 184 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 185 185 Industriesoziologie tionen auf der Arbeitsplatzebene (Wandel der Ansprüche an Lebensqualität auch in der Arbeit, zunehmende Bedeutung qualitativer, arbeitsinhaltlicher Fragen - aktuelle Stichworte hierzu sind: »normative Subjektivierung«, »Arbeitskraftunternehmer« und »berufliche Patch-Work-Karriere«). Industriesoziologie schließt nach diesem Verständnis Betriebssoziologie, Arbeitssoziologie und soziologische Arbeitsmarktforschung ein. Industriesoziologie hat darüber hinaus in vielen Sachfragen enge thematische und theoretische Verbindungen mit anderen soziologischen Forschungsdisziplinen wie der Organisationssoziologie, der Berufs- und Bildungssoziologie und auch mit der sozialwissenschaftlichen Forschung über Entwicklungen in »Dritte-Welt-Ländern«. In neuerer Zeit hat sich allerdings Arbeitssoziologie als übergeordneter Begriff durchgesetzt (vgl. das Stichwort ›Arbeitssoziologie‹ sowie Böhle et al. 2010, Schmidt 2011). Zur Geschichte des Faches Ein wissenschaftliches Forschungsinteresse »Industriesoziologie« bildet sich im ersten Drittel des 20. Jh.s in Westeuropa und in den USA als Ausdruck der Anstrengungen heraus, jene seit Ende des 18. Jh.s sich entfaltenden Prinzipien des »lndustrialismus« in ihren gesellschaftlichen Verursachungszusammenhängen, sozialen Folgen und Handlungswie Entscheidungsproblemen auf gesamtgesellschaftlicher und Organisations-Ebene zu verstehen und als gesellschaftspolitische Herausforderung »in den Griff« zu bekommen. Durchsetzungsformen und soziale Folgen von Industrie - Industriearbeit und industriell geprägte Lebenswelt - waren bereits im 19. Jh. wichtige Themen von Enqueten und sozialtheoretischen Veröffentlichungen in Deutschland, Frankreich, England und in den USA. Im Zuge der raschen Ausbreitung industrieller Fertigung mit der beginnenden Rationalisierung der Fabrikarbeit (vor allem auf dem Hintergrund der Entwicklung »wissenschaftlicher Betriebsführung« im Sinne von Taylor, Gilbreth und Bedeaux) wird die Strukturdynamik industrieller Produktion Gegenstand spezieller empirischer soziologisch orientierter Forschung, die freilich über Themenwahl, theoretische Erklärungsperspektive und Verwertungsabsicht immer auch aktueller gesellschaftspolitischer Problemauseinandersetzung verbunden ist. Die Mehrzahl der Studien der - bis etwa 1930 dauernden - »Frühgeschichte« industriesoziologischer Forschung, die - nicht zuletzt wegen des Engagements Max Webers (der insbesondere methodische Grundlagen empirischer Sozialforschung formulierte) - berühmten Arbeiterenqueten des Vereins für Socialpolitik (publiziert zwischen 1910 und 1915) zum Thema »Anpassung und Auslese (Berufsverhalten und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie«, die frühen Studien der Webbs zu industriellem Konflikt (1920), die Untersuchungen auf dem Hintergrund der »Human Factor«-Bewegung in den USA und in England sind ebenso wie die zahlreichen Betriebs- und Arbeitsstudien in den 20er Jahren in Deutschland (Hellpach, Lechtape, Rosenstock u. a.), die hier die offizielle Begründung einer Betriebssoziologie durch Briefs, Geck u. a. Ende der 20er Jahre vorbereiten, zentriert auf die Fragen der sozialen Beherrschung der industriellen Produktion und der technisch-organisatorischen Entwicklung industrieller Produktion in ihrer Bedeutung für die individuelle und kollektive Umsetzung der Erfahrung von Industriearbeit. Während in den USA in der Folge der »Hawthorne-Studies« (Mayo) eine empirische Industriesoziologie sich in den 40er Jahren zügig etabliert, ist der Beginn von Industriesoziologie als Forschungs- und Lehrdisziplin in Westeuropa erst Anfang der 50er Jahre zu erkennen. Die kritische Übernahme theoretischer Konzepte und methodischer Regeln amerikanischer Betriebsforschungen und das Anknüpfen an Fragestellungen der Klassiker der europäischen Sozialtheorie führen vor dem Hintergrund der enormen Herausforderung, die die Nachkriegssituation und Industrialisierungsdynamik für die europäischen Gesellschaften nach 1945 darstellte, rasch zur Herausbildung eigener Perspektiven industriesoziologischer Forschung in Westeuropa. Nicht nur rücken die sozialstrukturelle und ökonomische Situation nach dem Kriege und der vehemente Industrialisierungsprozess mit Beginn der 50er Jahre mit einer gewissen Zwangsläufigkeit soziale und politische Aspekte der Organisation industrieller Arbeit in den Mittelpunkt soziologischer Analyseinteressen, für die Sozialwissenschaftler der Nachkriegszeit boten industriesoziologische Forschungen damals am ehesten Chancen der Einflussnahme auf die gesellschaftspolitische Entwicklung speziell auch in der »jungen« Bundesrepublik. Hier konzentriert sich in den 50er Jahren industriesoziologische Forschung <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 186 186 Industriesoziologie an folgenden Forschungsinstituten: an der Sozialforschungsstelle Dortmund (Neuloh et al.), am wiedergegründeten Institut für Sozialforschung in Frankfurt unter der Leitung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften in Köln. Für die Fortführung der industriesoziologischen Forschung nach den ersten zehn Jahren sozialwissenschaftlicher Industrieforschung nach dem Zweiten Weltkrieg sind die umfangreichen Forschungsarbeiten von Mitgliedern dreier größerer Teams von besonderer Bedeutung: a) der Gruppe Popitz et al. - »Technik und Industriearbeit« sowie »Das Gesellschaftsbild des Arbeiters« (beide 1957); b) der Gruppe Pirker et al. - »Arbeiter, Management, Mitbestimmung«; und c) der Forschungsgruppe des Institutes für Sozialforschung in Frankfurt, wozu insbesondere von Friedeburg et al. gehören - »Betriebsklima« (1955). Die Untersuchungen dieser drei Forschungsgruppen bilden gewissermaßen den »Kristallisationskern« der westdeutschen Betriebssoziologie. Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre künden erste zusammenfassende Lehrbuchdarstellungen zur Industriesoziologie durch Ralf Dahrendorf und M. Rainer Lepsius von einer beginnenden Etablierung dieses Faches als akademischer Disziplin. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre zeigt sich Industriesoziologie in der Bundesrepublik auf bescheidenem Niveau »konsolidiert«: Sie findet Platz in den Curricula der Studiengänge, ist zentrales Forschungsfeld einer kleinen Anzahl von Instituten und Forschergruppen, bildet in Ansätzen »professionelle Zirkel« aus und wird, zögernd noch, nachgefragt, vor allem über themenspezifische Projektaufträge des RKW (Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft). Eine über die Mitte der 60 Jahre hinweg währende »Latenzphase« deutscher Industriesoziologie mündet gegen Ende der 60er Jahre in eine »Renaissance« industriesoziologischen Forschens, die freilich weniger durch wissenschaftsimmanente Entwicklungen als vielmehr von »außen« durch empfindliche ökonomische und soziale »Störungen« des industriellen Wachstumsprozesses, bewirkt wird: Die mit den Begriffen »Strukturwandel« und »Automation« mehr oder minder zutreffend gefassten Prozesse beschleunigter Veränderung von Wirtschafts- und Beschäftigungsstrukturen, Produktionsprozessen und Arbeitsformen weckten einen rasch wachsenden gesellschaftlichen Bedarf an Daten und Analysen, der mit dem inzwischen fest etablierten ökonomisch-statistischen Instrumentarium allein nicht gedeckt werden konnte. Von dieser Wende hat die anwendungsbezogene Soziologie und auch Industriesoziologie »profitiert«. Neben Sozialberatung und Bildungsexpansion und -reform entwickelt sich der gesellschaftliche Problembereich »Industriearbeit« zu einem politischen Handlungsfeld mit erheblichem Einsatz sozialwissenschaftlicher Kompetenz. Laufende Projekte am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) und am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in München (ISF) werden zu ersten Trägern der Wende hin zu einer erweiterten Rezeption und Anerkennung von Industriesoziologie Die Studie von Horst Kern und Michael Schumann »Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein« (1970) ist als Markstein von besonderer Bedeutung: Über die Auseinandersetzung mit dieser Studie entwickeln sich wichtige Positionen und Kontroversen der neueren Industriesoziologie in der Bundesrepublik. In der Absicht eines konstruktiv-kritischen Anknüpfens an die Marxsche Klassenkonzeption wird von Kern/ Schumann die Frage, »ob die Arbeiterschaft noch als das historische Subjekt gesellschaftlichen Wandels zu fungieren vermag«, auf zwei thematischen Ebenen verfolgt: 1. »inwieweit der technische Wandel in der industriellen Produktion nicht zu einer Nivellierung der Arbeiten führt, sondern differenzierenden Einfluss auf die Industriearbeit ausübt und dadurch die kollektive Erfahrungsbasis der Arbeiterschaft in die Arbeitssphäre beeinträchtigt; 2. inwieweit die Unterschiede der Arbeitssituation Rückwirkungen auf das Arbeiterbewusstsein haben und relevante Differenzen im Denken der Industriearbeiter auslösen« (Kern/ Schumann 1970: 23). In Arbeiten des Institutes für sozialwissenschaftliche Forschung, München, wird im Bemühen um gesellschaftstheoretische Begründung empirischer und theoretischer Einzelforschung in der Industriesoziologie der Fokus »Betrieb« (analytisch verstanden) als konkrete Instanz (Bezugseinheit) gesellschaftlich durchgesetzter Verwertungsprinzipien zum Ausgangspunkt der konkreten Forschungsarbeit genommen. Von hieraus ergibt sich eine durchaus neue, von der traditionellen Betriebssoziologie (im Sinne von Götz Briefs oder im Sinne der amerikanischen »Plant Sociology«) abweichende industriesoziologische Interessenperspektive. <?page no="186"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 186 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 187 187 Industriesoziologie Mitte der 70er Jahre wird ein gewisser Reifegrad von Industriesoziologie in Westdeutschland schließlich auch über eine erhebliche Anzahl von analytisch z.T. relativ differenziert verfassten Studien zu einzelnen gesellschaftlichen und betrieblichen Problembereichen ausgewiesen - bspw. über Forschungen zu Fragen betrieblicher Weiterbildung (Lenhardt), zum Zusammenhang von betrieblichen Rationalisierungsmaßnahmen und Risiken für Arbeitnehmer (Böhle/ Altmann), zur technischen Intelligenz (Buttgereit) und zur »Umsetzung« des sogenannten dualen Systems betrieblicher Interessenvertretung (Bergmann et al.; Dzielak et al.). Forschungsschwerpunkte und Entwicklungsperspektiven in der BRD nach den 70er Jahren Vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen von Produktionstechnologie, normativ-institutioneller Veränderungen der Arbeitsverhältnisse und sich wandelnder gesellschaftlicher Wahrnehmungen von Industrie, Technik und Energie, vor allem aber auch auf dem Hintergrund sich durchsetzender neuer politischer Ansprüche an Mitgestaltung und Kontrolle der Produktion durch Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretung haben sich z.T. neue Themenschwerpunkte industriesoziologischer Forschung herausgebildet (»Humanisierung des Arbeitslebens« als Themenschwerpunkt der Forschung in den 70er Jahren, ein deutlich verstärktes Interesse an organisationspolitischen Fragen und eine Zuwendung zu Problemen subjektiver »Umsetzung« von Arbeits- und Berufswirklichkeit seit Mitte der 70er Jahre - was sich bspw. in einer Verstärkung der Berufsbiographieforschung niederschlägt). Eine Weiterentwicklung von Industriesoziologie und fachwissenschaftlicher Erkenntnis-»Fortschritt« wird zu Beginn der 80er Jahre vielfältig dokumentiert: Die klassischen »großen Themen« der Nachkriegssoziologie - Herrschaft und Rationalisierung, das Arbeiter- und Angestelltenproblem, die Frage nach dem Klassenbewusstsein und der objektiven Klassenlage der Arbeitnehmer - werden nicht verabschiedet und »überwunden«, sondern eher analytisch und forschungsmethodisch nach »innen« weiterverfolgt. Bezeichnend sind etwa folgende neuere Arbeiten: Der Untersuchungsbericht von Schumann et al. zur Industrialisierung der Werftarbeit »Rationalisierung, Krise, Arbeiter« zeigt das Bemühen um neue analytische Zugriffe zu den klassischen Themen der Industriesoziologie besonders (etwa in der Entfaltung der Begriffe »Kapitalperspektive« und »Arbeiterperspektive« zur Analyse objektiver Strukturmomente von Industriearbeit oder in der weiterführenden analytischen Differenzierung der Untersuchung des Arbeitsbewusstseins mit Hilfe des Konzeptes der »doppelten Bezugsweise« des Arbeiters auf seine Tätigkeit - »Arbeitskraftperspektive« zum einen, »Subjektperspektive« zum anderen). Die Monographie des IFS-Frankfurt - Benz-Overhage et al. »Computereinsatz in der Fertigung« - bringt das Beharren auf gesellschaftstheoretischer Verpflichtung industriesoziologischer Forschung über den Anspruch auf die - empirisch verfolgte - Relevanz des Progresses »reeller Subsumtion« im Sinne der Marxschen Bestimmung in den neuesten Formen industrieller Rationalisierung zum Ausdruck. Die »außerhalb« des staatlichen Humanisierungsprogramms angesetzte, auf die strukturell begründeten betrieblichen Interessen an sogenannten »neuen Arbeitsformen« abzielende, mehrschichtig angelegte (die Analyse von Arbeitskräfteeinsatzpolitik der Unternehmen, Gegenmachtpolitik der Betriebsräte und Situationswahrnehmung der Arbeitskräfte umfassende) Studie des ISF-München (Altmann et al. 1982) hat insgesamt erheblich zur »Ernüchterung« der industriesoziologischen HdA-Diskussion beigetragen. Kern und Schumann haben schließlich der gegenwärtigen industriesoziologischen Diskussion mit der 1984 erschienenen - als »follow-up«-Untersuchung zu »Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein« (1970) konzipierten - Studie »Das Ende der Arbeitsteilung? « wichtige Impulse vermittelt: Die These der Chance der »neuen Produktionskonzepte«, die einen gegenüber tayloristischen Formen der Arbeitsorganisation ganzheitlicheren Zuschnitt von Arbeitsaufgaben gerade auch als im Interesse der Kapitalverwertung liegend anzeigen, und die mit dieser These verknüpfte gesellschaftstheoretische Aussage eines durch die Einsatzmöglichkeiten der neuen mikroelektronischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationstechniken mitgeprägten grundlegend neuen Modus kapitalistischer Rationalisierung, gezielt »Neoindustrialisierung« benannt, sind als Anstöße für die Theorieorientierung und die Forschungsanalytik ebenso wie in ihren arbeitspolitischen Perspektiven seit Mitte der 80er Jahre lebhaft diskutiert und in einer großen Zahl von Forschungsberichten und theoretischen Beiträgen aufgenommen und kritischwww.claudia-wild.de: <?page no="187"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 188 188 Industriesoziologie weiterführend bearbeitet worden (zur Diskussion der Studie von Kern/ Schumann vgl. Braczyk/ Schmidt; Düll; R. Schmidt; als Beispiel einer ›konkurrierenden‹ Interpretation siehe Altmann et al. 1986 - zur aktuellen Debatte siehe Springer). Die Schlagworte »Lean Production« und »Toyotismus« forcieren und erweitern die neuere industriesoziologische Rationalisierungsforschung (vgl. als Beispiele unter einer großen Zahl einschlägiger Publikationen Braczyk/ Schienstock und Howaldt/ Minssen). Ergänzt wird die Kontinuität der Themenstellung in der Industriesoziologie seit Mitte der 70er Jahre durch die wachsende Aufnahme anderer neuer Forschungsfragen. Das Thema »Frauenarbeit« (mit dem auch Bemühungen um theoretischanalytische und methodische Erweiterung von Industriesoziologie verknüpft sind - siehe etwa die Debatte um das Konzept »weibliches Arbeitsvermögen« bei Beck- Gernsheim/ Ostner; Becker-Schmidt et al.) und die vielfältigen Anstöße auch für industriesoziologische Forschung durch die Themen der »ökologischen Bewegung«, die neue Aufmerksamkeit gegenüber Problemen der subjektiven Verarbeitung von Arbeitswelt und Berufskarriere (Marstedt/ Mergner, Brock/ Vetter) sowie auch die breite Wertewandeldiskussion - spezifisch industriesoziologisch aufgegriffen, bspw. über die Themen »Arbeitszeit« (Offe et al.) und »Krise des protestantisch-puritanischen Arbeitsethos« und der entsprechenden Berufsauffassung und die Debatte um ›Subjektivierung‹ der Lebensführung (Baethge et al.) - haben als inhaltliche Orientierungen der allgemeinen gesellschaftlichen Auseinandersetzung zum Thema veränderte Entwicklungstendenzen der Industriegesellschaft auch in den industriesoziologischen Forschungen Resonanz gefunden. Eine der wichtigsten Entwicklungen industriesoziologischer Forschung nach der sog. ›Humanisierungs-Phase‹ ist zweifellos die Wendung hin zur Anwendungsorientierung, ist ihre »Vorstellung« als angewandte Wissenschaft: Die seit Mitte der 70er Jahre verstärkt kontrovers geführte Debatte um ein angemessenes »Anwendungsverständnis« von forschender Industriesoziologie signalisiert eine veränderte, »weiterentwickelte« gesellschaftliche Integration der Forschung (Schmidt 1981, Bosch et al. 1999). Auch in Frankreich, Italien und Großbritannien »erlebt« die Industriesoziologie in den 70er Jahren eine bedeutende Aufschwungphase auf dem Hintergrund eines breiten sozialpolitischen Konsenses. Auch in diesen Ländern werden neue Strukturen der Vermittlung von Forschung und Praxis institutionalisiert, auch dort wird industriesoziologische Forschung zunehmend als praxisrelevante Wissenschaft gefördert und gefordert. Auch in diesen Ländern kommt es freilich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zu einer Krise der Industriesoziologie, die nicht zuletzt auch Reaktion auf enttäuschte überzogene Erwartungen an sozialwissenschaftliche Industrieforschung ist (Schmidt 1982). Das (Selbst-)Verständnis der gegenwärtigen »modernen« Gesellschaft als Industriegesellschaft wird in wachsendem Maße kritisch debattiert und in Frage gestellt - beobachtbare technisch-organisatorische Veränderung, struktureller Wandel im Bereich der Ökonomie (insbesondere die Herausbildung eines informellen Arbeitsmarktes, Wachstum des Dienstleistungsbereiches etc.), die Auswirkungen neuer Produktionstechnologien (Mikroelektronik etc.) und Prozesse des Wertewandels lassen es zunehmend problematisch erscheinen, die Kennzeichnung, den »Begriff« der gegenwärtig fortgeschrittensten Gesellschaften auf die Formel »Industrie« zu zentrieren. Auch für industriesoziologische Forschung wird seit Mitte der 60er Jahre systemtheoretisches Denken - vor allem in der Form von Organisationsanalyse - als Ausdruck säkularer Entwicklung allgemeiner soziologischer Theoretisierung zunehmend drängend nahegelegt (Luhmann). Die Industriesoziologie (heute: Arbeitssoziologie) hat den Anspruch aufgegeben, die zentrierende fachwissenschaftliche Disziplin der Untersuchung der modernen »industriellen«, »spät-« oder »nachindustriellen« Gesellschaft zu sein - ihr Beitrag zum Verständnis von Struktur und Dynamik der heutigen Gesellschaft kann nur angemessen »gewichtet« werden in Verknüpfung mit den Aussagen und den Resultaten von thematisch anders zentrierten fachwissenschaftlichen Forschungen. Last not least verbinden sich mit ›Internationalisierung‹ und ›Globalisierung‹ neue methodische und inhaltliche Herausforderungen auch an arbeits- und industriesoziologische Forschung (Schmidt/ Trinczek 1999). Literatur Altmann, Norbert et al., 1982: Grenzen neuer Arbeitsformen, Frankfurt a. M.-- Ders. et al., 1986: Ein »neuer Rationalisierungstyp«. Neue Anforderungen an die Industriesoziowww.claudia-wild.de: <?page no="188"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 188 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 189 189 Inferenz, statistische logie; in: Soziale Welt 37, 191-207.- - Ders.; Böhle, Fritz (Hg.), 2010: Nach dem ›Kurzen Traum‹-- Neue Orientierung in der Arbeitsforschung, Berlin.- - Baethge, Martin et al., 1989: Jugend, Arbeit und Identität, Opladen.- - Beck- Gernsheim, Elisabeth; Ostner, Ilona, 1978: Frauen verändern Berufe nicht? ; in: Soziale Welt 29, 257- 287.-- Becker- Schmidt, Regina et al., 1981: Frauenarbeit in der Fabrik: Betriebliche Sozialisation als Lernprozess? ; in: Gesellschaftliche Beiträge zur Marxschen Theorie 14, 52-74.- - Bergmann, Joachim et al., 1975: Gewerkschaften in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M.- - Böhle, Fritz; Altmann, Norbert, 1972: Industrielle Arbeit und soziale Sicherheit, Frankfurt a. M.- - Böhle, Fritz et al. (Hg.), 2010: Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden.- - Bosch, Aida et al. (Hg.), 1999: Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Wiesbaden.-- Braczyk, Hans-Joachim; Schmidt, Gert, 1986: Die Hauptsache kommt erst; in: Soziologische Revue 11, 243- 248.- - Ders.; Schienstock Gerd, 1996: Kurswechsel in der Industrie. Lean Production in Baden-Württemberg, Stuttgart.-- Brock, Ditmar; Vetter, Hans-Rolf, 1982: Was kann der Belastungsbegriff leisten? ; in: Soziale Welt 33, 303-327.- - Buttgereit, Michael, 1978: Ingenieur und Weiterbildung, Weinheim/ Basel.- - Dahrendorf, Ralf, 1959: Industrie- und Betriebssoziologie, Berlin.-- Düll, Klaus, 1985: Modernisierungspolitik durch neue ›Produktionskonzepte‹? ; in: WSI- Mitteilungen, H. 3, 141-145.- - Deutschmann, Christoph, 2001: Die Gesellschaftskritik der Industriesoziologie- - ein Anachronismus? : in: Leviathan 29, 58-69.-- Dzielak, Willi et al., 1978: Belegschaften und Gewerkschaften im Streik, Frankfurt a. M.-- Friedeburg, Ludwig von, 1963: Soziologie des Betriebsklimas, Frankfurt a. M.- - Fürstenberg, Friedrich, 2000: Arbeitsbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel, Mering.- - Heidenreich, Martin; Schmidt, Gert (Hg.), 1991: International vergleichende Organisationsforschung, Opladen.- - Hildebrandt, Eckart et al. (Hg.), 2007: Arbeitspolitik im Wandel-- Entwicklung und Perspektiven von Arbeitspolitik, Berlin.- - Hirsch-Kreinsen, Hartmut, 2009: Wirtschafts- und Industriesoziologie. Grundlagen, Fragestellungen, Themenbereiche, Weinheim.- - Howaldt Jürgen; Minssen Heiner (Hg.), 1993: Lean, leaner- …? Die Veränderungen des Arbeitsmanagements zwischen Humanisierung und Rationalisierung, Dortmund.- - Kern, Horst; Schumann, Michael, 1970: Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein, Frankfurt a. M.- - Dies., 1984: Das Ende der Arbeitsteilung? , München.-- Lenhardt, Gero, 1974: Berufliche Weiterbildung und Arbeitsteilung in der Industrieproduktion, Frankfurt a. M.- - Lepsius, Mario Rainer, 1960: Strukturen und Wandel im Industriebetrieb, München.- - Luhmann, Niklas, 1975: Organisation, soziologisch; in: Ev. Staatslexikon, o. O.- - Lutz, Burkart (Hg.), 2001: Entwicklungsperspektiven von Arbeit-- Ergebnisse aus dem Sonderforschungsbereich 333, Berlin.-- Marstedt, Gerd; Mergner, Ulrich, 1982: Erfassung artikulierter Beanspruchungen, in: Schmidt, Gert et al. (Hg.): Materialien zur Industriesoziologie, Opladen, 470-481.-- Mayo, Elton, 1933: The Human Problems of an Industrial Civilization, New York.-- Neuloh, Otto, 1960: Der neue Betriebsstil, Tübingen.-- Offe, Claus et al., 1982: Arbeitszeitpolitik, Frankfurt/ New York.- - Pirker, Theo et al., 1955: Arbeiter, Management, Mitbestimmung, Düsseldorf.-- Popitz, Heinrich et al., 1957: Technik und Industriearbeit, Tübingen.- - Ders. et al., 1957: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen.-- Pries, Ludger, 2010: Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt, Wiesbaden.- - Sauer, Dieter, 2005: Arbeit im Übergang. 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M.-- Touraine, Alain, 1982: Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a. M.- - Zugehör, Rainer, 2003: Die Zukunft des rheinischen Kapitalismus. Opladen. Gert Schmidt Inferenz, statistische Unter statistischer Inferenz (engl. statistical inference) versteht man den Versuch, auf Basis von Stichprobendaten Aussagen über die Eigenschaften einer Population oder Grundgesamtheit treffen zu können. Da es sich bei solchen Aussagen um einen Induktionsschluss handelt, der mit einem Fehlerrisiko behaftet ist, ist es eine wichtige Aufgabe der statistischen Inferenz, die Unsicherheit zu quantifizieren. Möchte man anhand der Stichprobe beschreibende Aussagen über Parameter der Population treffen, spricht man von statistischem Schließen. Die Überprüfung einer Hypothese über einen Grundgesamtheitsparameter anhand von Stichprobendaten bezeichnet man als statistischen Test oder Signifikanztest. <?page no="189"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 190 190 Inferenz, statistische Klassische Verfahren der Inferenz: Frequentistische Statistik Grundlage statistischer Inferenz ist in den meisten Fällen die frequentistische Statistik, bei der ausgehend von Zufallsstichproben und Konvergenzannahmen wie dem Gesetz der Großen Zahl und dem zentralen Grenzwertsatz die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Stichproben bestimmt wird. Der zentrale Grenzwertsatz besagt, dass die Verteilungsfunktion von arithmetischen Mittelwerten aus Zufallsstichproben mit steigendem n gegen eine Normalverteilung mit Erwartungswert μ und Varianz σ 2 / n konvergiert. Ab einer Stichprobengröße von n≥30 kann für alle praktischen Zwecke von einer hinreichenden Annäherung der Wahrscheinlichkeitsverteilung an die Normalverteilung ausgegangen werden. Da die Eigenschaften der Normalverteilung bekannt sind, ist es unter Kenntnis der Grundgesamtheitsparameter (GG) nun möglich, zu berechnen, wie wahrscheinlich es ist, eine Stichprobe mit einem bestimmten Stichprobenmittelwert (SP) zu ziehen. Hierdurch ermöglicht die frequentistische Inferenz, die Wahrscheinlichkeit des Stichprobenparameters unter Kenntnis der Grundgesamtheit direkt anzugeben [Pr(SP|GG)]. Da die oft gewünschte Aussage, wie wahrscheinlich der Grundgesamtheitsparameter bedingt auf die Stichprobenergebnisse ist [Pr(GG|SP)], nicht getätigt werden kann, erfolgt die Berechnung von Konfidenzintervallen und Signifikanzniveaus in diesem Paradigma indirekt. Da die Populationsparameter nicht aus einem Wahrscheinlichkeitsprozess resultieren, sondern unmittelbar gegeben sind, ist die indirekte Vorgehensweise - zumindest paradigmenintern - jedoch keine Einschränkung. Schätzen von Populationsparametern Statistisches Schätzen eines Populationsparameters kann als Punktschätzung oder als Intervallschätzung erfolgen. Die Schätzer sind hierbei Ergebnis eines Zufallsprozesses. Generell wird erwartet, dass geeignete Schätzer erwartungstreu, konsistent, erschöpfend und effizient sind. Ein Schätzer ist erwartungstreu, wenn er den Populationsparameter unverzerrt schätzt. Bspw. ist die Stichprobenvarianz kein erwartungstreuer Schätzer für die Populationsvarianz, da sie die Varianz systematisch unterschätzt. Unter Konsistenz versteht man, dass der Schätzer asymptotisch genauer wird, also bei steigendem n gegen den Populationsparameter konvergiert. Dies ist beispielsweise auch bei der Stichprobenvarianz der Fall, da die Verzerrung von -1/ n asymptotisch gegen Null geht. Erschöpfend meint die Nutzung aller relevanten Informationen der Stichprobe, und das Effizienzkriterium legt nahe, den Schätzer mit dem kleinsten mean squared error zu verwenden (MSE, entspricht bei unverzerrten Schätzern der Varianz der Stichprobenkennwertverteilung). Während die Punktschätzung genau einen Wert als Schätzer angibt (bspw. den Stichprobenmittelwert), berücksichtigt die Intervallschätzung die Unsicherheit, die beim Induktionsschluss auftritt und gibt ein Konfidenzintervall an. Die Intervalle werden hierbei breiter, je größer das gewählte Vertrauensniveau und je kleiner die Stichprobe ist. Üblich sind 90-, 95- oder 99-prozentige Vertrauensintervalle. Im Fall normalverteilter Stichprobenkennwerte ergeben sich symmetrische Konfidenzintervalle um den Punktschätzer mit einer Breite von ± 1,65, ±1,96 und ±2,58 Standardfehlern. Ein 95-prozentiges Konfidenzintervall enthält mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,95 den Populationsparameter. Es ist zu beachten, dass sich die Wahrscheinlichkeitsaussage nicht auf den Populationsparameter bezieht, da dieser als fix angenommen wird. Vielmehr bezieht sich die Wahrscheinlichkeitsaussage immer auf das Intervall, da lediglich die Stichprobe und das auf Basis der Stichprobe berechnete Konfidenzintervall Ergebnis eines Zufallsprozesses sind. Testen von Hypothesen Statistisches Testen beruht auf derselben, bereits oben geschilderten Logik. Es wird jedoch zunächst ein statistisches Hypothesenpaar, bestehend aus einer Alternativ- und einer Nullhypothese formuliert. Die Alternativhypothese ist hierbei die Formalisierung der inhaltlichen Forschungshypothese und die Nullhypothese ergibt sich als Negation der Alternativhypothese. Wird bei der Alternativhypothese eine Richtung angegeben (z. B. Männer verdienen mehr Geld als Frauen) spricht man von einem einseitigen Test, wird keine Richtung formuliert, handelt es sich entsprechend um einen zweiseitigen Test (z. B. das Einkommen hat einen Effekt auf die Lebenszufriedenheit). Obwohl in der Forschungspraxis inhaltlich meist gerichtete Hypothesen formuliert werden, hat sich der zweiseitige Test als Standard etabliert. <?page no="190"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 190 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 191 191 Inferenz, statistische Beim statistischen Testen wird errechnet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Stichprobe mit dem konkret gefundenen Stichprobenparameter gezogen wird, wenn in der Population die Nullhypothese gilt. Liegt diese Wahrscheinlichkeit unterhalb einer zuvor festgelegten Irrtumswahrscheinlichkeit, bezeichnet man das gefundene Ergebnis als signifikant. Analog zu den oben genannten Vertrauenswahrscheinlichkeiten werden oft Irrtumswahrscheinlichkeiten von 1 %, 5 % oder 10 % verwendet. Es ist wichtig zu bedenken, dass statistische Signifikanz keinesfalls mit der umgangssprachlichen Bedeutung im Sinne von »Wichtigkeit« interpretiert werden darf. Vielmehr meint »signifikant« lediglich »mit hinreichender Sicherheit von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit übertragbar«, und dies muss gerade bei großen Stichproben keineswegs mit Wichtigkeit korrespondieren. Auch wenn die genannten Signifikanzniveaus - insbesondere das 5-prozentige Signifikanzniveau - lediglich eine Konvention darstellen und inhaltlich vollkommen unbegründet sind, und das Erreichen eines Signifikanzniveaus maßgeblich von der Fallzahl mit bestimmt wird, haben sie in der Forschungs- und vor allem Publikationspraxis hohe Bedeutung erlangt. Dieses und andere Probleme haben unter dem Stichwort »null hypothesis significance testing« oder »NHST« zu einer kontroversen Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Signifikanztests geführt. Neuere Entwicklungen: Bootstrapping und-Bayesianische Inferenz Als alternative Methoden der statistischen Inferenz haben sich Bootstrapping und bayesianische Statistik etabliert. Beim Bootstrapping handelt es sich um ein nichtparametrisches Verfahren, bei dem keine a-priori-Annahme über die Verteilung der Stichprobenkennwerte getroffen werden muss. Folglich muss auch die Gültigkeit des zentralen Grenzwertsatzes nicht angenommen werden. Dies ist insbesondere dann hilfreich, wenn die Gültigkeit der Annahmen fraglich ist oder wenn die Verteilung eines bestimmten Parameters nicht bekannt ist. Die Verteilung der Parameter wird dann direkt aus der vorliegenden Stichprobe geschätzt, indem eine große Zahl von bootstrap-Stichproben aus der Stichprobe gezogen wird. Das Ziehen erfolgt mit Zurücklegen, so dass ein Fall, der bereits im ersten Zug gezogen wurde, auch im zweiten Zug noch einmal gezogen werden kann etc. Mittels Bootstrapping ist es möglich, auch ohne Vorannahmen Kenntnis über die Kennwerteverteilung zu verhalten. Das Bootstrap-Verfahren ist hierdurch sehr flexibel, weist aber auch eine Reihe von Nachteilen auf. Insbesondere ist anzumerken, dass die Qualität der vorliegenden Stichprobe in noch größerem Maße als bei parametrischen Inferenzverfahren über die Qualität des Ergebnisses entscheidet. Hinzu kommt, dass die statistische Power von Bootstrapping geringer ist. Daher ist es ratsam, parametrische Verfahren zu verwenden, wenn diese existieren und die jeweiligen Annahmen gültig sind. Bayesianische Inferenz hingegen basiert auf einer gänzlich anderen Logik als frequentistische Verfahren. Bayesianische Statistik baut auf der Logik der Wissenskumulation oder, genauer, der Anpassung von Vorwissen durch neu hinzuerworbenes Wissen auf. Hierbei wird im Gegensatz zur frequentistischen Inferenz auch der Populationsparameter als zufällig verstanden, so dass es im Gegensatz zu jener möglich ist, eine Aussage über Pr(GG|SP) zu treffen. In der Bayesianischen Inferenz wird zunächst auf der Basis von empirischem oder theoretischem Vorwissen sogenannte a priori-Information über die Wahrscheinlichkeitsverteilung des Parameters spezifiziert. Diese wird mit den auf Basis der neuen empirischen Daten errechneten Likelihoods aktualisiert, woraus über Monte Carlo Markow Chains (MCMC) die posterior-Verteilung geschätzt werden kann. Diese posterior-Verteilung repräsentiert dann das aktuelle Wissen. Insofern kein Vorwissen vorliegt, kann ein nichtinformativer prior verwendet werden. In diesem Fall unterscheiden sich posterior und likelihood nicht und Bayesianische Verfahren können ihre spezifischen Vorteile kaum einsetzen. Durch die Verwendung von priors bietet die Bayesianische Inferenz vor allem bei kleinen Stichproben Vorteile und hat daher in der Politikwissenschaft größere Verbreitung gefunden als in der Soziologie. Es muss jedoch beachtet werden, dass auf der Basis Bayesianischer Inferenz keine klassischen Nullhypothesentests vorgenommen werden können und sich die Interpretation der »credible intervals« von herkömmlichen Konfidenzintervallen unterscheidet. Dies ist jedoch, wiederum paradigmenintern, nicht als Einschränkung zu verstehen, da Bayesianische Inferenz andere Ziele verfolgt und das Testen von Nullhypothesen nicht in ihre Logik passt. <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 192 192 Inhaltsanalyse Literatur Gelman, Andrew et al., 2003: Bayesian Data Analysis, London.-- Krantz, David H., 1999: The Null Hypothesis Testing Controversy in Psychology; in: Journal of the American Statistical Association 94, 1372-1381.- - Kühnel, Steffen; Krebs, Dagmar, 2010: Grundlagen des statistischen Schließens; in: Wolf, Christof; Best, Henning (Hg.): Handbuch der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse, Wiesbaden, 165- 189.- - Shikano, Susumu, 2010: Einführung in die Inferenz durch den nichtparametrischen Bootstrap; in: Wolf, Christof; Best, Henning (Hg.): Handbuch der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse, Wiesbaden, 191-204. Henning Best Inhaltsanalyse Begriff Die Inhaltsanalyse (engl. content analysis) ist eine empirische Methode zur systematischen und intersubjektiv nachvollziehbaren Analyse kommunikativ verwendeter Symbolmengen. Dazu gehören Gebrauchs- und Sachtexte ebenso wie Bilder, Filme, Musik oder Antworten auf offene Fragen in Interviews. Trotz ihres Namens beschäftigt sie sich heute nicht nur mit dem Inhalt von Kommunikation, sondern auch mit formalen Aspekten oder latenten Sinnstrukturen. Lange war Berelsons Formulierung die meistzitierte Definition: »Content analysis is a research technique for the objective, systematic and quantitative description of the manifest content of communication« (18). Zwei neuere Definitionen spiegeln Kristallisationspunkte der aktuellen methodologischen Diskussion wider: »Content analysis is a research technique for making replicable and valid inferences from data to their context« (Krippendorff, 13) und »Die Inhaltsanalyse ist eine empirische Methode zur systematischen und intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen; (häufig mit dem Ziel einer darauf gestützten interpretativen Inferenz)« (W. Früh, 25). Die Bedeutungsrekonstruktion ebenso wie der Schluss auf Kontextbedingungen der Kommunikation sind problematische, aber dennoch zentrale Prämissen der Inhaltsanalyse. Sie werden bis heute kontrovers diskutiert, was zur Folge hat, dass derzeit keine konsensuale Definition der Inhaltsanalyse existiert. In einer Bestandsaufnahme der Leistungen der Inhaltsanalyse kommen Merten/ Großmann aber zu dem Schluss, dass die Methode sich neben Befragung und Beobachtung zu einem ebenbürtigen Instrument zur Erhebung sozialer Wirklichkeit etabliert habe. Bei Lisch/ Kriz heißt es gar, sie sei »das zentrale Modell zur Erfassung sozialwissenschaftlicher Realität« (S. 11). Entscheidend ist, sie nicht als nur deskriptive textbezogene Zähltechnik zu begreifen, sondern als theoriegeleitete schlussfolgernde Methode im Kommunikationszusammenhang zu formulieren. Entwicklung der Inhaltsanalyse Nach einigen unsystematischen Vorläufern wurde die Inhaltsanalyse zu Beginn des 20. Jh.s als Methode der Kommunikationswissenschaft zur Auswertung großer Materialmengen im Rahmen der aufkommenden Massenmedien (Zeitungen, Radio) entwickelt (vgl. zur Geschichte der Inhaltsanalyse: W. Früh; Merten; Mayring 2010). In den USA führten in den 30er Jahren Analysen der öffentlichen Meinung über Radiosendungen (Lazarsfeld, Bureau of Applied Social Research at Columbia University) und Auswertungen der Nazi-Propaganda (Lasswell, Experimental Division for the Study of War-Time Communications, U. S. Congress) zu einer großen Verbreitung der Methode. In der Nachkriegszeit erfuhr die Inhaltsanalyse disziplinäre Erweiterungen. Auch Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Literaturwissenschaften, Geschichte und Kunstwissenschaften griffen die Methode auf und erweiterten sie. Berelson verfasste 1952 das erste Lehrbuch mit der o. a. Definition. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts häufte sich die Kritik an der rein quantitativen Ausrichtung auf den manifesten Kommunikationsinhalt (vgl. z. B. Kracauer). Das Problem der Textbedeutung wurde thematisiert, die Betrachtung des Kontextes und des Kommunikationszusammenhangs, die Einbeziehung auch qualitativer Interpretationsschritte und schließlich die ersten Computerprogramme bestimmten die Methodendiskussion (vgl. Pool, Gerbner et al.). Methodologische Grundzüge der Inhaltsanalyse Die Inhaltsanalyse als wissenschaftliche Methode ist insbesondere durch folgende Eigenschaften charakterisiert: <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 192 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 193 193 Inhaltsanalyse a) ein streng systematisches Vorgehen mit Hilfe von Kategoriensystemen, welche die Auswertung nachvollziehbar, wiederholbar und intersubjektiv überprüfbar machen (Reliabilität); das Postulat der Systematik ist bei einer invarianten Anwendung der Methode auf das gesamte Analysematerial erfüllt, und intersubjektiv nachvollziehbar ist die Inhaltsanalyse dann, wenn der Bezug zwischen theoretischen Konstrukten und Kategorien in präzisen Definitionen offengelegt und die Anwendung des Kategoriensystems auf das Textmaterial durch detaillierte Codierregeln dokumentiert ist; b) die Benutzung größerer Materialmengen, u. a. um die Auswertung von Zufälligkeiten des Einzelfalls unabhängig zu machen (Validität). Im Vergleich zu anderen sozialwissenschaftlichen Datenerhebungsverfahren gilt für die Inhaltsanalyse insbesondere: a) Es sind Aussagen über Merkmale vergangener und nicht direkt zugänglicher Kommunikationsvorgänge möglich. b) Der Forscher ist nicht auf die Kooperation von Versuchspersonen u. Ä. angewiesen. c) Durch die Untersuchung tritt keine unmittelbare Beeinflussung oder Veränderung des Untersuchungsobjektes - der Texte - ein, sodass es sich um ein nicht-reaktives Verfahren handelt (vgl. Bungard/ Lück). Nach anderer Auffassung ist die Inhaltsanalyse doch reaktiv, weil die sprachverstehende Reaktion des Codierers den Untersuchungsgegenstand erst rekonstruiert (W. Früh, 38 ff.). Darüber hinaus vertreten viele Autoren (z. B. Merten, Holsti, Krippendorff ) die Ansicht, das essentielle Merkmal der Inhaltsanalyse sei die Inferenz, d. h. der Schluss vom Inhalt des Textes auf Merkmale des Kommunikators, der Rezipienten oder des entstehungsgeschichtlichen Kontextes. Alle müssen jedoch einräumen, dass solche Inferenzen ohne zusätzliche Annahmen, die außerhalb der Inhaltsanalyse liegen, nicht möglich sind, weil sich diese Merkmale nicht unvermittelt im Text niederschlagen und eindeutige Referenzregeln kaum existieren. Berelson, Maletzke, W. Früh u. a. trennen deshalb Deskription und Inferenz, Berelson und Maletzke in Form einer Typologie (»reine« und »erweiterte Analyse«; Maletzke, 64 ff.), W. Früh durch Segmentierung und Ausgrenzung: Die Inhaltsanalyse liefert lediglich durch theorieadäquate Deskription der Texte gezielt Daten, die dann mit Hilfe gültiger Produktions-, Rezeptions- oder Repräsentationstheorien auf Kommunikator, Publikum oder soziokulturellen Kontext bezogen werden können. Forschungslogisch wird damit der Anspruch einer inferentiellen Beweisführung aus der Inhaltsanalyse herausgenommen aber nicht aufgegeben. Sie ist hier eine Methode zur theoriegeleiteten Deskription, die im Rahmen einer übergreifenden Forschungslogik gezielt zur Inferenz eingesetzt werden kann. Ein weiterer Unterschied wird in den beiden Definitionen deutlich: Während es Bestrebungen gibt, Inhalts- und Formanalysen zu trennen (Merten), sind andere Forscher (Berelson, Maletzke, Schulz, W. - Früh) der Ansicht, dass eine solche analytische Ausdifferenzierung historisch den Anwendungen der Methode nicht entspricht. Der insofern etwas missverständliche Terminus »Inhaltsanalyse« umfasst also auch Fragestellungen, die sich auf formale Eigenschaften der Texte richten (wie etwa Umfang, Form, Stil, Gestaltung). Grundzüge des Verfahrens der Inhaltsanalyse Die Inhaltsanalyse ist ein methodisches Paradigma der Datenerhebung; für jedes Forschungsproblem muss jeweils eine neue, an den Forschungsgenstand angepasste methodische Variante entwickelt werden. Mittlerweile gibt es jedoch auch eine Reihe von Varianten, die für bestimmte Forschungszwecke ein gewisses Maß an Standardisierung aufweisen, z. B. die Evaluative Assertion Analysis (Osgood et al.), die Motivationsanalyse (McClelland), die Lesbarkeitsanalyse (Flesch), Valenz- und Intensitätsanalysen sowie Kontingenzanalysen. Frequenzanalysen sind eine Selektions- und Klassifikationsstrategie: Sie erfassen nur die hypothesenrelevanten Merkmale der Texte (Selektion); definierte Mengen originärer Inhaltsaspekte werden unter einem übergeordneten Gesichtspunkt als äquivalent betrachtet und in Kategorien zusammengefasst (Klassifikation). Selektionswie Klassifikationskriterien gibt der Inhaltsanalytiker vor, legt sie offen und begründet sie in Bezug auf die Forschungsfrage sowie das Untersuchungsmaterial. Theoretische Basis von Häufigkeitsanalysen ist die Annahme, dass Häufigkeiten inhaltliche Merkmale anzeigen, wie z. B. Wichtigkeit oder Auffälligwww.claudia-wild.de: <?page no="193"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 194 194 Inhaltsanalyse keit. Einfache Häufigkeitsanalysen zählen Textbestandteile (z. B. Wörter) im Material aus (Fragestellungen wie: die häufigsten Begriffe in Schlagertexten, die Häufigkeitsverteilung von ethnischer Zugehörigkeit von Romanfiguren; Rubriken in Zeitungen). Komplexere Häufigkeitsanalysen (Indikatorenanalysen) zählen solche Textbestandteile aus, die aufgrund theoretischer Erwartungen Indikatoren für zu untersuchende Variablen darstellen. Beispiele dafür wären: Emotionswörter in freien Texten als Indikatoren für emotionale Zustände des Textverfassers; »muss«, »niemals«, «! « als Indikatoren für den Dogmatismus von Verfassern von Beschwerdebriefen; »äh«, Wiederholungen, Satzbrüche als Zeichen von Angst von Patienten in Therapieprotokollen; relative Häufigkeiten von Füllwörtern (und, oder, man) als Zeichen des Sprachstils des Autors, um unbekannte Verfasser eines Textes zu identifizieren. Die theoretische Stimmigkeit ist hier entscheidend (die sich im Beispiel der zuletzt genannten Sprachstilanalysen als nicht haltbar erwiesen hat; vgl. Krippendorff ). Das typische Merkmal der Inhaltsanalyse in der quantitativen Forschung ist ihre Systematik, die sich in einem streng regelgeleiteten Vorgehen zeigt. Folgende Schritte sind dabei zentral: 1) Fragestellung der Analyse: Die Inhaltsanalyse analysiert ihr Merkmal nicht per se, sondern verfolgt dabei theoretisch abgeleitete, in den Forschungsstand eingebettete Fragestellungen. 2) Auswahl und Charakterisierung des Materials: Dabei sind Probleme der Stichprobenkonstruktion zu beachten, und die Qualität des Materials muss diskutiert werden. 3) Einordnen des Materials in den Kommunikationszusammenhang: Das Modell muss zumindest die Bestandteile Kommunikator (Sender), Objektbereich (Quelle), soziokultureller Hintergrund, Text, Zielgruppe, Rezipient und Inhaltsanalytiker umfassen (vgl. Holsti; Mayring, 2010). 4) Festlegung des Kategoriensystems: Bei einem hypothesengeleiteten Einsatz der Inhaltsanalyse müssen die Kategorien so gebildet werden, dass sie sowohl eine Bestätigung wie auch eine Widerlegung der Hypothese erlauben. Sie werden in einem alternierenden theorie- und empiriegeleiteten Vorgehen entwickelt, d. h. sowohl aus den Konstrukten der Hypothese als auch aus einer repräsentativen Stichprobe des Untersuchungsmaterials abgeleitet. Hierbei werden die Analyseaspekte theoriegeleitet in Kurzform formuliert. »Content analysis stands or falls by its categories« (Berelson, 147). Das Kategoriensystem muss eindimensional, vollständig (erschöpfend) und trennscharf sein; eindimensional heißt, dass es nach einem einheitlichen Klassifikationsprinzip gebildet sein muss; vollständig (erschöpfend) meint, dass es alle theoretisch relevanten Bedeutungsaspekte in Form von Kategorien enthalten muss und deren operationale Definition geeignet sein soll, jeweils alle kategorienbezogenen Bedeutungen (und nur diese) im Untersuchungsmaterial zu identifizieren; Trennschärfe schließlich bedeutet, dass sich die Bedeutungsfelder der Kategorien nicht überschneiden, damit jede Bedeutungseinheit genau einer Kategorie zugeordnet werden kann. 5) Operationale Definition der Kategorien: Hierbei müssen die konkreten Merkmale der Texte identifiziert werden, die den Bedeutungsraum der einzelnen Kategorien abgrenzen. Die Auswertungseinheit (sampling unit) legt fest, welche Textportionen jeweils zur Auswertung herangezogen werden (z. B. einzelne Protokolle, Zeitungsausgaben oder Interviews). Die Kodiereinheit (recording unit) bestimmt die kleinsten Textteile, an denen das Vorkommen von Kategorien festgestellt wird; sie können syntaktischer (Wort, Satz, Abschnitt) oder semantischer Art (Thema, Argument etc.) sein. Die Kontexteinheit (context unit) schließlich bezieht sich auf den Hintergrund, auf dessen Basis ein Kodierurteil abgegeben werden kann, und meint damit den größten Textbestandteil, der unter eine Kategorie fallen kann. Kodierregeln bestimmen, wie groß der Interpretationsspielraum der Kodierer ist: Sprache ist selten eindeutig, so dass Textverstehen immer auf einem Spektrum von Plausibilitäten variiert. Viele Bedeutungen lassen sich überhaupt nicht an »harten«, völlig evidenten Indikatoren festmachen. Der Inhaltsanalytiker muss deshalb entscheiden, ob er auf solche Inhalte verzichtet oder ob er den Kodierern einen größeren Interpretationsspielraum zugesteht. Die Grenzen verlaufen dort, wo die Interpretationsspielräume durch Kodierregeln nicht mehr kontrolliert und für Dritte nicht mehr nachvollziehbar sind. Hier sollte auch festgelegt werden, ob überlappende Kodierungen oder Doppelkodierungen zugelassen werden. Wenn diese Schritte für eine konkrete Untersuchung entwickelt wurden, sollte es in einer Prowww.claudia-wild.de: <?page no="194"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 194 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 195 195 Inhaltsanalyse beuntersuchung (Pretest) am Material getestet werden. In diese Phase fällt auch eine sorgfältige Kodiererschulung. 6) Schrittweise Materialbearbeitung mit Hilfe des Kategoriensystems: Dabei wird schrittweise, von Zeile zu Zeile, vorgegangen, und die Kodierurteile werden festgehalten (Unterstreichungen, Randnotizen, Kodierbögen). 7) Anwenden inhaltsanalytischer Gütekriterien: Die Qualität des Kategoriensystems und die Einhaltung der Kodierregeln werden durch Reliabilitätstests kontrolliert. Bei der Interkoder-Reliabilität wird überprüft, inwieweit die Kodierer dasselbe Untersuchungsmaterial übereinstimmend kodieren. Die Empfehlungen reichen von 0,6 bis mindestens 0,9 (Cohen’s Kappa). Die Intrakoder-Reliabilität kontrolliert die Übereinstimmung, mit der derselbe Kodierer in zeitlichem Abstand dasselbe Textmaterial kodiert. Allerdings sollte die Prüfung der Güte des Verfahrens nicht nur auf Reliabilitätsmessungen beschränkt bleiben (vgl. Becker/ Lißmann). Die Validitätsprüfung erfolgt - sofern man Inferenz als essenziellen Bestandteil der Methode auffasst - entweder durch einfache Plausibilitätskontrolle (face-validity) oder durch Vergleich mit Außenkriterien (correlational oder external validity). Wurde z. B. ein prognostischer Ansatz gewählt, bei dem eine Inferenz auf das Textverständnis des Publikums beabsichtigt ist, kann man empirisch prüfen, ob sich die analysierten Textinhalte mit den Textinterpretationen des Publikums decken. Bei diagnostischen Ansätzen, die Inferenzen auf Absichten und Eigenschaften des Autors planen, können Befragungen des Autors zur Validierung benutzt werden. 8) Quantitative Analysen der Kategorienzuordnungen: Die nach 7 abgesicherten Kodierurteile werden nach den üblichen statistischen Verfahren quantitativ analysiert (Häufigkeitsverteilungen, Zusammenhangsanalysen, Prozessverläufe). 9) Interpretation im Sinne der Fragestellung: Hierzu gehört insbesondere für jede Hypothese die klare Feststellung, ob sie widerlegt wurde oder sich bewährt hat. Komplexe Inhaltsanalyse Die Inhaltsanalyse eliminiert Mehrdeutigkeiten, indem nur der jeweils evidenteste Bedeutungsgehalt erfasst wird. Dies ist dann ein Nachteil, wenn - wie z. B. in künstlerischen Texten oder »diplomatisch« formulierten Politikeraussagen - Mehrdeutigkeiten und bewusst diffuse Andeutungen die wesentlichen Texteigenschaften sind. Eine Möglichkeit, dem zu begegnen, ist die Verwendung sog. »synthetischer Codes« (W. Früh, 199 ff.). Äußerungen repräsentieren gleichzeitig mehrere Merkmalsdimensionen (z. B. syntaktische, semantische und pragmatische Bedeutung/ kommunikative Funktionen). Wird jede Äußerung immer nach mehreren analytischen Aspekten eingestuft, lassen sich beliebige Kombinationen flexibel synthetisieren. Ein weiteres Problem besteht bei der Abbildung komplexer Bedeutungsstrukturen (z. B. Argumentationszusammenhänge). Zwar kann man die Kodiereinheiten der Inhaltsanalyse beliebig komplex definieren, verändern sie sich jedoch in ihrer Binnenstruktur oder werden variabel zu immer neuen Konstellationen kombiniert, relativiert oder ergänzt, so wird eine inhaltsanalytische Erfassung sehr umständlich. Bereits ein hohes Maß an Flexibilität erreichen Kepplinger/ Mathes mit ihrer »Modultechnik« bzw. Mathes mit der »Netzwerktechnik«. Vorab definierte komplexere Textbausteine können durch eine begrenzte Zahl von Funktionen untereinander kombiniert werden. Doch das auf diese Weise handhabbare Inventar von Bedeutungseinheiten und Funktionsbeziehungen bleibt aus Gründen der Überschaubarkeit beschränkt. Sofern man noch höhere Ansprüche an die Komplexität der Abbildung stellt, müssen neue inhaltsanalytische Verfahren entwickelt werden, die zusätzlich berücksichtigen, dass sprachliche Äußerungen erstens simultan Bedeutungen auf mehreren Ebenen tragen, zweitens Bedeutungen sich oft erst durch ein bestimmtes sequenzielles Arrangement darstellen sowie drittens zusätzlich durch weitere (formale; textexterne) Merkmale charakterisiert sein können. Mit der »Systematischen Struktur- und Inhaltsanalyse« (SSI) (W. Früh, 246 ff.) wurde eine Methode entwickelt, die diesen Ansprüchen gerecht wird. Der SSI liegt eine Kombination textlinguistischer und inhaltsanalytischer Prinzipien zugrunde. Als kommunikationsrelevante semantische Analyseeinheiten werden Propositionen benutzt. Gleiche Bedeutungen werden identisch codiert, auch wenn sie an der Textoberfläche verschieden repräsentiert sind. Dazu werden die Texte zunächst von Kodierern in eine formale Metasprache übersetzt, die dann mit Hilfe spezieller Computer-Software ausgewertet wird. Die <?page no="195"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 196 196 Inhaltsanalyse formale Metasprache besteht aus einem alphanumerischen Teil, der in Form von Buchstabenkombinationen und Klammerausdrücken die semantischen Bedeutungsbeziehungen angibt, und einem numerischen Teil, der auf inhaltsanalytischem Wege die Bedeutung durch eine Kennziffer näher bestimmt. Die Propositionen lassen sich zu fast beliebig komplexen Argumentationsfiguren verbinden. Auf dieser Ebene der aggregierten semantischen Informationen lassen sich neben den inhaltsanalytischen auch strukturelle Kennwerte errechnen (wie Dichte, Kohärenz, Argumentationsmuster etc.). Außerdem können weitere Zusatzinformationen wie pragmatische, syntaktische, stilistische Merkmale, die Textsorte, Informationen über den Autor und formale Merkmale eines Textes erfasst und zu den anderen Kennwerten in Beziehung gesetzt werden. Qualitative Inhaltsanalyse Qualitativ orientierte Inhaltsanalyse versucht die Vorteile der Systematik der Inhaltsanalyse beizubehalten, ohne in vorschnelle Quantifizierungen zu verfallen. Dabei wird an verschiedenen Punkten angesetzt. Ritsert geht davon aus, dass auch einmalig auftauchende Motive, auch nicht auftauchende Aspekte (Absenz) wichtig sein können, und versucht ideologische Syndrome aus dem Material heraus zu rekonstruieren (Latenz). Mayring (2010) beschreibt den Prozess der Zuordnung von (deduktiv aufgestellter) Kategorie zu einer Textstelle als Interpretationsakt, der genauen Regeln (Kategoriendefinitionen, Ankerbeispiele, Abgrenzungsregeln) folgen muss, die in einem Kodierleitfaden festgehalten werden. Schrittweise Textzusammenfassungen werden mit der qualitativen Inhaltsanalyse kontrolliert möglich. Als stärker qualitativ orientiert werden Vorgehensweisen der induktiven Kategorienformulierung beschrieben. Zur Festlegung des Kategoriensystems findet man in der traditionellen Inhaltsanalyse wenig Hinweise: »How categories are defined … is an art. Little is written about it« (Krippendorff, 76). Bei induktiver Kategorienbildung nach der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2010) werden die Kategorien nach einer vorher festgelegten allgemeinen Kategoriendefinition und der Bestimmung eines einheitlichen Abstraktionsniveaus schrittweise aus dem Material herauskristallisiert, möglichst in der Sprache des Materials formuliert und dann zu Hauptkategorien zusammengefasst. Mit solchen induktiv gebildeten Kategorien kann jedoch quantitativ weiter gearbeitet werden, wodurch sich hier die klare Trennung qualitativ - quantitativ überwinden lässt (vgl. Mayring 2001), wie in einer Studie zur Arbeitslosenforschung gezeigt wurde (Mayring et al.). Eine weitere neuere inhaltsanalytische Methode, die eine Konvergenz qualitativer und quantitativer Analyse anstrebt, stellt die Semantische Struktur- und Inhaltsanalyse (SSI) dar (Früh), bei der das Material textlinguistisch fundiert in eine formale Metasprache überführt und dann weiter analysiert wird. Computerunterstützte Inhaltsanalyse Bereits in den 1960er Jahren wurde mit dem »General Inquirer« ein inhaltsanalytisches Wörterbuch als Kategoriensystem vorgestellt, das eine automatische Erkennung von Kategorien im Text ermöglichte (vgl. Gerbner et al.). Diese computerunterstützte Inhaltsanalyse (CUI) wurde in vielfältiger Weise weiterentwickelt (vgl. Alexa/ Züll; Scharkow); sie ermöglicht heute die Definition komplexer, hierarchischer Kategoriensysteme und erkennt Begriffe auch in Beugungsformen. Für Qualitative Inhaltsanalysen (Mayring) steht eine spezielle Software als Open-Access-Programm zur Verfügung (www.qiapro.com). Diktionärsbasierte Ansätze und Co-Occurance- Verfahren: Unter den quantitativen Verfahren finden sich am häufigsten diktionärsbasierte (deduktive) Ansätze (vgl. Landmann/ Züll): Mit Hilfe eines deduktiv aus der Theorie abgeleiteten Kategorienschemas wird ein Diktionär erstellt, womit sich maschinenlesbare Texte systematisieren lassen. Die Auswertung basiert im Wesentlichen auf Häufigkeiten. Elaboriertere Ansätze der diktionärsbasierten CUI verwenden zusätzlich Codierregeln (vgl. Scharkow). Diktionärsbasierte Varianten der CUI genügen zwar durch deduktiv abgeleitete Kategorienschemata und Codierregeln der Forderung nach Systematik, jedoch bringen sie auch etliche Nachteile mit sich: Das Erstellen eines Diktionärs ist ein aufwändiger Prozess, häufig ist dieses letztlich so spezifisch, dass es nur einmalig angewendet werden kann. Hinzu kommt, dass aus den resultierenden Ergebnissen - in der Regel Häufigkeitsverteilungen bezüglich einzelner Wörter und Wortgruppen - meist nur vage Schlüsse gezogen werden können. <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 196 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 197 197 Inhaltsanalyse Als Alternative zu diktionärsbasierten Ansätzen werden häufig Co-Occurance-Ansätze zitiert (Landmann/ Züll): Da sie keines Diktionärs bedürfen, eignen sie sich zur explorativen Textanalyse. Basierend auf Clusteranalysen und MDS wird in vorab definierten Einheiten das gemeinsame Auftreten einzelner Zeichenketten (Wörter und Wortstämme) erfasst. Weder das Untersuchungsthema, noch die zu suchenden Wortgruppen müssen vorab definiert werden, die Kategorien bilden sich sozusagen selbstständig. Dennoch müssen meist sog. Stopp-Listen erstellt werden, um beispielsweise Konjunktionen von der Clusterbildung auszunehmen. Dies stellt somit eine Parallele zur diktionärsbasierten Vorgehensweise dar. Auch bei diesen Verfahren ist die Aussagekraft der Ergebnisse beschränkt, da nicht die Computer, sondern lediglich die Forscher Texte verstehen können; Letztere können am Ende häufig nur mittels mutiger Interpretationen Schlüsse aus den einzelnen Clustern ziehen. Beide Vorgehensweisen haben ihre spezifischen Vor- und Nachteile (vgl. Landmann/ Züll). Nach einem anfänglichen Boom hat die CUI seit den 1980er Jahren lange Zeit kaum Weiterentwicklungen erfahren. Dies änderte sich mit dem Aufkommen erheblicher Mengen maschinenlesbarer Texte durch das Internet: Viele massenmediale Angebote waren online verfügbar, die relevanten Informationsquellen der Nutzer haben sich potenziert, Online-Befragungen generieren in kürzester Zeit viele Antworten, die weiterverarbeitet werden müssen. Insbesondere in der Politikwissenschaft sowie der Informatik wurde die CUI daher Anfang des 21. Jh.s weiterentwickelt, sodass mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Varianten deduktiver (diktionärsbasierter) und induktiver (Co-Occurence) Varianten der CUI existieren (vgl. auch Scharkow). Online-Inhaltsanalyse: Ein großes Anwendungsgebiet für die CUI ist die Analyse von Online- Inhalten, da hier alle Informationen bereits digitalisiert vorliegen. Online-Inhalte lassen sich aber auch mit Hilfe der konventionellen Inhaltsanalyse untersuchen. Unabhängig davon, ob man zur Analyse von Online-Inhalten eine konventionelle oder eine computerunterstützte Inhaltsanalyse durchführen möchte, stellen die Infrastruktur des Internets sowie die Spezifika unterschiedlicher Kommunikationsmodi den Forscher vor neue Herausforderungen, bspw. durch die Dynamik, die Transitorik/ Flüchtigkeit, durch die Nonlinearität/ Hypertextualität, die Multimedialität sowie die Reaktivität/ Personalisierung von Online-Inhalten (Welker et al.). Hierdurch ergeben sich Probleme bei der Definition der Untersuchungseinheit und der Stichprobenziehung, bei der Erstellung der Messinstrumente sowie bei der Durchführung. Rössler und Wirth schlagen daher ein Ordnungsschema vor, das den Umgang mit diesen Problemen erleichtern soll. Sie unterscheiden dabei im Wesentlichen zwischen anwendungs- und nutzerzentrierter Online-Inhaltsanalyse. Obwohl die Online-Inhaltsanalyse prinzipiell keine neue Methode darstellt, wird sich die Methode der Inhaltsanalyse insgesamt vermutlich mit der wachsenden Bedeutung von Online-Kommunikation und deren Spezifika weiter differenzieren. Trotz vieler Vorteile dürfte die computergestützte Inhaltsanalyse jedoch auch hierdurch die konventionelle Inhaltsanalyse nicht völlig ablösen (vgl. auch Geis). Das Hauptproblem der CUI ist die Validität, während die Reliabilität keine Probleme bereiten muss. Die Ursache des Validitätsproblems liegt in der Tatsache, dass der Computer keine hinreichende Sprachkompetenz besitzt und deshalb auch keine - im Kontext verstandenen - Bedeutungen interpretativ kodiert, sondern nur deren formale Zeichengestalten auszählt. Literatur Alexa, Melina; Züll, Cornelia, 2000: Text Analysis Software: Commonalities, Differences and Limitations: The Results of a Review; in: Quality & Quantity 34, 299-321.- - Becker, Jörg; Lißmann, Hans-J., 1973: Inhaltsanalyse, München.- - Berelson, Bernard, 1952: Content Analysis in Communication Research, Glencoe, Ill.-- Bungard, Walter; Lück, Helmut E., 1974: Forschungsartefakte und nicht-reaktive Messverfahren, Stuttgart.- - Früh, Werner, 2005: Inhaltsanalyse, Konstanz (7. Aufl. 2011).- - Geis, Alfons, 2001: Konventionelle versus computerunterstützte Codierung offener Fragen. Ein Vergleich der Codier-Ergebnisse; in Wirth/ Lauf (Hg.), 318-336.- - Gerbner, George et al. (Eds.), 1969: The analysis of communication content, New York.-- Holsti, Ole R., 1969: Content analysis for the social sciences and humanities, Reading, Mass.- - Keplinger, Hans-Matthias; Mathes, Rainer, 1988: Künstliche Horizonte; in: Scharioth, Joachim; Uhl, Hans (Hg.): Medien- und Technikakzeptanz, München.- - Krippendorff, Klaus, 1980: Content Analysis, Beverly Hills.- - Landmann, Juliane; Züll, Cornelia, 2004: Computerunterstützte Inhaltsanalyse ohne Diktionär? Ein Praxistest; in: ZUMA-Nachrichten 54, 117-140.-- Lisch, Ralf; Kriz, Jürgen, 1978: Grundlagen und Modelle der Inhaltsanalyse, Reinbek.- - Maletzke, Gerhard, 1972: Psychologie <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 198 198 Inklusion/ Exklusion der Massenkommunikation, 2. Aufl., Hamburg.- - Mathes, Rainer, 1989: Modulsystem und Netzwerktechnik-- neuere inhaltsanalytische Verfahren zur Analyse von Kommunikationsinhalten, ZUMA-Arbeitsbericht 13, Mannheim.-- Mayring, Philipp, 2001: Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Analyse; in: Forum Qualitative Sozialforschung 2 (1).- - Ders., 2010: Qualitative Inhaltsanalyse, 11. Aufl., Weinheim.-- Ders. et al., 2000: Opfer der Einheit, Opladen.- - Merten, Klaus, 1995: Inhaltsanalyse, 2. Aufl., Opladen.- - Ders.; Großmann, Brit, 1996: Möglichkeiten und Grenzen der Inhaltsanalyse; in: Rundfunk und Fernsehen, 70-85.- - Pool, Ithiel de Sola, 1959: Trends in Content Analysis, Urbana, Ill.- - Ritsert, Jürgen, 1972: Inhaltsanalyse und Ideologiekritik, Frankfurt a. M.- - Rössler, Patrick; Wirth, Werner, 2001: Inhaltsanalysen im World Wide Web; in: Wirth/ Lauf (Hg.), 280-302.- - Scharkow, Michael, 2010: Lesen und lesen lassen-- Zum State of the Art automatischer Textanalyse; in: Welker/ Wünsch (Hg.), 340- 364.- - Welker, Martin et al., 2010: Die Online-Inhaltsanalyse: Methodische Herausforderung, aber ohne Alternative; in: Welker/ Wünsch (Hg.), 9-30.- - Welker, Martin; Wünsch, Carsten (Hg.), 2010: Die Online-Inhaltsanalyse, Köln.- - Wirth, Werner; Lauf, Edmund (Hg.), 2001: Inhaltsanalyse: Perspektiven, Probleme, Potentiale, Köln. Hannah Früh/ Philipp Mayring Initiation Initiation (lat. initium, Anfang, Eintritt, engl. initiation) bezeichnet im weitesten Sinne jede formal deutlich markierte Aufnahme in eine Gruppe, einen Verband, ein Milieu oder auch die Gemeinschaft der Erwachsenen, im engeren Sinne die Einführung in eine religiöse Gesellschaft oder einen Bund Gleichgesinnter. Der kritische Wechsel zu veränderter Identität und neuem Status soll durch die rituelle oder zeremonielle Organisation des Übergangs gewährleistet und den Initianden erleichtert werden. Initiation gehört zu den Passageriten (s. a. Ritual), deren formal einheitlicher Aufbau in drei Phasen zuerst von van Gennep beschrieben wurde. Initiationsriten waren besonders in frühen und sind heute in außereuropäischen Gesellschaften weit verbreitet, aber in gleicher Weise lassen sich viele Erscheinungen moderner Gesellschaften als Initiationen interpretieren. Beispiele sind Kommunion, Konfirmation und als säkulare Form die Jugendweihe, die alle den Übergang zum Erwachsenenalter dramatisieren und mit dem Erwerb von Wissen verknüpfen, das beansprucht, nicht hinterfragbar zu sein. Profane Beispiele waren die Aufnahme in den Adelsstand, in Studentenverbindungen oder heute in Jugendbanden. Till Förster Inklusion/ Exklusion Inklusion (engl. inclusion) bezeichnet die Einbindung von Personen in soziale Kontexte bzw. ihre Teilhabe, z. B. durch die Mitgliedschaft in Organisationen oder durch Anrechte im Wohlfahrtsstaat. Exklusion (engl. exclusion) richtet sich entsprechend auf soziale Ausgrenzung. Zum einen wurzelt das Begriffspaar im Strukturfunktionalismus bzw. der Differenzierungstheorie. T. Parsons bezeichnet Inklusion als den zunehmenden Einbezug von Gesellschaftsmitgliedern in gesellschaftliche Teilsysteme durch umfassende Partizipationsrechte im Zuge von Modernisierungsprozessen, z. B. durch die Ausweitung des Wahlrechts. N. - Luhmann wendet Inklusion und Exklusion auf funktional differenzierte gesellschaftliche Teilsysteme an. In diesen werden jeweils nur die sozialen Rollen wahrgenommen, die der Eigenlogik des Systems entsprechen, z. B. Konsumenten im Wirtschaftssystem. Aus der Sicht des Individuums kann man von multipler Partialinklusion in modernen Gesellschaften sprechen. Während Exklusion danach also abnimmt oder auch neutral verwendet wird, erfährt das Begriffspaar im Kontext der Ungleichheits- und Armutsforschung eine deutliche Wertung. Inklusion tritt dabei in manchen Diskursen neben (oder vor) den Integrationsbegriff (z. B. Inklusion von Menschen mit Behinderung). Exklusion zielt darauf ab, dass Benachteiligungen eine kategoriale Grenze überschreiten, hinter der es den Betroffenen nicht allein graduell schlechter geht als vielen anderen, sondern wo sie von zentralen Teilhabemöglichkeiten ausgeschlossen sind, wo Benachteiligungen kumulieren (man z. B. nach dem Arbeitsplatzverlust umziehen muss, sein Auto verkauft, weniger Kontakte hat etc.) und sich zeitlich verfestigen. Literatur Bude, Heinz; Willisch, Andreas (Hg.), 2008: Exklusion: die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt a. M.-- Farzin, Sina, 2011: Die Rhetorik der Exklusion: Zum Zusammenwww.claudia-wild.de: <?page no="198"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 198 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 199 199 Innovation hang von Exklusionsthematik und Sozialtheorie, Weilerswist.-- Kronauer, Martin, 2010: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, 2. Aufl., Frankfurt a. M.- - Stichweh, Rudolf; Windolf, Paul (Hg.), 2009: Inklusion und Exklusion, Wiesbaden. Nicole Burzan Innovation Begriffliche Abgrenzungen Innovation (engl. innovation) bezeichnet eine Idee, Praktik oder ein materielles Artefakt, die bzw. das als neu wahrgenommen wird von derjenigen sozialen Einheit (z. B. Organisation, Gesellschaft, Staat), die sie annimmt und umsetzt (Zaltman et al., 10). Fruchtlose Versuche, Neuheit unabhängig von spezifischen Kontexten bzw. Referenzgruppen zu definieren, sind schließlich darin gemündet, Neuheit in Bezug auf die Wahrnehmung der Bezugsgruppe der Innovation zu definieren. Es kommt auf die Veränderung in der Selbstbeschreibung des Systems an, auf die Betonung der Diskontinuität, den Bruch mit der Tradition (Luhmann 1987, 320). Die Wahrnehmung als Neuheit unterscheidet Innovation zugleich von Veränderungen bzw. sozialem Wandel. Während jede Innovation Veränderung mit sich bringt, impliziert Veränderung oder Wandel nicht notwendigerweise Innovation (Zaltman et al., 158). Ansätze, die den Ursprung des Neuen erklären, verweisen zugleich auf benachbarte Begriffe. Evolutionstheoretische Ansätze rekonstruieren Innovation auf der Basis der Konzepte Variation und Selektion. Betont wird die Rekombination von alten Formen. Diffusionstheoretische und neo-institutionalistische Ansätze betonen, dass die Verbreitung von Innovation im Wesentlichen auf Imitation beruht. Dem stehen handlungstheoretische Ansätze gegenüber, die die Rolle von Kreativität und Originalität betonen. Vom wirtschaftswissenschaftlichen Innovationsbegriff unterscheidet sich der sozialwissenschaftliche dadurch, dass er weit über die Durchsetzung einer technischen oder organisatorischen Neuerung im Produktionsprozess (z. B. Schumpeter) hinausgreift. Theoretische Bezüge Soziologische Theorien befassen sich unter anderem mit der gesellschaftlichen Bewertung und Durchsetzung des Neuen. Die Theorie gesellschaftlicher Differenzierung hebt hervor, dass bis ins 17. Jh. Warnungen in Bezug auf den Umgang mit Neuerungen überwiegen. Mit der beginnenden funktionalen Differenzierung wird das Einführen von Neuheiten dadurch erleichtert, dass man sie in unterschiedlichen Funktionssystemen unterschiedlich behandelte: Zu einer Neubewertung des Neuen kommt es zunächst in der Kunst und in den Wissenschaften, sodann in der Wirtschaft, später in Politik und Religion. Die Erfindung der Mode im 17. Jh. kann als erstes Indiz einer neuheitssüchtigen Gesellschaft gelten (Luhmann 1995). Die These der kulturellen Verzögerung bezieht sich auf die Spannung zwischen der Dynamik der Innovation in Wissenschaft und Technik und sozialem und kulturellem Wandel. Mikropolitisch-organisationssoziologische Ansätze beschreiben Innovation als Sonderfall, der sich gegen die herrschenden Routinen durchsetzen muss. Innovationsspiele sind Metaspiele im Verhältnis zu Routinespielen. Sie sind besondere Spiele des Managements. Sie stoßen bei den Routinespielern auf Widerstand, weil sie die normalen Aufgaben reorganisieren (Ortmann/ Becker). Handlungstheoretische Ansätze betonen die Kreativität jeglichen Handelns, und führen den Nachweis, dass dieser Aspekt von den Klassikern der Soziologie vernachlässigt wurde. In der jeweiligen Situation des Handelns werden vielfach neue und kreative Lösungen erforderlich (Joas). Die Sprache verweist auf die Kreativität des Individuums (Castoriadis). Auch in der Analyse sozialer Bewegungen wurden entscheidende Phänomene kollektiven Handelns übersehen: In sozialen Bewegungen tauchen neue Werte und Handlungsziele auf, die erst in der Situation des Massenhandelns erzeugt werden. Sie bewirken sozialen Wandel und gesellschaftliche Innovation (Joas). Literatur Castoriadis, Cornelius, 1984: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a. M.-- Joas, Hans, 1996: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a. M.-- Luhmann, Niklas, 1987: Paradigmenwechsel in der Systemtheorie. Ein Paradigma für den Fortschritt? In: Herzog, Reinhart; Koselleck, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München, 305-322.-- Luhmann, Niklas, 1995: Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit? In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt a. M., <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 200 200 Institution 55-100.- - Ortmann, Günther; Becker, Albrecht, 1994: Management und Mikropolitik; in: Ortmann, Günther (Hg.): Formen der Produktion, Opladen, 43-80.- - Zaltman, Gerald et al., 1973: Innovations and Organizations, New York. Nicole J. Saam Institution In der Alltagsprache wird der Institutionenbegriff (engl. institution) oft synonym mit dem Organisationsbegriff verwendet. In der Fachsprache setzte sich allerdings eine klare semantische Trennlinie durch: Während unter Organisationen kollektive Akteure samt ihrer materiellen Ausstattung verstanden werden, beziehen sich Institutionen ausschließlich auf mehr oder weniger formalisierte Handlungsregeln, die gegebenenfalls zu Bestandteilen einer organisierten Handlungsstruktur werden können, aber nicht müssen. Innerhalb des so abgegrenzten semantischen Feldes koexistieren zumindest drei unterschiedliche Deutungstraditionen. In der klassischen soziologischen Deutungstradition bedeuten Institutionen normative Regeln, die Verbote, Gebote oder Erlaubnisse um ihrer selbst willen konstituieren. Insbesondere bei E. Durkheim stehen solche mit moralischer Autorität (selbstlegitimierten) Regeln im Zentrum der soziologischen Analyse, weshalb er Soziologie gelegentlich als Wissenschaft von Institutionen definiert. Generell lassen sich die klassischen soziologischen Theorien von M. - Weber über T. Parsons bis zu J. Habermas dadurch definieren und von den mentalistisch, kulturalistisch oder strukturalistisch verkürzten Ansätzen abgrenzen, dass diese Klassiker Institutionen zu den sozialtheoretischen Grundbegriffen zählen. Bereits bei Durkheim standen Institutionen im anthropologischen Kontext der Bedürfnisregulierung und -mäßigung. Die Unbegrenztheit des menschlichen Strebens macht die Menschen unglücklich; da sie in ihrer Bedürfnisstruktur keine innere Schranke eingebaut haben, muss die Gesellschaft ihnen von außen eine aufzwingen. Die Entfaltung dieses Denkanstoßes findet sich in der Theorie der menschlichen Umweltoffenheit und Instinktarmut von A. Gehlen, hier allerdings in einer folgenschweren Wendung zur Problematik der Entlastung oder, wie es später bei N. - Luhmann heißen wird: der Reduktion der Komplexität. Da der Mensch im Unterschied zum Tier umweltoffen ist, muss er Entscheidungen treffen; da er aber zugleich instinktarm ist, kann er die Entscheidungen nicht seinen Instinkten überlassen. Um in der unübersichtlichen Welt zurechtzukommen, braucht der Mensch Institutionen. »Sie sind die Formen, die seiner Natur nach riskiertes und unstabiles, affektüberlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig und um sich selbst zu ertragen« (Gehlen: 71). In Gehlens Verständnis der Institutionen finden sich schon Akzente, die in einer zweiten Deutungstradition dominant werden: weniger der normative als vielmehr der konstitutive Charakter institutioneller Setzungen für das menschliche Handeln, weniger der Moralals vielmehr der Sinnbezug steht hier im Vordergrund. Während im normativen Verständnis die Institutionen auf ein unabhängig von ihnen bestehendes Handeln bloß regulatorisch einwirken, definieren oder ermöglichen erst die konstitutiven Regeln das gegebene Handeln selbst. So regulieren die Benimmregeln bei Tisch das von ihnen unabhängig existierende Verhalten in einer bestimmten Art und Weise, während die Heiratsregeln das Heiraten erst ermöglichen oder konstituieren. Ohne Kenntnis der Tischmanieren kann man ein schlechtes Tischverhalten demonstrieren, während man ohne die Heiratsregeln nicht »schlecht«, sondern gar nicht heiraten kann. Das konstitutive Verständnis von Institutionen kommt insbesondere im Werk von Th. Luckmann und P. A. Berger sowie in dem sog. Neoinstitutionalismus zum Einsatz. Anstatt von Normregeln wird darin von kognitiven Schemata oder »scripts« gesprochen, die den Bereich des Sinnhaften abstecken. Damit hängen die Zwanglosigkeit institutionellen Verhaltens und die sog. isomorphische Theorie des Institutionenwandels zusammen. In einer dritten Deutungstradition stehen Institutionen weder im Kontext normativer Autoritätsregeln noch im Kontext sinnkonstituierender, kognitiver »scripts«, sondern im instrumentellen Kontext der Interessenbefriedigung. Zwar haben die Institutionen auch hier die formale Gestalt von Verboten und Geboten, aber keine moralische Autorität und keine von ihrer instrumentellen Wirksamkeit unabhängige Geltungsgrundlage. Sie bestehen nur und insofern, als sie der Interessenbefriedigung eigennütziger Akteure dienen. Der Bedarf an institutionellen Regelungen ergibt sich im ökonomischen Ansatz allein aufgrund der Paradoxie der Irrationalität des rationalen Nutzenstrebens. Institutionen lösen die <?page no="200"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 200 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 201 201 Integration Dilemmas kollektiven Handelns (z. B. das bekannte Gefangenendilemma), indem sie die Defektion in den Kooperationsspielen mit Sanktionen belegen (verteuern) und so die Ausbeutung gutgläubiger Akteure verhindern. Insbesondere bei der Institutionenökonomik und der evolutorischen Ökonomik sind Institutionen in das Zentrum explanatorischer Analysen gerückt. Die Institutionenökonomik betont den Einfluss institutioneller Settings auf die Wirtschaftsleistung. In einer klassischen Studie von D. North und R. Thomas wurde der Aufstieg der westlichen Welt in der frühen Neuzeit auf spezifische institutionelle Neuerungen in Holland und England des 17. Jh.s zurückgeführt. E. Ostrom zeigte wiederum, wie Institutionen die »tragedy of the commons« (Tragödie der Allmende) verhindern, indem sie die kollektiven Güter vor der Übernutzung schützen. In der Signaltheorie der Normen tragen Institutionen wiederum zur Lösung des Problems asymmetrischer Informationen bei. In einer Studie über Gebrauchtwagenmärkte konnte die Ineffizienz eines Marktes demonstriert werden, der durch asymmetrische Informationsverteilung zwischen Käufern und Verkäufern geprägt ist (sog. »lemmon market«). Eine ebenso prominente Rolle spielen die Institutionen, aber auch konventionelle, unbewusste, habitualisierte Normen, im Ansatz der evolutorischen Ökonomik. Dieses Forschungsprogramm verabschiedet sich von den Annahmen der vollständigen Informiertheit und der strikten teleologischen Ausrichtung des menschlichen Handelns in der neoklassischen Ökonomik. Die Institutionen sind keine Produkte planerischer, zielgerichteter Bemühungen um möglichst effiziente Handlungsregeln, sondern Evolutionsprodukte, d. h. Regeln, die von Menschen zwar unbewusst und oft zufällig adoptiert, aber in abermaligen Selektionsprozessen bestätigt wurden. Der Erfolg einer Institution bedeutet hier Erfolg jener Gruppe, die die Institution unintendiert angenommen und konsequent (d. h. auch bei temporären Rückschlägen) angewandt hat. Die Unterscheidung zwischen den drei Deutungstypen schließt typenübergreifende Konfigurationen nicht aus. So kombiniert z. B. M. Weber in seiner verstehenden Soziologie den normativen Ordnungsbegriff mit dem konstitutiven Sinnbezug sozialen Handelns. Normative Institutionen stiften demnach den Sinn des Handelns. Eine andere Konfiguration findet sich in der Framing-Theorie sozialen Handelns von H. Esser. Hier werden die konstitutiven Wahrnehmungs- (Frames) und Handlungsregeln in eine übergreifende ökonomische Selektionslogik eingebettet. Literatur Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas, 1979: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.-- DiMaggio, Paul J.; Powell, Walter W., 1991: Introduction; in: Powell, Walter W.; DiMaggio, Paul J. (ed.): The New Institutionalism in Organizational Analysis, Chicago u. a., 1-38.- - Durkheim, Emile, 2002: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a. M.- - Esser, Hartmut, 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 5: Institutionen, Frankfurt a. M.- - Hayek, Friedrich A. von, 2003: Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen.- - North, Douglas C.; Thomas, Robert Paul, 1980: The Rise of Western World, Cambridge u. a.- - Ostrom, Elinor, 1992: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge u. a.-- Stachura, Mateusz, 2008: Einleitung. Der Standort weberianischer Institutionentheorie im Raum konkurrierender Forschungsprogramme; in: Ders. et al. (Hg.): Der Sinn der Institutionen, Wiesbaden, 8-39.-- Vanberg, Victor, 1994: Rules and Choice in Economics, London u. a.- - Weber, Max, 1988: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen. Mateusz Stachura Integration Zum Begriff Integration (engl. integration) kommt von lat. integrare, was so viel bedeutet wie wiederherstellen, verselbstständigen oder eingliedern. Bei der Betrachtung von Integration sind zwei Perspektiven möglich. Man kann davon sprechen, dass Teile in ein Ganzes integriert werden oder davon, dass ein Ganzes durch das Zusammenspiel seiner Teile integriert ist. Dies entspricht sozialwissenschaftlich der Unterscheidung von Lockwood (1979) zwischen Sozialintegration, bei der Akteure oder Gruppen von Akteuren in ein soziales System integriert werden und Systemintegration, bei der es um Integration eines sozialen Systems in seiner Gesamtheit geht. Zugänge zur Integration sind eher sozialstrukturell, wenn von der Zuweisung von Positionen und Funktionen die Rede ist, oder eher kultursoziologisch, wenn neben Verhaltensmustern Wertstrukturen betrachtet werden. <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 202 202 Integration Integrationsbegriff in unterschiedlichen theoretischen Schulen Besonders geeignet ist der Integrationsbegriff für systemtheoretische Ansätze. Hier kann zum Beispiel das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen untersucht werden. Verschiedene Teilsysteme können sich Aufgaben teilen; einzelne Teilsysteme können Leistungen für andere Teilsysteme erbringen; Entwicklungen in einem Teilsystem können zu Herausforderungen für ein anderes Teilsystem führen. Wichtige Vertreter der Systemtheorie sind auch im Hinblick auf den Integrationsbegriff Parsons und Luhmann. Parsons sieht das Zusammenspiel der Teilsysteme eher positiv und betont eine desintegrierende Wirkung von Konflikten. Luhmann (1997: 603) fasst Integration eher negativ als »Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen«. Schimank (2005) vergleicht einschlägige zeitdiagnostische Analysen im Hinblick auf die deutlich werdenden Integrationskonzeptionen. Neben Phänomenen einer vor allem »von oben« gesteuerten Überintegration sei eine Desintegration als unzureichende Integration »von unten« zu beobachten. Die vorgestellten Autor/ innen gewichten Probleme der Sozialintegration deutlich stärker als Probleme der Systemintegration. Integrationsvorstellungen in der deutschen Migrationssoziologie Verlangt Integration kulturelle Angleichung? Klassischer Bezugspunkt zur Unterscheidung von Integrationsdimensionen ist in der deutschsprachigen Migrationsforschung Esser. Esser et al. (1979) unterschieden zwischen sozialstruktureller, sozialer, identifikativer und kognitiver Assimilation. Diese Ebenen wurden als Ebenen der Integration z. B. von Heckmann aufgegriffen. Esser selbst sprach später (z. B. 2009) für die vier Dimensionen von Platzierung, Interaktion, Identifikation und Kulturation. Ein anderer Ansatz unterscheidet sozialstrukturelle und kulturelle Eingliederung. So spricht Hoffmann-Nowotny für Erstere von Integration und für Letztere von Assimilation. Ähnlich unterscheiden Hoffmann/ Even (1984) zwischen Status- und Identitätspassage. Bei der Unterscheidung dieser beiden Ansätze geht es nicht nur um eine Frage der Definition. Sie ist relevant für die Frage, ob Integration mit kultureller Vielfalt kompatibel ist (vgl. z. B. Geißler 2005). Auf welche soziale Einheit bezieht sich Integration? Die vier Dimensionen der Integration wurden zunächst auf die Aufnahmegesellschaft bezogen. Elwert (1982) richtete dann mit dem Begriff der »Binnenintegration« den Blick auf Integration in ethnische Communities. Dieser Ansatz wurde aufgegriffen, indem Integration nun theoretisch und empirisch sowohl auf die von Einheimischen dominierten Teile der Aufnahmegesellschaft als auch auf die Herkunftsgruppe bezogen wurde. Problematisch bei diesem Zugang ist, dass beide gesellschaftlichen Bereiche als in sich homogen gefasst werden und dass der Nationalstaat Bezugspunkt bleibt, obwohl inzwischen transnationale Räume entstanden sind: Migranten verorten sich zugleich in verschiedenen Räumen, die zu unterschiedlichen Nationalstaaten zählen (vgl. Pries). Wie lässt sich Integration empirisch erforschen? Unter Integration wird auch verstanden, dass sich die Integrierten sozialstatistisch nicht mehr von der Aufnahmegesellschaft unterscheiden. Bestehende Benachteiligungen müssen aufgehoben sein. Dass diese noch massiv bestehen, zeigt z. B. Diefenbach (2010) für den Bereich der Schule. Im Zuge der konstruktivistischen Wende werden zunehmend Diskurse zu Integration untersucht. Dabei finden Diskurse in den Medien, von Expert/ innen und von den Migrant/ innen selbst Berücksichtigung (z. B. Rauer/ Schmidtke 2001; Zwengel 2011). Kritik am Integrationsbegriff Integration von Migrant/ innen wird gefasst als Eingliederung einer Gruppe in eine andere. Dies wird der Vielfalt der eingegliederten Individuen nicht gerecht. Die einzelne Gruppe wird, unzulässigerweise, als homogen betrachtet. Daneben ist zu berücksichtigen, dass Integration zugleich in viele unterschiedliche Gruppen erfolgt. Die Vorstellung von Integration bedeutet Angleichung an eine Norm, die den unterschiedlichen, vielfältigen Lebensweisen nicht gerecht wird. Um eine Gruppe zu integrieren, also einzugliedern, muss sie zunächst einmal isoliert und separiert werden. Dies schafft selbst die Ausgliederung, der entgegengewirkt werden soll. Und schließwww.claudia-wild.de: <?page no="202"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 202 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 203 203 Intellektuelle/ Intelligenz lich: Integration bedeutet nicht nur Angleichung an eine neue Gruppe. Sie kann diese Gruppe ebenfalls verändern. Literatur Diefenbach, Heike, 2010: Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem, Wiesbaden.-- Elwert, Georg, 1982: Probleme der Ausländerintegration; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34, 717-731.- - Esser, Hartmut, 2009: Pluralisierung oder Assimilation? in: Zeitschrift für Soziologie 38, 358-378.-- Ders. et al., 1979: Arbeitsmigration und Integration, Königstein.-- Geißler, Rainer, 2005: Interkulturelle Integration von Migranten; in: Ders.; Pöttker, Horst (Hg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland, Bielefeld, 45-70.- - Hoffmann, Lutz; Even, Herbert, 1984: Soziologie der Ausländerfeindlichkeit, Weinheim/ Basel.- - Lockwood, David, 1979: Soziale Integration und Systemintegration; in: Zapf, Wolfgang (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Königstein, 124- 137.-- Luhmann, Niklas, 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.-- Rauer, Valentin; Schmidtke, Oliver, 2001: ›Integration‹ als Exklusion? in: Berliner Journal für Soziologie 11, 277-296.- - Schimank, Uwe, 2005: Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft, Wiesbaden, insb. 255-275.-- Zwengel, Almut, 2011: Seinen Weg gehen; in: Neue Praxis 41, 144-156. Almut Zwengel Intellektuelle/ Intelligenz Im engeren Sinn bezeichnen die in soziologischer Hinsicht weitgehend synonymen Begriffe Intellektuelle und Intelligenz (engl. intellectuals, intelligentsia) eine Gruppe von Personen, die primär geistigkulturelle Güter produzieren, die im öffentlichen Leben als legitime symbolische Produzenten und -innen anerkannt werden und die sich als politisches Sprachrohr für unterprivilegierte Gruppen, Schichten und Klassen verstehen (vgl. den französischen Fall Ory/ Sirinelli). Charakteristisch für diesen Intellektuellentypus ist ein eigenes Ethos, das meist in einem akademischen Kanon legitimer kultureller Werke wurzelt und das sich dem Anspruch nach an einer allgemeinen Moral orientiert. Im weiteren Sinn schließt dies alle gesellschaftlichen Schichten ein, deren Lebensunterhalt auf nicht-manueller Arbeit basiert, d. h. insbesondere die liberalen Professionen, akademisch-administrative Eliten sowie alle Arten geistiger Tätigkeit und kreativer kultureller Gestaltung. In diesem weiteren Zusammenhang spricht man bisweilen von Intelligentia, insbesondere um die aufklärerisch-rationale Wirkung einer gebildeten Bürgerschicht hervorzuheben, oder von Technokratie, die eine vorrangig naturwissenschaftlich orientierte und administrativ planende Elite bezeichnet (vgl. Ehrenreichs »professional-managerial class« oder auch Gouldners »New Class«). Das besondere Interesse der Forschung gilt der sozialstrukturellen Positionierung der Intellektuellen. Für Mannheim zeichnen sich die freischwebenden Intellektuellen durch ihre Unabhängigkeit von ökonomisch basierten Klasseninteressen aus, was sie als systemkritische Schicht par excellence prädestiniert. Andere Theoretiker dagegen verstehen die Intellektuellen als eine Klasse, die auf spezifische Weise an der Herstellung sozialer Ungleichheit mitwirkt (vgl. Bourdieu und Ringer). Eine Frage, die die Soziologie der Intellektuellen von Anfang an beschäftigt hat, ist die Stellung der Intellektuellen gegenüber der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie. So wurde insbesondere von den der Arbeiterbewegung nahestehenden Intellektuellen gefragt, ob intellektuelle Führer und -innen das Klasseninteresse der Arbeiter authentisch vertreten können. So betrachtet Gramsci die organischen Intellektuellen als Produzenten, die durch ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Aufgaben mit ihrer Klasse verflochten sind und sich an der Artikulation einer politischkulturellen Hegemonie beteiligen. Bei Bourdieu hingegen, der die Intellektuellen als dominierte Fraktion der herrschenden Klasse bezeichnet, sind die Intellektuellen symbolische Produzenten und -innen, die einer autonomen Logik symbolischer Produktion gehorchen und kulturell-symbolische Dominanz über das Kleinbürgertum und die Arbeiterschichten ausüben. Seit Bourdieus Intellektuellensoziologie interessiert sich die Forschung insbesondere für die langfristigen Prozesse der Ausbildung der intellektuellen Habitus symbolischer Produzenten und -innen und für die Mechanismen symbolischer Distinktion. Literatur Bourdieu, Pierre, 1992: Homo academicus, Frankfurt a. M.-- Debray, Régis, 1979: Le Pouvoir intellectuel en France, Paris.-- Ehrenreich, Barbara; Ehrenreich, John, 1979: The Professional-Managerial Class; in: Walker, Pat (Hg.): Between <?page no="203"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 204 204 Interdisziplinarität Labor and Capital, Montreal, 5-45.- - Gouldner, Alvin W., 1979: The Future of Intellectuals and the Rise of the New Class, New York.- - Hamon, Hervé; Rotman, Patrick, 1981: Les Intellocrates: Expédition en haute intelligentsia, Paris.-- Mannheim, Karl, 1985: Ideologie und Utopie, 7. Aufl., Frankfurt a. M.-- Ringer, Fritz, 1969: The Decline of the German Mandarins, Cambridge, MA.- - Robbins, Bruce (Hg.), 1990: Intellectuals: Aesthetics, Politics, Academics, Minneapolis.-- Ory, Pascal; Sirinelli, Jean-François, 1992: Les Intellectuels en France, de l’affaire Dreyfus à nos jours, Paris. Johannes Angermüller Interdisziplinarität Begriffsdefinition Interdisziplinarität (engl. interdisciplinarity) ist ein Begriff aus der Wissenschaftsforschung, der eine epistemische Eigenschaft von Forschungsprozessen beschreibt. Forschungsprozesse sind interdisziplinär, wenn sie Wissensbestände aus verschiedenen Spezialgebieten integrieren. Der Begriff ist also insofern etwas irreführend, als er sich nicht auf die Integration oder Interaktion ganzer wissenschaftlicher Disziplinen bezieht, sondern auf die Integration von Wissen aus kleineren Spezialgebieten. Spezialgebiete sind im Zuge der immer weiter voranschreitenden Binnendifferenzierung des Wissenschaftssystems zur sozialen Organisationsform der modernen Forschung geworden, während Disziplinen als die dominierende soziale Organisationsform der Lehre verbleiben. Wissenschaftliche Spezialgebiete sind Fachgemeinschaften von Wissenschaftlern, die einen gemeinsamen Wissensbestand bearbeiten und durch ein geteiltes Set an Forschungsproblemen, -methoden oder -objekten charakterisiert sind. Die stets weiter voranschreitende Spezialisierung der Forschung erfordert immer häufiger, dass Wissenschaftler auf Wissen aus anderen Spezialgebieten zurückgreifen müssen. Eine verbreitete Form von Interdisziplinarität besteht darin, dass Wissenschafter für die Lösung ihres Forschungsproblems Methoden aus anderen Gebieten anwenden. Solche interdisziplinären Forschungsprozesse können durch einzelne Wissenschaftler realisiert werden, wenn diese das dafür erforderliche Wissen aus anderen Gebieten erwerben. Viel häufiger sind aber interdisziplinäre Kooperationen, in denen Wissenschaftler aus verschiedenen Spezialgebieten ihr Wissen kombinieren. Die Interdisziplinarität von Forschungsprozessen ist eine kontinuierliche Variable: Forschungsprozesse können mehr oder weniger interdisziplinär sein. Ein hoher Grad an Interdisziplinarität liegt vor, wenn Wissen aus mehreren unterschiedlichen Spezialgebieten oder aus epistemisch sehr unterschiedlichen Gebieten (z. B. aus einem naturwissenschaftlichen und einem sozialwissenschaftlichen Gebiet) integriert wird. Abgrenzung zu benachbarten Begriffen Die beiden am häufigsten verwendeten benachbarten Begriffe in diesem Kontext sind Multidisziplinarität und Transdisziplinarität. Transdisziplinarität beschreibt interdisziplinäre Prozesse, die neben verschiedenen wissenschaftlichen Spezialgebieten auch außerwissenschaftliche Anwendungskontexte einbeziehen. Der Begriff Multidisziplinarität charakterisiert nicht Forschungsprozesse, sondern die Bearbeitung eines gemeinsamen Gegenstandes (eines geteilten Sets von Problemen oder empirischen Objekten) mit den jeweils spezifischen Forschungsansätzen verschiedener Spezialgebiete, ohne dass eine Integration des Wissens in einzelnen Forschungsprozessen erfolgt. Messung von Interdisziplinarität Die Messung von Interdisziplinarität ist problematisch, weil sich Spezialgebiete nicht scharf voneinander abgrenzen lassen. Sie wird bislang von sehr groben Verfahren dominiert, die. z. B. die Fachgebietsklassifikationen von Zeitschriften-Datenbanken zugrunde legen. In der Bibliometrie gibt es in jüngster Zeit verstärkt Bemühungen, validere Methoden zu entwickeln. Literatur Robert Frodeman (ed.), 2010: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, Oxford.- - Huutoniemi, Katri et al., 2010: Analyzing interdisciplinarity: Typology and indicators; In: Research Policy 39, 79-88. Grit Laudel <?page no="204"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 204 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 205 205 Interesse Interesse Generell ist der Begriff ›Interesse‹ (engl. interest) ein Produkt moderner Gesellschaften, wodurch unbeständige (launenhafte) Leidenschaften von Menschen kanalisiert und berechenbar werden. Er bezeichnet die Aufmerksamkeit, die eine Person einer anderen Person oder einer Sache gegenüber erbringt. Interesse stellt ergo eine zielgerichtete Verbindung zwischen einem Subjekt und einem Objekt her (lat.: inter: ›zwischen, inmitten‹ und esse: ›sein‹). Historisch gesehen erhielt der Begriff erstmals durch das Werk »The Wealth of Nations« (1776) gesellschaftstheoretische Bedeutung. Smith hob die Bedeutung von individuellem Interesse für die Entwicklung der Gesellschaft hervor: Die auf Eigeninteresse basierte individuelle wirtschaftliche Entscheidung führt zur Erhöhung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt. Aus der Sicht heutiger soziologischer Theoriekonstruktion gesehen, würden wir formulieren, dass Smith eine mikrotheoretische Fundierung makrosozialer Zusammenhänge vornahm, ohne dies jedoch explizit so zu verstehen. Individuelle Interessen und die daraus entstehenden Handlungen münden in eine optimale Integration wirtschaftlicher Handlungen zum Wohle der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Eigeninteresse und die darauf aufbauenden Handlungen werden zu Triebfaktoren für gesellschaftlichen Wohlstand. In den 1960er und 1970er Jahren wurde extrem zwischen kollektiven und individuellen Interessen unterschieden. Beide Arten fußen auf dem Gedanken der zweckgerichteten Einflussnahme auf ein Objekt oder Subjekt. ›Kollektives Interesse‹ basiert auf gemeinsam geteilten Vorstellungen und Werten. Bspw. können Schichten und Klassen, allg. Gruppen, ein Handlungsziel haben. Markant formuliert wurde diese Position in der deutschen Verwendung und Interpretation des Klassenbegriffes von Marx. Angehörige der Arbeiterklasse haben ein kollektives Interesse am Umsturz der herrschenden Verhältnisse. Als ›individuelles Interesse‹ wird eine motivationale Fixierung auf ein Objekt bezeichnet, die in eine nutzenmaximierende Handlung umgesetzt wird. In der Ökonomie wird die nutzenmaximierende Handlung in einem Streben nach materiellen Gütern gesehen, in der Soziologie hingegen wird der Begriff weiter gefasst: Er subsummiert auch das Streben nach Ehre, Status und Anerkennung. In der neuen soziologischen Theoriebildung wird der Begriff vor allem durch Coleman weiterentwickelt und auf interessengeleitetes Handeln kollektiver Akteure übertragen. Kollektive Akteure, verstanden als juristische Personen, gelten als wesentliche Bestandteile einer modernen Sozialstruktur. Sie handeln fast ausschließlich rational, d. h. der zu maximierende Nutzen gilt als Eigenschaft des kollektiven Akteurs. So kann beispielsweise das Interesse von Akteuren darin bestehen, möglichst immer die Interessen der Eigner des Akteurs durchzusetzen (z. B. den Gewinn zu maximieren), was vorwiegend in Aktiengesellschaften geschieht. Oder aber das Interesse einer Organisation kann darin bestehen, auf möglichst effiziente Weise Wissen zu produzieren, um dadurch eine hohe gesellschaftliche Reputation als kollektiver Akteur zu erlangen (Universitäten). Die interessengeleiteten Handlungen zwischen kollektiven Akteuren und natürlichen Personen können - wie es Coleman selbst kritisch formuliert (1986,1995) - durch starke Ungleichgewichte geprägt sein, denn die Kontrolle über Ressourcen ist häufig zugunsten der kollektiven Akteure verteilt (Asymmetrische Gesellschaft). Die sich entwickelnde und kanonisierende handlungstheoretisch begründete Theoriebildung der letzten Jahre nahm den Begriff des Interesses als einen Grundbaustein in die Theoriebildung auf. Die auf den Arbeiten von Lindenberg, Kahneman, Tversky formulierte Theorie, jüngst weiterentwickelt durch Esser, Stocké u. a., fundierte mikrosoziale Handlungen auf individuellen Interessen, die zur Herstellung sozialer Produktionsfunktionen notwendig sind. Als soziale Produktionsfunktion wird ganz allgemein die Sicherung der Ressourcen, Güter, Ereignisse und Leistungen zur Gestaltung des Alltages von Menschen verstanden, sie handeln ergo unter der Prämisse der Suche nach Anerkennung und der Vermeidung von Pein. Speziell handeln sie danach, um die in ihrem sozialen Umfeld als wertvoll erachteten Güter auch bekommen zu können (primäre Zwischengüter). Und Menschen müssen unter restriktiven Bedingungen (Ressourcenausstattung) handeln (indirekte Zwischengüter). Menschen haben daher zufolge vor allem Interesse an Ressourcen, über die sie verfügen können (Kontrolle) und die daher zu einer Steigerung ihres Wohlbefindens (Soziale Produktionsfunktion) beitragen. Insgesamt ist der Begriff Interesse in der <?page no="205"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 206 206 Interesse modernen Handlungstheorie zu einem grundlegenden Baustein geworden, der zielgerichtetes Handeln erklärt. Literatur Baumert, Jürgen et al., 2009: Bildungsentscheidungen. Wiesbaden.- - Coleman, James, S., 1995: Grundlagen der Sozialtheorie, 2 Bd.e, München.- - Esser, Hartmut, 1999/ 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 1, Situationslogik und Handeln/ Bd. 3: Soziales Handeln, Frankfurt a. M.-- Hirschman, Albert O., 1987: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a. M.- - Smith, Adam, 1776: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London.- - Stocké, Volker, 2002: Framing und Rationalität, München. Wolfgang Lauterbach <?page no="206"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 206 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 207 207 Jugendsoziologie J Jugendsoziologie Warum ist »Jugendsoziologie« als eigene Bindestrich-Soziologie notwendig? Jugendsoziologie (engl. youth sociology) befasst sich allgemein mit der gesellschaftlichen Bedingtheit der Lebensphase Jugend, also mit ungleichen und geschlechterbezogenen Lebensbedingungen Jugendlicher. Sie analysiert typische Verhaltensweisen und soziale Praktiken, auch mit Blick auf jugendkulturelle Formen, in denen »Jugendliche selbst zur Entstehung und Entwicklung von Jugend als abgrenzbare Lebensphase beitragen« (Scherr 2006: 88). Sie analysiert Jugend makro- und mikrotheoretisch als historisch-gesellschaftliche Erscheinung, die gesellschaftlich und pädagogisch gedeutet und sozial konstruiert wird (Griese/ Mansel 2003) und fragt, wie sich die Bedingungen für Jugendliche durch sozialen Wandel verändern, wie Jugendliche darauf reagieren, wie das auf die Gesellschaft zurückwirkt und was sich zur künftigen Lage Jugendlicher sagen lässt. Als eigenständige Bindestrich-Soziologie hat sie sich spät institutionalisiert. Die DGS-Sektion »Jugendsoziologie« entstand erst 1998 aus der ursprünglich gemeinsamen Sektion Jugend- und Familiensoziologie. Inwieweit es der Jugendsoziologie bedarf, wurde wiederholt kontrovers diskutiert. Die massiven Kritiken Anfang der 1970er-Jahre waren von den Fehlprognosen der Studien vor den »68er«-Protesten geprägt und drückten massive Zweifel an der theoretischen und methodischen Kompetenz aus. Neidhardt (1972) monierte deskriptives Arbeiten mit Ad-hoc-Erklärungen, Griese (1980) ein Nebeneinander von Theorie und Empirie, die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Perspektive und wenig Praxisorientierung. Gefordert wurden Längsschnittstudien, Fallstudien mit anschließenden Überblicksuntersuchungen, alternative theoretische Ansätze und Berücksichtigung der soziologischen Theorie (Rosenmayr 1971). Das Methodenproblem besteht so nicht mehr, es erfolgen qualitative und quantitative Forschungen, aber wenig Längsschnittuntersuchungen. Der Vorwurf von Ad-hoc-Theorien trifft insoweit, als der Methodendualismus die Verbindung aus Theorieproduktion und Hypothesenprüfung immer noch erschwert. Notwendig ist der vermehrte Einbezug soziologischer Theorien, speziell zur sozialen Ungleichheit (Mertens 2011; Scherr 2003). Gefordert wird mehr Relevanz der Forschung für die Praxis bzw. Probleme Jugendlicher (Fischer 1999). Die aktuelle Frage bezieht sich darauf, ob Jugendsoziologie in einer allgemeinen Jugendforschung aufgehen soll. Jugendsoziologinnen und -soziologen teilen den Gegenstand mit Vertreterinnen und Vertretern aus Pädagogik, (Entwicklungs-)Psychologie oder Kriminologie. In thematischen Teilfeldern werden Ergebnisse und Ansätze anderer Disziplinen mit einbezogen, wie die Jugendgewaltforschung (Holtappels et al. 1997; Scheithauer et al. 2008) belegt. Fragestellungen und Ergebnisse überschneiden sich, (fach-)spezifische Designs und Methoden sind durch den gemeinsamen Gegenstand schwierig. Das spricht für allgemeine Jugendforschung. Andererseits ermöglicht der disziplinspezifische Blick, Jugend aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Jugendsoziologie unterstützt und ist Voraussetzung: Die Analyse der Entwicklungsaufgaben erfordert zuvor eine strukturell umfassende Gesellschaftsanalyse (Scherr 2006). Jugendsoziologisches Wissen hat gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung, gerade wenn Jugendliche als Folge gesellschaftlicher Veränderungen unerwartetes Verhalten zeigen. Dies spricht für die Bindestrich-Soziologie Jugendsoziologie, die rückgebunden ist an die Gesellschaftstheorie (Abels 2000). Entstehung und Entwicklung der-Jugendsoziologie Soziologie als moderne Wissenschaft entstand, um Gesellschaften der Moderne bzw. im Prozess der Modernisierung zu analysieren. Jugend in unserem Verständnis ist ein typisches Produkt der Moderne und damit Gegenstand für die Soziologie. Eine Jugendphase als universelle und relativ eigenständige Lebensphase konnte sich so nur unter den Rahmenbedingungen einer fortschreitenden Modernisierung entwickeln. Es dauerte aber bis in die 1950er-Jahre, bis in Abgrenzung zur pädagogischen und entwicklungspsychologischen Jugendforschung eine systematische soziologische Analyse von Jugend(lichen) einsetzte. Schelsky (1957: 11; 13) führt dies sowohl auf die Entwicklung der empirischen Sozialforwww.claudia-wild.de: <?page no="207"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 208 208 Jugendsoziologie schung als auch auf den Übergang zur »jüngeren Soziologie« zurück, die von der Strukturanalyse sozialer Gebilde zur Analyse des Verhaltens innerhalb der Gebilde überging. Dadurch wurde Jugend kein rein individuelles Phänomen mehr. Allerdings dauerte es bis in die 1970er-Jahre, bis Jugendkohorten in Gänze und nicht nur in sozialstrukturellen Ausschnitten umfassend untersucht wurden. Bis in die 1920er-Jahre war die psychologische Jugendforschung (z. B. Bühler, Lazarsfeld) bestimmend. Für die Entwicklung der Jugendsoziologie war sie insofern wichtig, als der Soziologie die statistischen Analysen zugedacht wurden und der soziale Kontext Jugendlicher zum relevanten Faktor wurde (Rosenmayr 1969). Die Soziologie in Deutschland befasste sich allerdings wenig mit Jugend. Nennenswert ist im Wesentlichen das Konzept des einheitlichen Generationszusammenhangs von Mannheim, der die Bedeutung der »gesellschaftlich formierenden Kräfte« (1928: 328) aufzeigte. In der Nachkriegszeit arbeitete Schelsky (1957) für das 20. Jh. drei Generationseinheiten heraus, zuletzt die »skeptische Generation«. Rosenmayr (1971) hielt den Generationenbegriff nach 1950 für unangemessen, da inzwischen sozialstrukturelle Unterschiede relevanter geworden seien. Spätestens mit den 1980er-Jahren war keine typische Generationsgestalt mehr feststellbar (Fend 1988), und der Generationenbegriff wurde endgültig »zum pauschalisierenden Schlagwort« (Dudek 1989: 11): Generation X, Y, 89, Golf, Praktikum. Durch das Verschwinden der Generationsgestalten und die gesellschaftliche Anerkennung von Jugend als Lebensphase verloren auch Analysen des Generationskonflikts an Bedeutung. Die Heterogenität der Haltungen unter Jugendlicher ist relativ groß, die Werte- und Einstellungsdifferenz zwischen Jugendlichen und Erwachsenen in der Gegenwart relativ gering (Roth/ Rucht 2000). Die neue Konfliktlinie ist durch den demographischen Wandel eher ökonomisch und sozialpolitisch bestimmt (Nullmeier 2003). Eine weitere inhaltliche Linie der Jugendsoziologie war abweichendes Verhalten. Vertreter der Chicago-School führten ab Mitte der 1920er Jahre ethnographische Studien unter Heranwachsenden und Jungerwachsenen durch. Dabei ging es um Beschreibung und Hintergründe der Delinquenz in Zuwanderervierteln. Das Thema abweichendes Verhalten zog sich weiter durch die Jugendsoziologie. Als Folge des sozialen Aufbruchs Jugendlicher in den 1960er- Jahren und der Verunsicherung der Erwachsenengesellschaft widmete sich die Forschung ab den 1970er- Jahren verstärkt jugendlichem Problemverhalten. Ab den 1990er-Jahren gewann dies an Bedeutung, da der öffentlich-politische Diskurs die scheinbar steigende Gewalt(kriminalität) diverser Gruppen junger Menschen zum Gegenstand machte. Jugendgewalt wurde damit bis heute zum Forschungsthema. Mit den 1990er-Jahren wurden auch Jugendliche mit Migrationshintergrund vermehrt Forschungsgegenstand, sowohl mit Blick auf die Devianz als auch auf die Möglichkeiten, Probleme und Grenzen der gesellschaftlichen Integration. Bei der theoretischen Analyse dominierten bis Mitte der 1960er-Jahre strukturfunktionalistische Konzepte. Angenommen wurde, Jugend lebe innerhalb der normativen Vorgaben der Gesellschaft und wachse eher harmonisch in sie hinein, wobei Peergroups den Übergang in das Sozialsystem erleichtern (Eisenstadt 1956). Parsons (1968 [1959]) sieht die Jugendkultur kritisch, da ihr »Anti-Intellektualismus« gegen den notwendigen schulischen Selektionsprozess gerichtet sei; andererseits übe sie auch die Übernahme von Verantwortung. Der gesellschaftliche Wandel ab Ende der 1960er-Jahre ließ diese Betrachtung obsolet werden, eine ungleichheitsbezogene, neomarxistische Analyse dominierte vorübergehend. (Problem-)Verhalten von Jugendlichen wurde auf benachteiligende materielle Umweltbedingungen zurückgeführt. Gesellschaftliche Veränderungen führten zu neuen Fragestellungen: War die frühe Forschung makrosozial, wurde sie ab den 1980ern durch neue Sozialisationskonzepte und individualisierungstheoretische Überlegungen eher mikrosozial. Die Analyse von Jugendsubbzw.-teilkulturen wurde ein Schwerpunkt. In den 1990ern traten individualisierungsbzw. desintegrationstheoretische Konzepte (Heitmeyer et al. 1995) in den Vordergrund. Gegenwärtig könnte der demographische Wandel mit seinen Auswirkungen auf Bildung, Ausbildung, Arbeit wieder zu einer stärker makrosozialen Betrachtung führen (Mansel/ Hoffmann 2010: 169; s. a. Groenemeyer/ Hoffmann 2013). Jugendsoziologie: Mitkonstrukteur von Jugend Jugendsoziologie hat ein grundsätzliches Problem, ihren Gegenstand zu erfassen, denn es gibt nicht »die« Jugend als homogene Sozialgruppe, sondern verschiedene Jugenden (Schäfers/ Scherr 2005: 23). <?page no="208"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 208 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 209 209 Jugendsoziologie Bereits die Abgrenzung von Jugend wird schwierig, da es keine festen normativen Bezugspunkte für ein Ende der Jugendphase gibt und dies eher Gegenstand individueller Entscheidungen ist (Mansel/ Hoffmann 2010: 170). Daher fordert Scherr (2003: 50) eine »reflexive Wendung in der Jugendsoziologie« durch den Verzicht auf eine allgemeine Jugenddefinition. Das Interesse »der« Erwachsenengesellschaft an »ihrer« Jugend war nie losgelöst von Befürchtungen und Hoffnungen. Die steigende Selbstständigkeit Jugendlicher weckte Ängste vor einer scheinbar unkontrollierbaren Jugend. Jugendforschung bzw. Jugendsoziologie dien(t)en damit auch der Selbstvergewisserung der Gesellschaft über den Zustand »ihrer« Jugend. Dabei kann die Jugendsoziologie ihren Gegenstand nicht unabhängig von den Fragestellungen ihrer Zeit sehen. (Auch) sie trägt dazu bei, ihren Gegenstand mit zu konstituieren. Aus den großen quantitativen Studien nach 1945 wurden Generationsgestalten abgeleitet, die den (jugend-)soziologischen Blick auf die Jugend(en) widerspiegeln (Abels 2000). Problematisch (mehr für die Jugendsoziologie) kann dies werden, wenn die Ergebnisse an der Wirklichkeit Jugendlicher vorbeigehen, wie die Studie von Blücher (1966) zur »Generation der Unbefangenen« zeigt. Problematisch für Jugendliche kann dagegen sein, wenn Ergebnisse schlagwortartig gefasst werden und als Etikettierung in den öffentlich-politischen Diskurs eingehen. Ein Beispiel ist die »no-future«-Generation (Fischer et al. 1982). Werden (gerade negative) Typisierungen diskursiv verbreitet, müssen sich Jugendlichen damit auseinandersetzen. Machen sie die Typisierung zum Teil ihres Selbstbildes, könnte die Jugendsoziologie sich selbst bestätigende Prophezeiungen erzeugen. Jugendkulturforschung: differenzierte Erfassung oder soziale Konstruktionen? Jugendsoziologie versucht auch, Jugend(liche) in ihrer kulturellen und sozialen Differenziertheit zu erfassen. Jugendkulturen gelten als Ausdruck der relativen Eigenständigkeit Jugendlicher. Jugend auf kulturelle Stile zu reduzieren, könnte aber zu einer »Entsoziologisierung der Jugendforschung« (Scherr 2003: 62) führen, wenn strukturelle Bedingungen wie Bildungs- und Herkunftsungleichheit nicht mehr angemessen berücksichtigt würden. Es fällt auf, dass die von der Forschung erfassten oder als solche herausgestellten Jugend(teil)kulturen zumeist nur einen (sehr) kleinen Teil der jungen Menschen ihrer Zeit umfassen. Bis in die 1970er- Jahre bleibt die Zahl der (zumeist proletarischen) Jugendkulturen überschaubar: Halbstarke, Teddys, Mods, Rocker, Skins, Punks. Erst mit den 1980ern ändert sich auch durch die Individualisierungs- und Pluralisierungsdebatte der Blick: Jugend wird vielgestaltiger und als immer vielgestaltiger beschrieben. Die Zahl der Stiltypen oder Jugend(teil)kulturen nimmt seitdem so stark zu, dass Ferchhoff (2011: 193) für die 2000er-Jahre eine »kaum mehr überschaubare Pluralität und Zersplitterung« feststellt. Es ist kritisch zu fragen, inwieweit diese Vielfalt dem realen Verhalten Jugendlicher, den Vorstellungen von Forscherinnen und Forschern oder dem Einfluss medial-politischer Diskussionen entspricht (Griese 2000). Der Wandel im Blick auf junge Menschen schlägt sich auch in den theoretischen Konzepten nieder: der analytisch unscharfe Subkultur-Begriff der 1970er-Jahre wird in den 1980ern durch die Jugend(teil)kultur und schließlich in den 2000er- Jahren durch die Jugendszene ersetzt bzw. ergänzt (Ferchhoff/ Neubauer 1996; Hitzler et al. 2001). Durch den demographischen Wandel kommt aktuell die Frage nach islamischen Jugendkulturen auf. Jugend(teil)kulturen wurden mit der Zeit immer weniger als bedrohlich und immer mehr als Teil gesellschaftlicher Normalität wahrgenommen. Wie die Forschung zeigte, bieten Jugendkulturen den Jugendlichen aufgrund der Kommerzialisierung und der zunehmenden Altersindifferenz des Verhaltens inhaltlich wie zeitlich nur noch begrenzte Möglichkeiten, sich kulturell abzusetzen. Wenn neue Jugendkulturen wirklich ausbleiben, kann das bedeuten, dass damit auch keine neuen Impulse in Richtung Vielfalt und Kreativität mehr erfolgen (Rink 2002). Die Zentrierung auf Devianz: Jugend =-Protest, Gewalt, Kriminalität, Drogen Ein Thema und ein Problem (nicht nur) für die Jugendsoziologie war und ist die im gesellschaftlichen Diskurs bestehende Koppelung von Jugend und Devianz, nach der abweichendes Verhalten Jugendlicher eine Bedrohung für die (Erwachsenen-)Gesellschaft bildet. Durch die Modernisierung entstanden für junge Menschen mehr Verhaltensspielräume (für die <?page no="209"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 210 210 Jugendsoziologie (Frei-)Zeitgestaltung, die politische Beteiligung, Sexualität), die sie vermehrt nach ihren Vorstellungen nutzen konnten. Zusammen mit dem relativen Kompetenzverlust Erwachsener veränderte dies gesellschaftliche Kontrollmöglichkeiten. Das »Abweichende« bei Jugendlichen manifestierte sich für Erwachsene vor allem in Kleidungs-, Musik- und Habitusformen. Zum Problemverhalten gehörten Drogenumgang, Gewalt, politischer Protest. Seit den »Halbstarkenkrawallen« der 1950er-Jahre wurden Protest- und Gewaltaktionen Jugendlicher skandalisiert, diskreditiert und zur Legitimation von Gegengewalt herangezogen (Neidhardt 1989). Die »Gewaltfrage« wurde spätestens seit dem »deutschen Herbst« 1978 zur »Jugendfrage« (Brandt 1986). Spektakuläre, brutale Einzelaktivitäten wie Amokläufe an Schulen bestätigen scheinbar das stereotype Wahrnehmungsmuster, wonach von Jugendlichen (immer mehr) Gefahr ausgeht, bis in die Gegenwart. Diese Sichtweise verhinderte für lange Zeit, dass die z.T. auch devianten Reaktionen junger Menschen auf gesellschaftliche Ereignisse und ihre soziale Situation auch als Ausdruck einer sozialen Notlage gesehen werden konnten (Fend 1988). Die Jugendsoziologie musste auf diese (auch für sie zunächst überraschende) Verhaltensänderung Jugendlicher ab Ende der 1960er-Jahre und den gesellschaftlichen Diskurs mit vermehrter Forschung reagieren. Abweichendes Verhalten wurde damit in den 1970ern zu einer bis heute andauernden Forschungslinie, die sich dann Anfang der 1990er-Jahre auf Jugendgewalt konzentrierte aufgrund des gesellschaftlichen Diskurses über »amerikanische Verhältnisse« an Schulen und die scheinbar unaufhaltsam steigende Gewaltkriminalität Jugendlicher. Kriminalität und Drogenumgang Jugendlicher wurde in den 1970ern Forschungsthema, in den 1980ern erweitert um Forschung zu Jugendlichen in Neuen Sozialen Bewegungen, ab den 1990ern Forschung zu Jugendgewalt in diversen Kontexten und Gewaltkriminalität Jugendlicher. Die Analysen verlagerten sich dabei von eher individuenbezogenen wieder stärker hin zu sozialstrukturellen und sozialökologischen Betrachtungen. Durch den Einbezug sozial- und ungleichheitsstruktureller Hintergründe kann die Jugendsoziologie auch einer »Individualisierung« von Problemlagen entgegenwirken. Desiderata für eine jugendsoziologische Forschung Ein jugendsoziologisch noch zu wenig bearbeitetes Feld ist der Körper in seiner Bedeutung, Bearbeitung und Verwendung durch Jugendliche. Das geht auf die »Sinnvergessenheit der Soziologie« mit der Folge einer »übersozialisierten Konzeption von Jugend« (Hübner-Funk 2003: 70) zurück. Hier böten sich auch Kooperationen mit der Geschlechter- und Gesundheitssoziologie an. Ähnlich sollte auch der Raumbezug des Verhaltens Jugendlicher (sowohl alleine als auch in der Peergroup) stärker als bisher berücksichtigt werden. Das bezieht sich sowohl auf die soziale Bildung von (Jugend-)Räumen als auch auf die Frage, wie sich die gesellschaftliche (Um-) Gestaltung von öffentlichen und privat-öffentlichen Räumen auf Jugendliche und ihr Verhalten auswirkt. Weiter sollte die Jugendsoziologie für ihre Analysen mehr als bisher Theorien sozialer Ungleichheit berücksichtigen (Scherr 2003). Allerdings bewirkt sozialer Wandel »Strukturen begrenzter Reichweite«, die raumzeitlich nur begrenzt gültig sind (Kelle 2007: 57). Das kann für die Analyse neue Theorien notwendig machen. Diese sind aber weniger durch das Nebeneinander von qualitativer und quantitativer Forschung, sondern durch die Verwendung integrierter Forschungsdesigns zu erreichen (2007: 282 ff.). Darüber hinaus befasst sich Jugendsoziologie mit Erscheinungen, die - wie Jugendkulturen oder die Bedeutung von Ausbildung und Arbeit(slosigkeit) für Jugendliche - gesellschaftsübergreifend sind. Um diese transnationalen Erscheinungen zu analysieren, muss neben der nationalgesellschaftlichen auch die transnationale Ebene stärker berücksichtigt werden. Literatur Abels, Heinz, 2000: Die »Jugend« der Soziologie; in: Sander, Uwe; Vollbrecht; Ralf (Hg.): Jugend im 20. Jahrhundert, Neuwied, 75-100.-- Blücher, Viggo Graf von, 1966: Die Generation der Unbefangenen, Düsseldorf.- - Brand, Karl- Werner et al., 1986: Aufbruch in eine andere Gesellschaft, Frankfurt a. M.-- Dudek, Peter, 1989: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890-1933, Wiesbaden.-- Eisenstadt, Shmuel N., 1956: From Generation to Generation, New Brunswick, NJ.- - Fend, Helmut, 1988: Sozialgeschichte des Aufwachsens, Frankfurt a. M.- - Ferchhoff, Wilfried, 2011: Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrwww.claudia-wild.de: <?page no="210"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 210 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 211 211 Jugendsoziologie hundert, 2., aktual. u. überarb. Aufl., Wiesbaden.- - Ders.; Neubauer, Georg, 1996: Jugendkulturelle Stile und Moden zwischen Selbstinszenierung, Stilzwang und (Konsum-) Vereinnahmung; in: Mansel, Jürgen; Klocke, Andreas (Hg.): Zwischen Stigma, Wirklichkeit, Selbstanspruch und Ideal, Weinheim, 32-52.- - Fischer, Arthur, 1999: Sozialwissenschaft und Jugendforschung; in: Timmermann, Heiner; Wessela, Eva (Hg.): Jugendforschung in Deutschland, Opladen, 11-24.-- Ders., 1982: Jugend ’81, Hamburg.-- Griese, Hartmut, 1980: Entwicklung und Stand sozialwissenschaftlicher Jugendforschung; in: deutsche jugend 9, 391-401.- - Ders., 2000: »Jugend(sub)kulturen«: Facetten, Probleme und Diskurse; in: Roth, Roland; Rucht, Dieter (Hg.): Jugendkulturen, Politik und Protest, Opladen, 37- 48.- - Ders.; Mansel, Jürgen (2003): Jugendtheoretische Diskurse; in: Mansel, Jürgen et al. 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Jens Luedtke <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 212 212 Kapital K Kapital Kapital (engl. capital) ist ein zentraler und klassischer Grundbegriff der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften. Im volkswirtschaftlichen Denkansatz werden mit Kapital produzierte Produktionsmittel bezeichnet, welche neben den ursprünglichen Produktionsmitteln Arbeit und Boden anzuführen sind und welche Mittel darstellen zur effizienten Allokation dieser ursprünglichen Produktionsmittel. In betriebswirtschaftlicher Betrachtungsweise ist unter Kapital der in der Unternehmensbilanz ausgewiesene Wert des Gesamtvermögens zu verstehen. Dabei wird zusätzlich in Eigenkapital und Fremdkapital unterschieden. Im Unterschied zu der klassischen volkswirtschaftlichen Definition - Kapital als Produktionsfaktor - wird Kapital in der modernen Betriebswirtschaftslehre nicht pauschal als einheitlicher Produktionsfaktor betrachtet. Hier wird vielmehr unterschieden in Erscheinungsformen wie Betriebsmittel, Grund und Boden, diverse Werkstoffe etc. Mit Bezug auf das Kapital wurden im Verlauf der sich hierzu entwickelnden Theoriegeschichte unterschiedliche Schwerpunkte gelegt und Bedeutungen abgeleitet. Insbesondere bei Karl Marx ist dieser Sachverhalt so zentral, dass er sein Hauptwerk mit diesem Begriff benannt hat. Für Marx ist Kapital Eigentum, welches die Lohnarbeit ausbeutet. Im Sinne der marxistischen Theorie ergibt sich in Gesellschaften mit Privateigentum an Produktionsmitteln eine Polarisierung zwischen den Eignern an Produktionsmitteln und den anderen, die keine Produktionsmittel besitzen und die somit gezwungen sind, ihre Arbeitskraft anzubieten. Insofern wird unterschieden in kapitalistische Gesellschaften (mit privatem Unternehmertum und privatem Besitz an Produktionsmitteln) und sozialistische Gesellschaften (mit kollektivem Eigentum an Produktionsmitteln), in denen per definitionem keine Polarisierung innerhalb der Gesellschaft auftreten könne. Aus der Sicht des Konsumenten betrachtet, bedeutet Kapitalbildung Verzicht auf Gegenwartskonsum und Hoffnung auf entsprechend höheren Zukunftskonsum. In diesem Sinn bedeutet Konsumverzicht in der Gegenwart = Kapitalbildung des Konsumenten = Verhalten entsprechend dem Muster der »aufgeschobenen Belohnung«. Empirische Forschungen mit Bezug auf den Sozialisationsprozess weisen aus, dass es hier bedeutsame schichtspezifische Unterschiede gibt. Das Muster der aufgeschobenen Belohnung scheint insbesondere in Mittelschichtlagen internalisiert und praktiziert zu werden. In sozialwissenschaftlicher Hinsicht erscheint eine Weiterentwicklung des Kapitalkonzepts bedeutsam, bei der die Perspektive Kapital = Geldmittel ausgeweitet wird und gleichfalls Fähigkeiten, Fertigkeiten und ein Bestand an Bildung im Kapitalbegriff subsumiert werden. Die Kennzeichnung »human capital« aus der anglo-amerikanischen Literatur stellt den Schlüsselbegriff einer solchermaßen erweiterten Perspektive dar. In dieser Blickrichtung findet sich die Differenzierung in Humankapital und Sozialkapital (z. B. Coleman 1988). Während der Begriff Humankapital auf die individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Personen verweist, werden mit Sozialkapital Beziehungen angesprochen, über welche z. B. Akteure in einem Beziehungsnetzwerk verfügen. Im Übrigen differenziert Coleman zwischen physischem Kapital (z. B. Geld, aber auch Werkzeuge), Humankapital und Sozialkapital. Es handelt sich somit um Ressourcen unterschiedlicher Qualität. Das Sozialkapital kann als Kombinationsmöglichkeit der humanen Ressourcen verstanden werden. Im Sinne Bourdieus kann man die Struktur und das »Funktionieren« gesellschaftlicher Bezüge nur adäquat erfassen, wenn man den Begriff des Kapitals umfassend versteht, also nicht nur - und eingeschränkt - im Verständnis der Wirtschaftstheorie, sondern eben in allen seinen (auch darüber hinausgehenden) Erscheinungsformen. Nach Bourdieu tritt Kapital (und damit: Macht) in drei grundlegenden Formen in Erscheinung: als ökonomisches Kapital (direkt in Geld darstellbar); als kulturelles Kapital (etwa in der Form schulischer Abschlüsse und Bildungs-Titel); als soziales Kapital (illustriert in Form von »Beziehungen« - von Bourdieu insbesondere dargestellt anhand von Adelstiteln und dem damit gegebenen Beziehungsgeflecht), als ein Netz des wechselseitigen Kennens und Anerkennens, verstanden als ein Reservoir von Ressourcen, auf welche man im Bedarfsfalle zurückgreifen kann. Mit Blick auf die Ausstattung der Person mit allen drei Formen (und ihrer jeweiligen Mischung) stellt Bourwww.claudia-wild.de: <?page no="212"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 212 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 213 213 Kapital, soziales dieu fest, dass die verschiedenen Formen des Kapitals wechselseitig transformierbar sind. So diskutiert er die Umwandlung von ökonomischem in soziales Kapital bzw. in kulturelles Kapital. Die Möglichkeit der gegenseitigen Konvertibilität der verschiedenen Kapitalarten thematisiert er hinsichtlich von Strategien, welche die Reproduktion des Kapitals mit möglichst geringen Umwandlungskosten zum Ziel haben. Die entsprechende Dynamik findet nach Bourdieu im sozialen Raum statt, zu dessen Kennzeichnung und Operationalisierung er - in Erweiterung gängiger Klassen- und Schichtungstheorien - zur Verortung von Personen und Gruppen (primäre) Merkmale wie Beruf, Einkommen und (Aus-)Bildungsniveau berücksichtigt, ergänzt um (sekundäre) Merkmale wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit und Nationalität. Literatur Bourdieu, Pierre, 1968: The Forms of Capital; in: Richardson, John G. (ed.): Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education, Westport.- - Bourdieu, Pierre, 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital; in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen, 183-198.- - Coleman, James S., 1988: Social Capital in the Creation of Human Capital; in: American Journal of Sociology 94 (supplement), 95-120.- - Flieger, Wolfgang, 1999: Effekte von Arbeitsmarktstrukturen und -institutionen auf die Formation von Humankapital, Regensburg.-- Furger, Franz, 1992: Moral oder Kapital? , Zürich.-- Levermann, Wolfgang, 1989: Kommunismus und Kapital, Melsungen.-- Marx, Karl, 2000: Das Kapital, 3 Bde. (I: 1867, II: 1885, III: 1894), Berlin.-- Pfeiffer, Friedhelm, 1999: Der Faktor Humankapital in der Volkswirtschaft, Baden-Baden.-- Stewart, Thomas A., 1998: Der vierte Produktionsfaktor, München. Thomas Kutsch Kapital, soziales Soziales Kapital (engl. social capital) bezeichnet die in soziale Beziehungsnetze eingebetteten Ressourcen, die sich für individuelles oder kollektives Handeln nutzen lassen. Im Gegensatz zum ökonomischen und Humankapital befindet sich soziales Kapital als relationales Gut nicht im Besitz eines Akteurs, sondern wohnt den Beziehungen zwischen Akteuren inne und ist deshalb nicht fungibel. Individuen profitieren aufgrund der Informations- und Unterstützungsfunktion egozentrierter Netzwerke in vielfältiger Weise von ihren Beziehungen (vgl. Bourdieu; Coleman). Ihr soziales Kapital kann wiederum positive oder negative Auswirkungen auf individueller oder kollektiver Ebene haben. Beziehungsnetze jenseits des Familienverbandes verbinden unterschiedliche soziale Gruppen und fördern den sozialen Zusammenhalt; sie können aber auch andere Personen auf Grund ethnischer, religiöser oder kultureller Zugehörigkeiten ausschließen (vgl. Bourdieu; Putnam). Soziales Kapital wird sowohl als unabhängige als auch als intervenierende Variable begriffen und sein Einfluss auf Phänomene verschiedener Gesellschaftsebenen erforscht: auf der Mikro-Ebene z. B. auf den Erwerb von Humankapital, auf der Meso-Ebene z. B. auf die Leistung von Organisationen und vor allem auf der Makro-Ebene z. B. auf die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft. Nach verschiedenen Analysen gelingt es Gesellschaften, die mit viel sozialem Kapital ausgestattet sind, besser, Probleme des kollektiven Handelns zu überwinden, als solchen, die nicht oder nur begrenzt auf diese Ressource zurückgreifen können (vgl. z. B. Putnam 1993, 2001). Die Entstehung von sozialem Kapital wird u. a. durch kulturelle Traditionen, Organisations- und Netzwerkstrukturen sowie soziodemografische Merkmale erklärt. Als Indikatoren für soziales Kapital gelten sowohl generalisiertes Vertrauen, Normen der Reziprozität und Formen von Bürgersinn als auch freiwillige Mitgliedschaften in Organisationen wie Vereinen und Verbänden. Dabei werden verschiedene Maße der Netzwerkanalyse herangezogen, die von Dichte über Verbundenheit bis Zentralität reichen. Zu bemängeln ist allerdings, dass in der Forschung (1) meist nicht zwischen Determinanten und Konsequenzen von sozialem Kapital unterschieden wird; (2) die Summe individuellen sozialen Kapitals mit kollektivem sozialen Kapital gleichgesetzt wird; (3) negative Effekte auf kollektiver Ebene ausgeblendet werden; und (4) die Frage nach dem Zugang bzw. der Verteilung von sozialem Kapital unterbelichtet bleibt. Literatur Bourdieu, Pierre, 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital; in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen, 183-198.-- Coleman, James S., <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 214 214 Kapitalismus 1988: Social Capital in the Creation of Human Capital; in: American Journal of Sociology, 9, Supplement, 95-120.- - Putnam, Robert D., 1993: Making Democracy Work, Princeton.-- Ders. (Hg.), 2001: Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh.-- Strasser, Hermann et al., 2010: Sozialkapital in einer alternden Gesellschaft: Die soziale Frage des 21. Jahrhunderts; in: Möltgen, Thomas (Hg.): Wert und Nutzen ehrenamtlichen Engagements, Kevelaer, 205-220. Michael Stricker/ Hermann Strasser Kapitalismus Kapitalismus (engl. capitalism) ist die Bezeichnung für ein Gesellschaftssystem mit einer dominanten Wirtschaftsweise, in welcher Eigentümer Geld mit dem Ziel investieren, mehr Geld zu erzielen. Obwohl er diesen Begriff selbst selten gebraucht hat, gilt Karl Marx als einer der Begründer sozialwissenschaftlicher Kapitalismusanalyse. Klassische soziologische Kapitalismustheorien sind jedoch überwiegend erst im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit Marx entstanden. Nach Dobb (1972: 13-43) lassen sich drei basale Kapitalismusdefinitionen unterscheiden. Zum Begriff Die erste, soziologisch vielleicht gebräuchlichste Definition stammt von Werner Sombart. Kapitalismus bezeichnet demnach eine besondere Wirtschaftsgesinnung, die den Unternehmer und Abenteurer mit dem Kalkulierenden, Rationalen des »Bürgergeistes« verbindet. Diese Wirtschaftsgesinnung schafft sich ihre eigenen Organisationen und Subjekte (Sombart 1928: 25). Max Weber hat diesen Gedanken etwas anders formuliert: Von Kapitalismus kann demnach gesprochen werden, sofern die Bedarfsdeckung einer Menschengruppe durch die rationale Unternehmung stattfindet: Die »Einzelmaßnahmen rationaler Unternehmen werden durch Kalkulation am geschätzten Rentabilitätserfolg« bestimmt (Weber 1980: 48). Kapitalistisch kann ein Betrieb genannt werden, sofern seine Rentabilität rechnerisch über Bilanzen und die moderne Buchführung kontrolliert wird. Nach Webers Definition existierte eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung bereits in der Antike; erst der moderne Nationalstaat ermöglichte jedoch die Verstetigung des Kapitalismus in seiner neuzeitlich-abendländischen Variante (Weber 1980: 815). In seiner modernen Ausprägung wird der Kapitalismus zu einer »Schicksalsmacht«; wer sich »in seiner Lebensführung den Bedingungen des kapitalistischen Erfolgs nicht anpasst, der geht unter oder kommt nicht hoch« (Weber 1988: 56). Eine zweite Definition beschreibt den Kapitalismus als Handelssystem, Geldwirtschaft oder »Produktionsorganisation für einen fernen Markt« (Dobb 1972: 17). Diese Definition ist wesentlich der Entwicklungslehre der deutschen historischen Schule entnommen. Danach verlängert die Ausdehnung von Marktbeziehungen den Weg, den eine Ware vom Produzenten zum Konsumenten zurücklegen muss. Erst diese raum-zeitliche Ausdehnung der Marktvergesellschaftung verhilft einem Wirtschaftssystem zum Durchbruch, in welchem das Profitstreben zum zentralen Motiv einer besonderen Klasse von Akteuren wird. Der Kapitalismus ist demnach eine »Austauschwirtschaft« (Nußbaum, vgl. Pirenne 1947), deren Leitprinzip das uneingeschränkte Gewinnstreben ist. Die Entstehung des Kapitalismus wird folgerichtig mit der Herausbildung des Kaufmanns- und Handelskapitalismus etwa im 12. Jh. identifiziert. Hier ergeben sich Parallelen zur Kapitalismusdefinition Fernand Braudels (Braudel 1984-1986, Annales-Schule), der sich wiederum von Studien aus dem Spektrum der Weltsystemtheorie inspirieren lässt (Wallerstein 1984). Aus dieser Perspektive entsteht die kapitalistische Geldwirtschaft in den oberitalienischen Städten des 16. Jh.s. Braudel unterscheidet dabei systematisch zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus. Kapitalismus bedeutet die Indienstnahme der Marktvergesellschaftung durch Netzwerke sozialer Macht. Die Sphäre von Marktwirtschaft, Kleinunternehmertum und Handwerk ist nicht kapitalistische Produktion im eigentlichen Sinne. Dementsprechend kann der Kapitalismus - die Sphäre der großen Vermögen, Kapitalien und Unternehmen - die Gesellschaft niemals vollständig durchdringen, denn es herrscht »eine lebendige Dialektik zwischen dem Kapitalismus und jenem gegensätzlichen, weit unten angesiedelten Bereich, der nicht als echter Kapitalismus bezeichnet werden kann. Angeblich dulden die großen Firmen die kleineren Unternehmen […] In Wirklichkeit brauchen die großen Firmen die kleineren Unternehmen« (Braudel 1986: 706 f.). Der Kapitalismus setzt eine Hierarchie sozialer Räume und Produktionsweisen voraus, und »er siedelt sich <?page no="214"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 214 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 215 215 Kapitalismus an der Spitze dieser Hierarchie an, ob er sie nun selbst geschaffen hat oder nicht« (ebd.: 66). Annales-Schule und Weltsystemtheorie verarbeiten bereits eine dritte Definition, die aus der Marxschen Theorie hervorgegangen ist. Für Marx sind weder Profitstreben und kalkulierendes Verhalten, noch die Herausbildung des Fernhandels, des Kreditwesens oder besonderer Klassen von Kaufleuten und Finanziers hinreichende Bedingungen für kapitalistische Vergesellschaftung: »Kapitalisten, und seien sie noch so gewinnsüchtig, reichen nicht aus: Sie müssen vielmehr ihr Kapital so nutzen, dass bei der Produktion durch die Arbeitskraft ein Mehrwert erzeugt wird.« (Dobb 1972: 19) Von Kapitalismus kann somit gesprochen werden, wenn eine Wirtschaftsweise entsteht, in der angehäuftes Geld (G) mit dem Ziel in Waren (W) investiert wird, mehr Geld (G′) zu erzeugen (G-W-G′). Die Verwandlung von Arbeitskraft und natürlichem Reichtum in Kapital, das mit dem Ziel der Profitmaximierung, d. h. der Mehrung des sodann erneut investierten Kapitals, immer wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückgeleitet wird, macht die Besonderheit der kapitalistischen Gesellschaftsformation aus. Der Kapitalismus reproduziert sich, so Marx in Korrektur seiner früheren Auffassungen, erst mit der industriellen Revolution auf eigener Grundlage. Seine Entstehung setzt eine Klassenspaltung in Kapitalisten und Lohnarbeiter voraus. Obwohl die kapitalistische Produktionsweise den Äquivalententausch auf Warenmärkten verallgemeinert, beruht sie auf Ausbeutung der Lohnabhängigen durch die Klasse der Produktionsmittelbesitzer, die sich den erzeugten Mehrwert aneignet. Klassenkampf, verstanden als das ständige Ringen darum, Interessengegensätze, Konkurrenzen und Konflikte zwischen auseinanderstrebenden Individuen und Gruppen mit diesem Verwertungszweck in Einklang zu bringen, ist eine wesentliche Triebkraft kapitalistischer Entwicklung. In den meisten zeitgenössischen soziologischen Konzeptionen werden Elemente der klassischen Kapitalismusdefinitionen in unterschiedlicher Weise kombiniert (Fulcher 2007; Wright 2010). So beinhaltet die Minimaldefinition von Boltanski/ Chiapello (2003; 2005) drei charakteristische Bestimmungen: (a) die Notwendigkeit unbegrenzter Kapitalakkumulation in monetärer Form, die sich sukzessive vom materiell-stofflichen Reichtum ablöst und so zum Perpetuum mobile wird; (b) ein Wettbewerbssystem, in welchem jeder Akteur fortwährend durch die Aktionen anderer Akteure herausgefordert wird, was einen Zustand ständiger Unruhe hervorbringt. »Selbsterhaltung« wird so zu einer »nie versiegenden Triebkraft der Akkumulation«; (c) eine Ideologie, die das »Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt« und es »attraktiv erscheinen lässt« (Boltanski/ Chiapello 2005: 290). Dabei ist der »Geist des Kapitalismus« allerdings kein bloßes Moment eines ideologischen »Überbaus«, der durch die materielle »Basis« kapitalistischer Vergesellschaftung determiniert wird. Vielmehr setzt dieser »Geist« dem Akkumulationsprozess Grenzen, weil er es beispielsweise ermöglicht, legitime von nicht legitimen Profiten zu unterscheiden (ebd.: 292). Die Formel G-W-G′ ist demnach die Essenz eines »absurden Systems« (ebd.: 290), das die Aktivität sowohl der Kapitalisten als auch der Lohnabhängigen einem abstrakten Zweck unterwirft, der sich von ihrer eigentlichen Lebenstätigkeit ablöst. Für die Masse nicht nur der Lohnabhängigen, sondern auch der Kleinunternehmer, Handwerker, Bauern, Sozialtransferbezieher und ihre Familien gilt im Grunde die Formel der einfachen Warenproduktion W-G-W′. Sie arbeiten, um, vielleicht in Zukunft etwas besser, leben zu können. Die Umwandlung von Absurdität in subjektiven Sinn obliegt dem jeweiligen »Geist des Kapitalismus«, präziser: den Institutionen, Praktiken und sozialen Konflikten, in denen sich dieser hegemoniale Geist herausbildet. Transformationen des Kapitalismus Wie die allgemeinen Merkmale, so sind auch die historischen Transformationen des Kapitalismus Gegenstand sozialwissenschaftlicher Kontroversen. Marx war der Ansicht, die Verallgemeinerung von Lohnarbeit und die damit verbundene soziale Polarisierung werde die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine revolutionäre Überwindung des Kapitalismus schaffen. Diese Auffassung hat sich so nicht bewahrheitet. Stattdessen hat der - fortgeschrittene - Kapitalismus mehrere Transformationen durchlaufen, in denen sich die Institutionen, Produktionsweisen und Lebensformen kapitalistischer Gesellschaften qualitativ verändert haben. Die meisten Interpreten unterscheiden zwei große Transformationen: (a) den Übergang vom frühen, »anarchischen« Marktzum organisierten Kapitalismus, der sich Ende des 19./ Anfang des 20. Jh.s vollzog, und (b) die Verwandlung des organisierten in einen reviwww.claudia-wild.de: <?page no="215"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 216 216 Kapitalismus talisierten Marktkapitalismus, die während der 1970er Jahre einsetzte (Fulcher 2007: 78-122). Im Zuge dieser Transformationen haben sich auch soziologische Kapitalismustheorien gewandelt. Die erste Metamorphose des Kapitalismus war Gegenstand von zwei bedeutenden theoretischen Neuerungen. Die Erste kam von Joseph Schumpeter, der die kapitalistische Dynamik als einen fortwährenden Prozess schöpferischer Zerstörung interpretierte. Schumpeter stellt die kreative Arbeit des Unternehmens, einer besonderen »Führergestalt«, ins Zentrum seiner Theorie. Der Unternehmer ist nicht Erfinder, sondern der Durchsetzer des Neuen. Sein soziales Milieu sind aufstiegswillige Mittelschichten, deren Repräsentanten im Niedergangsstadium eines Produktzyklus ihre Chance ergreifen, unternehmerische Risiken eingehen, Erfindungen marktfähig machen und so für einen Strukturwandel in Permanenz sorgen. Im Ergebnis entstehen eine immer größere Produktvielfalt, immer feinere Produktdifferenzierungen und eine sich ständig verbessernde Produktqualität. Schumpeter macht damit auf eine Bedingung kapitalistischer Dynamik aufmerksam, die bei Marx unterbelichtet geblieben ist: Innovationsprozesse benötigen Freiräume für kreatives Handeln, welches implizites Wissen erschließt. Werden diese Freiräume zu sehr beschnitten, kann das die Innovationsdynamik schwächen. Schumpeter fürchtete deshalb, der organisierte Kapitalismus mit seinen Bürokratisierungstendenzen werde die Innovationskraft der Unternehmen untergraben und letztendlich den, unerwünschten, Triumph des Sozialismus bewirken (Schumpeter 2005, 2006). Während Schumpeter den von Marktkonkurrenz getriebenen schöpferischen Zerstörer als Agens kapitalistischer Entwicklung betrachtet, setzt Karl Polanyi implizit einen Gegenakzent. In seiner Great Transformation (Polanyi 1995) beschreibt er die erste Metamorphose des Kapitalismus als Doppelbewegung: Die soziale Entbettung von Märkten bewirkt als Reaktion eine Konservierung von, eigentlich dysfunktionalen, Regulationssystemen, deren gewaltsame Zerstörung dann in die gesellschaftliche Katastrophe, in Faschismus und Krieg einmündet. Nach Schumpeter Anreiz für Innovationen, betrachtet Polanyi die Entfesselung der Marktkonkurrenz als »Teufelsfühle«; eine reine Marktwirtschaft würde die Gesellschaft zerstören. Interessant ist, dass beide Grundmotive, Innovation und Marktkritik, in den Theoremen, die die zweite kapitalistische Transformation analysieren, erneut auftauchen. Zu Beginn dieser zweiten Transformation schien es zunächst, als büße Kapitalismus den Status einer Schlüsselkategorie soziologischer Gesellschaftsanalyse ein. Ökologischer Gesellschaftskonflikt, ausdifferenzierte Ungleichheiten und neue soziale Bewegungen mussten gesellschaftstheoretisch ebenso bearbeitet werden wie später der Zusammenbruch staatssozialistischer Gesellschaften. Sofern in der Soziologie von Kapitalismus überhaupt noch die Rede war, wurde er im Plural buchstabiert. Hatten zuvor Staatssozialismus und sozialer Kapitalismus im Systemwettbewerb gestanden, konkurrierten nun divergente nationale Kapitalismusmodelle um Vorteile im Globalisierungsprozess (Albert 1992). Theorien mittlerer Reichweite wie (Neo-)Korporatismus, (Neo-)Institutionalismus oder Regulationsschule fragten nach Konvergenz und Divergenz kapitalistischer Institutionen und lieferten dazu heterogene Antworten. (1) Neokorporatismus: In seiner liberalen Fassung bezeichnet Korporatismus eine soziopolitische Technik zur Regulierung des Klassenkonflikts (Lehmbruch 1979). Danach bleiben die grundlegenden Motive, Mechanismen, Attribute und Resultate des Kapitalismus (Gewinnstreben, Allokation durch Wettbewerb, Expansionismus, Akkumulationstendenz) »konstant«. Politische Interventionen, kulturelle Normen oder Krisen können diese Charakteristika verzerren; als »wesenseigene Merkmale« des Kapitalismus werden sie sich jedoch »letztendlich wieder durchsetzen« (Schmitter 1996: 314). Dass sich der Kapitalismus dennoch mehr oder minder erfolgreich entwickeln kann, lässt sich auf eine Einverleibung und Institutionalisierung von Kollektivinteressen zurückführen (ebd.: 316). (2) Neoinstitutionalismus: Während manche die Gefahr einer marktgetriebenen Universalisierung des angelsächsischen Kapitalismusmodells akzentuieren, argumentieren konkurrierende neoinstitutionalistische Ansätze, der Druck einer internationalisierten Ökonomie müsse die Ausprägung unterschiedlicher Kapitalismen zusätzlich verstärken. Die vermeintlich homogenisierende Wirkung globaler Märkte werde durch »institutionelle Filter« (North 1998: 247-257) klein gearbeitet und in eine tiefere Ausprägung von »Varieties of Capitalism« (Hall/ Soskice 2001) transformiert. Selbstverständlich ist sozialer Wandel auch innerhalb des institutionalistischen Paradigmas vorstellbar; wahrscheinlich ist er jedoch als pfadabhängige Entwicklung. <?page no="216"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 216 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 217 217 Kapitalismus (3) Regulationstheorie: Im Spannungsfeld von Konvergenz und Divergenz bewegen sich regulationstheoretische Ansätze auf einer »mittleren« Argumentationslinie. Den Übergang von einer kapitalistischen Formation zu einer anderen führen sie sowohl auf allgemeine, übernationale, als auch auf besondere, institutionenspezifische Triebkräfte zurück (Boyer 1997: 71-101; Aglietta 1979). Eine kapitalistische Formation konstituiert sich über halbwegs stabile Entsprechungen von Akkumulationsregime, Regulationsweise und Produktionsmodell. Institutionelle Vielfalt ist wesentlich, aber nicht ausschließlich auf der Ebene der Regulationsweise angesiedelt. Spätestens seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007-2009 rücken jedoch die Gemeinsamkeiten kapitalistischer Gesellschaften wieder stärker in den sozialwissenschaftlichen Fokus. Die jüngste globale Krise hat alle nationalen Kapitalismusmodelle, wenngleich unterschiedlich, erfasst. Besonders hart getroffen wurden jene marktzentrierten »angelsächsischen« Kapitalismen, denen neokorporatistische Ansätze zuvor eine Überlegenheit im globalen Wettbewerb attestiert hatten. Als Folge der globalen Krise sind Armut, Arbeitslosigkeit und Prekarität weltweit weiter angestiegen. 197 Mio. Menschen, d. h. 27 Mio. mehr als vor der Krise, sind erwerbslos; ca. 900 Mio. leben unter der absoluten Armutsschwelle (ILO 2012). Strukturelle Krisenherde (öffentliche und private Verschuldung, Bankenkrise, ökologische Verwerfungen) erschüttern auch die fortgeschrittenen Kapitalismen. Das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie tritt wieder offen zutage (Crouch 2011), und die Auffassung, »dass das kapitalistische System in seiner jetzigen Form nicht mehr in die heutige Welt passt« (Knop 2012), ist nicht nur im Alltagsbewusstsein verbreitet, sondern findet Eingang in den Elitendiskurs. Soziologische Theoriebildung ist gegenwärtig dabei, diese Entwicklung einzuholen. Exemplarisch seien drei Arbeitsfelder genannt. Arbeitsfelder soziologischer Kapitalismustheorien Finanz(markt)kapitalismus: Institutionalistische, regulationstheoretische, aber auch neoschumpeterianische Ansätze haben die kapitalistische Restrukturierung seit den 1970er Jahren als Übergang zum Finanz(markt)kapitalismus interpretiert. Aglietta behauptet die Herausbildung eines finanzgetriebenen Akkumulationsregimes, für das die Regulation des Lohnverhältnisses nicht mehr zentral sei. Vom angelsächsischen Kapitalismus übernehme das »Akkumulationsregime der Vermögensbesitzer« die »Vorherrschaft der Konkurrenz, die Unternehmenskontrolle durch die institutionellen Anleger, das bestimmende Kriterium des Profits und die Kapitalisierung an der Börse« (Aglietta 2000: 66). In der Neuen Wirtschaftssoziologie (Fligstein 2001) ist Finanzmarktkapitalismus die Bezeichnung für ein Produktionsregime, das durch eine spezifische Konfiguration von Institutionen und Akteuren geprägt wird (u. a. Aktienmärkte, Investment-Fonds, Analysten, Rating-Agenturen). Steuerungszentrum dieser Konfiguration sind die Finanzmärkte, auf denen fiktives Kapital gehandelt wird. Weil Unsicherheiten auf diesen Märkten nur unvollständig in Risiken transformierbar sind, entstehen besondere Gelegenheiten für einen moral hazard. Die Neigung wichtiger Akteure zu hochriskanten Operationen wächst. Neue Eigentümer wie Investmentfonds motivieren Unternehmen zu kurzfristorientierten Strategien der Profitmaximierung. Feindliche Übernahmen, der Markt für Unternehmenskontrolle, Aktienoptionen für Manager oder auch die Shareholder-Value-Steuerung von Unternehmen fungieren als wichtige Transfermechanismen, die die Wettbewerbsrationalität der Finanzwirtschaft auf die Produktionsökonomie übertragen, um dort die Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit zu begünstigen. Ist der Bedeutungszuwachs des Anlagekapitals und der Finanzmärkte unbestritten, so wird über die Tiefe und das Ausmaß der Transformation kontrovers diskutiert (Deutschmann 2010). Wachstumsdilemma: Zeitdiagnostisch mitunter ähnlich, rückt eine zweite Gruppe von Ansätzen den expansiven Charakter kapitalistischer Dynamik in den Fokus sozialwissenschaftlicher Analyse (Jackson 2009). Der Kapitalismus wird als Aktivierungs- und Beschleunigungsmaschine begriffen, die sich nur über fortwährende Landnahmen stabilisieren kann (Dörre et al. 2009, 2012). Strukturelle Verwerfungen des zeitgenössischen Kapitalismus lassen sich demnach als Verlust der Fähigkeit kapitalistischer Gesellschaften zu dynamischer Selbststabilisierung interpretieren. Weltsystem: Das Wachstumsdilemma berührt vor allem die reichen Gesellschaften des globalen Nordens. Im globalen Süden und hier insbesondere in <?page no="217"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 218 218 Kapitalismus den BRICS-Staaten hat sich ein spezifischer Staatskapitalismus als dynamischer Wachstumsgenerator erwiesen. Aus der Weltsystem-Perspektive werden diese Prozesse als Ende des US-amerikanischen Hegemoniezyklus interpretiert, der mit einer Machtverschiebung zugunsten der BRICS-Staaten und hier vor allem Chinas einhergeht (Arrighi 2007). Mit der Verschiebung der industriellen Zentren verlagern sich allerdings auch die sozialen Konflikte. In den dynamischen Wachstumsregionen entstehen neue Arbeiterbewegungen und jenseits regulierter Klassenbeziehungen sind labour unrest und spontane Revolten an der Tagesordnung (Silver 2003). Wallerstein geht noch einen Schritt weiter. Er diagnostiziert eine Übergangsphase »von unserem existierenden Weltsystem zu einem oder mehreren anderen« (Wallerstein 2002 76), ohne dass dies schon die Garantie für eine bessere Gesellschaft wäre. Die Auflistung der Arbeitsfelder soziologischer Kapitalismustheorie und -analyse ließe sich beträchtlich erweitern. Begriffe wie flexibler Kapitalismus, High-Tech-Kapitalismus, Beraterkapitalimus, kognitiver Kapitalismus, akademischer Kapitalismus, emotionaler Kapitalismus etc. zeugen davon, dass Kapitalismusanalyse wieder zu einem Gegenstand soziologischer Forschung und Theoriebildung geworden ist. Dabei rückt der Kapitalismus als gesellschaftliche Formation allmählich wieder ins Zentrum soziologischer Betrachtungen (Streeck 2009). Literatur Aglietta, Michel, 1979: A theory of capitalist regulation. The US-experience, London.- - Ders., 2000: Ein neues Akkumulationsregime, Hamburg.-- Albert, Michel, 1992: Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a. M.- - Arrighi, Giovanni, 2007: Adam Smith in Beijing, London.-- Boltanski, Luc; Chiapello, Ève, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz.- - Dies., 2005: Die Rolle der Kritik für die Dynamik des Kapitalismus; in: Miller, Max (Hg.): Welten des Kapitalismus. Institutionelle Alternativen in der globalisierten Ökonomie, Frankfurt a. M./ New York, 285- 322.- - Boyer, Robert, 1997: French Statism at the Crossroads; in: Crouch/ Streeck (Hg.), 71-101.- - Braudel, Fernand, 1984-1986: Sozialgeschichte des 15.-18. 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(Hg.): Gewww.claudia-wild.de: <?page no="218"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 218 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 219 219 Kaste sammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 9. Aufl., Tübingen, 17-206.- - Windolf, Paul, 2005: Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus? In: Ders. (Hg.): Finanzmarkt-Kapitalismus, Wiesbaden, 20-57.- - Wright, Eric O., 2010: Envisioning Real Utopias, London. Klaus Dörre Kaste Begriff und Verbreitung der Kaste Kaste (engl. caste) ist neben Stand, Klasse und Schicht einer der Kernbegriffe zur Kennzeichnung und Analyse sozialer Gruppierungen. Der Begriff entstammt dem portugiesischen »casta« (Abstammung, Rasse, Reinheit), der ab dem 16. Jh. eine Gliederungseinheit der indischen, insbesondere der hinduistischen Gesellschaft bezeichnete. Von Indien beeinflusst findet sich die Kaste auch in anderen Regionen, wie z. B. Pakistan, Nepal, Bangladesch, Sri Lanka, Malaysia und Indonesien. Vor allem über hinduistische Auslandspopulationen ist sie auch in außerasiatischen Regionen anzutreffen, etwa in Europa (vor allem Großbritannien) sowie auf dem nordamerikanischen und afrikanischen Kontinent. Unter Abhebung von der spezifisch hinduistischen Konzeption haben auch Islam, Christentum und andere Religionsgruppen Süd- und Vorderasiens teilweise Kastenstrukturen ausgebildet. Angewandt wird der Begriff im weiteren Sinne auch auf Gliederungen von Gesellschaften Polynesiens, Ost- und Nordafrikas, der arabischen Halbinsel, Persiens, des alten Japans und einiger nordamerikanischer Indianerstämme. Im übertragenen, meist sozialkritischen Sinne bezeichnet der Begriff auch Gruppierungen, die aufgrund besonderer Privilegien ein Standesgefühl entwickeln (z. B. Richter, Offiziere, Klerus, Politiker) oder aber in ihren sozialen Partizipationsmöglichkeiten beschnitten sind (z. B. bestimmte ethnische Minoritäten). Metaphorische Verwendung findet der Begriff außerdem in der Sozialbiologie (z. B. »Arbeiterkaste« im Bienenstaat). Ursprünge, religiöse und soziale Aspekte Ursprünglich war die Kaste religiös und machtpolitisch inspiriert und diente arischen Stämmen, die um 1500 v. Chr. nach Indien eindrangen, zur Herrschaftsfestigung. Bereits ein Mythos aus dem Rigveda behauptet die von Göttern vorgenommene Teilung der Gesellschaft in vier Kasten (»varna«). An der Spitze standen die »kshatriya« oder »rajanya« (Krieger u. Adelige), gefolgt von den »brahmana« (Priester u. Gelehrte), den »vaishya« (Kaufleute) und den »shudra« (Arbeiter u. Bauern). Indem es ihnen gelang, die religiöse Legitimation des Herrschers an das priesterliche Ritualmonopol zu binden, setzten sich später die Brahmanen vor den Kriegeradel. Der Sanskritausdruck »varna« (Farbe) für die vier Ur- Kasten legt nahe, dass einst auch rassische Merkmale über die Zugehörigkeit zur jeweiligen Kaste mitentschieden haben. Ausführlichstes Dokument zur Grundlegung der altindischen Kastengesellschaft ist das »Gesetzbuch des Manu« (manu smriti, 2. Jh. v. Chr.), in dem die Kastenstruktur in die hinduistische Weltdeutung eingebunden wird. Jeder Kaste ist darin ein »Reinheitsstatus« zugeordnet, der nur durch striktes Einhalten des »dharma« (Weltordnung, u. a. niedergelegt als Katalog von Kastenpflichten) bewahrt werden kann. Darunter fallen als kastenübergreifende Gebote das Einhalten von Berufsschranken, Endogamie (Heirat nur innerhalb bestimmter Kastengrenzen) und Kommensalität (gemeinsame Mahlzeiten nur mit Reinheitsgleichen). Die Erfüllung oder Nichterfüllung der spezifischen Pflichten entscheidet mit über das individuelle »karma« (Summe der ethischen Qualität aller Handlungen) und damit über die biologische und soziale Qualität der nächsten Wiedergeburt. Auch der soziale Rang, einschließlich der Kastenzugehörigkeit wird somit religiös erklärt und ethisch »gerechtfertigt«. Indem Kaste damit sowohl als soziale wie auch religiöse Gliederung, sowohl als Geburts-, Lebens-, wie auch Schicksals- und Glaubensgemeinschaft konzipiert ist, kommt ihr große identitätsstiftende Bedeutung zu, die in bestimmten Familiennamen, Ernährungs- und Kleidungsgewohnheiten, religiösen Orientierungen (präferierten Göttern, Tempeln, Kulten), Werteinstellungen und im Habitus ihren Ausdruck findet. Sozialer Wandel und sozialwissenschaftliche Diskussion Die Fähigkeit des im altindischen Kastenmodell idealisierten Systems zu sozialem Wandel zeigt sich in seiner historisch kontinuierlichen Ausdifferenzierung zu mittlerweile Tausenden von Unterkasten, die in Abhebung zu den vier mythologischen »varnas« als <?page no="219"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 220 220 Kindheit »jatis« (Geburtsgruppen, Familien) bezeichnet werden und die indische Sozialstruktur wesentlich mitbestimmen. Die einzelnen »jatis« haben sich meist durch zunehmende Macht und Einkommen von anderen Kasten abgespaltet. Sie sind mehrheitlich institutionell organisiert, d. h. sie verfügen über eigene Ausbildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen, über Geldinstitute und eigene Zeitungen und üben so auch politischen Einfluss aus, der wiederum größere Macht und das Bedürfnis nach neuen eigenständigen Unterkasten zur Folge haben kann. Festzuhalten ist, dass der »Reinheitsstatus« einer »jati« mit ihrem Einfluss nicht zusammenfallen muss, da z. B. manchen niedrigeren Kasten lukrativere Betätigungsbereiche offenstehen als anderen. Außerhalb der durch die »jatis« konstituierten Kastengesellschaft stehen die sogenannten »Unberührbaren« (ca. 20 % der Bevölkerung), die aufgrund des beruflichen Umgangs mit rituell »unreinen« Substanzen (z. B. Leichen, Kadaver, Fäkalien) von anderen streng gemieden werden. In der indischen Verfassung werden sie als »dalits« (Unterdrückte) unter die sogenannten »scheduled castes« gerechnet und erfahren eine partielle rechtliche Sonderbehandlung (z. B. durch Quotenregelung bei Hochschul- und Berufszugang). Die sozialwissenschaftliche Diskussion sieht sich hinsichtlich der Genese von Kastengesellschaften und der Identifizierung eindeutiger Kastenmerkmale vor Schwierigkeiten gestellt. So werden Kasten als Resultat des Bedürfnisses nach weitestgehender Geschlossenheit von Gruppen (Weber), als vom Adel etabliertes Patronagesystem (Hocart), als Ausdruck sozialen Hierarchisierungsstrebens auf Basis von Reinheit vs. Unreinheit (Dumont) oder auch als regional variierendes Ergebnis der Spannungen zwischen herrschaftlichen und verwandtschaftsbasierten Interessen (Quigley) aufgefasst. Inwieweit religiöse Aspekte zur Erklärung des Kastenkonzepts überhaupt nötig sind, ist in diesen Auffassungen umstritten, wobei auch Differenzen zwischen westlichen und indischen Autoren deutlich werden (siehe z. B. Khare). Kaste etwa als Teil eines unverrückbaren »dharma« und als »Reinheitsstatus« zu fassen, lässt schwerlich eine befriedigende Erklärung für die indische Entwicklung zu, die durch immer raschere und regional spezifische Ausdifferenzierungsprozesse sowie durch Mobilität und Pluralismus gekennzeichnet ist, Merkmale also, die Kastengesellschaften im Unterschied etwa zu Schichtengesellschaften gemeinhin abgesprochen wurden. Säkularisierte Konzeptionen versuchen, diesen Widersprüchen zu begegnen, indem sie Kasten als primär genealogisch miteinander verbundene endogame Familien fassen, deren Identität sich primär über bestimmte Berufe, Besitz und Werteinstellungen herstelle, wobei ehemals religiös konnotierte Unterschiede mehr und mehr zu kulturellen Lifestyles transformieren (Natrajan). Literatur Dumont, Louis, 1980: Homo Hierarchicus. The caste system and its implications, rev. ed., Chicago, IL.-- Hocart, Arthur M., 1950: Caste. A comparative study, London, UK.- - Khare, Ravindra S., 1984: The untouchable as himself, Cambridge, NY.-- Khare, Ravindra S. (Hg.), 2006: Caste, hierarchy, and individualism. Indian critiques of Louis Dumont’s contributions, New Delhi.- - Natrajan, Balmurli, 2012: The culturalization of caste in India, London, UK.- - Quigley, Declan, 1993: The interpretation of caste, Oxford, UK.-- Weber, Max, 1996: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Hinduismus und Buddhismus, 1916-1920 (Max- Weber-Gesamtausgabe, Bd. 20), Tübingen. Pradeep Chakkarath Katalysator, sozialer Sammelbezeichnung für alle Gegenstände der Soziologie, die soziale Prozesse in ihrem Ablauf lenken, beschleunigen oder bremsen. Als sozialen Katalysator (engl. social catalyst) kann man also etwa Normen, Werte, Macht, Verhaltensmuster bezeichnen; sie sind gewissermaßen intervenierende Variablen bei sozialen Prozessen und als solche auch forschungstechnisch zu ermitteln, sofern man sie nicht mit Methoden der Einstellungsforschung untersucht. Literatur Endruweit, Günter, 1998: Der Begriff der Soziologie; in: ders.: Beiträge zur Soziologie, Bd. II, Kiel, 14-- 34. Günter Endruweit Kindheit Kindheit (engl. childhood) wird in der Soziologie als »soziale Konstruktion« begriffen, als gesellschaftliche Hervorbringung von Institutionen, Normen, Wissensbeständen, die diese Lebensphase strukturieren. Anders als im alltäglichen Verständnis wird sie nicht <?page no="220"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 220 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 221 221 Kindheit als Lebensabschnitt verstanden, dessen Ausgestaltung sich »natürlich« aus Bedürfnissen und Möglichkeiten derjenigen, die sich in diesem Alter befinden, ergibt. Für die Soziologie stellen sich Fragen nach der Verknüpfung bestimmter Kindheitskonstruktionen mit weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen. Bis in die 1990er Jahre wurde die soziologische Thematisierung der Kindheit durch die Vorstellung der Sozialisation dominiert, wie sie etwa Émile Durkheim und Talcott Parsons entwickelten. Diese beinhaltet, dass eine Passung zwischen den zunächst vorsozialen Individuen, den Kindern, und gesellschaftlichen Anforderungen geschaffen werden müsse - im Interesse der sozialen Ordnung wie auch der (zukünftigen) Gesellschaftsmitglieder. Damit galt Kindheit nur als gesellschaftliche Vorbereitungsphase, in der Normen und Werte internalisiert und Bedürfnisdispositionen erwartungskonform geprägt werden. Mit der Dominanz des Sozialisationsparadigmas wurde zweierlei ausgeblendet: (1) die Varietät von Kindheiten, wie sie sich im historischen und interkulturellen Vergleich zeigt; (2) die Beiträge von Kindern zu sozialen Interaktionen. Entscheidende Anregungen erhielt die soziologische Kindheitsforschung dann zum einen durch die historische Forschung: Philippe Ariès machte darauf aufmerksam, dass die Vorstellung kindlicher Besonderheit am Beginn der Neuzeit kaum existierte. Kinder hätten (fast) unterschiedslos an Arbeit, Härten, Freuden und Geselligkeit der Erwachsenen teilgehabt. Allmählich sei kindliche Andersartigkeit »entdeckt« worden, und dies habe einen entscheidenden Wandel der Institutionen Schule und Familie bewirkt, die sich neu als Schonräume formierten. Dieses Geschehen sei mit dem Streben nach effizienterer gesellschaftlicher Ordnung verbunden gewesen. Die spätere historische Forschung relativierte die These; ein grundlegender Wandel bleibt aber unbestritten. Einen zweiten wichtigen Anstoß leisteten Studien wie die von Norman K. Denzin oder der Forscher um Aaron Cicourel, die in der (mikro-) ethnographischen Rekonstruktion von Situationen aufzeigten, wie das Handeln selbst kleiner Kinder soziale Kompetenzen im Sinne der Kenntnis von und der Orientierung an Regeln erkennen lässt und wie ihre sozialen Beiträge geordnete Abläufe in Schulen, Kindergärten etc. erst ermöglichen. Die »neue Kindheitssoziologie«, die dadurch angeregt wurde, verwendet v. a. zwei theoretische Konzepte: (1) »Generationale Ordnung«, die Vorstellung der gesellschaftlichen Zuschreibung von Rechten, Pflichten, Eigenschaften an Mitglieder bestimmter Altersgruppen; (2) Kinder als »soziale Akteure«, die Vorstellung, dass Kinder schon immer an sozialen Interaktionen kompetent teilhaben. Seit den 1950er Jahren ändern sich Kindheiten in westlichen Ländern in der Weise, dass Kinder in ihren schulischen Leistungen, persönlichen Begabungen und Interessen zunehmend gefördert werden. Harsche Disziplinierung dagegen wird seltener, ebenso die Mithilfe der Kinder bei der Hausarbeit. Die individualisierte Förderung der Kinder wird u. a. von den Eltern initiiert und durch einen wachsenden Markt an Angeboten und Experten unterstützt. Als Kehrseite der Entwicklung sind zwei Erscheinungen zu vermerken: Zum einen erfolgt (anhaltende) soziale Ungleichheit. Kulturelle Investitionen von Eltern, elterliche Unterstützung der Kinder oder Freizeitverhalten der Familien unterscheiden sich je nach sozialem Status. Dies kann Kinder aus tieferen Schichten hinsichtlich Bildungs- und Berufserfolg benachteiligen (während der Migrationshintergrund eine andere Bedeutung hat). Zum anderen geht eine zunehmende Pathologisierung u. a. mit zunehmenden Leistungsforderungen und der wachsenden Zahl von Experten einher: Die Rate diagnostizierter Teilleistungsschwächen und Verhaltensstörungen ist seit den 1970er Jahren rasant gestiegen. In Ländern des globalen Südens ergeben sich im Zusammenwirken lokaler Bedingungen und globaler Einflüsse, wie sie auch in Folge der UN-Kinderrechtskonvention von 1990 bedeutender geworden sind, krass unterschiedliche Kindheitsbedingungen. Sie reichen von behüteten Kindheiten nach westlichem Muster, über Mischformen von Arbeits- und Schulkindheit, die von den Kindern u. U. mit großem Selbstbewusstsein durchlebt werden können, bis zu Kindheiten, die je nach sozio-ökonomischen Bedingungen (u. a. auch Ermessen der Erwachsenen, die über das Kind und seine Arbeitskraft verfügen), sehr prekär ausfallen. Im Vergleich zu Deutschland ist die Kindersterblichkeit unter fünf Jahren in Afghanistan und einigen Ländern Afrikas fünfzig Mal höher. Literatur Ariès, Philippe, 1978: Geschichte der Kindheit, München (1960).- - Bühler-Niederberger, Doris, 2011: Lebensphase Kindheit, München.-- Cicourel, Aaron V. et al. (Eds.), 1974: <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 222 222 Klasse Language Use and School Performance, New York.-- Cunningham, Hugh, 2006: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, Düsseldorf (2005).- - Denzin, Norman K., 1971: Childhood as a Conversation of Gestures; in Hamilton, Peter (Ed.): George Herbert Mead: Critical Assessments, Vol. IV, London, New York, 51-66.-- Durkheim, Emile, 1972: Erziehung und Soziologie, Düsseldorf (1922).-- Parsons, Talcott, Bales, Robert F., 1955: Family, Socialization and Interaction Process, New York.-- Qvortrup, Jens et al., 2009: The Palgrave Handbook of Childhood Studies, Basingstoke. Doris Bühler-Niederberger Klasse Klasse (engl. class) bezeichnet ein soziales Subjekt, dessen Mitglieder sich durch eine strukturell gleiche Stellung im Wirtschaftsprozess und damit durch eine ähnliche soziale Lage (»Klassenlage«), durch gemeinsame Interessen und unter bestimmten Bedingungen auch durch ein gemeinsames Bewusstsein dieser Lage (»Klassenbewusstsein«) auszeichnen. Der Klassenbegriff ist neben den Begriffen Kaste, Stand und Schicht (engl.: ebenfalls class, social class) eines der zentralen Konzepte der Forschung zur sozialen Ungleichheit. Karl Marx: Klassentheorie Vor allem Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) haben den Klassenbegriff in seiner modernen Form geprägt. Die in ihrem Werk nur verstreut und keineswegs geschlossen ausgeführte, für die marxistische Theorie gleichwohl zentrale Klassenlehre wird später von Lenin in einem prominenten Zitat wie folgt auf den Punkt gebracht: »Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft« (Die große Initiative, LW 29, 1919: 410). Zentrales Kriterium dafür, welcher Klasse Gesellschaftsmitglieder zuzuordnen sind, ist demnach ihr Verhältnis zu den wichtigsten Produktionsmitteln dieser Gesellschaft, im wesentlichen also die Frage des Privateigentums oder Nicht-Eigentums an diesen Produktionsmitteln. Die Marxschen Klassen sind somit keine Einkommensklassen: ihre Konstruktion beruht weder auf dem Kriterium »Höhe des Einkommens« noch auf dem Kriterium »Art der Einkommensquelle«. Vielmehr leiten sich weitere wichtige Definitionsmerkmale des Marxschen Klassenbegriffs erst aus dem genannten grundlegenden Kriterium »Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln« (als dem Kern der sog. »Produktionsverhältnisse«) ab: (1.) steht die Klassenteilung als historischer Prozess in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse. Zur Geschichte von Klassenkämpfen wird die menschliche Geschichte, nach der Geschichtsauffassung des dialektischen Materialismus, erst mit der Herausbildung eines Privateigentums an Produktionsmitteln nach dem Stadium der Urgesellschaft, in der gemeinsames Eigentum an den Produktionsmitteln vorherrscht. Mit der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsteilung wächst auch die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft über jenes Niveau hinaus, das gerade nur für den eigenen Unterhalt, d. h. die Wiederherstellung der Arbeitskraft, ausreicht. Dies ermöglicht überhaupt erst die Aneignung dieser Mehrarbeit durch andere und damit die Bildung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Die folgenden Gesellschaftsformationen, denen die antike, die feudale (als vorkapitalistische) und schließlich die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise zugrundeliegen, sind somit Klassengesellschaften und unterscheiden sich vor allem darin, welche Form die Aneignung der Mehrarbeit durch die herrschende Klasse annimmt. In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft spitzen sich die Klassengegensätze »mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bougeoisie und Proletariat« zu (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 463). Es stehen sich hier vor allem die beiden Klassen der Kapitalisten (Bourgeoisie) als Eigentümer von Kapital und der Lohnarbeiter (Proletariat) als Eigentümer bloßer Arbeitskraft gegenüber. Und es wird dann auch die weitere und »volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte« sein, durch die die KlassenteiIung als solche nach dieser »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« weggefegt werden wird: die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen »… hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondere Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch <?page no="222"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 222 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 223 223 Klasse und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist« (MEW 19, 225). Träger dieser Revolution von der kapitalistischen Klassengesellschaft über die Klassendiktatur des Proletariats zur klassenlosen Gesellschaft ist die Arbeiterklasse; hier liegt ihre historische Rolle. Insofern ist die Marxsche Klassenlehre zugleich Kernstück seiner Theorie des sozialen Wandels. Triebkräfte des »gesellschaftlichen Fortschritts« sind die Klassen in ihrer antagonistischen Verflechtung. Zusammenfassend nimmt Marx denn auch für sich in Anspruch: »Was ich neu tat, war 1. - nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet« (MEW 28, 508). (2.) wachsen mit der Zuspitzung der Klassenteilung, mit der zunehmenden Verelendung und Vereinheitlichung der Lebens- und Interessenlage der Proletarier und ihrer räumlichen Konzentration, mit dem Aufkommen von Wirtschaftskrisen auch die Chancen für die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Denn zunächst ist der Klassenbegriff ein rein analytischer Begriff, mit dessen Hilfe die Mitglieder einer Gesellschaft (theoretisch angeleitet) objektiv kategorisiert werden sollen: dies ist der Marxsche Begriff der »Klasse an sich«. Unter den genannten historischen Bedingungen können die so zu einer »Klasse an sich« kategorisierten Menschen dann auch subjektiv das Bewusstsein erlangen, Mitglieder dieser Klasse zu sein, gemeinsame Interessen zu haben. Erst jetzt organisieren sie sich als politische Klassenpartei, verteidigen ihre Klasseninteressen im politischen Kampf: Marx spricht dann von einer »Klasse für sich«. (3.) ist der Antagonismus, der Klassengegensatz, im Unterschied etwa zum Konzept der sozialen Schicht, ein essentielles Moment des Marxschen Klassenbegriffs: »Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andre Klasse zu führen haben« (MEW 3, 54). Zumindest dann, wenn Marx und Engels in die Rolle politischer Agitatoren schlüpfen, werden in ihren Augen die Proletarier erst zur Klasse, wenn sie zur »Klasse für sich« geworden sind. Der aus diesem Antagonismus resultierende Klassenkampf ist die Haupttriebkraft für den (unter 1. skizzierten) gesellschaftlichen Fortschritt. (4.) geht die Zuspitzung der Klassenteilung in der kapitalistischen Gesellschaft mit einer Vereinfachung der Klassengegensätze einher: »Zwischenklassen« lösen sich zunehmend auf, indem soziale Mobilität zwar in der Richtung Bourgeoisie - Proletariat als Abstiegsmobilität, nicht aber in der umgekehrten Richtung als Aufstiegsmobilität vorkommt: »Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß Ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung« (MEW 4, 469). Soweit zumindest die vereinfachende Sicht des »Manifests der Kommunistischen Partei«. In seinem früh abgebrochenen Kapitel über »Die Klassen« (MEW 25, 892/ 893) spricht Marx von den »drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft«, wobei selbst in England, als der ökonomisch »am weitesten, klassischsten« entwickelten modernen Gesellschaft, diese Klassengliederung von »Mittel- und Übergangsstufen« »vertuscht« werde. Auch bei Autoren der marxistischen Theorietradition wird im Folgenden natürlich gesehen, dass der polarisierende Dualismus des Zweiklassenmodells eine allzu vereinfachende Sichtweise darstellt, die zwar in theoretisierender Absicht als ein zentrales Erklärungsmoment des von Marx gesuchten »Bewegungsgesetzes der modernen Gesellschaft« dienen kann, bei einer Sozialstrukturanalyse historisch spezifischer Gesellschaften jedoch zu erweitern ist. Häufig wird daher von Grundbzw. Hauptklassen (Bourgeoisie und Proletarier in der kapitalistischen Gesellschaft) einerseits und Zwischen-, Neben- oder Übergangsklassen (Grundbesitzer, Bauern, Handwerker, Kleinbürger, Intelligenz) andererseits gesprochen. Letztere werden zumeist als außerhalb des bestimmenden Klassenantagonismus’ stehende Reste vorangegangener Gesellschaftsformationen, die vom, nicht alle Gesellschaftsbereiche gleichförmig erfassenden, geschichtlichen Fortschritt (noch) nicht erfasst wurden, oder als erste Erscheinungsformen der zukünftigen Gesellschaftsformation erklärt. Nicht bestritten wird mit ähnlicher Begründung die Existenz verschiedener Interessengruppen oder Fraktionen innerhalb der Hauptklassen. <?page no="223"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 224 224 Klasse Trotz der Vielfalt der Verwendungsformen des Klassenkonzeptes schon allein bei Marx und Engels selbst (vgl. Stuke) bleibt in der marxistischen Theorietradition in aller Regel der Konsens darüber, dass es nur eine einzige herrschende, ausbeutende, unterdrückende und nur eine einzige beherrschte, ausgebeutete, unterdrückte Klasse gebe, wobei alle sonstigen Gruppen gegenüber diesem zentral relevanten Klassengegensatz theoretisch wie auch historischpolitisch relativ marginal blieben. So behandelt etwa Giddens (28 ff.) in seiner Rekonstruktion des Marxschen Klassenmodells dieses Problem dahingehend, dass er von den beiden Argumentationsebenen eines »abstrakten Modells« einerseits und eines »konkreten Modells der Klassenherrschaft« andererseits spricht. Ersteres wird dichotomisch durch die zwei Hauptklassen konstituiert, Letzteres soll die Vielzahl von Übergangsklassen, Quasi-Klassen und Klassenfraktionen abbilden, die sich in spezifischen, historischen Gesellschaftsformationen um die dichotomische »Hauptachse« des abstrakten Modells herum anlagern. (5.) ist schließlich die herrschende Klasse auch zugleich die im politischen, kulturellen, rechtlichen und religiösen Bereich herrschende Klasse: Der Staat ist »… in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, …« (MEW 21, 166/ 167) und »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, …« (MEW 3, 46). Max Weber: Klassen und Stände Es war zunächst vor allem Max Weber (1864-1920), der sich mit dem Marxschen Klassenbegriff unter dem Ziel auseinandersetzte, diesen aus den geschichtsphilosophischen und politisch-ideologischen Bezügen herauszulösen, in die Marx und Engels ihn gestellt hatten, ihn seines ökonomischen Determinismus’ bzw. Reduktionismus’ zu entkleiden. Es besteht bei Weber auch nicht mehr der (Marxsche) Anspruch, mit der Klassenlehre zugleich einen zentralen Baustein der Erklärung sozialen Wandels zu liefern. Aufgegeben wird sowohl der Aspekt des Antagonismus’ in den Klassenbeziehungen, auch der Versuch, einen in der kapitalistischen Industriegesellschaft notwendig sich verfestigenden Zusammenhang zwischen strukturell-ökonomischer Verursachung, individueller Lebens- und Bewusstseinslage und kollektiv-politischer Aktion herzustellen und zu begründen. Was Weber im Kern betreibt, ist der Versuch der Entzauberung der Produktionsverhältnisse »als dem primär bestimmenden Faktor sozialer Ungleichheit« (zum Folgenden s. Weber 1922: 177-180, 531-540, 285-314). So trifft man zunächst auf eine Abgrenzung des Klassenbegriffs von dem der »Stände« und »Parteien«: »Wir wollen da von einer ›Klasse‹ reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des (Güter- und Arbeits-)Markts dargestellt wird (›Klassenlage‹)« (531). Ist der Klassenbegriff so von der Seite der Produktion her und objektiv zu bestimmen, wird der Begriff des »Standes« von der Seite der Konsumtion und subjektiv definiert: «›Klassen‹ gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter, ›Stände‹ nach den Prinzipien ihres Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von ›Lebensführung‹« (538). Schließlich »… sind ›Parteien‹ primär in der Sphäre der ›Macht‹ zu Hause. Ihr Handeln ist auf soziale ›Macht‹, und das heißt: Einfluß auf ein Gemeinschaftshandeln gleichviel welchen Inhalts ausgerichtet« (539). Klassen, Stände und Partelen sind gleichermaßen »Phänomene der Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaft«, wobei (im Unterschied zu Marx) gilt: »›Ökonomisch bedingte‹ Macht ist natürlich nicht identisch mit Macht überhaupt« (531). Der Zusammenhang von Klassenlage, Lebensführung, Bewusstsein und (partei-) politischer Aktion wird weder als theoretisch gegeben noch als geschichtlich notwendig betrachtet: so können etwa »Vergesellschaftungen der Klasseninteressenten (Klassenverbände)« (177) zwar entstehen (Weber nennt ähnliche Entstehungsbedingungen wie Marx, 179, 532f ), sie müssen dies aber nicht. Zudem gliedert Weber den Klassenbegriff selbst näher auf. Da ist zum einen die Besitzklasse: »Besitzklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als Besitzunterschiede die Klassenlage primär bestimmen« (177). Typische Beispiele für »positiv privilegierte Besitzklassen« sind Besitzer von Menschen (Sklaven), Boden oder »Arbeitsanlagen und Apparaturen«, negativ privilegierte Besitzklassen sind etwa »Unfreie«, »Deklassierte« oder »Arme«. Dazwischen <?page no="224"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 224 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 225 225 Klasse stehen »Mittelstandsklassen« (z. B. Bauern, Handwerker, Beamte). Da ist zum anderen die Erwerbsklasse, die in modernen marktverfassten Gesellschaften an Größe und Bedeutung zunimmt: »Erwerbsklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen die Klassenlage primär bestimmen« (177). Typische Beispiele für positiv privilegierte Erwerbsklassen sind Unternehmer, aber auch »Arbeiter mit monopolistischen Qualitäten«, negativ privilegierte Erwerbsklassen sind gelernte, angelernte oder ungelernte Arbeiter. Auch hier existieren Mittelklassen (selbstständige Handwerker und Bauern, Beamte, Arbeiter mit ausnahmsweisen monopolistischen Qualitäten). Im Unterschied zu Marx entfaltet sich hier also eine sehr vielfältige Landschaft von Klassenlagen, die durch die Einbeziehung des Aspekts der sozialen Mobilität, auch hierin liegt eine Differenz zu Marx, allerdings wieder etwas strukturiert wird, indem bestimmte einzelne Klassenlagen, zwischen denen soziale Mobilität stattfindet, zu einer »sozialen Klasse« analytisch zusammengefasst werden. »Soziale Klasse« soll so « … die Gesamtheit derjenigen Klassenlagen heißen, zwischen denen ein Wechsel a. persönlich, b. in der Generationenfolge leicht moglich ist und typisch stattzufinden pflegt« (177). Als zeitgenössische »soziale Klassen« in diesem Sinne nennt Weber: »a. die Arbeiterschaft als Ganzes, je automatisierter der Arbeitsprozeß wird, b. das Kleinbürgertum und c. die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit …, d. die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten« (179). Angesichts dieser analytischen Ausdifferenzierung des Klassenbzw. Ständebegriffs lässt sich wohl mit einiger Berechtigung sagen, dass Max Weber hier einen der Grundsteine für jenen Zweig sozialwissenschaftlicher Ungleichheitsforschung gelegt hat, der sich, oft in heftiger Konkurrenz zur von Marx inspirierten Klassenanalyse, mit dem Konzept der sozialen Schicht und dem Ziel verbindet, weniger eine Theorie über Ursachen und Formen der Ungleichheit im sozialen Wandel, sondern eher einen konzeptionellen Rahmen für deren multidimensionale empirische Analyse vorzulegen. Weitere Klassenmodelle Offensichtlich ist die Klassenanalyse fortgeschrittener Industriegesellschaften bereits von der Begriffsbildung her ein weitaus komplexeres und kontinuierlich zu aktualisierendes Unterfangen, als dass hierfür allein die klassischen Konzepte herangezogen werden könnten. So haben sowohl Autoren der bürgerlichen wie auch der marxistischen Soziologie neuere Klassenmodelle vorgelegt (als Übersichten m. w. N. vgl. Burzan 2011; Hradil 1987: 64 ff; Herz 1983: 26ff; Kreckel 1983; Zerger 2000). Beispielhaft seien genannt: Wright (z. B. 1989) legte in mehreren Entwicklungsstufen ein neo-marxistisches Konzept vor, das Klassenverhältnisse nicht mehr ausschließlich auf den Nicht-/ Besitz von Produktionsmitteln, sondern zudem auf die Ressourcen Qualifikation und Organisationsmacht zurückführt. Sein Modell sieht damit auch verschiedene Zwischen- oder Mittelklassen, insgesamt bis zu 12 Klassen vor. Zudem verankert Wright sein Konzept insbesondere an der Frage der Emanzipation: »What sort of transformations are needed to eliminate economic oppression and exploitation within capitalist societies? « (Wright 2005). Goldthorpe (z. B. 1974) hat in ebenfalls mehreren Schritten ein Klassenmodell entwickelt, das häufig als »neo-weberianisch« bezeichnet wird, da es im Kern an der (Arbeits-)Marktperspektive und der relativen Stellung einer Person im Arbeitsmarkt- und Berufssystem anknüpft: das Beschäftigungsverhältnis (employment relations) und insbesondere dessen Aspekte »Qualifikation«, die damit verbundenen Lebenschancen (Goldthorpe 2010), sowie »Autonomie« in der Arbeitstätigkeit werden als konstituierende Elemente des sog. EGP-Klassenschemas (Erikson/ Goldthorpe/ Portocarero) herangezogen. Angesichts der Nähe zur Kategorie »Beruf« hat das »EGP-Schema« international vielfach Eingang in die amtliche Statistik gefunden (z. B. UK Population Census) und insgesamt die empirische Forschung befruchtet (vgl. z. B. Muntaner et al. 2010). Bourdieu überbrückt (insbesondere in seinem Werk »Die feinen Unterschiede«; 2008) die Weber’sche Trennung von »Klasse« und »Stand«, indem er zeigt, wie Produktion und Konsumption, das Materielle und das Symbolische, soziale Positionen und Lebensstile in einer modernen Theorie sozialer Klassen weiterführend integriert werden können (Weininger 2005). <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 226 226 Kollektiv Literatur Berger, Peter A., 1987: Klassen und Klassifikationen; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39, 59-85.- - Bourdieu, Pierre, 2008: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. (1979)--Burzan, Nicole; 2011: Soziale Ungleichheit, 4. Aufl., Wiesbaden- - Dahrendorf, Ralf, 1957: Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart.-- Giddens, Anthony, 1979: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt a. M.- - Goldthorpe, John H., 1974: The social grading of occupations, Oxford.-- Ders., 2010: Class analysis and the reorientation of class theory: the case of persisting differentials in educational attainment; in: The British Journal of Sociology 61, 311- 335.-- Herz, Thomas A., 1983: Klassen, Schichten, Mobilität, Stuttgart.- - Hradil, Stefan, 1987: Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft, Opladen.- - Kreckel, Reinhard (Hg.), 1983: Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen.- - Mauke, Michael, 1977: Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt a. M.- - Muntaner, Carles et al., 2010: Employment relations, social class and health; in: Social Science & Medicine 71, 2130- 2140.-- Ossowski, Stanislaw, 1962: Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein, Neuwied.-- Röder, Horst, 1972: Abschied vom Klassenbegriff? , Opladen.- - Stuke, Horst, 1976: Bedeutung und Problematik des Klassenbegriffs; in: Engelhardt, Ulrich et al. (Hg.): Soziale Bewegung und politische Verfassung, Stuttgart, 46-82.- - Weber, Max,1976: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen (1922).-- Wehler, Hans- Ulrich (Hg.), 1979: Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen.- - Weininger, Elliot B., 2005: Foundations of Pierre Bourdieu’s class analysis; in: Wright, Erik Olin (Hg.): Approaches to class analysis. Cambridge u. a., 82- 118.-- Wright, Erik Olin, 1989: Classes, London u. a.-- Ders., 2005: Conclusion: If »class« is the answer, what is the question? In: Ders. (ed.): Approaches to class analysis, Cambridge u. a., 180-192.-- Zerger, Frithjof, 2000: Klassen, Milieus und Individualisierung. Eine empirische Untersuchung zum Umbruch der Sozialstruktur, Frankfurt a. M./ New York. Gerhard Berger Kodierung Die Kodierung (engl. coding) oder »Verschlüsselung« ist Teil jeder empirischen Untersuchung. Es werden sprachliche Äußerungen in Texten, Interviews oder Antworten im Fragebogen Kategorien (Codes) zugeordnet. Der »Code« stellt eine Menge von wenigen Kategorien dar, denen die Inhalte eines umfangreicheren Textes oder einer Antwort zugeordnet werden. Das Material wird hierdurch geordnet und reduziert. Um die Zahl der Kategorien nicht zu groß werden zu lassen, empfiehlt es sich zu bestimmen, welche Arten von Inhalten erforderlich sind, um die Hypothesen zu testen und nur für diese (und »Sonstiges«) Kategorien zu bilden. Codes müssen drei Anforderungen erfüllen: Sie sollen eindimensional sein, die Kategorien sollen sich gegenseitig ausschließen, und sie sollen erschöpfend sein, weshalb man meist die Kategorie »Sonstiges« hinzunimmt. Jürgen Friedrichs Kohäsion Der Begriff Kohäsion (engl. cohesion) geht auf Lewins systemische Vorstellungen zurück und wurde von seinem Schüler Festinger als »the total field of forces which act on members to remain in the group« (164) in die Kleingruppenforschung eingebracht. In neuerer Zeit ist dieser Begriff von Hogg weiter differenziert worden, indem er die vorwiegend affektiven Bindungskräfte unterteilt in ein interpersonelles Niveau und ein Gruppenniveau, das über-individuelle Bindungen an die Gruppe als Gesamtheit beinhaltet. Gemessen werden kann die Kohäsion durch Beobachtung oder Befragung, wofür es jeweils mehrere Instrumente gibt. Kohäsion bewirkt ein positives Gruppenklima, größere Konformität, aber nicht notwendig eine bessere Aufgabenbewältigung (Forsyth). Literatur Festinger, Leon, 1950: Social Pressures in informal groups, New York, NY.- - Forsyth, Donelson R., 2010: Group dynamics, 5 th ed., Belmont, CA.- - Hogg, Michael A., 1992: The social psychology of group cohesiveness, New York, NY. Erich H. Witte Kollektiv Der Begriff Kollektiv (engl. collective, lat. collectivus, »angesammelt«) gehört in der Soziologie zur Familie der Gruppenbegriffe; häufig undifferenziert synonym mit »soziale Gruppe« (Team, Arbeitsgruppe, Gemeinschaft u. a.) verwendet. In seiner minimalen Bedeutung steht der Terminus Kollektiv für das - soziologisch zentrale - Problem des Zusamwww.claudia-wild.de: <?page no="226"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 226 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 227 227 Kollektiv menwirkens einer Mehrzahl von Individuen und/ oder anderen Akteuren; weitergehende definitorische Eingrenzungen ergeben sich meistens aus dem semantischen Feld oder den theoretischen Kontexten, in denen Kollektiv auftritt. Im Unterschied zum Begriff des »kollektiven Verhaltens oder Handelns« unterstreicht Kollektiv den Aspekt der räumlichen und zeitlichen Stabilität kollektiver Zusammenhänge (»soziale Gebilde«). Im Anschluss an L. von Wiese, H. Becker, Fl. - Znaniecki und T. Parsons hat R. K. Merton 1949 mit der definitorischen Unterscheidung von »Kollektivitäten«, »sozialen Gruppen« und »sozialen Kategorien« einen einflussreichen Vorschlag zur Präzisierung des Sprachgebrauchs gemacht. Kollektivitäten sind danach Mehrheiten von Personen, die infolge geteilter gemeinsamer Werte Solidaritätsempfindungen untereinander aufweisen und die moralische Verpflichtung zur Erfüllung von Rollenerwartungen entwickeln. Von sozialen Gruppen sollte man nach Merton sprechen, wenn Kollektivitäten neben den erwähnten zusätzlich das Kriterium der sozialen Interaktion zwischen ihren Mitgliedern aufweisen. In Unterscheidung von Kollektivitäten und sozialen Gruppen sind soziale Kategorien Aggregate von Statuspositionen, deren Inhaber gleiche soziale Merkmale (wie Geschlecht, Alter, Familienstand, Einkommen, usw.) aufweisen, aber nicht untereinander interagieren müssen und nicht notwendig über einen distinkten gemeinsamen Normenkanon verfügen. Wie Merton ergänzt, können soziale Kategorien durch Mobilisierungsprozesse in Kollektivitäten und soziale Gruppen übergehen (vgl. Merton 1968: 353f ). R. K. Mertons Begriffspräzisierung ist von den theoretischen Grundannahmen der funktionalistischen Soziologie seiner Zeit informiert (vgl. Parsons 1951: 41); sie tendiert stark zur Identifikation von »Kollektivität« mit »Großgruppe«. Eine etwas andere Verwendungsweise von Kollektiv lässt sich an H. Essers einflussreichem Versuch der Systematisierung einer erklärenden individualistischen Soziologie illustrieren. Esser unterscheidet als Erklärungsgegenstände der Soziologie grundsätzlich »soziale Gebilde« und »soziale Prozesse«, und differenziert Letztere weiter in Aggregate, Märkte, kollektive Akteure, soziale Beziehungen, einfache Sozialsysteme, Gruppen, Organisationen, korporative Akteure und Gesellschaften. Zentrales Unterscheidungskriterium bei dieser Aufzählung ist das als Explanans-Explanandum-Relation konzipierte Verhältnis der (Einzel-)Individuen zu kollektiven Phänomenen (sozialen Gebilden). Esser thematisiert drei Formen dieses Verhältnisses. Zum einen das Verhalten einzelner, unverbundener Individuen im Aggregat. Die Akteure bilden hierbei »auch ein Kollektiv, dieses ist jedoch unorganisiert und hat als solches keine unmittelbare Auswirkung auf das Verhalten der Einzelpersonen« (Esser 1993: 85). Zum anderen das Verhalten von Individuen als Mitglieder eines sozialen Kontextes. Neben Gesamtgesellschaften (Staaten) und Organisationen wären hierunter u. a. auch Gruppen zu subsumieren, die als »Kollektive von Akteuren mit partiell gemeinsamen Interessen und Orientierungen, mit gelegentlichen Kontakten untereinander, ohne eine formelle Mitgliedschaft und ohne eine formelle Regelung des Handelns in der Gruppe« (a. a. O.: 86) definiert werden. Schließlich kennt Esser die Form des sozialen Gebildes als ein »handelndes Kollektiv«. Kollektive Akteure sind für Esser »Aggregate, die ›handeln‹, so ›als ob‹ sie ein gemeinsames Ziel hätten. Das ›Handeln‹ solcher kollektiven Akteure ist nichts als die Folge des unkoordinierten, aber gleichgerichteten Handelns der Individuen mit ähnlichen Interessen« (ebd.). Ausgeschlossen ist bei dieser methodologisch individualistischen Position die Annahme oder das Problem einer kollektiven Intentionalität (vgl. Schmid/ Schweikard 2009), die sich in der auf Emile Durkheim (»Kollektivbewusstsein«, »kollektive Repräsentationen«) zurückgehenden kollektivistischen Tradition in der Soziologie zwangsläufig stellt. Eine normativ und ideologisch hochgradig aufgeladene Fassung erfuhr Kollektiv in den realsozialistischen Gesellschaften, so auch in der DDR (»sozialistisches Kollektiv«). Unter Voraussetzung der falschen Annahme, mit der Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln die wesentliche Quelle antagonistischer gesellschaftlicher und sozialer Konflikte beseitigt zu haben, wurde das strukturell primär als Kleingruppe konzipierte Kollektiv zu einem sozialen Ort der Ausprägung einer neuen Qualität der sozialen Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern und damit von »Kollektivität« als »gesamtgesellschaftlicher Qualität« stilisiert. Diese neue Qualität sozialer Beziehungen bzw. Kollektivität wurden in der Regel mit den Formeln »kameradschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe«, »sozialistische Bewusstheit«, »Atmosphäre des Vertrauens, der Zusammengehörigkeit, der Aufmerksamkeit und Verantwortung« beschrieben. Das soziawww.claudia-wild.de: <?page no="227"?> Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 228 228 Kolonialismus listische Kollektiv wurde als sozialer Kontext der Persönlichkeitsentwicklung (von der Kinderkrippe bis zum sozialistischen Arbeitskollektiv), aber auch der Entwicklung von »sozialistischem Leistungsverhalten«, d. h. von Leistungsmotivation, Effizienz und politischer Loyalität, angesehen (vgl. Autorenkollektiv 1977). In der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) erfährt der Terminus Kollektiv eine sozialtheoretisch bedeutsame Erweiterung, indem neben menschlichen Akteuren auch dingliche und diskursive Entitäten in das Problem des Zusammenwirkens handlungsfähiger Akteure einbezogen werden. Kollektiv steht hierbei für eine theoretische Strategie der Entgrenzung unseres herkömmlichen Verständnisses des Sozialen (Latour 2010; Callon/ Law 1997; Kneer et al. 2008). Literatur Autorenkollektiv (Hg.), 1977: Wörterbuch der marxistischleninistischen Soziologie, Berlin (Ost).- - Callon, Michel; Law, John, 1997: After the Individual in Society: Lessons on Collectivity from Science, Technology and Society; in: The Canadian Journal of Sociology/ Cahiers canadiens de sociologie 22, 165-182.- - Esser, Hartmut, 1993: Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt a. M.-- Hansen, Klaus P., 2009: Kultur, Kollektiv, Nation, o. O.- - Kneer, Georg et al. (Hg.), 2008: Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.-- Latour, Bruno, 2010: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, 2. Aufl, Frankfurt a. M.- - Merton, Robert K., 1986: Social Theory and Social Structure, New York (Enlarged Edition).- - Parsons, Talcott, 1951: The Social System, New York.- - Schäfers, Bernhard (Hg.), 1994: Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen, 2. Aufl., Heidelberg.- - Schmid, Hans Bernhard; Schweikard, David P. (Hg.), 2009: Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a. M. Frank Ettrich Kolonialismus Der moderne Kolonialismus (engl. colonialism) bezeichnet die Ausdehnung staatlicher Souveränität auf meist überseeische Gebiete im Zuge der europäischen Expansion seit dem 16. Jh. Kol. Herrschaft bezeichnet ein spezifisches Gewaltverhältnis, das ökonomische Ausbeutung und den Überlegenheitsanspruch der Kolonisatoren einschließt. Die europäische Kolonialexpansion erfolgte in mehreren Schüben. Neben flächendeckenden spanischen Eroberungen in Süd- und Zentralamerika ab 1492 stand zunächst die portugiesische Handelsexpansion im Indischen Ozean. Es folgten Siedlerkolonien in Nordamerika, im südlichen Afrika und später in Ozeanien. Seit dem späten 18. Jh. überschnitten sich die Unabhängigkeitsbewegungen in Amerika mit neuen Kolonisierungsschüben. Neben der britischen Expansion in Indien stand die »Öffnung« Chinas und im letzten Drittel des 19. Jh.s die flächendeckende Kolonisierung Afrikas, Zentralasiens und Ozeaniens. Das Territorialstaatsprinzip war damit universal, aber asymmetrisch durchgesetzt. Ihren Höhepunkt fand die europäische Kolonialexpansion 1919 mit dem auf der Versailler Konferenz beschlossenen Mandatssystem; es folgten mehrere Schübe der Entkolonisierung, die in den 1990er Jahren zu einem formalen Abschluss kam. Die koloniale Expansion war integrales Moment der Entstehung des auf das westliche Europa zentrierten kapitalistischen Weltmarktes. In ihrem Zentrum stand die Inwertsetzung der Ressourcen der Kolonien: tropische Produkte, mineralische Rohstoffe und Arbeitskraft, daneben der Absatz industrieller Massenprodukte. Diesen Zielsetzungen wurde die Form kolonialer Beherrschung angepasst. Bis weit in die Mitte des 19. Jh.s spielte für Großbritannien das »informal empire« eine wesentliche Rolle; die Kontrolle der Kolonien nahm die Formen unmittelbarer staatlicher Verwaltung einerseits, indirekter Herrschaft unter Nutzung transformierter indigener Institutionen andererseits an. Die koloniale Herrschaft war systematisch auf Gewaltanwendung aufgebaut. Dies gilt für die Mobilisierung der Arbeitskraft der Kolonisierten in Form von Sklaven-, Kontrakt-, Wander- und Zwangsarbeit ebenso wie für ihren Ausschluss von natürlichen Ressourcen einschließlich Land. Systematische Landnahme kennzeichnete insbesondere die Siedlerkolonien und gipfelte in vielen Fällen in Formen des Völkermords. Hinzu kommen massive Bevölkerungsverschiebungen durch den transatlantischen Sklavenhandel, aber auch spätere Formen der Kontraktarbeit. Die aktuelle Debatte unterstreicht, dass es verfehlt ist, die Problematik des Kolonialismus zeitlich oder regional einzugrenzen, ihn etwa auf eine Epoche des »Imperialismus« und die ehemaligen Kolonien zu beschränken. Vielmehr handelt es sich um <?page no="228"?> www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 228 www.claudia-wild.de: Endruweit_Trommsdorff_Burzan__Woerterbuch_der_Soziologie_[Druck-PDF]/ 03.12.2013/ Seite 229 229 Kommunikationsund-Mediensoziologie eines der zentralen Merkmale und Probleme der gesellschaftlichen Moderne. Der Kolonialismus hat tiefe gesellschaftliche Spuren hinterlassen, die auch nach der formalen Unabhängigkeit Bestand haben oder deutliche Nachwir kungen zeigen. Frühzeitig wurden dauerhafte strukturelle Abhängigkeiten als Neokolonialismus diskutiert. Die daran anschließende Diskussion schloss insbesondere auch viele Formen und Auswirkungen der Entwicklungszusammenarbeit ein. Die neuere postkoloniale Debatte geht wesentlich weiter. Sie betont den übergreifenden Wirkungszusammenhang eines globalgeschichtlichen Prozesses, in dem Westeuropa nicht länger die Akteurs- und der Kolonialsphäre die Opferrolle zugeschrieben wird. Zugleich werden die andauernden Folgen des Kolonialismus für alle modernen Gesellschaften betont, zu denen nicht zuletzt große Teile des modernen Migrationsgeschehens zählen. Die daraus folgende konzeptionelle Dezentrierung der Prozesse der Kolonisierung wie der heutigen postkolonialen Situation kann zugleich als Kritik an der nach wie vor überwiegenden Ausrichtung der Sozialwissenschaften gelesen werden, die in der Konzentration auf Westeuropa und Nordamerika die »Provinz Europa« (Chakrabarty) noch längst nicht hinter sich gelassen haben. Literatur Chakrabarty, Dipesh, 2000: Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference, Princeton (dt. Ausg. i.E.)- - Cooper, Frederick, 2005: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Cambridge (dt. Ausg. i.E.)- - Moses, Dirk (ed.), 2008: Empire, colony, genocide. Conquest, occupation, and subaltern resistance in world history, New York, NY. Reinhart Kößler Kommunikationsund-Mediensoziologie Die Kommunikationssoziologie (engl. sociology of communication) ist eine spezielle Soziologie, die den Einfluss von Kommunikation auf die Gesellschaft oder Teile davon untersucht sowie den Einfluss der Gesellschaft oder Teilen davon auf die Kommunikation. Mediensoziologie (engl. sociology of [mass] media) ist ein Spezialfall der Kommunikationssoziologie, wobei der soziale Einfluss von bzw. auf Medien, also den Trägern von Kommunikation, ebenso untersucht wird wie die Einflüsse der Medien auf das soziale Leben und auf die Gesellschaft. Grundbegriffe (Massen-)Kommunikation: Kommunikation ist eine Form sozialen Handelns, durch die der Handelnde (Sender, Kommunikator, Adressant) mit Hilfe eines Kommunikationsmittels (Mediums) Mitteilungen an einen oder mehrere Empfänger (Rezipienten, Adressaten) leitet. Kommunikation kann verbal über gesprochene oder geschriebene Sprache oder nonverbal über Gestik, Mimik, Bilder oder andere nicht-sprachliche Zeichen und Symbole erfolgen. Kommunikation ist vermutlich der häufigste soziale Prozess überhaupt. Sie ist Gegenstand verschiedener Wissenschaften: z. B. der (Sozial-)Psychologie, Sprachwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Politikwissenschaften, Kriminologie, Ethnologie und Soziologie. Die Vielfältigkeit der Kommunikation wird aus folgender Unterscheidung nach den Beteiligten deutlich: 1) intrapersonal: die soziologisch uninteressante, aber psychologisch und psychiatrisch wichtige »Unterhaltung« des Senders mit seinem Selbst (z. B. verstärkende oder abschwächende Gedankenargumente bei Krankheiten oder Konflikten); 2) interpersonal: der soziologisch wichtigste Fall der Kommunikation von sich von Angesicht zu Angesicht Gegenüberstehenden (Face-to-face-Kommunikation); 3) Gruppenkommunikation, bei der sich auf Sender- und Empfängerseite in der Regel kleinere Gruppen gegenüberstehen, sodass zum angemessenen Verständnis der Kommunikation auch gruppendynamische Prozesse als Kommunikationsbedingungen in Betracht kommen; 4) Massenkommunikation, bei der relativ wenige Personen auf der Senderseite relativ vielen, meist dem Sender im Einzelnen unbekannte Personen auf der Empfängerseite gegenüberstehen und die ausnahmslos auf Medien angewiesen sind; 5) die zunehmend interessante extrapersonale Kommunikation, bei der sich menschliche Sender an nicht-menschliche Empfänger richten, z. B. beim Umgang mit Tieren, insbesondere aber bei der Interakti