Handbuch der Soziologie
0917
2014
978-3-8385-8601-4
978-3-8252-8601-9
UTB
Jörn Lamla
Henning Laux
David Strecker
Hartmut Rosa
Das neue Referenzwerk der Soziologie gibt einen systematischen Überblick über den Stand der Forschung und die aktuellen Diskussionen im Fach. International renommierte Soziologinnen und Soziologen berichten über die historischen Grundlagen, methodischen Werkzeuge und grundbegrifflichen Weichenstellungen. Theoretische Grundpositionen werden ebenso dargestellt wie klassische Untersuchungsfelder und die aktuellen Herausforderungen der Gesellschaftsanalyse.
Das Fach Soziologie wird in seiner ganzen Pluralität und Breite vorgestellt. Dabei folgt die Gliederung des Bandes einer doppelten Zielstellung: Einerseits wird die Vielfalt soziologischen Denkens ausführlich dargestellt und beleuchtet, andererseits werden vorhandene Gemeinsamkeiten und Wahlverwandtschaften zwischen (angeblich) verschiedenen Kategorien, Lagern und Paradigmen stärker hervorgehoben. Das Handbuch erlaubt so einen guten Einblick in das soziologische Arbeiten und Wissen, ohne die vorhandenen Differenzen, Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zu verstellen. Es richtet sich an Lernende, Lehrende und Forschende im Bereich der Sozialwissenschaften.
<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> Jörn Lamla / Henning Laux Hartmut Rosa / David Strecker (Hg.) Handbuch der-Soziologie UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> Univ. Prof. Dr. Jörn Lamla, Universität Kassel, Fachgebiet Soziologische Theorie. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Gesellschaftstheorie, Soziologie des Politischen und Ökonomischen, insbesondere Konsumgesellschaft und Demokratie, Privatheit in der Digitalen Welt und Qualitative Internetforschung. Henning Laux, Dr. phil, wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Bremen, Leiter des DFG-Projekts »Desynchronisierte Gesellschaft«. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Gesellschaftstheorie, Politische Soziologie, Zeitsoziologie, Wissenschafts- und Technikforschung. Univ. Prof. Dr. Hartmut Rosa, Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie und Sprecher der DFG-geförderten Kollegforschergruppe 1642 »Postwachstumsgesellschaften« an der Friedrich-Schiller- Universität in Jena; seit Oktober 2013 auch Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Moderne, Zeitsoziologie, Kommunitarismus. David Strecker, Dr. phil., Vertretung der Professur für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Gesellschaftstheorie, Politische Soziologie, Politische Theorie und Ideengeschichte, Politische Philosophie, insbesondere Sklaverei in Vergangenheit und Gegenwart, Macht und Gewalt. Kritische Theorie. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Lektorat: Marit Borcherding, München Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Druck: CPI-- Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 8601 ISBN 978-3-8252-8601-9 <?page no="4"?> 5 Inhalt Einleitung 7 Teil I: Der soziologische Blick 23 Die historischen Quellen soziologischen Denkens: Aus welchen Traditionen entwickelt sich die Soziologie? (Wolfgang Eßbach) 25 Wissenschaftstheoretische Positionen: Wie verhält sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand? (Georg Kneer) 45 Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung: Wie forschen Soziologinnen und Soziologen? (Alexandra Krause / Henning Laux) 61 Teil II: Grundbegriffe und fundamentale Kontroversen der Soziologie 81 Natur versus Kultur: Was ist der Gegenstand der Soziologie? (Gesa Lindemann) 83 Atomismus versus Holismus: Wie entsteht das Soziale? (Ingo Schulz-Schaeffer) 99 Planung versus Evolution: Wie verändert sich das Soziale? (Uwe Schimank) 116 Gemeinschaft versus Gesellschaft: In welchen Formen instituiert sich das Soziale? (Lars Gertenbach) 131 Teil III: Gesellschaftstheoretische Grundpositionen 147 Strukturfunktionalismus: Talcott Parsons (Axel Honneth / Kristina Lepold) 149 Theorie sozialer Systeme: Niklas Luhmann (Wolfgang Ludwig Schneider) 162 Kritische Theorie: Jürgen Habermas (William Outhwaite) 180 Poststrukturalismus: Michel Foucault (Sina Farzin) 197 Praxistheorie: Pierre Bourdieu (Robin Celikates) 213 Theorien rationaler Wahl: James S. Coleman und Hartmut Esser (Clemens Kroneberg) 228 Theorie der Strukturierung: Anthony Giddens (Jörg Oberthür) 244 Soziologie der Existenzweisen: Bruno Latour (Henning Laux) 261 <?page no="5"?> 6 Inhalt Teil IV: Untersuchungsfelder der Soziologie 281 Körper, Geschlecht und Sexualität (Paula-Irene Villa) 283 Sozialisation, Familie und Bildung (Hans-Peter Müller / Erika Alleweldt / Jochen Steinbicker) 301 Recht, Norm und Sicherheit (Susanne Krasmann) 316 Wirtschaft, Arbeit und Konsum (Christoph Deutschmann) 333 Kultur, Medien und Technik (Scott Lash) 350 Wissen, Sprache und Macht (Sven Opitz / Ute Tellmann) 368 Nationalstaat, Demokratie und Solidarität (Hauke Brunkhorst) 386 Prekarität, Achsen der Ungleichheit und Sozialstruktur (Klaus Dörre) 397 Teil V: Aktuelle Herausforderungen für die Soziologie 417 Ökologie: Klimawandel, Knappheiten und Transformationen im Anthropozän (Bernd Sommer / Harald Welzer) 419 Gewalt: Krieg, Terror und Entzivilisierung (David Strecker) 433 Demographie: Altersstruktur, Mobilität und Multikulturalismus (Stephan Lessenich) 450 Eskalation der Nebenfolgen: Kosmopolitisierung, Beschleunigung und globale Risikosteigerung (Ulrich Beck / Hartmut Rosa) 465 Sinnverlust: Religion, Moral und postmoderne Beliebigkeit (Christel Gärtner) 475 Öffentlichkeit: Soziologie, Zeitdiagnose und Gesellschaftskritik (Jörn Lamla) 491 Sachregister 507 Personenregister 517 <?page no="6"?> 7 Jörn Lamla, Henning Laux, Hartmut Rosa & David Strecker Einleitung Das Verfassen von Hand- und Lehrbüchern der Soziologie bietet dem Fach eine gute Gelegenheit, seinen angesammelten Wissensbestand zu bilanzieren, seinen Ort innerhalb der Forschungs- und Disziplinen-Landschaft zu bestimmen sowie seine historische Entwicklung und nicht zuletzt seine gesellschaftliche Bedeutung kritisch zu reflektieren. Und wenn es sich-- wie im vorliegenden Fall-- um das Gemeinschaftswerk einer breiten Autorinnen- und Autorenschaft handelt, ist damit in der Disziplin zudem die Chance kollektiver Selbstverständigung oder Neuversammlung verbunden. Zugleich zeigt dieser Buchtypus eine fortgeschrittene Institutionalisierung des Faches und damit einhergehende Kanonisierung soziologischer Forschungsthemen und Lehrinhalte an, die von Zeit zu Zeit der Überprüfung bedürfen. Gründliche Überarbeitungen oder stetige Erweiterungen der vorhandenen, teils exzellenten Lehr- oder Handbücher bieten dafür die eine Möglichkeit; das Vorlegen eines neuen Vorschlags demgegenüber die andere. Letzteres ist die deutlich freiere Option, ist sie doch erheblich weniger durch die Rücksichtnahme auf einmal entworfene Konzepte, tradierte Schwerpunktsetzungen oder eingespielte theoretische Deutungen gebunden. Als der Verlag vor einigen Jahren mit dem Anliegen auf uns zukam, einen solchen Prozess einzuleiten, also ein neues Handbuch für das Fach Soziologie zu konzipieren und herauszugeben, sind wir nach eingehender Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass sich diese Mühe lohnen könnte, dass durchaus noch Bedarf an einem weiteren Versuch der Systematisierung des soziologischen Wissens- und Forschungsstandes besteht. Zwar sind im vergangenen Jahrzehnt nicht wenige soziologische Hand- und Lehrbücher erschienen, denen es mit verschiedenen Zugängen- - über klassische Theorien, exemplarische Schlüsseltexte, spezielle Forschungsfelder oder alphabetische Stichwortsammlungen-- durchaus gelungen ist, mehr Übersicht ins Fach zu bringen. Verloren gegangen ist aber der Ansatz, die Soziologie insgesamt, in der ganzen Vielfältigkeit ihrer aktuellen Denk- und Arbeitsweisen, in einem einzigen Buch sichtbar werden zu lassen. Dem vorliegenden Handbuch der Soziologie liegen der Wunsch und die Idee zugrunde, diese Lücke zu schließen und einen Gesamtüberblick über den gegenwärtigen Forschungsstand des Faches anzubieten, der nicht auf die kanonische Schließung oder die schlichte Verwaltung des breiten Sachverstandes abzielt, sondern darauf, den offenen, lebendigen, darum aber keineswegs konturlosen Charakter soziologischen Denkens und soziologischer Diskussion zu präsentieren. Deshalb haben die Herausgeber dem Handbuch einen konsequent problemorientierten Zugang verordnet. Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, sich mit zentralen Fragen und Herausforderungen der Disziplin auseinanderzusetzen und jeweils zu den Rändern, den umkämpften Territorien ihrer Fachgebiete oder Forschungsschwerpunkte vorzustoßen. In den ersten Teilen sind deshalb überwiegend Spannungsfelder und Konfliktlinien des soziologischen Diskurses die Grundlage einzelner Kapitel. Für den dritten Teil haben wir eine Vergleichsfolie entwickelt, um die Herausforderungen einer umfassenden Gesellschaftstheorie in allen Beiträgen präsent zu halten. Und die letzten beiden Teilen des Buches bündeln Forschungsfelder und Themencluster, <?page no="7"?> 8 Einleitung die es unumgänglich machen, einerseits den jeweiligen Forschungsstand zu referieren und zu reflektieren, andererseits aber zugleich die etablierten Sprachspiele einzelner soziologischer Sektionen, Schulen oder epistemischen Zirkel zu problematisieren, wenn nicht sogar zu durchkreuzen. Das Fach soll hier in seiner ganzen Pluralität und Breite zur Sprache kommen und vorgestellt werden. Auf diese Weise glauben wir, der doppelten Zielsetzung dieses Handbuches gerecht zu werden. Denn wir wollen einerseits ein systematisches Überblickswerk für Lehrende und Studierende schaffen und andererseits ein Arbeitsbuch vorlegen, das dazu einlädt, Anschlüssen, Kontroversen und Verbindungslinien zwischen den vielfältigen Themen und Ansätzen nachzugehen, um den Tendenzen einer wachsenden Fragmentierung des Faches entgegen zu wirken. Die Überlegungen, von denen wir uns dabei haben leiten lassen, möchten wir vorab in knapper Form darlegen. Dies erscheint uns notwendig, weil der Gliederung und Aufteilung des Handbuches Auswahlentscheidungen zugrunde liegen, die naturgemäß immer auch anders möglich gewesen wären. Es gibt gewiss weitere Forschungsthemen oder Theorieparadigmen, die nicht hinreichend gewürdigt werden. Doch ging es uns bei der Anlage dieses Handbuches nicht primär darum, enzyklopädische Vollständigkeit zu erreichen oder absolute Neutralität gegenüber der theoretischen Paradigmenvielfalt zu demonstrieren. Wir wollen vielmehr bewusst ein Statement darüber abgeben, wie wir das Fach Soziologie und seine zentralen Aufgaben, Einsichten, Leistungen und Desiderate gegenwärtig und in naher Zukunft sehen. Für fatal hielten wir es, vor dessen Komplexität und Heterogenität zu kapitulieren und auf jegliche Syntheseansprüche zu verzichten, indem wir uns auf alphabetische Stichwortsammlungen oder ähnlich diskursarme Registraturen der Fachkultur zurückziehen. Keineswegs wird die Soziologie hier aus der Sicht einer bestimmten Theorieschule dargestellt und beobachtet. Die Vielfalt ihrer paradigmatischen Zugänge sehen wir vielmehr als eine wesentliche Stärke dieses Faches an. Ausgehend von ihren verschiedenen Perspektiven und Zugangspunkten bildet aber auch die ungewisse und offene Suche nach ihrer (verlorenen? ) Einheit ein Motiv der Beiträge. Diese Ausrichtung gilt bereits für die Gliederung in fünf Hauptteile, denen jeweils bestimmte Orientierungsfragen zugrunde liegen, die aus unserer Sicht für eine gemeinsame Standortbestimmung des Faches leitend sein sollten. Diese Fragen betreffen zunächst die historischen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Wurzeln und Grundlagen, von denen jegliches soziologische Forschen und Denken seinen Ausgang nimmt und die in ihrer Breite und Vielfalt zu kennen und zu reflektieren wir für ein professionelles Selbstverständnis als unumgänglich erachten (Teil I). Um sodann die Komplexität des Faches systematisch und strukturiert entfalten zu können, erschien es uns sinnvoll, zunächst nach den fundamentalen Kontroversen und grundlegenden Alternativen zu fragen, die sich in der soziologischen Forschung und Diskussion immer wieder zeigen und reproduzieren (Teil II). Vor deren Hintergrund haben sich verschiedene Theorieansätze herausgebildet, die für das multiparadigmatische Bild der heutigen Soziologie verantwortlich sind. Sie verweisen unserer Ansicht nach aber noch immer auf ein gemeinsames Set von Bezugsproblemen, das in seiner Konsequenz auf die Entfaltung eines umfassenden sozial- und gesellschaftstheoretischen Programms hinzielt. Wir haben uns daher für die Auswahl von acht theoretischen Grundpositionen der Soziologie entschieden, die sich in unterschiedlicher Weise, aber jeweils vollständig an der allgemeinen Aufgabenstruktur eines solchen Programms abarbeiten (Teil III). Davon zu unterscheiden sind all jene Forschungen, die überwiegend mit Bereichstheoremen arbeiten und sich um spezielle Sachprobleme und Themenfelder der Soziologie kümmern. Hier haben wir thematische Cluster gebildet, die es den Autorinnen und Autoren einerseits ermöglichen sollten, über die disziplinären Subwelten einzelner Sektionen der Standesorganisation oder traditionsreicher spezieller Soziologien hinaus- und auf spannende Fragen an inner- und interdisziplinären Kreuzungspunkten einzugehen, andererseits sollen auf diesem Wege zugleich neue Kategorien für die kollektive Wissensorganisa- <?page no="8"?> Einleitung 9 tion im Fach gesucht, gefunden, erprobt und reflektiert werden (Teil IV). Vergleichbare Begriffsfelder haben wir schließlich auch für die Beiträge des letzten Teils formuliert, denen allerdings jeweils eine zentrale aktuelle Herausforderung für die innovative Weiterentwicklung der Soziologie vorangestellt worden ist: Ökologie, Gewalt, Demographie, Nebenfolgeneskalation, Sinnverlust und Öffentlichkeit zeigen als Stichworte unserer Zeit Probleme an, die das Fach Soziologie im 21.-Jahrhundert vor ernsthafte Bewährungsproben stellen (Teil V). Im Folgenden werden wir die orientierungsleitenden Fragen dieser fünf Teile in ihrer Systematik näher ausführen und damit zugleich einen Überblick über den Aufbau des Handbuches und seine 29 Beiträge geben. Den Autorinnen und Autoren, die sich mit viel Energie, Sachverstand, Neugierde und vor allem Geduld an diesem umfangreichen Projekt beteiligt haben, wollen wir an dieser Stelle ganz herzlich danken! Ihre scharfsinnigen Analysen und kompetenten Darstellungen gewähren aus unserer Sicht den Forschenden, Lehrenden, Lernenden und allen an der Soziologie sonst noch interessierten Leserinnen und Lesern einen guten Einstieg und Überblick. Zugleich ermöglichen sie tiefe selektive Einblicke in die Struktur des soziologischen Arbeitens und Wissens, ohne die vorhandenen Differenzen, Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zu verstellen, aber auch ohne Gegensätze und Unterschiede in den Positionen künstlich zu reproduzieren, so als wäre diese Heterogenität und Stimmenvielfalt alles, was Soziologie heute noch zu bieten hat. Dass das Fach Soziologie auch weiterhin von einer beachtlichen Kohärenz in den und hinter den Kontroversen und Gegensätzen geprägt ist, zeigen die Beiträge dieses Bandes unseres Erachtens sehr klar. 1. Warum Soziologie? Die unter der Überschrift »Der soziologische Blick« versammelten Texte im ersten Teil des Handbuches sind so angelegt, dass sie als eine breite und allgemeinverständliche Einführung in die Grundlagen des soziologischen Denkens schlechthin gelesen werden können. Die Fundamente des Faches sind erstens historischer, zweitens wissenschaftstheoretischer und drittens methodologischer Natur, und auch wenn sich diese drei Aspekte nicht immer eindeutig voneinander trennen lassen, erweist es sich doch als hilfreich für das Verständnis des Faches, zunächst danach zu fragen, wie sich die Soziologie als akademische Disziplin historisch herausgebildet und entwickelt hat. Die konsequente Beschäftigung mit den Anfängen soziologischen Denkens und Forschens, d. h. auch mit den praktischen Situationen und gesellschaftlichen Konstellationen, in denen bestimmte soziologische Theorien, Operationsweisen und Lösungsmuster aufgekommen sind, ermöglicht dem Fach, sich bewusst der historischen Kontingenz seiner Problemstellungen und Zugangsweisen zu stellen. Am Beginn einer problemorientierten Rekonstruktion und Darstellung der Soziologie steht die Einsicht, dass sie als Disziplin selbst tiefgreifend in praktische gesellschaftliche Interdependenzen und Zusammenhänge, Krisenwahrnehmungen und Machtverhältnisse verwickelt ist. Doch was kann Soziologie über Gesellschaft wissen, wenn sie selbst nur ein Teil dieser Gesellschaft ist? Was ist die Basis dieses Wissens-- und wie wirkt sie auf ihren Gegenstand, die Gesellschaft bzw. das soziale Leben zurück? Es kann als zentrales Motiv und grundlegendes Problem erkenntnistheoretischer Reflexionen innerhalb der Soziologie angesehen werden, an dieser historischen Kontingenz nicht zu verzweifeln, sondern daraus spezifisch sozialwissenschaftliche Tugenden zu machen und systematisch zu entfalten, die ihr dennoch wissenschaftlichen Halt bieten können. Nach der Behandlung dieser ›epistemologischen‹, auf die Bedingungen der Möglichkeit soziologischen Wissens gerichteten Frage geht das Handbuch im dritten Schritt auf die nicht minder komplexe und kontroverse Frage ein, wie, das heißt mit <?page no="9"?> 10 Einleitung welchen Erkenntnismitteln, Forschungsinstrumenten und Methoden gesichertes oder zumindest legitimierbares soziologisches Wissen schließlich geschaffen werden kann- - wie soziologische Forschung also zu betreiben ist. Auf dieser Ebene der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Forschungsmethoden, insbesondere der folgenreichen historischen Gabelung zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung, wird die Bewahrung der disziplinären Einheit besonders virulent. Die Beschäftigung mit dem Problemfeld der Methodologie ist auch deshalb erforderlich, weil die Wahl der Techniken und methodischen Arbeitsweisen den soziologischen Gegenstand nicht unberührt lässt, sondern folgenreich beeinflusst und formt. Wolfgang Eßbach hat sich der ersten Frage angenommen. Er rekonstruiert in seinem historisch ausgerichteten Beitrag die soziokulturellen Ereignisse und ideengeschichtlichen Traditionsbestände, aus denen sich die Soziologie im Laufe des 19.- Jahrhunderts herausgebildet hat und die der mit den »soziologischen Klassikern« assoziierten Gründungsphase des Faches somit noch vorausgehen. Dies wirft ein neues Licht auf die Frage, in welcher Situation die Soziologie entsteht und auf welche Problemlage sie genau reagiert. Der Beitrag informiert zugleich darüber, welche Diskurse und Personen zur Gründung, Etablierung und Weiterentwicklung des Faches beigetragen haben, und auf welche Hindernisse, Widerstände und Veränderungen sie dabei gestoßen sind. Dabei wird ebenfalls sichtbar, welche gesellschaftliche Funktion und Rolle die Soziologie zu übernehmen vermag, mit welchem Anspruch sie auftritt und wie sie sich mit anderen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Ökonomie, den Naturwissenschaften oder der Sozialphilosophie verbindet oder von ihnen abgrenzt. Besonderes Augenmerk legt Eßbach in diesem Zusammenhang auf die Differenz zwischen ordnungsstabilisierenden und emanzipatorischen, auf einen Gesellschaftswandel abzielenden Kräften. Beide haben großen Einfluss auf die entstehende Soziologie und zeigen, wie tief diese Disziplin in das Machtgefüge der Gesellschaft verflochten ist. Georg Kneer wendet sich im Anschluss daran dem zweiten Problemkomplex zu, indem er die grundlegenden wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen präsentiert und diskutiert, an denen sich das Fach von seiner Gründungsphase bis heute abarbeitet. Welche Rolle spielt die Soziologie bei der Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches? Kann sie ›neutrales‹, objektives Wissen darüber erwerben? In welchem Sinne gibt es Gesellschaft überhaupt, inwiefern gibt es Klassen oder ›die Wirtschaft‹? Entsprechen diesen Begriffen Dinge in der Wirklichkeit, wie es Positionen des Realismus behaupten, oder sind sie das Ergebnis kollektiver sprachlich-symbolischer Konstruktionsprozesse, wie konstruktivistische Positionen nahelegen? Mindestens ebenso virulent ist bis heute die Debatte darüber geblieben, welchen Erklärungsanspruch die Soziologie erheben kann: Vermag sie es, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften gesetzmäßige, kausale Erklärungen sozialer Zusammenhänge zu liefern-- oder ist sie eher auf hermeneutische Verstehensleistungen ausgerichtet und angewiesen? Ist sie eine erklärende oder eine deutende Wissenschaft? Der Autor schafft die hier geforderte Übersicht durch systematische Gegenüberstellungen und feingliedrige Differenzierungen einer Vielzahl von Beiträgen und Positionen zu den Debatten über die Bedingungen der Möglichkeit soziologischer Erkenntnis- und Wissensgenerierung. Die epistemologischen Fragen leiten bereits über zu dem Beitrag von Alexandra Krause und Henning Laux, in dessen Fokus die Rekonstruktion der soziologischen Methodenlehre steht. Zentral ist dafür die Gabelung zwischen quantifizierenden und qualifizierenden Forschungsmethoden. Während die ersteren vor allem mit Hilfe statistischer Verfahren und Berechnungen messbare Korrelationen und Zusammenhänge zwischen sozialen Phänomenen zu ergründen suchen, streben die letzteren beispielsweise über narrative oder biographische Interviews oder ethnografische Fallstudien danach, die Sinnstrukturen der sozialen Welt verstehend und deutend zu rekonstruieren. Der Beitrag untersucht aber vor allem, wie und warum es überhaupt zu dieser Aufspaltung der Sozialforschung gekommen ist und auf welchen Prämissen, Überzeugungen und <?page no="10"?> Einleitung 11 Erkenntniszielen die jeweiligen Positionen beruhen. Ausgehend von dieser Markierung werden einzelne Methoden gegenstandsnah, exemplarisch und knapp vorgestellt und im Hinblick auf Komplementaritäten und Unvereinbarkeiten geprüft. Wie forschen Soziologinnen und Soziologen, welche Techniken haben sie entwickelt, um Daten über die soziale Welt zu sammeln und zu verarbeiten? Abschließend wird gezeigt, wie mithilfe von problemorientierten Triangulationsverfahren bestehende Einseitigkeiten überwunden werden können. 2. Welche grundlegenden Alternativen bestehen in der Soziologie? Eine Möglichkeit, den internen Zusammenhang der verschiedenen methodischen Lager, epistemologischen Grundpositionen und (wissens-)politischen Strömungen der Soziologie darzustellen, besteht in der Rekonstruktion anhaltender Debatten und zentraler Konfliktlinien des Faches. Die großen Fragen, die das soziologische Feld seit vielen Jahrzehnten mit hoher Zuverlässigkeit entzweien, enthalten immer auch Hinweise auf jene Elemente, die in der Zunft Verbindungen stiften, insofern sie gemeinsame Problemhorizonte definieren. Entscheidend für die Konzeption des zweiten Teils war nun, mehrfach anzusetzen und die verschiedenen grundlegenden Problemdimensionen zu identifizieren, entlang derer stets aufs Neue Debatten darüber geführt werden, was die Soziologie im Kern ausmacht und welche alternativen Auffassungen zu dieser Frage bestehen. Diese Debatten drehen sich im Unterschied zu den im ersten Teil präsentierten formalen Zugängen zur Soziologie um solche Probleme, die den »Grundstoff« des Sozialen betreffen und damit Substanzielles darüber auszusagen gestatten, was das Soziale oder Gesellschaft sind und was nicht, woraus beide sich zusammensetzen, was sie dabei zusammenhält und in welcher Weise sie sich verändern. Es sind diese vier Kernfragen, die wir für eine Rekonstruktion der Soziologie aus der Substanz ihrer anhaltenden Kontroversen identifiziert und ausgewählt haben. Die Texte im zweiten Teil des Handbuches geben dementsprechend einen breiten und allgemeinverständlichen Überblick über die grundbegrifflichen Weichenstellungen, mit denen in der Soziologie auf diese Grundprobleme reagiert worden ist. Anhand von vier binären Gegensatzpaaren werden fundamentale Alternativen soziologischen Denkens beleuchtet, die für die Konstitution des Faches und seine Abgrenzung zu anderen Disziplinen große Bedeutung erlangt haben, die aber auch immer wieder zu internen Reflexionen, Revisionen und Weiterentwicklungen des disziplinären Selbstverständnisses Anlass geben: Natur versus Kultur, Atomismus versus Holismus, Planung versus Evolution und Gemeinschaft versus Gesellschaft. Von Beginn an arbeitet die Soziologie mit solchen analytischen Unterscheidungen, um auf diese Weise die Komplexität des Sozialen handhabbar zu machen und dessen Grenzen zu bestimmen. Liefern solche oder verwandte Dualismen einerseits ein scheinbar stabiles Fundament für Theoriearchitekturen und Forschungsprojekte, so blieben derartige Differenzierungen andererseits doch selten ohne Widerspruch, denn sie definieren in erheblichem Maße mit, wie und worüber geforscht wird, was sagbar ist und was unsichtbar bleibt. Die kritische Inspektion des sozialtheoretischen Grundvokabulars gehört daher zu den ebenso zentralen wie unabschließbaren Aufgaben der Soziologie. Den Auftakt macht in diesem Teil Gesa Lindemann mit einer kritischen Rekonstruktion des Natur-Kultur-Dualismus. Damit ist die vielleicht fundamentalste, jedenfalls eine lange Zeit eher unstrittige Unterscheidung der Soziologie benannt: Gesellschaft schien sich als kulturell konstituierter Zusammenhang über die bloße Natur zu erheben. Ein solches Verständnis der Soziologie von ihrem Gegenstand kommt in verschiedenen Varianten vor, etwa als normative Unterscheidung und Hierarchisierung von Natur und Kultur oder auch als historische Auffassung von einem <?page no="11"?> 12 Einleitung mehr oder weniger linearen Zivilisierungsprozess. Die Autorin verfolgt diese Positionen bis zu ihren philosophischen und anthropologischen Wurzeln, wodurch alternative Konzeptionen sichtbar und die scheinbar sichere Grundlage soziologischen Denkens des Sozialen erschüttert werden. Wege zu einer Neukonzeptualisierung der Natur-Kultur-Unterscheidung bahnen aber erst die konsequent methodischen Reflexionen der damit verknüpften Annahmen und Unterstellungen. Der Beitrag legt dar, inwiefern das begrifflich konstituierte Grenzregime in der Gegenwart unter Druck gerät und diskutiert, inwiefern mit Hilfe von Autoren wie Helmuth Plessner, Bruno Latour oder Philippe Descola eine empirisch gehaltvolle Bestimmung sozialer Grenzen möglich wird. Individuum versus Gesellschaft, Handlung versus Struktur, Mikroversus Makroebene-- der Gegensatz von atomistischen und holistischen Betrachtungsweisen, dem der Beitrag von Ingo Schulz-Schaeffer gewidmet ist, kennt in der Soziologie viele Ausprägungen. Diese Oppositionen spiegeln sich in Theorieschulen, methodischen Ansätzen, lebensweltlichen Überzeugungen, Lehrbüchern und sogar in der Denomination soziologischer Lehrstühle, die etwa für Mikro- oder Makrosoziologie ausgeschrieben werden. Während der methodologische Individualismus das Soziale ausgehend von seinen kleinsten Atomen, den individuellen Handlungsentwürfen, deutet, geht der methodologische Holismus den umgekehrten Weg und beginnt mit den sozialen Strukturen und Tatbeständen auf der Makroebene. Der Autor beschränkt sich aber nicht auf die Gegenüberstellung der Argumente für die eine oder die andere Seite in diesem Grundlagenstreit, sondern zeigt die vielfältigen Abstufungen und Differenzierungen innerhalb dieser Lager auf, die es gestatten, auch nach Kontinuitäten und Brücken Ausschau zu halten. So behandelt Schulz- Schaeffer in seinem Quervergleich sowohl System- und Handlungstheorie als offensichtliche Gegensätze als auch interaktionistische und praxistheoretische Positionen als weniger eindeutige Ansätze. Abschließend plädiert er für die Zentralstellung eines integrativen Handlungsbegriffs, mit dessen Hilfe Einseitigkeiten von Kategorien wie Kommunikation oder Praxis überwunden und die Alternative zwischen atomistischen und holistischen Auffassungen vom Sozialen empirisch offen gehalten werden könnten. Richtet man den Blick nicht darauf, was Gesellschaft ist bzw. nicht ist und was sie im Innersten zusammenhält, sondern auf die Frage, wie sie sich verändert und entwickelt, so tritt ein anderes Oppositionspaar in den Mittelpunkt des Interesses, dem Uwe Schimank in seinem Beitrag auf den Grund geht, nämlich die Gegenüberstellung von Planung und Evolution. Hier geht es um die Bestimmung der Motoren oder Triebkräfte des Sozialen. Lässt sich der gesellschaftliche Wandel als Fortschrittsgeschichte beschreiben, welche durch individuelle bzw. kollektive Akteure gestaltet wird? Oder muss die Gesellschaft angesichts der Kriege und Katastrophen in der Moderne als von evolutionären Dynamiken geprägt betrachtet werden? Hat der soziale Wandel eine Richtung oder ist er umkehrbar und zufällig? Welche alternativen oder vermittelnden Positionen gibt es zum Verhältnis von Intentionalität und Transintentionalität des sozialen Wandels in der Soziologie? Sowohl Evolution als auch Planung beschreiben nach Ansicht des Autors unzureichend, wie sich sozialer Wandel in der Moderne konkret vollzieht. Eingespannt zwischen diesen Polen lässt sich aber zeigen, dass sich in der Gesellschaft sukzessive eine Anspruchsreduktion und damit eine Annäherung der Gegensätze durchsetzt. Der Beitrag beschreibt die moderne Gesellschaft als eine Art »Dauerbaustelle«: Angesichts globaler Interdependenzgeflechte und -effekte werden Planungsambitionen sukzessive heruntergeschraubt, ohne es in der Praxis bei bloßer Evolution zu belassen. Die Alternativen sind dann inkrementalistische Gestaltungsansätze, das Hoffen auf Reserven an sozialer Resilienz oder Versuche der institutionellen Sicherung oder Ermöglichung von »guter« Evolution. Lars Gertenbach schließlich rückt mit seiner Rekonstruktion des (vermeintlichen) Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft eine basale Typologie institutioneller Formen des Sozialen in <?page no="12"?> Einleitung 13 den Mittelpunkt der Betrachtung, die sich als folgenreich nicht nur für die Disziplin, sondern für die politische Geschichte der Moderne überhaupt erwiesen hat. Dieses Oppositionspaar ist ein gutes Beispiel dafür, dass soziologische Begrifflichkeiten die Wirklichkeiten nicht einfach nur abbilden, sondern in durchaus erheblichem Maße auch mitbestimmen und verändern. In den Debatten, die zur Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Soziologie geführt worden sind, lassen sich interessante Wendungen identifizieren. Steht das Aufeinanderprallen einer als »kalt« empfundenen Gesellschaft mit der vermeintlich »warmen« Gemeinschaft im Anschluss an Ferdinand Tönnies für Versuche, die Soziologie für das Gemeinschaftsdenken einzunehmen, erfährt diese Haltung doch auch deutliche Kritik, etwa in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Durchgesetzt haben sich dagegen dynamische Begriffe von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, die sich zudem nicht nur als Gegensatz, sondern-- wie Gertenbach exemplarisch an der Theorie der Liminalität des Ethnologen Victor Turner zeigt-- ebenso als sequenzielle Phasen der Institutionalisierung des Sozialen auffassen lassen. Fragen der Verschränkung von Gemeinschaft und Gesellschaft beschäftigen die Soziologie bis heute in Debatten über Kommunitarismus und Liberalismus oder in zeitdiagnostischen Analysen posttraditionaler Vergemeinschaftung. 3. Was muss eine umfassende Theorie der Gesellschaft leisten? Die in den vorangehenden Abschnitten vorgestellten Beiträge arbeiten die Grundfragen und zentralen Kontroversen der Soziologie mit einer vergleichenden Perspektive auf konkurrierende Theorien, Methoden und Problemdeutungen auf. Dadurch kommen auch die zentralen Gründungsfiguren des Faches immer wieder zur Sprache und werden vielfach gewürdigt. Dieser komparative Blick verdeutlicht nicht nur die anhaltende Definitionsmacht der Klassiker, sondern auch den Auslegungsspielraum, den ihre Werke für nachfolgende Generationen hinterlassen haben. Was damit nicht offenkundig wird, ist jedoch die enorme Leistung, die in den Versuchen der Nachfolger steckt, aus der breiten Erbmasse an Problemstellungen und Lösungsvorschlägen eine kohärente Großtheorie zu entwickeln. Diese Bemühungen, eine umfassende Theorie der Gesellschaft aus vorhandenen Theorieelementen zu rekonstruieren oder durch Abgrenzung davon neu zu schreiben, lassen sich nur sichtbar machen, wenn den einzelnen Ansätzen zu einem solchen Projekt ganze Kapitel gewidmet werden. Darin soll die äußerst anspruchsvolle Arbeit soziologischer Theoriekomposition aufscheinen. Auf den Vergleich solcher Theorieprojekte muss man deshalb nicht verzichten, sofern alle Beiträge sich an einen ähnlichen Aufbau halten, der zu den komplexen Argumentationsketten der sehr verschiedenen Theorien freilich in allen Fällen passen sollte. Wir betreiben also in diesem Handbuch keine ausführliche Klassikerexegese, weil Autoren wie Max Weber oder Émile Durkheim ohnehin in nahezu jedem Handbuchbeitrag an prominenter Stelle auftauchen, und richten den Fokus stattdessen auf acht theoretische Ansätze aus dem umfangreichen Inventar der Disziplin, die sich aus unserer Sicht in besonderer Weise darum verdient gemacht haben, das volle Arbeitsprogramm einer modernen Gesellschaftstheorie auf eine je eigene, originelle Weise zu entfalten. Auch Paradigmen wie die Sozialphänomenologie oder die Ethnomethodologie sind daher nicht mit einem eigenen Aufsatz vertreten. Sie leisten zwar außerordentlich wichtige Beiträge zum Theoriediskurs, nehmen dabei aber nur einen Ausschnitt dessen in den Blick, was wir unter einer komplexen Gesellschaftstheorie verstehen. Das Programm einer solchen Großtheorie, das zugleich eine gewisse Vergleichbarkeit der vorgestellten Theorien gewährleistet, beinhaltet: a) methodologische Reflexionen über die Bedingungen der <?page no="13"?> 14 Einleitung Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis sowie über die Position und Rolle der Sozialwissenschaften innerhalb der Gesellschaft, b) sozialtheoretische Grundkategorien und Bausteine, die für das gesamte Spektrum der Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften Geltung beanspruchen, c) Aussagenkomplexe zum spezifischen Aufbau der modernen Gesellschaft, in der Regel gestützt durch den diachronen Vergleich mit vormodernen Gesellschaften, d) empirisch gehaltvolle Befunde zur Wandlungsdynamik moderner Gesellschaft bis hin zu Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprognosen sowie e) Pathologiediagnosen und Stellungnahmen zu Möglichkeiten und Risiken politischer Steuerung und Intervention, einschließlich der Reflexion auf die Problematik und die Begründbarkeit von normativen Aussagen und Kritik. Die im Handbuch vorgestellten acht Paradigmen haben in der Regel einen zentralen Referenzautor, dessen Werk sich rekonstruieren und in Verbindung zu soziologischen Debatten und gesellschaftlichen Problemlagen bringen lässt. Behandelt werden die Theorien von Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Hartmut Esser und James Coleman, Anthony Giddens sowie Bruno Latour. Die inhaltliche Darstellung der Theorien orientiert sich an den oben genannten Programmpunkten und wird zusätzlich durch wichtige Kritikpunkte sowie theoretische Innovationen ergänzt. Eine genaue Aufschlüsselung der Gliederungspunkte für alle acht Großtheorien erübrigt sich hier. Stattdessen begründen wir kurz für jede einzelne, warum wir sie aufgenommen haben und in welchem Kontext sie lokalisiert und diskutiert wird. Axel Honneth und Kristina Lepold unterziehen das Werk von Talcott Parsons einer anerkennungstheoretisch aktualisierten Lektüre. Zu diesem Zweck skizzieren sie Parsons voluntaristische Handlungstheorie, sein strukturfunktionalistisches Systemmodell, die darauf basierende Theorie moderner Differenzierungsdynamiken und den Fortschrittsoptimismus seiner Modernisierungstheorie einschließlich der Risiken vereinseitigter Modernisierung. Parsons Werk erscheint von hier aus als idealtypisches Beispiel für eine Gesellschaftstheorie in dem von uns definierten Sinne. Seine Bedeutung als Referenztheoretiker für Luhmann, Habermas oder auch Giddens ist unübersehbar und sein Ansatz lebt in den Debatten um »multiple modernities« (Shmuel N. Eisenstadt) und die neofunktionalistischen Theorieprogramme (Jeffrey C. Alexander, Richard Münch) bis heute fort. Für Honneth und Lepold kommt der Gesellschaftstheorie von Parsons aktuelle Bedeutung vor allem deshalb zu, weil sie die Möglichkeit und Notwendigkeit zeigt, den normativen Gehalt der modernen Institutionen (kritisch) zu rekonstruieren, über den die Gesellschaftsmitglieder laufend miteinander streiten und Einvernehmen erzielen können müssen. Angesichts der enormen Bandbreite seiner Sozial- und Gesellschaftstheorie bedarf es keiner ausführlichen Begründung, warum Niklas Luhmann Aufnahme in den Kanon dieses Handbuches findet. Wolfgang Ludwig Schneider unternimmt eine systematische Rekonstruktion von Luhmanns Schriften und geht auf Schlüsselwerke wie »Soziale Systeme«, »Gesellschaftsstruktur und Semantik« oder »Die Gesellschaft der Gesellschaft« ein. Dabei legt er nicht nur die Basiskategorien der Systemtheorie und ihre beobachtungstheoretischen Prämissen dar, sondern verdeutlicht auch exemplarisch die Theorie funktionaler Differenzierung am Fall des Wissenschaftssystems. Denn an diesem Beispiel wird sichtbar, wie Luhmann den gesellschaftlichen Ort der Soziologie als Teil dieses Funktionssystems zu bestimmen und somit auf seine methodologischen Implikationen hin zu reflektieren vermag. Zum Abschluss modifiziert Schneider in seinem Beitrag Luhmanns Projektion einer funktional differenzierten Weltgesellschaft durch neuere Diskussionen zum Thema Inklusion/ Exklusion sowie zur Rolle parasitärer Netzwerke, die eine partielle Erweiterung des Programms der Theorie sozialer Systeme nahelegen. Im Werk von Jürgen Habermas kommt das Programm einer rekonstruktiv angelegten, d. h. vielfältige Quellen und Vorarbeiten des soziologischen und philosophischen Diskurses aufneh- <?page no="14"?> Einleitung 15 menden und neu arrangierenden Theoriebildung voll zum Tragen, wie William Outwaithe in seinem Beitrag zu verdeutlichen sucht. Outhwaite arbeitet heraus, wie Habermas zentrale Einsichten der Disziplin zu einer Theorie des kommunikativen Handelns weiterentwickelt. Dazu gehören etwa der Historische Materialismus bei Karl Marx, Ervin Goffmans Modell des dramaturgischen Handelns, George Herbert Meads Theorie der Individuation, John L. Austins Sprechakttheorie, Jean Piagets und Lawrence Kohlbergs Entwicklungspsychologie, Max Webers Rationalisierungsthese oder Émile Durkheims Differenzierungstheorie. Einen Schwerpunkt des Beitrags bilden die Arbeiten, die Habermas seit »Faktizität und Geltung« verfasst hat, um seine Theorie auf aktuelle Herausforderungen wie die Globalisierung oder die Bioethik zu beziehen. Sichtbar werden so nicht zuletzt Kontinuitäten und Brüche zur ersten und dritten Generation der Kritischen Theorie, also zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Walter Benjamin einerseits und zu Axel Honneth, Seyla Benhabib oder Nancy Fraser andererseits. Als poststrukturalistische Theorieposition, die an der (archäologischen und genealogischen) Untersuchung historischer Formationen von Diskurs- und Zeichenwelten festhält und die Verstrickung der Sozial-, Kultur- und Lebenswissenschaften in das Machtgefüge der modernen Gesellschaft aufzeigt, gehört auch das Werk von Michel Foucault in dieses Handbuch. Wie der Beitrag von Sina Farzin zeigt, leistet Foucault über die Bereitstellung innovativer methodischer Werkzeuge hinaus insbesondere mit seinen Analysen der Kontrollstrukturen und Disziplinierungstechniken sowie den Studien zur Gouvernementalität der Gegenwart wertvolle Beiträge zur modernen Gesellschaftstheorie, die in den letzten Jahren immer weiter in den soziologischen Wissensbestand eingesickert sind. Ausgehend von dem frühen, mittels ethnologischer Untersuchungen zur Gesellschaft der Kabylen gewonnenen »Entwurf einer Theorie der Praxis« beschäftigt sich Robin Celikates mit den Basistheoremen der kritischen Soziologie von Pierre Bourdieu. Demzufolge setzt Bourdieu eine Traditionslinie moderner Gesellschaftstheorie fort, die auf soziale Kämpfe zwischen Klassen abstellt und erweitert diese mit einer kultursoziologischen Analyse symbolischer Klassifizierungen. Konzepte wie Habitus, Praxis und Feld stehen im Zentrum aktueller Diskussionen über das Programm einer praxeologischen bzw. relationalen Sozial- und Gesellschaftstheorie. Darüber hinaus deckt sein Werk mit Selbstreflexionen des soziologischen Blicks, Analysen zum Geschlechterkonflikt, zeitdiagnostischen Thesen zur Ökonomisierung der Gesellschaft sowie deren politischer Wendung zu einer Kritik der neoliberalen Invasion wiederum alle Stufen des allgemeinen Theorieprogramms ab. Als kritischer Anschluss werden vor allem die Arbeiten um Luc Boltanski und Laurent Thévenot einbezogen, die den »doppelten Bruch« problematisieren, den Bourdieu gegenüber den Illusionen des Common Sense für unvermeidbar halte, der aber die reflexiven Kompetenzen des Alltagslebens unterschätze. Clemens Kroneberg setzt sich in seinem Beitrag mit den Rational-Choice-Ansätzen auseinander. Neben den handlungs- und spieltheoretischen Grundlagen des Ansatzes wird das »Makro- Mikro-Makro-Modell« zur Erklärung sozialer Tatbestände präsentiert (James Coleman, Hartmut Esser) sowie der Fokus auf die Folgen und Dynamiken aggregierter individueller Entscheidungen gerichtet, in Anlehnung an Mancur Olsons Kollektivgutproblem. Kroneberg nutzt seinen Beitrag nicht zuletzt für ein Plädoyer, in dem er die Theorien der rationalen Wahl gegen klassische Einwände verteidigt, gesellschaftstheoretische Abstraktionen ablehnt und stattdessen für deduktiv-nomologische Erklärungen mittlerer Reichweite votiert. Mithilfe des Bauplans einer komplexen Gesellschaftstheorie lässt sich auch der Strukturationsansatz von Anthony Giddens sehr gut rekonstruieren, wie Jörg Oberthürs Beitrag zeigt. Mit seinem Theorem der doppelten Hermeneutik zielt Giddens auf die Besonderheiten sozialwissenschaftlicher im Unterschied zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Und mit der Unterscheidung von <?page no="15"?> 16 Einleitung Sozialtheorie und Soziologie kennzeichnet er selbst Theorieaufgaben mit unterschiedlichem Generalisierungsanspruch, um die Diskontinuitäten zwischen vormoderner und moderner Gesellschaft identifizieren zu können. Die Wandlungsdynamik der Moderne gleiche inzwischen einer Fahrt mit dem »Dschagannath-Wagen«, sei also kaum mehr zu kontrollieren und erzeuge massive Folgeprobleme, so dass die Soziologie gefordert ist, verbliebene politische Handlungsoptionen zu finden und freizulegen. Abschließend geht Oberthür auch auf zentrale Kritiken und Weiterentwicklungen des Strukturationsansatzes ein, etwa auf Theorien reflexiver Modernisierung. Schließlich werden im Handbuch auch die Arbeiten von Bruno Latour behandelt. Ausgehend von Latours wissenschaftssoziologisch ausgerichteten Laborstudien zeigt Henning Laux in seinem Beitrag, wie Latour seinen Ansatz im Laufe der Jahre sukzessive zu einer vollwertigen Gesellschaftstheorie ausgebaut hat. Ausgehend von seinem Unbehagen mit dem konstitutionellen Gefüge der Moderne (»Wir sind nie modern gewesen«), formuliert Latour eine Zeit- und Pathologiediagnose (»unkontrollierte Produktion von Hybriden«) und darauf bezogene Überlegungen zur Politik und zur Erneuerung demokratischer Öffentlichkeit (»Parlament der Dinge«). Von hier aus entwickelt er mit der Akteur-Netzwerk-Theorie ein sozialtheoretisches Vokabular, das Studien zu verschiedenen Feldern der Gesellschaft anleitet (u. a. Politik, Recht, Ökonomie, Kunst, Religion). Diese Befunde überführt er schließlich in eine »Soziologie der Existenzweisen«, die eine neuartige Differenzierungstheorie darstellt, mit deren Hilfe nicht nur eine alternative Bestimmung der modernen Gesellschaft, sondern auch eine »diplomatische Soziologie« möglich werden soll. Diese kann dazu beitragen, der planetarischen Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel entgegenzutreten. 4. Was erforschen Soziologinnen und Soziologen? Die Beiträge im vierten Teil des Handbuches geben eine breite und allgemeinverständliche Einführung in traditionelle und zeitgenössische Untersuchungsfelder der Soziologie. Die Erkenntnisse der hier vorgestellten »Bindestrich-Soziologien« bilden ein unverzichtbares Material für die im vorangegangenen Abschnitt exemplarisch vorgestellten Gesellschaftstheorien. Zwischen den Speziellen Soziologien und der Allgemeinen Soziologie besteht dennoch kein unilinearer Zusammenhang; beide befruchten sich vielmehr wechselseitig. Denn ebenso wie allgemeine Überlegungen zur Reproduktion und zum Wandel sozialer Ordnung ohne die Berücksichtigung konkreter Forschungsergebnisse spekulativ blieben, erweisen sich umgekehrt der Zuschnitt und die Gewichtung der einzelnen Untersuchungsfelder als selber theorieabhängig. So spiegelt sich zwar die geläufige Auffassung, im Prinzip lasse sich jedes Thema soziologisch studieren, in der langen Liste disziplinärer Untergliederungen; gleichwohl hat sich die Forschungsintensität historisch ausgesprochen ungleich verteilt und sind gerade die historisch gewachsenen Kernbereiche durch grundlegende Kontroversen geprägt. Die wissenschaftlichen Netzwerke, die sich der systematischen Erforschung gesellschaftlicher Teilbereiche und spezifischer soziologischer Themenfelder widmen, differenzieren sich mithin sowohl in Abhängigkeit von der Struktur der analysierten Gesellschaftsformation als auch entlang konkurrierender sozialtheoretischer Paradigmen. Um die soziologische Forschung in ihrem umfassenden, umstrittenen, unabgeschlossenen und gleichwohl historisch gewachsenen Charakter zu präsentieren, kommen die etablierten Teilbereiche der Disziplin wie die Rechtssoziologie, die Wirtschaftssoziologie, die Kultursoziologie usw. in Einzelbeiträgen zu Wort, für die wir Cluster aus verwandten, institutionell jedoch regelmäßig separierten Themen gebildet haben, die von den Autorinnen und Autoren dieses Abschnitts in ihrem Zusammenhang diskutiert werden, ohne dabei auf eigene Positionierungen zu verzichten. <?page no="16"?> Einleitung 17 Den Auftakt macht Paula-Irene Villa, deren Beitrag zu den Feldern »Körper, Geschlecht und Sexualität« die Bedeutung des Natur-Kultur-Dualismus veranschaulicht und aufzeigt, wie diese Unterscheidung im Alltagsverständnis und vor allem in der soziologischen Reflexion brüchig geworden ist. Der Beitrag skizziert die institutionelle Etablierung und den Forschungsstand von Körpersoziologie, Geschlechtersoziologie und Soziologie der Sexualität sowie deren Verhältnis zueinander aus dem in der Disziplin verbreiteten Selbstverständnis, dem zufolge soziologische Forschung darauf zielt, alltagsweltliche Überzeugungen zu hinterfragen. Wie lassen sich die Naturalisierung von Körper, Geschlecht und Sexualität erklären? Welche Konstruktionsprozesse liegen diesen mit welchen Folgen zugrunde? Diskutiert werden, nicht zuletzt mit Blick auf die empirische Forschung, gleichermaßen die praxeologische Perspektive auf die soziale Hervorbringung des vermeintlich Vorsozialen und die Rolle, die gesellschaftlichen Strukturen dabei zukommt. Ein abschließender Ausblick auf die Intersektionalitätstheorie unterstreicht, dass die einzelnen soziologischen Untersuchungsfelder alles andere als hermetisch gegeneinander abgegrenzt sind und von den entsprechenden Forschungen Impulse ausgehen, die neue Perspektiven, konzeptuelle Innovationen und paradigmatische Verschiebungen in anderen gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsfeldern anstoßen. Die Bereiche der Sozialisationsforschung, der Bildungs- und der Familiensoziologie skizzieren Hans-Peter Müller, Erika Alleweldt und Jochen Steinbicker aus sozialstruktureller Perspektive: Welche Funktionen haben Sozialisation, Bildung und Familie für die Reproduktion sozialer Ungleichheit? Die verkürzende Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene überwindend, zeichnet der Beitrag zunächst die auch institutionell weit vorangeschrittene Ausdifferenzierung dieser ausgesprochen umfangreichen Teildisziplinen im deutschen sowie im internationalen Kontext nach. Vorgestellt wird der Vergesellschaftungsprozess entlang der Forschungen zu Sozialisationsinstanzen und -kontexten, zu Lebensphasen und zu den Dimensionen und Effekten von Sozialisation. Die besondere Bedeutung der primären Sozialisation findet mit Blick auf die Veränderungen des Verständnisses und der Struktur von Familie ebenso Berücksichtigung, wie die Rolle und der Wandel der Bildung unter dem Gesichtspunkt der sekundären Sozialisation thematisiert werden. Die Diskussion der Wissensbestände dieser soziologischen Untersuchungsfelder liefert Hinweise dafür, dass die zentrale Frage nach der Reproduktion sozialer Ordnung nicht ohne klassentheoretische Konzepte und ideologiekritische Überlegungen beantwortet werden kann. Die normative Regelung gesellschaftlicher Ordnung bildet den Gegenstand des nachfolgenden Beitrags, in dem Susanne Krasmann das sozialwissenschaftliche Wissen zu »Recht, Norm und Sicherheit« diskutiert. Im Vordergrund steht dabei die Spezifik des Rechts. Wie wirken rechtliche Normen? Was unterscheidet sie von anderen sozialen Normen? Anders als z. B. die Moral lässt sich das moderne Formalrecht nur im Zusammenhang mit der Staatsgewalt verstehen. Von diesem Ausgangspunkt her thematisiert der Beitrag zunächst unterschiedliche sozialwissenschaftliche Ansätze zum Zusammenhang von Recht und Ordnung. Das Spektrum der hierfür relevanten Überlegungen reicht von anthropologischen über liberale, sozialkonstruktivistische und materialistische bis hin zu poststrukturalistisch inspirierten Perspektiven. Ganz im Sinne des disziplinären Selbstverständnisses, alltagsweltliche Illusionen kenntlich zu machen, dienen die Widersprüchlichkeiten des Rechts im Verhältnis zu Gewalt, Ordnung, Gerechtigkeit usw. als Leitgesichtspunkte der Darstellung. Systematisch werden diese hinsichtlich der Legitimität sowie der Legalität des Rechts diskutiert und schließlich mit Blick auf den Wandel des Strafrechts und dessen zunehmende Funktionalisierung für Sicherheitszwecke ausgeführt. Zu den ältesten Teilbereichen der Disziplin zählt neben der Rechtsauch die Wirtschaftssoziologie. Letztere steht im Fokus des Beitrags von Christoph Deutschmann zu »Wirtschaft, Arbeit und Konsum«. Die Aufgabe der Wirtschaftssoziologie wird anhand der Infragestellung der klas- <?page no="17"?> 18 Einleitung sischen Arbeitsteilung mit den Wirtschaftswissenschaften umrissen, der zufolge diese die Logik wirtschaftlichen Handelns und jene die soziokulturellen Kontextfaktoren betrachtet. Gegen die modelltheoretischen Annahmen der Wirtschaftswissenschaften zeichnet Deutschmann nach, dass die von der vorherrschenden neoklassischen Theorie als ahistorisch unterstellte ökonomische Handlungsrationalität selbst ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung ist, das man zu dem in seiner Wirkungsweise und Dynamik nur verstehen kann, wenn die institutionellen Einbettungen der Wirtschaft nicht als deren äußerlicher Rahmen, sondern als ihre ambivalenten und instabilen Hervorbringungen konzipiert werden. Wirtschaftssoziologische Forschung ziele darauf, die mit der räumlichen sowie sozialen Entgrenzung der Märkte freigesetzte Dynamik zu erfassen, die die gesamte Gesellschaft, das Arbeitsleben und den Konsum inklusive der markteinbettenden Institutionen, Organisationen, Netzwerke und Leitbilder einem fortlaufenden Veränderungsdruck aussetzen. Auch der anschließende Beitrag stellt die herkömmliche Scheidung und Entgegensetzung von Wirtschaft und Kultur, von Materiellem und Symbolischem in Frage. Die Kultursoziologie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Diese Transformationen manifestieren sich am augenfälligsten in der Entstehung der Cultural Studies. Unter dem Titel »Kultur, Medien und Technik« erläutert Scott Lash, wie weitgehend unsere Lebensform und ihre medialen Kommunikationsweisen heute technologisch durchdrungen sind. In der Folge nehmen gesellschaftliche Zusammenhänge zunehmend einen verselbstständigten, systemischen Charakter an. Der Beitrag fragt nach den kulturellen Grundlagen dieser Entwicklung, die ganz in der Tradition kultursoziologischen Denkens in den gesellschaftlich vorherrschenden, aber kontingenten Rationalitätsmustern identifiziert werden: einer Kontexten gegenüber unsensiblen, kategorisierenden theoretischen Vernunft und einer individualistischen Zweckrationalität. Lash ruft dagegen die antike Erörterung des Technikbegriffs in Erinnerung und findet in diesem Zusammenhang bei Aristoteles die Alternative einer pragmatistischen, produktiven Vernunft, die sich gegen die neoliberale Vereinnahmung unserer technischen Kultur wenden lässt. Auch das Themencluster »Wissen, Sprache und Macht« wird aus einer kulturtheoretischen Perspektive vorgestellt, die Bedeutungsfragen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den materiellen Aspekten des Sozialen erörtert. Sven Opitz und Ute Tellmann skizzieren zunächst, wie sich das kulturtheoretische Paradigma der Soziologie als Bedeutungswissenschaft durch strukturalistische, wissens- und wissenschaftssoziologische Impulse in Abgrenzung zur Hermeneutik entwickelt und die Disziplin für poststrukturalistische Einflüsse geöffnet hat. Sodann stellt der Beitrag dar, wie diese Mittel zur Erforschung von Prozessen der Bedeutungsproduktion für soziologische Machtanalysen der Formierung kollektiver Identitäten fruchtbar gemacht werden. Mit postkolonialen, hegemonietheoretischen, gendertheoretischen, affekttheoretischen und netzwerkanalytischen Ansätzen kommen dabei insbesondere solche Impulsgeber zur Sprache, die derzeit noch jenseits des disziplinären Mainstreams liegen. Die Politische Soziologie im engeren Sinne thematisiert Hauke Brunkhorst mit Blick auf die Forschungsfelder »Nationalstaat, Demokratie und Solidarität«. Die Ordnungsmuster, entlang derer Gesellschaften sich politisch strukturieren, werden in diesem Beitrag über den Begriff der Solidarität eingeführt. Bei diesem handle es sich nicht etwa um eine auf Freundschaft beruhende soziale Beziehung oder ein ähnlich geartetes affektuelles Band, sondern, wie am römischen Zivilrecht belegt wird, um einen formalen Rechtsbegriff, der die Verbindung von Fremden ermöglicht. Dessen Synthese mit dem egalitären Universalismus des Christentums habe eine Verrechtlichung des Republikanismus und schließlich eine Demokratisierung der politischen Gewalt in die Wege geleitet, als deren zentrales Problem sich bald die Beherrschung des kapitalistischen Systems herausgestellt habe. Eine im Sozialstaat als soziale Gerechtigkeit organisierte gesellschaft- <?page no="18"?> Einleitung 19 liche Solidarität hänge vor allem von starken Gewerkschaften und einem etablierten Parlamentarismus ab. Im Zuge von Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen müssen beide durch andere Mechanismen ergänzt, können aber nicht ersetzt werden. So führt der Blick auf den Zusammenhang von Recht, Solidarität und Demokratie zu den in der politiksoziologischen Forschung vordringlichen Fragen nach den zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen, den politischen Institutionen und den nationalen, inter-, trans- und supranationalen Strukturen, die die Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus zu mildern in der Lage waren, heute unter Druck geraten und teilweise zusammengebrochen sind. Der Befund, dass vertikale soziale Ungleichheiten gegenwärtig zunehmen, stellt auch den Ausgangspunkt des Beitrags von Klaus Dörre zur Sozialstrukturanalyse dar. Unter dem Titel »Prekarität, Achsen der Ungleichheit und Sozialstruktur« skizziert der Beitrag zunächst entlang der zentralen makrosoziologischen Kategorien zur Beschreibung sozialer Ungleichheit die Zurückdrängung klassentheoretischer Konzeptionen durch individualisierungstheoretische Ansätze, die der gegenwärtigen Lage nicht angemessen seien. Als Alternative dazu wie auch zu den früheren Begrifflichkeiten, die der gegenwärtigen Lage ebenfalls nicht gerecht werden, ist in den vergangenen Jahren das Konzept der Prekarität als Schlüsselkategorie der Sozialstrukturanalyse ausgearbeitet worden. Dörre stellt den Verlauf der Diskussion, die begrifflichen Innovationen sowie empirische Forschungsergebnisse vor, bettet das Konzept in den theoretischen Rahmen der Intersektionalitätsforschung ein und widmet sich den Herausforderungen, die sich daraus ergeben, die Strukturierung sozialer Ungleichheit aus der Perspektive gesellschaftlicher Unsicherheit in den Blick zu nehmen. 5. Bedarf es einer neuen Soziologie? Die zentralen Herausforderungen, mit denen die Soziologie heute konfrontiert ist, bilden das Thema des fünften und letzten Abschnitts dieses Handbuchs. Wie die Beiträge zu den etablierten soziologischen Untersuchungsfeldern und Teildisziplinen verdeutlichen, sind diese ausnahmslos im Wandel, sowohl aufgrund wissenschaftsinterner Dynamiken und theoretischer Impulse wie auch aufgrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die nach neuen Beschreibungskategorien, Deutungsansätzen und explanativen Theoremen verlangen. Der durch die Konfrontation konkurrierender Perspektiven vorangetriebene Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis berührt häufig jedoch nicht die Grundannahmen und paradigmatischen Selbstverständlichkeiten der jeweiligen Forschungsfelder oder gar der Disziplin insgesamt. Nicht jede unvorhergesehene gesellschaftliche Entwicklung stellt die Soziologie vor eine fundamentale Herausforderung, doch einige lassen sich nicht mit dem bestehenden Forschungsinstrumentarium oder durch kleinere begriffliche Anpassungen und theoretische Fortentwicklungen verständlich machen. Die Herausgeber haben sechs gesellschaftlich virulente Problemfelder identifiziert, zu denen die Beiträge einen allgemeinverständlichen Einblick entlang der Frage geben, inwiefern jüngere soziale Entwicklungen und Ereignisse noch innerhalb der vorhandenen sozialwissenschaftlichen Paradigmen adäquat erfasst werden können oder aber die Soziologie ihre bisherigen Grenzen überschreiten muss, um ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht zu werden, einen relevanten Beitrag zur Aufklärung gesellschaftlich drängender Problemkonstellationen zu leisten. Der Beitrag von Bernd Sommer und Harald Welzer widmet sich dem Feld ökologischer Herausforderungen, die einstweilen vorrangig mit Blick auf den Klimawandel und unter naturwissenschaftlichen und technischen Gesichtspunkten konzipiert werden. Gegen diese Auffassung wird in doppelter Hinsicht die wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklung natürlicher und <?page no="19"?> sozialer Zusammenhänge hervorgehoben. Einerseits sind Naturereignisse nur im Kontext gesellschaftlicher Ordnungen herausfordernd, andererseits haben Lebensformen Auswirkungen auf natürliche Systeme, deren Regulierung notwendigerweise diese Lebensformen tangiert und deswegen nicht rein technisch erfolgen kann. Die Einsicht in den Zusammenhang von Klima- und Gesellschaftswandel führt zu der Überlegung, dass es sich bei Ersterem lediglich um ein Symptom menschengemachter Ressourcenknappheiten handelt, deren Ursache in der gewaltigen Zunahme umweltbeeinflussender menschlicher Aktivitäten seit der Industrialisierung zu finden ist und die dem energieintensiven Modell der expansiven Moderne Grenzen setzen. Die Soziologie steht damit vor der Aufgabe, die Möglichkeiten einer alternativen Moderne auszuloten, die bestandsfähige Lebensstile ermöglicht. So wie die moderne Gesellschaft bislang durch ihre Wachstumslogik gekennzeichnet ist, so ist sie auch durch ihre staatliche Organisation geprägt. Die moderne Gesellschaft ist staatlich organisierte Gesellschaft. Die staatliche Funktion, Gewalt zu monopolisieren, bedeutet mithin, dass sich die moderne Gesellschaft einerseits als weitgehend gewaltfrei darstellt, andererseits aber die Mittel der Gewaltanwendung potenziert hat. Der als solcher mittlerweile nicht mehr umstrittene grundlegende Wandel moderner Staatlichkeit berührt deswegen auch die gesellschaftliche Rolle und Funktion der Gewalt. Steht die Soziologie vor der Herausforderung, mit der Kopplung von Staat und Gesellschaft auch die Verknüpfung von Gewalt und Staat zu überwinden? Diese Frage diskutiert David Strecker, der die sozialwissenschaftliche Forschung zu Begriff, Phänomen und Erklärung der Gewalt skizziert, um am Wandel von Krieg und Terrorismus sowie der gewalteinhegenden zivilisierenden Funktionen klassischer Staatlichkeit die Ordnungsfixiertheit der klassischen Soziologie zu problematisieren und Perspektiven für eine gesellschaftstheoretisch inspirierte, integrative Gewaltforschung zu umreißen. Auch Stephan Lessenich problematisiert in seinem Beitrag zur Demographie die Nachwirkungen der Orientierung der frühen Soziologie an der Bewältigung von Krisen und der Herstellung sozialer Ordnung. Die Dramatisierung des demographischen Wandels im Begriff der »alternden Gesellschaft« ist ein Mechanismus, die soziale Wirklichkeit zu strukturieren und zu ordnen, erzeugt aber selber wieder Unsicherheiten, nämlich über die Folgen, die Entwicklungsrichtung und den Umgang mit dieser Ordnung. Der Beitrag zeichnet diesen sich selbst unterminierenden Ordnungsimpuls an den Bereichen Alter, Migration und Multikulturalismus nach. Die gesellschaftliche Inklusion der Alten erzeugt die neue Grenze gegenüber den nicht mehr Aktivierbaren, die Mobilisierung transnationaler Arbeitskräfte die Exklusion unerwünschter Migranten und Migrantinnen und die Assimilation ethnischer Minderheiten die Kategorie der Integrationsunwilligen. Das Studium demographischer Entwicklungen weise deswegen auf die Notwendigkeit einer Selbstkritik der auf Ordnungsschaffung abzielenden Soziologie hin, die besser daran täte, Vergesellschaftungsprozesse in ihrem offenen und ambivalenten Charakter zu untersuchen. Ulrich Beck und Hartmut Rosa diskutieren ebenfalls unvorhergesehene Effekte gesellschaftlicher Entwicklungen. Unter dem Titel »Eskalation der Nebenfolgen« fragen sie nach jenen Phänomenen, die sich aus räumlichen und zeitlichen Steigerungen, der Kosmopolitisierung und Beschleunigung sozialer Beziehungen ergeben und die Überwindung des methodologischen Nationalismus erfordern. Dabei halten sie sowohl am Gesellschaftsbegriff wie auch an klassischen Erklärungsansprüchen der Soziologie fest und grenzen sich damit von alternativen globalisierungstheoretischen Ansätzen ab, nämlich von system-, weltsystem-, netzwerk- und komplexitätstheoretischen Konzeptionen. Demgegenüber zeichneten sich die Theorien der Weltrisikogesellschaft, der reflexiven Modernisierung und der sozialen Beschleunigung durch den Fokus auf die Dynamisierung der modernen Gesellschaft aus, deren Nebenfolgen die Stabilisierungen dieser Formation unterminieren. 20 Einleitung <?page no="20"?> Einleitung 21 In der Erfahrung des Sinnverlustes hat schon die frühe Soziologie eine grundlegende Herausforderung erkannt. Dabei handelt es sich um einen in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Umbruchserfahrungen zwar fluktuierenden, im Grunde gleichwohl scheinbar bestandsfesten Topos der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Entsprechend skizziert Christel Gärtner, wie dieses Problem die Disziplin im historischen Wandel immer wieder neu beschäftigt. Strukturell in der wachsenden Pluralisierung der Muster der Lebensführung und dem gesteigerten Bewusstsein der Kontingenz gesellschaftlicher Traditionsbestände begründet, wird die Diagnose des Sinnverlustes typischerweise in Krisenzeiten formuliert. Der Beitrag stellt entsprechende Diskurse exemplarisch vor, um darin unterschiedliche Modelle der Sinnkonstruktion zu identifizieren, deren Ausgestaltung in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Kontexten dargestellt wird. Für die Religionssoziologie und die klassische Gesellschaftstheorie mit ihren zentralen Annahmen zum Säkularisierungsprozess ergibt sich die Herausforderung, das Verhältnis von Religion und Moderne in nicht reduktionistischer Weise und entlang komplexer, gegenläufiger Prozesse neu konzipieren zu müssen. Der abschließende Beitrag dieses Handbuchs ist der Selbstreflexion der Soziologie auf ihre gesellschaftliche Rolle gewidmet. Zur Klärung der gesellschaftlichen Relevanz soziologischer Gesellschaftskritik erörtert Jörn Lamla das Verhältnis der Soziologie zur Öffentlichkeit. Der Beitrag sichtet zu diesem Zweck die Konzeption der Public Sociology, die zeitdiagnostische Kapitalismuskritik, Ansätze der Kritischen Theorie und der kritischen Soziologie. All diese Ansätze sehen sich in unterschiedlicher Weise mit einstweilen ungeklärten Schwierigkeiten konfrontiert, hinsichtlich der professionellen Maßstäbe der Disziplin und der Problematik, die Standards der Kritik bzw. die kritische Position zu begründen. Bleibt die Soziologie in einem Fall zu bescheiden, so erhebt sie sich ein andermal über die in ihren Illusionen gefangenen Gesellschaftsmitglieder oder aber ihre Begriffe geraten zu schwammig. Am ehesten lasse sich das Wechselspiel von Sozialwissenschaften und sozialer Praxis ausgehend von den rekonstruktiven Zugängen zur Kritik entfalten, wie abschließend am pragmatistischen Modell des Demokratischen Experimentalismus umrissen wird, zu dessen Fortentwicklung und Kritik der Beitrag einlädt. Die Herausgabe eines Handbuches der Soziologie ist ein Mammutunternehmen, das sich über einen beträchtlichen Zeitraum erstreckt hat und an dem zahlreiche Personen mitgewirkt haben. Wir möchten uns abschließend nicht nur bei den über 30 Autorinnen und Autoren der Einzelbeiträge noch einmal ganz herzlich bedanken, sondern auch bei Katharina Saalfeld und David Reum, die uns als studentische Hilfskräfte bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte unterstützt haben, sowie bei Sigrid Engelhardt, die uns mit der gewohnten Umsicht organisatorisch geholfen hat. Seitens des Verlages hat Sonja Rothländer das Projekt mit großer Geduld und ebensolchem Engagement über mehrere Jahre begleitet. Auch dafür möchten wir uns an dieser Stelle vielmals bedanken. Ein persönlicher Dank geht schließlich noch an Christine, Hannah, Linus und Mila. <?page no="22"?> 23 Teil I Der soziologische Blick <?page no="24"?> 25 Wolfgang Eßbach Die historischen Quellen soziologischen Denkens: Aus-welchen Traditionen entwickelt sich die-Soziologie? 1. Die Soziologie vor der Soziologie Seit wann gibt es Soziologie? Welches Datum soll man fixieren, um diese Frage zu beantworten? Wählt man den Zeitpunkt, an dem das Wort Soziologie zum ersten Mal auftaucht, oder den Moment, an dem es zur Selbstbeschreibung des eigenen Denkens benutzt wird? Gilt das Datum, an dem die ersten Lehrstühle für Soziologie eingerichtet werden, oder der Zeitpunkt, an dem Soziologie nicht nur nebenbei, sondern als Hauptfach mit einem eigenen Universitätsabschluss studiert werden kann? Und wer darf überhaupt von sich behaupten, dass er wie ein Soziologe arbeitet? Unabhängig von den Antworten auf die hier gestellten Fragen-- man wird Autoren und Werke ausschließen und ins außersoziologische Nichts verbannen, mögen sie noch so sehr unser Wissen über Gesellschaft gefördert haben. Es gilt daher, zunächst den Blick auf die Machttechniken zur Disziplinierung von Disziplinen zu lenken. Zu den geistlosesten Machttechniken in diesem Felde gehören etwa solche, die zur Soziologie nur Beiträge rechnen, die von fachlich korrekt ausgebildeten Soziologen geschrieben und in Peer- Reviewed-Zeitschriften für Soziologie in den letzten fünf Jahren in englischer Sprache erschienen sind. Wer so vorgeht, für den bildet alles andere eine mehr oder weniger dubiose Peripherie, ist Randgebiet oder ist veraltet und gilt als Tradition. Zur Disziplinierung von Disziplinen können auch stille Abkommen zwischen Fächern führen, bei denen die Traditionsmasse nach der Devise aufgeteilt wird: Adam Smith bekommen die Ökonomen, Herbert Spencer die Soziologen, Alexis de Tocqueville die Politologen. Was die Tradition angeht, so haben sich die Politologen mit ihrer verbreiteten Facheinteilung »Vergleichende Regierungslehre«, »Internationale Beziehungen« und eben »Politische Theorie« den Löwenanteil der Tradition der europäischen Gesellschaftslehren gesichert, indem sie die »Politische Philosophie« von Platon bis Habermas zu ihrer Fachidentität zählen. Komplexer ist die Machttechnik, einzelne Figuren der Vergangenheit zu Klassikern der Soziologie zu promovieren. Aber wer entscheidet über solche Promotionen? Geht es nach der Häufigkeit der Zitationen, die über Social Sciences Citation Index oder Arts & Humanities Citation Index festzustellen sind? Ist es ein Konsens, der über Generationen unter Soziologen tradiert und in Curricula und Prüfungsordnungen immer wieder bestätigt wird? In welchem Verhältnis steht die Wissenschaftsgeschichte der Soziologie mit ihren neuen Erkenntnissen zum eingeübten Ensemble des Kanons der Klassiker? Der pädagogische Nutzen von Listen mit Klassikernamen für die Lehre zur Einführung in die Soziologie steht außer Frage. Doch vermischt sich dieses einfache Anliegen mit der zweischneidigen Debatte um die Identität der Soziologie. Eigentlich ist Identität nichts Besonderes, jedes Phänomen hat seine Identität. Probleme bereiten diejenigen, die von Identitätsängsten geplagt sind. Wo Selbstbewusstsein fehlt, muss Identität her, und der kindliche Wunsch nach <?page no="25"?> 26 Wolfgang Eßbach schützenden Gründervätern findet bei den zu Klassikern erhobenen starken Heroen der Soziologie seine Erfüllung. Machttechnisch interessant wird es, wenn man sich derartige Listen genauer ansieht. In der pädagogisch durchaus lobenswerten Liste der Website »50 Klassiker der Soziologie« finden sich beispielsweise Robert Michels, aber nicht Georges Sorel; Arnold Gehlen, aber nicht Max Scheler; Marcel Mauss, aber nicht Claude-Lévi Strauss; Pierre Bourdieu, aber nicht Edgar Morin. Für jeden, der hier zum Klassiker promoviert wurde, gibt es eine diskutable Alternative. Die Exklusion hat freilich eine implizite Logik. Die Ausgeschlossenen gehören zu der Sorte von Wissenschaftlern, die nicht nur für die Soziologie Bedeutendes geleistet haben, sondern auch für Fächer jenseits eng gefasster soziologischer Fachgrenzen. Wenn man sich von den Machttechniken zur Disziplinierung von Disziplinen verabschiedet und nach sinnvollen Wegen einer Soziologie vor der Soziologie sucht, stellt man rasch fest, dass in der Vergangenheit Autoren über Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und den Wandel dieser Ordnungen nachgedacht und geschrieben haben, die sich heutigen Facheinteilungen entziehen. In Europa sind es zwei Formen geistiger Arbeit gewesen, die einen bemerkenswerten Fundus von Kenntnissen und Erkenntnissen über die Sozialität des Menschen geschaffen haben: einmal das Bestreben, das verstreute Wissen Einzelner oder verschiedener Gruppen zu sammeln und zu ordnen, zum anderen das bohrende Nachfragen in Angelegenheiten, die bisher fraglos hingenommen wurden. Für die eine Form steht der Typus des Gelehrten oder Universalgelehrten, für die andere der des Philosophen, wobei sich bei vielen Autoren auch beides mischen kann. Wir unterscheiden drei Wege, mit diesem Fundus umzugehen. 1. Historische Quellen soziologischen Denkens sind aufzudecken, wenn man sich daran macht, die Theorien und Problemlösungen zu rekonstruieren, die Gelehrte und Philosophen für die Fragen entwickelt haben, auf die alle menschlichen Gesellschaften seit Anbeginn eine Antwort suchen: Menschen mussten sich ernähren, mit dem Wetter zurechtkommen und ihre Wohnungen bewohnbar halten. Sie mussten irgendwie miteinander auskommen und den Nachwuchs so erziehen, dass er in die Gruppe integriert werden konnte. Sie mussten die Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit des Körpers akzeptieren und diesen schließlich bestatten. Sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass Männer und Frauen existieren und dass Generationen kommen und gehen. Sie mussten anerkennen, dass es fette und magere Jahre gibt und dass Feuer, Überschwemmung oder Dürre vieles wieder zunichtemachen konnten. Und sie mussten mit übel gesonnenen Menschen rechnen, mit feindlichen Gruppen, gegen die man Krieg führte, oder mit einzelnen, die in der Gruppe existierten und sich nicht fügen wollten. Was z. B. bei Aristoteles über soziale Klassen, bei Augustinus über den gerechten Krieg, bei Thomas von Aquin über die Arbeitsteilung, bei Machiavelli über das Absterben veralteter Institutionen, bei Montaigne über das Streben nach einem gesellschaftlichen Gleichgewicht, bei Hobbes über Gewalt, Macht und Herrschaft, bei Hegel über Liebe, Ehe und Familie zu lesen ist, hat nicht nur soziologische Relevanz. Wer sich damit auseinandersetzt, kann zudem Grundfiguren des Denkens über Gesellschaft entdecken, die in der Folge wieder und wieder überschrieben wurden. Kurz gesagt: Man kann zu fast allen Fragen, die sich auf das Zusammenleben von Menschen beziehen, bei Gelehrten und Philosophen früherer Jahrhunderte kluge Einsichten und interessante Argumentationen finden. Was den gedanklichen Zugriff angeht, sind sie bisweilen sogar überzeugender als heutige soziologische Ansätze. 2. Ein anderer Weg, historische Quellen soziologischen Denkens aufzusuchen, besteht darin, die heute verwendeten Grundbegriffe auf ihre geschichtliche Befrachtung hin zu befragen. Auf diese Weise lässt sich prüfen, ob der Begriff noch das trifft, was er treffen soll. Alle Sprache registriert und verwandelt Sachverhalte, sie ist rezeptiv und produktiv. Von der amititia zur Freund- <?page no="26"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 27 schaft, von der communitas zur Gemeinschaft, von der societas zur Gesellschaft, von der Polis zum Staat verändert sich einiges. Es kann geschehen, dass Wort und Sache in einem bestimmten Zeitraum deckungsgleich bleiben. Es kann aber auch geschehen, dass das Wort gleich bleibt, die Sache sich aber ändert, oder umgekehrt: Das Wort ändert sich, und die Sache bleibt gleich. Schließlich können Sache und Wort so auseinanderdriften, dass die alten Zuordnungen unverständlich werden (Koselleck 2006). Die Alternative zu dieser Art einer diachronen Begriffsgeschichte besteht in einer ideengeschichtlichen Forschung, die bei der Nutzung von historischen Quellen soziologischen Denkens mehr auf den historischen Kontext achtet als auf den einzelnen Text oder eine einzelne Aussage. Denn die Klassiker danach zu befragen, was sie zur Idee der Gesellschaft, der sozialen Ordnung, der Funktion der Familie usw. gesagt haben, kann zu dem Mythos führen, dass eine kohärente Lehre vorliegt, wo es sich doch nur um zusammengestückelte Aussagen handelt, die im konkreten Kontext eine ganz andere Funktion hatten (Skinner 2010). 3. Wenn es um die historischen Quellen soziologischen Denkens geht, kann man drittens auch den Blick auf historische Paradigmen der redundanten Denkformen und Sprachspiele lenken, die in allen Bereichen des Wissens in einem Zeitraum von mittlerer Dauer ihre Anwendung finden. Hier ließe sich von politischen Sprachen im Sinne von John G. A. Pocock sprechen, von den verbreiteten Arten, etwas zu problematisieren oder nicht, von den Konventionen der Rhetorik, dem Stil der Plausibilisierung und dem Sortiment von Vokabeln, das eingesetzt wird (Pocock 2010). Eine solche Analyse lässt sich auch mit Blick auf eine historische Diskursanalyse erweitern, wie wir sie Michel Foucault für die Grammatik, die Klassifikation der Lebewesen und für die Analyse der Reichtümer verdanken, bevor sich das Wissen in Disziplinen der empirischen Felder »Arbeit«, »Leben« und »Sprache« ausdifferenziert hat (Foucault 1974). Auf dieser Ebene von Denkrahmen, bei Foucault episteme genannt, geht es nicht mehr um Autoren, sondern um mögliche Subjektpositionen und Gegenstandsfelder, die die Ordnung des Diskurses zulässt oder nicht. Alles in allem: Soziologie vor der Soziologie bereitet einige Mühe und bedarf besonderer Anstrengungen, weil Soziologie ein spätes Fach ist, gerade mal gut 100 Jahre alt. Hinzu kommt, dass Soziologen nicht so vorgehen können wie etwa Physiker oder Chemiker, die in den Schriften von Gelehrten und Philosophen früherer Zeit exakt zwischen wahren Einsichten und horrendem Unsinn unterscheiden können, weil für sie der heutige Stand des Wissens maßgeblich ist. In der Soziologie verbietet sich dieses einfache Verfahren. Denn wenn es z. B. um die Validität von Aussagen über Blei geht, so nehmen wir an, dass sich dieser Reinstoff seit langer Zeit nicht verändert hat und das Wachstum des richtigen Wissens und die Bestimmung der Irrtümer auf dem Weg des Experiments gesichert werden kann. Bei Menschen, in Gesellschaft lebend, ändern sich die Dinge. So verfährt denn auch die soziologische Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Naturforschung nach dem Symmetrieprinzip, das lautet: Wahrheit und Irrtum der Wissenschaft einer Zeit sollen mit denselben Begriffen, Ursachen, Faktoren-- d. h. eben symmetrisch-- erklärt werden. Newtons Irrtümer und seine Durchbrüche sollten gerechterweise mit dem gleichen Maß gemessen werden, weil man sonst den offenen Charakter von Wissenschaft, bei dem ja gerade nicht von vornherein feststeht, was spätere Generationen gebrauchen und anerkennen können und was nicht, grundsätzlich verfehlt (Bloor 1991). Sich mit den historischen Quellen soziologischen Denkens zu befassen, ist gerade in Deutschland auch aus politischen Gründen von Bedeutung. Denn im Selbstbewusstsein hiesiger Bürger fehlt eine verlässliche politische Konzeption mythischen Charakters, die helfen könnte, im Fluss der Ereignisse, der Krisen und Glücksmomente wieder zur Ruhe zu kommen. Helmuth Plessner hat daran erinnert, dass das Parlament in England, die bürgerliche Emanzipation in Frankreich, die erste bürgerliche Republik in Holland nicht einfach nur wichtige historische Ereignisse und <?page no="27"?> 28 Wolfgang Eßbach Prozesse darstellten, sondern es sich jeweils um nationale »Grundmythen« handelt. Plessner bemerkt dazu: »Uns fehlt eine solche Grundmythe und infolgedessen eine spezifisch bindende Tradition. Gerade deshalb sind wir das Volk der Geschichte geworden.« (Plessner 1982: 255) Auch wenn seit 1945 unser historisches Bewusstsein auf Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust konzentriert ist-- für alle Gesellschaften gilt, dass sie zur Bewältigung ihrer Krisen die guten Geister der Vergangenheit zu Hilfe rufen und den Beistand der Ahnen in Ritualen von Erinnerungskultur erbitten. Für die Krise Europas gilt dies Erfordernis heute in besonderem Maße, geschichtslose Selbstherrlichkeit kann sich dieser Kontinent im Unterschied zu den USA nicht leisten. Denn dort kann man sich auf andere Mythen verlassen und wie Huckleberry Finn auf die Bildungsangebote der Witwe Douglas reagieren: »After supper she got out her book and learned me about Moses and the Bulrushers, and I was in a sweat to find out all about him; but by and by she let it out that Moses had been dead a considerable long time; so then I didn’t care no more about him, because I don’t take no stock in dead people.« (Twain 1885: 2) Wir beschränken uns in diesem Beitrag auf die Soziologie vor der Soziologie und behandeln das Denken der Gesellschaft bis zu jenem Moment, an dem die heute als Gründerväter der Soziologie gefeierten Autoren Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber, Vilfredo Pareto, George Herbert Mead u. a. ihre Arbeit aufnehmen. 2. Entdeckung der Gesellschaft Die Entstehung von Soziologie zum Ende des 19.-Jahrhunderts ist mit dem eigenartigen Vorgang der Entdeckung der Gesellschaft untrennbar verbunden. Dies meint nun nicht, dass unsere ferneren Vorfahren sich nicht bewusst gewesen wären, dass Menschen in Gesellschaft leben. Sie wussten sehr wohl, dass Menschen, so wie sie ihr Leben führen, einander brauchen. Es war völlig selbstverständlich, dass, wie der Grieche Aristoteles schrieb, der Mensch ein zoon politikon ist-- ein Tier sicherlich, aber ein solches, das sich zu einer politisch-gesellschaftlichen Lebensform erheben kann. Die Entdeckung der Gesellschaft im 19.-Jahrhundert bezeichnet jenen Vorgang, mit dem eine alte Selbstverständlichkeit von gesellschaftlich-gemeinschaftlicher Seinsweise brüchig wird und Gesellschaft als ein Problem erscheint, für das es neue Lösungen zu finden gilt. Soziologen haben die Gesellschaft nicht aus heiterem Himmel entdeckt, sondern unter einem düsteren Himmel den Aufruhr ihrer Zeit erfahren und sich als soziales Problem versucht verständlich zu machen. Von daher steht soziologische Arbeit immer unter »Zeitdruck« im mehrfachen Sinne. Die Zeit ist zu knapp für das gemächliche Ausreifen der Forschungsergebnisse, und die Zeit bedrückt mit ihren ideologischen Verblendungen ebenso wie mit ihren Ratlosigkeiten. Gegen diese historische Situierung der Entdeckung der Gesellschaft könnte jemand mit gutem philosophischen Sinn einwenden: Menschen haben doch immer dieselben Probleme gehabt. Dies ist eine sehr ehrenwerte und auch weise Auffassung. Wenn man auf einen hohen Berg steigt und in der klaren Luft einsam stehend über die Welt nachdenkt, wird man wohl zu solchen Auffassungen kommen. Aber unten in den Tälern und Niederungen, da wo sich Soziologinnen und Soziologen aufhalten, stellen sich die Dinge anders dar. Hier gibt es schon ewige Grundprobleme, aber es gibt vor allem Probleme, die auf den Nägeln brennen, angesichts derer man die nicht so relevanten Probleme und Prioritäten durchaus zeitweise vergessen kann. Im 19.-Jahrhundert ist das Problem Gesellschaft ein auf den Nägeln brennendes Problem. Denn die lebensweltlichen Gewissheiten der frühen Moderne fallen einem vierfachen Angriff zum Opfer: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Kunst. <?page no="28"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 29 Revolutionierung der Politik: Mit der Französischen Revolution, die 1789 beginnt und deren Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sich in der Folgezeit in der Welt auszubreiten beginnen, geht die lange Dauer einer in Stände gegliederten Gesellschaft zu Ende. Das große Muster sozialer Differenzierung war, wenn man den Blick auf den indo-europäischen Kulturkreis eingrenzt, bis dahin erstaunlich konstant. Die historischen Erzählungen berichten von der Vollkommenheit der Gliederung der Gesellschaft in drei Hauptfunktionen: 1. dem göttlichen Gesetz, das zur Ordnung zurückführt, 2. dem bewehrten Arm, der mit Gewalt zum Gehorsam zwingt, und 3. der Fruchtbarkeit der Arbeit, der Fülle und der Feste. Die vollkommene Gesellschaft teilt sich in drei Stände: Geistlichkeit, Adel und Dritter Stand. Der dem Adel entstammende und vom Bischof gesalbte Monarch bildet die Spitze des ständisch gegliederten Gemeinwesens. Diese trifunktionale Ideologie war historisch nicht unangefochten. Gegenüber der Vollkommenheit der Dreiteilung wird geltend gemacht, dass der Friede der Ordnung nur ein oberflächlicher Schein sei, während in Wahrheit die Gesellschaft von einem geheimen Krieg durchzogen sei, der sie in nur zwei Lager teile. Jedes Individuum würde sich mit dem Offenbarwerden der fundamentalen binären Spaltung der Gesellschaft auf einer Seite finden. Unter dem Ansturm dieser Kritik am Trifunktionalismus brach das alteuropäische Ständesystem zusammen. Der Vorgang ist am klassischen Beispiel der Französischen Revolution gut zu beobachten. Die berühmte Kampfschrift von Emmanuel Sieyès zeigt lehrbuchartig die Dramatik der Umstellung vom Trifunktionalismus zur Binarität. Der Dritte Stand ist demnach jetzt eine »vollständige Nation«. In ihr gibt es nur zwei Typen von Arbeiten: private und öffentliche. Das alles kann der Dritte Stand leisten. Der Rest, die »Privilegierten«, d. h. Adel und Geistlichkeit, sind überflüssig (Sieyès 1968: 56). Das politische Ordnungsgefüge wurde unter die Imperative »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod« gestellt, sodass ein junger Anarchist schreiben konnte: »So lange der menschliche Geist nicht seiner Freiheit und ungebundenen Selbstentwicklung überlassen ist, so lange können wir auch nicht sagen, er habe ein Dasein, das seiner würdig wäre.« (Bauer 1842: 9) Monetarisierung der Beziehungen: Die Ursprünge des Geldes reichen weit zurück. Auch Märkte, auf denen Güter gehandelt wurden, gab es schon lange. Entscheidend ist: Die großen Beschränkungen, denen die europäischen Märkte noch im 18.-Jahrhundert unterlagen, fielen in der ersten Hälfte des 19.-Jahrhunderts Stück für Stück weg, so dass sich die Menschen in Europa erstmals mit einem System weitgehend sich selbst regulierender Märkte konfrontiert sahen. Im 19.-Jahrhundert musste man schon sehr blind sein, wenn man nicht sehen wollte, wie alle sozialen Beziehungen in den Strudel der ökonomischen Rationalität gezogen wurden, wie auch die ehrwürdigsten Güter der Gesellschaft und der Kultur plötzlich einen Preis bekamen, verkäuflich und käuflich wurden. Die Geldwirtschaft und das Rentabilitätsbewusstsein durchdrangen so sehr die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Verhältnis zu Dingen, dass ein anonymer Zeitgenosse feststellte: »Vermögen, Reichtum, Nutzen, Erwerb, Geld-- das gilt über alles. Es ist zwar wohl immer geschätzt worden, allein doch nur als Repräsentant der Dinge; jetzt gilt aber der Repräsentant mehr als das Repräsentierte, und die Sachen und Dinge sind bloß Repräsentanten des Geldes geworden.« (Anonym 1834: 47) Industrialisierung der Arbeit: Die Geschichte der Industrie hat einen langen Vorlauf. Maschinen, mit denen die Körperkräfte des Menschen gesteigert werden konnten, kannte man schon in der Antike. Die Nutzung von Wind und Wasser in der Mühlentechnologie blühte im Mittelalter. Der spätmittelalterliche Bergbau stellte ein Mikromodell der Industrialisierung dar. Es gab zu dieser Zeit ein Ensemble von technischen und sozialen Strategien, die von hier aus in andere industrielle Bereiche eingedrungen sind. Ohne die Lösung der Energiekrise des 18.- Jahrhun- <?page no="29"?> 30 Wolfgang Eßbach derts, d. h. ohne den durch die Entfaltung des Bergbaus möglichen Übergang vom Holz zur Kohle, wäre die industrielle Revolution undenkbar gewesen. Die fossile Energie ermöglichte der Dampfmaschinen-Technologie ihren Siegeszug. Für die Ausbreitung von Maschinen war der Zeitpunkt entscheidend, an dem Maschinen oder einzelne ihrer Module mehr und mehr maschinell erzeugt werden konnten. In der Fabrik stieg daraufhin der Anteil des »toten Kapitals« der Maschinen gegenüber »dem lebendigen Kapital« der Arbeiter. Die technischen Innovationen und die Ausbreitung neuer Maschinen ließen den Unternehmer Robert Owen feststellen: »Die Dampfmaschine und die Spinnmaschine haben jedoch mit ihren Folgeerscheinungen, den zahllosen mechanischen Erfindungen, so viel Unheil über die Gesellschaft gebracht, dass dieses nun weitaus den Segen überwiegt, den sie gebracht haben. […] Die allgemeine Ausbreitung der Fabriken über das ganze Land erzeugt einen neuen Charakter in seinen Bewohnern. […] Der Unternehmer betrachtet die Beschäftigten als bloße Instrumente für seinen Gewinn, während die Arbeiter einen grob gewalttätigen Charakter erwerben.« (Owen 1970: 55 f.) Autonomisierung der Künste: An Festtagen, wenn die Arbeit ruhte, war Zeit für die Kunst des einfachen Volkes, die herrschenden Schichten hatten dagegen mehr Muße und Mittel für die Repräsentation ihres Ranges und die Feier ihren Lebensstils in Architektur, Bildender Kunst, Musik und Literatur. Die Künstler standen im Dienst der Kirche und des Adels oder waren selbst Angehörige der Oberschicht. Mit der Genese eines bürgerlichen Publikums wuchs sehr langsam die Zahl der Künstler, die ihre Werke auf einem Markt anbieten konnten. Damit erweiterten sich die Chancen für ästhetische Distinktionen, die Stoff für die Kunstdiskussion werden konnten. Sie bezog sich mehr und mehr auf den Wert der Kunst an sich, auf ihre schöpferische Originalität und ihre Kühnheit, sich vom Gewöhnlichen abzuheben. Diese Autonomisierung der Künste führte zu Prozessen kunstinterner Normbildung und der überraschenden innovativen Überschreitung ästhetischer Normen. Charles Baudelaire hat diese Autonomie der Kunst 1855 auf den Punkt gebracht: »Der Künstler hängt nur von sich selbst ab. Er verspricht den kommenden Jahrhunderten nur seine eigenen Werke. Er bürgt nur für sich selbst. Er stirbt ohne Nachkommen. Er war sein König, sein Priester und sein Gott.« (Baudelaire 1983: 234) Stimmen aus dem 19.-Jahrhundert, die die vier Prozesse: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Künste als etwas grundstürzend Neues erfahren haben, ließen sich mühelos zu einem Riesenchor erweitern. Aus den verschiedensten Perspektiven taucht Gesellschaft als Problem auf: Die Idee der ungebundenen Selbstentwicklung bedroht die soziale Bindung. Das Geld macht Beziehungen käuflich. Die Maschinen führen zu verelendeten und gewalttätigen Arbeitern, die Künstler definieren sich als absolut autonom.- - Gesellschaft in dem Sinne, dass Menschen einander brauchen, dass sie ihr Handeln in eine Ordnung bringen müssen-- diese alte Vertrautheit bricht. Das Einander-Brauchen funktioniert ganz unsozial als bloßes Ausnutzen. Viele denken sich als Gegenüber der Gesellschaft. Gegen Gesellschaft wird Freiheit, Eigennutz und Autonomie gefordert und praktiziert. Gesellschaft erscheint so als eine Art Nichtgesellschaft oder als Auflösung der Gesellschaft, als gesellschaftliches Chaos-- und das ist vielen unheimlich. In einer paradoxen Selbstwahrnehmung sprechen die Menschen davon, dass es gesellschaftliche Kräfte sind, die die Gesellschaft bedrohen. Mit der Entdeckung der Gesellschaft als einem fraglich gewordenen Phänomen im 19.-Jahrhundert bilden sich drei Optionen heraus, deren Erbschaften in die Soziologie eingehen und bis heute Imaginationen ihrer Wirksamkeit stimulieren. Zum einen ist das der Wille zu einer stabileren Sozialordnung, zum anderen der Wille zu einer besseren Gesellschaft, drittens schließlich der Wille zu einer informativen Selbstdarstellung der Gesellschaft. <?page no="30"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 31 3. Die Stabilität der sozialen Ordnung: Staat, Polizei, Selbstregulation Der moderne Staat: Eine dramatische Herausforderung für die Stabilität sozialer Ordnung waren die über 200 Jahre währenden europäischen Glaubenskriege in Folge der Reformation. Diese Kriege haben unsere Moderne tief geprägt. Religiöse Reformbewegungen kannte man seit langem. Entscheidend war, dass die religiösen Abweichler Herrscher fanden, die den reformierten Glauben zu ihrer Sache und damit zur Glaubenspflicht für ihre Untertanen machten. Die Glaubenskriege waren somit zugleich Staatenbildungskriege. In der neuen Form des Territorialstaats sollten alle einer Konfession angehören. Der gesellschaftstheoretische Grundsatz lautete: religio vinculum societatis (Jede Gesellschaft braucht eine einheitliche Religion für ihren Zusammenhalt). Dissidenten mussten auswandern, und die Gläubigen, die keinen Staat ihrer Konfession fanden, verschlug es in diesen Kriegen an die Peripherie entweder in den Osten Europas oder-- weit erfolgreicher-- über den Atlantik nach Nordamerika, um dort eine Gesellschaft auf der Basis der Religionsfreiheit zu errichten. In Frankreich vertrat der im Glaubenskrieg zeitweise inhaftierte Jean Bodin folgende These: Um trotz konfessioneller Zwietracht, die in religiös erregten Zeiten stets von Neuem aufbrechen konnte, friedlich zusammenzuleben, reiche es nicht, Familien und Gruppen sich selbst zu überlassen. Vielmehr sei eine absolut unabhängige oberste vernünftige Gewalt nötig: »Summa potestate ac ratione moderata.« (Bodin 1591: I,1) Die maßgebliche Modellvorstellung für eine solche souveräne Macht entwickelte ein anderer Glaubenskriegsgeschädigter: Thomas Hobbes ging davon aus, dass die Natur nicht nur, wie man in der Antike meinte, dafür gesorgt habe, dass jedem das Naturgemäße zur Erfüllung seiner Bedürfnisse gegeben sei, sondern dass im Naturzustand jeder den Anspruch auf alles ihm überhaupt Erreichbare geltend mache. »Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des andern Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten.« (Hobbes 1978: 113 f.) Dieser Krieg aller gegen alle ist nur zu beenden, wenn die Menschen einen Vertrag darüber schließen, auf Gewalt zu verzichten und diese einer souveränen Macht als Monopol zu übertragen. Die moderne Polizei: Die Stabilität sozialer Ordnung bedarf nicht nur grundlegender, den inneren Frieden wahrender verfassungsrechtlicher Formen. Nicht minder wichtig sind Erhalt, Pflege und Förderung gesellschaftlicher Teilbereiche, die sich der moderne Staat zur Aufgabe gemacht hat. Zu den historischen Quellen der Soziologie gehört gleichgewichtig die Kameralwissenschaft, die so genannte »Policeywissenschaft«. Die Staatswirtschaftslehren befassten sich mit der Frage, welches Wissen benötigt wird, um das Ziel zu erreichen, das J. H. G. von Justi so beschrieben hat: »Der Endzweck der Policey ist demnach, durch gute innerliche Verfassungen die Erhaltung und Vermehrung des allgemeinen Vermögens des Staats zu bewirken.« (Justi 1759: 6) Wir haben es hier mit einer Polizei zu tun, die die Steigerung der kollektiven und individuellen Kräfte der Staatsmitglieder zum Endzweck hat. Diese Polizei kümmert sich um Erhaltung und Vermehrung und befasst sich nicht zuerst mit dem Verhältnis von Volk und Herrscher, sondern mit der Bevölkerung. Sie ist der prominente Gegenstand der Staatswissenschaft. Es geht um die Personen, die ein Staatsgebiet bevölkern, und hieran schließt sich eine Reihe von Fragen an, die zur Anlage von Wissensbeständen führen. Beschäftigt man sich mit der Bevölkerung, gerät zunächst ihre Fruchtbarkeit in den Blick. Wie hoch ist die Geburtenrate, wie hoch die Sterblichkeit? Dann geht es um die Zusammensetzung: Wie viele Frauen gibt es, wie viele Männer? Wie sieht es mit der Zusammensetzung nach Generationen aus? Welches Alter errei- <?page no="31"?> 32 Wolfgang Eßbach chen die Personen? Bevölkerung lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Produktivität betrachten: Wie steht es um Art und Verteilung der Berufe, des Zusammenhangs von Berufen und zu ihnen gehörigen Ressourcen, die Art der Qualifikationen, des Gelernt-Habens und der Ausbildung. Auch Fragen der Sicherheit, der Regenerierung, der Produktivität, Fragen nach Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungszustand, Wohnverhältnisse, Kleidung u. a. m. stellen sich im Hinblick auf die Bevölkerung. Aus der Tradition der Polizeiwissenschaft haben sich bis heute zwei Formen der Wissensvermehrung in der Soziologie erhalten: 1. die Statistik, denn ohne Zahlen sind Aussagen über die Bevölkerung nicht möglich. Wie viele Personen gibt es im jeweiligen Staat? Wie viele leben, wie viele sterben? Womit beschäftigen sie sich? Welche Ausbildung haben sie? Statistik ist eine unentbehrliche Hilfswissenschaft für die quantitative Sozialforschung in der Soziologie geworden. 2. der Lagebericht, denn Zahlen können täuschen. Also muss man die Dinge direkt in Augenschein nehmen. Die Inspektoren reisen im Lande herum, beobachten, besichtigen, führen Gespräche, vernehmen die verschiedenen Parteien, hören Lob und Tadel. Sie notieren sich die Klagen sowie das, was ihnen stolz als Errungenschaft präsentiert wird. Sie gewinnen einen Eindruck; sie machen sich ein Bild von der Lage, ordnen die Informationen; sie recherchieren und schreiben Lageberichte. Diese Berichte zur Lage, die auf direkter Beobachtung und direkter Nachfrage beruhen, finden sich bis heute in der Soziologie als qualitative Sozialforschung. Gegen die Statistik des Belgiers Adolphe Quételet, der für Kollektive Normalverteilungen und Durchschnittwerte errechnete, beharrte Fréderic Le Play darauf, die Familie als Erhebungseinheit zu nehmen und diese auch vor Ort aufzusuchen, was er als Professor an einer Bergbauschule ausgiebig praktizierte. Die Edition »Ouvriers européens« enthält Untersuchungen zu 36 Arbeiterfamilien, die in Inspektorenmanier teilnehmend beobachtet worden waren (Le Play 1855). Die Selbstregulation moderner Gesellschaft: Neben den staatszentrierten Perspektiven konnte man sich in der Krise des 19.-Jahrhunderts auch auf solche Traditionen beziehen, die die Stabilität sozialer Ordnung als eine begriffen, die sich eigentätig aus dem sozialen Leben von selbst ergeben würde. So hatte Michel de Montaigne schon früh die Erfahrung gemacht, »daß die Gesellschaft letztlich stets verschweißt bleibt und zusammenhält, koste es, was es wolle. In welche Lage man die Menschen auch versetzt-- auf der Stelle ordnen sie sich unter Schieben und Drängen zu vierlei Schichten übereinander: so wie lose Dinge, die man aufs Geratewohl in einen Sack wirft, von selber sich verbinden und auf vielfältige Weise zusammenfügen- - und besser oft, als Kunstfertigkeit sie zu ordnen vermöchte.« (Montaigne 21998: 480 f.) Gegen die Idee, dass die Stabilität sozialer Ordnung nur durch einen starken Staat zu garantieren sei, hat Charles-Louis de Secondat, der unter dem Namen Montesquieu berühmt wurde, auf dem Wege eines Gesellschaftsvergleichs aufgezeigt, dass die Vielfalt sozialer Ordnungen immer das Ergebnis mehrerer Faktoren ist. Es spielt eine Rolle, wie Wetter und Boden beschaffen sind, denn davon hängt ab, wie die Ernährungsgrundlage, Eigentumsverhältnisse und die Bedürfnisse der Menschen aussehen. Entscheidend sind die konkreten Umstände (circonstances), mit denen der Mensch als flexibles Wesen (être flexible) umzugehen gelernt hat (Montesquieu 1900: II). Für die Vorstellung einer Selbstregulation sozialer Ordnung bildete die Orientierung an materiellen Interessen einen idealen Ausgangspunkt. Für Adam Smith ist es der Tausch, der das Interesse des einen mit dem des anderen verbindet. Der »Hang zu tauschen, zu verhandeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln« (»to truck, barter and exchange one thing for another«) gehört für Smith zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen: »Kein Mensch sah jemals einen Hund mit einem anderen einen gütlichen und wohlbedachten Austausch eines <?page no="32"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 33 Knochen gegen einen andern machen.« Wenn der Hund etwas haben möchte, so tauscht er nicht, sondern er »sucht auf tausenderlei Weise sich seinem bei Tische sitzenden Herrn bemerklich zu machen, wenn er etwas zu fressen haben will. Ein Mensch bedient sich bisweilen derselben Künste bei seinen Mitmenschen, und wenn er kein anderes Mittel kennt, sie zu bewegen, daß sie nach seinem Wunsche handeln, so sucht er durch jede mögliche knechtische und schweifwedelnde Aufmerksamkeit ihre Willfährigkeit zu gewinnen.« Aber in »einer zivilisierten Gesellschaft befindet er sich zu jeder Zeit in dem Falle, die Mitwirkung und den Beistand einer großen Menge von Menschen zu brauchen, während sein ganzes Leben kaum hinreicht, die Freundschaft von ein paar Personen zu gewinnen.« (Smith 1846: 24f ) Die Angewiesenheit auf die Hilfe vieler Mitmenschen ergibt sich aus der Arbeitsteilung, die sich in zivilisierten Gesellschaften herausgebildet hat. Für Adam Smith geht die Spezialisierung der Berufe auf den Hang zum Tauschen zurück. Der Einzelne bindet sich mit seiner Spezialität an den anderen, d. h. er macht sich für andere nützlich. Wenn ein jeder die Eigenliebe des anderen zu seinen Gunsten zu interessieren vermag und dem anderen zeigen kann, dass er seinen eigenen Nutzen davon haben kann, wenn er für ihn tut, was er von ihm haben will, dann entsteht ein Zusammenhang, der durch die Eigenliebe den Altruismus fördert. »Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.« (Smith 1846: 26) 4. Eine bessere Gesellschaft Im 19.- Jahrhundert wird Gesellschaft als eine fragliche Angelegenheit entdeckt. Gesellschaftslehren, die Fragen der Herrschaft, der Polizei und der Selbstregulation ins Zentrum setzen, orientieren sich an der Idee einer stabilen Sozialordnung. Was aber, wenn die Idee Platz greift, dass die Gesellschaft von Grund auf neu organisiert werden muss oder dass es eine geschichtliche Progression hin zu einer neuen Gesellschaft gibt, auf die vertraut werden kann oder die zu beschleunigen ist? Der Traum von einer besseren Gesellschaft findet sich schon in den Idealgesellschaften und Idealstaaten, die Autoren seit der Antike entworfen haben. Das beginnt in Griechenland bei Plato und durchzieht fortan das abendländische Denken. Thomas Morus verdanken wir den Terminus Utopie. Die Autoren von Utopien verfahren konstruktivistisch. Entworfen werden andere Lebensformen, die das überbieten, was die bestehende Gesellschaftsform bietet. Der utopische Konstruktivist spielt das, was ihm wichtig ist, gedanklich durch: Wie wird die Ernährung aussehen, wie der Häuserbau, wie die Zeitregelung, wie die Erziehung, wie die Müllabfuhr und so weiter? Alles muss passen, so dass sich jeder vorstellen kann, dass es besser sei, in dieser Art zu leben, als im jeweiligen Jetzt-Zustand. Die bessere Gesellschaft muss aber nicht auf eine utopische Insel verlegt werden, sie kann auch als eine besondere Phase im Leben von Völkern geschichtlich situiert werden, als ein goldenes Zeitalter, als Blüte einer Kultur oder als zu erwartender Höhepunkt. So hat Ibn Khaldūn (1332-1406) aus der Erfahrung der Konfrontation von Gesellschaften unterschiedlichen Typs im südlichen Mittelmeer ein zyklisches Geschichtsbild gezeichnet. Nomadische Lebensweisen kennen eine starke Solidarität; mit dem Eintritt in differenziertere urbane Lebensweisen wird der Zusammenhalt jedoch schwächer. Es kommt zu Zerfallserscheinungen, die Gesellschaft ist Eroberungen durch einen von außen kommenden Nomadenstamm hilflos ausgeliefert, den <?page no="33"?> 34 Wolfgang Eßbach freilich über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen wird (Khaldūn 1992). Je nach der Selbstpositionierung in einem solchen Ablaufschema kann ein Gesellschaftszustand als besser oder schlechter erscheinen. Das zyklische Geschichtsbild von Giambattista Vico ist wie viele Denkweisen dieser Art am menschlichen Lebenslauf im Sinne der natürlichen Entwicklung des menschlichen Geistes orientiert und zielt auf eine wiederkehrende Struktur der Gesellschaftsgeschichte von Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende, um dann von Neuem seinen Lauf zu nehmen. Vicos Modell ist in der Hauptsache der Geschichte Roms abgelesen. Nach dessen Untergang kehrt die Stufe heroischer Barbarei im Mittelalter wieder, nicht als identische Wiederholung, sondern bereichert durch die vorausgegangene Entwicklung (Croce 1927). Während Vico seine Sympathie für die heroische Zeit der Kindheit der Kulturen voller Fantasie und Poesie nicht verbarg, projiziert der Marquis de Condorcet den Idealzustand der Gesellschaft in die Zukunft, in der das Menschengeschlecht, neun Epochen durchlaufend, auf einen Zustand der Vollkommenheit zueilt. Die Perfektibilität des Menschen verläuft bei ihm in einer linearen Zeit, die bessere Gesellschaft ist die jeweils nächste (Condorcet 2010). Mit den Umbrüchen der Französischen Revolution wird die Sehnsucht nach einer ganz neuen Gesellschaft enorm verstärkt. Frankreich entwickelt sich zur Brutstätte von Gesellschaftslehren, deren Leuchtkraft bis heute ausstrahlt. Bei Saint-Simon und seinen Jüngern ist früh schon das Ensemble der postrevolutionären Konstellation präsent, das für das Denken der Gesellschaft im 19.- Jahrhundert bestimmend geworden ist: die Idee der Industriegesellschaft, die Arbeiterfrage, der Feminismus und das Ziel einer Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen, deren oberste Leitung der Wissenschaft zukommt. Einer der Sekretäre Saint-Simons, Auguste Comte (1798-1857), hat dieser neuen Wissenschaft ihren Namen gegeben: »Soziologie«. Die Soziologie ist die Königin des neuen wissenschaftlichen Zeitalters, in dem die Menschen in der Lage sind, ihr Zusammenleben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu organisieren. Die Ideen für eine bessere Gesellschaft gehen dann freilich in verschiedene Richtungen. Comte erfindet die Soziologie als Krönung der positivistischen Wissenschaft, die wie eine Kirche organisiert wird, und legt sich vor seinem Tod 1857 den Titel Le Fondateur de la Religion Universelle. Grand-Prètre de l’Humanité zu. Andere Schüler Saint-Simons wie Barthélemy Prosper Enfantin sahen die Befreiung der Frau und die Abschaffung der Ehe als Königinnenweg zu einer besseren Gesellschaft. Schließlich verstärken die Saint-Simonisten den anschwellenden Strom von Gesellschaftslehren, die die soziale Frage, insbesondere das Elend der Arbeiter fokussieren und die bessere Gesellschaft in einem Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus realisieren wollen. Verwissenschaftlichung und Fortschritt der Gesellschaft: Die von Comte gestiftete Menschheitsreligion ist der Schluss der Entwicklung des menschlichen Geistes, der in allen Gebieten des menschlichen Wissens drei Phasen durchläuft: die theologische, die metaphysische und die wissenschaftliche. Sein berühmtes Drei-Stadien-Gesetz reflektiert die Korrelation von gesellschaftlicher Organisation und geistigem Zustand. Dem Aberglauben der theologischen Phase, die vom Fetischismus über den Polytheismus bis zum Monotheismus reicht, korrespondiert die Theokratie als soziale Organisationsform, die militärisch geprägt ist. In der metaphysischen Phase sucht der menschliche Geist nicht mehr nach göttlichen Ursachen für Dinge, die er sich nicht erklären kann, sondern konstruiert Abstrakta-- Wesenheiten, denen tatsächliche Kräfte und Qualitäten zugesprochen werden können. In sozialer Hinsicht korrespondiert diese Phase mit der Entwicklung des Rechts sowie mit der Krise des Rechts, die in die Revolution münden wird und die sie <?page no="34"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 35 auch darstellt. Die Entwicklung des menschlichen Geistes finalisiert sich schließlich im positiven Stadium, in dem Ordnung und Fortschritt miteinander versöhnt sind. In diesem »endgültigen Stadium rationaler Positivität« ist die Einbildungskraft ständig der wissenschaftlichen Beobachtung untergeordnet (Comte 1994: 15). Dieser Positivismus hat viele Wissenschaftler beflügelt, insbesondere in Frankreich, dem ersten Land, in dem Soziologie sich als Fach an Universitäten etablieren konnte. Der Prozess ist mit dem Namen Émile Durkheim (1858-1917) verbunden, der wie kaum ein anderer Wert auf die wissenschaftliche Autonomie der Soziologie gegenüber anderen Fächern gelegt hat. Parallele Entwicklungen einer Positionierung der Wissenschaft von der Gesellschaft im Rahmen der Evolution des menschlichen Geistes und seiner sozialen Einrichtungen finden sich auch in England. Einflussreich wurde die synthetische Philosophie Herbert Spencers. Ihr Ziel war es, alles verfügbare Wissen in einer universalen Entwicklungslehre zu integrieren (Spencer 1901). Seine Definition von Entwicklung lautet: Entwicklung führt von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Es handelt sich um ein universales Entwicklungsgesetz, das für Himmelskörper, Organismen und Gesellschaften gleichermaßen gilt und für dessen Nachweis Spencer zehn Bände plant und diese in 35 Jahren auch bis auf die geplante Seitenzahl fertigstellt (ein Vergleich zu Luhmanns Zeitplanung bietet sich an). Bemerkenswert ist die Wendung, die er der Formel vom »Kampf ums Dasein«, die er vor Darwin prägte, gab. Dieser Kampf ist kein letztes Prinzip oder Endzweck, sondern ein Mittel, mit dem sich Gesellschaft als ein Aggregat von Individuen entwickelt. Soziale Aggregate, die voneinander abhängig werden, z. B. zwei gleichartige, aber getrennte Siedlungen, werden in der Entwicklung zu einer Einheit mit innerer Differenzierung. Gesellschaftliches Wachstum durch Integration, Desintegration und höhere Integration vollzieht sich entsprechend der evolutiven Bewegung von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Die Theorie funktionaler Differenzierung ist bei Spencer voll ausgebildet. Für Spencer ist jede Gesellschaft ein organisiertes Ganzes, an dessen Entwicklung auch diejenigen mitarbeiten, die dagegen sind oder ahnungslos, und das sind die meisten. Wie bei anderen in dieser Zeit auch, kann mit dem Organismusmodell die Erfahrung der ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit entfesselter Marktgesellschaften theoretisiert und eine Perspektive der Erlösung aus den Übeln gegeben werden. Die Fülle sozialer Konflikte und Spannungen, die schwankenden Ungleichheiten der Lebenslagen können als organische Wachstumskrisen interpretiert werden. Dass Teile einer Gesellschaft ungleich werden, dass soziale Bindungen zerreißen,-- diese Phänomene der Auflösung von Gemeinschaftlichkeit in entfesselten Marktgesellschaften werden als Signale einer Krise wahrgenommen werden, die jedoch nur eine Etappe auf der evolutiven Stufenleiter darstellt. Damit gewinnt der ungesellschaftliche Egoismus der Wirtschaftssubjekte eine zusätzliche Bedeutung. Darin kommt nicht nur ein utilitaristisches Streben nach Glück zum Ausdruck, sondern im Organismus der Gesellschaft stellt Egoismus ein Indiz des Wachstums dar. Wachstum heißt eben Ungleichgewicht, heißt aber zugleich Höherentwicklung und Ausdifferenzierung von Funktionen. Alle Rätsel finden in der Entwicklung ihre Lösung und alle Erlösung aus den Übeln einer zerrissenen Gegenwart geschieht durch Entwicklung. Während Spencer die Praxis des Manchester-Kapitalismus als Weg zu einer besseren Gesellschaft befürwortete, war die Theorie der gesellschaftlichen Evolution von Kulturen des Amerikaners Lewis Henry Morgan wegen ihrer Idee eines Urkommunismus für Sozialisten attraktiv (Morgan 1891). Die Evolution von der ersten Stufe der »Wildheit«, in deren Jäger- und Sammlergesellschaften eine auf Kollektiveigentum basierende matriarchale Organisation vorherrschte, über die Stufe der »Barbarei«, die eine patriarchale, auf dem Privateigentum basierende Organi- <?page no="35"?> 36 Wolfgang Eßbach sation von Agrikultur und Viehhaltung kannte, zur »Zivilisation«, deren Kennzeichen Städtebau und Schrift sind, ist für Morgan ein Curriculum, das alle Völker absolvieren. Morgans Unterscheidung zwischen einer »Societas«, die auf familialen Beziehungen, und einer »Civitas«, die auf Privateigentum beruht, inspirierte auch Ferdinand Tönnies. In der Jugendschrift der Soziologie in Deutschland, wie Max Weber Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies genannt hat, werden nicht nur zwei grundlegende Sozialformen des Menschen, nämlich eben Gemeinschaft und Gesellschaft, unterschieden, sondern Tönnies lässt damit zugleich in einer historischen Reihe das Zeitalter der Gesellschaft auf das der Gemeinschaft folgen (Tönnies 1979). In den ersten Fassungen nannte er das Buch eine Studie zum Naturrecht. Mit Thomas Hobbes hatte sich Tönnies zuvor intensiv auseinandergesetzt. Wichtig wurde für Tönnies dann insbesondere eine von Henry Maine vorgenommene Differenzierung: Soziale Beziehungen, die auf Verträgen beruhen, sind grundlegend unterschieden von der Zuneigung in Familie, Nachbarschaft und Freundschaft (Maine 1917). Die Geschlechterfrage: Morgans These von einer matriarchalen Organisation frühester Gesellschaften hat insbesondere die europäische Frauenbewegung fasziniert. Ihr kam im Anschluss an Morgans Forschungen Friedrich Engels mit seiner viel gelesenen Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats entgegen (Engels 1975). Aber auch Auguste Comte gab seiner Soziologie eine enthusiastische feministische Wende, die seine Kollegen irritierte. Neben der wissenschaftlichen Vernunft, die die Ordnung der Dinge aufzeigt, und der Aktivität, die handelnd Fortschritt erzeugt, hat Comte schließlich als drittes Element dem femininen Gefühl eine besondere Funktion zugeschrieben. Dem Bündnis von wissenschaftlicher Grundlage und aktivem Fortschritt fehle »eine hinreichende Vertretung des höchsten menschlichen Regulators. Er kann nur gemäß einem Element, das ihm direkt eigen ist, wie das philosophische Element der Vernunft eigen ist und das populäre der Aktivität, würdig seine Stelle einnehmen. Dies ist das grundlegende Motiv des unumgänglichen Hinzufügens der Frauen zur erneuernden Koalition, sobald als ihre Tendenzen und Bedürfnisse ziemlich klar werden.« (Comte 2004: 248) So steht im positivistischen Gebet »Liebe als Prinzip, Ordnung als Grundlage und Fortschritt als Ziel« die Frau an erster Stelle (Comte 2004: 333). John Stuart Mill hat das Motiv, das Comte dazu bewegt hat, in den Hausandachten zur Verehrung der »Göttin Gesamtmenschheit« die »Mutter, die Gattin und die Tochter, als die Sinnbilder der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft, und als die Erweckerinnen der drei socialen Gefühle Verehrung, Liebe und Güte« anzubeten, in der Liebesbeziehung Comtes zur Clothilde de Vaux gesehen (Mill 1968: 106 f.). Im Unterschied zu Comte hat Mill seine Verehrung von Harriet Taylor nicht so weit getrieben. Dennoch ist bekannt, wie sehr sich unter ihrem Einfluss die weiteren Auflagen seiner Principles of Political Economy sozialistischen Auffassungen annäherten. Mill schrieb seiner angebeteten Harriet geniale Qualitäten zu, Tugenden des Geistes und des Herzens »unparalleled in any human being he had known or read of« (Waentig 1924: XI). Die Grundgedanken des Essays über die Freiheit habe Harriet entwickelt-- so die devote Widmung der Schrift. Hinzuzunehmen ist Mills berühmte Streitschrift zur Emanzipation der Frau (Mill 2012). Trotz aller Differenzen in den Konzepten des Positivismus liegen Mills »Seelenfreundin« Harriet Taylor und die »angelique influence« Clothildes auf Comte nah beieinander. Ihre gemeinsame Quelle ist die Saint-Simonistische Schule. Beiden galt die Befreiung der Frau und die Emanzipation des Fleisches als eine »cause sainte«. Die bisexuelle Gottesvorstellung von »Mapah« (Gott als Vater und Mutter) und die androgyne Anthropologie von »Evadam« ließen sich in der Gruppe dann doch nicht konfliktfrei in moralische Maximen umsetzen (Salomon-Delatour 1962). Man stritt sich, ob zwischen »unveränderlichen« Charakteren, für <?page no="36"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 37 die die Ehe gut ist, und den »veränderlichen«, für die eine promiskuitive Lebensweise angemessen ist, unterschieden werden soll, und einigte sich schließlich, es vorläufig bei der Ehe und der Möglichkeit der Scheidung zu belassen. Die endgültige Entscheidung wird der erwarteten »Femme-messie« zugewiesen. Der ebenfalls zu Schule Saint-Simons gehörende Olinde Rodriguez erklärt: »Ich erwarte zuversichtlich die Offenbarung der ersten Frau, die an der Spitze der Lehre stehen wird; der befreiten, der freien Frau, der Priesterin für die Zukunft steht es zu, das Gesetz des Anstands, den Kodex der Züchtigkeit zu offenbaren.« (Kool/ Krause: 161) Die Saint-Simonisten unternehmen auf der Suche nach der »Femme-messie« eine Orientreise nach Ägypten zu den Wirkstätten der sagenhaften Königin von Saba. Diese Pilgerfahrt war zugleich eine wissenschaftliche Expedition, auf der die Bekämpfung von Seuchen erforscht wurde und Barthélemy Prosper Enfantin den Plan des Suez-Kanals entwarf, den der spätere Konsul Ferdinand de Lesseps realisierte. Die Erfahrungen, die die Krankenschwester Suzanne Voilquin bei ihrem Versuch, muslimische Frauen zur Wissenschaftsreligion zu bekehren, gemacht hat, könnten heute wieder auf Interesse stoßen (Voilquin 1978). Es sind aber nicht nur Männer, die für die Verbesserung der Lage der Frauen kämpfen. Mary Wollstonecraft war nicht nur die Mutter von Mary Shelley, der Autorin des Klassikers der Weltliteratur Frankenstein oder Der moderne Prometheus und nicht nur die Gattin an der Seite von William Godwin, der in jeder Geschichte des Anarchismus einen herausragenden Platz einnimmt, sie publizierte 1790 A Vindication of the Rights of Men, in dem sie gegen Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution Stellung bezog. Zwei Jahre später erschien A Vindication of the Rights of Woman, in der sie rhetorisch kraftvoll argumentierend aufzeigt, wie schlecht vorbereitet und in Illusionen befangen Frauen ins Leben gehen und wie wichtig es ist, dass sie zu unabhängigen Selbstdenkerinnen werden, deren Wert nicht in der äußeren Erscheinung begründet ist (Wollstonecraft 2009). Es dauerte, bis der Kampf der »Blaustrümpfe« für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Ende des 18.-Jahrhunderts einsetzte, einige Erfolge aufweisen konnte. Harriet Martineau redigierte Texte von Auguste Comte so, dass sie lesbar wurden (Hoecker- Drysdale 1998). Ihr eigenes Interesse richtete sie jedoch mehr darauf, wie der Positivismus methodisch gewendet werden konnte. How to Observe Morals and Manners, 1834 auf der Überfahrt nach Nordamerika geschrieben und 1838 publiziert, ist die erste Schrift überhaupt zur soziologischen Methodologie und Methode (Martineau 1989). Die große Studie Society in America ist nach ihrem Regelbuch erarbeitet. Untersuchungsbereiche sind kollektive Werte, Institutionen und der Alltag in den USA (Martineau 2009). Die saint-simonistische Verbindung der Frauen- und der Arbeiteremanzipation hat Jenny Poinsard d’Héricourt (1809-1875) ernst genommen (Arni/ Honegger 1998). Dies bringt sie in eine Frontstellung gegen Comte und seine Art, der Frau in der Theorie eine erhöhte Sonderstellung zuzuweisen und sie zugleich als Priesterinnen für den häuslichen Wissenschaftskult aus der Öffentlichkeit zu entfernen. In ihrem gesellschaftskritischen Hauptwerk von 1860 La femme affranchie zeigt sie, dass Frauen längst schon im Gefüge der modernen Industriegesellschaft einen Platz haben, aber keine entsprechenden Rechte (Héricourt 1860). Streitpunkt wird auch das Verhältnis von Biologie und Soziologie. In Comtes Hierarchie der Wissenschaften von der Astronomie bis zur Soziologie und später Psychologie bildet die Biologie die Grundlage, auf der sich aufsteigend die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft entfaltet, weil der Unterschied von Mann und Frau als erstes soziales Verhältnis definiert wird. D’Héricourt, selbst als Hebamme und Ärztin tätig, greift mit Scharfsinn die dogmatischen epistemologischen Vorraussetzungen der Klassifikation der Geschlechter an, insbesondere auch gegen Pierre-Joseph Proudhon, dessen egalitäre Ideen sich nur auf Männer bezogen. Die Argu- <?page no="37"?> 38 Wolfgang Eßbach mente, die d’Héricourt gegen Geschlechterklassifikationen ins Feld führt, dürften auch noch übermorgen aktuell sein: »Wir formulieren keine Klassifikation, weil wir keine haben und weil wir keine haben können; es sind keine Grundlagen dazu vorhanden. Eine biologische Induktion erlaubt es uns zwar, die Existenz einer Geschlechterklassifikation anzunehmen. Es ist jedoch gegenwärtig unmöglich, daraus ein Gesetz abzuleiten. Was Weiblichkeit wirklich ist, könnte erst nach einem oder zwei Jahrhunderten gleichartiger Erziehung und rechtlicher Gleichheit erkannt werden.« (Arni/ Honegger 1998: 80) Der Sozialismus: Zum Pathos des wissenschaftlichen Fortschritts, zum Kampf für die Rechte der Frau gesellten sich die Ideen der vielgestaltigen sozialistischen Bewegungen für eine bessere Gesellschaft. Noch beim Soziologentag 1928 in Zürich musste der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erklären, dass Soziologie und Sozialismus nicht dasselbe seien. Die sprachliche Nähe war und ist verfänglich und wird die Soziologie wohl auch in Zukunft im Guten wie im Bösen mit allen historischen und aktuellen Bestrebungen verbinden, die unter den Überschriften Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus eine bessere Gesellschaft als die bestehende wollen. Die bessere Gesellschaft erscheint bei manchen Autoren in der Erfahrung der fraglich gewordenen Gegenwartsgesellschaft als eine notwendige Konsequenz der geschichtlichen Entwicklung überhaupt. Andere Autoren wollen nicht länger auf die Idealgesellschaft warten. Sie schlagen vor, einfach mit der neuen Ordnung in kleinem Maßstab lokal anzufangen, nach der Devise: »Werden wir aus Staatsbürgern der alten Ordnung zu Genossen einer Neuen Gemeinschaft! Gründen wir Genossenschaften, Landkommunen, Gemeinschaftsprojekte, in denen es gerecht zugeht.« Im 19.- Jahrhundert blüht der Genossenschaftssozialismus in seinen vielfältigsten Formen. Wieder andere wollen sich damit nicht bescheiden, sie fordern den revolutionären Sturz der alten Ordnung und den revolutionären Aufbau einer neuen. Im 19.- Jahrhundert steigt die Konjunktur eines revolutionär-eliminatorischen Sozialismus.-- Schließlich, vor dieser Alternative zurückschreckend, konzentrieren sich andere auf eine rein defensive Position. Im Gewerkschaftssozialismus entstehen Vereine und Verbände, in denen sich die von den gesellschaftlichen Umbrüchen betroffenen Handwerker und Arbeiter zusammenschließen, um ihre Interessen zu verteidigen. Zwischen diesen vier Möglichkeiten changiert die Diskussion im 19.-Jahrhundert und weit darüber hinaus, vielleicht sogar in die Gegenwart hinein, in Nischen, in denen sich die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft erhält. Die Soziologie hat auch einen beachtlichen Teil des Erbes dieser Art, für eine neue Gesellschaft einzutreten, aufgenommen. Am wenigsten von der revolutionär-eliminatorischen Seite, obwohl an die Schriften von Georges Sorel zu erinnern ist, in denen Zusammenhänge von Mythos und Gewalt in revolutionären Bewegungen durchdacht wurden, bevor sie im 20.- Jahrhundert eine blutige Spur hinterlassen haben (Sorel 1981). Wichtiger wurde die genossenschaftliche Seite. Wer lernen möchte, wie attraktiv solidarische Lebensformen sein können, tut gut daran, die Schriften von Charles Fourier (1772-1837) in die Hand zu nehmen (Fourier 2006). Man findet dort Vorschläge für eine neue Gesellschaft, in der zu leben als eine wahre Wonne erscheint. Von Fourier kann man nicht groß genug denken, denn er hat Lösungen für zwei Dauerprobleme menschlicher Gesellschaften gefunden, für die Frustration und die Repression. Die fantastische Kühnheit seiner Vorschläge ist bis heute unübertroffen, insbesondere wenn es um die Frage »Wer macht mit wem was wie lange leidenschaftlich gern zusammen« geht. Man könnte darin die Hauptfrage aller Gesellschaftswissenschaft sehen. Die gewerkschaftliche Seite kämpft um die Erforschung und Förderung der Kräfte, die für eine grundlegende Änderung der Gesellschaft eintreten oder die gegenüber negativen Ent- <?page no="38"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 39 wicklungen ein Gegengewicht bilden wollen. Im 19.- Jahrhundert war dies die Arbeiterbewegung, das Proletariat. Die Trias von Soziologie, sozialer Frage und Sozialismus war bis weit in den Anfang dieses Jahrhunderts hinein eine spontane Assoziation, der sich niemand entziehen konnte. Heute ist es nicht mehr so einfach, Bewegungen zu identifizieren und zu gewichten. In unserer Gegenwartsgesellschaft gibt es viele Bewegungen, bei denen nicht ohne Weiteres erkennbar ist, was sie sind: Single-purpose movements, so etwas wie neue soziale Bewegungen oder vielleicht gar keine Bewegungen, sondern seltsame Oberflächenspiele, deren Sinn noch nicht geklärt ist. Weltgeschichtlich wirksam wurde die Gesellschaftstheorie, die Karl Marx (1818-1883) entwickelt hat. Sein Grundgedanke, dass aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft freie, solidarische und menschenwürdige Formen menschlichen Zusammenlebens hervorgehren könnten, hat viele Intellektuelle und Politiker in ihren Bann gezogen. Es waren drei sehr verschiedene Themen, die Marx gebündelt hat: Erstens geht es ihm um eine Philosophie der Freiheit. Hegel hatte formuliert, dass Geschichte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist. Marx verbindet dies mit dem Terminus Emanzipation. Sie geschieht freilich nicht gleichsam geschichtsautomatisch, sondern muss von den Unterdrückten erkämpft werden. Dazu kommt zweitens eine Theorie des Klassenkampfs, die Marx der französischen Geschichtsschreibung entnommen hat. Die Historiker Augustin Thierry (ebenfalls einer der Sekretäre von Saint- Simon) und François Guizot sahen im Kampf zwischen Adel und Bürgertum den entscheidenden Motor für den Fortschritt der Gesellschaft. Ihnen galt der Klassenkampf als ein fruchtbares Entwicklungsprinzip der europäischen Zivilisation. Schließlich formulierte Marx drittens eine Kritik der Volkwirtschaftslehren, der Nationalökonomie, der political economy. Der Kernpunkt der Kritik lautete: »Die Arbeit kömmt nur unter der Gestalt der Erwerbstätigkeit in der Nationalökonomie vor.« Die politische Ökonomie muss kritisiert werden, weil sie eine falsche Auffassung von Arbeit hat und dazu muss man sich »über das Niveau der Nationalökonomie erheben« (Marx 1973: 477). Es sind dies drei Themen, die in der damaligen Zeit und lange danach, vielleicht sogar bis heute, voneinander getrennt diskutiert wurden: Was ist Freiheit? Warum Gewalt und Krieg in der Geschichte? Woher kommt Reichtum und Armut der Gesellschaften? Marx’ Intuition war es, diese drei Themen als drei Momente eines Zusammenhangs zusammenzuhalten und sie in den breiten Strom dessen, was man seit 1789 in Europa »Revolution« nannte, einzuspeisen. Die Verhältnisse zwischen Soziologie und Marxismus sind spannungsreich. Denn Marx war ebenso ein Anti-Soziologe, wie sich die Soziologie als Anti-Marxismus verstanden hat. Verständlich wird diese Spannungslage, wenn man weiß, dass Marx zwei deutsche Anti-Affekte in sein Denken eingelassen hat, die sich gegen die geistigen Traditionen sowohl der Angelsachsen und wie auch der Franzosen richteten, von denen er aber gleichzeitig ungeheuer profitiert hat. Marx hasste einerseits den Bourgeois, jene Gestalt, der er einen französischen Namen gab, hinter der sich jedoch der englische Kapitalist verbarg, der self-made man, berechnend, hartherzig, erfolgreich. Andererseits hasste er die Halbherzigkeit der »nur« politischen Revolution, die die Franzosen 1789 durchgeführt hatten. Marx träumte von einem Deutschland, das besser als alle anderen mit der Zukunft fertig werden würde, darum geißelte er die eklatante Rückständigkeit seiner Landsleute und goss Hohn und Spott über ihre Faulheit und Feigheit, ihre dumme Gutgläubigkeit, ihre gemütliche Provinzialität, ihre unausstehliche Prahlsucht und ihre geistige Verstiegenheit. In Deutschland gab es daher immer auch genügend Gründe für einen Antimarxismus. Die politischen Ökonomen in der Tradition von Adam Smith hielten daran fest, dass es moralisch besser sei, wenn die Menschen die Dinge, die sie zum Leben brauchen, miteinander <?page no="39"?> 40 Wolfgang Eßbach austauschen, indem sie nicht für ihre Autarkie, sondern für andere tätig werden und ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen. Denn die Lust zu kaufen und zu verkaufen, verbände die Menschen viel stetiger und sicherer miteinander als Affekte anderer Art. Für den ordnungsliebenden Marx war es ein unerträglicher Gedanke, dass die so völlig verschiedenen Substanzen der Welt, wie Tulpen, Tapeten, Tonkrüge und Tauben, und Eigenschaften der Individuen, wie Muskelkraft, Sangeskunst, Liebesfähigkeit und Zerstörungslust beliebig, chaotisch füreinander zur Ware werden. Zum Antikapitalismus hinzu kommt bei Marx die Kritik an der »Nur«-Politik französischer Art, die auf der Spaltung zwischen Bürger und Mensch (Öffentlichkeit und Privatheit) basierte. Dass so lebenswichtige Themen wie Glück, Besitz, Liebe und Religion dem politischen Zugriff grundsätzlich entzogen sein sollten, d. h. als Privatsache galten, war für Marx besonders dort unerträglich, wo von der Privatsache, etwa dem Privatbesitz von Produktionsmitteln, Wohl und Wehe ganzer Landstriche abhing. So sollte Marx zufolge der Stolz der revolutionären Franzosen, die demokratische Republik, in der geschichtlichen Entwicklung durch einen Verein freier Menschen überboten werden, der ganz vaterlandslos und mit absterbenden Staaten die Welt umspannen sollte, wie ein einziges Friedensreich. Mit seiner gegen die politische Ökonomie der Angelsachsen gerichteten Kapitalismuskritik und seiner gegen die politische Philosophie der Franzosen gerichteten Staatskritik ist Marx in Deutschland ein solch geistiger Riese gewesen, dass die sich bildende Soziologie um 1900 alle Hände voll zu tun hatte, etwas dagegenzusetzen. 5. Literarische Selbstdarstellung der Gesellschaft Besonders in den wachsenden Städten wird die moderne Gesellschaft als ein unheimliches Phänomen entdeckt. Durch die Alphabetisierung der städtischen Bevölkerung entsteht zugleich ein größeres Lesepublikum und der Bedarf an Lektüren wächst, aus denen zu erfahren ist, in welcher Gesellschaft man lebt (Lepenies 1985). Eindrucksvoller als die Traktate der Gesellschaftslehren oder die statistischen Abhandlungen sind die lebendigen Darstellungen gesellschaftlichen Lebens, die in Erzählungen und Romanen auf den Markt kommen. Stilbildend für diese Literatur sind die Werke von Honoré de Balzac (1799-1850). Der literarische Durchbruch gelingt ihm in der sogenannten Julimonarchie (1830-1848), einer Periode, in der Frankreich einen rasanten Prozess wirtschaftlichen Wachstums erfährt. In seinen Romanen und Novellen schildert Balzac, wie sich Menschen und ihre Beziehungen in der entfesselten Marktgesellschaft verändern. Arnold Hauser hat bemerkt, »daß Balzac in seinen Werken viel mehr das Bild der nächsten Generation zeichnet, als das seiner eigenen, und daß seine ›nouveaux riches‹ und Parvenus, seine Spekulanten und Glücksritter, seine Künstler und Kokotten für das zweite Kaiserreich charakteristischer sind als für die Julimonarchie. Hier scheint tatsächlich das Leben die Kunst nachgeahmt zu haben« (Hauser 1973: 811). Im Vorwort zur Comédie humaine beruft sich Balzac auf Buffons Histoire naturelle und zeigt seine Absicht an, die französische Gesellschaft so systematisch zu analysieren, wie es Buffon mit dem Tierreich gemacht hatte. Für den ersten Teil der Comédie humaine sieht er den Titel Études sociales vor. Im 19.-Jahrhundert blüht die sozialkritische Schriftstellerei eines Charles Dickens, der in Oliver Twist (1837) seinen kleinen Helden das ganze Elend von Armut, Kinderarbeit und Kriminalität erleben lässt. Außerdem beschreibt Edmond de Goncourt in Germinie Lacerteux (1865) das wechselvolle Schicksal des Dienstmädchens Germinie. Gustav Freytag erzählt in dem Bestseller Soll und Haben (1855) von Adligen, die in Verkennung der neuen Welt durch Verschwendung ins <?page no="40"?> Die historischen Quellen soziologischen Denkens 41 Elend geraten, von geldgierigen Juden und braven deutschen Bürgern-- ein Roman, der geeignet war, antisemitische Stereotype zu verstärken. In Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857) werden die Beschäftigung mit alter Kunst und die Naturbetrachtung zu Gegenwelten, in denen sich ein Lebensstil jenseits blanker kapitalistischer Gesinnung ein Stück weit erhalten kann. Die Welt der Reichen in England und den USA, die Henry James in Bildnis einer Dame (1881) schildert, ist nur oberflächlich beneidenswert. Hinter der Fassade herrschen Neid, Intrige und ein Leiden an den moralischen Verhältnissen. Das Leiden der Unterschichten hat Émile Zola in Germinal (1885) am Beispiel der Lage der Bergarbeiter, der Bergwerksunfälle, der Not in Streiks und der politischen Auseinandersetzungen dargestellt. Die Zerrissenheit der sozialen Beziehungen kommt nicht zuletzt in den Romanen über Ehe und Ehebruch verbunden mit wirtschaftlichen und moralischen Krisen zum Ausdruck, so beispielsweise in Gustave Flauberts im Untertitel Ein Sittenbild aus der Provinz genannten Roman Madame Bovary (1857), in Lew Tolstois Anna Karenina (1877/ 78) oder Theodor Fontanes Effi Briest oder L’Adultera. Es waren Schriftsteller, die die wachsenden Großstädte des 19.-Jahrhundert in Europa mit dem Dschungel verglichen-- ein Dschungel, der zu ganz außerordentlichen Beobachtungen und Reflexionen Anlass bot. In der Stadt gibt es eine ganz eigenartige Mischung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Geheimnisvollem und Oberflächlichem. Zu den populären Literaturen, die über die große Stadt geschrieben wurden, gehören die Detektivgeschichte und der Kriminalroman (Kracauer 1971). Der Detektiv ist die Verkörperung der umherwandelnden Ratio in der Stadt, der dank seiner Beobachtungsgabe und seiner intellektuellen Kräfte in der Lage ist, Verbrechen aufzuklären. Er informiert über Sensationen. Dazu muss der Detektiv Strategien der Orientierung ausbilden, die den Städten gerecht werden, diesen Haufen von Artefakten, diesen Ansammlungen konkurrierender Weltbilder und der Massierung von Fremden. Die Orientierungen des Detektivs sind andere als die desjenigen, der eine stabile Sozialordnung anstrebt, und auch desjenigen, der eine bessere Gesellschaft möchte. In der großen Stadt entspringt aus den gesellschaftskritischen Romanen und literarischen Fantasien der Detektivliteratur eine neue soziologische Perspektive, nämlich die Zeitungsreportage, die die Bewohner einer Stadt darüber informiert, was in ihrer Stadt passiert. Denn die Großstadt ist der Ort, der fortwährend Neuigkeiten generiert. Presse und Großstadt gehören zusammen (Lindner 2007). Zu den frühen Formen des Journalismus zählt die Berichterstattung über Verbrechen, die sich in der Stadt ereignen. Reporter lungern vor den Polizeibüros herum, um Neues zu erfahren, oder sie nehmen an Gerichtssitzungen teil. Sie wagen sich in Stadtteile, die verrufen sind, und schreiben über sie. Sie kontrastieren die reichen und die armen Viertel. Zwischen den Gesinnungsblättchen der Linken und der monatlichen Einbruchsstatistik der Polizei informieren Reporterinnen und Reporter über eine Unmenge von News. Dazu bedienen sie sich spezieller Techniken, der Recherche, die in die Praxis der Soziologie eingehen werden. Sie fragen Leute aus, d. h. sie machen Interviews, und sie nehmen verdeckt an Sitzungen sonst geschlossener Gesellschaften teil, sie enthüllen Skandale und Schiebereien. Historisch gesehen ist gerade der amerikanische Journalismus Ende des 19.-Jahrhunderts das große Laboratorium der Methoden der empirischen Sozialforschung: Interview, teilnehmende Beobachtung, Experiment. Für diese Entwicklung steht der Name Robert Ezra Park: Er ist zuerst Reporter und zeitweise Presseagent des farbigen Bürgerrechtlers Booker Washington, dann erhält er 1914 mit 50 Jahren eine kleine Stelle bei den Soziologen an der Universität in Chicago. Dort gerät er in Kontakt mit Ethnologen, aber er sagt sich, »why go to the North Pole or climb Everest for adventure when we have Chicago«, und wird Begründer der berühmtem Chicago School of Sociology, deren Produktionen bis heute Vorbilder für soziologische Fallstudien sind (Makropulos 1988). <?page no="41"?> 42 Wolfgang Eßbach 6. Glanz und Elend disziplinärer Spezialisierung Die universitäre Etablierung der Soziologie um 1900 fällt in eine Zeit, die durch zwei dramatische Prozesse gekennzeichnet ist: zum einen durch ein enormes Mengenwachstum wissenschaftlicher Publikationen, dem nur mit einer universitären Aufsplitterung von Disziplinen, Teildisziplinen und Unterdisziplinen beizukommen ist; zum anderen durch die Grundlagenkrise eines Wissenschaftsverständnisses, das sich am Ideal objektiver Erkenntnis der Wirklichkeit orientiert. Spezialisierung und Grundlagenkrise verstärken sich dabei gegenseitig. Die Psychologie trennt sich von der Philosophie, die Geografie von der Geschichtswissenschaft, die Religionswissenschaften von der Theologie. Aus Wissenstraditionen der Sprachwissenschaft, der Rassenkunde, der Altertumswissenschaften und der Archäologie entsteht die neue Disziplin der Völkerkunde, aus Geschichtsphilosophie und Nationalökonomie die Soziologie. Mathematik, Physik, Chemie, Biologie lösen ihre Verbindung mit der allgemeinen Philosophie und legen sich eigene Philosophien zu, die sie Theorie nennen, etwa »theoretische Mathematik«, »theoretische Physik« usw. Einige Philosophen wollen die Philosophie als das für die Prüfung von Wahrheit lange Zeit maßgebliche Fach nur noch als »Wissenschaftstheorie« betreiben, aber nicht alle Disziplinen wollen sich von diesen Theoretikern in ihre eigenen Fachtheorien reinreden lassen. Die arbeitsteilige Industrialisierung hatte die Universitäten erfasst und konnte genauso wenig Zusammenhalt und sinnhafte Kohärenz bieten wie die kapitalistische Gesellschaft. Und so ist es im Kern bis heute geblieben. Zweifellos ist der Wissenszuwachs in diesem System vorteilhaft für diejenigen, die ganz spezielle Informationen suchen und auch benötigen. Die Soziologie als ein spätes Fach an Universitäten ist mit der Spezialisierung von Bindestrich-Soziologien in diesen Prozess eingebunden. Die Erinnerung an die Soziologie vor der Soziologie kann da helfen, im noch undisziplinierten großen Garten des Denkens der Gesellschaft die bleibenden Aufgaben der Soziologie festzuhalten: stabile Sozialordnung, bessere Verhältnisse, Anteilnahme an unserer Lebenswelt. Literatur Anonym (1834): Der Zeitgeist oder das Geld. Eine vorgelesene Rede von G., Dortmund. Arni, Caroline/ Honegger, Claudia (1998): Jenny P. d’Héricourt (1809-1875). Weibliche Modernität und die Prinzipien von 1789. 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Ein Indiz hierfür dürfte sein, dass sich gleich mehrere Beiträge dieses Handbuchs mit Themen befassen, die in das Gebiet der Wissenschaftstheorie fallen, angefangen bei der Problemstellung »Atomismus versus Holismus« bis hin zu der Frage nach den Möglichkeiten und Perspektiven einer soziologischen Gesellschaftskritik. Jedenfalls spricht viel für die Vermutung, dass Themen und Problemgesichtspunkte, die unmittelbar das wissenschaftliche Selbstverständnis berühren, das Fach in besonderer Weise faszinieren-- und zugleich ein erhebliches Konfliktpotenzial beinhalten. Wenn nämlich behauptet wird, dass die Entwicklung der Soziologie maßgeblich durch eine Reihe von grundlegenden Debatten (u. a. Werturteilsstreit, Positivismusstreit, Theorienvergleichsdebatte, Streit um die Postmoderne) geprägt worden ist, dann ließe sich das Gesagte wohl mit gutem Recht dahingehend ergänzen, dass es in diesen Kontroversen häufig auch- - um nicht zu sagen: vornehmlich-- um die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der soziologischen Fachdisziplin ging. Thema des vorliegenden Beitrags ist, entsprechend der Gesamtanlage des vorliegenden Bandes, die wissenschaftstheoretische Reflexion des Zugangs der Soziologie zu ihrem Gegenstandsbereich. In den Fokus der Betrachtung rücken dabei zwei begriffliche Unterscheidungen, die in den weit verzweigten Selbstverständigungsdebatten über das Verhältnis von soziologischer Wissenschaft und sozialer Wirklichkeit eine prominente Rolle gespielt haben bzw. bis heute spielen. Gemeint sind die Begriffspaare Verstehen/ Erklären sowie Konstruktivismus/ Realismus. Beide Unterscheidungen können auf langjährige, mitunter höchst erstaunliche Begriffskarrieren verweisen, und zu beiden Unterscheidungen findet sich ein ebenso vielschichtiges wie vielstimmiges Angebot an Auffassungen, Standpunkten und Sichtweisen. Ausgehend jeweils von einer knappen Erläuterung der verwendeten Begrifflichkeit wird im Folgenden eine (eng umgrenzte) Auswahl an klassischen und zeitgenössischen Positionen zu den beiden genannten Themenfeldern vorgestellt. 1. Verstehen/ Erklären Den Ausgangspunkt der Debatten über Verstehen und Erklären bildet die Frage nach der methodologischen Einheit bzw. Differenz von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits. 1 Später kamen weitere Themen und Problembezüge 1 Viele Beiträge sowohl zur Erklären/ Verstehens-Thematik als auch zum Begriffspaar von Konstruktivismus und Realismus sind nicht allein mit Blick auf die Soziologie formuliert, sondern thematisieren allgemein geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. <?page no="45"?> 46 Georg Kneer hinzu. Streitpunkte sind etwa, ob mit den Begriffen des Verstehens und Erklärens exklusive, d. h. sich wechselseitig ausschließende oder einander ergänzende, wenn nicht sogar kongruente Zugangsweisen gemeint sind, welche Typen des Verstehens und Erklärens sich wie unterscheiden- - und gegebenenfalls: kombinieren- - lassen und ob einem bestimmten Verstehensbzw. Erklärungstypus Vorrang vor anderen zukommt. 2 Mit Blick hierauf wird im Folgenden auch auf die Redeweise von der Verstehen/ Erklären-Kontroverse verzichtet, sondern davon gesprochen, dass sich entlang des Begriffspaars von Verstehen und Erklären eine Vielzahl von Debatten mit weitreichenden epistemologischen, gegenstandstheoretischen und methodologischen Bezügen überlagern und durchkreuzen. Aus einer theoriegeschichtlichen Perspektive wird man davon sprechen können, dass die Debatten über Verstehen und Erklären Mitte/ Ende des 19.-Jahrhunderts mit dem Bemühen deutscher Historiker bzw. Philosophen um eine eigenständige methodische Profilierung der Geschichtswissenschaften einsetzen. 3 Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey proklamieren einen Wissenschafts- und Methodendualismus, demzufolge die Geisteswissenschaften mit dem Verfahren des hermeneutischen bzw. interpretativen Verstehens über eine Sondermethodologie verfügen und sich somit trennscharf von den erklärenden Naturwissenschaften unterscheiden lassen. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« (Dilthey 1982: 144) Die damit eröffnete Methodendebatte wird in der sich zu diesem Zeitpunkt konstituierenden Soziologie aufgegriffen und fortgesetzt; bei Georg Simmel (1989, 1999) etwa finden sich-- allerdings im Kontext seiner Beschäftigung mit Fragen der Geschichtsforschung-- mehrere Angaben zum methodischen Erklären (wobei er insbesondere auf Probleme und Unzulänglichkeiten einer Geschichtserklärung mittels historischer Gesetze hinweist) und vor allem zum Verstehen (hier unterscheidet Simmel mehrere Verstehenstypen, wobei für die weitere Debatte in erster Linie seine Differenzierung zwischen einem subjektiven Motivverstehen und einem sachlichem Verstehen relevant wird). Von den soziologischen Klassikern hat sich zweifellos Max Weber am ausführlichsten-- und am folgenreichsten- - mit Fragen des Verstehens und Erklärens beschäftigt. Zu notieren gilt es zunächst, dass Weber seinen Ansatz selbst als verstehende Soziologie bezeichnet. Diese Selbstauskunft meint freilich keine Distanznahme zu dem Anliegen eines systematischen Erklärens. Anders als Droysen und Dilthey behandelt Weber die methodischen Zugänge des deutenden Verstehens und kausalen Erklärens nicht als exklusive, wechselseitig einander ausschließende Verfahrensweisen. Sein Bemühen ist vielmehr darauf gerichtet, Verstehen und Erklären miteinander zu kombinieren. Allerdings finden sich bei Weber verschiedene, z.T. deutlich divergierende Angaben, wie eine solche Kombination im Einzelnen aussehen könnte. Zumindest drei solcher Verknüpfungsformen lassen sich unterscheiden. 2 Beim Verstehen wird etwa zwischen einem rekonstruktiven, produktiven und kritisch-distanzierenden Verstehen unterschieden; ferner wird differenziert, ob mit Verstehen die interpretative Aneignung von subjektiven Motiven bzw. Zwecken oder intersubjektiven Kommunikationen, von logischen Sinnzusammenhängen oder sozial konstituierten Bedeutungen gemeint ist. Beim Erklären ist u. a. vom nomologischen, kausalen, funktionalen, mechanistischen und evolutionären Erklären die Rede. Dabei gilt, dass weder über die genaue begriffliche Ausgestaltung der genannten Verstehens- und Erklärenstypen noch über ihr Verhältnis untereinander Einigkeit existiert. 3 Während die meisten Rekonstruktionsbemühungen den Beginn der Debatten über das Begriffspaar Verstehen/ Erklären im 19.-Jahrhundert datieren, nehmen einzelne Beobachter eine abweichende, zeitlich (deutlich) weiter zurückgehende Perspektive ein. Für Wright (2000) etwa stehen die Begriffe des (teleologischen) Verstehens und des (kausalen) Erklärens für die zwei Haupttraditionen der (abendländischen) Philosophie und Wissenschaften, deren Anfänge bis in die Antike zurückreichen. <?page no="46"?> Wissenschaftstheoretische Positionen 47 a) Partielle Kongruenz: Verstehen meint für Weber u. a. die deutende Rekonstruktion der Motive des oder der Handelnden, wobei ein solches Verstehen der Handlungsmotive zugleich ein (kausales) Erklären der Handlungsursachen leistet, womit zugleich gesagt ist, dass für Weber, um seine frühe Antwort auf eine später häufig diskutierte Frage anzudeuten, Handlungsgründe zugleich Handlungsursachen sind. Der Vorgang des Verstehens wird damit weitgehend dem Verfahren des Erklärens angeglichen, weil Verstehen, zumindest in der Form des Motivverstehens, auf ein »erklärendes Verstehen« (Weber 1988: 547) abzielt. Soziale Handlungen stellen, insbesondere was die subjektiven Gründe und Absichten bzw. Zwecke betrifft, verständliche Sinnzusammenhänge dar, »deren Verstehen wir als ein Erklären […] des Handelns ansehen« (ebd.; Hervorhebungen geändert, G. K.). b) Komplementarität: Verstehen und Erklären ergänzen sich wechselseitig, allerdings beginnen sie, so Weber (1988: 436), »am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit«. Das Verstehen zielt darauf ab, den Sinnzusammenhang des Handelns möglichst evident zu deuten (für Weber besitzt eine zweckrationale Deutung des Handelns das Höchstmaß an Verständlichkeit), wobei ein hoher Grad an Sinnadäquanz freilich keinen Beleg dafür liefert, dass das Handeln auch faktisch entsprechend abgelaufen ist. Dem Verstehen wird deshalb korrigierend ein Erklären zur Seite gestellt, das mittels kausaler Zurechnung die statistische Wahrscheinlichkeit bzw. Regelmäßigkeit des Aufeinanderfolgens von Vorgängen ermittelt. »Kausale Erklärung bedeutet also die Feststellung: daß nach einer irgendwie abschätzbaren […] Wahrscheinlichkeitsregel auf einen bestimmten beobachtbaren (inneren oder äußeren) Vorgang ein bestimmter anderer Vorgang folgt.« (Weber 1988: 550) Die beiden Verfahren des Verstehens und Erklärens thematisieren den gleichen Sachverhalt aus deutlich divergierenden Perspektiven; und dies, so Weber (1988: 436 f.), weil die sinnhafte Deutbarkeit eines Geschehens, für das sich das Verstehen interessiert, nicht unbedingt mit (einer empirisch nachweisbaren) Häufigkeit und umgekehrt die statistische Wahrscheinlichkeit eines Geschehens, auf die das Erklären rekurriert, nicht zwangsläufig mit Verständlichkeit einhergeht. c) Vorrang des Verstehens vor dem Erklären: Ein dritter Vermittlungsvorschlag findet sich in den Ausführungen Webers, in denen er genauer auf die besonderen Voraussetzungen und Ziele der Sozial- und Kulturwissenschaften zu sprechen kommt. Hier räumt er dem Verstehen einen Vorrang vor dem Erklären ein. Dass Weber den eigenen Ansatz als verstehende Soziologie-- und eben nicht als verstehende und erklärende Soziologie- - bezeichnet, hat also seinen guten Grund. Weber besteht nämlich auf der Auffassung eines deutlichen Gegensatzes von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits, vertritt also die Position des Wissenschaftsdualismus. Bei der Erläuterung seiner Auffassung beruft er sich zustimmend vor allem auf die neukantianische Wissenschaftslehre von Heinrich Rickert, daneben finden sich in seinen Ausführungen mehrere Argumente, die der hermeneutischen Tradition entnommen sind. Mit Soziologie ist für Weber, so lässt sich in aller Kürze sagen, eine Wirklichkeitswissenschaft gemeint, die das soziale Geschehen in seiner Eigenart und Kulturbedeutung verständlich machen will. Funktionale Erklärungen (d. h. die Analyse bzw. Ermittlung von funktionalen Zusammenhängen) und nomologische Erklärungen (also Erklärungen mit Hilfe von Gesetzmäßigkeiten werden-- sofern sie überhaupt gelingen-- nicht grundsätzlich abgelehnt, doch sie gelten lediglich als Hilfsmittel, gewissermaßen nur als Vorarbeiten einer wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung. Und: Verstehen genießt einen Vorrang vor dem Erklären, weil die Besonderheit der Soziologie bzw. der Sozial- und Kulturwissenschaften eben auf einer Mehrleistung des Verstehens basiert: »Wir sind ja bei ›sozialen Gebilden‹ […] in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller ›Naturwissenschaft‹ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ <?page no="47"?> 48 Georg Kneer der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen.« (Weber 1988: 554 f.) Verschiedene Grundbegriffe und Argumente Webers sind in den nachfolgenden Debattenbeiträgen wiederholt aufgegriffen bzw. erneut vorgebracht worden-- ohne dass dies den Beteiligten stets klar gewesen ist und ohne dass sie allesamt Webers Anliegen einer Vermittlung oder gar Integration von Verstehen und Erklären geteilt hätten. Das zuletzt Gesagte gilt zunächst einmal für einheitswissenschaftliche Ansätze, die auf deutliche Distanz zu Webers Auffassung einer wissenschaftstheoretischen Besonderheit der Sozial- und Kulturwissenschaften gehen. 4 Aus der Sicht von Theodore Abel (1948) kann der Hinweis auf die methodische Operation des Verstehens eine wissenschaftsdualistische Ansicht nicht stützen, da sich mittels eines verstehenden Zugangs zwar Hypothesen formulieren, aber nicht verifizieren lassen-- und sich die Sozialwissenschaften somit in ihrer Beweisführung auf keine Sondermethodologie stützen können. Für die monistische Position, also für die Auffassung einer methodischen Gleichartigkeit von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits steht insbesondere das von Carl G. Hempel und Paul Oppenheim (1948) formulierte deduktiv-nomologische Erklärungsmodell, wonach die Erklärung eines-- natürlichen oder sozialen-- Ereignisses erfordert, dass die Aussage, die das Ereignis beschreibt, aus universalen Gesetzesaussagen sowie Beschreibungen der Anfangs- und Randbedingungen logisch abgeleitet werden kann. 5 Ein eigenständiges Verstehen ist im so genannten covering law-Modell der Erklärung-- der Name verweist darauf, dass bei diesem Erklärungstypus das Explanandum, d. h. das zu Erklärende, hinreichend von gesetzesartigen Aussagen abgedeckt wird-- weder erforderlich noch vorgesehen ist (genauer gesagt weist Hempel, ähnlich wie Abel, dem Verstehen eine Hilfsfunktion zu): Erklärungen basieren auf Gesetzen, d. h. sie führen universale Regelmäßigkeiten an-- ohne dass verlangt würde, dass diese Regelmäßigkeiten zugleich sinnhaft verständliche Zusammenhänge (im Sinne Webers) darstellen. Hempels und Oppenheims Auffassung einer einheitlichen und verbindlichen Erklärungslogik hat eine lange, hoch komplexe Kontroverse ausgelöst. Im hier interessierenden Kontext sind vor allem kritische Einwände relevant, die von Seiten interpretativer Ansätze vorgetragen werden. Mit dem Begriff der interpretativen Soziologie bzw. des interpretativen Paradigmas ist eine Perspektive gemeint, die betont, dass die soziale Wirklichkeit von den Akteuren in und durch Interpretationsleistungen aktiv hervorgebracht wird und daher die Sozial- und Kulturwissenschaften-- entsprechend ihres besonderen, sinnhaft strukturierten Gegenstandsbereichs-- auf einen vorrangig verstehenden, hermeneutischen oder eben interpretativen Zugang angewiesen sind. 6 Damit wird keineswegs die Möglichkeit der Erklärung von Handlungen, Interaktionsmustern, kommunikativen Prozessen etc. bestritten. Behauptet wird aber, dass derartige Erklärungen nicht dem Muster 4 Die Grundannahmen des einheitswissenschaftlichen Gegenprogramms zum Methodendualismus wurde vom so genannten Wiener Kreis, d. h. einer Gruppe von Philosophen um Moritz Schlick, Rudolf Carnap und Otto Neurath, in den 1920er- und 1930er-Jahren entfaltet. Das Anliegen zielt darauf ab, methodische Zugangsweisen, die sich in der Mathematik und der Physik als erfolgreich bewiesen haben, logisch zu generalisieren, so dass sie in sämtlichen Wissenschaftsdisziplinen zur Anwendung gelangen können. 5 Später hat Hempel (1968) das Erklärungsmodell um eine induktiv-statistische Variante erweitert, bei der die Erklärung auf probabilistischen Gesetzen, also auf statistischen Wahrscheinlichkeitsangaben basiert. 6 Dem interpretativen Paradigma lassen sich verschiedene Theorieansätze bzw. Schulen zurechnen; zu nennen sind u. a. die phänomenologische Soziologie, der symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie sowie sozial- und kulturtheoretische Ansätze, die sich an den (späten) Arbeiten von Ludwig Wittgenstein orientieren. <?page no="48"?> Wissenschaftstheoretische Positionen 49 einer deduktiv-nomologischen Erklärung folgen, sich also grundsätzlich von naturwissenschaftlichen Erklärungen unterscheiden. Dem einheitswissenschaftlichen Programm halten die Verfechter des interpretativen Paradigmas, kurz gesagt, die Auffassung einer Eigenständigkeit bzw. Besonderheit sozial- und kulturwissenschaftlicher Erklärungen entgegen. Thomas P. Wilson fasst die methodologische Grundaussage interpretativer Ansätze dahingehend zusammen, dass Erklärungen sozialer Ereignisse und Prozesse, anders als naturwissenschaftliche Erklärungen, auf intentionale bzw. sinnhafte Phänomene (Motive und Absichten der Akteure, subjektive Situationsdeutungen, kulturelle Schemata, normative Regeln etc.) Bezug nehmen, die sich allein mittels eines deutenden, verstehenden Zugangs erschließen lassen. »Wird nun soziale Interaktion als interpretativer Prozess angesehen, dann können solche Erklärungen sinnvoll nicht in deduktiver Weise konstruiert werden, sondern sie müssen aufgefasst werden als Akte, mit denen den Handelnden Absichten und Umstände zugeschrieben werden, die geeignet sind, dem Beobachter das beobachtete Handeln verständlich zu machen.« (Wilson 1973: 69) Ein ähnlich lautendes Argument wird von Seiten der so genannten Wittgensteinianer (Dray 1957, Winch 1974, Wright 2000) innerhalb des interpretativen Theorienlagers vorgetragen, die auf einer strikten Abgrenzung des Modells einer intentionalen bzw. teleologischen Handlungserklärung (d. h. der Erklärung einer Handlung im Rekurs auf subjektive Ziele oder Zwecke) gegenüber dem naturwissenschaftlichen Standardverfahren einer Kausalerklärung (mittels der Bezugnahme auf Gesetze) bestehen. 7 Demzufolge erfordert die informative Erklärung einer Handlung die Angabe von Handlungsgründen, wobei es aus ihrer Sicht verfehlt wäre, die Gründe des Handelns als kausale Handlungsursachen zu begreifen, weil sich Handlungsgründe und Handlungen, anders als Ursachen und Wirkungen, nicht unabhängig voneinander identifizieren lassen. Hieraus ziehen die »Intentionalisten« die Schlussfolgerung, dass zwischen Handlungsgründen und Handlungen kein kausaler, sondern ein begrifflicher bzw. sinnhafter Zusammenhang existiert, der sich allein mit interpretativen Mitteln verständlich machen, jedoch nicht im Rückgriff auf Kausalgesetze erklären lässt. Wenngleich gesagt werden kann, dass insbesondere in den Sozialwissenschaften die kritischen Stimmen gegenüber Hempels und Oppenheims Postulat eines einheitlichen Erklärungsprinzips überwiegen, sollte man umgekehrt die von verschiedenen Seiten signalisierte Zustimmung nicht übersehen. Ein aktuelles Beispiel für eine soziologische Theorieposition, die sich an dem genannten Erklärungsmodell orientiert, stellt der Ansatz von Hartmut Esser (1993) dar. Im Anschluss an Hempel und Oppenheim betont Esser, dass soziologische Erklärungen, wie alle wissenschaftlichen Erklärungen, eine deduktiv-nomologische Struktur aufweisen. Bei der genaueren Ausarbeitung seiner eigenen Konzeption nimmt er freilich verschiedene Änderungen/ Erweiterungen am Ausgangsmodell vor, aus denen bestimmte Konsequenzen für das Begriffspaar von Verstehen und Erklären resultieren: Zunächst präzisiert Esser, dass mit den Gesetzen, die eine soziologische 7 Zu beachten ist dabei, dass sich die in den 1950er- und 1960er-Jahren prominent werdende Kritik der Wittgensteinianer in erster Linie gegen die Kausaltheorie der Handlungserklärung richtet und nur nachrangig gegen die nomologische Erklärungskonzeption-- womit sie sich, explizit oder implizit, die Auffassung von Hempel zu eigen machen, dass eine (wissenschaftliche) Kausalerklärung ohne die Angabe von Gesetzen nicht auskommt und somit einen Spezialfall der deduktiv-nomologischen Erklärung darstellt. Die damit vorgenommene Angleichung von Kausalerklärungen an Gesetzeserklärungen sieht sich in der anschließenden Debatte jedoch einer Reihe von (sowohl wissenschaftstheoretischen als auch handlungstheoretischen) Einwänden ausgesetzt. Mit Blick auf Fragen der Handlungserklärung kommt dabei der Position von Donald Davidson (1990) eine Schlüsselrolle zu, der kausale Erklärungen von Handlungen als eine eigenständige Form der Erklärung begreift, die ohne Bezugnahme auf Gesetze auskommt bzw. auskommen muss, da es Davidson zufolge keine universalen Handlungsgesetze gibt. <?page no="49"?> 50 Georg Kneer Erklärung anführt, nicht kollektive Strukturgesetze, sondern individuelle Handlungsgesetze gemeint sind-- wobei er freilich, anders als Hempel und Oppenheim, ausschließlich auf ein einziges Gesetz verweist: das Theorem der rationalen Nutzenwahl, das für Esser (1999: 16) eine oder besser: die »nomologische Regel […] der Selektion des Handelns« beschreibt. Zudem legt er Wert auf die Feststellung, dass die Anwendung einer allgemeinen Mikrotheorie des Handelns lediglich den mittleren Schritt einer insgesamt dreigliedrigen Erklärungslogik darstellt. Diesem Schritt geht die Rekonstruktion der sozialen Situation, in der die Akteure sich befinden, voraus; zudem erfolgt in einem anschließenden dritten Schritt eine Erklärung der kollektiven Folgen individueller Handlungen. Im Gegensatz zum zweiten Erklärungsschritt, der mit der Theorie der rationalen Handlungswahl »ein kausales Gesetz mit allgemeiner Geltung« (Esser 1999: 16) anführt, kommen sowohl der erste und der abschließende Erklärungsschritt ohne die Angabe von streng universalen Regelmäßigkeiten aus. Insbesondere gilt es jedoch zu erwähnen, dass Esser an die Ausformulierung des dreigliedrigen Modells der soziologischen Erklärung den Anspruch knüpft, »jede grundsätzliche Trennung zwischen kausalem Erklären und interpretierendem Verstehen« (Esser 1993: 598) aufzuheben. Demzufolge leistet vor allem der erste Schritt (rekonstruktive Deutung der subjektiven Definition der Situation) ein interpretatives Verstehen, dagegen der zweite Schritt (Erklärung der Handlungswahl sowie des Handlungsablaufs) und der dritte Schritt (Erklärung der kollektiven Wirkungen des Handelns) ein ursächliches Erklären. Mit seinem Bemühen, die methodischen Zugangsweisen des interpretativen Verstehens und des deduktiv-nomologischen Erklärens integrativ miteinander zu verschränken, nimmt Esser gewissermaßen eine Mittlerrolle zwischen monistischen und dualistischen Positionen der Wissenschaftstheorie ein: Auf der einen Seite folgt er Hempel und Oppenheim in der Auffassung einer einheitswissenschaftlichen Erklärungskonzeption. Auf der anderen Seite spricht er methodendualistisch von einem »grundlegenden Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften« (Esser 1993: 597), der seines Erachtens daraus resultiert, dass die Sozialwissenschaften, anders als die Naturwissenschaften, darauf angewiesen sind, ihre ›Objekte‹ zu verstehen, da sie in ihren Erklärungen die Sichtweisen der handelnden Akteure berücksichtigen. Weiter oben ist bereits vom so genannten interpretativen Paradigma die Rede gewesen. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Begriff des Interpretationismus uneinheitlich verwendet wird. In diesem Kontext ist neben der zuvor erläuterten Begriffsfassung eine weitere Verwendungsweise von Interesse. Der Begriff dient auch zur Bezeichnung einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Position, die der interpretativen Tätigkeit eine zentrale Rolle in sämtlichen Wissenschaftsdisziplinen zuweist. Demzufolge sehen sich nicht allein die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern eben auch die Naturwissenschaften fortlaufend mit der Aufgabe des Deutens und Auslegens konfrontiert. Für diese interpretative Wende in der allgemeinen Wissenschaftstheorie stehen insbesondere die Arbeiten von Willard Van Orman Quine und Thomas Kuhn. Sie untergraben mit ihren weitreichenden Thesen den orthodoxen Konsensus der älteren (positivistischen) Wissenschaftstheorie: Quine (1984) spricht von einer Unterbestimmtheit der Theorien durch die Daten und betont den holistischen Charakter der Bestätigung und Widerlegung von Theorien; Kuhn (1976) stellt die etablierte Auffassung einer kumulativen Entwicklung wissenschaftlichen Wissens in Frage. Zugleich damit kündigen sie die Annahme einer neutralen Beobachtungssprache auf. Wissenschaftliche Beobachtungen sind demzufolge theoriebeladen, sie liefern also keine interpretationsfreien Belege. Was als wissenschaftliches Datum zählt, ergibt sich erst im Kontext theoretischer Deutungen. Und umgekehrt ist auch die Beantwortung der Frage, welche theoretischen Konsequenzen aus dem Hinweis auf bestimmte Belege resultieren, auf ein fortlaufendes Auslegen angewiesen. Die wissenschaftliche Tätigkeit stellt sich in dieser Sicht als eine deutende (hermeneutische) Tätigkeit dar, in der fort- <?page no="50"?> Wissenschaftstheoretische Positionen 51 laufend Daten im Licht von Theorien, und Theorien im Licht von Daten interpretiert und reinterpretiert werden. Die damit angedeutete interpretative Wende hin zu einem postempiristischen Wissenschaftsverständnis ist in den Sozialwissenschaften breit (und weitgehend zustimmend) rezipiert worden. Umstritten geblieben ist allerdings, welche Konsequenzen hieraus im Einzelnen für das eigene wissenschaftstheoretische Selbstverständnis resultieren. In der Kontroverse stehen sich (idealtypisch formuliert) erneut zwei Theorielager gegenüber. Die eine Seite hält mit Blick auf die Zugangsweise des Verstehens-- auch nach der Ausweitung des Interpretationsbegriffs-- an der Auffassung einer methodischen Besonderheit der Sozialwissenschaften fest, befürwortet also eine wissenschaftsdualistische Position. Dabei wird von dieser Seite nicht bestritten, dass die Naturwissenschaften, ganz im Sinne der postempiristischen Wissenschaftstheorie, eine interpretative Dimension aufweisen; diese Auskunft wird freilich durch die Auffassung ergänzt, dass sich für die Sozialwissenschaften die Aufgabe der Interpretation in besonderer, nämlich gleich in zweifacher Weise stellt. In aller Kürze lässt sich diese Auffassung mit dem von Anthony Giddens (1984) formulierten Schlagwort einer doppelten Hermeneutik kennzeichnen. Zusätzlich zu der interpretativen Herausforderung, wissenschaftliche Daten mit Hilfe von Theorien zu gewinnen, zu prüfen und somit zu deuten (woran zugleich die hermeneutische Tätigkeit der Auslegung des verwendeten Theorie- und Beschreibungsvokabulars geknüpft ist), sehen sich die Sozialwissenschaften demzufolge mit einem weiteren Verstehensproblem konfrontiert. Sie haben dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie es in ihrem Objektbereich, anders als die Naturwissenschaften, mit einer »vor-interpretierten Welt« (Giddens 1984: 179) zu tun bekommen, also auf eine soziale Wirklichkeit treffen, die bereits sinnhaft konstituiert ist-- und dass sie aus diesem Grunde gar nicht umhin kommen, jene Begriffe, Auffassungsweisen und Deutungsschemata interpretativ zu erschließen, »die die Handelnden selbst für die Konstitution und Rekonstitution der sozialen Welt benutzen« (ebd.: 191). In dieser Sicht stellen die Interpretationen, die die Sozialwissenschaften anbieten, stets Interpretationen von Interpretationen dar, also Reinterpretationen (innerhalb der eigenen Wissenschaftssprache) von jenen vorgängigen Interpretationen, die von den handelnden Akteuren formuliert und verwendet werden. Den Verfechtern einer doppelten Hermeneutik stehen die Befürworter einer antidualistischen Interpretationskonzeption konträr gegenüber. Dabei legen die »Anti-Dualisten« zunächst Wert auf die Feststellung, dass sich ihre Position deutlich von einer monistischen Wissenschaftsauffassung unterscheidet (Rorty 1981, 1991; Rouse 1990: 166 ff.). Ihr Ausgangspunkt ist die These einer weitreichenden Pluralisierung wissenschaftlicher Theorien und Methoden (disunity of science). Der Hinweis auf die nachhaltige Diversifizierung der modernen Wissenschaften dient ihnen zugleich dazu, die Auffassung einer eindeutigen Zuordnung von bestimmten Methoden zu einzelnen Disziplinen bzw. Disziplingruppen zurückzuweisen. Auf Ablehnung stößt damit auch die wissenschaftsdualistische Annahme einer strikten Unterscheidung zwischen den Zugangs- und Verfahrensweisen der Naturwissenschaften auf der einen Seite und denen der Sozialwissenschaften auf der anderen Seite. Aus Sicht der Anti-Dualisten orientiert sich diese Auffassung einer prinzipiellen Methodendifferenz an den gleichen fragwürdigen Prämissen, denen auch das einheitswissenschaftliche Programm verpflichtet ist. Gemeint ist insbesondere die Annahme, dass sich mit den Mitteln der Wissenschaftslogik ein stabiler (ahistorischer) Methodenkanon unverbrüchlich ausweisen lässt- - sei es für die Wissenschaften insgesamt oder sei es zumindest für einzelne Disziplingruppen. Diese Annahme kontern die Anti-Dualisten mit einem pragmatischen Gegenargument: Die Frage nach geeigneten methodischen Zugangsweisen lässt sich demzufolge nicht, etwa im Rekurs auf ontologische oder epistemologische Erwägungen, ein für alle Mal verbindlich, sondern nur in Abhängigkeit von (historisch wechselnden) Erkenntnisinteres- <?page no="51"?> 52 Georg Kneer sen und Erkenntniszielen beantworten. An dieses Argument ist ein weiterer Kritikpunkt geknüpft, der sich unmittelbar gegen das Programm einer doppelten Hermeneutik richtet. Aus der Perspektive der Anti-Dualisten unterläuft der Gegenseite ein Fehlschluss. Die Schlussfolgerung, dass die Sozialwissenschaften gar nicht umhin können, die vorgängigen Interpretationsleistungen der Akteure ihrerseits zu interpretieren, ist demnach keineswegs zwingend, da eine Erkundung der sozialen Welt auch entlang anderer, abweichender Gesichtspunkte bzw. Perspektiven erfolgen kann. 8 Den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik halten sie den Einwand entgegen, dass diese in ihren Arbeiten gewissermaßen dem Beschreibungsvokabular-- und damit: den Deutungen und Sichtweisen-- der handelnden Akteure ein Privileg einräumen. Ein derart vorrangiges Beschreibungsvokabular kann es nach Auskunft der Anti-Dualisten jedoch nicht geben, weil je nach gewähltem Erkenntnisziel gänzlich unterschiedliche Beobachtungs- und Theoriesprachen von Vorteil (oder Nachteil) sein können. Einen weiteren Kritikpunkt gilt es zumindest anzudeuten. Die Anti-Dualisten werfen den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik eine widersprüchliche Argumentation vor, die bei der Analyse der sozialen Welt eine konstruktivistische Perspektive, dagegen mit Blick auf die Welt der Natur eine realistische Auffassung vorbringt. Das verweist darauf, dass die Debatten über Verstehen und Erklären intern verknüpft sind mit den Diskussionen über Konstruktivismus und Realismus, die im zweiten Teil dieses Beitrags thematisiert werden. Auf Vorbehalte seitens der Anti-Dualisten trifft u. a. Giddens’ Hinweis auf die Besonderheit der Wissenschaften vom Sozialen. Seine Auskunft, dass es allein die Sozialwissenschaften mit einer vor-interpretierten Welt zu tun bekommen, legt demzufolge den fragwürdigen Umkehrschluss nahe, dass die Naturwissenschaften gewissermaßen auf eine Wirklichkeit an sich treffen, die sie erst im Nachhinein in ihrer Theoriesprache deuten. Eine derartige Auffassung erliegt jedoch, so die Kritik, dem Mythos des uninterpretiert Gegebenen. 2. Konstruktivismus/ Realismus Auseinandersetzungen über Konstruktivismus und Realismus nehmen in der wissenschaftstheoretischen Reflexion der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften einen breiten Raum ein. In den weit verzweigten, nach außen hin nur unscharf abgegrenzten Debatten geht es um eine Vielzahl von Streitpunkten. Diskutiert wird u. a. über Wirklichkeitsbegriffe und epistemologische Zugangsweisen, über geltungs- und bedeutungstheoretische Aspekte, über Fragen der wissenschaftlichen Objektivität und Wahrheit. Insofern stellt die Redeweise von der Konstruktivismus/ Realismus- 8 Insbesondere von funktionalistischen, systemtheoretischen und (post-)strukturalistischen Theorieprogrammen wird der Anspruch vorgetragen, auf Gesichtspunkte aufmerksam zu machen, die sich nicht aus der Teilnehmerperspektive, sondern allein aus einer davon abweichenden Beobachterperspektive beschreiben lassen. Dieser Auffassung halten die Verfechter einer doppelten Hermeneutik zwei Argumente entgegen. Sie verweisen darauf, dass erstens auch die Beiträge dieser konkurrierenden Zugangsweisen gar nicht umhin können, zunächst einmal an den vorgängigen Deutungen der Akteure selbst anzuknüpfen (wobei dies von den genannten Ansätzen unbemerkt bleibt, weil diese die Teilnehmerperspektive in ihrer eigenen Theoriesprache objektivieren und damit verfremden) und zweitens auch eine Vorgehensweise, die sich an den Prämissen einer doppelten Hermeneutik orientiert, nicht bei einer Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive stehen bleibt, sondern in einem anschließenden Schritt auch Vorgänge- - Stichwort: latente, nicht-intendierte Folgen absichtsvollen Handelns-- beschreiben bzw. erklären kann, die von den Akteuren selbst nicht beabsichtigt sind bzw. nicht bemerkt werden. <?page no="52"?> Wissenschaftstheoretische Positionen 53 Kontroverse (wie ja auch die von der Erklären/ Verstehen-Debatte) eine beträchtliche Vereinfachung dar. Ebenso liegt eine Verkürzung vor, wenn-- wie es allerdings häufig geschieht-- behauptet wird, dass es sich bei Konstruktivismus und Realismus per se um grundlegende Alternativen handelt, die konträre und damit unvereinbare Antworten auf die angedeuteten Wirklichkeits-, Erkenntnis- und Wahrheitsfragen geben. Das Verhältnis von konstruktivistischen und realistischen Positionen ist weitaus vielschichtiger. Ein Grund hierfür lautet, dass die Ausdrücke Konstruktivismus und Realismus Sammelbegriffe darstellen, die jeweils ein breit gefächertes Spektrum an z.T. äußerst divergierenden Ansätzen und Standpunkten umfassen. Man bekommt es also mit ganz unterschiedlichen Konstruktivismus/ Realismus-Konstellationen zu tun-- und zwar in Abhängigkeit davon, welche Begriffsbestimmungen gewählt werden bzw. welche Varianten oder Spielarten jeweils gemeint sind. Diese Überlegung wird durch die Beobachtung gestützt, dass keineswegs alle Debattenbeteiligten einen strikten Gegensatz zwischen konstruktivistischen und realistischen Positionen behaupten. Daneben finden sich auch die Auffassungen einer partiellen Überschneidung oder wechselseitigen Ergänzung, mitunter ist gar von einer Indifferenz die Rede. Bevor im Folgenden ausgewählte Positionen hierzu vorgestellt werden, gilt es zunächst, die verwendete Begrifflichkeit (in der gebotenen Kürze) zu erläutern. Der Begriff des Realismus verfügt über eine altehrwürdige philosophische Tradition und wird in einer Vielzahl von Bedeutungen verwendet. Die häufigste Erwähnung finden die Varianten des ontologischen und erkenntnistheoretischen Realismus. Der ontologische Realismus steht für die These, dass die Existenz und Beschaffenheit der Wirklichkeit unabhängig davon ist, was Menschen darüber denken, sagen oder wissen können. Der erkenntnistheoretische Realismus vertritt die Auffassung einer epistemischen Zugänglichkeit, behauptet also, dass die Strukturen der Wirklichkeit erkennbar sind. Die beiden Realismusdefinitionen besagen keineswegs das Gleiche. Verschiedentlich wird sogar davon gesprochen, dass sie sich widersprechen-- da einer wirkmächtigen Auffassung zufolge allein das, was denkabhängig ist bzw. vom Menschen hervorgebracht wird, auch erkannt werden kann. Insofern ist richtig, dass derjenige, der die ontologische Unabhängigkeitsthese übernimmt, nicht zugleich auch von der epistemischen Zugänglichkeitsthese überzeugt sein muss. Die prominenteste Fassung dieser Auffassung ist vermutlich Immanuel Kants Kombination von externem Realismus und transzendentalem Idealismus. Kant bestreitet nicht, dass eine denkunabhängige Wirklichkeit existiert, aber er behauptet, dass wir nicht diese Wirklichkeit an sich, sondern nur die Erscheinung dieser Wirklichkeit erkennen können. Die (subjektiven) Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, so Kant, zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung (und nicht: der Dinge an sich). Der Begriff des Konstruktivismus weist, ebenso wie der Begriff des Realismus, eine Vielfalt von Bedeutungen auf. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass von Konstruktivismus in ganz unterschiedlichen Kontexten die Rede ist. Doch auch, wenn man allein soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Begriffsfassungen berücksichtigt, wird man kaum von einer einheitlichen Verwendungsweise sprechen können. Insofern besteht auch keine Einigkeit darüber, welche Theorieprogramme und Ansätze im Einzelnen dem Konstruktivismus zugerechnet werden können. Wenngleich viele Beobachter die Einschätzung teilen, dass konstruktivistische Perspektiven gerade in den letzten drei oder vier Jahrzehnten erheblich an Einfluss gewonnen haben, so bleibt doch das Ausmaß dieser Expansionsbewegung umstritten. Für die eine Seite stellt der Konstruktivismus eine zwar relevante, keineswegs jedoch die einzige Position innerhalb eines breiten soziologischen Theorienspektrums dar, die andere Seite spricht dagegen davon, dass sich seit einiger Zeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften-- zumindest implizit-- ein konstruktivistischer Grundkonsens breit gemacht hat (vgl. etwa Schülein 2002, Renn 2012). Angesichts des Fehlens einer einheitlichen Begriffsbestimmung geht man zumeist unmittelbar dazu über, <?page no="53"?> 54 Georg Kneer unterschiedliche Spielarten und Varianten des Konstruktivismus zu unterscheiden. Angaben darüber, welchen (kleinsten) gemeinsamen Nenner die verschiedenen Begriffsfassungen bzw. Versionen aufweisen, begnügen sich zumeist mit der Auskunft, dass mit dem Begriff Konstruktivismus eine theoretische Perspektive gemeint ist, die eine (soziale) Fabrikation, Hervorbringung bzw. Produktion unterschiedlicher Entitäten bzw. Wirklichkeitsbereiche behauptet. Ausgehend von diesem Hinweis wird man sagen können, dass zwischen den verschiedenen Varianten z.T. weitreichende Differenzen existieren, im Rahmen welcher soziologischer Theorieprogramme die Metapher der Konstruktion ausbuchstabiert wird, wie der Vorgang einer sozialen Fabrikation genauer erläutert wird und welche Entitäten als das Resultat entsprechender Hervorbringungsprozesse begriffen werden. Mit Blick auf die zuletzt angeführte Frage wird vielfach zwischen moderaten und radikalen Ansätzen unterschieden. Moderate Versionen des Konstruktivismus grenzen demzufolge die These einer sozialen Konstruiertheit auf bestimmte Typen von Ereignissen bzw. Entitäten ein, während radikale Spielarten sämtliche Phänomene als konstruiert begreifen. Diese knappen begrifflichen Hinweise mögen genügen, um sich im Folgenden der Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von soziologischer Wissenschaft und sozialer Wirklichkeit zuzuwenden. Vereinfachend wird man sagen können, dass aus Sicht »der« Konstruktivisten wissenschaftliche und damit soziologische Erkenntnis eine beobachterabhängige Konstruktion darstellt, aus der Perspektive »der« Realisten zwar nicht die Erkenntnis des Gegenstands, jedoch der Erkenntnisgegenstand unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter existiert. Ob und inwieweit sich diese schematische Kennzeichnung als ein strikter Gegensatz deuten lässt, dürfte u. a. davon abhängen, wie die verwendeten Begriffe jeweils interpretiert werden. Das Merkmal einer Beobachter(un)abhängigkeit lässt nämlich zahlreiche Differenzierungen zu. Das Gleiche kann mit Blick auf die Kategorie der Konstruktion gesagt werden: Konstruktion der Erkenntnis kann, muss aber nicht, vollständige Selbstproduktion der Erkenntnis meinen; es sind also, anders gesagt, zahlreiche Abstufungen bezüglich des Grads der Autarkie bzw. Autonomie wissenschaftlicher Erkenntnis möglich. Hinzu kommt, dass die Bezeichnung der (wissenschaftlichen) Erkenntnis selbst mehrdeutig ist. Erkenntnis meint zum einen die Einheit der Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand, zum anderen nur eine der beiden Seiten der Unterscheidung. Aufgrund der erwähnten Punkte (Begriffsvielfalt, Pluralität an Differenzierungsmöglichkeiten, Unklarheit des Erkenntnisbegriffs) sind die vorgenommenen Zurechnungen, welche Position dem Lager des Realismus bzw. dem des Konstruktivismus zugehört, umstritten. Im Weiteren wird deshalb gar nicht erst der Versuch einer eindeutigen Lagerzuordnung unternommen. Wichtiger dürfte es sein, mit Blick auf die genannte Thematik verschiedene Problembezüge und Betrachtungsweisen vorzustellen. Das Thema der Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis wird bereits in der Gründungsphase der akademischen Soziologie intensiv diskutiert. Terminologisch gilt es zu beachten, dass bei den soziologischen Klassikern von Konstruktivismus so gut wie überhaupt nicht, von Realismus nur selten explizit die Rede ist. Ausgehend von einer weiten Begriffsfassung, die den gegenwärtigen Konstruktivismus als Fortführung einer vieljährigen, spätestens mit Kant einsetzenden Denktradition begreift, wird man jedoch auch bei den soziologischen Gründungsvätern auf eine Vielzahl von Überlegungen stoßen, die eine konstruktivistische Ausrichtung aufweisen. Erneut gilt es vor allem an Weber zu erinnern, der sich in seinen Beiträgen zur Wissenschaftslehre, wie angedeutet, zustimmend auf die neukantianische Philosophie von Rickert beruft. Insbesondere übernimmt Weber von Rickert die Auffassung, dass der Gegenstand, auf den sich die sozialbzw. kulturwissenschaftliche Untersuchung bezieht, gewissermaßen vom wissenschaftlichen Beobachter hervorgebracht, d. h. (mit-)konstituiert wird. Als Ausgangspunkt fungiert dabei <?page no="54"?> Wissenschaftstheoretische Positionen 55 die Überlegung, dass die wissenschaftliche Erkenntnis nicht die unendliche Wirklichkeit-- Rickert und Weber sprechen mit Blick auf die Unendlichkeit des Weltgeschehens von einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit, die sich als solche nicht getreu abbilden und damit erkennen lässt- -, sondern stets nur Ausschnitte dieser Wirklichkeit thematisieren kann. »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ›sozialen Erscheinungen‹ unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie […] als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.« (Weber 1988: 170) Als Auswahlgesichtspunkte fungieren in den Kulturwissenschaften Wertideen, die Ausschnitte der unendlichen Wirklichkeit als bedeutsam und damit als wissenswert erscheinen lassen. Nur dadurch, dass ›wir‹ wertend an die Wirklichkeit herantreten, lassen sich Teile des unendlichen-- und zunächst einmal: sinnlosen-- Weltgeschehens aussondern und zum Gegenstand des kulturwissenschaftlichen Erkennens machen. Ausgehend hiervor spricht Weber von einer »ewige[n] Jugendlichkeit« (ebd.: 206) der Sozial- und Kulturwissenschaften: Mit dem Wandel der Kultur ändern sich auch ›unsere‹ (Forschungs-)Interessen und damit die spezifischen Gesichtspunkte, von denen aus wir die Wirklichkeit betrachten. Webers konzeptuelle Anleihen, die er beim Neukantianismus vornimmt, erinnern in bestimmter Hinsicht an Überlegungen, für die sich konstruktivistische Ansätze stark machen. Insbesondere ist richtig, dass sich Weber gegen einen einfachen Abbildrealismus ausspricht. Doch geht Weber generell auf Distanz zur Position des Realismus? Einmal abgesehen davon, dass sich Weber hierzu nicht geäußert hat (und ihm die Frage vermutlich äußerst merkwürdig vorgekommen wäre), gilt es an das zuvor Gesagte zu erinnern. Die Antworten dürften unterschiedlich ausfallen- - je nachdem, welche Fassung des Realismusbegriffs gewählt wird. Jedenfalls können auch diejenigen, die in Weber einen Verfechter des Realismus sehen, eine Vielzahl von Belegen anführen. Für diese Realismus-These spricht u. a., dass bei Weber, genau genommen, nicht von einer Konstruktion und damit Hervorbringung, sondern einer Auswahl des Erkenntnisgegenstands die Rede ist, 9 dass Weber, im Gegensatz zu (emanatistischen) Identitätstheorien, die Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit nicht einzieht oder dass Weber einen nicht-relativistischen Wahrheitsbegriff vertritt: Subjektive Wertideen bestimmen zwar, was Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Untersuchung wird, sie haben, so Weber, jedoch keinen Einfluss auf die Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse. 10 »Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.« (Weber 1988: 184) Émile Durkheim nimmt eine deutlich abweichende Position hinsichtlich der genannten Thematik ein. In seiner Schrift zu den Regeln der soziologischen Methode betont er, dass der sozialen Wirklichkeit eine eigenständige Form der »Objektivität« (Durkheim 1984: 126) zukommt und auch »objektiv untersucht« (ebd.: 91) werden kann. Relevant im hier interessierenden Kontext ist 9 Entsprechend heißt es bei Weber Umformung und nicht Formung des Untersuchungsobjekts-- d. h. er setzt das unendliche Weltgeschehen, aus dem der Kulturwissenschaftler auswählt, als eine unabhängig existierende, mit bestimmten Kausalstrukturen ausgestattete Wirklichkeit voraus; die epistemologische Frage, die Rickert beschäftigt, nämlich inwieweit diese Wirklichkeit das Produkt einer vorgängigen Konstitutionsleistung erkennender Subjekte darstellt, bleibt bei Weber ausgeklammert. 10 In den Debatten über Realismus und Konstruktivismus geht es auch, wie angedeutet, um wahrheitstheoretische Aspekte. Die Realisten werfen, vereinfacht gesagt, den Konstruktivisten vor, Wahrheit zu relativieren, also der These einer beobachterabhängigen Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis- - getreu dem Motto: andere Beobachter, also auch andere Wahrheiten- - das Wort zu reden. Vielen, wenn auch nicht allen Debattenbeteiligten gilt deshalb die Ablehnung eines relativistischen Wahrheitsbegriffs als Kennzeichen des Realismus. <?page no="55"?> 56 Georg Kneer vor allem, dass Durkheim den sozialen Tatbeständen, die den Gegenstandsbereich der Soziologie bilden, neben den Eigenschaften der Äußerlichkeit, Allgemeinheit und Zwanghaftigkeit auch das Merkmal der Unabhängigkeit zuspricht. Unabhängig sind soziale Phänomene für ihn zunächst insofern, als sie nicht im Verhalten bzw. Handeln einzelner Individuen aufgehen, sondern eine eigenständige Realitätsebene bilden, d. h. eine Realität sui generis. Independent sind soziale Phänomene für ihn aber auch insofern, als sie, vergleichbar mit Dingen, unabhängig vom wissenschaftlichen Blick existieren. Durkheim zeigt sich überzeugt davon, dass sich die sozialen Phänomene, so wie sie wirklich sind, wissenschaftlich analysieren und erklären lassen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die Soziologie sämtliche alltagsweltlichen Vormeinungen und Vorbegriffe, die sich gleichsam wie ein Schleier zwischen uns und die sozialen Phänomene schieben, systematisch ausschaltet; hiervon ausgehend muss die Soziologie die Dinge, die sie thematisiert, gewissermaßen objektiv definieren, d. h. »nicht nach einer bestimmten Auffassung, sondern nach den ihnen innewohnenden Eigenschaften« (ebd.: 131). Deutlich distanziert sich Durkheim von einer instrumentalistischen Auffassung, der zufolge wissenschaftliche Begriffe nicht unabhängige Gegenstände referieren, sondern mehr oder weniger nützliche Denkwerkzeuge darstellen. Die Soziologie, so heißt es bei ihm, »benötigt Begriffe, die die Dinge adäquat zum Ausdruck bringen, so wie sie sind, und nicht so, wie sie für die Praxis nützlich wären« (ebd.: 138). Ausgehend von diesen Äußerungen haben verschiedene Interpreten die Schlussfolgerung gezogen, dass Durkheim die Position eines soziologischen Realismus vertritt, gelegentlich wird er stärker noch mit einer abbildrealistischen Auffassung in Verbindung gebracht. Deshalb gilt es darauf hinzuweisen, dass sich bei Durkheim auch abweichende Äußerungen finden lassen, in denen er stärker den konstruktiven Eigenanteil des Erkennens betont; überhaupt gilt zu beachten, dass er sich, was hier allerdings nur angedeutet werden kann, vielfach zustimmend auf die Philosophie von Kant bezieht. Zudem können auch die zuvor referierten Äußerungen Durkheims, jedenfalls zum Teil, mehr oder weniger konstruktivistisch-- sprich: instrumentalistisch-- reinterpretiert werden. Danach gibt der französische Soziologe, wenn er etwa von der Dinghaftigkeit sozialer Phänomene spricht, keine Auskunft über deren ontologischen Status, sondern formuliert lediglich die methodische Regel, dass sich soziale Tatbestände wie unabhängige Dinge behandeln lassen (was eben nicht besagt, dass sie auch derartige Dinge sind). Diejenigen, die Durkheim dann doch dem realistischen Theorielager zuordnen, können sich freilich auf die Beobachtung stützen, dass er in gewisser Weise Überlegungen vorwegnimmt, die in späteren Debatten von expliziten Befürwortern des Realismus formuliert werden. Zu nennen wäre etwa Roy Bhaskars (1998) Version eines kritischen Realismus, bei der zwischen verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen unterschieden wird. Sozialwissenschaftliche Theorien, die aktuelle Ereignisse erklären, sind gut beraten, so Bhaskar, neben empirischen Regelmäßigkeiten auch tiefer liegende Mechanismen und Strukturen zu berücksichtigen, die ebenso ›wirklich‹ sind wie die direkt messbaren Erscheinungen an der Oberfläche. In anderen Kontexten ist auch von einem wissenschaftlichen Realismus die Rede: ›Theoretischen Entitäten‹, die zwar nicht unmittelbar beobachtet werden können, deren Existenz jedoch theoretisch erschlossen werden kann, kommt demzufolge ebenso wie direkt wahrnehmbaren Einheiten der Status beobachtungsunabhängiger Dinge zu. Der zuvor kurz erwähnte Begriff des kritischen Realismus wird noch in anderen Kontexten verwendet. Gelegentlich zieht man den Begriff auch heran, um die-- von Bhaskars Auffassung deutlich abweichende- - Realismusposition des kritischen Rationalismus von Karl Popper und Hans Albert zu bezeichnen. Von einer kritischen Variante des Realismus ist deshalb die Rede, weil Popper und Albert zwar die These einer beobachterunabhängigen Außenwelt stark machen, zugleich jedoch auf Distanz zu den Prämissen eines Abbildrealismus gehen: Die Wirklichkeit ist danach aufgrund der Theoriebzw. Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Aussagen nicht <?page no="56"?> Wissenschaftstheoretische Positionen 57 direkt erkennbar; doch mittels entsprechender methodischer Vorkehrungen lässt sich erreichen, dass sich die Wissenschaften einer wahren Darstellung der Außenwelt sukzessive annähern. Diese Wahrheitsapproximation erfolgt dabei, so Popper und Albert, durch eine Eliminierung des Falschen, d. h. durch eine fortlaufende Falsifikation unwahrer Aussagen. Anders als Albert (1987), der den Begriff des kritischen Realismus favorisiert, spricht Popper (1998: 40) von einem metaphysischen Realismus, da die Realismusannahme nicht empirisch prüfbar ist, seines Erachtens jedoch von wissenschaftlichen Theorien vorausgesetzt wird. Es würde eine unzulässige Verkürzung darstellen, wenn in diesem Zusammenhang nicht zugleich, wie angedeutet, auf die seit einigen Jahrzehnten zu beobachtende immense Ausweitung konstruktivistischer Ansätze in der Soziologie bzw. in den Sozialwissenschaften aufmerksam gemacht würde. Eine besondere Beachtung namentlich in der deutschsprachigen Soziologie hat dabei die von Niklas Luhmann formulierte Konzeption einer konstruktivistisch ansetzenden Systemtheorie gefunden. Luhmann beschreibt soziale Gebilde (Interaktionen, Organisationen, Gesellschaften) als autopoietische, operativ geschlossene Systeme, die ihre kommunikativen Elemente, aus denen sie bestehen, in einem rekursiven Prozess selbst herstellen. Das damit angedeutete Theorem der operativen Geschlossenheit wird ergänzt durch die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit. Kognition gilt dabei als ein systeminterner Zustand, der mittels Beobachtungen, d. h. Bezeichnungen im Rahmen von Unterscheidungen, produziert bzw. geändert wird. Auch bei Beobachtungen handelt es sich um endogene Operationen, die das System mit eigenen Mitteln bewerkstelligt. Insofern besagt die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit, dass es keinen Input von Informationen aus der Umwelt in das System oder einen Output von Informationen aus dem System in die Umwelt des Systems gibt. Informationen stellen in dieser Sicht interne Konstruktionen dar, die soziale Systeme autonom, d. h. im selbstreferenziellen Vor- und Rückgriff auf weitere Informationen erzeugen und verarbeiten. Das Gesagte gilt, so Luhmann, für alle (sozialen) Systeme, gilt also auch für die Wissenschaft als Funktionssystem der modernen Gesellschaft und gilt ebenso für die Soziologie als Subsystem der Wissenschaft. In dieser Sicht stellt sich wissenschaftliches bzw. soziologisches Wissen als ein Wissen dar, dass vom System autonom produziert wird-- womit gemeint ist, dass von der Wissenschaft »keine Vorgaben anerkannt werden, die nicht im System selbst erarbeitet sind. Erkenntnisse können daher nur zirkulär begründet werden.« (Luhmann 1990a: 294) Luhmanns These einer selbstreferenziellen Konstruktion und damit strikten Selbstproduktion wissenschaftlichen Wissens ist Gegenstand zahlreicher, bis heute andauernder Debatten. Von verschiedenen Seiten ist kritisch dagegen vorgebracht worden, dass die Systemtheorie eine antirealistische Sichtweise vertritt, die keinerlei Einflussnahme der externen Umwelt auf interne Systemprozesse vorsieht. Luhmann selbst hat diesen Antirealismusvorwurf freilich bestritten. »Tatsächlich steht der Realismus des Konstruktivismus auf sicheren Beinen.« (Luhmann 1990b: 9) Zur Erläuterung seiner Auffassung, dass es sich bei dem systemtheoretischen Konstruktivismus um eine Spielart des Realismus handelt, führt er mehrere Überlegungen an; unter anderem verweist er darauf, dass der Theorie zufolge Erkenntnis eine Selbstkonstruktion real operierender Systeme darstellt, ohne dass damit kausale Wechselwirkungen zwischen System und Umwelt oder gar die Wirklichkeit der Außenwelt bestritten würden. »Das heißt nicht, daß die Realität geleugnet würde, denn sonst gäbe es nichts, was operieren, nichts, was beobachten, und nichts was man mit Unterscheidungen greifen könnte. Bestritten wird nur die erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Realität.« (Ebd.: 37) Daneben findet sich eine dritte Lesart. Diese begreift Luhmanns Theorie sozialer Systeme (ebenso wie eine Reihe ähnlich ansetzender Varianten eines sozialtheoretischen Konstruktivismus) als eine theoretische Position, die gewissermaßen quer zu dem Schema von Realismus und Antirealismus steht. In dieser Sicht ist mit Sozialkonst- <?page no="57"?> 58 Georg Kneer ruktivismus ein Forschungsprogramm gemeint, das sich dafür interessiert, auf welche Weise Wirklichkeitsbeschreibungen soziale Verbindlichkeit erlangen. Behauptet wird zugleich, dass die (ergebnislose) Auseinandersetzung zwischen Realisten und Antirealisten ein ganz anderes (fundamentalistisches) Anliegen betrifft, nämlich die Frage nach einem letzten Einheitsgrund unseres Erkennens und Wissens. Für das sozialkonstruktivistische Theorieprogramm ist diese Fragestellung jedoch, so die Schlussfolgerung, eine Frage ohne praktischen Wert (Kneer 2009). Die Kontroverse über Realismus und Konstruktivismus hat in jüngerer Zeit auf dem Feld der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung bzw. der so genannten science studies eine Fortsetzung und zugleich weitere Zuspitzung gefunden. Einen viel beachteten Ansatz stellt die maßgeblich von Bruno Latour formulierte Akteur-Netzwerk-Theorie dar. Latours Theorieunternehmen geht auf deutliche Distanz sowohl zu den Prämissen des (Abbild-)Realismus als auch des (Sozial-)Konstruktivismus. Im Gegensatz zu einem realistischen Selbstverständnis betont Latour, dass (natur-)wissenschaftliche Tatsachen nicht schlicht entdeckt, sondern fabriziert, produziert und damit konstruiert werden- - »les faits sont faits« (Latour 2003: 195). An die Adresse der konstruktivistischen Wissenssoziologie richtet er den Vorwurf, dass diese in kurzschlüssiger Weise (natur-)wissenschaftliches Wissen allein im Rekurs auf die interpretative Tätigkeit der Wissenschaftler, also »die harten Fakten der Naturwissenschaft durch die weichen Fakten der Sozialwissenschaft« (ebd.: 187) erklärt und damit den Eigenanteil der Dinge und Gegenstände am Zustandekommen wissenschaftlicher Tatsachen unterschlägt. 11 In seiner Sicht ist der Vorgang der Wirklichkeitskonstruktion ein dynamisches Geschehen, an dem naturale, gesellschaftliche und technische Komponenten gleichermaßen beteiligt sind. Um die mitwirkende Rolle von natürlichen und artifiziellen Dingen bei der Herstellung wissenschaftlicher Fakten herauszuarbeiten, nimmt Latour eine Ausweitung der Akteurskategorie vor. Jede wirkmächtige Einheit wird als Akteur begriffen: Menschen aus Fleisch und Blut ebenso wie Mikroben, Schlüsselanhänger, Muscheln oder Fahrbahnschwellen. Akteure handeln in Netzwerken, also dank der Verknüpfung mit weiteren Akteuren; Handlungsfähigkeit ist somit das Resultat einer Netzwerkbildung, bei der die Beteiligten ihre Ziele, Rollen sowie Funktionen aushandeln und wechselseitig zuweisen. Ausgehend hiervon gelangt Latour zu einer Neubeschreibung des Sozialen als Gegenstand der Soziologie: Die soziale Welt gilt ihm als Ort des Versammelns bzw. Assoziierens menschlicher und nichtmenschlicher Entitäten; das Soziale ist, kurz gesagt, bevölkert von eigenartigen Mischwesen, Hybriden aus Natur, Kultur und Technik (vgl. Latour 2007). Die vorstehenden Ausführungen haben verschiedene Kontroversen bzw. Positionen zu der Frage vorgestellt, wie sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand verhält. Manches konnte dabei nur 11 Die Protagonisten des Sozialkonstruktivismus sind wiederholt der Kritik Latours entgegen getreten. David Bloor, einer der Begründer und Wortführer des so genannten strong programme der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie, verweist in seiner Antwort auf Latour vor allem auf zwei Punkte: Zum einen betont er, dass nicht die naturale bzw. materielle Wirklichkeit, sondern die Aussagen der Naturwissenschaftler über diese Wirklichkeit den Gegenstand der Soziologie wissenschaftlichen Wissens bilden. »Das Ziel ist nicht, die Natur, sondern kollektiv geteilte Überzeugungen über die Natur zu erklären.« (Bloor 1999: 87; eigene Übersetzung, G. K.). Zum anderen verweist er darauf, dass der Sozialkonstruktivismus keineswegs die Rolle nicht sozialer Faktoren beim Zustandekommen wissenschaftlichen Wissens bestreitet. Aus seiner Sicht trägt der unmittelbare Rekurs auf naturale Faktoren jedoch nichts zu einer Antwort auf die Frage bei, für die sich die Wissenschaftssoziologie interessiert, nämlich die Frage, weshalb wissenschaftliche Aussagen akzeptiert oder bestritten werden-- da aus seiner Sicht naturale Faktoren sowohl bei der Anfertigung wahrer als auch falscher Aussagen kausal wirksam sind. Zur Debatte zwischen sozialkonstruktivistischer Wissenschaftssoziologie und Akteur-Netzwerk-Theorie vgl. auch Kneer 2010. <?page no="58"?> Wissenschaftstheoretische Positionen 59 angedeutet oder allenfalls umrisshaft skizziert, vieles musste schlicht ignoriert werden. Wiederholt wurde dabei die Vielfalt an Sichtweisen und Standpunkten betont. Verschiedene Beobachter haben mit Blick auf diese Mannigfaltigkeit bzw. die scheinbare Uferlosigkeit der Auseinandersetzungen die grundsätzliche Frage nach dem Nutzen einer wissenschaftstheoretischen Reflexion aufgeworfen. In aller Kürze wird man hierzu sagen können, dass »die« Wissenschaftstheorie nicht (länger) das Ziel verfolgt, Wissenschaften zu begründen. Ein ähnlich lautender Eintrag findet sich bereits bei Weber: »Nur durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme wurden Wissenschaften begründet und wird ihre Methode fortentwickelt, noch niemals dagegen sind daran rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen.« (Weber 1988: 217) Die wissenschaftstheoretische Reflexion geht den Wissenschaften nicht voraus, sondern begleitet sie. Und schon gar nicht liefert sie ein stabiles Fundament, auf dem die fachwissenschaftliche Arbeit ausruhen könnte. Eine der Hauptaufgaben der Wissenschaftstheorie dürfte es vielmehr sein, die Kontingenz wissenschaftlichen Wissens herauszuarbeiten und damit zugleich auf mögliche Alternativen bei der wissenschaftlichen Begriffs-, Theorie- und Methodenwahl aufmerksam zu machen. 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Die Gründungsdokumente der methodisch kontrollierten Sozialforschung, wie wir sie heute kennen, stammen jedoch aus dem frühen 20.-Jahrhundert und stehen am Ende einer langen Entwicklungsgeschichte. Die erste paradigmatische Untersuchung, »The Polish Peasant in Europe and America« (1918-1920) von William Thomas und Florian Znaniecki, dechiffriert die Biografien polnischer Migranten, die sich in der rasant anwachsenden Industriestadt Chicago in fremder Umgebung ein neues Leben aufbauen. Einige Jahre später analysieren Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel in ihrer wegweisenden Studie über »Die Arbeitslosen von Marienthal« (1933) die Effekte von Arbeitslosigkeit in einer österreichischen Industriesiedlung, in der durch die Schließung der ortsansässigen Fabrik nahezu alle Einwohner arbeitslos geworden sind. Instruktiv sind diese beiden Pionierwerke aus heutiger Sicht nicht zuletzt deshalb, weil sie auf ein breites Sortiment an Materialsorten, Erhebungstechniken und Auswertungsverfahren zurückgreifen. Als empirische Informationsquellen fungieren amtliche Register, öffentliche Statistiken, Beobachtungsprotokolle, Briefwechsel, Interviews, Schulhefte, Zeitungsberichte, Tagebücher und Zeitverwendungstabellen. Zu Beginn des 20.- Jahrhunderts ist somit noch vereint, was in den Folgejahrzehnten aufgrund unterschiedlicher Bezugsprobleme auseinanderdriftet, nämlich »quantitative« und »qualitative« Forschungsverfahren. Während sich Lazarsfeld dem stichprobenbasierten »Survey-Research« zuwendet und damit die methodisch angeleitete Quantifizierung des Sozialen vorantreibt, avanciert die »Chicago School« um William Thomas, Robert E. Park und Ernest Burgess in den Augen berühmter Schüler wie Harold Garfinkel, Barney Glaser, Anselm Strauss oder Erving Goffman zum Vorbild für den qualifizierenden Zweig der Sozialforschung. In Deutschland wird die Kluft schließlich im Anschluss an den berühmten »Positivismusstreit« (1961) zwischen Theodor W. Adorno und Karl Popper (später: Jürgen Habermas gegen Hans Albert) ideologisch zementiert und verstetigt. Erst im Rahmen dieser stilbildenden Kontroverse werden erkenntnistheoretische, gesellschaftsanalytische und wissenschaftspolitische Differenzen mit methodischen Fragen nach geeigneten Verfahren der Fallauswahl und -analyse amalgamiert. Fortan entwickelt sich ein qualitativer Methodenzweig, der sozialanthropologische, ethnologische, psychoanalytische, pragmatistische und texthermeneutische Verfahren aufsaugt. Und in mindestens ebenso rasanter Geschwindigkeit bildet sich ein quantitativer Methodenzweig heraus, der an den Erhebungs- und Auswertungsstandards der Naturwissenschaften und Ökonometrie <?page no="61"?> 62 Alexandra Krause / Henning Laux orientiert ist. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklungsgeschichte stehen sich heute zwei ausdifferenzierte Forschungsrichtungen gegenüber, die eigene Lehrbücher, Zeitschriften, Nachwuchsgruppen, Diskussionsforen und Lehrstühle hervorbringen-- und sich weitgehend ignorieren. Diese Spaltung erscheint mit Blick auf den Gegenstandsbereich der empirischen Sozialforschung nur schwer nachvollziehbar. So sind in der Analyse sozialer Problemfelder wie Erwerbslosigkeit, Armut, Kriminalität oder Segregation quantifizierende Daten von großer Bedeutung, lässt sich mit ihrer Hilfe doch erfahren, wie häufig diese Phänomene in welchen Bevölkerungsteilen auftreten. Zugleich kann erst die qualifizierende Forschung konstituierende Interaktionen und alltäglichen Deutungsmuster rekonstruieren, über die Betroffene diese Phänomene erleben. Zudem legen jüngere Entwicklungen den Verdacht nahe, dass die Projektion unabhängiger oder konkurrierender Paradigmen die tatsächliche Forschungspraxis gar nicht mehr widerspiegelt. Bereits seit den 1980er-Jahren hat sich im angelsächsischen Raum ein Feld der Sozialforschung entwickelt, auf dem die Möglichkeiten und Grenzen der Kombination quantitativer und qualitativer Methoden wieder explizit untersucht werden. In den letzten Jahren ist das Interesse daran auch in der deutschsprachigen Sozialforschung gewachsen. Angesichts solcher Ungereimtheiten wollen wir diesen Text zum Anlass nehmen, um noch einmal danach zu fragen, durch welche Spezifika sich die beiden Methodenstränge auszeichnen. Daran anknüpfend diskutieren wir zeitgenössische Vermittlungsversuche, die eine problemlösungsorientierte Zusammenarbeit befördern und damit den ›kalten Krieg der Paradigmen‹ überwinden helfen. 2. Der klassische Methodendualismus 2.1 Methodik der quantitativen Sozialforschung 2.1.1 Methodologische Grundlagen und Qualitätsstandards Im Zuge der Bemühungen um eine deskriptive Vermessung der hereinbrechenden Massenkollektive wird im 19.- Jahrhundert die Institutionalisierung der heutigen Sozialstatistik in den englischen »Statistical Societies« und im deutschen »Verein für Sozialpolitik« maßgeblich vorangetrieben. Klassische französische Studien wie »Cours de philosophie positive« (1842) von Auguste Comte oder »Les règles de la méthode sociologique« (1894) von Émile Durkheim buchstabieren die Grundlagen ihrer Methodik aus. Die sozialwissenschaftlich interessierte Statistik orientiert sich am Vorbild der Naturwissenschaften und sucht analog dazu nach möglichst universellen Gesetzmäßigkeiten sozialer Beziehungen. Quantifizierende Untersuchungen folgen nomologisch-deduktiven Erklärungsmodellen, d. h. sie basieren auf einem System theoretischer Gesetze, aus denen sich ihre wissenschaftlichen Annahmen logisch und werturteilsfrei ableiten lassen. Deren Übereinstimmung mit beobachtbaren Merkmalen der sozialen Wirklichkeit wird dann statistisch geprüft. Schließlich begreifen sie ihren Forschungsgegenstand in aller Regel als soziale Tatsache, welche unabhängig vom Forscher und seinem Wissen existiert (Neuman 1997). Wissenschaftlicher Kern der quantitativen Methodik ist der empirische Test theoretisch hergeleiteter Forschungshypothesen. Dementsprechend fokussieren ihre Gütekriterien auch auf die Qualität, mit der diese Hypothesen in messbare statistische Größen übersetzt werden. Das Kriterium der Reliabilität gilt als erfüllt, wenn man das theoriegeleitet anvisierte Merkmal der sozialen Wirklichkeit stabil, präzise und in sich konsistent messen kann. Das Kriterium der <?page no="62"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 63 Validität gilt als erfüllt, wenn eine Messgröße tatsächlich auch das zugrunde liegende Konstrukt abbildet. Das Kriterium der Objektivität bzw. intersubjektiven Replizierbarkeit trägt schließlich dem Anspruch Rechnung, dass ein empirischer Befund allgemein und unabhängig vom Betrachter bzw. Forscher gelten soll und daher auch von anderen Forschern mit alternativen Messmethoden und unter anderen Rahmenbedingungen hervorgebracht werden kann (Schnell et al. 2011: 149-166). Eine grundlegende Herausforderung quantitativer Forschungsdesigns besteht schließlich darin, das Kausalitätsproblem angemessen zu bearbeiten. Es umfasst sowohl die wissenschaftstheoretische und gesellschaftsanalytische Frage, inwieweit die untersuchten sozialen Beziehungen analog zu Naturzusammenhängen über Kausalgesetzmäßigkeiten erfassbar sind, als auch die statistische Modellierung der untersuchten Kausalbeziehungen anhand eines geeigneten Datensatzes. Letzteres ist unter anderem mit der Anforderung verbunden, Veränderungen des als Ursache geltenden sozialen Merkmals auch tatsächlich vor den als Wirkung geltenden Veränderungen des zu erklärenden sozialen Merkmals zu messen (vgl. dazu ausführlich: Kelle 2008: 151-225). 2.1. 2 Grundzüge des quantitativen Forschungsprozesses Aus unserer Sicht sind fünf methodische Schritte dazu geeignet, die Logik des quantifizierenden Forschungsprozesses zu charakterisieren (vgl. z. B. Neuman 1997; Thome 2007; Bryman 2008; Schnell et al. 2011; Fowler 2013): a) Forschungsfrage und forschungsleitende Hypothesen formulieren, b) empirisches Design entwickeln, c) Daten erheben, d) Daten analysieren, e) theoretische Schlussfolgerungen ziehen. a) Problemstellung und Hypothesenentwicklung Die quantitative Sozialforschung begreift sich als theoriegeleitete Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Idealerweise entwickelt sie im ersten Schritt des Forschungsprozesses über das so genannte nomologisch-deduktive Formalmodell der Kausalbeziehungen ihre forschungsleitenden Hypothesen (Hempel/ Oppenheim 1948). Sie bedient sich der Stochastik, um aus der bedingten Wahrscheinlichkeit, mit der empirische Messgrößen auftreten, Rückschlüsse auf die Gültigkeit dieser Hypothesen zu ziehen. Im Unterschied zur qualitativen Sozialforschung gilt somit die theoriegeleitete Datenerhebung und -analyse als Qualitätsmerkmal guter quantitativer Sozialforschung (Diekmann 2002: 122-159, Kromrey 2000: 48-58). Die Erklärungsmodelle beschreiben Merkmale der sozialen Wirklichkeit über eine endliche Anzahl möglicher Ausprägungen-- als Variablen-- und führen die Verteilung der zu erklärenden abhängigen Variable über die Annahme einer Kausalbeziehung auf die Verteilung einer oder mehrerer unabhängiger Variablen zurück. Über intervenierende Variablen und Moderatoren werden die modellierten Zusammenhänge verfeinert, um die Modelle der komplexen Wirklichkeit des untersuchten Beziehungssystems anzunähern. Die Forschungshypothesen postulieren also einen kausalen Effekt zwischen wenigstens zwei Variablen, sind als Vorhersage formuliert, lassen sich logisch aus dem zugrunde gelegten Erklärungsmodell herleiten und können über statistische Tests falsifiziert werden (Neuman 1997: 109). Insbesondere der letzte Aspekt spiegelt das am kritischen Rationalismus orientierte Wissenschaftsverständnis der quantitativen Sozialforschung wider. Theoretisch fundierte Forschungshypothesen lassen sich durch die empirische Prüfung nicht letztgültig beweisen-- statistische Tests können aber sehr wohl die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit testen. Indem sie in <?page no="63"?> 64 Alexandra Krause / Henning Laux ihren Studien versuchen, die Befunde anderer Forscher zu replizieren, aber auch gezielt alternative Erklärungsmodelle und widerstreitende Forschungshypothesen testen, nähern sich die Forscher eines Forschungsfeldes sukzessive der Wahrheit an. b) Forschungsdesign Im nächsten Schritt werden die Forschungshypothesen über ein geeignetes Forschungsdesign einer systematischen empirischen Prüfung zugänglich gemacht. Insbesondere folgende Fragen müssen bearbeitet werden: 1) Welche Informationen sind dazu geeignet, die Forschungshypothesen empirisch zu messen bzw. zu operationalisieren? 2) Für welche Fallauswahl sollen die Forschungshypothesen geprüft werden? 3) Ist ein Experiment oder eine Umfrage am besten dazu geeignet, die postulierten Kausalzusammenhänge zu erfassen? Für die Operationalisierung gilt es zunächst, zu entscheiden, ob ein Konzept ein- oder mehrdimensional erfasst werden soll und welche Variable bzw. Variablen dazu geeignet sind, die Dimension/ en empirisch abzubilden, und daher als Indikatoren dienen sollen. Dazu gehört auch die Überlegung, auf welcher Ebene die Informationen erhoben werden müssen: Werden z. B. Mikroprozesse postuliert, so dass auch Individualdaten zu erheben sind, um die Gefahr eines ökologischen Fehlschlusses zu reduzieren? Daran anschließend müssen die Indikatoren quantifiziert werden. Einheitliche Richtwerte ermöglichen es dabei etwa, Veränderungen über die Zeit zu bestimmen und die Befunde unterschiedlicher Studien miteinander zu vergleichen (Neuman 1997: 113 ff.). Meistens können Forscher keine umfassende Fallstudie bzw. Vollerhebung aller relevanten Fälle durchführen, sondern müssen sich auf eine Fallauswahl beschränken. Um die Generalisierbarkeit der beobachteten Effekte anhand statistischer Signifikanztests prüfen zu können, muss es sich um eine Zufallsstichprobe aus der Grundgesamtheit aller Beobachtungen handeln. Jede Stichprobenziehung ist allerdings mit einem Fehler behaftet, der u. a. auf fehlende Antworten oder Messfehler zurückzuführen ist. Eine Zufallsstichprobe kann diesen Stichprobenfehler nicht vermeiden, aber verringern. Er wird auch mit der absoluten Größe der Stichprobe kleiner (Schnell et al. 2011: 257 ff.). Die Methodenliteratur nennt in der Regel drei Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine Kausalbeziehung statistisch nachzuweisen: 1) die Verteilung einer Variable korrespondiert bzw. korreliert systematisch mit der Verteilung einer anderen Variable; 2) es ist keine Scheinkorrelation, d. h. die gemeinsame Variation der Verteilung von abhängiger und unabhängiger Variable bildet auch wirklich den direkten Zusammenhang der beiden Variablen ab und nicht den Einfluss einer unbeobachteten Drittvariable; 3) die Ursache wird vor der Wirkung gemessen (Kelle 2008). Das experimentelle Design kommt der Modellierung einer Kausalbeziehung am nächsten, weil es den Kausaleffekt im Vergleich zwischen den Probanden der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe direkt produziert und misst. Aus ethischen und praktischen Gründen ist es allerdings nur selten für soziologische Fragestellungen geeignet. Als quasi-natürliches Experiment gelten Settings, in denen zwei Gruppen miteinander verglichen werden, von denen nur eine Gruppe einem bestimmten Einfluss ausgesetzt war. Eine Herausforderung besteht hier darin, dass die beiden Gruppen in allen übrigen Merkmalen identisch sein müssen, so dass Unterschiede in der abhängigen Variable wirklich auf diesen Kausaleffekt zurückgeführt werden können. Darüber hinaus muss der Einfluss anderer möglicher Ursachen kontrolliert werden, um die Stärke des Effekts möglichst unverzerrt zu messen. Häufiger bedient sich die quantitative Sozialforschung allerdings Umfragen, um ihre Hypothesen zu testen-- nicht zuletzt auch, um eine höhere Fallzahl und Generalisierbarkeit der statis- <?page no="64"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 65 tischen Befunde zu erzielen. Die ersten beiden Kriterien der Kausalitätsprüfung können durch ein Querschnittdesign erfüllt werden, während das dritte Kausalitätskriterium ein Längsschnittdesign erfordert. Die Entwicklung von Panelstudien hat die quantitative Sozialforschung in Deutschland während der letzten beiden Jahrzehnte stark geprägt, das Interesse an Zeitreihen- und Ereignisdatenanalysen hat stetig zugenommen (vgl. Diekmann 2004). c) Datenerhebung Aufgrund der Randständigkeit experimenteller Designs beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die sozialwissenschaftliche Umfrageforschung. Die Datengewinnung erfolgt über mündliche, schriftliche, telefonische oder internetgestützte Formen der Befragung. Im Mittelpunkt steht zunächst die Entwicklung des Fragebogens. Dabei sind alle für den Hypothesentest erforderlichen Indikatoren zu berücksichtigen. Je mehr eindimensionale Indikatoren man verwendet, desto mehr Informationen können insgesamt erfragt werden. Bei eindimensionalen Indikatoren kann eine missverständliche Frageformulierung allerdings auch zu einer falschen Klassifizierung der Befragten führen, und dieser Fehler kann weder korrigiert noch das Ausmaß des Fehlers eingeschätzt werden. Mit ihrem Interesse an einer möglichst differenzierten Messung ihrer Konzepte durch komplexe multidimensionale Indikatoren laufen Forscher umgekehrt aber auch möglicherweise Gefahr, Befragte zu überfordern, was ebenfalls fehlerhafte Antworten, fehlende Antworten oder sogar den Abbruch des Interviews zur Folge haben kann (z. B. Schnell et al. 2011: 199 ff.; Neuman 1997: 132 ff.). Bei der Frageformulierung spielen messtheoretische Gesichtspunkte der Reliabilität und Validität eine entscheidende Rolle. Beide Gütekriterien lassen sich anhand standardisierter Verfahren in Pretests prüfen. So kann die Stabilität eines Indikators durch wiederholte Messungen innerhalb derselben Untersuchungsgruppe geprüft werden (Test-Retest-Methode). Für multidimensionale Indikatoren gilt es auch, die Konsistenz der Messergebnisse zwischen den Indikatoren zu testen (klassischer Test: Cronbachs Alpha). Die Replizierbarkeit der Ergebnisse hängt eng mit der Reliabilität der Indikatoren zusammen. Die Validität stellt quantitative Studien vor größere Herausforderungen, denn es gibt keine absolute Sicherheit darüber, dass ein Indikator auch wirklich das gemeinte Konzept abbildet (Neuman 1997: 141). Die inhaltliche Validität eines Indikators kann durch das Urteil anderer Experten oder möglicher Probanden über seinen Sinngehalt geprüft werden. Er sollte außerdem möglichst viele relevante Dimensionen des zugrunde liegenden Konzeptes abbilden. Aber auch der Vergleich mit bereits etablierten alternativen Indikatoren oder seine Vorhersagekraft können dazu dienen, die Validität eines Indikators zu steigern (ebd.: 144). Um die Objektivität bzw. Replizierbarkeit der Messungen sicherzustellen, gilt es auszuschließen, dass Messfehler einen unkontrollierten Einfluss auf die Datengewinnung ausüben. Mögliche Fehlerquellen werden daher nacheinander eliminiert, indem der Fragebogen auf den Effekt der Fragenreihenfolge, den Einfluss von Suggestivfragen oder die Rolle sozialer Erwünschtheit überprüft wird. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die quantifizierende Bestimmung des Sozialen stark zugenommen. Die Einrichtung großer Forschungsdatenzentren (Statistische Bundes- und Landesämter, GESIS, ICPSR, etc.), die Ausbreitung von Markt- und Meinungsforschungsinstituten (Allensbach, Emnid, Forschungsgruppe Wahlen, Infratest Dimap, etc.) sowie die regelmäßige Durchführung großer Bevölkerungsumfragen (ALLBUS, SOEP, ISSP, Eurobarometer, etc.) haben die wissenschaftliche Sekundäranalyse prozessproduzierter statistischer Daten vereinfacht. Während kosten- und zeitintensive Primärerhebungen die Freiheit lassen, Forschungsdesigns eng an eigenen Forschungsinteressen und Methodenkenntnissen zu entwickeln, setzt die freie bzw. <?page no="65"?> 66 Alexandra Krause / Henning Laux kostengünstige Nutzung unterschiedlicher Sekundärdatensätze ein breiteres Methodenwissen voraus (Fleck 2010). d) Datenanalyse Die Auswertung empirischen Datenmaterials wurde in den letzten Jahrzehnten durch die explosionsartige Steigerung der Rechnerkapazitäten (von der Hollerith-Lochkarte bis zum modernen Supercomputer) und die Implementierung leistungsfähiger Softwarepakete (wie Stata, SPSS, R oder LISREL) erheblich vereinfacht, so dass mittlerweile riesige Informationsmengen und komplexe Modelle innerhalb kürzester Zeit verarbeitet werden können (»Big Data«). Die Datenanalyse erfolgt in der Regel in zwei Schritten: Univariate Analysen sollen anhand von Häufigkeitsverteilungen und Maßen der zentralen Tendenz darüber Aufschluss geben, a) wie häufig die unterschiedlichen Ausprägungen einer Variable in der Stichprobe vorkommen und b) welche Ausprägung für die Verteilung einer Variable charakteristisch sind und daher am häufigsten vorkommen. Die multivariate Analyse untersucht dann die Stärke und Richtung der in den Forschungshypothesen postulierten Kausaleffekte unter Kontrolle möglicher weiterer Ursachen. Aber auch intervenierende Variablen, welche die Stärke des Effekts beeinflussen, und moderierende Variablen, die seine Richtung verändern können, gehen in diesen Forschungsschritt ein. Zu den klassischen Instrumenten der multivariaten Datenanalyse gehören die Faktorenanalyse sowie die lineare und die logistische Regression. In der Regel sind Wissenschaftlerinnen nicht allein an der deskriptiven Vermessung ihrer Stichprobe interessiert, sondern versuchen, ihre Befunde mit Hilfe inferenzstatistischer Verfahren zu verallgemeinern. Die gemeinsame Logik inferenzstatistischer Testverfahren besteht darin, eine Nullhypothese zu formulieren, die davon ausgeht, dass zwischen abhängiger und unabhängiger Variable kein Zusammenhang besteht, es wird also versucht, die erkenntnisleitende Theorie aktiv zu falsifizieren (vgl. Schnell et al. 2005: 447-454). Zu diesem Zweck wird anhand geltender Konventionen ein Signifikanzniveau festgelegt, und auf dieser Basis wird a) die Wahrscheinlichkeit getestet, mit der die Nullhypothese fälschlicherweise abgelehnt wird (»Alpha- Fehler«). Wenn der Forscher nun b) ein möglichst rigides Signifikanzniveau wählt, um den unter a) beschriebenen Fehler zu vermeiden, erhöht er damit zugleich aber auch die Wahrscheinlichkeit, die Nullhypothese anzunehmen, obwohl sie hätte verworfen werden müssen- - d. h. er geht irrtümlicherweise davon aus, dass seine Forschungshypothese empirisch widerlegt ist (»Beta-Fehler«). Dabei beruhen alle statistischen Tests allerdings auf der Grundannahme, dass das gewählte lineare Modell den untersuchten Kausalzusammenhang richtig modelliert (Aachen 1982). Auch elaborierte statistische Prüfkriterien der richtigen Modellspezifikation und des richtigen statistischen Schätzers können Überlegungen über die inhaltlich-theoretische Validität des Modells nicht ersetzen. Da Längsschnittdesigns kostspielig sind, greifen quantitativ ausgerichtete Forschungsprojekte häufig auf nationale Panelstudien oder die amtliche Statistik zurück. Während die Qualitätsstandards dieser Studien hoch sind, konfrontieren sie die Forscher zugleich mit der Herausforderung der Sekundäranalyse: Sie müssen ihre Forschungsfrage so modifizieren, dass sie auf Grundlage der bereitgestellten Daten angemessen bearbeitet werden kann, und sie müssen sich mit den Stärken und Schwächen des von anderen erhobenen Datenmaterials vertraut machen (Bryman 2008: 297 ff.). Insgesamt erfordern Längsschnittuntersuchungen ein hohes Maß an Methodenwissen und haben die Spezialisierung innerhalb der quantitativen Methodik verstärkt (für einen Überblick siehe z. B. Ruspini 2002). <?page no="66"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 67 e) Theoretische Schlussfolgerungen Die Befunde der empirischen Datenanalyse müssen in einem abschließenden Untersuchungsschritt auf ihre Implikationen für das zugrunde gelegte Theoriemodell geprüft werden. Falls sich eine Forschungshypothese im Rahmen der Analyse bestätigt, gibt es keinen Revisionsbedarf des Erklärungsmodells, wird eine Hypothese dagegen falsifiziert, so ist die erkenntnisleitende Theorie zu modifizieren oder zu verwerfen. Moderationseffekte haben zur Folge, dass der postulierte Kausalzusammenhang zwar durchaus bestätigt wird, aber nur für eine Teilpopulation. Die Theorie muss dann entsprechend ausdifferenziert werden. Schließlich können Hinweise auf unerwartete und überraschende Zusammenhänge auftreten, die nicht im Mittelpunkt des ursprünglichen Forschungsinteresses standen. Es besteht die Möglichkeit, diese Elemente im Rahmen einer Folgestudie anhand einer neuen Stichprobe zu testen. 2.2 Methodik qualitativer Forschungsprozesse 2.2.1 Methodologische Grundlagen und Qualitätsstandards Die als qualitativ, interpretativ oder rekonstruktiv bezeichneten Methoden der Sozialforschung sind ein heterogenes Feld. In der Folge konzentrieren wir uns auf die Gemeinsamkeiten der damit adressierten Ansätze, ohne die bestehenden Unterschiede einzuebnen. Qualitative Ansätze beschäftigen sich mit den alltagsweltlichen Praktiken, Wissensbeständen und Sinnzuschreibungen von Akteuren. Der Umgang mit diesen »Konstruktionen ersten Grades« (Schütz 1971) ist von drei methodologischen Prinzipien geprägt: 1.) Der Forschungsprozess qualifiziert die Teilnehmerperspektive, d. h. es wird eine möglichst umfassende, kontextreiche bzw. dichte Erfassung fallspezifischer Merkmale und Besonderheiten angestrebt. 2.) Das so erhobene Material ist deutungsoffen und muss daher interpretiert werden, es wird ein Bruch mit der Oberfläche des Datentextes und der Illusion des unmittelbaren Verstehens herbeigeführt, um mittels einer methodisch kontrollierten Befremdung latente Sinnstrukturen, fundierende Weltdeutungen und kulturelle Grammatiken aufzudecken. 3.) Zuletzt erfolgt ein rekonstruktiver Schritt, d. h. im Lichte eines spezifischen Erkenntnisinteresses durchdringt die Analyse das erhobene Material, transformiert es in Daten und erstellt von hier aus empirisch gehaltvolle Typologien und Theorien (vgl. Strübing 2013; Flick et al. 2012; Hollstein/ Ullrich 2003; Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2008). Über weitere allgemeine Prinzipien herrscht kein Konsens. Einigkeit besteht noch am ehestens hinsichtlich des Rollenprofils der soziologischen Beobachter. Abgesehen vom Spezialfall der Objektiven Hermeneutik 1 wird diesen nämlich eine aktive, hervorbringende und performative Funktion zugeschrieben. Anders als in der quantitativen Tradition versucht man also nicht, neutrale und nicht-reaktive Formen der Materialgewinnung und -analyse zu finden, vielmehr wird empirische Forschung als interaktiver Prozess vorgestellt, bei dem die subjektiven Wahrnehmungen und Interventionsmöglichkeiten der Forschenden als wertvolle Ressourcen der Erkenntnis dienen (Strübing 2013, Flick et al. 2012: 25). Dissens herrscht hingegen hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Realitätsgehalt des dadurch generierten Wissens. Diesbezüglich haben wir es mit einem Kontinuum zwischen zutiefst realistischen Überzeugungen auf der einen 1 Die Objektive Hermeneutik ist am schwierigsten mit den anderen Ansätzen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ulrich Oevermann hat daher im Jahr 2004 sogar die Zugehörigkeit der OH zum Bereich der qualitativen Methoden auf dem Podium des 32. Soziologiekongresses in München heftig bestritten (vgl. Strübing 2006: 153). <?page no="67"?> 68 Alexandra Krause / Henning Laux und radikalkonstruktivistischen Ansichten auf der anderen Seite zu tun (vgl. Breidenstein et al. 2013: 10). Schließlich differieren qualitative Ansätze bezüglich ihres genuinen Erkenntnisinteresses, wenn es nämlich um die Rekonstruktion von Sinnbeständen geht (vgl. Lamnek 2005: 224). Denn während einige Ansätze auf den subjektiv gemeinten Sinn abzielen (phänomenologische Wissenssoziologie, Biografieforschung), fokussieren andere auf die Dynamik des interaktiv hervorgebrachten Sinns (ethnomethodologische Konversationsanalyse) oder beziehen sich auf den kulturellen Sinn konstitutiver Strukturen (Objektive Hermeneutik, Diskursanalyse). In den letzten Jahren hat im Anschluss an die zunehmende Etablierung und Konsolidierung qualitativer Forschung eine verstärkte Beschäftigung mit methodischen Standards stattgefunden, um die »Qualität qualitativer Daten« sicherzustellen (Helfferich 2009, Steinke 1999). Dabei lassen sich derzeit drei verschiedene Strategien unterscheiden, von denen bislang noch nicht absehbar ist, welche sich in Zukunft durchsetzen wird: 1.) die Adaption etablierter Gütekriterien aus dem Bereich der quantitativen Methoden, 2.) die Entwicklung eigener Standards und 3.) die Zurückweisung methodischer Standardisierungsbemühungen. In unmittelbarer Anlehnung an die quantitative Methodenlehre plädieren Przyborski und Wohlrab-Sahr (2008: 35-42) für die Adaption von drei Gütekriterien: Validität, Reliabilität und Objektivität. Auf diese Weise soll einerseits der Dialog zwischen den entzweiten Paradigmen befördert und andererseits ein gemeinsamer Standard für qualitative Verfahren implementiert werden (vgl. Reichertz 2000, King et al. 1994). Im Rahmen der zweiten Option lassen sich eigene Kriterien entwickeln, um die Tragfähigkeit qualitativer Studien zu bestimmen. Flick (2007) unterscheidet in diesem Zusammenhang die Dokumentation erkenntnisleitender Hypothesen, die Auswahl gegenstandsangemessener Erhebungs- und Auswertungsmethoden sowie die Protokollierung der Verfahrensschritte, die vom Material zu den finalen Kernhypothesen führen. Eine dritte und letzte Möglichkeit besteht darin, die aufkeimende Methodisierung zurückzuweisen. Die Ablehnung begründet man damit, dass die Standardisierung der Verfahren dem Anspruch einer gegenstandsnahen, durchlässigen und problemsensiblen Sozialforschung zuwiderläuft. Als Alternative wird eine fallspezifische Ausrichtung der Methode am jeweiligen Gegenstand eingefordert (vgl. Breidenstein et al. 2013: 8 f.). 2.2.2 Grundzüge des qualitativen Forschungsprozesses In der folgenden Darstellung erläutern wir die wichtigsten Elemente eines qualifizierenden Forschungsprozesses: a) Materialgewinnung, b) Datenanalyse und c) Theoriebildung. Dabei zeigt sich, dass diese Phasen im Rahmen empirischer Studien-- anders als im Bereich der quantitativen Methoden-- rekursiv ineinandergreifen und in Abhängigkeit voneinander weiterentwickelt werden. a) Materialgewinnung Zu den wichtigsten Verfahren der Datenerhebung gehören Interviews, Ethnografien und internetbasierte Erhebungsverfahren. Das Interview ist sicherlich das typischste Instrument zur Materialgewinnung. Zur Gewinnung verbaler Daten kommen im Bereich der qualitativen Sozialforschung folgende Befragungsmethoden zum Einsatz: Leitfadeninterviews, Experteninterviews, narrative Interviews, ethnografische Interviews sowie Gruppendiskussionen. Für sämtliche Verfahren gilt, dass sie darauf abzielen, eine möglichst natürliche und vertrauensvolle Gesprächssituation zu schaffen, welche die Befragten dazu anregt, selbstläufig ihre Sinnwelten zu entfalten. Zu den zentralen Tugenden der Interviewführung gehört eine souveräne Handhabung des Leit- oder Gesprächsfadens, um <?page no="68"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 69 spontan auf Erzählungen des Gegenübers eingehen und notwendige Diskussionsimpulse setzen zu können. Es gibt jedoch große Unterschiede, was den Strukturierungsgrad der Interviews angeht. So haben Experteninterviews einen klaren Problemfokus, was den Interviewer vor die Aufgabe stellt, den Redefluss im Sinne des Erkenntnisinteresses zu kanalisieren. Im Gegensatz dazu bestehen narrative Interviews im Idealfall aus einem einzigen Erzählstimulus, der beim Befragten eine eigenstrukturierte Lebensgeschichte evoziert, die nur gelegentlich durch Rückfragen oder Rückversicherungen unterbrochen werden muss. Die Sammlung möglichst reichhaltiger Kontextinformationen ermöglicht es, den betrachteten Fall in seiner Spezifik zu verstehen (vgl. dazu ausführlich: Küsters 2006; Strübing 2013, Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2008, Lamnek 2005, Gläser/ Laudel 2010). Unter einer Ethnografie versteht man die unmittelbare und zeitextensive Präsenz eines Forschenden in einem sozialen Mikrokosmos, dessen Praktiken im Hinblick auf ihren Sinn entschlüsselt werden sollen. Dabei sind Ethnografen weder Teilnehmer noch Touristen. Sie stellen Fragen, machen Notizen, produzieren umfangreiche Beobachtungsprotokolle-- und lassen sich dabei von den praktischen Relevanzsystemen der Teilnehmer dirigieren. Zugleich nutzen sie ihre Fremdheit, um deutlicher als jene zu verstehen, was in dem ausgewählten Feld vor sich geht. Ethnografien zielen damit stärker noch als alle anderen qualitativen Verfahren auf die Entdeckung bislang unerforschter Zusammenhänge (Breidenstein et al. 2013; Hammersley/ Atkinson 2007; Amann/ Hirschauer 1997; Latour 2002). Das Internet eröffnet vollkommen neue Möglichkeiten zur Erfassung sozialer Praktiken und Sinnwelten. Das über Blogs, Foren, Chats, Protokolldateien und soziale Netzwerke öffentlich verfügbare Datenmaterial erlaubt Zugänge zu Prozessen der Entstehung, Veränderung, Verbreitung und Konstitution sozialer Formen. Auf diese Weise wird es möglich, an nicht-reaktiv produzierte Verlaufsdaten zu kommen. Internetbasierte Erhebungsverfahren liegen seit einigen Jahren voll im Trend und es ist aufgrund kostengünstiger und schneller Erhebungsmethoden davon auszugehen, dass sie in Zukunft stark an Bedeutung gewinnen werden (Bryman 2008: 627-659). Die Fallauswahl hat im Bereich der qualitativen Sozialforschung eher experimentellen Charakter, sie beruht nicht auf einer Zufallsstichprobe, sondern der Forschende navigiert vor dem Hintergrund einer im Untersuchungsprozess allmählich entstehenden Systematik von Fall zu Fall. Das »theoretical sampling« (Glaser/ Strauss 1967) setzt auf eine allmähliche Verdichtung der Fallauswahl durch einen iterativen Forschungsprozess, in dem die Forscherin beständig zwischen Datenerhebung, Auswertung und Typisierung oszilliert. Auf diese Weise tritt nach einiger Zeit eine Sättigung ein, d. h. neue Fälle führen zu keinen neuen Erkenntnissen mehr. Die Erhebungsphase endet, sobald die induktive Erweiterung oder abduktive Generierung einer Theorie über das untersuchte Feld gelungen ist. b) Datenanalyse Zur qualitativen Untersuchung von empirischem Material stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung: Grounded Theory, Objektive Hermeneutik, dokumentarische Methode, Diskursanalyse, Inhaltsanalyse, narrationsanalytische Biografieforschung, egozentrierte Netzwerkanalyse oder ethnomethodologische Konversationsanalyse (Strübing 2013, Lamnek 2005). Dabei hängt die Entscheidung für eine bestimmte Analysestrategie naturgemäß von dem verfügbaren Datenmaterial ab: Netzwerkanalysen sind auf relationale Beziehungsdaten angewiesen, Konversationsanalysen verlangen nach hochdifferenzierten Transkripten und die dokumentarische Methode benötigt für ihre Typisierungen möglichst kontrastreiche Fälle. Im Folgenden betrachten wir zwei der am häufigsten eingesetzten Analyseverfahren etwas genauer. <?page no="69"?> 70 Alexandra Krause / Henning Laux Die Grounded Theory geht auf das Buch »The Discovery of Grounded Theory« (1967) von Barney Glaser und Anselm Strauss zurück und wurde seitdem kontinuierlich weiterentwickelt (Strauss/ Corbin 1990, Strauss 1991, Strübing 2008, Clarke 2004, Charmaz 2006). Sie ist kein reines Auswertungsverfahren, sondern ein pragmatistisch inspirierter Forschungsstil, welcher Einfluss auf das gesamte Design einer empirischen Untersuchung nimmt. Auf diese Weise wird ein vorurteilsarmer, kreativer, abduktiver und iterativer Forschungsprozess initiiert, der um eine zunächst explorative, später theoriegeladene Fallauswahl kreist. Die einzelnen Untersuchungsschritte werden parallelisiert, schon mit dem ersten ausgewählten Fall beginnt die Theoriebildung. Hinsichtlich des zulässigen Datenformats ist die Grounded Theory offen-- möglich sind Texte, Interviews, Videos oder Beobachtungsprotokolle. Die wachsende Beliebtheit der Grounded Theory resultiert nicht zuletzt daraus, dass sie als flexible Plattform für gegenstandsnahe Studien verwendet werden kann. Im Umgang mit dem erhobenen Material setzt sie auf eine gemeinsame Analyse durch mehrere Interpreten, welche in drei Schritten erfolgt. Zunächst wird offen kodiert, d. h. der Datentext wird von den beteiligten Wissenschaftlern durch eine mikroskopische Line-by-Line-Analyse in seine Einzelteile zerlegt. Dabei werden verborgene Sinndimensionen aufgespürt, thematisch interessante Materialstücke ausgewählt und zentrale Konzepte separiert. Anschließend wird axial kodiert, d. h. durch den Vergleich kontrastreicher Fälle kommt es zur Erstellung erster Zusammenhangshypothesen und Theorie-Miniaturen. Hierfür werden einige Phänomene ausgewählt und auf ihre möglichen Ursachen und Konsequenzen befragt. Zum Abschluss der Interpretationsphase wird selektiv kodiert, d. h. nun beginnt die Suche nach der zentralen Schlüsselkategorie, mit der sich die einzelnen Theoreme und Konzepte aufeinander beziehen lassen, um auf diese Weise die erkenntnisleitende Forschungsfrage zu beantworten (vgl. dazu ausführlich: Strauss 1991: 94-114). Das zweite Interpretationsverfahren, das wir in seinen Grundzügen darlegen, ist die Narrationsanalyse (nach Schütze 1983, 1984). Sie kommt vor allem in der Biografieforschung zum Einsatz und nimmt ihren Ausgang von der detaillierten Transkription eines narrativen Interviews, das eine geschlossene Haupterzählung, einen Vertiefungsteil und einen argumentativ angelegten Nachfrageteil aufweist. In einem ersten Arbeitsschritt wird das Material einer formalsprachlichen Analyse unterzogen, um auf diese Weise erzählende von argumentativen und beschreibenden Passagen zu trennen. Von hier aus erfolgt eine strukturelle Beschreibung, bei der die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Erzählsegmenten herausgearbeitet werden. Die analytische Abstraktion identifiziert daraufhin wiederkehrende Muster und Gestaltungsroutinen innerhalb der untersuchten Biografie. Die Wissensanalyse erforscht, auf welche Strategien der Identitätsbehauptung die Erzählperson bei der Darlegung ihrer Biografie zurückgreift. Dazu gehören Techniken der Verdrängung, Legitimierung oder Umdeutung. Nach Schütze kann die Einzelfallanalyse durch kontrastive Vergleiche angereichert werden. Dabei werden zunächst minimale Vergleiche zu ähnlichen Fälle angestellt, später dann maximale Vergleiche mit Fällen, deren Verlaufstypik signifikant vom Ausgangsfall abweicht. Die Vergleichsarbeit mündet in die Konstruktion von Theorien ein, die Prozessmodelle für typische Lebensläufe oder einzelne Lebensphasen bereitstellen (Strübing 2013: 153-161). Narrationsanalysen machen sich dabei drei »Zugzwänge des Stegreiferzählens« zunutze (Schütze 1984: 81). Der »Detaillierungszwang« evoziert die chronologische Benennung wichtiger Schauplätze und Lebensereignisse und befördert die sinnhafte Verknüpfung einzelner Episoden. Besonders detailreich ausbuchstabierte Sequenzen verweisen die Narrationsanalytiker auf biografische Höhe- oder Wendepunkte. Der »Gestaltschließungszwang« führt dazu, dass angekündigte oder begonnene Erzählteile in der Regel vollendet werden, selbst wenn sie Erlebnisse betreffen, die die Erzählperson eigentlich nicht zur Sprache bringen wollte. Auf diese Weise treten auch dramatische Ereignisse und konstitutive <?page no="70"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 71 Misserfolge hervor. Der »Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang« besteht schließlich darin, dass die Erzählperson aufgrund eines endlichen Zeitbudgets narrative Schwerpunkte bei der Schilderung ihrer Lebensgeschichte setzen muss. Auf diese Weise werden narrationsanalytische Rückschlüsse auf die Relevanzstrukturen des Befragten möglich. Die Biografieforschung geht keineswegs davon aus, dass die abgerufene Erzählung mit dem gelebten Leben vollkommen übereinstimmt. Sie arbeitet stattdessen mit der konstruktivistischen Annahme, dass sich die mentale Repräsentation und Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte aufgrund der beschriebenen Zugzwänge des Interviews in der Erzählung niederschlagen (Küsters 2006: 33). c) Theoriebezüge Ausgangspunkt einer qualitativen Untersuchung sind nicht gegenstandsbezogene Theorien, sondern abstrakte Metatheorien, welche die Wahl der Methoden und Techniken präjudizieren. Hinsichtlich der metatheoretischen Rahmung qualitativer Studien lassen sich verschiedene Einflüsse dokumentieren. Dazu gehören vor allem Pragmatismus (John Dewey, Charles S. Peirce), symbolischer Interaktionismus (George Herbert Mead, Herbert Blumer), Wissenssoziologie und Konstruktivismus (Peter L. Berger, Thomas Luckmann), Phänomenologie und Hermeneutik (Alfred Schütz), Poststrukturalismus (Michel Foucault) und Akteur-Netzwerk-Theorie (Bruno Latour, Annemarie Mol, John Law). Je nach gewählter Theorieoptik wird ein anderes Verhältnis von Struktur und Handlung induziert. Dies hat Folgen für die Auswahl und Analyse des empirischen Materials. Während die Grounded Theory eher beim Akteur ansetzt, konzentrieren sich diskursanalytische oder objektiv hermeneutische Verfahren auf konstitutive Mechanismen und Dispositive auf der Strukturebene. Ein gemeinsamer Wesenszug aller qualitativen Verfahren besteht darin, dass sie gegenstandsbezogene Theorien nicht im Sinne des quantitativen Paradigmas anwenden oder testen, sondern induktiv weiterentwickeln oder abduktiv generieren wollen (Kalthoff 2008: 21). Theorien gehen der empirischen Forschung nicht voraus, sondern bilden sich in der verstehenden Auseinandersetzung mit dem gesammelten Material. Qualitative Studien können daher auch als Experimente mit offenem Ausgang bezeichnet werden. Sie basieren nicht auf maßgeschneiderten Theorien oder eindeutigen Durchführungsbestimmungen und sie lassen sich von der Dynamik weitgehend unerforschter Materien affizieren. Der Schlüssel zur angestrebten Generalisierung der Befunde liegt in der komparativen Analyse komplexer Fallstrukturen, aus denen empirisch gesättigte Idealtypen und Typologien gebildet werden. 2.3 Qualitative und quantitative Methoden im Vergleich Als Zwischenfazit der bisherigen Darstellung gibt Abbildung 1 einen Überblick über die herausgearbeiteten Differenzen zwischen den beiden Methodensträngen. Die Rekonstruktion hat gezeigt, dass die Zielsetzung ähnlich ist: Sowohl quantitative als auch qualitative Studien generalisieren fallspezifische Befunde, um auf diese Weise soziale Regeln, Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Meinungsverschiedenheiten gibt es jedoch bezüglich der Instrumente und Verfahren, die zur Bewältigung dieser anspruchsvollen Aufgabe eingesetzt werden sollten. Da beide Methodenbaukästen wohlbegründet und bei der Analyse gesellschaftlicher Phänomene erfolgreich sind, gibt es im Anschluss an die Gegenüberstellung der Instrumente keinerlei Veranlassung dazu, einer Seite die Existenzberechtigung abzusprechen. Wir haben es in der Soziologie vielmehr mit zwei kontingenten, aber legitimen Versionen der empirischen Suche nach sozialen Mustern zu tun. Sofern man sich mit dieser friedlichen Koexistenz nicht begnügen <?page no="71"?> 72 Alexandra Krause / Henning Laux will, stellt sich allerdings die Frage, ob und wie diese Methoden trotz diverser Unterschiede in methodologischer und forschungspraktischer Hinsicht miteinander kompatibel gemacht werden können. In den folgenden Abschnitten diskutieren wir daher einige Kombinations- und Integrationsversuche, die darauf ausgelegt sind, Synergieeffekte zu generieren. 3. Die Konvergenz quantitativer und qualitativer Methoden-- Zwei-Perspektiven Für die allermeisten Sozialwissenschaftler stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit von quantitativen und qualitativen Methoden in ihrem Forschungsalltag überhaupt nicht. Sie driften aufgrund kontingenter Ereignisse in eines der beiden Lager, werden mit den dortigen Überzeugungen infiziert und eignen sich im Laufe ihrer akademischen Sozialisation die ausgeklügelten Verfahren der betreffenden Methodenkultur an, ohne dass ein längerer Blick über den Tellerrand vonnöten wäre. Sie forschen an eigenen Lehrstühlen, ziehen eigene Nachwuchsgruppen heran und publizieren in methodisch homogen ausgerichteten Journals. Die enorme Ausdifferenzierung und Verfeinerung der Methoden hat in der Gegenwart zur weiteren Zementierung dieser Kluft beigetragen, denn es ist nahezu unmöglich geworden, die Entwicklungen auf beiden Seiten des Methodenspektrums zu überblicken (oder gar mitzugestalten). Es gibt daher nur wenige Grenzgänger, die nennenswerte Kompetenzen in beiden Bereichen aufweisen. Stattdessen wird die Beziehung durch episodisch wiederkehrende Interventionen belastet, wie den Vorwurf der »Variablensoziologie« (vgl. z. B. Blumer 1956; Esser 1996) als Grundsatzkritik an deterministischen Implikationen einer statistischen Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit oder durch die Unterstellung von »Subjektivität«, als Kritik an der unstandardisierten Vorgehensweise qualitativer Studien und den damit aufgeworfenen Validitäts- und Reliabilitätsproblemen (vgl. z. B. Merton 1968 [1949]). Quantitative Methoden Qualitative Methoden Erkenntnismodus erklärend verstehend Beobachterrolle neutral interaktiv Theoriebezug theorietestend (deduktiv) theoriegenerierend (abduktiv) Fallauswahl statistical sampling theoretical sampling Fallzahl hoch gering Fallbeschreibung sparsam detailliert Erhebungsmethode standardisiert unstandardisiert Datenformat numerische Messwerte sprachlich vermittelte Daten Forschungsprozess sequenziell iterativ-rekursiv Forschungsziel generalisierbare Befunde über soziale Strukturen generalisierbare Befunde über soziale Strukturen Abbildung 1: Zentrale Differenzen zwischen quantitativen und qualitativen Methoden <?page no="72"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 73 Die evolutionäre Entkopplung zwischen quantifizierenden und qualifizierenden Methoden der Sozialforschung wird seit ihren Anfängen von einer eher marginalen Gegenbewegung begleitet, die darauf abzielt, die entstehende Lücke forschungsstrategisch zu überwinden. In den 1960er-Jahren wurden diese zaghaften Bemühungen erstmals unter dem Begriff der »Triangulation« gebündelt. Der Ausdruck stammt aus dem Bereich der Landvermessung und bezeichnet dort ein Verfahren, bei dem die Koordinaten eines Gegenstands von zwei unterschiedlichen Punkten aus bestimmt werden (Flick 2012: 11). In der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis lassen sich im Anschluss an Norman K. Denzin (1970) vier Formen der Triangulation unterscheiden: Datentriangulation (verschiedene empirische Quellen werden zur Bestimmung eines Gegenstands herangezogen), Forschertriangulation (verschiedene soziologische Beobachter), Theorietriangulation (verschiedene Theorieperspektiven) und Methodentriangulation (verschiedene Methoden). Der Begriff wird in der Gegenwart häufig auf die Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden reduziert. Das Motiv für eine derartige Methodentriangulation besteht darin, validere und reichhaltigere Befunde zu erhalten. Dieser vergleichsweise bescheidene Anspruch ist in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen auf Kritik gestoßen. Aus dem konstruktivistischen Lager wird die damit postulierte Möglichkeit einer synergetischen Kombination bestritten, weil jede Methode ihren eigenen Gegenstand hervorbringt, so dass es demzufolge gar keinen gemeinsamen Nenner für eine Triangulation geben kann. Methodologisch ausgerichtete Forscher greifen diese Kritik auf und bemühen sich darum, eine integrative Plattform für qualitative und quantitative Ansätze zu entwickeln, von der aus eine Kombination der beiden Methodenbaukästen möglich wird. Und schließlich gibt es eine breite und eher forschungspragmatisch ausgerichtete Diskussionslinie, in der es vorwiegend um die formale Ausbuchstabierung und empirische Realisierung konkreter Mixed-Methods-Forschungsdesigns geht. Wir werden nun auf die beiden letztgenannten Strömungen etwas genauer eingehen, da sie die aktuelle Diskussion um eine Annäherung der beiden Methodenstränge maßgeblich vorangetrieben haben. 3.1 Möglichkeiten methodenintegrativer Sozialforschung Der hierzulande einflussreichste Vorschlag zur methodologischen Integration der beiden Methodenstränge stammt von Udo Kelle (2008). Kelle hat in den letzten Jahren ein integratives Forschungsprogramm entwickelt, auf dessen Basis quantitative und qualitative Ansätze sinnvoll zusammenarbeiten können. Die gemeinsame Plattform weist vier zentrale Charakteristika auf: einen gegenstandsadäquaten Kausalitätsbegriff, ein Konzept der verstehenden Erklärung, einen doppelten Theoriebegriff sowie ein modifiziertes Phasenmodell des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses. (1.)-Kelles integratives Programm geht in Übereinstimmung mit der quantitativen Forschungslinie von der Notwendigkeit zur kausalen Interpretation empirischer Zusammenhänge aus. Der Begriff der Kausalität erfährt allerdings in zwei zentralen Hinsichten eine Veränderung bzw. Präzisierung. Zum einen werden seine deterministischen Anklänge zugunsten einer Versöhnung mit den Konzepten menschlicher Autonomie und Kreativität getilgt. Demzufolge wird soziales Handeln durch drei verschiedene Bedingungen beeinflusst bzw. verursacht: situative Faktoren, individuelle Handlungsziele und soziokulturell variable Handlungsregeln. Kelle geht im Rahmen seines Ansatzes davon aus, dass Akteure prinzipiell dazu in der Lage sind, diese drei Einflussgrößen zu verändern. Zum anderen wird der Kausalitätsbegriff an den Gegenstandsbereich der Sozialwissen- <?page no="73"?> 74 Alexandra Krause / Henning Laux schaften angepasst. Denn kausale Aussagen haben dort laut Kelles Analyse eine geringere Geltungsreichweite als in den Naturwissenschaften. Die Soziologie hat es stets mit raum-zeitlich begrenzten Strukturen mittlerer Reichweite zu tun, was die Entdeckung universeller Gesetzmäßigkeiten unmöglich macht (ebd.: 181-225). (2.) Mit dem integrativen Konzept der verstehenden Erklärung wendet sich Kelle gegen den disziplinhistorisch eingeschliffenen Dualismus von Erklären und Sinnverstehen. Er betrachtet das Verhältnis dieser beiden Erkenntnismodi als komplementär: Quantitative Studien beschreiben die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung auf der Makroebene, qualitative Analysen liefern durch detaillierte Fallbeschreibungen eine mikrofundierte Tiefenerklärung dafür, wodurch diese Korrelationen zustande kommen. Sofern sichergestellt ist, dass sich qualitative und quantitative Studien auf denselben empirischen Gegenstand beziehen, können sie sich also wechselseitig befruchten, validieren oder sogar korrigieren (ebd.: 267-269). (3.) In Kelles Programm wird das Verhältnis von theoriegenerierenden (qualitativen) und theorieprüfenden (quantitativen) Verfahren genauer bestimmt. Zu diesem Zweck hält er es für erforderlich, zwei Missverständnisse auszuräumen. Demzufolge sind qualitative Studien nicht-- wie gelegentlich suggeriert wird- - dazu in der Lage, ex nihilo neue Theorien zu entwickeln. Vielmehr spielen theoretische Vorannahmen, Erwartungen und Wissensbestände eine wichtige Rolle bei der Konstitution und Erforschung des Gegenstandsbereichs. Ebenso wenig kann die quantitative Forschung laut Kelle ihrem selbstformulierten Anspruch auf deduktive Theorieprüfung in der Praxis gerecht werden, weil soziologische Theorien häufig keine operationalisierbaren Aussagen aufweisen, die hinreichend konkret sind, um einen lokalen Gegenstandsbereich angemessen zu erkunden. Kelle schlägt aus diesem Grund einen doppelten Theoriebegriff vor, der zwei Theoriesorten voneinander unterscheidet: empirisch gehaltvolle, gut operationalisierbare und raum-zeitlich klar limitierte Konzepte (a) und empirisch gehaltsarme und universalistisch ausgerichtete Konzepte (b). Die quantitativen Studien sind auf Theorievariante (a) angewiesen, denn nur aus ihnen lassen sich Hypothesen ableiten, die in der Konfrontation mit der empirischen Realität scheitern bzw. falsifiziert werden können. Die qualitativen Studien benötigen hingegen jene heuristischen Suchscheinwerfer, die ihnen durch empirisch gehaltsarme Großtheorien (b) zur Verfügung gestellt werden (ebd.: 271-277). (4.) Kelle entwickelt auf dieser kategorialen Grundlage ein dreiphasiges Forschungsprogramm. Der erste Schritt besteht in der Deskription empirisch anzutreffender Struktur- und Handlungsmuster. Auf diese Weise wird bestimmt, was überhaupt als Explanandum in Frage kommt. Hierfür ist eine Analyse auf der statistischen Aggregatebene erforderlich, wofür quantitative Verfahren nach Auffassung Kelles am besten geeignet sind. Der zweite Schritt besteht in dem Versuch, die beschriebenen Handlungs- und Strukturmuster verstehend zu erklären. Mithilfe detaillierter Daten über feldspezifische Situationsdeutungen, Handlungsorientierungen und kulturellen Regeln werden typische Akteurmodelle gebildet. An diese Kontextinformationen gelangt man am besten auf qualitativem Wege. Schließlich wird in einem dritten und letzten Schritt die Geltungsreichweite der generierten Theorie überprüft. Aufgrund der geringen Fallzahlen in qualitativen Studien bietet sich hierbei eine quantitative Untersuchung an (ebd.: 281). Kelle skizziert einen integrativen Forschungsrahmen, an den qualifizierende und quantifizierende Studien gleichermaßen andocken können, da er Kausalität und Freiheit, Erklären und Verstehen sowie Theoriebildung und Theorietest aufeinander bezieht. Grundsätzlich bleibt es zwar innerhalb dieses Rahmens möglich und legitim, monomethodische Untersuchungen durchzuführen, sei es für ausgewählte Phasen des Forschungsprozesses oder über alle drei Phasen hinweg. Doch das Phasenmodell legt eine arbeitsteilige Analyse nahe, indem es die Stärken und Schwächen der jeweiligen Instrumente in neuer Schärfe hervortreten lässt. <?page no="74"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 75 Demzufolge eignet sich das quantitative Methodenarsenal am besten, um empirische Evidenzen für Zusammenhangshypothesen zu liefern und um erklärungsbedürftige Tatbestände auf den Bildschirm der Soziologie zu bringen. Qualitative Instrumente sind hingegen dazu in der Lage, mikrofundierte Tiefenerklärungen für schwer interpretierbare Zusammenhänge auf der Aggregatebene anzubieten, durch die Entdeckung neuer Variablen zur Aufklärung von Varianz beizutragen oder durch die Aufdeckung von Drittvariablen zur Vermeidung von Fehlinterpretationen zu sorgen (Kelle 2008: 282-284). 3.2 Mixed-Methods-Designs Der Mixed-Methods-Ansatz hat sich seit den 1980er-Jahren im angelsächsischen Raum entwickelt. Neben der im Kontext der Triangulation bereits erwähnten Studie von Denzin (1978) haben die britische Studie »Quantity and Quality in Social Research« (1988), in der Alan Bryman das Spannungsverhältnis zwischen dem Wissenschaftsparadigma der qualitativen und quantitativen Sozialforschung exploriert, und die US-amerikanische Studie »Research Design: Qualitative and Quantitative Approaches« (1994), in der John W. Creswell erste idealtypische Verfahren skizziert, die Entwicklung des Mixed-Methods-Research als eigenes Forschungsfeld maßgeblich beeinflusst. Diese Entwicklung wurde wesentlich dadurch begünstigt, dass die qualitative Methodik neben der bereits etablierten quantitativen Methodik ein eigenes Profil entwickelt hatte (Denzin/ Lincoln 2005). 2 Weil divergierende erkenntnistheoretische und methodologische Prämissen in das Design qualitativer und quantitativer Forschung einfließen, wurde besonders in den Anfangsjahren der Mixed-Methods-Bewegung debattiert, ob die Kombination der Methoden durch ein dialektisches Verhältnis, die Dominanz eines Paradigmas oder den gleichberechtigten Einfluss beider Paradigmen in Abhängigkeit von der jeweiligen Forschungsfrage geprägt sein sollte (einen Überblick geben z. B. Creswell/ Plano Clark 2011). Auf einer eher forschungspragmatischen Ebene haben in den Folgejahren zahlreiche Studien versucht, Mixed-Methods-Designs als eigenständige methodische Perspektive zu etablieren. Dabei lassen sich Fälle, in denen quantitative und qualitative Methoden systematisch kombiniert werden (z. B. Greene 2007; Tashakkori/ Teddlie 2009), von solchen Ansätzen unterscheiden, die eine von Fragestellung und Forschungsprozess abhängige dynamische Kombination beider Methoden vorsehen (z. B. Maxwell/ Loomis 2003; Hall/ Howard 2008). Im Zuge dessen wurden Kriterien formuliert, die einen Methodenmix begründen können, wie die Bereitstellung komplementärer Erklärungsmodelle, die Steigerung der Glaubwürdigkeit und die Vergrößerung der empirischen Reichweite (vgl. Bryman 2006; Greene et al. 1998). Creswell und Plano Clark (2011) formulieren folgende Leitfragen für die Entwicklung eines konkreten Mixed-Methods-Designs: 1.) Sind die qualitativen und quantitativen Teilschritte unabhängig voneinander, so dass die Befunde erst bei der Interpretation integriert werden, oder interdependent, so dass sie sich im Zuge des Forschungsprozesses direkt aufeinander beziehen? 2.) Hat eine der beiden Methoden Priorität vor der anderen, oder sind beide Methoden gleichberechtigt? 3.) In welchem zeitlichen Verhältnis stehen die qualitativen und quantitativen Teilschritte des Forschungsprozesses zueinander? 4.) In welchem Forschungsschritt werden beide 2 Einen guten Überblick über die Entwicklungsphasen des Mixed-Methods-Research findet sich z. B. in Tashakkori/ Teddlie 1998 und Creswell/ Plano Clark 2011. <?page no="75"?> 76 Alexandra Krause / Henning Laux Methoden kombiniert, d. h. während der Interpretation, der Datenanalyse oder bereits während der Datenerhebung? (Creswell/ Plano Clark 2011: 64 ff.) Auf dieser Grundlage unterscheiden die Autoren sechs unterschiedliche Typen eines Mixed- Methods-Forschungsdesigns, und zwar ein convergent parallel design, in dem die Datenerhebung und -analyse der quantitativen und qualitativen Daten unabhängig voneinander erfolgt und beide Methoden im systematischen Vergleich der Befunde zusammengeführt werden; ein explanatory sequential design, das eine quantitative Datenerhebung und -analyse durch eine qualitative Datenerhebung und -analyse vertieft, während ein exploratory sequential design eine qualitative Studie durch eine quantitative Studie ergänzt, um die Reichweite ihrer Gültigkeit zu steigern; embedded designs sind demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass eine quantitative oder qualitative Studie bereits bei der Datenerhebung und -analyse durch ein Element der jeweils anderen Methodik ergänzt wird. Demgegenüber zielen sowohl das transformative design als auch das multiphase design auf einen Methodenmix ab, der sich im ersten Fall im Zuge des Forschungsprozesses ergibt und im zweiten Fall bereits als ergänzende Durchführung quantitativer und qualitativer Teilstudien, insbesondere im Rahmen von Evaluationsstudien, als Methodenmix angelegt ist, in dem sich beide Methoden mehrfach abwechseln können (ebd.: 69 ff.). Für jedes der Designs können eigene methodische Stärken, methodologische Grundlagen und methodische Herausforderungen unterschieden werden. 3 4. Aktuelle Herausforderungen empirischer Sozialforschung Zum Abschluss wollen wir auf die wichtigsten Herausforderungen hinweisen, mit denen sich die Methoden der empirischen Sozialforschung gegenwärtig konfrontiert sehen. a) In den letzten Jahren hat die Diskussion um Forschungsstandards und Gütekriterien in den qualitativen Methoden an Bedeutung gewonnen. Derzeit ist nicht absehbar, ob die Auseinandersetzung zu einer stärkeren Integration der verschiedenen Ansätze oder zur internen Fragmentierung und Spaltung des Feldes führen wird. Im Zuge der zu erwartenden Konflikte sollte man nicht übersehen, dass sich im Rahmen methodischer Reflexionen und praktischer Studien bereits ein weithin geteiltes Sortiment an impliziten Regeln und expliziten Qualitätskriterien herausgebildet und etabliert hat (vgl. Abschnitt 2.2 und 2.3). b) Die zunehmende Technisierung des Alltags macht auch vor sozialwissenschaftlichen Verfahren nicht halt. Man darf gespannt darauf sein, wie der vermehrte Einsatz computerbzw. internetgestützter Verfahren die Erhebung, Analyse, Auswertung und Dokumentation gerade im Bereich der qualitativen Sozialforschung verändern wird. Durch die Etablierung öffentlich zugänglicher Datenarchive-- wie »Qualiservice« (Universität Bremen)-- dürfte außerdem das bislang kaum bestellte Feld der qualitativen Sekundäranalyse enormen Auftrieb bekommen. c) Die quantitative Forschung hat mittlerweile einen erfreulich hohen Grad der Spezialisierung erreicht. Allerdings kann sie von hier aus ihren eigenen Anspruch auf Objektivität und Überprüfbarkeit durch andere Forscher nur noch schwerlich einlösen. Lediglich absolute Spezialisten für die betreffende Methode können die Befunde anderer Forscher beurteilen. Es müssen daher Vorkehrungen getroffen werden, um die Qualität quantitativer Studien auch in Zukunft zu gewährleisten. 3 Im vierten Kapitel ihres Lehrbuchs stellen Creswell und Clark Studien vor, die sich aufgrund ihres Vorgehens den hier aufgeführten Designvarianten zuordnen lassen (Creswell/ Plano Clark 2011: 116 ff.). <?page no="76"?> Die Gabelung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 77 d) Durch die Zunahme sekundäranalytischer Zugriffe auf nationale Längsschnittuntersuchungen erfolgt eine Zuspitzung quantifizierender Studien auf eine feststehende Auswahl an Forschungsthemen. Daraus ergibt sich eine beträchtliche Hürde für die Exploration neuer Fragestellungen und die Bearbeitung aktueller Themen auf dem Stand der methodischen Entwicklung. Dieser Tendenz gilt es entgegenzuwirken. e) Mit der zunehmenden Abhängigkeit universitärer Forschung von der erfolgreichen Drittmitteleinwerbung steigt das Risiko, dass methodische Interpretationsspielräume ausgenutzt werden, um gesellschaftlich erwünschte oder massenmedial anschlussfähige Schlussfolgerungen zu ziehen. Forscher/ innen sehen sich unter den gegenwärtigen Bedingungen immer häufiger dazu animiert, ihre Befunde zu stilisieren, um den öffentlichen Erfolg ihrer Studie zu steigern. Dadurch wird ein ergebnisoffener Austausch über theoretische Modelle, empirische Forschungsdesigns und die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit blockiert (Neuman 1997: 157). f ) In jüngster Zeit haben institutionelle Vorkehrungen und diskursive Verschiebungen eine Annäherung der beiden Methodenstränge befördert. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) seit dem Jahr 2002 eine universitäre Ausbildung, in der quantitative und qualitative Methoden in gleichberechtigter Weise gelehrt werden. Darüber hinaus sorgt das kulturelle Leitmotiv der Interdisziplinarität für Berufungs- und Begutachtungsverfahren, in denen immer häufiger Kompetenzen in beiden Feldern vorausgesetzt werden. Wie wir in unserem Beitrag gezeigt haben, sind die methodischen Anforderungen an integrative Forschung und Lehre jedoch immens. Ohne eine intensivierte Kooperation von quantitativen und qualitativ ausgerichteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Rahmen gegenstandsnaher Forschungsverbünde ist eine Überwindung der historisch gewachsenen Spaltung auch in Zukunft kaum vorstellbar. Wir sind der Auffassung, dass eine transmethodische Zusammenarbeit nicht nur möglich, sondern auch erforderlich ist, um die soziologische Durchdringung hereinbrechender Sozialwelten zu verbessern. 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Ad-1: -Die normative Position begreift Natur und Kultur als zwei voneinander getrennte Bereiche, die sich folgendermaßen voneinander unterscheiden: »Natur« sei rein deskriptiv bzw. kognitiv zu erfassen, und sie folgt einheitlichen Gesetzmäßigkeiten. Im Unterschied dazu ist »Kultur« als der Bereich der Werte bzw. der von Menschen frei gesetzten Zwecke zu begreifen. Kulturelle Ordnungen einschließlich ihrer Werte gelten als die Produkte menschlichen Handelns, die deshalb auch von Menschen verändert werden können. Wenn man die Bereiche derart strikt gegeneinander absetzt, folgt daraus, dass aus dem natürlichen Sein nicht abgeleitet werden kann, an welchen kulturell erzeugten Werten bzw. Normen sich das Handeln von Menschen orientieren sollte. Ad 2: Dem zivilisatorischen Verständnis zufolge stehen Natur und Kultur in einem zeitlichen Verhältnis zueinander und sind zunehmend ineinander verflochten. Natur bezeichnet den Ausgangszustand menschlicher Entwicklung, welcher durch zivilisatorische Anstrengungen überwinden wird bzw. überwunden werden soll. Die Zivilisierung bezieht sich sowohl auf die Kultivierung der äußeren Natur (Ackerbau, Werkzeuge, Industrie) als auch auf die Kultivierung der Natur des Menschen durch gesellschaftliche Institutionen. Die Kultivierung der Natur kann dabei positiv im Sinne eines kontinuierlichen Fortschritts oder negativ im Sinne einer zerstörenden Verfügbarmachung begriffen werden. Ad 3: Im Rahmen des methodischen Verständnisses werden Natur und Kultur nicht als zwei fest voneinander getrennte Bereiche aufgefasst, sondern als das Ergebnis unterschiedlicher methodischer Zugänge zur Welt. Wenn man die Welt als einen Zusammenhang begreift, der durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten erklärt werden kann, erscheint sie als einheitliche Natur. Wenn man sich der Welt dagegen vermittels der Methode des Verstehens zuwendet, erscheint diese als Kultur, bzw. als differenziert in eine Vielzahl von Kulturen. Das Verstehen richtet sich auf die innere Struktur einzelner Kulturen bzw. auf die Unterschiede zwischen einzelnen Kulturen. Die drei Verständnisse der Natur-Kultur-Unterscheidung lassen sich nicht exakt einzelnen Autoren zuordnen, denn die Differenz zwischen Natur und Kultur wird oft mehrdeutig verwendet. Umso wichtiger ist es, nachvollziehen zu können, in welchem Sinn ein Autor die Natur- Kultur-Unterscheidung jeweils versteht. Um dies genau herauszuarbeiten, ist es sinnvoll, sich zunächst der Philosophie Immanuel Kants zuzuwenden. Kant selbst hatte nicht zwischen Natur und Kultur unterschieden, er stellte vielmehr die Differenz zwischen Naturerkenntnis und Moralbegründung in den Mittelpunkt. Aber die Natur-Kultur-Unterscheidung, wie sie in den <?page no="83"?> 84 Gesa Lindemann Geistes- und Sozialwissenschaften (G-SW) bestimmend geworden ist, schließt an die kantische Unterscheidung zumindest implizit und oft auch explizit an. Aus diesem Grund soll zunächst Kants Unterscheidung zwischen Naturerkenntnis und Moralbegründung dargestellt werden; sodann werde ich herausarbeiten, wie sich die einzelnen Positionen der Natur-Kultur-Unterscheidung darauf beziehen. 1. Kant: Naturerkenntnis und Moralbegründung Kant verfolgte ein doppeltes Problem. Zum einen ging es ihm darum, wie es möglich ist, dass Menschen eine geordnete Welt wahrnehmen, die rational, d. h. wissenschaftlich, erforscht werden kann. Zum anderen versuchte er nachzuweisen, dass es möglich ist, rational zu begründen, an welchen Werten wir uns als Vernunftwesen moralisch orientieren sollten. Die daraus resultierende Begründung von Moral erhebt den Anspruch für alle Menschen, d. h. universell, gültig zu sein. Kants Analyse zufolge ist eine rationale Begründung wissenschaftlicher Naturerkenntnis nur dann möglich, wenn die subjektiven Bedingungen der Wahrnehmung der Natur in den Blick genommen werden. Dass Menschen eine geordnete Welt wahrnehmen, sei darauf zurückzuführen, dass das wahrnehmende Subjekt seine Sinneseindrücke anhand von Formen ordnet. Die Formen der Anschauung könnten nicht aus der sinnlichen Erfahrung gewonnen werden, sondern seien der Wahrnehmung vorgeordnet; sie sind apriorisch, wie Kant sagt. Wenn Menschen äußere Gegenstände als räumlich ausgedehnt wahrnehmen, wird eine Vielzahl sinnlicher Eindrücke in eine Form gebracht. Die sinnlichen Eindrücke werden dreidimensional als »Raum« geordnet. Gleiches gilt für die Zeit, durch diese werden die Sinneseindrücke in die Ordnung eines Nacheinander von Zeitpunkten gebracht (vgl. Kant 1787/ 1956: 66-83). Erst die Anwendung der Anschauungsformen von Raum und Zeit ermöglicht es, die eintreffenden Sinneseindrücke so zu strukturieren, dass man z. B. sagen kann, jetzt steht der Tisch neben der Wand. Wie das Verhältnis einzelner Gegenstände zueinander wahrgenommen wird bzw. wie wahrgenommen wird, dass Gegenstände aufeinander wirken, sei durch die Kategorien des wahrnehmenden Verstandes bestimmt. Zu diesen gehören etwa Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung). Insgesamt sei Wahrnehmung als Formung von Sinneseindrücken durch Anschauungsformen und Kategorien zu begreifen. Die Sinne (z. B. Augen und Ohren) werden durch äußere Reize erregt und die so empfangenden Sinneseindrücke werden gemäß den vorgeordneten Formen wie etwa Raum, Zeit und Kausalität in eine Ordnung gebracht. Die so geordnete Wahrnehmung erscheint als die äußere Natur. Am Beispiel einer rollenden Kugel lässt sich dies verdeutlichen: Eine Kugel rollt eine schräge Ebene hinunter, stößt an eine andere Kugel, bleibt liegen und die andere Kugel rollt in eine bestimmte Richtung. Dies ist zunächst nur eine Abfolge von Sinneseindrücken. Diese Sinneseindrücke werden räumlich und zeitlich geordnet: Die Kugel ist zum Zeitpunkt t-1 am Ort O-1 und an t-2 an O-2 usw., sie rollt bis zum Zeitpunkt t-9 und befindet sich an O-9. Die Ausdehnung von O-9 berührt die Ausdehnung von O-10; O-10 wird von einer zweiten Kugel ausgefüllt, diese rollt an einen anderen Ort. Wenn man das Kausalschema auf diese Abfolge anwendet, wird daraus die Aussage, dass die rollende Kugel die ruhende Kugel angestoßen und damit die Bewegung der zweiten Kugel bewirkt hat. Die Kategorien des Verstandes ermöglichen es, die Abfolge von sinnlichen Eindrücken, die von Zeitpunkt zu Zeitpunkt variieren, in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. An dem Beispiel wird zugleich deutlich, dass die Anwendung des Kausalschemas eine zeitliche Ordnung beinhaltet: Die Ursache geht der Wirkung voraus. Kants Argument hat eine wichtige Implikation. Die äußere Welt wird nicht so erkannt, wie sie selbst ist, sondern so, wie sie gemäß den subjektiven Erkenntnisbedingungen erkannt werden <?page no="84"?> Natur versus Kultur 85 kann. Eine andere als die menschliche Wahrnehmung, die z. B. nicht durch die Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität bestimmt wäre, würde die Sinneseindrücke in anderer Weise ordnen. Hieraus resultiert eine Differenz, die Kant mit der Unterscheidung zwischen Erscheinung für das Subjekt und »Ding an sich« zu fassen versucht. Das Ding an sich bleibt unerkennbar (vgl. Kant 1787/ 1956: 84-92). Die menschliche Wahrnehmung erfasst die Ordnung der sinnlichen Erscheinungen, sie erkennt aber nicht die Dinge, wie sie an sich sind. Aufgrund dieser Differenz ist jede Erkenntnis der Natur vorläufig. Denn was die Gegenstände der Natur selbst sind, bleibt offen. Davon zu unterscheiden ist das Reich der Zwecksetzung aus Freiheit. Hier geht es Kant um die Analyse des Sollens: Ist es möglich, rational auszuweisen, dass Menschen unbedingt einer moralischen Forderung folgen sollen (für das folgende vgl. Kant 1785/ 1974: 35-41)? Kants Argument lautet, dass es nicht möglich, auf der Grundlage empirischer Forschung zu begründen, warum Menschen in einer bestimmten Weise handeln sollen. Eine empirische Forschung könne zeigen, wie ein Mensch gegenwärtig erscheint. Sie könne zeigen, dass aus dem Zustand X (=-bestimmte Zusammensetzung der Magensäfte, die von einem Hungergefühl begleitet werden), die Handlung Y (ein Stück Fleisch braten und essen) folgt. Aus der beobachtbaren Abfolge von Zustand X und Handlung Y folgt aber nicht, dass ein Mensch in dieser Weise handeln soll. Wenn ein Mensch sich fragt, ob er dieses oder jenes tun soll, beinhaltet dies, dass er nicht vollständig durch seine empirischen Antriebe beherrscht wird. Wenn er sich fragt, ob er weiter Fleisch essen oder sich nur noch von Pflanzen ernähren soll, muss er sich die Freiheit zugestehen, selbst entscheiden zu können, wie er handelt. Er muss für sich in Anspruch nehmen, dass er die Freiheit hat, seine Handlung selbst zu bestimmen. Nur wenn es diese Freiheit gibt, ist es sinnvoll, davon zu sprechen, dass ein Mensch etwas tun soll. Nur wenn der Mensch frei ist, kann er sich also dazu entscheiden, der Verpflichtung zu folgen, die das Sollen ausdrückt. Die inhaltliche Bestimmung des moralischen Sollens erfolgt bei Kant rein formal. Um herauszufinden, ob das Handeln an einem Wert orientiert sein soll, muss diese Wertorientierung so begründet werden, dass es alle einsehen können. Die Garantie dieser Einsicht ergibt sich, wenn die Orientierung an diesem Wert rational begründet werden kann. Um dies zu gewährleisten, schlägt Kant ein Reflexionsverfahren vor, das er als »kategorischen Imperativ« bezeichnet: Ein Mensch sei dann unbedingt genötigt, einem Wert zu folgen, wenn sich begründen lässt, dass alle Menschen dieser moralischen Forderung folgen sollten (Kant 1785/ 1974: 51f ). Menschen sind nicht rein vernunftgesteuert, sondern zugleich sinnliche Wesen, welche von ihren Bedürfnissen angetrieben werden. Aus diesem Grund folgen Menschen einer rational gewonnenen Einsicht nicht automatisch, vielmehr stellt das Sollen für Menschen eine Nötigung dar (Kant 1785/ 1974: 41f ), der sie folgen können, aber nicht alternativlos folgen müssen. Der Mensch kann auch zulassen, dass ihn seine empirischen Antriebe oder seine Gewohnheiten bestimmen. Aber die Einsicht in das Ergebnis seines Reflexionsverfahrens nötigt ihn, anders zu handeln. Ob ein Mensch dieser Nötigung folgt, ist seine Entscheidung. 2. Das normative Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung Kant führt die Reflexion auf die subjektiven Bedingungen von Naturerkenntnis und Moralbegründung so durch, als handele es sich um eine individuelle Reflexion. Im Rahmen der Diskussion um das Verhältnis von Natur und Kultur wird die subjektive Reflexion als ein kommunikativer Prozess gedeutet. Karl-Otto Apel (1973) und Jürgen Habermas (1981/ 1995) schließen in diesem Sinn direkt an Kant an. Sie stellen die Einsicht in den Mittelpunkt, dass es unterschiedliche Subjekte gibt, die sich kommunikativ darüber verständigen müssen, wie die Welt wahrgenommen und <?page no="85"?> 86 Gesa Lindemann wie moralisch richtiges Handeln begründet werden kann. Das wesentliche Kennzeichen der Kommunikation besteht darin, dass sich die beteiligten Subjekte gegenseitig der Nötigung aussetzen, ihr Handeln rational zu begründen. Die Rationalität besteht darin, dass jeder der an Kommunikation Beteiligten akzeptiert, dass sein Handeln kritisiert werden kann und dass er sich gegenüber der Kritik zu rechtfertigen hat. Apel (1979) hebt hervor, dass in solchen kommunikativen Prozessen auch die Grundsätze bzw. die Verfahren der Naturerkenntnis entwickelt und begründet werden. In der durch wechselseitige Kritik gekennzeichneten Kommunikation werden auch die Normen formuliert, an denen sich Menschen orientieren sollten. Dass Apel und Habermas die Differenz der Subjekte einführen, hat eine wichtige Konsequenz. Kant konnte davon ausgehen, dass die Einsicht in die Bedingung von Naturerkenntnis und Moralbegründung unmittelbar für alle vernünftigen Wesen, d. h. für alle Menschen gilt. Wenn man die Differenz der Subjekte anerkennt, ist das nicht der Fall. Wenn es unterschiedliche Subjekte gibt, die in unterschiedlichen kommunikativen Kulturen leben, bedarf es eines historischen Lernprozesses, damit immer mehr Menschen rational einsehen können, wie Naturerkenntnis erfolgen und welche moralischen Orientierungen gelten sollten. Habermas legt dabei besonderen Wert darauf, dass eine dauerhafte Spannung zwischen dem Menschen als Naturwesen, das seinen eigenen Nutzen verfolgt, und der rationalen Aushandlung von Normen vorliegt. In seiner kommunikationstheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaften versucht er den Punkt zu bestimmen, an dem es für Individuen möglich wird, Normen rational einzusehen (Habermas 1981/ 1995, Bd. 2: Kap. 59ff ). Neben diesem direkten Anschluss an die kantische Theoriearchitektur ist das normative Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung aber noch in einer indirekten Weise relevant geworden. Es gehört zu den zentralen impliziten theoretischen Annahmen soziologischer bzw. kulturwissenschaftlicher Forschung, dass aus der Natur bzw. natürlichen Vorgaben und Annahmen keine Konsequenzen für die normative Bewertung von Menschen bzw. für normative Ansprüche, die an Menschen gestellt werden, folgen sollen. Weil Menschen »so« sind, folge daraus nicht, dass sie moralisch minderwertig sind bzw. dass ein bestimmtes Verhalten normativ von ihnen zu fordern ist. Die paradigmatischen Fälle für die moralische Bewertung von Menschen aufgrund ihrer empirisch beobachtbaren Natur sind »Rassismus« und »Sexismus«. Hier werden Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer »Rasse« oder zu einem »Geschlecht« normativ bewertet und es werden normative Handlungsanforderungen an sie gestellt, die sich aus ihrer Natur ergeben sollen. Die Kritik etwa am Sexismus lautet: Aus der Tatsache, dass Frauen Kinder gebären und deren Erziehung hauptsächlich tragen, folgt nicht, dass dies die natürliche Aufgabe von Frauen ist. Aus der »Natur der Frau« lässt sich nicht das Gebot ableiten, dass sie im Haus zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern habe- - denn eine solche Natur gibt es nicht (vgl. Beauvoir 1949/ 1968). Wenn eine derartige Festlegung in Form von normativ vorgegebenen Geschlechterrollen erfolge, handele es sich nicht um Natur, sondern um eine unzulässige Naturalisierung. 1 1 Direkt im Anschluss an Beauvoir vgl. etwa die Studie von Scheu (1977), die zeigt, wie Mädchen und Jungen in der frühkindlichen Sozialisation dazu gebracht werden, sich entsprechend den vorherrschenden Geschlechterklischees zu verhalten. Bereits im Vorschulalter würden auf diese Weise geschlechtsspezifische Verhaltensschemata entwickelt. Eine gute historische Darstellung der moralischen Aufladung des »natürlichen Körpers« sowie der Kritik daran findet sich bei Honegger (1991). Stilbildend für viele aktuelle Forschungen zur Naturalisierung von Geschlecht war Garfinkels Konzept der »kulturellen Genitalien« (Garfinkel 1967). Auf Garfinkels Studie geht der Ansatz des »doing gender« (West/ Zimmerman 1987) zurück, der im Weiteren eine ganze Reihe von Studien zu »doing X« angestoßen hat, etwa Behinderung, Rasse, Alter usw. In allen diesen Studien werden unzulässige Naturalisierungen aufgedeckt. <?page no="86"?> Natur versus Kultur 87 Gemäß dieser Denkfigur ist Natur in einem doppelten Sinn zu verstehen, einerseits als diejenige Natur, die in angemessener Weise erforscht wird und andererseits als diejenige Natur, die das Ergebnis von Naturalisierung darstellt. Letzteres bezeichnet eine moralisch aufgeladene Natur, die den Individuen vorschreibt, wie sie sich selbst moralisch zu verstehen haben und handeln sollen. Die moralisch aufgeladene naturalisierte Natur ist das Ergebnis von Kultur und sichert eine bestehende gesellschaftliche Ordnung. In dieser Weise sind weitgehend alle Aussagen über die Natur »der Frau« bzw. »des Mannes« durch Kritik aufgelöst worden. In der Perspektive der Naturalisierungskritik kann es fraglich werden, ob es überhaupt noch möglich ist, zwischen deskriptiv zu erfassender Natur und naturalisierter Natur zu unterscheiden. Damit wird die Unterscheidung zu einer solchen, die im Verschwinden begriffen ist, ohne verschwinden zu können. Vor allem in der Geschlechterforschung gibt es Autorinnen, die entsprechend argumentieren. Danach sei es sinnlos, zwischen biologischer Natur und kulturellen Handlungsanforderungen (Rollen) zu trennen. Denn bereits die Tatsache, dass zwischen den Geschlechtern unterschieden wird, würde diese in ein asymmetrisches Machtverhältnis bringen. Entsprechend wird »Natur« als ein Effekt von Herrschaftssicherung begriffen. Damit wird Natur als ein eigenständiger und unabhängig von Normen gemäß dem Kausalprinzip zu untersuchender Bereich tendenziell in die Analyse von Normbildung aufgelöst. Trotzdem hält man auch in dieser Diskussion an der Natur-Kultur-Unterscheidung fest. Wenn eine kulturelle Ordnung dadurch gestützt wird, dass sie als natürliche Ordnung »getarnt« ist, handelt es sich um einen Vorgang, den es kritisch aufzuklären gilt. Die Enttarnung der Natur als naturalisierte Natur ist nur dann ein sinnvolles Vorgehen, wenn die normative Natur-Kultur-Unterscheidung als Hintergrundannahme aufrechterhalten wird, die festlegt, dass es falsch ist, Kultur als Natur auszugegeben. Die Theorie reflexiver Modernisierung situiert diese besondere Variante der normativen Natur-Kultur-Unterscheidung in der zweiten Hälfte des 20.- Jahrhunderts. Seit dieser Zeit würden gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten, die zuvor als durch Natur vorgegeben galten, zunehmend in die Kritik geraten. »Natur« wird nun als Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse begriffen, es würde also offensichtlich, dass es sich um naturalisierte Natur handelt (Lau/ Keller 2001). Die sich daraus ergebenden Probleme sind vor allem in der feministischen Diskussion auf sehr hohem Niveau verhandelt worden. Die Spannung zwischen Natur und naturalisierter Natur ist im Fall des Rassismus nahezu vollständig zugunsten der naturalisierten Natur aufgelöst worden. Niemand behauptet ernsthaft, dass es sinnvoll sei, rassenbezogene Unterschiede zwischen Menschen zu machen. Im Fall der Geschlechterunterscheidung liegt der Fall anders. Hier bleibt es eine offene Frage, ob Natur vollständig in naturalisierte Natur aufgelöst werden kann. 2 3. Die zivilisatorische Bedeutung der Natur-Kultur-Unterscheidung Das zivilisatorische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung geht zurück auf Gustav Klemm 3 und wird zunächst in der Anthropologie über Edward B. Tylor vermittelt (Kroeber/ Kluckholm 1952: 19) und später auch in der Soziologie prominent. Kultur wird hier als etwas Universelles zum Menschsein Gehöriges verstanden und bezeichnet den Grad der Kultivierung, den Menschen bzw. eine Gruppe von Menschen erreicht haben (Kroeber/ Kluckholm 1952: 19). In diesem Ver- 2 Einen guten Überblick über die Debatte findet sich in zwei Sammelbänden (vgl. Institut für Sozialforschung 1994, Wobbe/ Lindemann 1994) sowie in der Überblicksarbeit von Villa 2011. 3 Gustav Friedrich Klemm (1802-1867), deutscher Anthropologe. Sein Hauptwerk war die »Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit« 10 Bände 1843-1852. <?page no="87"?> 88 Gesa Lindemann ständnis wird Kultur synonym mit Zivilisation verwandt und bezeichnet ein komplexes Ganzes. »Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense is that complex whole which includes knowledge, belief, art, law, morals, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.« (Tylor 1871: 1) Kultur in diesem Verständnis sei eine kollektive Schöpfung des Menschen, »die einer fortschreitenden Bewegung zur Vervollkommnung unterliegt« (Descola 2011: 121). In dieser Perspektive werden Gesellschaften daraufhin untersucht, wie sie sich vom Naturzustand entfernen und inwiefern ihre jeweiligen kulturellen Institutionen eine zunehmende Vervollkommnung zeigen. Der Mensch und die natürliche Umwelt des Menschen werden nicht nur als gestaltbar verstanden, sondern sie entwickeln sich zu immer höheren und anspruchsvolleren Gestaltungen. Diese Konzeption prägt das Gesellschaftsverständnis der Anthropologie und der Soziologie im 19. und bis weit in das 20.-Jahrhundert hinein. Bereits Klemm hatte Kultur auch in einem materiellen Sinn verstanden, sie schließt nämlich die Kultivierung des Bodens, den Ackerbau und damit insgesamt dasjenige ein, was später als »materielle Kultur« (Braudel 1979/ 1990: 16) bezeichnet wird. Dieser Ansatz bestimmt im Grundsatz auch das Gesellschaftsverständnis von Marx und später von Durkheim. Beide beziehen explizit die materielle Infrastruktur der Vergesellschaftung ein (Durkheim 1895/ 1991: 113f, Marx 1890/ 1977: Kap. 13). Insofern unterlaufen sie die kantische Unterscheidung, denn Natur ist als zu kultivierende Natur bzw. als für Kultivierung offene Natur eng mit Kultur verbunden. Kulturelle Ordnungen werden getragen durch einen Prozess, den Marx als »Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur« bezeichnet (Marx 1890/ 1977: 57). Wie eng Natur und Kultur als miteinander verbunden gedacht werden, zeigt sich auch daran, wie Durkheim Moral begreift. In seinen Schriften zur Moral schließt er direkt an die kantische Differenzierung zwischen dem Menschen als Naturwesen und als sittliches normorientiertes Wesen an. Die Existenz verbindlicher moralischer Regeln definiert Durkheim über zwei Momente, nämlich »das Gute und die Pflicht« (1924/ 1976: 85). Bezogen auf den Pflichtcharakter der moralischen Regel bezieht sich Durkheim explizit auf Kant, ergänzt dessen Auffassung aber dahingehend, dass eine moralische Regel auch dasjenige bestimme, was erstrebenswert ist. Dass moralische Regeln einen verpflichtenden Charakter hätten, führt Durkheim darauf zurück, dass sie Elemente des gesellschaftlichen Kollektivbewusstseins seien, das Letztere sei dem individuellen Bewusstsein äußerlich und wirke auf es wie eine externe nötigende Kraft. Das individuelle Bewusstsein sei dadurch gekennzeichnet, dass es seine individuellen egoistischen Interessen verfolge. Damit eine Gesellschaft Bestand habe, müsse auf das Individuum Zwang ausgeübt werden. Die Legitimität dieses Zwanges ergibt sich für Durkheim daraus, dass lediglich der Sachverhalt der Vergesellschaftung den Menschen zu einem denkenden (Durkheim 1912/ 1984: 586) und moralischen (Durkheim 1924/ 1976: 105) Wesen mache. Durch Vergesellschaftung erhebt sich der Mensch über den Naturzustand, er kultiviert sich selbst als gesellschaftliches Wesen. Die Evolution der gesellschaftlichen Arbeitsteilung führe, so Durkheim, zu einer immer weitgehenderen Differenzierung der Gesellschaft. Es entstünden unterschiedliche Professionen, ausdifferenzierte gesellschaftliche Untergruppen, die auf je unterschiedliche Weise zur gesellschaftlichen Arbeit beitragen und damit voneinander abhängig werden (Durkheim 1930/ 1992: 238). Die Individuen gehörten in einer solchen Gesellschaft mehreren Untergruppen an. Er ist Vater, Arzt und gehört einer politischen Gruppierung an usw. In allen Handlungsfeldern muss er unterschiedlichen Handlungsanforderungen gerecht werden und sich an den jeweiligen bereichsspezifischen moralischen Normen orientieren. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen komme dem Individuum die Aufgabe zu, selbstständig die verschiedenen moralischen Handlungsorientierungen zu vermitteln. Das Individuum <?page no="88"?> Natur versus Kultur 89 werde so zu einem strukturellen Knotenpunkt der Vermittlung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Deshalb würde das Individuum selbst zum Gegenstand eines Kults (Durkheim 1930/ 1992: 227). Je weiter die Arbeitsteilung sich entwickele, »desto größeres Gewicht erlangt die Würde der Person« (Durkheim 1950/ 1999: 84). Damit tritt der bei Durkheim angelegte Fortschrittsgedanke deutlich hervor. Die geschichtliche Entwicklung geht dahin, durch Kultivierung der Natur zunehmend die Würde der individuellen Person durchzusetzen. 4 Diese optimistische Sichtweise, die auch Durkheims Vorgänger Auguste Comte teilte, war bereits von Marx, wenn auch zurückhaltend, in Zweifel gezogen worden. Seine Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses unter Einbeziehung der Landwirtschaft führte ihn zu dem Ergebnis: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (Marx 1890/ 1977: 529f ) Die sich darin andeutende Relativierung des Fortschrittsoptimismus gewinnt in der marxistisch inspirierten Kritischen Theorie erheblich an Bedeutung. Die Beziehung des Menschen zur Natur wird im Sinne einer »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/ Adorno 1947/ 1971) gedeutet, wobei die problematische Kehrseite der Aufklärung in den Vordergrund gerückt wird: die Notwendigkeit der Beherrschung der äußeren Natur und vor allem auch der inneren Triebnatur des Menschen. Die zerstörerischen Tendenzen der Naturbeherrschung kommen für Horkheimer und Adorno nicht zuletzt in der von den deutschen Nationalsozialisten ins Werk gesetzten Vernichtung all derjenigen zum Ausdruck, die sie als rassisch minderwertig deklarierten: Juden, Sinti und Roma sowie Menschen mit Behinderung. Dass die Kultivierung der Natur eine Fortschrittsgeschichte ist, die zu einer immer höheren Achtung vor dem menschlichen Individuum führt, sei seit dem Nationalsozialismus nicht mehr haltbar. Wenn man den Faschismus als eine deutsche Angelegenheit begreift, wird es fraglich, ob die Lehren Adornos und Horkheimers notwendigerweise auf das westliche von den USA, England und Frankreich repräsentierte Fortschrittsmodell zu übertragen sind. Dieses wurde erst seit den 1970er-Jahren einer breiteren Kritik unterworfen. Sie bezieht sich auf die Zerstörung der Natur durch den erhöhten und sich exponentiell steigernden Ressourcenverbrauch bedingt durch die wirtschaftliche Entwicklung und den steigenden Lebensstandard (Meadows 1972). Andererseits gerät das Fortschrittsmodell der Kultivierung auch deshalb in die Kritik, weil es dazu gedient habe und dienen würde, den Anspruch auf Überlegenheit und Führung von weißen Europäern und Amerikanern gegenüber den kolonisierten Ländern Afrikas und Asiens zu legitimieren und durchzusetzen (Said 1978/ 1981). Die Skepsis gegenüber der kultivierend-technischen Beherrschung der Natur prägt auch die bioethische Debatte um die Frage, ob es moralisch problematisch sei, Menschen biotechnisch zu optimieren (Habermas 2001). In dieser Diskussion spielt der Begriff der »Unverfügbarkeit« der Natur eine zentrale Rolle (Barkhaus/ Fleig 2002, Manzei 2003, 2005), der doppeldeutig zwischen einer deskriptiven und moralischen Bedeutung oszilliert. Denn einerseits wird die Unverfügbarkeit des Körpers als ein Faktum begriffen, in diesem Sinn kann der menschliche Körper gar nicht vollständig durch einen technisch-kultivierenden Eingriff verfügbar gemacht werden. Andererseits ist diese Aussage auch normativ zu verstehen. Der Körper sollte auch gar nicht vollständig 4 Auch Parsons Idee der Evolution von Gesellschaften hin zu funktionaler Differenzierung folgt noch diesem Fortschrittsoptimismus. <?page no="89"?> 90 Gesa Lindemann verfügbar gemacht werden (Joas 2004: Kap. 10). Damit gelangt die Debatte zu einem moralisch aufgeladenen natürlichen Körper als Begründung ihrer Kritik. Ein derart moralisch aufgeladener Körper widerspricht aber den Grundlagen der normativen Natur-Kultur-Unterscheidung. In dieser Perspektive wäre der moralisch aufgeladene Körper als naturalisierte Natur zu begreifen, die ihrerseits wiederum einer Kritik unterzogen werden müsste. An diesem Beispiel wird ein allgemeines Problem vor allem der linken Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen deutlich. Dem normativen Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung liegt eine rationale, erkenntniskritische Trennung der beiden Bereiche zugrunde. Sie begründet die Kritik an unzulässigen Naturalisierungen. Eine normative Aufladung des natürlichen Körpers ist damit ausgeschlossen. Diese bildet wiederum die Begründung der Kritik am kultivierend-technischen Zugriff auf die Natur. Wenn beide Denkfiguren gleichzeitig als Grundlage der Kritik gesellschaftlicher Prozesse verwendet werden, führt dies in ein Dilemma. Dies ist bislang kaum bemerkt, geschweige denn als Problem reflektiert worden. 4. Das methodische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung Das methodische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung entwickelte sich im Rahmen der Auseinandersetzung um die Wissenschaftlichkeit der G-SW bzw. der Kultur- und Sozialwissenschaften. Für diese Wissenschaftsgruppe stellte sich in der zweiten Hälfte des 19.- Jahrhunderts die Frage nach der Begründung ihres spezifischen Erkenntniszugangs zur Welt. Diese Diskussion ist als Erklären-Verstehen-Kontroverse bekannt geworden. Gemäß Apel (1979) lassen sich drei Phasen unterscheiden. Für die erste war die Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Kants prägend. 5 Das Problem war, ob und inwiefern die kritisch-erkenntnistheoretische Begründung der physikalisch-naturwissenschaftlichen Forschung, die Kant anerkanntermaßen mit der »Kritik der reinen Vernunft« (Kant 1787/ 1956) geleistet hatte (s. o.), für alle Wissenschaften gelten sollte oder nicht. Genauer: Sollte diese erkenntniskritische Begründung von Wissenschaft nicht nur für die Naturwissenschaften gelten, sondern auch für die im 19.-Jahrhundert entstehende historisch-geisteswissenschaftliche Forschung und damit im Weiteren auch für die Soziologie? Das Argument lautet: Die Gegenstände der (Sozialund) Geisteswissenschaften würden einen prinzipiell anderen methodischen Zugang erfordern, der sich durch »Verstehen« auszeichnet (vgl. Dilthey 1900/ 1924). Die Frage ist nun, inwiefern die Methode des »Verstehens« einen eigenständigen Erkenntniszugang zur Welt begründet, der einer grundlegend anderen Rationalität folgt, als das an allgemeinen Gesetzmäßigkeiten orientierte Erklären. Die Differenz dieser Zugänge lässt sich so zusammenfassen. Erklären heißt, dass der Beobachter einen sinnhaften Zusammenhang konstruiert, 5 Während der zweiten Phase stand die Diskussion um das deduktiv-nomologische Modell von Hempel und Oppenheim (1948; Hempel 1959) im Zentrum der Diskussion. Auch hier war wieder die Frage, ob dieses Modell allgemein oder für die sozialwissenschaftliche Forschung nicht oder nur in einem eng begrenzten Rahmen gelten soll. In der dritten Phase wird der Universalitätsanspruch des deduktivnomologischen Modells aus der Perspektive der analytischen Philosophie bestritten. Dabei werden Erklären und Verstehen-- im Anschluss an Wittgensteins (1977) Theorie der Sprachspiele-- als unterschiedliche Sprachspiele verstanden. Zu den wichtigen Autoren dieser Phase zählen Winch (1966) und Whright (1971/ 2008) sowie Apel (1979) selbst. <?page no="90"?> Natur versus Kultur 91 etwa im Sinne eines Kausalverhältnisses (s. o.). Er beobachtet äußere Phänomene und untersucht, ob die beobachteten Elemente sich gemäß der von ihm postulierten Annahme verhalten. Die Kontrolle über die Situation wird durch die Konstruktion von Experimenten gesteigert. In diesem Fall schafft man eine materielle Anordnung, in der ein Ereignis bzw. eine Abfolge von Ereignissen ausgelöst wird. Zu prüfen wäre dann, ob die ausgelösten Ereignisse gemäß der durch den Forscher postulierten Annahme stattfinden. Dies kann eine reflexive Wendung auf den Beobachter einschließen. Denn die Konstruktion des Experiments stellt einen praktischen Eingriff in das zu untersuchende Feld dar, welcher den weiteren Ablauf der zu beobachtenden Ereignisse bestimmt. Dies muss berücksichtigt werden, wenn es um die Begrenzung der Gültigkeit experimenteller Aussagen geht. 6 Für die Sozialwissenschaften gilt zudem, dass die Formulierung von Kausalaussagen aus methodischen Gründen anthropologische Minimalannahmen erfordert. Diese laufen in der Regel darauf hinaus, dass Akteure unter der Bedingung von Mangel versuchen, den eigenen Nutzen zu maximieren. Diese Annahme funktioniert forschungspraktisch wie eine an das Feld herangetragene gesetzesförmige Regel. 7 Ein verstehender Zugang zur Welt fordert andere forschungsleitende Annahmen. Danach gibt es Akteure, die für die Forscherin als ein anderes Ich erscheinen, welches seinem Inneren Ausdruck verleiht. Diese Individuen gilt es zu verstehen. Die Konzeption des Verstehens verschiebt sich, wenn die Forschung von einer Pluralität von Akteuren ausgeht, die einander als ein anderes Ich wahrnehmen und einander verstehen. Solche Akteure bilden einen geordneten Ausdruckszusammenhang, der als solcher zu verstehen ist. In den frühen Fassungen des Verstehens liegt der Schwerpunkt darauf, dass der Forscher/ Historiker andere Individuen versteht. Bereits bei Dilthey und Misch, sowie später in der verstehenden Soziologie und den Kulturwissenschaften wird der Schwerpunkt anders gesetzt. Es geht darum, dass die Akteure des Feldes einander verstehen und in ihren wechselseitigen Bezügen Regeln hervorbringen, die ihr wechselseitiges Verstehen regulieren. Der Schwerpunkt der Analyse liegt nicht darauf, einzelne Individuen in ihrer Individualität zu verstehen, sondern die Regelhaftigkeit des Handlungs-, Interaktions- oder Kommunikationszusammenhangs. Verstehen heißt, die Regeln des wechselseitigen Verstehens zwischen den Akteuren des Feldes sinnhaft zu rekonstruieren (Misch 1929-30/ 1967). 8 Der besondere Erkenntniszugang der soziologisch-kulturwissenschaftlichen Forschung kann auf zwei unterschiedliche Weisen begründet werden. Einige Autoren schließen direkt an die kantische Unterscheidung von Natur und Normorientierung an, während andere die Grenzziehung zwischen diesen Bereichen zum Ausgangspunkt machen. 6 Dieses Verständnis von Erklären baut auf der Analyse des experimentellen Handelns von Wright (1971/ 2008) auf und entspricht dem von Plessner (1931/ 1981) formulierten »Prinzip der geschlossenen Frage«. 7 Klassisch findet sich dies bei Menger (1893/ 2004: 42ff, 78). Esser (1993) versucht, einen hermeneutisch verstehenden Rahmen um die Anwendung dieser Erklärung verbürgenden gesetzmäßigen Annahme herum zu konstruieren. 8 Vgl. hierzu Apel (1979: 15f ) sowie für die Soziologie Simmel (1908/ 1983: 22f ) und Schütz’ Differenzierung zwischen Konstruktionen erster und zweiter Ordnung. Auch der Deutungsbegriff von Luhmann und sein Kommunikationsverständnis bauen auf einem solchen abstrakt formalen Verstehenskonzept auf. In der Analyse von Diskursen zielt das Verstehen darauf, die Regeln und Bedingungen des Kommunizierens und Handelns in den Mittelpunkt zu stellen, um so herauszuarbeiten, welche Möglichkeiten es für Akteure gibt, sich zu äußern bzw. zu handeln (Foucault 1966/ 1971). <?page no="91"?> 92 Gesa Lindemann 4.1 Die methodische Befestigung Natur-Kultur-Unterscheidung Historisch einflussreicher ist zunächst der erste Vorschlag gewesen. In diesem Sinne hatte Rickert (1898/ 1921) hervorgehoben, dass sich das Verstehen darauf richten müsse, an welchen Werten sich eine Kultur ausrichte. Rickert geht von universalen Werten aus, wobei einzelne Kulturen jeweils einer für sie spezifischen Wertorientierung folgen würden. In diesem Sinne könne man Kulturen anhand ihrer unterschiedlichen Wertorientierungen differenzieren, ohne dass es möglich ist, sie in ein wertendes Verhältnis zueinander zu setzen. In der soziologischen Adaption dieses Gedankens wurde nicht nur die Wertorientierung, sondern auch die Werte selbst als historisch kontingent aufgefasst. Die Werte, an denen sich Gesellschaften orientieren, seien selbst das Ergebnis historisch-gesellschaftlicher Prozesse, die es zu analysieren gelte. Die theoretischen Grundlagen hierfür werden von Georg Simmel (1908/ 1983: 22f ) und Max Weber (1904/ 1988a, b) formuliert. In diesem Sinn wäre etwa die protestantische Ethik bzw. die Orientierung daran, Gewinne zu investieren, um noch mehr Gewinn zu machen, eine Wertorientierung. Diese Werte sind aber Weber zufolge nicht Elemente einer Gruppe universaler Werte, sondern sie sind als Werte selbst in einer historischen Situation entstanden. Andere Menschengruppen haben sich an anderen ebenso kontingenten Werten orientiert (Weber 1920/ 1986). Während das zivilisatorische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung beide Bereiche eng miteinander gebunden hatte, wird im methodischen Verständnis dieser Unterscheidung Kultur von ihrem Bezug zur Natur abgekoppelt. Es gibt eine einheitliche durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten bestimmte Natur; von dieser ist der Bereich der Kultur abzugrenzen, der sich durch eine interne Differenzierung in unterschiedliche Kulturen auszeichnet. Damit ist der Gedanke verabschiedet, dass es eine Kultur gibt, die in einer einheitlichen Perspektive fortschreitender Kultivierung untersucht werden kann. Das methodische Verständnis der Unterscheidung trennt Natur und Kultur und vermeidet es gerade dadurch, Kulturen in eine einheitliche Entwicklungsperspektive fortschreitender Kultivierung einzuordnen und entsprechend dem Grad ihrer Vervollkommnung zu bewerten. Alle von Menschen geschaffenen Kulturen sind in dieser Perspektive als im Prinzip gleichwertig anzusehen. Dieses Verständnis von Natur und Kultur ist, über Franz Boas vermittelt, prägend für die amerikanische Kulturanthropologie und allgemein für die anthropologische Forschung geworden (Descola 2011: 120-128). Da Natur und Kultur in diesem Verständnis keine ontologisch getrennten Bereiche bilden, es sich vielmehr nur um unterschiedliche methodische Zugangsweisen zu einer Welt handelt, können menschliche Gesellschaften grundsätzlich in beiden Perspektiven untersucht werden. Es lässt sich danach fragen, wie beide Perspektiven miteinander vermittelt werden können usw. Anthropologische, soziologische bzw. kulturwissenschaftliche Forschungen unterscheiden sich danach, wie sie sich im Spannungsfeld von erklärenden und verstehenden Zugängen zur Welt situieren (Greshoff et al. 2008). 4.2 Die methodische Reflexion auf die Natur-Kultur-Unterscheidung Die Philosophie Kants bietet allerdings noch eine zweite Möglichkeit, das Verhältnis von Natur und Kultur zu denken, nämlich als Grenzziehung, die auch anders hätte ausfallen können. In diesem Sinn analysiert Plessner die methodische Aufspaltung des Weltzugangs als ein Kennzeichen des modernen westlichen Weltverständnisses. Dieses zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: 1. Es gibt eine einheitliche Natur, die kulturunabhängig nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, sowie eine Vielfalt unterschiedlicher Kulturen. 2. Zwischen Menschen und anderen <?page no="92"?> Natur versus Kultur 93 lebendigen Wesen besteht ein grundlegender Unterschied, denn der Mensch sei nicht nur ein natürliches Wesen, sondern zugleich auch Schöpfer von Kulturen und das Subjekt von Moral. Aufgrund seiner Bestimmung als Natursowie Kultur- und Moralwesen müsse der Mensch in einem doppelten Vergleich gesehen werden: im vertikalen Vergleich mit anderen organischen Wesen und im horizontalen Vergleich zwischen den Menschen als Produzenten unterschiedlicher kulturell-moralischer Ordnungen. Der vertikale Vergleich begreift den Menschen als Naturwesen, d. h. als Teil der universalen einheitlichen Natur, und setzt ihn in Beziehung zu anderen Lebensformen, um so die Besonderheit der menschlichen Lebensform herauszuarbeiten. Der horizontale Vergleich begreift den Menschen als Schöpfer von Kulturen, der von seinen eigenen Produkten bestimmt wird. Die unterschiedlichen Kulturen seien als gleichwertig zu begreifen, da sie alle in gleicher Weise auf den Menschen als ihren Grund zurückgeführt werden können. Diese Matrix hat Viveiros de Castro (1998) später auf den Nenner »Mononaturalität und Multikulturalität« gebracht. Plessner entwickelt seine Argumentation in zwei Schritten. Er formuliert eine Anthropologie gemäß dem doppelten Vergleich und bindet diese sodann in eine historisierende Reflexion ein. »Die Stufen des Organischen und der Mensch« (Plessner 1928/ 1975) enthalten den vertikalen Vergleich, während »Macht und menschliche Natur« (Plessner 1931/ 1981) den horizontalen Vergleich entfaltet (vgl. hierzu Mitscherlich 2007). Dieser doppelte Vergleich bildet die Matrix der Moderne. Bei deren Analyse kommt es Plessner darauf an, die komplexe Balance der modernen Ordnung darzustellen und gegen Vereinseitigungen Stellung zu beziehen, die diese Ordnung als eine rein gesellschaftliche oder als eine rein natürliche Ordnung begreifen. Der doppelte Vergleich führt allerdings nicht zu einer positiven Anthropologie, sondern macht die im Vergleich gewonnene Anthropologie selbst reflexiv zum Gegenstand. Dadurch werden die anthropologische Ordnung der Moderne und das zu ihr gehörende Prinzip der Natur-Kultur- Unterscheidung insgesamt zum Gegenstand gemacht und als ordnungsbildendes Prinzip der Moderne begriffen. Daraus folgt: Wenn die beiden genannten Merkmale (Trennung von Natur und Kultur, Mensch als Kulturen schaffendes Wesen) die Ordnung der Moderne kennzeichnen, heißt das, dass andere Ordnungen möglich sind. Plessners (1928/ 1975, 1931/ 1981) Ausarbeitung der anthropologischen Ordnung der Moderne führt dazu, die Gültigkeit der Natur-Kultur- Unterscheidung und der in ihr enthaltenen Zentralstellung des Menschen auf die Moderne zu beschränken. 9 Die Möglichkeit anderer Ordnungen wird in einem zweistufigen Verfahren in den Blick genommen. Die erste Stufe besteht darin, auch die Trennung zwischen Natur und Kultur ausgehend vom Menschen als schöpferischem Subjekt zu begreifen. Von dieser Erfahrungsstellung (Mensch als schöpferisches Subjekt, GL) aus relativieren sich im Universalaspekt der den Planeten bedeckenden Völker ›ihre‹ Götter und Kulte, Staaten und Künste, Rechtsbegriffe und Sitten. Der für ›unseren‹ Aspekt sie alle umfassende Raum der Natur relativiert sich auf unser abendländisches Menschentum und gibt die Möglichkeit anderer Naturen frei. (Plessner 1931/ 1981: 149) Es wird alles relativ auf den Menschen als schöpferisches Subjekt gedacht. Auch die umfassende und einheitliche moderne Natur wird zu einem Resultat der schöpferischen Kraft des Menschen 9 In der Sekundärliteratur wird die Analyse der Matrix der Moderne immer wieder im Sinne einer allgemeinen Anthropologie missdeutet (Fischer 2008). Auch die Arbeit von Mitscherlich (2007) ist nicht frei von diesem Missverständnis. <?page no="93"?> 94 Gesa Lindemann und kann damit auf ein bestimmtes »Menschentum« hin relativ gedacht werden, auf das abendländische Menschentum. Demnach bildet der Mensch nicht nur sich selbst zu einem bestimmten Menschentum, sondern indem er das tut, bildet er auch eine dieses Menschentum umgebende Natur. Plessner bleibt aber nicht bei einer die vielfältigen Kulturen/ Naturen ermöglichenden conditio humana stehen, sondern begreift diese selbst als ein geschichtlich gewordene Form der Welterschließung. Das Argument lautet, dass die Selbstauffassung des Menschen als Selbst-Auffassung, als Mensch im Sinne einer ethnisch und historisch abwandelbaren ›Idee‹ selbst ein Produkt seiner Geschichte bedeutet, die Ideen Mensch, Menschlichkeit von ›Menschen‹ eroberte Konzeptionen sind, denen das Schicksal alles Geschaffenen bereitet ist, untergehen-- und nicht nur außer Sicht geraten-- zu können […] (Plessner 1981: 163). 10 Die Theorie Plessners zeichnet sich durch eine hohe Selbstreflexivität aus. Deren Struktur lässt sich folgendermaßen skizzieren. Die Aussage-- »der Mensch ist ein universales ordnungsbildendes Prinzip, auf das alle Ordnungen zurückgeführt werden können«-- wird historisiert. Daraus folgt, dass es neben dem Menschen als ordnungsbildendes Prinzip noch andere ordnungsbildende Prinzipien geben kann, die auch nicht menschliche Wesen einbeziehen können. Damit relativiert sich der Mensch als ordnungsbildendes Prinzip, indem er sich neben mögliche andere Ordnungen mit anderen ordnungsbildenden Prinzipien stellt. Als einen ersten empirischen Hinweis darauf, dass es unterschiedliche Ordnungen geben kann, ist die materialreiche Studie von Descola (2011) zu nennen. Diese trägt allerdings den missverständlichen Titel »Jenseits von Natur und Kultur« (Descola 2011). Tatsächlich ist aber nicht ein Jenseits der Unterscheidung gemeint, vielmehr geht es um den Versuch, einen Punkt diesseits der Unterscheidung zu denken, von dem aus die Natur-Kultur-Unterscheidung als eine mögliche Form, die Welt zu ordnen, begriffen werden kann. Die Stärke Descolas liegt darin, die ethnologische Forschung in der Perspektive der Vielfalt möglicher Weltzugänge in einer sehr umfassenden Weise aufzubereiten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich von der Ordnung des Naturalismus, die der westlichen Natur-Kultur-Unterscheidung entspricht, die Ordnungen des Animismus, Totemismus und Analogismus unterscheiden lassen. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne eine Unterscheidung zwischen Natur und Kultur auskommen. Ich möchte es an dieser Stelle offen lassen, ob Descola das ethnologische Material zwanglos mit seinem viergliedrigen Ordnungsschema einfängt (s. u.), bzw. ob er diesem damit Gewalt antut. Bei aller möglichen Kritik gelingt es ihm überzeugend darzulegen, dass nicht jede Ordnung eines Weltzugangs an die Natur-Kultur-Unterscheidung gebunden ist. 4.3 Gegenwärtige Ansätze diesseits von Natur und Kultur Plessner hat mit seiner Reflexion der Matrix der Moderne eine Analyseperspektive freigelegt, die sich durch zwei Merkmale auszeichnet: Zum einen setzt sie diesseits der Natur-Kultur-Unterscheidung an und zum anderen wird der Kreis möglicher sozialer Akteure nicht auf lebende 10 Etwa 30 Jahre später wird Foucault (1966/ 1971) die Aussage vom möglichen Untergang des Menschen bzw. vom Tod des Menschen wiederholen und damit gerade in Deutschland auf heftige Kritik stoßen. Dabei war dieser Gedanke nahezu identisch bereits 1932 von Plessner formuliert worden. <?page no="94"?> Natur versus Kultur 95 Menschen beschränkt. Mit der Entfaltung dieser Analyseperspektive führt Plessners Reflexion der Matrix der Moderne in die seit den 1990er-Jahren als problematisch diskutierten Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur bzw. die Frage, wer als sozialer Akteur bzw. Aktant an der Bildung von Ordnungen partizipiert. Was die methodische Bestimmung eines Ausgangspunktes diesseits der Natur-Kultur-Unterscheidung anbelangt, lassen sich in der gegenwärtigen Diskussion zwei Optionen unterscheiden: die holistische und die kritische. Die holistische Position wird derzeit prominent von Bruno Latour (1991/ 1995, 1997, 2001, 2005/ 2007) vertreten. Ihm zufolge gehe es darum, herauszuarbeiten, wie »Kollektive« die zu ihnen gehörenden Entitäten versammeln. Dazu gehören sowohl menschliche als nicht menschliche Entitäten, wie Artefakte, Tiere oder Pflanzen. Diese Entitäten bilden Netzwerke, deren Einheiten durch Wechselwirkungen miteinander verbunden werden, wobei es zusätzlich erforderlich ist, die sich bildenden Netzwerke auch als solche zu beschreiben. Kollektive sind ein Zusammenhang solcher Netzwerke, die durch beschriebene Wechselwirkungen zusammengehalten werden. Die Aufnahme in ein bzw. die Ausgrenzung aus einem Kollektiv erfolgt gemäß den aktuellen Erfordernissen des Kollektivs. Es gibt keinen allgemeinen Anspruch darauf, Mitglied eines Kollektivs bzw. Netzwerks zu sein. Alles ergibt sich aus den immer wieder neu auszuhandelnden Notwendigkeiten des kollektiven Zusammenhangs. Dieser stellt also ein sich stets veränderndes, aber positiv beschreibbares Ganzes dar, das sich vor dem Hintergrund einer undifferenzierten Masse von Entitäten bildet, die Latour als »Plasma« (Latour 2007: 419) bezeichnet. Aus diesem können immer wieder neue Mitglieder des Kollektivs rekrutiert und aktuelle Mitglieder wieder undifferenziert zu Plasma werden, wenn sie aus dem Kollektiv ausgesondert werden. Dieser Ansatz ist holistisch, weil er den Anspruch erhebt, Kollektive als Ganzes in ihrem Bildungs- und Umbildungsprozess positiv erfassen zu können. Wenn dies möglich ist, wird eine kritische Reflexion auf die Grenzen der eigenen Erkenntnis, d. h. eine reflexive Explikation der eigenen Erkenntnisposition, überflüssig. 11 Hier liegt der Unterschied zu den kritischen Positionen von Descola (2011) und Thomas Luckmann (1980). Sie beziehen sich dabei auf eine Denkfigur Husserls, nämlich die transzendentale Reduktion. Das Ziel ist es, durch Abstraktion herauszuarbeiten, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Bewusstsein seine Umgebung wahrnehmen kann. Descola geht dabei explizit von einem menschlichen Bewusstsein aus, das auf sich reflektiert und sich dabei als ein Wesen identifiziert, das aus Physikalität und Interiorität zusammengesetzt ist (Descola 2011: 176ff ). Einem solchen Bewusstsein erscheint auch alles Begegnende als aus Interiorität und Physikalität zusammengesetzt. Das grundlegende Prinzip die Welt zu ordnen, bestehe darin, danach zu fragen, ob das Begegnende in gleicher Weise oder in unterschiedlicher Weise aus Physikalität und Interiorität zusammengesetzt sei. Daraus entwickelt Descola die vier Ordnungsprinzipien des Naturalismus, Animismus, Totemismus und Analogismus (Descola 2011: 189f ). Die Annahme des naturalistischen Weltzugangs bestehe darin, dass alles Existierende von gleicher Physikalität ist, dass sich die Existierenden aber durch unterschiedliche Interioritäten voneinander unterscheiden. Der Animismus z. B. folge einem umgekehrten Ordnungsprinzip, alles Existierende ist im Prinzip von gleicher Interiorität, die Unterschiede werden durch differente Physikalitäten gebildet. Tiere und Pflanzen sind diesem Verständnis zufolge Wesen mit ähnlicher Interiorität, sie sind Verwandte, aber sie stecken in jeweils unterschiedlichen Hüllen (Descola 2011: 197-218). Luckmann (1980) begreift das Bewusstsein ganz allgemein darüber, dass diesem etwas erscheinen kann. Alles, was einem Bewusstsein erscheint, würde als etwas wahrgenommen, das selbst etwas wahrnehmen könne. Folglich würde einem Bewusstsein zunächst alles Begegnende als 11 Auf die damit entstehenden Probleme hat u. a. Pels (1996) aufmerksam gemacht. <?page no="95"?> 96 Gesa Lindemann Bewusstsein erscheinen (Luckmann 1980: 63f ). Luckmann erkennt genau, dass jede Einschränkung des Kreises möglicher Bewusstseine moralische Implikationen hat. Denn je weiter oder enger der Kreis derjenigen gezogen wird, die als ein Bewusstsein erscheinen, desto weiter oder enger ist der Kreis derjenigen, die moralisch zählen (Luckmann 1980: 56). Ein bloßes Ding ist moralisch nicht bedeutsam. Aber wenn es um ein anderes Bewusstsein geht, stellen sich sofort normative Fragen: Ist es beliebig, wie ich mit ihm umgehe? Darf ich es töten? Wenn Tiere in diesem Sinn Teil der moralischen Welt sind, können sie nicht einfach getötet werden und wenn sie zur Nahrungssicherung doch getötet werden, erfordert dies Bußrituale oder andere Formen, um die moralische Schuld zu bewältigen. Sowohl Descola als auch Luckmann identifizieren durch Reflexion einen Ausgangspunkt, von dem her jede Ordnungsbildung zu analysieren ist. Bei Luckmann sind es die universalen Strukturen des Bewusstseins, während es bei Descola die allgemeine Bestimmung von Menschsein als Kompositium aus Physikalität und Interiorität ist. Plessner vermeidet eine solche positive Festlegung, denn auch rein formale Bestimmungen würden immer eine Tendenz beinhalten, einzelne Formen der Ordnungsbildung als eher möglich bzw. als besser zu bewerten (Plessner 1931/ 1981: 155ff ). Plessner steht damit an der Schwelle zu einer allgemeinen Theorie der Ordnungsbildung, die er aber selbst nicht mehr ausgearbeitet hat. Der Grund hierfür liegt darin, dass er die Perspektive einer Reflexion der Matrix der Moderne im Weiteren zugunsten einer positiven Anthropologie aufgegeben hat, die eher derjenigen von Arnold Gehlen (1940/ 1993) entspricht (vgl. Beaufort 2000: 217, Lindemann 2009: 92-102). 12 Erst in neuerer Zeit gibt es Versuche, Plessners Reflexion der Matrix der Moderne weiterzuentwickeln, um sie für eine materiale soziologische Forschung in historisch und ethnologisch vergleichender Perspektive fruchtbar zu machen (vgl. Lindemann 2002, 2009, 2014). 5. Fazit Während die normative und zivilisatorische Unterscheidung von Natur und Kultur mehr oder weniger zwingend zu einer normativ-kritischen Bewertung gesellschaftlicher Prozesse führt, ist das bei der methodischen Natur-Kultur-Unterscheidung nicht der Fall. Diese enthält lediglich insofern einen kritischen Anspruch, als sie es nicht zulässt, eine Rangfolge zwischen einzelnen Kultur/ Natur-Ordnungen zu begründen. Dies gilt im verstärkten Maße für diejenigen Positionen, die die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur selbst historisieren. Diese Positionen sind zunächst einmal im Sinne Kants als eine Kritik der Kritik zu verstehen, denn mit der Historisierung der Natur-Kultur-Unterscheidung wird der Geltungsbereich derjenigen Kritik begrenzt, die diese Unterscheidung voraussetzt. Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Reflexion der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur zunehmend für die empirische Forschung und allgemein für die Analysefähigkeit der G-SW relevant wird. Denn von der Konzeptualisierung dieser Unterscheidung hängt es ab, ob die G-SW dazu in der Lage sind, zu aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen Stellung zu nehmen. Wie soll man etwa den Klimawandel begreifen, der als von Menschen gemacht gilt, dessen Wirkungsketten aber zugleich als natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgend begriffen werden. Wie soll man die Versuche zur technischen Perfektionierung des Menschen verstehen, der in sich 12 Dass es sich hierbei um eine systematische Wende handelt, wird von einigen Autoren übersehen, weshalb sie die philosophischen Anthropologien Schelers, Gehlens und Plessners für einen einheitlichen Denkansatz halten (vgl. Fischer 2008). <?page no="96"?> Natur versus Kultur 97 selbst technisch eingreift, indem er z. B. die Leistung seines Gehirns technisch optimiert oder indem er sein Erbgut biotechnisch verändert. Von der Beantwortung solcher Fragen hängt es ab, wie wir zukünftig werden leben können. Zur Analyse dieser Probleme können die Sozial- und Geisteswissenschaften nur dann etwas beitragen, wenn sie die Natur-Kultur-Unterscheidung reflexiv in den Blick nehmen und konzeptuell durchdringen. Literatur: Apel, Karl-Otto (1973): Transformation der Philosophie II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/ M. Barkhaus, Annette/ Fleig, Anne (Hg.) (2002): Grenzverläufe. Der Körper als Schnittstelle, München. Beaufort, Jan (2000): Die gesellschaftliche Konstitution der Natur, Würzburg. Beauvoir, Simone de (1949/ 1968): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek. Braudel, Fernand (1979/ 1990): Sozialgeschichte des 15.-18.-Jahrhunderts. Der Alltag, München. Dilthey, Wilhelm (1900/ 1924): Die Entstehung der Hermeneutik. In: Gesammelte Schriften V. Band. Leipzig, Berlin. Durkheim, Émile (1895/ 1991): Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/ M. Durkheim, Émile (1898/ 1983): Der Selbstmord, Frankfurt/ M. 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Die Ganzheiten, um die es in soziologischen Beschreibungen und Erklärungen geht, sind Kollektivphänomene vielfältiger Art: soziale Gebilde wie Interaktionsbeziehungen, Organisationen, soziale Bewegungen, Nationalstaaten oder das Weltwirtschaftssystem; soziale Institutionen wie die Familie, der Linksbzw. Rechtsverkehr oder das Gesundheitswesen; und soziale Prozesse wie die Säkularisierung, die Selbstreproduktion gesellschaftlicher Eliten oder die Ethnisierung sozialer Konflikte. Die Frage, von welcher Art die Teile sind, aus denen die Kollektivphänomene des Sozialen bestehen, wird in der Soziologie unterschiedlich beantwortet. Die Antwort auf diese Frage hängt von sozialtheoretischen Grundannahmen ab, bezüglich derer es beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Soziologie keine Einigkeit gibt. Von besonderem Gewicht sind vier sozialtheoretische Positionen: Handlungstheorie, Interaktionismus, Praxistheorie und- - im deutschsprachigen Diskurs-- systemtheoretische Kommunikationstheorie. Die handlungstheoretische Position lautet, die Soziologie habe »das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ›Atom‹« (Weber 1988 [1922]: 439) zu behandeln. Der Interaktionismus argumentiert, dass die Einzelhandlung keine eigenständige Sinneinheit sei, sondern ihren Sinn daraus bezieht, dass sie Bestandteil von Interaktionen ist, weshalb die Interaktion als Grundelement des Sozialen zu betrachten sei (vgl. Strauss 1993: 25). Der Praxistheorie zufolge beruht das Soziale viel eher auf den stillschweigenden Selbstverständlichkeiten inkorporierten Wissens und Könnens- - auf Praktiken also- - als auf ausdrücklich intentional gesteuerten Handlungen. Die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung schließlich hält dafür, dass alles Soziale aus Kommunikationen besteht. 1 »Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente. Die Silbe nämlich ist nicht einerlei mit ihren Elementen (Buchstaben), das ba ist nicht einerlei mit b und a […]; denn nach der Auflösung ist das eine nicht mehr, z. B. […] die Silbe, die Sprachelemente (Buchstaben) aber sind noch […]. Also ist die Silbe etwas außer diesen« (Metaphysik Buch VII, Kap. 17, Abschnitt 1041b, zit. nach der Ausgabe Aristoteles 1980: 77). <?page no="99"?> 100 Ingo Schulz-Schaeffer Das Soziale liegt demnach in Gestalt sozialer Systeme vor, die als sinnprozessierende Systeme aus Einheiten sozialen Sinns bestehen: aus Kommunikationen. Die Wahl der sozialtheoretischen Grundposition und die damit verbundene Entscheidung, was als Grundelement des Sozialen in den Blick genommen wird, hat einen Einfluss darauf, wie atomistisch oder holistisch eine soziologische Beschreibung oder Erklärung ausfällt. Bildet der systemtheoretische Kommunikationsbegriff das sozialtheoretische Fundament, dann ist damit unausweichlich zugleich auch eine holistische Betrachtungsweise des Sozialen verbunden. Denn das zentrale Merkmal der als Kommunikationen bezeichneten sozialen Sinneinheiten besteht darin, dass sie emergente Phänomene des Sozialen sind: dass der Sinn, der auf der Ebene der Kommunikationsprozesse generiert und prozessiert wird, genuin sozialer Sinn ist und nicht auf den Sinn zurückgeführt werden kann, den die Kommunikationsteilnehmer auf der Ebene ihres Bewusstseins als psychischen Sinn generieren und prozessieren. Auch der Interaktionismus und die Praxistheorie konzipieren ihr jeweiliges Verständnis der Grundelemente des Sozialen zumeist in einer Weise, die zu einer holistischen Betrachtungsweise des Sozialen führt. Ich komme darauf zurück. Einzig das handlungstheoretische Verständnis der Grundelemente des Sozialen enthält keine Festlegung auf holistische Erklärungen. Atomistische Erklärungen des Sozialen besitzen dementsprechend ganz überwiegend ein handlungstheoretisches Fundament. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Wahl einer handlungstheoretischen Perspektive atomistische Erklärungen des Sozialen erzwingt. Auch darauf komme ich noch zurück. 2. Argumente für den Holismus Der markanteste Vertreter holistischer Erklärungen des Sozialen aus der Gründerzeit der Soziologie ist Émile Durkheim. Er ist es, dessen Herangehensweise wir mit dem von René König geprägten Leitsatz verbinden, »Soziales nur durch Soziales zu erklären« (König 1984: 21). 2 Durkheim argumentiert, dass die Regelmäßigkeiten der Natur und die Regelmäßigkeiten des Sozialen ganz unterschiedliche Grundlagen haben. Physikalische Gesetze sind allgemein, weil sie Zusammenhänge beschreiben, die in jedem zugehörigen Einzelfall so ablaufen. Die Allgemeinheit sozialer Regelmäßigkeiten kommt dagegen genau umgekehrt zustande: Ein entsprechendes soziales Phänomen ist allgemein, »weil es kollektiv (d. h. mehr oder weniger obligatorisch) ist; und nicht umgekehrt ist es kollektiv, weil es allgemein ist. Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt.« (Durkheim 1984 [1895]: 111) Das Muster der atomistischen Herleitung physikalischer Gesetze lässt sich Durkheim zufolge also nicht auf soziale Phänomene übertragen. Diese lassen sich nur holistisch erfassen, denn die gemeinsam geteilten Anschauungen und Normen des Kollektivs gehen den Anschauungen und Überzeugungen des Einzelnen voraus und bestimmen diese. Durkheim begründet seine holistische Sichtweise des Sozialen in Auseinandersetzung mit der atomistischen Auffassung, »daß alle sozialen Beziehungen sich auf den Vertrag zurückführen lassen« (Durkheim 1988 [1893]: 450). Das vertragstheoretische Denken ist eine atomistische Herleitung des Sozialen, weil es alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen auf Vereinbarungen zwischen Individuen zurückführt, welche die Individuen zum Zwecke der Verfolgung ihrer indi- 2 In den Worten Durkheims: »Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands muß in den sozialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewußtseins gesucht werden.« (Durkheim 1984 [1895]: 193) <?page no="100"?> Atomismus versus Holismus 101 viduellen Interessen miteinander eingehen. Heute verbinden wir die vertragstheoretische Herleitung des Sozialen vor allem mit Thomas Hobbes und seinem Hauptwerk Leviathan (vgl. Hobbes 1980 [1651]: 112 ff., 155 ff.), Durkheim bezieht sich hingegen vorwiegend auf vertragstheoretische Überlegungen von Jean-Jacques Rousseau und Herbert Spencer. Gegen die Vorstellung, dass das Soziale seinen Ursprung und seine Grundlagen in der Übereinstimmung der Interessen von Individuen hat, die in Verträgen ihren Ausdruck findet, argumentiert Durkheim, daß jede Interessenharmonie einen latenten oder einfach nur vertagten Konflikt verdeckt. Denn wo das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf dem Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbinden; morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind. Eine derartige Ursache kann damit nur zu vorübergehenden Annäherungen und zu flüchtigen Verbindungen führen. (Durkheim 1988 [1893]: 260) Wenn die Interessen der Beteiligten die einzige Grundlage der Einhaltung von Verträgen wären, dann wären Verträge nicht besonders haltbar und auf keinen Fall ein denkbares Fundament sozialer Ordnung. Vielmehr ist es Durkheim zufolge so, »daß der Vertrag, wenn er eine bindende Kraft besitzt, diese der Gesellschaft verdankt. […] Jeder Vertrag setzt […] voraus, daß hinter den vertragschließenden Parteien die Gesellschaft steht, die einzugreifen bereit ist, um den von diesen Parteien eingegangenen Verpflichtungen Respekt zu verschaffen.« (ebd.: 165) Die inhärente Instabilität von Vereinbarungen, deren einzige Grundlage die Interessen der Beteiligten ist, hat zur Konsequenz, »daß der Vertrag sich nicht selber genügt; er ist nur möglich dank einer Reglementierung des Vertrags, die sozialen Ursprungs ist« (ebd.: 272). Es ist also »nicht alles […] vertraglich beim Vertrag« (ebd.: 267; vgl. ebd.: 450). Diese Formulierung aufgreifend, spricht Talcott Parsons von dem »nicht-vertraglichen Element im Vertrag« (Parsons 1968 [1937]: 319). 3 Talcott Parsons ist es auch, der Durkheims Überlegungen systematisiert und zu einem ausgearbeiteten Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Erklärung der sozialen Ordnung aus individuellen Interessen weiterentwickelt. Parsons bezieht sich dabei vor allem auf die Überlegungen von Thomas Hobbes, was schon damit beginnt, dass er die Frage, wie in einer Gemeinschaft von Akteuren, die in ihrem Handeln eigene Ziele verfolgen, soziale Ordnung möglich ist, als das Hobbes’sche Problem bezeichnet (Parsons 1968 [1937]: 94, 314, 357): In Abwesenheit einer normativen Ordnung und unter der Bedingung, dass die Akteure danach streben, eigene Ziele zu realisieren, wäre ein Zustand des Krieges aller gegen alle die notwendige Folge. Alle Akteure würden zwangsläufig danach streben, durch List oder Gewalt Macht über andere Akteure zu gelangen, um sich diese im Interesse ihrer eigenen Ziele dienstbar zu machen (vgl. ebd.: 92; Hobbes 1980 [1651]: 112 ff.). Eine rein utilitaristische, d. h. auf individuellen Nutzenerwägungen beruhende Gesellschaft wäre also »chaotisch und unstabil, weil sie sich mangels Beschränkungen im Gebrauch von Handlungsmitteln-- insbesondere von Gewalt und Betrug-- notwendig in einen grenzenlosen Machtkampf verwandeln würde« (Parsons 1968 [1937]: 93 f.). Hobbes zufolge gibt es nur einen möglichen Ausweg aus diesem Problem: In Form eines Gesellschaftsvertrags, d. h. eines Vertrages »eines jeden mit einem jeden« (Hobbes 1980 [1651]: 155), einigen 3 Die deutschen Übersetzungen der zitierten englischsprachigen Publikationen sind meine Übersetzungen. <?page no="101"?> 102 Ingo Schulz-Schaeffer sich die Gesellschaftsmitglieder aus eigenem Interesse darauf, »ihre natürliche Freiheit an eine hoheitliche Autorität abzugeben, die ihnen im Gegenzug Sicherheit garantiert, also Schutz gegen gewaltsame oder betrügerische Angriffe durch andere« (Parsons 1968 [1937]: 90; vgl. Hobbes 1980 [1651]: 155 f.). Das zentrale Problem dieser Lösung ist, dass jene zentrale Autorität dem Einfluss des interessengeleiteten Handelns der Akteure entzogen sein muss, um unter den genannten Bedingungen soziale Ordnung garantieren zu können. Dann aber kann sie in ihrer Entstehung und in ihrem Fortbestand nicht utilitaristisch-- also als Resultat von individuellen Nützlichkeitsüberlegungen-- erklärt werden, wie es Hobbes vorschlägt. 4 Dieser Einwand, der in großer Klarheit in Richard Münchs Rekonstruktion der Handlungstheorie Parsons’ dargelegt wird (vgl. Münch 1982: 35-37), führt Parsons zu dem Schluss, dass es auf einer strikt utilitaristischen Grundlage keine Lösung für das Problem der sozialen Ordnung gibt (Parsons 1968 [1937]: 93). Aus der Tatsache, dass Gesellschaften mit hinreichend stabiler sozialer Ordnung existieren, folgt im Umkehrschluss dann, dass die Individuen ihre Ziele nicht ausschließlich auf der Grundlage ihrer jeweiligen Nutzenüberlegungen bestimmen. Denn aus der Existenz sozialer Ordnung folgt, dass die Akteure gemeinsame Ziele verfolgen, diese Gleichgerichtetheit kann nach dem zuvor Gesagten aber nicht Ergebnis individueller Nutzenüberlegungen sein. Erklärbar wird die Existenz sozialer Ordnung dagegen, wenn man annimmt, dass die Ziele der Akteure gar nicht so individuell zweckbezogen generiert werden wie Hobbes und andere Vertragstheoretiker unterstellen, sondern unter dem Einfluss gemeinsamer Wertorientierungen. Diese Annahme, so Parsons, »eröffnet einen Weg, die Grundlage gesellschaftlicher Ordnung als ›immanent‹, im Charakter der Gesellschaft selbst angelegt, zu interpretieren« (Parsons 1968 [1937]: 238). Dies wiederum entspricht genau der Auffassung Durkheims, dass die Allgemeinheit sozialer Phänomene ihren Ursprung im Kollektiv hat und nicht in den Individuen: Das soziale Leben ist »unmittelbar aus dem kollektiven Sein abzuleiten« (Durkheim 1984 [1895]: 203), und zwar »deshalb, weil das soziale Leben der besonderen Formung entspringt, der die einzelnen Psychen vermöge der Tatsache ihrer Assoziation unterliegen und aus der eine neue Existenzform entsteht« (ebd.). Die Annahme der gesellschaftlichen Vorgegebenheit normativer Strukturen ruft allerdings den Einwand hervor, dass man sich damit der Möglichkeit begibt, die Entstehung der-- in ihrer Existenz dann immer bereits vorausgesetzten- - normativen Zusammenhänge zu erklären. Um die Entstehung normativer Strukturen zum Gegenstand soziologischer Theoriebildung machen zu können, müsse man, so James S. Coleman, mit einer Handlungstheorie beginnen, die von Individuen ausgeht, welche sich »unbeeinträchtigt von Normen und völlig eigennützig verhalten« (Coleman 1991: 38). Dann aber bleibt das Hobbes’sche Problem weiterhin ein Problem, für das nach einer atomistischen Lösung gesucht werden muss. Ein Lösungsweg, der von Coleman (1991: 350 ff.) vorsichtig beschritten und von Hartmut Esser (2000: 316 ff.) sehr optimistisch aufgegriffen worden ist, beruht darauf, das Hobbes’sche Problem als ein Problem der Bereitstellung von Kollektivgütern zu reformulieren. Kollektivgüter (oder öffentliche Güter) sind dadurch definiert, dass sie auch von denen genutzt werden können, die zu ihrer Bereitstellung nicht beitragen. Akteure, die profitieren ohne beizutragen, werden als Trittbrettfahrer bezeichnet. Die soziale Ordnung, also etwa der Umstand, dass man sich darauf verlassen kann, dass Verträge eingehalten werden, ist in diesem Sinne ein Kollektivgut. Das 4 Dieser Einwand ist in ähnlicher Form bereits von Durkheim erhoben worden: »Darüber hat weder Hobbes noch Rousseau das Widerspruchsvolle an der Annahme bemerkt, daß das Individuum selbst der Urheber einer Maschine sein soll, deren wesentliche Rolle darin besteht, ihren Urheber durch Zwang zu beherrschen und einem Zwang zu unterwerfen.« (Durkheim 1984 [1895]: 202) <?page no="102"?> Atomismus versus Holismus 103 Hobbes’sche Problem ist somit ein Trittbrettfahrer-Problem: Für jeden Einzelnen ist es unter individuellen Nutzengesichtspunkten am vernünftigsten Trittbrettfahrer zu sein. Dann aber kommt es gar nicht erst zur Produktion von Kollektivgütern bzw. zur unweigerlichen Zerstörung eines jeden Kollektivgutes, das aus welchen Gründen einmal existiert. Die Sanktionen, die eingeführt werden, um Akteure vom Trittbrettfahren abzuhalten, lassen sich als Kollektivgüter zweiter Ordnung fassen. Denn die Wirkung der Sanktionen kommt ja ebenfalls allen und auch denen zugute, die sich an den Sanktionskosten nicht beteiligen. Das Sanktionsproblem, also das Problem der Sicherstellung der Sanktionierung, ist dementsprechend das zugehörige »Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung« (Coleman 1991: 350). Coleman argumentiert nun, dass »das Sanktionsproblem weniger kostenaufwendig [ist] als das ursprüngliche Problem« (ebd.: 352), weil den Sanktionskosten ja auch ein Nutzen gegenübersteht, nämlich der Nutzen des Kollektivgutes erster Ordnung, dessen Existenz durch die Sanktionierung sichergestellt wird. Dies rechnet sich dann gegebenenfalls auch aus der Perspektive des individuellen Akteurs, dann nämlich, wenn sich genügend Nutznießer des Kollektivgutes erster Ordnung darauf einigen, sich die Sanktionskosten zu teilen. Eine solche Einigung aber, so Coleman, »ist von der Existenz sozialer Beziehungen zwischen den Nutznießern abhängig« (ebd.: 353). Sie ist mit anderen Worten eine soziale Bindung, die jeder einzelne Beteiligte auch gegen einen größeren individuellen Vorteil durchhalten muss, den er als Trittbrettfahrer erzielen könnte. So führen auch diese Überlegungen letztlich nicht zu einer Lösung des Hobbes’schen Problems allein auf der Grundlage des normfreien und eigennützigen Akteurs (vgl. auch Schulz-Schaeffer 2007: 161 f., Anm. 81). Die vorangegangenen Überlegungen für eine holistische Erklärung sozialer Phänomene stützen sich vor allem auf eine negative Beweisführung, um zu begründen, dass man von dem immer bereits gesellschaftlich geprägten Individuum ausgehen müsse: auf den Nachweis der Unmöglichkeit, soziale Ordnung auf der Grundlage normfreien, individuell eigennützigen Handelns zu erklären. Es bleibt dabei unerklärt, wie diese vorgängige gesellschaftliche Prägung der Individuen ihrerseits entstanden ist. Eine solche Erklärung bietet George Herbert Mead an. Seiner Auffassung nach ist die gesellschaftliche Geprägtheit der Individuen ein Produkt der Evolution, ein evolutionäres Erbe, das die Menschheit in modifizierter Form aus dem Tierreich übernimmt: Allgemein ist es von Vorteil, so Mead, wenn Lebewesen einer Art zusammenarbeiten, weil sie sich auf diese Weise besser schützen und ernähren und den Nachwuchs besser aufziehen können. Deshalb bilden sich bereits bei recht einfachen Lebewesen zum Teil recht komplexe Formen der Zusammenarbeit heraus wie dies etwa in Insektengesellschaften der Fall ist. Um ihr Verhalten erfolgreich koordinieren zu können, brauchen die Tiere dabei den Sinn ihres Handelns nicht zu verstehen und müssen dementsprechend auch kein Bewusstsein besitzen (vgl. Mead 1968 [1934]: 56). Die Verhaltensweisen der Einzelindividuen sind zunächst vielmehr über einfache Reiz-Reaktions-Mechanismen miteinander gekoppelt. Der »grundlegende Mechanismus, durch den der gesellschaftliche Prozess angetrieben wird«, so Mead (1968 [1934]: 52), »ist der Mechanismus der Geste, der die passenden Reaktionen auf das Verhalten der verschiedenen individuellen Organismen ermöglicht, die in einen solchen Prozeß eingeschaltet sind. […] Gesten sind Bewegungen des ersten Organismus, die als spezifische Reize auf den zweiten Organismus wirken und die (gesellschaftlich) angemessene Reaktion auslösen.« Auf diese Weise wird individuelles Verhalten zu Verhaltenszusammenhängen verknüpft, welche Mead als gesellschaftliche Handlungen bezeichnet. Die Gesten haben dabei die Funktion, »Reaktionen der anderen hervorzurufen, die selbst wiederum Reize für eine neuerliche Anpassung werden, bis schließlich die endgültige gesellschaftliche Handlung zustande kommt« (ebd.: 83). Im Laufe der evolutionären Entwicklung werden aus Gesten signifikante Symbole, also sprachliche Äußerungen und andere sinnhafte Zeichenhandlungen, über die dann in menschlichen <?page no="103"?> 104 Ingo Schulz-Schaeffer Gesellschaften die Koordination der gesellschaftlichen Handlungen erfolgt. Dabei behält das signifikante Symbol aber die Funktion der Geste, einzelne Handlungen zu gesellschaftlichen Handlungen zu verketten. Und so wie der Sinn der Tiergesten in den gesellschaftlichen Handlungen liegt, die mit ihrer Hilfe zustande kommen, so leitet sich auch der Sinn der signifikanten Symbole aus den gesellschaftlichen Handlungen ab, die die Individuen zustande bringen, indem sie sich in ihrem Verhalten an diesen Symbolen orientieren. Ebenso wie das reizgesteuerte Verhalten der Tiere sind deshalb auch die durch signifikante Symbole gesteuerten menschlichen Handlungsweisen »sinnlos außerhalb der gesellschaftlichen Handlungen, in die sie eingebettet sind und aus denen sie ihre Signifikanz ableiten« (ebd.: 130). Daran ändert für Mead auch der Umstand nichts, dass dieser Sinn nun als Sinn vorliegt, auf den die Individuen bewusst reflektieren können: »Es gibt einen gemeinsamen Lebensprozeß seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft, der mit Hilfe von Gesten abläuft. Die Gesten sind bestimmte Stadien innerhalb dieser kooperativen Tätigkeit, die den ganzen Prozeß lenken. Beim Auftreten von Geist wurde dieser Prozeß lediglich bis zu einem gewissen Grad in das Verhalten des Einzelnen hereingenommen.« (ebd.: 231). Sicherlich ist Meads funktionalistisch-evolutionstheoretische Betrachtung menschlicher Handlungszusammenhänge überholt. Man wird kaum noch ernsthaft behaupten wollen, dass menschliche Handlungszusammenhänge ihre Existenz dem Umstand verdanken, dass sie den Überlebenserfolg der Gattung verbessern. Der bleibende Wert der Überlegungen Meads besteht vielmehr darin, dass sie eine Erklärung der Entstehung sowohl der Gesellschaft wie des Individuums bieten, die vermeidet, das eine voraussetzen zu müssen, um das andere erklären zu können: Wenn sinnhaftes individuelles Handeln sich sukzessiv aus dem gestengesteuerten Verhalten heraus entwickelt hat, mittels dessen Tiere ihr Zusammenwirken koordinieren, dann bedeutet dies erstens, dass sich ein durch bewusstlose Reiz-Reaktions-Mechanismen hervorgebrachter gesellschaftlicher Zusammenhang schrittweise in einen durch gemeinsam geteilte Sinnstrukturen gewährleisteten gesellschaftlichen Zusammenhang verwandelt. Und es bedeutet zweitens, dass das bewusstseinsfähige menschliche Subjekt selbst ein Produkt dieses Wandlungsprozesses ist. Dementsprechend ist es dann auch nicht mehr erforderlich, die Entstehung gesellschaftlicher Ordnung aus einem Anfangszustand normfreier, eigennütziger Akteure zu erklären. Einen solchen Anfangszustand hat es nie gegeben, sondern einen Prozess der sukzessiven Ablösung von Instinkten und Prägungen durch normative Regulierungen und andere sinnhafte Verhaltenssteuerungen, einen Prozess, währenddessen auch die Möglichkeit des individuell eigennützigen Handelns erst entstanden ist (vgl. Mead 1968 [1934]: 267, 279 f.). Meads Auffassung, dass Einzelhandlungen nicht für sich existieren, sondern als Bestandteile von gesellschaftlichen Handlungen entstehen, von denen sich ihre jeweilige Bedeutung ableitet, ist im symbolischen Interaktionismus aufgegriffen und auf das Verhältnis von Handlung und Interaktion übertragen worden. Die Aussage lautet nun: Handlungen sind stets in Interaktionen eingebettet und beziehen daraus ihre jeweilige Bedeutung. Anselm Strauss zufolge ist dies die inzwischen allgemein geläufige Sichtweise: wenn Sozialwissenschaftler ihre Forschungen durchführen, setzen sie gewiss voraus, dass das Handeln in Interaktionen und in Sinnsysteme eingebettet ist. Nur die wenigen Theoretiker, die über das Handeln an sich schreiben (so wie Weber, Schütz und Parsons) tendieren dazu, mit der Handlung zu beginnen, mit einer separaten Insel des Handelns; nicht mit der Annahme, dass Interaktion das vorgeordnete, zentrale Konzept ist, und auch nicht mit der Annahme, dass es ein analytisches Artefakt darstellt, das Handeln von der Interaktion zu trennen. Natürlich handelt eine Person […], aber diese jeweiligen Handlungen sind eingebettet in ein Netzwerk von Interaktionen. (Strauss 1993: 25) <?page no="104"?> Atomismus versus Holismus 105 Der evolutionstheoretische Begründungszusammenhang spielt hier keine Rolle mehr, die Abgeleitetheit der Bedeutung von Handlungen aus dem Interaktionszusammenhang gewinnt vielmehr den Stellenwert eines empirischen Grundsachverhalts. Es gibt, so Strauss, »jedenfalls nach der sehr frühen Kindheit so gut wie kein Handeln, bei dem die Handlung von der Interaktion getrennt ist« (ebd.: 22). Weil menschliches Handeln empirisch gesehen ganz überwiegend im Kontext der Interaktion mit anderen Menschen erfolgt, ergibt sich auch die Bedeutung des Handelns dann jeweils erst im Kontext des betreffenden Interaktionszusammenhanges. Dieser Grundsachverhalt wird im symbolischen Interaktionismus dahingehend verallgemeinert, dass alle Sinnmuster und Sinngehalte, die der natürlichen wie der sozialen Welt ihre von den Akteuren wahrgenommene Bedeutung verleiht, interaktiv erzeugt sind: »Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen«, so Herbert Blumer (1973 [1969]: 83 f.), »soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierenden Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden.« Ähnlich wie der Interaktionismus vertritt auch die Praxistheorie die Auffassung, dass das »Ganze« des Handlungszusammenhanges dem »Atom« der Einzelhandlung vorausgeht. Die Begründung dafür, dass soziale Praktiken und nicht Einzelhandlungen »die kleinste Einheit der sozialwissenschaftlichen Analyse« (Reckwitz 2004: 318) sind, entspricht der eben präsentierten Argumentation: Die Bedeutung einer Handlung liefert die soziale Praxis, in die die jeweilige Tätigkeit eingebettet ist. So wird beispielsweise die kreisende Bewegung eines Holzlöffels in einem Kochtopf erst im Rahmen einer bestimmten Kochpraxis, die dieser Tätigkeit einen spezifischen Sinn verleiht, zur Handlung des Umrührens. »Folglich setzt die Handlung die betreffende Praxis voraus. Tatsächlich ist sie ein Moment der Praxis.« (Schatzki 2002: 96) Mit dieser Sichtweise setzt sich die Praxistheorie ebenso wie der Interaktionismus von einem atomistischen und individualistischen Handlungsbegriff ab (Reckwitz 2004: 320 f.). Die Praxistheorie ähnelt dem Interaktionismus auch darin, dass die Praktiken als soziale Produkte betrachtet werden. Eigenständigkeit gegenüber interaktionistischem Denken gewinnt die Praxistheorie vor allem dadurch, dass sie diesen sozialen Produktionsprozess als einen Prozess ansieht, der sich ohne die bewusste Aufmerksamkeit der Akteure, gleichsam hinter ihrem Rücken vollzieht. Jede soziale Praxis ist aus praxistheoretischer Perspektive eine gemeinsame Gepflogenheit, die im stillschweigenden Wissen und Können der Beteiligten verankert ist. Dementsprechend bildet das gemeinsam geteilte stillschweigende Wissen und Können die unexplizierte Grundlage, die dem menschlichen Denken und Handeln ihren Sinn verleiht (vgl. Taylor 1995: 174; Schatzki 2001: 2 f.). Diese Position findet ihr theoretisches Fundament in der Überlegung von Ludwig Wittgenstein, dass es unmöglich ist einer expliziten Regel zu folgen, wenn man nur die Regel selbst kennt (und alle weiteren Regeln, die festlegen, wie die erste Regel (und alle weiteren Regeln) angewendet werden). Denn jede weitere Regel, die Fragen der Anwendung der ersten Regel regelt, ruft selbst wieder entsprechende Fragen hervor. Tatsächlich, so Wittgenstein, stützt man sich, wenn man einer expliziten Regel folgt, immer auf Gebräuche und Gepflogenheiten, die der Regel erst ihren spezifischen Sinn verleihen. »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« (Wittgenstein 1984 [1953]: 345) Menschliches Verhalten nach dem Modell des bewussten und absichtsvollen Handelns erfassen zu wollen, ist aus praxistheoretischer Perspektive Ausdruck eines intellektualistischen Fehlschlusses (vgl. Reckwitz 2003: 290). Mit der Betonung des überwiegend impliziten und inkorporierten Charakters menschlichen Wissens und Könnens, verfolgen praxistheoretische Autoren das Anliegen, dieser Vorgehensweise zu Leibe zu rücken. Dieses Anliegen steht bereits im Zentrum der praxistheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu. Bourdieu zufolge ist menschliches Verhalten wesentlich durch die Fähigkeit gekennzeichnet, »unabsichtlich und ohne bewußte <?page no="105"?> 106 Ingo Schulz-Schaeffer Befolgung einer ausdrücklich als solcher postulierten Regel sinnvolle und geregelte Praktiken hervorzubringen« (Bourdieu 1992: 99). Diese Fähigkeit führt Bourdieu auf sozialisatorische Prägungen zurück, die sich im Einzelnen als Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen niederschlagen und zusammen den Habitus der Person bilden. Sie bilden ein stillschweigendes, ein implizites Wissen und Können, das die Akteure befähigt »jenseits ausdrücklicher Reglementierung und des institutionalisierten Aufrufs zur Regel geregelte Praktiken und Praxisformen hervorzubringen« (Bourdieu 1979: 215). In Gestalt der Habitus-Feld-Theorie entwickelt Bourdieu aus seinen praxistheoretischen Grundüberlegungen eine holistische Sichtweise gesellschaftlicher Reproduktion, die über die Annahme eines Vorrangs von Handlungszusammenhängen gegenüber Einzelhandlungen weit hinausgeht: Die Dispositionen des Habitus sind sedimentierte Formen früheren Handelns und Erlebens in Gestalt dauerhaft eingeprägter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, welche die Akteure dazu disponieren, ihre Welt ganz selbstverständlich und nicht weiter reflexionsbedürftig in einer bestimmten Weise zu interpretieren und in einer entsprechenden Weise zu agieren. Sie formieren sich als Wiederspiegelung der objektiven Bedingungen der sozialen Lage der Akteure, als »mit diesen Bedingungen objektiv vereinbare und ihren Erfordernissen sozusagen vorangepaßte Dispositionen« (Bourdieu 1987: 100). Dadurch sind die Akteure zugleich auch habituell dazu disponiert, solche Praktiken zu produzieren, die es ihnen erlauben, sich in der jeweiligen sozialen Position, in der sie sich befinden, nicht nur zurechtzufinden, sondern auch zu Hause zu fühlen, was die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Struktur begünstigt: »Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte nach den von der Geschichte erzeugten Schemata« und gewährleisten damit »die Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen« (ebd.: 101). Es ist klar: Den Habitus als sozial erzeugtes Erzeugungsprinzip des Sozialen zu reklamieren heißt, Soziales durch Soziales zu erklären. 3. Argumente für den Atomismus Der in den letzten hundert Jahren wirkungsgeschichtlich einflussreichste Vorschlag eines atomistischen Erklärungsprogramms in den Sozialwissenschaften ist sicherlich der methodologische Individualismus Max Webers, demzufolge soziale Phänomene »›individualistisch‹, d. h.: aus dem Handeln der Einzelnen« (Weber 1972 [1922]: 9) zu erklären seien. Der Einfluss der sozialtheoretischen Grundannahmen auf den Erklärungsstil zeigt sich bei Weber deutlich. Er begründet die »›individualistische‹ Methode« (ebd.) ausdrücklich damit, dass seine handlungstheoretische Grundlegung der Soziologie eine Erklärung sozialer Phänomene aus dem Verstehen des individuellen Handelns erfordere: Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen. Für andre Erkenntniszwecke mag es nützlich oder nötig sein, das Einzelindividuum z. B. als eine Vergesellschaftung von ›Zellen‹ oder einen Komplex biochemischer Reaktionen, oder sein ›psychisches‹ Leben als durch (gleichviel wie qualifizierte) Einzelelemente konstituiert aufzufassen. Dadurch werden zweifellos wertvolle Erkenntnisse (Kausalregeln) gewonnen. Allein wir verstehen dies in Regeln ausgedrückte Verhalten dieser Elemente nicht. Auch nicht bei psychischen Elementen, und zwar: je naturwissenschaftlich exakter sie gefaßt werden, desto weniger: zu einer Deutung aus einem gemeinten Sinn ist gerade dies <?page no="106"?> Atomismus versus Holismus 107 niemals der Weg. Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung. (ebd.: 6) Weber begründet die individualistische Methode der Erklärung sozialer Phänomene mit einem grundlegenden Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erklärungen: Für naturwissenschaftliche Forschung bildet demnach die beobachtende Erklärung das gegenstandsangemessene Vorgehen (vgl. ebd.: 8). Die sozialwissenschaftliche Forschung darf sich darauf nicht beschränken. Sie muss vielmehr die »Mehrleistung der deutenden […] Erklärung« (ebd.) erbringen. Denn naturwissenschaftliche Phänomene sind erklärt, wenn man die Regeln ihres Ablaufes kennt und gegebenenfalls funktionale Zusammenhänge benennen kann. »Aber an diesem Punkt«, so Weber (ebd.: 7), beginnt erst die Arbeit der Soziologie (im hier verstandenen Wortsinn). Wir sind ja bei ›sozialen Gebilden‹ (im Gegensatz zu ›Organismen‹) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller ›Naturwissenschaft‹ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z. B. von Zellen nicht ›verstehen‹, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können. Aus der handlungstheoretischen Perspektive Webers bestehen soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken des Handelns von Einzelindividuen. Alle sozialen Gebilde sind »lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen« (ebd.: 6). Dieses Handeln versteht er als ein subjektiv sinnhaft motiviertes Verhalten, als ein Verhalten also, das stattfindet oder unterbleibt, weil der oder die Handelnde(n) mit ihm einen bestimmten Sinn verbinden oder nicht verbinden. Die Formulierung von Regeln, die den Ablauf eines sozialen Phänomens beschreibt, oder seine Verortung in einem funktionalen Zusammenhang reichen deshalb nicht aus, um das Phänomen zu erklären. Denn die betreffende Regelmäßigkeit oder den funktionalen Zusammenhang zu kennen, heißt nicht, dass man deshalb zugleich auch schon weiß, warum die involvierten Akteure in einer Weise handeln, die im Zusammenwirken der Beteiligten zu dieser Regelmäßigkeit oder jenem funktionalen Zusammenhang führt. Diese Frage kann erst das deutende Erklären beantworten. Stets beginnt deshalb, so Weber (1972 [1922]: 9), »die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen […] Glieder dieser ›Gemeinschaft‹, sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht? « Im Bereich der Naturphänomene stellt sich die entsprechende Frage danach, was die jeweils betrachteten Elemente motiviert, sich so zu verhalten wie sie sich verhalten, dagegen ganz offenkundig nicht, weshalb die Naturwissenschaften sich auf das beobachtende Erklären beschränken können. Umgekehrt ist die Beobachtung von Regelmäßigkeiten und funktionalen Zusammenhängen für die Soziologie Weber zufolge keineswegs unwichtig, sondern kann als Vorarbeit (vgl. Weber 1972 [1922]: 9) etwa dazu dienen, den Blick des Forschers auf die wichtigen Aspekte des zu erklärenden Zusammenhangs zu lenken (vgl. ebd.: 7). Nun fällt auf, dass Webers methodologischer Individualismus sich in einer wesentlichen Hinsicht von der atomistischen Gegenposition unterscheidet, gegen die Durkheim, Parsons, Mead <?page no="107"?> 108 Ingo Schulz-Schaeffer und viele andere argumentiert haben. Jene atomistische Gegenposition führt das Soziale ja nicht auf subjektiv sinnhaftes Handeln insgesamt zurück, sondern auf eine besondere Form subjektiv sinnhaften Handelns: auf das am individuellen Vorteil sinnhaft orientierte Handeln. Gegen diese Position verweisen Durkheim und Parsons auf vorgängige normative Fundamente des sozialen Zusammenlebens, welche die Handlungsorientierungen der Individuen prägen. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass diese normativen Strukturen sich unabhängig vom sinnhaften Handeln der Individuen zur Geltung bringen. Ganz im Gegenteil: Das »Kollektivbewusstsein« Durkheims, die Wertorientierung in der voluntaristischen Handlungstheorie von Parsons oder die gesellschaftlichen Handlungen Meads sind gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster, die sich im sinnhaften Handeln der Akteure verwirklichen-- nur eben so, dass die Individuen sich ihnen kaum entziehen können. Auf der anderen Seite verengt Weber die Handlungsgründe subjektiv sinnhaften Handelns keineswegs auf Motive individueller Interessenverfolgung, sondern behandelt auch normorientiertes Verhalten als subjektiv sinnhaftes Handeln-- besonders deutlich im Idealtypus des wertrationalen Handelns. Es stellt sich deshalb die Frage, wie das gleiche Phänomen, das bei Durkheim, Parsons und anderen das zentrale Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Herleitung des Sozialen bildet, nämlich die gesellschaftliche Strukturierung individueller Handlungsorientierungen, als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht. Die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz (und Thomas Luckmann) bietet eine Antwort auf diese Frage an, die jedoch, wie ich gleich zeigen will, eher geeignet ist, die Problemstellung des Verhältnisses von Atomismus und Holismus in der Soziologie klarer herauszuarbeiten als sie zu lösen. Alfred Schütz hält das atomistische Erklärungsprogramm Max Webers für eine der zentralen Grundlegungen der Soziologie überhaupt. »Niemals vorher«, so Schütz (1974 [1932]: 14), »war das Prinzip, die ›Welt des objektiven Geistes‹ auf das Verhalten Einzelner zu reduzieren, dermaßen radikal durchgeführt worden, wie in Max Webers Gegenstandsbestimmung der verstehenden Soziologie als einer Wissenschaft, welche die Deutung des subjektiven (nämlich des durch den oder die Handelnden gemeinten) Sinns sozialer Verhaltensweisen zum Thema hat.« Daran anknüpfend sieht Schütz seine eigene Aufgabe darin, dieses Erklärungsprogramm grundbegrifflich weiter auszuarbeiten und zu klären, wie subjektiver und wie intersubjektiver Sinn entsteht. Zur Klärung dieser Fragen bedient sich Schütz der von Edmund Husserl entwickelten Methode der phänomenologischen Reduktion und wendet sie auf die Analyse der Konstitution von Sinn im Bewusstsein an. Diese Analyse beruht darauf, von allen Gegebenheiten der Wirklichkeit radikal abzusehen, wie sie sich dem menschlichen Individuum mehr oder weniger unproblematisch als Tatsachen der natürlichen oder sozialen Welt darstellen, und allein auf die Bewusstseinsprozesse selbst zu blicken, die diese Wirklichkeitswahrnehmung hervorbringt (vgl. ebd.: 47 f., 55 f.). Schütz stellt sich mit anderen Worten ein wahrnehmungs- und bewusstseinsfähiges Individuum vor, für das die Wirklichkeit noch nicht sinnhaft konstituiert ist, das also über keine Konzepte und Begriffe verfügt, sodass die Wirklichkeit begriffslos und unbegriffen an ihm vorbeizieht. Die Frage lautet dann: Wie gelingt es diesem »einsamen Ich«, das in einem »Erlebnisstrom« zunächst nur »unabgegrenzte, ineinander stetig übergehende Erlebnisse« (ebd.: 68) registriert, daraus sinnhafte Erfahrungen zu bilden. Dazu, so die Antwort von Schütz, muss sich das Bewusstsein in der Erinnerung einer Phase des Erlebnisstroms zuwenden. Durch diese reflexive Zuwendung wird aus einer solchen Phase ein abgegrenztes Erlebnis (vgl. ebd.). Sinnhafte Erfahrungen entstehen, wenn das Bewusstsein derart abgegrenzte Erlebnisse miteinander in Beziehung setzt. Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1984: 13) formulieren dies wie folgt: <?page no="108"?> Atomismus versus Holismus 109 Wenn das Ich auf seine eigenen Erfahrungen […] zurückblickt, hebt es sie aus der schlichten Aktualität des ursprünglichen Erfahrungsablaufs heraus und setzt sie in einen über diesen Ablauf hinausgehenden Zusammenhang. […] Ein solcher Zusammenhang ist ein Sinnzusammenhang; Sinn ist eine im Bewußtsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung einer Erfahrung und etwas anderem. Im einfachsten Fall ist dieses andere eine andere als die aktuelle, so z. B. eine erinnerte Erfahrung. Die gerade vergangene Erfahrung, deren Erlebnisevidenz noch nachhallt, wird mit Bezug auf jene nur erinnerte als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw. erfasst. (vgl. auch Schütz 1974 [1932]: 69, 104; Schütz/ Luckmann 1979: 38, 81; Luckmann 1992: 31) Mit diesen Überlegungen will Schütz bzw. wollen Schütz und Luckmann nicht behaupten, dass die Sinngebilde, die den Wissensbestand des Einzelnen ausmachen, seinen subjektiven Wissensvorrat also, ausnahmslos von ihm selbst erzeugt wurden. Denn im empirischen Normalfall wird das Bezugsschema, durch welches das aktuelle Erlebnis zu einer sinnhaften Erfahrung wird, »etwas Verwickelteres als eine einzelne Erfahrung sein: ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung« (Schütz/ Luckmann 1979: 315)-- ein Auslegungsschema also, das aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat stammt. Dementsprechend wird von den Autoren durchaus betont, dass »der subjektive Wissensvorrat nur zum Teil aus ›eigenständigen‹ Erfahrungs- und Auslegungsresultaten besteht, während er zum bedeutenderen Teil aus Elementen des gesellschaftlichen Wissensvorrats abgeleitet ist« (ebd.: 314). Nichtsdestoweniger sind Schütz und Luckmann der Auffassung, dass trotz »dieser empirischen Priorität des gesellschaftlichen Wissensvorrats gegenüber jedem beliebigen subjektiven Wissensvorrat« (ebd.: 314 f.) eine »grundsätzliche Priorität des subjektiven Wissenserwerbs« (ebd.: 315) besteht: Den Ursprung des sozialen Wissensvorrats, genauer, der Elemente, die den sozialen Wissensvorrat bilden, kann man nur in subjektiven Erfahrungen und Auslegungen suchen. Dies bedeutet aber, daß in letzter Konsequenz der gesellschaftliche Wissensvorrat auf ›eigenständige‹ Erfahrungen und Auslegungen zurückverweist-- so sehr auch die Situationen, in denen die Erfahrungen und Auslegungen stattfinden […] durch ›faktische‹ soziale Gegebenheiten bedingt sein mögen. (ebd.) Damit ein Stück ursprünglich subjektiv generierten Sinns zu einem Element des gesellschaftlichen Wissensvorrates werden kann, muss es zuerst in intersubjektiv geteilten Sinn überführt werden, dann in Objektivationen gespeichert und schließlich institutionell verfestigt werden. Die Entstehung intersubjektiven Sinns lässt sich Schütz zufolge nicht auf der Grundlage der phänomenologischen Analyse des einsamen Ich erklären. Sie erfordert die Einführung von Zusatzannahmen: Um die subjektiven Bewusstseinsvorgänge wechselseitig auf eine Weise zu verstehen, dass gemeinsam geteilter Sinn entsteht, müssen die Beteiligten demnach zutreffend von der Unterstellung ausgehen, dass der jeweils andere die Wirklichkeit grundsätzlich so wahrnimmt und sinnhaft so deutet wie man selbst (Generalthese der wechselseitigen Perspektiven, vgl. Schütz/ Luckmann 1979: 88 f.). Durch Objektivationen-- insbesondere durch Objektivationen in Sprache-- werden die auf dieser Grundlage erzeugten intersubjektiven Bedeutungen ablösbar von der direkten Interaktionssituation ihrer Generierung (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 39). Wenn dieser Entstehungsprozess in Vergessenheit gerät und die Individuen mit unhinterfragter <?page no="109"?> 110 Ingo Schulz-Schaeffer Selbstverständlichkeit auf das betreffende Sinnelement rekurrieren, ist es zum institutionalisierten Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrates geworden (vgl. ebd.: 65). Folgt man dieser Argumentation, dann ist jede sinnhafte Strukturierung der Sozialwelt ein Resultat ursprünglich subjektiver Sinnbildung. Nicht nur soziale Institutionen, in denen die egoistischen Handlungskalküle der Individuen in institutionell verfestigter Form zum Ausdruck kommen, sind also letztlich nur methodologisch individualistisch zu erklären. Gleiches gilt in entsprechender Weise für die Entstehung der normativen Strukturen des Sozialen. Wir haben es dementsprechend hier mit einer Ausweitung des atomistischen Erklärungsprogramms über das vertragstheoretische Denken hinaus auf alle sozialen Gebilde und deren jeweilige Sinngrundlagen zu tun. Beantwortet dies die zuvor aufgeworfene Frage, wie normativ strukturiertes Handeln als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht? Die Antwort scheint mir in doppelter Hinsicht »Nein« zu lauten, wobei der eine Einwand die Vorgegebenheit des gesellschaftlichen Wissensvorrates betrifft und der andere dessen Gegebenheitsweise als institutionalisiertes Wissen. Schütz und Luckmann sind der Auffassung, dass »die Vorgegebenheit eines gesellschaftlichen Wissensvorrats und die ›Sozialisierung‹ subjektiver Wissenselemente ausgeklammert werden« könnten, »ohne daß dadurch die Grundformen des subjektiven Wissenserwerbs verzeichnet« würden (Schütz/ Luckmann 1979: 315; vgl. ebd.: 154 ff.). Subjektiver Wissenserwerb wäre mit anderen Worten grundsätzlich auch dann möglich, wenn es keinen vorgegebenen gesellschaftlichen Wissensvorrat gäbe. Was aber sind die Konsequenzen dieser Überlegung? Empirisch betrachtet wächst jedes Gesellschaftsmitglied in einer Umgebung auf, in der es auf eine Fülle vorgegebener Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats stößt. Es dürfte dementsprechend, wenn überhaupt, ein seltener Ausnahmefall sein, dass subjektive Sinnbildung ohne Bezugnahme auf ein gesellschaftlich vorgeprägtes Auslegungsschema erfolgt. Auch wenn die sinnhafte Einordung des aktuellen Erlebnisses in den Sinnzusammenhang selbstverständlich eine subjektive Bewusstseinsleistung ist, lässt sich die erfolgte Sinnbildung aus diesem Bewusstseinsprozess allein nicht erklären. Die Berücksichtigung des Einflusses des vorgegebenen Auslegungsschemas muss hinzukommen, ein holistisches Element der Erklärung also. Damit ist noch nicht unbedingt gesagt, dass sich dieser Einfluss hinter dem Rücken der Akteure geltend macht. Denn wir wollen den Individuen die Fähigkeit ja nicht grundsätzlich absprechen, über den Sinn vorgegebener Sinngehalte sinnhaft reflektieren zu können. Wenn die gesellschaftlich vorgegebenen Sinnmuster allerdings in Form institutionalisierten Wissens vorliegen, ist diese Möglichkeit des subjektiv sinnhaften Nachvollzugs begrenzt. Denn institutionalisiertes Wissen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Individuen es mit fragloser Selbstverständlichkeit als gültig ansehen und demnach über den Sinn dieses Sinns gerade nicht reflektieren. Hier haben wir es dementsprechend in der Tat mit Sinnmustern zu tun, deren Wirkung auf das Denken und Handeln der Akteure sich hinter deren Rücken vollzieht-- ein Einfluss des gesellschaftlichen Ganzen auf die Teile, der sich mit den Mitteln atomistischer Erklärung kaum angemessen erfassen lässt. 4. Atomismus und Holismus Dem atomistischen Erklärungsprogramm der handlungstheoretischen Soziologie geht es darum, die Erklärungsmöglichkeiten zu ergreifen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass menschliches Handeln sinnhaft gesteuertes Verhalten ist. Dieses Anliegen hat Hartmut Esser mit dem folgenden Ausspruch sehr schön auf den Punkt gebracht: »Nicht die Konventionalregel des Grußes nimmt […] den Hut vom Kopf, sondern immer nur ein Akteur, der dafür seine Gründe hat.« <?page no="110"?> Atomismus versus Holismus 111 (Esser 1993: 96) Esser sieht aber auch, dass die aktuelle Sinnbildung des Individuums durchaus hochgradig durch bestehende Sinnmuster strukturiert sein kann. Dann, so Esser (1999: 355), »reagieren menschliche Akteure-- wie konditionierte Tauben oder Ratten-- ganz spontan, intuitiv und automatisch darauf-- und zwar in der Weise, wie das bis dahin in ähnlichen Situationen gelernt worden ist und üblich war«. Einige soziologische Ansätze sehen es als ausgemacht an, dass die Sinnbildung, die für die Strukturierung des Sozialen verantwortlich ist, sich wesentlich hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Dann reduziert sich das Handeln in der Tat im Wesentlichen auf die konditionierte Reaktion und der menschliche Akteur ist mit Blick auf die Hervorbringung sozialer Phänomene nicht viel mehr als ein »kultureller Depp« (vgl. Garfinkel 1967: 68). In diese Richtung gehen insbesondere die Praxistheorie und die soziologische Systemtheorie. Im Fall der Praxistheorie liest sich das dann so: Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ›Handeln‹ ›anleitet‹; dies schließt teleologische Elemente nicht aus, die Praxistheorie betrachtet diese jedoch nicht als explizite und diskrete ›Zwecke‹ oder ›Interessen‹, sondern als sozial konventionalisierte, implizite Motiv/ Emotions-Komplexe, die einer Praxis inhärent sind, in die die einzelnen Akteure ›einrücken‹ und die sie möglicherweise als ›individuelle Interessen‹ umdefinieren. (Reckwitz 2003: 293) Und in der Sache ganz ähnlich urteilt Niklas Luhmann: »Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personenkenntnis voraussehen, und entsprechend gilt ihre Beobachtung von Handlungen oft, wenn nicht überwiegend, gar nicht dem Mentalzustand des Handelnden, sondern dem Mitvollzog der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems.« (Luhmann 1984: 229) 5 Andere soziologische Ansätze plädieren dagegen dafür, soziale Phänomene durchgängig als Effekte eines im Kern bewusst und rational reflektiert sinnhaften Handelns von Individuen zu rekonstruieren. Diese Sichtweise wird-- in der Tradition des vertragstheoretischen Denkens und des methodologischen Individualismus-- am entschiedensten von Vertretern der Theorie rationaler Handlungswahl vertreten (vgl. z. B. Coleman 1991: 13-27). Im Gegensatz zu beiden Gruppen solcher Ansätze ist die Soziologie als empirische Wirklichkeitswissenschaft gut beraten, die Frage, ob und in welchem Maße ein soziales Phänomen auf eigenständige subjektive Sinnbildung zurückgeht oder durch vorgegebene gesellschaftliche Sinnmuster hervorgebracht wird, nicht konzeptuell vorzuentscheiden. Soziologische Theoriebildung sollte den Sozialforscher vielmehr in die Lage versetzen, empirisch von Fall zu Fall überprüfen zu können, zu welchen Anteilen die atomistische oder die holistische Erklärungsrichtung zur Erklärung des interessierenden sozialen Phänomens beiträgt. In der Soziologie sollte es also nicht »Atomismus versus Holismus« (oder umgekehrt) heißen, sondern Atomismus und Holismus. Der wahrscheinlich bekannteste Versuch, die atomistische und die holistische Erklärungsrichtung nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als einander ergänzende Betrachtungsweisen zu erfassen, ist das von Anthony Giddens vorgeschlagene Konzept der Dualität von Struktur. Mit diesem Begriff bezeichnet Giddens, »daß gesellschaftliche Strukturen sowohl durch das menschliche Handeln konstituiert werden, als auch zur gleichen Zeit das Medium dieser Konstitution sind« (Giddens 1984: 148). Seine konzeptionelle Ausarbeitung dieses wechselseiti- 5 Für die Hilfe beim Wiederauffinden dieses Zitats danke ich Pascal Geißler. <?page no="111"?> 112 Ingo Schulz-Schaeffer gen Bedingungs- und Ermöglichungszusammenhangs von Handlung und Struktur weist eine deutliche Nähe zur praxistheoretischen Argumentation auf: Giddens zufolge existieren soziale Gebilde in Gestalt reproduzierter sozialer Praktiken. Soziale Strukturen besitzen dementsprechend keine eigenständige Existenz jenseits des Handelns der Akteure. Vielmehr gilt, »daß Struktur, als raum-zeitliches Phänomen, nur insofern existiert, als sie sich in solchen Praktiken realisiert und als Erinnerungsspuren, die das Verhalten bewußt handelnder Subjekte orientieren« (Giddens 1992: 69). In der holistischen Erklärungsrichtung wird das individuelle Handeln durch die bereits bestehenden sozialen Praktiken angeleitet. In der atomistischen Erklärungsrichtung ist es das Handeln der Akteure, durch das diese Praktiken hervorgebracht werden. Nun ist Giddens im Einklang mit praxistheoretischem Denken zudem der Auffassung, dass das Handeln der Akteure zumeist im Modus des »praktischen Bewusstseins« erfolgt (vgl. ebd.: 73), d. h. als Handeln auf der Grundlage stillschweigenden Wissens (vgl. ebd.: 36, 431), und dass die Praktiken typischerweise die Gestalt von Routinen und Gewohnheiten haben. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass seine Konzeption der Dualität von Struktur am Ende doch darauf hinausläuft, dass sich die Struktur hinter dem Rücken der Akteure in deren Handeln durchsetzt, betont Giddens ganz ausdrücklich die Bewusstheit menschlichen Handelns: Auch das Handeln im Modus des praktischen Bewusstseins ist seinem Verständnis nach ein bewusstes Handeln, dessen Gründe der Akteur anzugeben in der Lage wäre, wenn er gefragt würde. Nur ist der Handlungssinn den Beteiligten eben in der Regel stillschweigend klar, sodass kein Erläuterungsbedarf besteht (vgl. ebd.: 55 ff.). An diesem Punkt zeigen die Überlegungen von Giddens allerdings eher das Problem und den Lösungsansatz auf, als selbst bereits eine befriedigende Lösung vorzuweisen: Als Lösungsansatz bietet es sich an, mit dem sozialtheoretischen Grundbegriff der Handlung bzw. des Handelns zu operieren. Denn das Handeln, verstanden als ein sinnhaftes Verhalten, kann sowohl in der Form des bewusst sinnhaften und des durch eigenständige Sinnbildung motivierten Handelns vorkommen (und begrifflich gefasst werden) wie auch in der Form des durch vorgegebene Sinnmuster sinnhaft strukturierten Handelns. Im letzten Fall kann die Sinngebung des Handelns dann auch ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit des Akteurs erfolgen. Mit dem Handlungsbegriff liegt also ein sozialtheoretischer Grundbegriff vor, der dem Begriff der Praxis, der Kommunikation und der Interaktion darin überlegen ist, dass auf seiner Grundlage atomistische wie auch holistische Erklärungen sozialer Phänomene angefertigt werden können (vgl. Schulz-Schaeffer 2010). Das Problem besteht darin, das bewusste und das stillschweigende Handeln einerseits begrifflich trennscharf genug zu halten (was Giddens nicht gelingt), um mit den Begriffen die atomistische wie die holistische Formierungsrichtung des Sozialen erfassen zu können. Anderseits gilt es, beide Formen des Handelns in einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu bringen. Ein Ansatz einer integrativen Handlungstheorie, der diese Zielsetzung verfolgt, ist das von Hartmut Esser vorgeschlagene Modell der Frame-Selektion (vgl. Esser 2001: 259 ff.). Dieses Modell, so Esser (2003: 360), dient dazu, neben den ›rationalen‹ Anreizen und Erwartungen, auch die ›mentalen Modelle‹ der Menschen, ihre Weltbilder, Vorstellungen, Erwartungserwartungen und die kulturellen ›kollektiven Repräsentationen‹ in die soziologischen Erklärungen einzubeziehen und damit den (subjektiven) ›Sinn‹, den die Menschen mit ihrem Tun, nicht immer ›bewusst‹ freilich, verbinden und über den sie die Situationen mehr oder weniger fest ›definieren‹. Mit dem Modell der Frame-Selektion greift Esser die in der Sozialpsychologie entwickelten Dual-Process-Modelle auf (vgl. Chaiken/ Trope 1999), wobei er sich insbesondere an einem <?page no="112"?> Atomismus versus Holismus 113 dieser Modelle, dem so genannten MODE-Modell orientiert (vgl. Fazio 1990; Fazio/ Towles- Schwen 1999). Die Dual-Process-Modelle resultieren aus experimentell gewonnenen empirischen Befunden der Sozial- und Kognitionspsychologie. Diese Befunde besagen, dass die Situationswahrnehmung und Handlungsorientierung der Versuchspersonen durch zwei komplementäre kognitive Fähigkeiten erzeugt wird: Auf der einen Seite sind sie in der Lage, die sich wiederholenden bzw. stabilen Merkmale ihrer natürlichen und sozialen Umwelt schnell und mühelos wahrzunehmen. Diese Form der Wahrnehmung erfolgt auf der Grundlage kognitiver Repräsentationen, mentaler Modelle, die automatisch und ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit der Akteure aktiviert werden (vgl. Bargh 1999). Sie versorgt die Akteure in der jeweiligen Situation mit einem Wissen darüber, was wann, wo und von wem zu erwarten ist, und sorgt dafür, dass die Wirklichkeit von ihnen als sinnvoll geordnet und vorhersehbar erfahren wird (vgl. Macrae/ Bodenhausen 2000: 94). Dieser Form der Wahrnehmung steht auf der anderen Seite die Fähigkeit gegenüber, für Unerwartetes sensibel zu sein, zu erkennen, wenn die automatisch aktivierten Situationsdeutungen und Handlungsmuster nicht passen, um dann auf der Grundlage bewusster Situationswahrnehmung und eigenständiger Sinnbildung zu einer Situationsdeutung und einem Handlungsplan zu gelangen (vgl. Fazio 1990: 89 ff.). Der Kern der Dual-Process-Modelle und ebenso auch der Kern des Modells der Frame-Selektion besteht darin, den Wechsel zwischen diesen beiden Formen der Wahrnehmung- - bzw. die Art und Weise, wie sie sich ergänzen, überlagern oder miteinander konkurrieren-- konzeptionell zu erfassen. Der Umstand, dass nach wie vor eine Mehrzahl unterschiedlicher Dual-Process- Modelle nebeneinander bestehen, aber auch die Weiterentwicklungen und aktuellen Diskussionen über das Modell der Frame-Selektion (vgl. z. B. Schulz-Schaeffer 2008) zeigen, dass an diesem Punkt noch Diskussionsbedarf besteht. Die Bemühungen um eine integrative Handlungstheorie setzen konzeptionell direkt an dem Schalthebel an, dessen Stellung darüber entscheidet, ob für das interessierende soziale Phänomen eine atomistische oder eine holistische Erklärung bevorzugt werden sollte: Wenn die Situationsdeutung und die Bildung der Handlungsorientierung sich als automatischer Prozess vollzieht, in dem der Handelnde stillschweigend auf gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster rekurriert, ist die holistische Erklärungsrichtung vorzuziehen. In diesem Fall gilt es, Soziales durch Soziales zu erklären. Denn das Handeln wird hier viel eher durch ein Wissen darüber erklärt, welche vorgeprägten Sinnmuster der gesellschaftliche Wissensvorrat für welche Situationen bereithält, als durch ein deutendes Verstehen des subjektiven Handlungssinns der Akteure (welches im Übrigen ja auch nichts anderes als eben dies zum Vorschein bringen könnte). Dort, wo dem Handeln eine eigenständige Sinnbildung und bewusste Handlungsplanung zugrunde liegt- - sei es, weil der gesellschaftliche Wissensvorrat kein passendes Sinnmuster zur Bewältigung der betreffenden Situation bereitstellt (oder dem Akteur das diesbezügliche Wissen fehlt), sei es, weil ein entsprechendes Sinnmuster subjektiv sinnhaft überformt oder ergänzt wird- - kommt es dagegen auf das deutende Verstehen des subjektiven Handlungssinns an. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen aus gesellschaftlich vorgeformten Sinnmustern übernommen werden, verlangen die resultierenden sozialen Phänomene nach einer holistischen Erklärung. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen bewusst sinnhaft subjektiv generiert wird, können die resultierenden sozialen Phänomene angemessen nur atomistisch erklärt werden. Die beiden Erklärungsrichtungen schließen sich dabei in keiner Weise wechselseitig aus. Dies umso weniger, als im empirischen Normalfall damit zu rechnen ist, dass die aktuelle Sinnbildung menschlicher Akteure sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen aus beiden Quellen zugleich speist. <?page no="113"?> 114 Ingo Schulz-Schaeffer Literatur Aristoteles (1980): Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z)- - XIV (N). In der Übersetzung von Hermann Bonitz, neu bearbeitet mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg. Bargh, J. A. (1999): The cognitive monster: Evidence against the controllability of automatic stereotype effects. In: Chaiken, Shelly/ Trope, Yaacov (Hg.): Dual process theories in social psychology. New York [u. a.], 361-382. Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/ M. Blumer, Herbert (1973 [1969]): Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. 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Dazu gehörten: ● der rasante Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft und das »Wirtschaftswunder« der 1950er-Jahre, ● die in den 1960er-Jahren einsetzende Bildungsexpansion, ● Ende der 1960er-Jahre die Studentenbewegung, wenige Jahre später das Aufkommen der Bürgerinitiativen und die Gründung der »Grünen«, ● die »Ölkrise« und das Ende der Vollbeschäftigung seit Mitte der 1970er-Jahre, ● den Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 und die deutsche Wiedervereinigung, ● die in den 1990er-Jahren einsetzende rapide Verdichtung der weltweiten kommunikativen Vernetzung in allen Lebensbereichen durch das Internet, ● die im selben Zeitraum beginnende öffentliche Thematisierung des von Menschen gemachten drohenden Klimawandels, ● der 11. September 2001 als Menetekel des den Westen bedrohenden islamistischen Terrorismus, ● die Einführung des Euro als gemeinsame Währung von immer mehr europäischen Ländern im Jahr 2002. Vorausgegangen war ein jahrzehntelanger Prozess des europäischen Zusammenwachsens seit Gründung der Montanunion mit den Mitgliedern Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und Westdeutschland im Jahr 1951, ● die im neuen Jahrhundert viel zu spät auf die politische Agenda gebrachte demografische Entwicklung hin zu einer stetig alternden Gesellschaft, ● sowie die im Herbst 2008 explosiv ausbrechende Weltfinanzkrise, die die Weltwirtschaft und die Staatsfinanzen noch auf Jahre tiefgreifend prägen wird. Fortsetzung folgt! Diese sehr unvollständige Auflistung von Problemen, aber auch Chancen macht deutlich, in welchem Maße zahlreiche sich gleichzeitig vollziehende und in oftmals komplexen Wechselwirkungen miteinander verknüpfte Veränderungsdynamiken den sozialen Wandel kennzeichnen. Manche Zeitdiagnostiker gehen davon aus, dass eine immer größere Beschleunigung des Wandels aller Lebensverhältnisse zum Signum der Gegenwartsgesellschaft geworden sei, womit wir alle irgendwie zurechtkommen müssen (Rosa 2005). Dem widerspricht auf den ersten Blick eine ebenfalls häufig geäußerte Sichtweise, die auf Stillstand, Reformstaus, Blockaden hinweist: Vieles müsse sich grundlegend ändern, aber nichts passiere. So verhielt es sich etwa in der Endphase der DDR, und-- als ein weniger dramatisches Beispiel-- viele warteten bis Ende der 1990er-Jahre auf lange ausbleibende und sich bis heute nur zögernd vollziehende Veränderungen des deutschen Hochschulsystems. Der scheinbare Gegensatz löst sich auf, wenn man sich vor Augen führt, dass sozialer Wandel einerseits naturwüchsig geschieht-- zwar als Ergebnis des han- <?page no="116"?> Planung versus Evolution 117 delnden Zusammenwirkens vieler Menschen, aber von keinem geplant- -, dass wir andererseits aber in der Moderne der Idee anhängen, diesen Wandel mit Blick auf bestimmte Zielvorstellungen, die wir unter der Generalformel »Fortschritt« bündeln, gestalten zu können. Dass »nichts« passiert, kann dann eben bei genauerem Hinsehen auch heißen: Es passiert nicht das »Richtige«, das als notwendig Erachtete. Was uns also offensichtlich zunehmend Probleme bereitet, ist ein sozialer Wandel, der aus dem Ruder läuft-- wobei schwer zu beurteilen ist, ob der Wandel tatsächlich immer ungesteuerter vonstattengeht oder ob wir immer unrealistischere Steuerungsambitionen hegen. Sozialer Wandel ist selbstverständlich kein Spezifikum der Moderne. Tiefgreifenden, schnellen, häufigen und abrupten Wandel gesellschaftlicher Strukturen gab es bereits in der Vormoderne, und keineswegs nur als Ausnahmephänomen. Für die Moderne charakteristisch ist allerdings eine spezifische Wahrnehmung und Bewertung von sozialem Wandel. Die Moderne sieht sich gleichsam als Dauerbaustelle. Das hat zum einen die positive Konnotation, dass Wandel intentional gestaltet wird; es gibt, um im Bild zu bleiben, Baupläne, die man umzusetzen versucht. Zum anderen kommt man damit aber offenbar nie an ein Ende-- und das liegt nicht allein daran, dass man sich unaufhörlich Verbesserungen einfallen lässt, sondern auch daran, dass die Umsetzung der Baupläne selten so richtig gelingt. Letzteres ist die negative Seite sozialen Wandels, wie er in der Moderne erlebt wird. Mal entpuppen sich die Baupläne als nicht richtig durchdacht, mal kommen zu viele Bauherren einander ins Gehege. Oder es passieren handwerkliche Schlampereien und Fehler sowie Schicksalsschläge, mit denen niemand rechnen konnte. Anders gesagt, ist sozialer Wandel in der Moderne durch ein Wechselspiel von Intentionalität und Transintentionalität geprägt. 1 Die dafür häufig benutzten plakativen Gegenbegriffe lauten »Planung« auf der einen, »Evolution« auf der anderen Seite. In einer hier zunächst zugrunde gelegten weiten begrifflichen Fassung, die auch nahe am Alltagsverständnis ist, heißt Planung ein auf Gestaltung- - z. B. von sozialem Wandel- - ausgerichtetes Handeln mit anspruchsvollen, sich deutlich vom Status quo absetzenden Zielsetzungen, das in zeitlicher Hinsicht weit über den üblicherweise dem Handeln zugrunde liegenden Zukunftshorizont hinausschaut, sich in sachlicher Hinsicht um eine möglichst umfassende Informationsverarbeitung bemüht und in sozialer Hinsicht nach möglichst großem Konsens über Ziele und Wege dahin strebt (Schimank 2005: 312/ 313). Gegenüber solchen- - im wortwörtlichen Sinne- - Planungsanstrengungen stellt Evolution den Gegenpol eines ungestalteten, naturwüchsigen Geschehens dar. Auf sozialen Wandel bezogen bedeutet das: Variationen des Status quo wie z. B. technische Innovationen, neue Handlungspraktiken oder andere normative Regeln stellen sich zufällig als unbeabsichtigte Handlungseffekte ein; die meisten dieser Variationen erweisen sich in kürzester Frist als nicht überlebensfähig und verschwinden wieder von der Bildfläche; ganz wenige setzen sich doch dauerhaft gegenüber dem Status quo durch, werden selbst auf unbestimmte Zeit zum Status quo, um dann irgendwann durch eine neue erfolgreiche Zufallsvariation abgelöst zu werden. 2 1 Siehe zu diesem Wechselspiel allgemein anhand verschiedener Sozialtheorien Greshoff et al. (2003). 2 Im Anschluss an Charles Darwins Entdeckung der biologischen Evolution und die weitere Ausarbeitung der biologischen Evolutionstheorie (einführend: Mayr 2001) haben seit Herbert Spencer Sozialwissenschaftler dieses Evolutionsverständnis auch auf die Sozialwelt übertragen. Ein strenges neodarwinistisches Evolutionskonzept sozialen Wandels müsste wie oben angedeutet Variations-, Selektions- und Retentionsmechanismen sowie deren Zusammenspiel ausmachen, was sowohl für die Gesellschaftsals auch für die Organisationsebene bislang noch nicht über suggestive Analogien <?page no="117"?> 118 Uwe Schimank Es wird sich zeigen, dass beide Begriffe-- Planung wie Evolution-- in Reinkultur wenig mit der Wirklichkeit sozialen Wandels zu tun haben. Doch sie markieren gemeinsam das Spektrum, in dem sich sozialer Wandel in der Moderne tatsächlich vollzieht. Genau besehen gab es bereits in vormodernen Gesellschaften vielfache intentionale Gestaltungsbemühungen. Doch diese Bemühungen waren nicht bloß in quantitativer Hinsicht in der Regel deutlich kleiner dimensioniert und insgesamt auch seltener, sondern vor allem von einer völlig anderen Qualität. In einem fundamentalen Sinne erlebten die in vormodernen Gesellschaften Lebenden intentionale Gestaltungsbemühungen als entbehrlich, während sich die Moderne existentiell auf Selbstgestaltung angewiesen sieht. Dieser Erfahrungsunterschied hat nichts mit den »objektiv« gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, etwa der Abhängigkeit gesellschaftlichen Lebens von bestimmten Naturgegebenheiten. Diesbezüglich konnten es sich gerade auch frühere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens bei Strafe ihres Untergangs nicht leisten, die Dinge einfach laufen und auf sich zukommen zu lassen-- weswegen etwa schon im dritten Jahrtausend vor Christi Geburt in Mesopotamien die Priesterfürsten mit einem großen Verwaltungsapparat die Bewässerung der Äcker organisierten, um mit den dortigen klimatischen Bedingungen zurechtzukommen. Aber wenn in vormodernen Gesellschaften aufgrund unterlassener Gestaltungstätigkeit Katastrophen passierten, ließ sich das-- bis hin zu mitursächlicher menschlicher Sorglosigkeit-- in letzter Instanz Gottes Willen oder kosmischen Fügungen zurechnen, also einer »höheren Macht«, der die Menschen sich beugen müssen. Diese Art eigener Verantwortungslosigkeit haben die Menschen in der Moderne nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Sie sehen sich in der alleinigen kollektiven Verantwortung dafür, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie zusammenleben, gestaltet sind. Genau deshalb starren sie geradezu obsessiv auf die Geschehnisse des sozialen Wandels und sehen sich sogleich zum Eingreifen bemüßigt, wenn er Unerwünschtes bringt. Diese spezifisch moderne Erfahrung sozialen Wandels zwischen Planung und Evolution soll im Folgenden in ihren markanten Zügen herausgearbeitet werden. Ausgangspunkt muss hierfür die zentrale Idee der Kultur der Moderne sein: gestalteter Fortschritt. Denn diese Idee in der Fassung, wie sie in der Renaissance und dann von den Denkern der Aufklärung geprägt wurde und seitdem hegemonialen Status in den Köpfen der großen Mehrheit aller Gesellschaftsmitglieder erlangt hat, diskreditiert Evolution als Verlaufsfigur sozialen Wandels sehr weitgehend und fordert den gesellschaftlichen Akteuren stattdessen Planung ab. Doch Planung erweist sich in komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie die Moderne aufweist, schnell als vergebliche Liebesmühe. Zwischen unmöglicher Planung und unerwünschter Evolution findet dann eine Parallelbewegung statt: auf der einen Seite eine Anspruchsreduktion der Gestaltungsambitionen von Planung, auf der anderen Seite eine Anspruchssteigerung von bloßer Evolution zu deren gestalterischer Rahmung. So stellt sich von beiden Extremen her Realismus ein. 1. Gestalteter Fortschritt als Leitidee der Moderne Eine zentrale Leitidee der Moderne besteht in der Vorstellung von Gesellschaftsgeschichte und darin aufgehobener je individueller Lebensgeschichte als gestaltetem Fortschritt. Die schon in der Antike beginnende und sich dann in der frühen Neuzeit entscheidend intensivierende Ausformulierung der Fortschrittsidee lässt sich- - jenseits der im Einzelnen sehr komplizierten und hinaus ausgearbeitet worden ist- - siehe für Gesellschaft vor allem Luhmann (1997: 413-594), für Organisationen McKelvey/ Aldrich (1983). <?page no="118"?> Planung versus Evolution 119 unterschiedlichste Frontlinien aufweisenden Deutungskämpfe und vielfältigen Lesarten durch einzelne Protagonisten-- logisch als Kombination von sieben Komponenten rekonstruieren. 3 Die erste Komponente ist ein lineares Zeitverständnis, das den Blick auf eine offene Zukunft richtet. Dass es »nichts Neues unter der Sonne« gebe, wird zurückgewiesen, auch in der Variante einer zyklischen Wiederkehr des Gleichen, etwa als Oszillation zwischen immer wieder sich ereignendem Aufstieg, der unweigerlich in den Niedergang führt, woraus dann ein neuerlicher Aufstieg erfolgt, usw. Stattdessen proklamiert die Fortschrittsidee: Es gibt sozialen Wandel, der genuin Neues bringt. Jede Generation erlebt Dinge, die »die Alten« so noch nicht gekannt haben. Fortschritt wird dabei vor allem deshalb zur »endlosen Zielverschiebung, weil die Zwecke, die der Fortschritt erfüllen soll, selber als fortschreitend entworfen werden« (Koselleck/ Meier 1975: 352). Die zweite Komponente der Fortschrittsidee bewertet das Neue auf eindeutige Weise: Die Zukunft wird besser sein als die Gegenwart, und diese ist besser, als es die Vergangenheit war. Zurückgewiesen wird damit zunächst einmal jede Art von Niedergangsvorstellung: dass es immer schlechter um die Welt stehe. Auch eine gemischte Bilanz der Zukunft entspricht nicht der Fortschrittsvorstellung: dass sich Gutes und Schlechtes mehr oder weniger die Waage hielten oder das Gute zwar überwöge, aber doch zu viel Schlechtes mit sich brächte. Schließlich setzt sich die Fortschrittsidee auch über jede Geschichtsdeutung hinweg, der zufolge es darum gehen müsse, ein früheres »goldenes Zeitalter« wiederherzustellen, wie es etwa im christlichen Geschichtsbild formuliert ist: Startpunkt war das Paradies, Endpunkt wird die Wiederherstellung des Paradieses im ewigen Leben sein. Die dritte Komponente der Fortschrittsidee besagt: Die verschiedenen Fortschrittsbewegungen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen verknüpfen sich zu einer gesellschaftlich flächendeckenden Gesamtentwicklung. Dies unterscheidet sehr augenfällig die Moderne von Fortschrittsvorstellungen, wie sie auch schon in verschiedenen Phasen der Antike durchaus verbreitet waren. Dass es überhaupt Fortschritt in der Welt gebe, ist keine spezifisch moderne Idee. Doch die Griechen sahen ihn eben erstens längst nicht überall, sondern nur im zivilisierten Teil der Welt, und dort hauptsächlich in allen Arten der Technik, auch im wissenschaftlichen Wissen über die Welt und in den Künsten-- ob es hingegen auch einen Fortschritt der Institutionengestaltung, etwa politischer Herrschaft, oder einen moralischen Fortschritt gebe, war schon fraglich. Zudem vollzogen sich diese verschiedenen Fortschritte weitgehend unverbunden nebeneinander. Erst in der Moderne wird von gesellschaftlichem Fortschritt im »Kollektivsingular« gesprochen, der sachlich »die Summe aller Einzelfortschritte in sich bündelt« (Koselleck/ Meier 1975: 388) und sozial die Menschheit als Ganze erfasst. Die vierte Komponente der modernen Fortschrittsidee erhebt die Menschen zu Trägern des Fortschritts. Damit werden sämtliche religiösen-- insbesondere christlichen-- Vorstellungen darüber, dass ein Gott, und sei es in allerletzter Instanz, den Geschichtsverlauf lenkt, zurückgewiesen. Schon im Mittelalter entwickelte das Christentum-- mit Thomas von Aquin und Joachim von Fiore als wichtigsten Denkern-- die Vorstellung, dass es bereits vor dem Jüngsten Tag genuine Fortschritte menschlichen Daseins geben könne und dass, noch wichtiger, die Menschen dies selbst mit in der Hand hätten, sich dabei also nicht einfach auf Gottes lenkende Hand verlassen 3 Das Folgende beruht auf den ideengeschichtlichen Überblicksdarstellungen von Koselleck/ Meier (1975), Nisbet (1980), Oeing-Hanhoff (1981) und Rapp (1992). Siehe weiterhin noch Marquard (1973) zur Geschichtsphilosophie und Westby (1991) zum Fortschrittsdenken in der Soziologie. Durchaus beträchtliche Unterschiede zwischen diesen Darstellungen können hier nicht eigens notiert und kommentiert werden. <?page no="119"?> 120 Uwe Schimank dürften. Auch ihr irdisches Leben müsse kein einziges Jammertal bleiben, wenn sie sich ernsthaft um Verbesserungen bemühten. Diese Denkfigur ist der eine Übergang zur modernen Fortschrittsidee, insofern explizit menschliche Gestaltungsspielräume ausgemacht werden. Die andere Übergangs-Denkfigur, die dann bis weit in die Moderne hinein wirkte, bestand darin, Gott nur noch als »ersten Beweger« zu konzipieren, der gleichsam das Spielfeld und die Spielregeln konzipiert und die Spielfiguren auf ihre Startpositionen gesetzt hat, aber den Spielverlauf fortan den Spielern und ihren Auseinandersetzungen überlässt. Hier sind noch mehr Entfaltungsmöglichkeiten des menschengemachten Fortschritts vorgesehen-- wobei man freilich auch scheitern kann. Schließlich ist es irgendwann nur noch ein kleiner Schritt, den ganz weit zurückliegenden Auftritt des »ersten Bewegers« gedanklich einzuklammern-- als ob es ihn nie gegeben hätte-- und schließlich ganz zu vergessen. Dann hegt man eine konsequent säkularisierte Fortschrittsvorstellung. Fortschritt als Menschenwerk zu denken, verweist erst einmal auf individuelle Personen und deren Tun. In der Moderne haben sich allerdings- - als fünfte Komponente der Fortschrittsidee- - drei Arten von Akteuren herausgebildet, die als Adressaten des gesellschaftlichen Fortschrittsstrebens gelten: Neben Individuen sind das Organisationen und Nationalstaaten (Meyer/ Jepperson 2000). Ihnen allen wird »actorhood« mit ihren verschiedenen Ingredienzien-- wie Willenseinheit, Autonomie, Kognitions-, Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, Selbstkontrolle, Ausbildung von Orientierungen und Intentionalität (Meier 2009: 82-97)- - zugerechnet; und dieser Akteurstatus prägt sich mit Blick auf gesellschaftlichen Fortschritt für jeden der drei Akteure in einer je spezifischen Sendung aus. Bei Individuen ist es Bildung, durch die Fortschritt im eigenen Lebensverlauf realisiert wird. »Maintaining the dream of the rational organization« ist ein zweiter »mechanism of hope« der Moderne (Brunsson 2006). Was Bildung beim Individuum bewirkt, läuft bei Organisationen über Rationalisierung, wobei eines der avancierteren Konzepte dafür bezeichnenderweise als »lernende Organisation« tituliert wird. Schließlich sind da noch Nationalstaaten als dritte Hoffnungsträger: Mit ihnen wird Politik zur Gesellschaftsgestaltung in die Pflicht genommen und übt nicht mehr nur Herrschaft zur Sicherung der natürlichen oder gottgewollten Ordnung aus. Das kann so weit gehen, wie es Ulrich Matz (1977: 90-101-- Zitate: 90, 93, Hervorheb. weggel.) in kulturkritischer Polemik auf die Formel vom »Staat als Organisator säkularisierter religiöser Ideen«, der eine »Politisierung des Glücks« betreibe, bringt. Als Menschenwerk wird Fortschritt gestaltet. Das gilt zunächst-- dies ist die sechste Komponente der Fortschrittsidee-- für substanzielle Zielgrößen des Fortschrittsstrebens. Sie werden, im Rahmen des für möglich Gehaltenen, bewusst gesetzt-- z. B. die »autogerechte Stadt«, eine Frauenquote für Unternehmensvorstände oder die Beseitigung des Hungers auf der Welt. Solche Zielvorstellungen entwickeln zu können, setzt zunächst ein konsequentes Kontingenzbewusstsein gegenüber der Welt voraus (Holzinger 2007). Fast nichts wird mehr als unveränderliche Naturkonstante gesehen, fast alles könnte auch ganz anders sein bzw. gemacht werden. Weiterhin vermittelt eine gesteigerte kontinuierliche gesellschaftliche Selbstbeobachtung, von der Wissenschaft bis zum Journalismus, ein stetig wachsendes und aktualisiertes Wissen über die Welt. Auf dieser Grundlage weiß man, was der Fall ist, was geht und was anderswo wie aussieht. Das stärkt das Kontingenzbewusstsein und forciert zugleich-- als letzte Voraussetzung für die Formulierung substanzieller Zielgrößen-- Kritikfähigkeit. Man erkennt die Perspektivität aller Wahrnehmung und Beurteilung. Nichts ist dann mehr heilig oder »natürlich« oder unübertrefflich optimal, alles könnte auch ganz anders gesehen werden. So steht dem Status quo nicht bloß eine einzige Zielalternative gegenüber; vielmehr ist das Gegebene mit multiplen Alternativen konfrontiert. Die allgemeine Fortschrittsidee sät aus sich selbst heraus gleichsam eine beständige Zwietracht der <?page no="120"?> Planung versus Evolution 121 Lesarten. Denn wer was unter Fortschritt versteht und wem welche Fortschritte zugutekommen sollen, bleibt dauerhaft umkämpft. Die siebte Komponente der modernen Fortschrittsidee führt den Gestaltungsanspruch fort: Fortschritt wird nicht nur durch Setzung der ihn gleichsam operationalisierenden spezifischen Zielsetzungen gestaltet; auch die Implementation der Ziele stellt sich nicht transintentional »hinter dem Rücken« der Akteure ein, sondern wird durch intentionale Intervention in die Welt erzielt. Dies jedenfalls ist der Selbstanspruch der menschlichen Gestalter. Nicht zuletzt aufgrund der Umkämpftheit dessen, was unter Fortschritt zu verstehen ist, fällt dieser einem nicht einfach zu, sondern muss gezielt herbeigeführt werden. Um es noch einmal zu betonen: Hier wird eine Idee rekonstruiert- - ein das Denken und Handeln lenkender Glaube: »From at least the early nineteenth century […], belief in the progress of mankind, with Western civilization in the vanguard, was virtually a universal religion […].« (Nisbet 1980: 7) 4 Dass Fortschrittsglaube die zentrale kulturelle Leitidee der Moderne ist, heißt freilich weder, dass es Fortschritt in diesem Verständnis tatsächlich gibt oder geben müsste, noch, dass wissenschaftlich festlegbar wäre, was »wahrer« Fortschritt ist und was nicht. Soziologisch bedeutsam ist einzig, dass dieser Glaube Handeln motiviert und ausrichtet und darüber, vermittelt durch handelndes Zusammenwirken, gesellschaftliche Strukturdynamiken bewirkt. Aus den letzten beiden Komponenten der Fortschrittsidee lässt sich ableiten: Wenn gesellschaftlicher Wandel Fortschritt bringen soll, ist bloße Evolution unerwünscht und Planung erforderlich. Denn Evolution bringt Fortschritt, wie bereits erläutert, bestenfalls zufällig hervor, was nicht nur ungerichtet geschieht, sondern vor allem viel zu lange dauert. Nur gezielt angestrebter Fortschritt ist in diesem Sinne mehr als eine vage Hoffnung auf irgendeine Verbesserung-- das gilt sowohl für die Setzung als auch für die Verfolgung der Ziele. Damit ist Planung integraler Bestandteil der modernen Fortschrittsidee, und zwar genau als Überwindung bloßer Evolution. Allerdings gibt es in der Moderne neben dieser »progressive rhetoric« auch eine dagegenhaltende »rhetoric of reaction«, wie Albert Hirschman (1991) herausarbeitet: eine weitreichende Fortschrittsskepsis, die gerade an dieser Planungsprämisse der Fortschrittsidee ansetzt. Der grundsätzliche Vorbehalt lautet, dass die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse prinzipiell kein erfolgreiches Gestaltungshandeln zulässt, also auch nicht die Verfolgung von Zielsetzungen, die im Namen des Fortschritts angestrebt werden. Im Einzelnen hält die »rhetoric of reaction« nicht erst seit den Tagen der Französischen Revolution und Edmund Burkes (1790) vernichtender Beurteilung ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen- - im Unterschied zu den hehren Zielen- - allen Reformbemühungen wieder und wieder drei Standardargumente in unterschiedlichsten Kombinationen entgegen: ● Das Argument der »perversity«: »[…] any purposive action to improve some feature of the political, social, or economic order only serves to exacerbate the condition one wishes to remedy.« (Hirschman 1991: 7) Das Streben nach einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse-- etwa der Lebenschancen benachteiligter Gruppen-- führt demnach nicht nur zu unerwünschten Effekten; sondern diese überwiegen faktisch eindeutig das, was positiv gewollt wurde: »Everything backfires.« (Hirschman 1991: 12, Hervorheb. weggel.) ● Das Argument der »futility«: »[…] attempts at social transformation will be unavailing […].« (Hirschman 1991: 7) Noch radikaler als im ersten Argument heißt es also: Wer Bestehendes verbessern will, wird weder positive noch negative Effekte erzielen, sondern überhaupt keine. 4 Er schränkt ein, dass dieser Glaube nunmehr im Westen verloren zu gehen drohe-- aber das ist eine zeitbedingte, in ihrer Allgemeinheit wenig überzeugende kulturkritische Wendung seiner Analyse. <?page no="121"?> 122 Uwe Schimank Alle Anstrengung bleibt vergeblich: »[…] largely surface, facade, cosmetic, hence illusory, as the ›deep‹ structures of society remain wholly untouched.« (Hirschman 1991: 43) ● Das Argument der »jeopardy«: »[…] the cost of the proposed change or reform is too high as it endangers some previous, precious accomplishment.« (Hirschman 1991: 7) War das zweite Argument radikaler als das erste, ist dieses dritte konzilianter. Es gesteht zu, dass man in der Vergangenheit eine gezielte Verbesserung erreicht hat-- aber damit müsse man es nun genug sein lassen, um nicht ungewollt einen Rückfall hinter das Erreichte und vielleicht sogar hinter einen weit zurückliegenden Status quo zu riskieren. Aus all dem wird allerdings keine völlige Verneinung der Möglichkeit von Fortschritt gefolgert, wohl aber eine deutliche Anspruchsreduktion hinsichtlich dessen, was man realistisch als Fortschritt erwarten darf. Damit läuft die »rhetoric of reaction« darauf hinaus, in der Hoffnung zu leben, dass sich ein- - an übersteigerten Fortschrittsillusionen gemessen- - bescheidenes und in seiner Zielrichtung nicht vorherbestimmbares Maß an Fortschritt auch ohne im Ergebnis immer nur schädliche Gestaltungsbemühungen langfristig über Evolution einstellt. 5 Worin besteht nun die Komplexität, an der in dieser Sicht der Dinge Planung zwangsläufig scheitert? Es geht erstens sachlich um die Vielfalt an zu berücksichtigenden Wirkungszusammenhängen, die einen Planungsgegenstand wie etwa den Klimawandel ausmachen, sowie um das unvollständige und dennoch womöglich die Gestaltungsakteure »erschlagende«, von ihnen nicht mehr zu verarbeitende Wissen über diese Kausalitäten, zweitens sozial um die Interdependenzen zwischen den aktiv oder passiv in die Planung involvierten Akteuren, insbesondere um wechselseitige Erwartungsunsicherheiten und Konflikte untereinander, sowie drittens zeitlich um Zeitknappheit angesichts von Planungsgegenständen, bei denen schnell etwas getan werden sollte (Schimank 2005: 121-171). Darüber hinaus ist ein Planungsgegenstand viertens umso komplexer, je weniger Stellschrauben der Bearbeitung-- etwa Befugnisse, räumlicher Zugriff oder »window of opportunity«-- in Reichweite der Gestaltungsakteure sind (Scharpf 1977); und fünftens ist seine Komplexität desto höher, je geringer die Ressourcen der Gestaltung, insbesondere Geld, auf Seiten der Akteure sind. Angesichts all dieser Arten von Schwierigkeiten des Gestaltungshandelns erklärt Niklas Luhmann (1988: 330) kategorisch: »Wer einen Zweck in die Welt setzt, muß dann mit dem Zweck gegen die Welt spielen- - und das kann nicht gut gehen oder jedenfalls nicht so, wie er denkt.« Denn: »Wenn man einmal anfängt, zwingt das zu Korrekturen, und man kann nicht wieder aufhören, wie immer man die Zwecke dreht und wendet.« (Luhmann 2000: 404) Das ist die »rhetoric of reaction«, auf die Spitze getrieben. Jegliches sich Zwecke setzende Handeln, nicht erst ambitionierte Planung, scheitert in dem Sinne, »dass das, was ich will, nicht das ist, was läuft« (Göbel 2004: 214). Mit dieser ubiquitären »Diskrepanz zwischen Absicht und Erfolg« (Göbel 2004: 214) ist das Spannungsverhältnis von Planung und Evolution in seiner kulturellen Konstitution umrissen. Zwischen diesen beiden Polen wogen die Stimmungslagen bezüglich der Gestaltbarkeit des Fortschritts immer wieder hin und her. Die letzte große Planungseuphorie der Moderne-- sieht man von der Planungshybris des real existiert habenden Sozialismus ab-- prägte die knapp zehn Jahre zwischen Mitte der 1960er- und Mitte der 1970er-Jahre, als in den entwickelten westlichen 5 Hirschman (1991: 8-10) betont, dass seine heute eindeutig abwertend klingende Wortwahl einer »reaktionären« Rhetorik ursprünglich ganz neutral gemeint war und an Isaac Newtons drittes Gesetz der Mechanik anknüpfte, das besagt, dass jeder »Aktion« eine »Reaktion« von gleicher Stärke entspricht. Es ging also keineswegs darum, den gesellschaftlichen Fortschritt einfach aufzuhalten, sondern um eine realistische Einschätzung und Kontrolle dessen, was aus ihm werden würde. <?page no="122"?> Planung versus Evolution 123 Ländern eine »active society« (Etzioni 1968) mit einer »aktiven Politik« (Mayntz/ Scharpf 1973) ausgerufen wurde, also insbesondere durch politische Gesellschaftsgestaltung ein »geplanter sozialer Wandel« gesellschaftlichen Fortschritt-- u. a. ein krisenfrei wachsendes kapitalistisches Wirtschaftssystem und eine wohlfahrtsstaatlich ermöglichte Steigerung individueller Lebenschancen- - herbeiführen sollte (Naschold/ Väth 1973; Böhret 1975). Der Katzenjammer, der den Planungsskeptikern wieder Recht gab, kam indes schnell und hält bis heute an. Dass der Planungs- und Fortschrittsoptimismus so brachial abgewürgt wurde und Politiker-- wie der damals ins Amt gekommene Bundeskanzler Helmut Schmidt-- sich wieder nur noch als »Krisenmanager« und nicht länger als Gesellschaftsgestalter verstanden, bestätigte die »rhetoric of reaction« in ihrer Einschätzung, dass Planungsideen überhaupt nur in guten Zeiten aufkommen können. Etwa Mitte der 1970er-Jahre spitzten die gesellschaftlichen Probleme sich zu. So kamen viele ökologische Probleme neu auf die Agenda, und zugleich schrumpften die finanziellen Ressourcen der Problembewältigung aufgrund einer in die Krise geratenden Wirtschaft und entsprechend kriselnder Staatsfinanzen. Sobald die Zeiten, wie damals und seitdem, härter werden, tut sich ein fundamentales Gestaltungsparadox auf: Schwierige Zeiten sind durch sich zuspitzende und drängende gesellschaftliche Problemlagen gekennzeichnet; gerade diese Problemlagen verlangen eigentlich weitreichende, den Problemen an die Wurzel gehende Umgestaltungen- - eben Planung-- anstelle eines bloßen »Weiter-so« oder Kurierens von Symptomen; doch zugleich ist Planung kaum oder gar nicht mehr möglich, weil die Komplexität der Probleme derart hoch ist. Zwar gibt es vermehrten Gestaltungsbedarf; doch das geht mit extrem schwierigen Gestaltungsfragen einher, so dass Gestaltungsambitionen sehr heruntergeschraubt werden müssen. Anders gesagt: Die Komplexität härterer Zeiten verunmöglicht gestalteten Fortschritt, obwohl er gerade dann vonnöten wäre. Doch der Fortschrittsidee, und sogar der Idee der Gestaltbarkeit von Fortschritt, gänzlich abzuschwören, stand niemals und steht auch heute nicht zur Debatte. Damit lässt sich die »conditio moderna« 6 diesbezüglich so resümieren, dass Planung als erforderlich, aber äußerst schwierig oder sogar unmöglich eingestuft wird. Planung soll Evolution überwinden, doch nicht realisierbare oder scheiternde Planung fällt immer wieder in Evolution zurück. Und wenn auch noch die bescheidene Hoffnung, dass sich evolutionär ein gewisser Fortschritt einstellen kann, durch die Erfahrungen härterer Zeiten dementiert wird, bleibt als einziger Trost, den die »rhetoric of reaction« bietet, Luhmanns (1984: 645) lapidare Sentenz: »Fürs Überleben genügt Evolution.« 2. Praktiken bescheidenen Fortschrittsstrebens: mehr als Evolution-- weniger als Planung Wie gehen die gesellschaftlichen Akteure- - Individuen, Organisationen und Nationalstaaten- - jeweils auf ihre Weise mit diesen Antinomien der ihr Handeln bestimmenden Idee gestalteten Fortschritts um? Ein näherer Blick zeigt sowohl unter den Fortschritts- und Gestaltungsoptimisten wie unter den Skeptikern einen »Abschied vom Prinzipiellen« (Marquard 1981). Erstere praktizieren weniger als Planung, ohne jedoch die gesellschaftlichen Geschicke völlig der Evolution zu überlassen-- und die Fortschritts- und Gestaltungsskeptiker tun dies ebenso wenig, sondern sehen Möglichkeiten vorsichtiger Eingriffe in evolutionäre Dynamiken. Die einen üben sich also in Anspruchsreduktion, die anderen bilden vorsichtig etwas gesteigerte Ansprüche aus; und dieses Zurückbzw. Höherschrauben von Gestaltungsambitionen vollzieht sich nicht zuletzt vor dem 6 Um eine Wortprägung Manfred Franks (1993) zu adaptieren. <?page no="123"?> 124 Uwe Schimank Hintergrund mal konfrontativerer, mal dialogischerer Auseinandersetzungen mit der jeweils anderen Seite. In den deutschen Sozialwissenschaften der 1980er- und 1990er-Jahre wurde der Streit über Möglichkeiten oder Unmöglichkeit politischer Gesellschaftssteuerung intensiv und mit prominenten Protagonisten (Luhmann 1989; Scharpf 1989) vor allem als Gegeneinander eines prinzipiellen systemtheoretischem »Steuerungspessimismus«, so das Verdikt von Renate Mayntz und Fritz Scharpf (2005: 33), auf der einen Seite und handlungstheoretischer Bemühungen, Bedingungen einer mehr oder weniger großen Steuerbarkeit gesellschaftlicher Dynamiken herauszuarbeiten, auf der anderen Seite geführt. 7 Zunächst zur Anspruchsreduktion: Die empirische Forschung darüber, wie in allen Lebensbereichen komplexe Entscheidungen getroffen werden, hat eine Fülle an Praktiken ausgemacht, die weniger als Planung realisieren, ohne doch die Ambition intentionaler Gestaltung gänzlich aufzugeben (als Überblick: Schimank 2005). Ein als Planung einstufbares Gestaltungshandeln ist ja, wie einleitend dargestellt, in seinen Zielsetzungen langfristig und ausgreifend angelegt, geht möglichst systematisch bei der Informationsverarbeitung und kreativ bei der Alternativensuche vor, bemüht sich um Optimierung und um einen möglichst alle einbeziehenden Konsens. Hier macht bereits der bekannte Inkrementalismus-- auch als »science of muddling through« tituliert (Lindblom 1959)-- große Abstriche, die aus den folgenden Devisen hervorgehen: ● Kümmere dich nicht um ein Gestaltungsanliegen, solange du es nicht musst! ● Wenn du dich darum kümmern musst: Wende dich nur denjenigen Aspekten zu, die wirklich drängend sind! ● Suche dann Gestaltungsmöglichkeiten, die im gut bekannten nahen Umfeld liegen und bei denen du mit keinen größeren Widerständen zu rechnen hast! ● Sobald du in diesem Rahmen eine einigermaßen zufriedenstellende Gestaltungsalternative gefunden hast, setz diese in die Tat um und such nicht mehr weiter, ob es vielleicht noch eine bessere gibt! ● Sei gefasst darauf, dass du das Gestaltungsanliegen bald wieder auf dem Tisch hast, weil dein Gestaltungshandeln steckengeblieben ist oder problematische Neben- und Fernwirkungen zeigt! Schon die erste Devise macht die Ausrichtung klar: Die meisten Gestaltunganliegen schlägt ein inkrementalistisches Vorgehen in den Wind, verhält sich also gerade nicht »aktiv«. Dahinter steht die Einsicht, dass man sich sonst schnell völlig überlastet und dann nichts mehr erfolgversprechend angeht. Nur solche Gestaltungsoptionen, die entweder drängende Probleme oder sehr günstige Verbesserungschancen darstellen, werden aufgegriffen. Bei Letzteren geht die Absicht klar in Richtung eines Fortschritts gegenüber dem Status quo; bei Problembearbeitung kann das ebenfalls so sein, wobei jedoch nicht selten bereits die Wiederherstellung des Status quo als Erfolg gewertet wird. Ein inkrementalistisches Gestaltungshandeln ist ferner-- auch dies aus Gründen der Komplexitätsreduktion-- so angelegt, dass Akteure sich als »watchdogs for values« (Lindblom 1965: 156) vorrangig um ihre je eigenen Angelegenheiten und Interessen kümmern und nicht versuchen, gleichsam das jeweilige »Gemeinwohl« zu bedienen. Dementsprechend gibt es multiple und meist eher kleinformatig angelegte Gestaltungsaktivitäten, die dann in größtenteils unvorhergesehene Interferenzen miteinander geraten. Die letzte der formulierten Devisen, die eine logische Konsequenz der vorhergehenden sowie der gerade angesprochenen unabgestimmten Gestaltungsinterferenzen ist, verweist darauf, dass 7 Siehe nur als Überblicke Ulrich (1994) und Lange/ Braun (2000). <?page no="124"?> Planung versus Evolution 125 Inkrementalismus Gestaltungsakteure sozusagen zu »Serientätern« werden lässt und in diesem Punkt dann durchaus Luhmanns zitierter Prognose entspricht, sich nämlich zu einer »unendlichen Geschichte« auswächst. Denn mit dem Nachbessern wird man nie ans Ende kommen, sondern nur immer weiteren Nachbesserungsbedarf erzeugen. Anstelle von Problemlösungen begnügt man sich mit Problemverschiebungen; und jede Verbesserung weckt, wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau, Appetit auf mehr, was dann auch immer wieder böse endet. Erst recht gilt das Nicht-zu-Ende-kommen für alle Arten sub-inkrementalistischen Copings, das die Ambitionen intentionaler Gestaltung noch weiter herunterschraubt (Schimank 2011). Hintergrund ist eine weitere Komplexitätssteigerung, mit der der Akteur zurechtkommen muss-- etwa durch eine immer weiter voranschreitende Globalisierung des Gestaltungshorizonts, weil Probleme immer raumgreifendere Interdependenzen zeigen, oder durch eine zunehmende Beschleunigung des gesellschaftlichen Geschehens (Rosa 2005), was die Zeitknappheit des Gestaltens immer weiter erhöht. Irgendwann ist aufgrund solcher und weiterer Komplexitätssteigerungen dann der Punkt gekommen, an dem es sich für einen Akteur nicht mehr lohnt, sich vorab zu überlegen, was wünschenswert wäre, um sodann zu versuchen, es zu realisieren. 8 Die Chance, auf diese Weise auch nur halbwegs erfolgreich zu sein, ist einfach viel zu gering. Der Akteur kann dann nur noch weitgehend ergebnisoffen-- euphemistisch gesagt: lernbereit-- abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, und schauen, ob sich ab und zu Verzweigungen des Laufs der Dinge bieten, bei denen er erstens eine einigermaßen klare Einschätzung davon hat, welche der Alternativen zumindest etwas besser für ihn ist als die anderen, und er zweitens eine Möglichkeit sieht, darauf hinzuwirken, dass sich das Geschehen in Richtung dieser Alternative bewegt. Dann und nur dann lohnt es sich überhaupt, gestaltend in den Lauf der Dinge einzugreifen. Als Handlungsmaximen des Coping gelten dann, basierend auf solchem Warten auf eine günstige Gelegenheit: »Basteln, Flicken, Probieren, Kombinieren« (Guttandin 1996: 31), kurz: spontanes Improvisieren. Coping kann im Grenzfall auf reines Zeitgewinnen hinauslaufen. Um es mit einer Analogie zum Flipperspielen auszudrücken: Solange man es schafft, die Kugel im Spiel zu halten, kann man auf koinzidenzielle Unterstützung hoffen, also darauf, dass man demnächst etwas Glück haben wird und die Kugel, völlig unabhängig von längst aufgegebenen eigenen gezielten Schüssen, zwischen punkteträchtigen Bumpern hin und her gestoßen wird (Schimank 1999). Auf Gestaltungshandeln bezogen hieße das, nur noch darum bemüht zu sein, weiter bereit zu stehen, um irgendeine sich vielleicht irgendwann ergebende Gestaltungschance nutzen zu können. Und auch und gerade hier sind sich die Akteure im Klaren darüber, dass sie auf Zeit spielen, also »Serientäter« werden: Denn dass sie ausgerechnet mit Coping das große Los ziehen und nicht weiter gestaltungsbedürftige, völlig ausgereifte Fortschritte erzielen, ist extrem unwahrscheinlich. Schon Inkrementalismus hat bei denen, die es ernst mit Planung meinen, keine gute Presse. Yehezkel Dror (1964) schalt ihn als »inertia« der Planungsfaulen. Sub-inkrementalistisches Coping bleibt dann als Gestaltungshandeln so weit hinter der Planung zurück, dass man es gemeinhin in gar keinem Zusammenhang mehr damit sieht. Warten, Im-Spiel-bleiben, Improvisation und Glück-haben: Das gleitet vielmehr umgekehrt schon sehr nahe in ein blo- 8 Um es nochmals zu wiederholen: Sub-inkrementalistisches Coping findet nicht erst in der Moderne oder gar der gegenwärtigen Phase der Moderne statt, sondern ist ebenso wie Inkrementalismus, Planung oder Routinehandeln in allen Phasen menschlicher Gesellschaft vorfindbar. Die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Prominenz bestimmter Gestaltungspraktiken stellt sich auch weniger als eine Phasenspezifik- - die Moderne ist genauso wenig durchgängig das Zeitalter der Planung wie das Zeitalter des Coping-- dar, sondern geht auf einen kurztaktigeren Wechsel ruhigerer und härterer Zeiten zurück. <?page no="125"?> 126 Uwe Schimank ßes Hinnehmen dessen ab, was der Lauf der Dinge bringt. Damit ist man am Gegenpol von Planung angelangt, wo sich Akteure völlig den zufallsgetriebenen Dynamiken von Evolution überlassen. Grundsätzlich ist freilich spätestens hier erst einmal zu fragen, weshalb man überhaupt auf die Idee kommen kann, soziales Geschehen als Evolution einzustufen, also als eine Dynamik, an deren Anfang stets der Zufall steht. Akteure würfeln doch schließlich nicht ständig aus, wie sie handeln. 9 Zufallsvariation kann hier, wie auch in der natürlichen Evolution, nur heißen: ein nicht den im Rahmen der jeweiligen Strukturen eigentlich zu erwartenden Regelmäßigkeiten gehorchendes Geschehen. Alle Arten von Versehen und Missgeschicke von Handelnden-- hierunter fallen auch Kopierfehler, weil man es nicht besser weiß oder sich keine Mühe gibt-- können solche Variationen hervorbringen, ebenso wie bewusste und idiosynkratische Abweichung, weil man keine Lust zur Regelkonformität oder eine neue Idee hat. Noch anfälliger für Zufallsvariationen sind diffuse, uneindeutige oder widersprüchliche Strukturen, die dann je situativ im Handeln erst auf den Punkt gebracht werden müssen, was mal so und mal so-- selbst beim gleichen Akteur-- aussehen kann. Ganz grundsätzlich gilt schließlich, dass jede das Handeln auch noch so klar vorgebende Struktur in dem Sinne zum Zufallsgenerator werden kann, dass ein Teil der eintretenden Handlungsfolgen aus unabsehbaren und keiner übergreifenden Regelmäßigkeit gehorchenden Interferenzen mit durch ganz andere Strukturen geprägtem Handeln hervorgeht. So können bereits zwei interferierende-- einander konterkarierende und blockierende, aber auch sich aufsummierende oder eskalierende-- Handlungslinien, die je für sich zunächst völlig regelhaft ablaufen, Zufallsvariationen hervorbringen, die Weiteres nach sich ziehen. Intentions- und Handlungsinterferenzen und daraus hervorgehende Strukturdynamiken sind insbesondere in dem Maße als evolutionär-- dann auch im Sinne von »ungeplant« und »planlos«-- einzustufen, wie sie auf »Cournot-Effekten« (Boudon 1984: 173-179) beruhen, also der koinzidentiellen Verknüpfung unabhängiger Wirkungsketten. Um ein einfaches Beispiel dafür zu geben: Der Verlust der Fähigkeit des Stadtstaats Bremen, sich über eigene Steuereinnahmen zu finanzieren, ist seit Anfang der 1970er-Jahre stark auf zwei ganz unabhängig voneinander wirkende Ursachenbündel zurückführbar, die sich aber gerade, weil sie zufällig im gleichen Zeitraum zur Geltung kamen, unheilvoll aufsummierten: die gesamtstaatliche Steuerreform, die als Ort, wo die Lohn- und Einkommenssteuer gezahlt wird, nicht länger den Sitz des Arbeitgebers, sondern den Wohnsitz des Arbeitnehmers bestimmt, wodurch viele Angehörige der gut verdienenden Mittelschichten, die in Bremen arbeiteten, von einem Tag auf den anderen ihre Steuern nicht mehr dort, sondern im niedersächsischen Umland ablieferten, wohin sie wegen des billigen Baulands gezogen waren; und die einsetzende Strukturkrise von Wirtschaftsbranchen wie dem Schiffbau, die in Bremen stark vertreten waren und nun nicht nur immer weniger Unternehmenssteuern bezahlten, sondern auch noch hohe Kosten in Form von Subventionen und Sozialausgaben verschlangen. In diesem Fall waren beide Entwicklungen sogar absehbar, aber dennoch von den politischen Entscheidungsträgern Bremens nicht abwendbar (Barfuß 2010: 153-184). Gerade angesichts allgegenwärtiger »Cournot-Effekte«, aber auch sonstiger Transintentionalitäten stellt sich die Frage, ob überhaupt mehr als Evolution möglich ist oder Akteure eher auf der Linie der »rhetoric of reaction« das resignative Fazit ziehen sollten, wie es in Bertolt Brechts »Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« formuliert ist: »Ja, mach nur einen Plan / Sei 9 Wie kontrafaktisch dieses Bild wäre, zeigt das literarische Gedankenexperiment, das Luke Rhinhart (1971) anschaulich durchspielt. <?page no="126"?> Planung versus Evolution 127 nur ein großes Licht / Und mach dann noch ›nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht.« 10 Immerhin wird auch von Seiten derjenigen, die die »rhetoric of reaction« pflegen, kein totales Verbot von Gestaltungshandeln auferlegt. Man gesteht zumindest zu, dass neben dem segensreichen Walten von »invisible hand mechanisms« (Ullman-Margalit 1978) wie vor allem dem Markt auch eine vorsichtige Gesellschaftsgestaltung »auf Sicht« im Schneckentempo des »piecemeal engineering« (Popper 1957) gelingen und sinnvoll sein könne. 11 Den Trägern des gesellschaftlichen Fortschrittsstrebens wird also eine »Politik der kleinen Schritte«-- eine besonders behutsam vorgehende Spielart des Inkrementalismus (Sunstein/ Ullman-Margalit 1999)- - empfohlen, die sofort zurückrudern kann, sollten sich unerwünschte Effekte herausstellen. Diese Konzession an den Inkrementalismus ist die eine Richtung, in der auch nach dem Dafürhalten von Fortschrittsskeptikern durch bewusste Gestaltung mehr als Evolution drin ist. Die andere Gestaltungsrichtung besteht in einer Kanalisierung evolutionärer Dynamiken. Dies kann mit zwei gegenläufigen Absichten geschehen. Zum einen können im Sinne eines »good opening« evolutionäre Variationen ermutigt, angestoßen und gefördert werden-- zum anderen können umgekehrt durch »good closing« extreme Ausschläge und Turbulenzen, wie sie manche Variationen mit sich bringen können, unterbunden werden. 12 »Good opening« heißt, die Startvorteile des Bestehenden, den »Status quo als Argument« (Luhmann 1968) zu neutralisieren, damit Neuerungen überhaupt eine Chance erhalten-- etwa über »sensible foolishness« (Cohen/ March 1974: 226-229) und andere Formen des »Querdenkens« oder als Modellversuche, die Vergleiche zwischen dem Alten und dem Neuen dahingehend ermöglichen, ob Letzteres einen Fortschritt darstellt. »Good closing« wirkt demgegenüber dahin, eventuell gefährliche große Schritte weg vom Status quo zu verhindern, z. B. bei Umverteilungen von Ressourcen Obergrenzen-- zumindest für bestimmte Zeiträume-- zu setzen. Ein prominentes Beispiel, an dem man sich die Austarierung von »good opening« und »good closing« anschauen kann, bildet das Wahlrecht demokratischer Politik. Das Mehrheitswahlrecht, bei dem nach dem Prinzip »winner takes all« derjenige, der die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, dadurch fortan für alle Wähler, auch die, die ihn nicht gewählt haben, zu sprechen und zu entscheiden befugt ist, erleichtert »good opening«, weil es die konsequente Durchsetzung von Neuerungen ermöglicht: 51 Prozent der Stimmen reichen für radikale Kurswechsel aus. Das Verhältniswahlrecht bremst als »good closing« solche Innovativität deutlich früher aus. Denn auch die Stimmen der unterlegenen 49 Prozent zählen und können als entgegenstehende Präferenzen zur Geltung gebracht werden, so dass den Kräfteverhältnissen entsprechende Kompromisse gemacht werden müssen. Dass viele funktionierende Demokratien ganz unterschiedliche Mischungen von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht institutionalisiert haben, zeigt, dass dieses äußerst wichtige Feld des »institutional design« als Gestaltungsanliegen ernst genommen wird. Dies geschieht sicherlich genau deshalb, weil hier die Spielregeln der bedeutsamsten Arena gestaltet werden, in der gesellschaftlicher Fortschritt kollektiv gestaltet wird, und zwar ganz offensichtlich zumindest einigermaßen zufriedenstellend. Andernfalls hätte man »institutional design« hier längst aufgegeben und politische Willensbildung gänzlich der Art von naturwüchsigen erratischen Kräfteverhältnissen überlassen, wie man sie an »failed states« in Teilen von Afrika und anderswo studieren kann. 10 Aus der »Dreigroschenoper« (1928)-- zitiert in Dietrich Dörners (1989: 234) Darlegungen zur »Logik des Mißlingens«. 11 Günter Grass (1972) konstatierte einst, noch zur Hochzeit des Planungs- und Fortschrittsoptimismus: »Der Fortschritt ist eine Schnecke.« 12 Ersteres gegen ein »bad closing«, Letzteres gegen ein »bad opening«-- siehe Klapp (1978). <?page no="127"?> 128 Uwe Schimank Damit unterliegt Evolution nicht nur über solche sie einhegende »second-order decisions« (Sunstein/ Ullman-Margalit 1999) dann doch Gestaltungsambitionen, wie sie letztlich von Planungsideen gespeist werden; und diese Ambitionen bleiben trotz aller Enttäuschungen, die sie immer wieder bereiten, keineswegs eine völlig vergebliche Liebesmühe. 3. Auf der Dauerbaustelle Sieht man beide Stränge des Denkens und Handelns, die ich hier präsentiert habe, im Zusammenhang miteinander, erkennt man die »checks and balances«, die in die Kultur wie in die institutionalisierten Handlungsmuster der Moderne eingebaut sind (s. Abb.): ● Die das Selbstverständnis der Moderne beherrschende Leitidee des gestalteten Fortschritts lässt Gesellschaftsgestaltung in Form von Planung als unerlässlich erscheinen, um bloße Evolution zu überwinden. ● Doch es gibt die nicht zum Schweigen zu bringende beharrliche Gegenstimme, die auf die Unmöglichkeit von Planung hinweist und damit tröstet, dass Evolution doch gar nicht so schlecht sei, wie sie gemacht werde. ● Das asymmetrische Gegeneinander beider Stimmen sorgt dafür, dass sich beide mäßigen: Planungsambitionen werden auf ein realistisches Maß heruntergeschraubt, und man belässt es nicht bei bloßer Evolution. ● Im Zusammenklang beider Stimmen ergibt sich das spezifische Wechselverhältnis von Intentionalität und Transintentionalität sozialen Wandels der Moderne. Als kulturelle Idee herrscht Intentionalität vor; das gibt ihr so viel Kraft, dass sich auch die faktische Balance ein wenig zu ihren Gunsten verschiebt. Wie stark auch immer wir rein evolutionären Dynamiken unterworfen bleiben-- wir wären es noch mehr, wenn wir nicht von Planungsambitionen beseelt wären. Die Moderne als Dauerbaustelle lässt man auf diese Weise niemals hinter sich. Man muss sich also auf ihr einrichten und damit zufrieden sein, dass heute dieses, morgen jenes und übermor- Kultur der Moderne: gestalteter Fortschritt Sozialer Wandel Evolution: unerwünscht, aber unentrinnbar Planung: erforderlich, aber unmöglich Anspruchssteigerung: mehr als Evolution Anspruchsreduktion: weniger als Planung <?page no="128"?> Planung versus Evolution 129 gen wieder etwas anderes einigermaßen funktioniert und vorzeigbar ist-- aber nie alles gleichzeitig! Und mehr noch: Eine Garantie, dass ein einmal erreichtes Niveau an Funktionstüchtigkeit dauerhaft erhalten und nicht wieder unterschritten wird, gibt es nicht. Literatur Barfuß, Karl Marten (2010): Wirtschaft. 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Der politische Charakter beider Begriffe zeigt sich gleichfalls an der metaphorischen Besetzung der Unterscheidung: Denn während der Begriff der Gesellschaft mit Attributen der Kälte und Sachlichkeit verknüpft ist, gilt Gemeinschaft oftmals als Instanz der Wärme und Geborgenheit (vgl. Gebhardt 1999). Und während »Gesellschaft« auf Interessenverfolgung, Zweckrationalität und auch Macht und Herrschaft verweist, erscheint »Gemeinschaft« als Bereich der Freundschaft und Vertrautheit oder als Ort der Zuflucht und Sicherheit vor den Pflichten und Ansprüchen der Gesellschaft (vgl. Bauman 2009: 11). Eine weitere Eigentümlichkeit der Unterscheidung ist ihre spezifische zeitliche Logik: Während »Gesellschaft« im politischen Imaginären der Moderne in der Regel als Gegenwartsbegriff fungiert, artikuliert sich »Gemeinschaft« häufig im Modus des Imperfekt oder Futur (vgl. ebd.: 9) und gilt als »verloren« und »verdrängt« oder wird als »kommende Gemeinschaft« beschworen. Diese eigentümliche Doppelstellung offenbart sich insbesondere dann, wenn die gegenwärtige Gesellschaft als konflikthaft, desintegriert oder widersprüchlich begriffen wird, so dass die Idee der Gemeinschaft besonders in Hochzeiten des Liberalismus Konjunktur hat. Indem der Gemeinschaftsbegriff mit dem Versprechen auf Versöhnung und Befriedung verknüpft ist, hat er sich als eine Leitformel der Kritik an der Moderne erwiesen und sowohl im Ruf nach der Rückkehr zu überschaubaren und vermeintlich intakten, vormodernen Gemeinschaften als auch in revolutionären Entwürfen zukünftiger Gütergemeinschaften Anklang gefunden. Der politische Charakter und die metaphorische Einfärbung sind auch im soziologischen Gebrauch der Begriffe auffindbar. Trotz der zentralen Bedeutung der Unterscheidung innerhalb des Faches ist sie bis heute umstritten und aufgrund der politischen Geschichte der Gemeinschaftsidee auch theoriegeschichtlichen Konjunkturen unterworfen. Ein Blick auf die entsprechenden Debatten offenbart zudem, dass hier keine eindeutige Begrifflichkeit existiert. Ein theorieübergreifender Konsens besteht allenfalls darin, Gemeinschaft und Gesellschaft als unterschiedliche Formen sozialer Beziehung zu begreifen, wenngleich hierin noch keine weitere Qualifizierung der Art der Verbindung enthalten sein muss. Deutlich wird aber, dass die Differenz auf einer qualitativen Ebene liegt-- was sich auch in der Alltagssprache wiederfindet, die den Begriff der Gemeinschaft quantitativ recht unbestimmt lässt und sowohl auf soziale Nahbeziehungen (Ehe-, Wohn-, Fahrgemeinschaft) wie die Ebene globaler Politik (Gemeinschaft der Gläubigen, Weltgemeinschaft) bezieht. Gemeinschaftliche Sozialbeziehungen werden so in der <?page no="131"?> 132 Lars Gertenbach Regel von flüchtigen und interessegeleiteten sozialen Kontakten unterschieden, die im Umkehrschluss als genuin gesellschaftliche Beziehungen begriffen werden. 1 Im Folgenden soll der soziologischen Diskussion der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in zentralen Aspekten nachgespürt werden. Dabei geht es weniger um eine Synthese der verschiedenen theoretischen Ansätze, sondern darum, Verlauf und Bedeutung der beiden Begriffe an exemplarischen Positionen nachzuzeichnen, da diese Diskussion zugleich als Beitrag zur Frage gelten kann, in welchen Formen sich soziale Beziehungen stabilisieren und instituieren. Aus Platzgründen vertiefe ich lediglich drei Theoriepositionen, die allerdings paradigmatischen Charakter für die soziologische Debatte besitzen: nämlich Ferdinand Tönnies, Helmuth Plessner und Victor Turner. 2 Den Autoren ist zudem gemeinsam, dass sie nicht allein auf den Gemeinschaftsbegriff, sondern auf die Unterscheidung als solche rekurrieren. Mit Blick auf die Geburtsstunde der begrifflichen Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft beginne ich mit der Herausbildung der Unterscheidung im 19.-Jahrhundert, die schließlich mit einer Darstellung des Werkes von Tönnies abgeschlossen wird (1.). Daran anschließend steht die erste Hochphase der Begriffe in den 1920er- und 1930er-Jahren im Zentrum, die anhand der soziologischen Klassiker sowie der nationalkonservativen bis völkischen Gegenbewegung in der deutschen Soziologie skizziert wird, bevor mit Plessner ein liberaler Einspruch gegen die übersteigerte Gemeinschaftsgesinnung zu Wort kommt (2.). Danach geht es um die Entwicklungen in der Soziologie nach 1945, in der sich trotz einiger Anschlüsse eher eine Distanzierung von der Unterscheidung beobachten lässt und andere Begriffe in der Beschreibung der Formen und Strukturen des Sozialen dominanter werden. Eine Gegenbewegung hierzu lässt sich erst ab den 1980er-Jahren vernehmen. Stellvertretend für die Erneuerung der soziologischen Debatte steht Victor Turner, dessen Ansatz hier abschließend skizziert wird (3.). Der Text verweist abschließend auf drei aktuelle Positionen und gegenwärtige Forschungsdesiderata (4.). Die Darstellung orientiert sich mehrheitlich an der deutschsprachigen Debatte, weil dort die Unterscheidung nicht nur größere Bedeutung besitzt, sondern die Begriffe auch deutlicher in Opposition zueinander artikuliert wurden- - während Gemeinschaft beispielsweise in den USA nicht zwingend als Gegenmodell zu Gesellschaft begriffen wird, sondern Teil einer demokratischrepublikanischen Tradition ist (vgl. Dewey 2001: 129 f.; Joas 1993). 1. Ferdinand Tönnies und die Polarisierung der Begriffe im-19.-Jahrhundert Als bloße Bezeichnungen sind Gemeinschaft und Gesellschaft bereits vor der Moderne bekannt. Von einer expliziten begrifflichen Opposition lässt sich hier allerdings noch nicht sprechen, sind doch beide Teil einer nicht genauer geschiedenen Gruppe von Bezeichnungen für Phänomene sozialen Miteinanders, zu denen auch Sozietät, Geselligkeit, Teilhabe, Bruderschaft, Genossenschaft, Gemeinde, Verband und Bund gehören. So sind Gemeinschaft und Gesellschaft terminologisch noch bis weit ins 19.-Jahrhundert hinein austauschbar (vgl. Riedel 1994) und werden erst in der zweiten Hälfte des 19.-Jahrhunderts in jene polarisierende Fassung gebracht, die schließ- 1 Der Blick auf die konkrete Verwendung der Begriffe zeigt, dass »Gemeinschaft« häufig auch von »Masse« und »Individuum« abgegrenzt wird, wobei bezeichnend ist, dass Vermassung und Individualisierung als Folge der Dominanz gesellschaftlicher Beziehungen gelten. 2 Theorietraditionen, die weniger an der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft sondern am Gemeinschaftsbegriff orientiert sind, können hier nur am Rande thematisiert werden. Vgl. dazu Gertenbach et al 2010. <?page no="132"?> Gemeinschaft versus Gesellschaft 133 lich auch in der soziologischen Debatte ihren Niederschlag findet. 3 Entscheidend sind hierbei die kollektiv-semantischen Verarbeitungen des Umbruchs zur modernen Gesellschaft, durch die der Gesellschaftsbegriff zum Platzhalter der strukturellen Neuerungen der Moderne wird und die umgekehrt einen Gemeinschaftsbegriff gestatten, der als Sammelbezeichnung all dessen fungiert, was im Gesellschaftsbegriff nicht aufgeht oder explizit hierdurch negiert wird. In idealtypischem Kontrast steht dabei auf der einen Seite »Gesellschaft« als Inbegriff für Konflikt und Entzweiung, während auf der anderen Seite »Gemeinschaft« als Inbegriff für Harmonie, Versöhnung und Einheit aufgewertet wird. Dies gilt besonders für den deutschen Sprachraum, weil hier die Kritik der Moderne oftmals eine romantische und auch melancholische Einfärbung erhält und die Polarisierung der Begriffe auf einen ausgebildeteren »moralischen« und »politischen Dualismus« (Koselleck 1976: 142) trifft. 4 Obwohl das 19.- Jahrhundert erst die Geburtsstunde der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft markiert, ist die semantische Bandbreite der Dichotomie um 1900 weitgehend entwickelt. Zentralen Anteil hieran hat Ferdinand Tönnies mit seiner 1887 erschienenen Studie Gemeinschaft und Gesellschaft. Dessen Bemühen um eine Fundierung des Faches auf dieses Begriffspaar in seiner Konzeption einer »reinen Soziologie«, die Gemeinschaft und Gesellschaft als Grundformen von Sozialität überhaupt begreift, kommt bis heute eine bedeutende Stellung innerhalb der soziologischen Debatte zu (vgl. Clausen/ Schlüter 1991 sowie König 1955). Wie im Titel bereits erkennbar, bedient sich Tönnies einer grundsätzlich polarisierten Unterscheidung, wobei ihm Gemeinschaft und Gesellschaft als zwei Arten der Verbindung in menschlichen Beziehungen gelten. Die Grundlage hierfür bildet die anthropologische Annahme von zwei differenten menschlichen Willensbzw. Bejahungsformen: dem »Wesenwillen« und dem »Kürwillen«. 5 Die unterschiedlichen Weisen der »Bejahung« drücken sich für Tönnies darin aus, dass im Fall des Wesenwillens das menschliche Handeln organisch, unmittelbar und immanent auf die Sache selbst bezogen ist, während im Fall des Kürwillens ein abstrakter, auf Zweckmäßigkeit gerichteter Bezug im Handeln präsent ist (vgl. Tönnies 1991: 73 f.; 2012a: 242 f.). Diese beiden-- argumentativ an den Körper-Geist-Dualismus angelehnten (vgl. Tönnies 1991: 73 f.)- - Willensformen überträgt Tönnies nun auf die beiden Beziehungsformen und nennt »alle Arten Verbundenheit, in denen der Wesenwille überwiegt, Gemeinschaft, dagegen alle, die durch den Kürwillen gestaltet werden oder wesentlich durch ihn bedingt sind, Gesellschaft« (Tönnies 2012a: 244, H.i. O.). Entsprechend sind gemeinschaftliche Beziehungen nach Tönnies dadurch gekennzeichnet, dass das Eingehen einer solchen Verbindung um ihrer selbst willen erfolgt, während gesellschaftliche Beziehungen einen instrumentellen Charakter aufweisen und nicht Zweck, sondern Mittel sind. Während Gesellschaft »als ein bloßes Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen verstanden« (Tönnies 1991: 4) wird, unterscheidet Tönnies drei Arten von Gemeinschaft mit jeweils spezifischen Erscheinungsformen: eine Gemeinschaft des Blutes, die in der Verwandt- 3 Politische und gesellschaftstheoretische Reflexionen, wie man sie etwa bei Rousseau oder Hobbes findet, sind in dieser Hinsicht noch begrifflich undifferenziert. So ist die Figur des Leviathans bei Hobbes sowohl als vertragstheoretisches Prinzip der Gründung eines gesellschaftlichen Regelsystems und als Versinnbildlichung der Gestalt des politisches Körpers der Gemeinschaft diskutiert worden. Vgl. ex. Spitta 2012. 4 Vgl. auch Schmitt (1960), der den Wandel von einer an Hegel orientierten dreigliedrigen Unterscheidung hin zu einem alles durchdringenden zweigliedrigen Dualismus zu Beginn des 20.-Jahrhunderts nachzeichnet. 5 Von diesen beiden Formen der Bejahung unterscheidet Tönnies die Willensformen der Verneinung, die er aber für die Frage nach Gemeinschaft und Gesellschaft ausklammert (vgl. Tönnies 1991: 3). <?page no="133"?> 134 Lars Gertenbach schaft zutage tritt, eine Gemeinschaft des Ortes, die in der Nachbarschaft verwirklicht ist und eine Gemeinschaft des Geistes, die als abstrakteste und höchste Form in der Freundschaft zum Tragen kommt (ebd.: 12). Obwohl Tönnies selbst die Freundschaft als adäquate Form von Gemeinschaft in modernen, großstädtischen Gesellschaften ansieht, wird sozialtheoretisch der Familie eine fundamentale Stellung zugewiesen: Das Familienleben gilt als »die allgemeine Basis der gemeinschaftlichen Lebensweisen« (ebd.: 212). Die damit gewonnene Kontrastierung ist eingelassen in spezifische metaphorische Besetzungen, die-- obwohl auch bei anderen Autoren auffindbar-- bei Tönnies eine exemplarische Verdichtung erfahren. Eine geradezu frappierende Anhäufung der damit verbundenen Attribute findet sich im Paragraph 26 des zweiten Buchs (ebd.: 115). Gemeinschaft wird dort auf lediglich einer Seite als flüssig (strömend), weich, warm, organisch, natürlich, konkret, ursprünglich und original charakterisiert und kulminiert im Begriff des Naturells. In der Umkehrung der Begriffe gilt Gesellschaft noch auf der gleichen Seite als trocken, hart, kalt, mechanisch, künstlich, abstrakt, gemacht, und verdichtet sich für Tönnies in dem Begriff des Apparats (vgl. ebd.). 6 In dieser Gegenüberstellung, die auch dem Bemühen um die Bildung reiner, idealtypischer Begriffe geschuldet ist, 7 differenzieren sich die Formen sozialer Verbindungen in gefühlsmäßig-konkrete auf der einen und rational-abstrakte auf der anderen Seite. Wie an der Wortwahl deutlich wird, steht Tönnies nicht nur sinnbildlich für einen starken »dualistischen Unterscheidungswillen« (Rehberg 1993: 25), sondern auch für die immense Verflechtung soziologischer, politischer und ethischer Diskurse im Gemeinschaftsbegriff. Trotz der im Untertitel formulierten Bemühung um eine »reine Soziologie« ist das Werk durchzogen von politisch-ethischen Stellungnahmen und normativen Zuschreibungen. Hinzu kommt eine zeitdiagnostische Argumentationslinie, in der Tönnies von einem sukzessiven Verfall gemeinschaftlicher Sozialbeziehungen ausgeht und von der Ablösung des »Zeitalters der Gemeinschaft« durch das »Zeitalter der Gesellschaft« (Tönnies 1991: 215) spricht. 8 Neben der Beschreibung allgemeiner Formen menschlicher Beziehungen spannt er das Begriffspaar damit in ein modernisierungstheoretisches Narrativ ein, mit dem er den Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften begrifflich zu fassen versucht. Doch obwohl Tönnies damit bereits vor der Jahrhundertwende die aufkeimende Stimmungslage des Zeitalters zum Ausdruck bringt, ist dem Werk erst ab der zweiten Auflage (1912) eine breitere Rezeption beschieden. 9 Ein wesentlicher Grund hierfür liegt 6 Dass eine solche Kontrastierung nicht zwingend ist, zeigt sich bei Durkheim, der die Unterscheidung mechanisch/ organisch gerade in umgekehrter Bedeutung verwendet (vgl. Durkheim 1992). Zum vertrauten Verhältnis von Tönnies und Durkheim vgl. Cahnman 1973; dort findet sich auch eine Sammlung gegenseitiger Besprechungen, immerhin hatte Durkheim Tönnies’ Buch bereits zwei Jahre nach Ersterscheinen rezensiert (Durkheim 1889). 7 Tönnies selbst spricht hier von »Normalbegriffen« (Tönnies 2012a: 243; 2012b: 271) und bestreitet dadurch nicht, dass es die »angewandte Soziologie« stets mit Mischformen zu tun hat. Eine stärkere Betonung dieses Aspektes findet sich zusammen mit einer gewissen Relativierung der sozialtheoretischen Stellung der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in einem Artikel von 1931 (Tönnies 2012a). Gemeinschaft und Gesellschaft werden dort aus allgemeineren sozialtheoretischen Begriffen wie Kenntnis und Fremdheit, Sympathie und Antipathie sowie Vertrauen und Misstrauen entwickelt. 8 Weiterhin spricht er von einer Gefahr der »Verkümmerung« des Wesenwillens und dem Streben des Kürwillens, diesen »aufzulösen, zu vernichten oder zu beherrschen« (Tönnies 1991: 114). 9 Mit dieser Auflage hat Tönnies auch den früheren Untertitel Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen durch Grundbegriffe der reinen Soziologie ersetzt. Eine weitere Änderung betrifft den Begriff des Kürwillens, in den ersten beiden Auflagen sprach Tönnies noch von <?page no="134"?> Gemeinschaft versus Gesellschaft 135 darin, dass die Unterscheidung in der sich radikalisierenden Jugendbewegung auf euphorischen Anklang stößt. Es ist daher notwendig, sich den 1920er-Jahren zuzuwenden. 2. Hellmuth Plessner und die Radikalisierung des Gemeinschaftsdenkens in der Zwischenkriegszeit Sowohl politisch wie auch akademisch intensiviert sich ab den 1910er-Jahren die Debatte um Gemeinschaft und Gesellschaft, bis sie in der Zwischenkriegszeit ihren ersten Höhepunkt erreicht. Der Bedeutungszuwachs lässt sich nicht nur an wissenschaftlichen Diskussionen ablesen, sondern auch daran, dass »Gemeinschaft« zunehmend zum Gegenstand politischer, sozialer und auch architektonischer Planungsphantasien wird. Insbesondere in Deutschland hat »[d]er Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft […] während der ersten Hälfte des [20.] Jahrhunderts einen bestimmenden Einfluss auf alle Vorstellungen und Begriffe gehabt, die sich auf das Zusammenleben der Menschen beziehen« (Schmitt 1960: 165). Gegenüber den Diskussionen des 19.- Jahrhunderts impliziert dies eine entscheidende Verschiebung, da dem die Annahme zugrunde liegt, Gemeinschaften gezielt erzeugen, inszenieren und sogar qua Architektur und Stadtplanung »bauen« zu können (vgl. Kuchenbuch 2010)- - eine Idee, die in deutlichem Kontrast zum entwicklungsgeschichtlichen Denken des 19.-Jahrhunderts steht. Ein Blick auf die Soziologie zur Zeit ihrer akademischen Gründung zeigt zunächst, dass die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft nahezu bei allen Autoren eine zentrale Stellung besitzt. 10 Der direkteste Bezug zu Tönnies findet sich bei dem Theologen und Soziologen Karl Dunkmann, dessen Schrift Die Kritik der sozialen Vernunft. Eine Philosophie der Gemeinschaft (1924) allerdings auf einer tendenziösen Tönnies-Lesart aufbaut. 11 Weiterhin greift Herman Schmalenbach die Unterscheidung auf, erweitert sie aber um die Kategorie des Bundes als eine Form bewusst erzeugter Gemeinschaftsbindung (vgl. Schmalenbach 1922). Begriffliche Analogien sind darüber hinaus auch bei Max Scheler anzufinden, der in seiner Ethik zwischen einer auf Individualismus aufbauenden reinen »Zweckgesellschaft« und einer »in vitaler Sympathie gegründeten Lebensgemeinschaft« (Scheler 1916: 533) unterscheidet. Trotz Verwendung ähnlicher Dichotomien wie Tönnies geht Scheler allerdings nicht von einer Verfallsthese, sondern von einer prinzipiellen Verschränkung von Gemeinschaft und Gesellschaft aus, wonach »alle mögliche Gesellschaft […] also durch Gemeinschaft überhaupt fundiert [ist]« (ebd.: 552). 12 Wie diese Beispiele zeigen, sind die Begriffe und die damit verbundenen semantischen Oppositionen in der Generation nach »Willkür«. Übersetzt wurde das Buch erst 1955 ins Englische und 1977 in Französische, wobei hier für die englischsprachige Debatte bemerkenswert ist, dass es in gleicher Übersetzung unter den Titeln Community and Society, Community and Association und Community and Civil Society erschien. 10 Eine Sonderstellung gegenüber dieser Diskussion nehmen die zeitgenössischen Beiträge zum Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum ein. Vgl. etwa Natorp 1921 sowie Litt 1919. 11 Der Briefwechsel zwischen Tönnies und Dunkmann bezeugt auch dessen Missfallen gegenüber Dunkmanns Interpretation. Vgl. auch Dunkmann 1926 sowie zu einer zeitgenössischen Verteidigung von Tönnies Hermberg 1925. 12 Mit seinen Ausführungen zur Personenethik und dem vertragsrechtlich konzipierten Individualismus nimmt Scheler (ähnlich wie Durkheim (1992: 257 ff.)) zugleich spätere vertragstheoretische Debatten vorweg, die sich etwa bei Parsons, vor allem aber in der kommunitaristischen Kritik des Liberalismus wiederfinden. Betont werden dort die nicht vertraglichen Grundlagen eines jeden Vertrags, d. h. die Angewiesenheit vertraglicher Vereinbarungen auf ein vertraglich nicht einholbares normatives (gemeinschaftlich-solidarisches) Moment (vgl. Scheler 1916: 553). <?page no="135"?> 136 Lars Gertenbach Tönnies zwar weiterhin präsent, werden jedoch von einigen konzeptionellen Verschiebungen begleitet. Noch sichtbarer wird diese Tendenz bei Weber, Simmel und Durkheim, bei denen die Begriffe nicht mehr als primäre Leitunterscheidung des Faches fungieren-- auch wenn ihnen etwa bei Weber durchaus der Status von Grundbegriffen zukommt. Letztlich lassen sich hier vier Tendenzen ausmachen: Erstens findet eine Prozessualisierung der Kategorien statt. Vor allem Simmel und Weber treten dafür ein, statt von Gemeinschaft und Gesellschaft von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu sprechen, um die Vorstellung zu vermeiden, es handele sich um statische Gebilde. Zweitens werden beide Kategorien stärker in ihrer gegenseitigen Verschränkung und Vermischung thematisiert, indem betont wird, dass »die große Mehrzahl sozialer Beziehungen […] teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung« hat (Weber 1980: 22). Drittens lässt sich eine gewisse Entkopplung der Begriffe von normativen und politisch-ethischen Besetzungen beobachten, indem beide etwa bei Weber primär als Einstellungstypen des sozialen Handelns verstanden werden, gerichtet im einen Fall auf »subjektiv gefühlte (affektuelle oder traditionale) Zugehörigkeit« und im anderen Fall auf »rational (wert- oder zweckrational) motivierten Interessenausgleich« (ebd.: 21). Und viertens deutet sich in diesen begrifflichen Umstellungen bereits an, dass die Identifikation des Gemeinschaftsbegriffs mit vormodernen oder nicht modernen Sozialformen problematisiert wird. Statt Gemeinschaft als verdrängtes und im Verschwinden begriffenes Relikt traditionaler Gesellschaften anzusehen, gelten derartige Beziehungsformen als konstitutives Moment von Sozialität insgesamt. Dadurch findet eine gewisse Versöhnung beider Kategorien statt, da nicht mehr von Gemeinschaft oder Gesellschaft als zwei konträren Ausprägungen des Sozialen die Rede ist, sondern von Gemeinschaft(en) in Gesellschaft. Insgesamt lassen sich so trotz der zentralen Stellung des tönniessches Werkes bei den Gründungsautoren der Soziologie einige Verschiebungen beobachten, die auch die Stellung der Unterscheidung im kategorialen Grundgerüst der Soziologie berühren. Doch obwohl dies die dominante Entwicklung der sich akademisch etablierenden Soziologie ist, gilt dies nicht für das gesamte Fach. Denn gegenüber diesen später zu soziologischen Klassikern erkorenen Autoren lässt sich auch eine Diskussionslinie ausmachen, die dem Gemeinschaftsbegriff für die Soziologie wesentlich größeres Gewicht beimisst. Zum Tragen kommt diese ab dem Ende der 1920er-Jahre in einigen nationalkonservativen bis rechten Gruppierungen, die sich in eine Gruppe um Max Hildebert Boehm und Ernst Krieck aus dem jungkonservativen »Ring«-Kreis, die Leipziger Schule um Hans Freyer und Gunther Ipsen sowie die Jenaer Soziologen Franz Wilhelm Jerusalem und Reinhard Höhn aufteilen lassen (vgl. Breuer 2002). 13 Aufbauend auf der Jugendbewegung und der Begeisterung für den nationalen Schulterschluss des Ersten Weltkriegs, ist diesen Strömungen gemeinsam, Gemeinschaft als den alles umschließenden Zentralbegriff der Soziologie zu begreifen und zur historischen Schicksalsfrage zu stilisieren. Dies kulminiert 1933 in dem Versuch, die Soziologie als »deutsche Soziologie« neu zu begründen-- in dem Selbstverständnis, »daß die Tatsache der Gemeinschaft den primären Gegenstand soziologischer Betrachtung zu bilden habe« (Freyer 1935: 143, H.i. O.). 14 Dieses Unternehmen schließt an die bereits in den 13 Die Debatte innerhalb der politischen Linken kann hier nicht eigens aufgegriffen werden. Einerseits fand sie eher abseits der Soziologie statt und andererseits wurde in ihr selten direkt die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft diskutiert, gleichwohl auch sie von dieser Unterscheidung zehrt. Vgl. Eßbach 2011 sowie zur aktuellen Diskussion Kastner 2007. 14 Vor allem Freyer bemüht sich um den Nachweis der »existenziellen« Gemeinsamkeit der deutschen Soziologie seit dem 19.-Jahrhundert, die er in der antibürgerlichen Haltung ausmacht, die schließlich auch zur emphatischen Bezugnahme auf Gemeinschaft führt: »Die bürgerliche Gesellschaft schreitet nicht fort, sondern sie muß überwunden werden. Sie kann aber nur überwunden werden durch den <?page no="136"?> Gemeinschaft versus Gesellschaft 137 frühen 1920er-Jahren begonnenen Versuche an, »die Anti-These von Gemeinschaft und Gesellschaft für die Begründung einer neuen rechten Politik zu instrumentalisieren« (Breuer 2002: 357), gipfelt nun aber noch deutlicher in der Anrufung der »Volksgemeinschaft« als der Instanz einer neuen Form des Gemeinschaftslebens. Obwohl in einigen Hinsichten an die tönniessche Unterscheidung anschließend, zeigen sich gerade an diesem Punkt wesentliche Differenzen. Insbesondere wenn Freyer die gesamte Soziologie als »Baulehre der Gemeinschaft« (Freyer 1935: 140) begreift, wird ersichtlich, dass Gemeinschaft hier zum Objekt politisch-intentionalen Handelns wird- - eine mit Tönnies’ Unterscheidung von Wesen- und Kürwillen nicht zu vereinbarende Konzeption. Es findet hier folglich eine Verdopplung des Gemeinschaftsbegriffs statt: in ursprüngliche, natürliche bzw. im historischen Lauf verdrängte Gemeinschaften auf der einen und neuere, durch Gesinnung und Politik herzustellende Gemeinschaften auf der anderen Seite. Obwohl sich die Befürworter einer völkisch gedachten »deutschen Soziologie« mit ihren Forderungen im Fach am Ende nicht haben durchsetzen können (und auch untereinander zerstritten waren), war es für die Kontrahenten einer Reformulierung der Soziologie als »Lehre von der Gemeinschaft« zunehmend unmöglich, sich politisch oder wissenschaftlich Gehör zu verschaffen. Neben Tönnies, der vor allem ab 1930 sehr direkt sein Missfallen über diese Bestrebungen (und seinen vermeintlichen Einfluss bei dieser Entwicklung) kundtut und seine rationalistische Haltung bekräftigt, findet sich die deutlichste Zurückweisung des Gemeinschaftsradikalismus dieser Zeit daher bereits in den 1920er-Jahren: in der Schrift Grenzen der Gemeinschaft des bei Erscheinen 1924 gerade 31-jährigen Privatdozenten Helmuth Plessner. In diesem Text unternimmt Plessner eine sozialphilosophisch elaborierte und anthropologisch begründete Verteidigung der genuin gesellschaftlichen Formen des Miteinanders, die gegen die »Panarchie der Gemeinschaft« (Plessner 1981: 55) gerichtet ist. Damit geht es Plessner nicht um eine pauschale Verwerfung der Idee der Gemeinschaft, sondern um den Aufweis der Grenzen ihrer Geltung, nicht um Gemeinschaft und Gesellschaft schlechthin, sondern um Gemeinschafts- und Gesellschaftsgesinnung (Plessner 1981: 33; vgl. auch Plessner 1985: 323). Eine Überdehnung der Grenzen der Gemeinschaft findet nach Plessner nun in zwei konträren Richtungen statt: in der von nationalistischen und völkischen Strömungen anvisierten »Gemeinschaft des Blutes« sowie der vom kommunistischen, internationalistischen Ethos getragenen Idee der »Gemeinschaft der Sache« bzw. des Geistes. 15 Beiden hält er entgegen, dass sie die Grenze der Idee der Gemeinschaft bis zu einem Punkt überschreiten, »wo Gemeinschaft unerträglich und würdelos wird« (Plessner 1981: 57). 16 Begründet wird die Zurückweisung des Gemeinschaftsradikalismus bei Plessner mithilfe anthropologischer Annahmen, die in dem drei Jahre später erschienenen Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch (Plessner 1975) genauer ausgearbeitet sind und in der These der »exzentrischen Positionalität« des Menschen zusammenlaufen. 17 In dieser Argumentation erscheint der Rückgang auf tiefere Mächte und Strukturen und den Fortgang zu höheren Formen der Gemeinschaft.« (Freyer 1935: 127) 15 Plessner spricht hier von zwei Formen des »kommunistischen Ethos«: der national-völkischen und der internationalen (vgl. Plessner 1981: 49). Ein besonders drastisches Beispiel der kommunistischen Überhöhung der Gemeinschaft findet sich in den Visionen der russischen Bio-Kosmisten, einer Avantgarde-Bewegung der 1920er-Jahre. Vgl. Groys/ Hagemeister 2005. 16 Die Konsequenzen dieser Entgrenzung benennt Plessner vor allem bei den rechten Gemeinschaftsideologien, er spricht hier unter anderem von der Aufhebung der Intimsphäre der Person (Plessner 1981: 45) und sozialer Exklusion (ebd. 49) bzw. Gewalt. Dem linken Gemeinschaftsradikalismus bescheinigt er vornehmlich eine Überschätzung des Geistes (ebd. 54). 17 Für Plessner ist dieses Programm »durchführbar nur als eine Verteidigung der Gesellschaft und hängt ab vom Nachweis ihrer Notwendigkeit, gemessen an dem Grundwesen der menschlichen Natur.« <?page no="137"?> 138 Lars Gertenbach Gemeinschaftsradikalismus als »Verklärung der Schrankenlosigkeit im Miteinander« (Plessner 2001: 177). Demgegenüber betont Plessner die unaufhebbare Gesellschaftlichkeit des Menschen, d. h. dessen Angewiesenheit auf spezifisch gesellschaftliche Umgangs- und Kulturformen-- weshalb die Schrift gleichzeitig als Einspruch gegenüber der Annahme fungiert, Gemeinschaften seien natürliche, dem Menschen gemäße Sozialformen, während es sich bei Gesellschaften um künstliche oder gar »widernatürliche« soziale Gebilde handele. Um dies zu betonen, verwendet Plessner eine gezielt antidualistische Terminologie und spricht in Bezug auf die exzentrische Positionalität des Menschen vom »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit« und dem »Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit« (Plessner 1975: 309-340). Genuin gesellschaftliche Umgangsformen der »Mitwelt«-- wie Takt und Diplomatie, die in Grenzen der Gemeinschaft im Zentrum stehen-- sind nach Plessner gerade als künstliche Formen der Natur des Menschen gemäß, der als exzentrisch positioniertes Wesen keinen natürlichen, sondern nur einen vermittelten Bezug zu sich selbst hat. Damit formuliert Plessner mit dieser Schrift zugleich einen deutlichen Einspruch gegen die genannten metaphorischen Besetzungen der Unterscheidung. Solche Warnungen vor einem übersteigerten Gemeinschaftsradikalismus waren bereits in den 1920er-Jahren alles andere als unbegründet. Doch auch die leidenschaftliche Gegenschrift von Plessner konnte den Aufstieg des völkischen Gemeinschaftsgedankens nicht aufhalten. Stattdessen erlangte die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft zusammen mit der Unterscheidung von Kultur und Zivilisation ab den späten 1920er-Jahren immer mehr den Status einer gesellschaftlichen Leitunterscheidung und politischen Legitimationsformel (vgl. Breuer 2002: 358). Ein nennenswerter Bruch mit dieser Linie lässt sich erst nach 1945 ausmachen. 3. Victor Turner und die zeitgenössische Neuausrichtung der Debatte um Gemeinschaft und Gesellschaft Obwohl die politischen Diskussionen in Deutschland auch nach 1945 einen starken Bezug auf den Begriff der Gemeinschaft aufweisen, tritt in den Sozialwissenschaften diese Debatte eher in den Hintergrund. Es finden sich zwar weiterhin Unterscheidungen zwischen abstrakten und konkreten oder vermittelten und unvermittelten Sozialbezügen; da der Gemeinschaftsbegriff von den meisten soziologischen Ansätzen nach den im Namen der »Volksgemeinschaft« verübten Gewalttaten gemieden wird, werden sie jedoch eher an anderen, weniger belasteten Begriffen diskutiert. Inhaltlich setzt sich damit jene Verlagerung der Diskussion fort, die bereits an Weber, Simmel und Durkheim zu beobachten ist. In der Konsequenz heißt das, dass Gemeinschaft und Gesellschaft in keinem soziologischen Ansatz mehr als einzige Kategorien bei der Frage nach den unterschiedlichen Formen der Instituierung des Sozialen diskutiert werden. Vielmehr wird die Unterscheidung zunehmend als unterkomplex begriffen, so dass sich die Diskussion zunächst um die Kategorien Institution und Organisation erweitert und neuerdings auch im Konzept des Netzwerks oder dem Begriff des Schwarms wiederfindet. Drei Aspekte sind hier von zentraler Bedeutung: Erstens wird die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft nicht zuletzt durch den Einfluss der US-amerikanischen Soziologie ein Stück weit aus ihrer strengen Dichotomisierung befreit. Vor allem Parsons begreift beide nicht als konträre Ausformungen des Sozialen, sondern als aufeinander verwiesene und ineinander verschränkte Strukturelemente menschlicher Gesellschaft schlechthin. So findet sich die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft (Plessner 1981: 39) Für die Beziehung zwischen den politischen Schriften und der Philosophischen Anthropologie Plessners vgl. Fischer 2002. <?page no="138"?> Gemeinschaft versus Gesellschaft 139 bei Parsons zwar in der Gegenüberstellung der fünf »pattern variables« wieder, dient jedoch vor allem dazu, ein gegenüber der rein binären Unterscheidung differenzierteres Begriffsinstrumentarium zu entwickeln- - so dass sich die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft nunmehr in eine 32 Varianten umfassende Kombinatorik auffächert (vgl. Parsons 1951: 46 ff. sowie Parsons/ Shils 1951: 76 ff.). Darüber hinaus spricht er in seiner allgemeinen Sozialtheorie konsequent von »gesellschaftlicher Gemeinschaft«. Zweitens lässt sich beobachten, dass die an den beiden Begriffen diskutierte Frage der Ordnungsformen des Sozialen schrittweise auch an anderen soziologischen Kategorien verhandelt wird. In Differenz zu jenen Ansätzen, die wie Freyer im Begriff der Gemeinschaft ein »geschichtsphilosophisches Urteil über die bürgerliche Gesellschaft« (Freyer 1935: 129) am Werk sahen, verschiebt sich die Unterscheidung dadurch nun deutlicher auf allgemeinere Fragen der Instituierung des Sozialen, denen sich vor allem in der englischsprachigen Soziologie bereits seit den 1940er-Jahren die neu entstandenen Disziplinen der Institutions- und Organisationssoziologie angenommen haben. Drittens findet eine stellvertretende Diskussion dieser Fragen auch an anderen, politisch weniger belasteten Begriffen statt. Während der Gemeinschaftsbegriff in der Soziologie der 1950er-und 1960er-Jahre oftmals durch den Begriff der Gruppe ersetzt wird (seit den 1990er-Jahren folgt hier der Netzwerk- Begriff ), findet die Gegenüberstellung auch einen Nachhall in der Unterscheidung von System und Lebenswelt, wie man sie vor allem bei Habermas anfindet. 18 Eine ähnliche Bewegung der Begriffsersetzung lässt sich auch in den Kulturwissenschaften beobachten. Statt von Gemeinschaften spricht man dort (wie auch in der Politikwissenschaft mit anderer Begriffsbedeutung) seit dem Aufstieg konstruktivistischer Theoriemodelle von »kollektiven Identitäten«-- einerseits, um den Impetus der Natürlichkeit zu umgehen und andererseits, um den spezifischen Konstruktionscharakter von sozialen Gruppierungen in den Blick zu bekommen. In der Folge findet sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften eine zugleich weniger polarisierende als auch weniger politisch-ethische Begrifflichkeit, bei der eine deutliche Distanz gegenüber den Versuchen spürbar ist, Gemeinschaft und Gesellschaft in den Rang allumfassender Leitkategorien zu erheben. Dies hat zur Folge, dass die Begriffe weniger als gesellschaftstheoretische und historische Leitformel fungieren, sondern primär als sozialtheoretische Kategorien begriffen werden, die stärker an der allgemeinen Diskussion um die verschiedenen Formen der Instituierung und Stabilisierung des Sozialen orientiert sind. Dass die Unterscheidung ihre einstige Stellung als Leitformel zur Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit eingebüßt hat, geht folglich mit einer Verschiebung der Perspektive einher, die sich noch deutlicher zeigt, wenn man die ethnologische und sozialanthropologische Forschung in den Blick nimmt, der für die Erneuerung der sozialtheoretischen Debatte ab den 1980er-Jahren eine zentrale Rolle zukommt. Im Unterschied zur soziologischen Tradition werden Gemeinschaft und Gesellschaft hier weniger als verschiedene Gesellschaftstypen einander gegenübergestellt; beide gelten vielmehr als temporal und situativ differente Momente von Sozialität als solcher. Dies hat zur Folge, dass hier weniger von Gemeinschaften, sondern von Prozessen der Vergemeinschaftung gesprochen wird und Gemeinschaft und Gesellschaft nicht in einem diachronen Verhältnis zueinander stehen, sondern als zwei Prinzipien sequenziell ineinander verschränkt sind. Neben einigen Autoren, die hier als Stichwortgeber und Vorläufer gelten können, 19 kommt für diese Theorielinie vor allem Victor Turner und dessen 18 Habermas selbst begreift diese Unterscheidung allerdings nicht als unmittelbare Übersetzung der Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Habermas 1995: 333 ff.). 19 Zu nennen wäre hier insbesondere die französische Ethnologie, einzelne wichtige Studien stammen von Émile Durkheim, Claude Lévi-Strauss und Marcel Mauss. Insbesondere Mauss’ Text Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften (1989) wurde zum Ausgangspunkt von Überlegungen, <?page no="139"?> 140 Lars Gertenbach Schrift Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur (2005) paradigmatischer Charakter zu. Zwar verwendet er zum Teil ähnliche metaphorische Umschreibungen und betont in Übereinstimmung mit der soziologischen Tradition, dass es im Konzept der Gemeinschaft um »die Anerkennung einer essentiellen und generellen menschlichen Beziehung [geht], ohne die es keine Gesellschaft gäbe« (ebd., H.i. O.); die Entfaltung dieser Annahme führt ihn jedoch zur einer gänzlich anderen Bestimmung des Verhältnisses beider Begriffe als Tönnies. Denn Gemeinschaft hat ihren Ort nach Turner nicht in festen und überdauernden sozialen Formen, sondern ereignet sich in rituellen Passagen und ephemeren Situationen. Während Gesellschaft als strukturierte und sozialhierarchisch gegliederte soziale Ordnung gilt, wird Gemeinschaft als ungerichtetes und anti-strukturelles Gegenmoment begriffen. In diese Opposition zum Begriff der Struktur gesetzt, besitzt Gemeinschaft für Turner »Schwellencharakter, da Dauerhaftigkeit Institutionalisierung und Wiederholung voraussetzt, Gemeinschaft aber […] immer völlig einzigartig und deshalb sozial vergänglich ist« (ebd.: 133). Spätestens mit diesen Bestimmungen wird deutlich, worin sich diese ethnologische Tradition von der soziologischen, wie wir sie vor allem bei Tönnies vorfinden, unterscheidet: Erstens wird die Unterscheidung nicht zeitlich oder historisch, sondern sequenziell bestimmt: Gemeinschaftliche Formen sind gesellschaftlichen gerade nicht vorgängig (und folglich hierdurch in ihrer Existenz gefährdet), sondern ein der Gesellschaft inhärentes Gegenprinzip, das von Zeit zu Zeit und insbesondere in Schwellenphasen und Ritualen gesellschaftliche Ordnung suspendiert und das Alltägliche in Momenten der Außeralltäglichkeit auf Distanz hält. Der sequenzielle Charakter lässt sich als eine Art Rhythmus verstehen, da »jeder Einzelne […] im Laufe seines Lebens abwechselnd mit Struktur und Communitas, Zuständen und Übergängen konfrontiert« wird (ebd.: 97). Zweitens unterscheiden sich beide in der Frage der Dauerhaftigkeit von Gemeinschaften. Während Tönnies Gemeinschaft als »das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares begreift« (Tönnies 1991: 4), kehrt Turner diesen Aspekt um, wenn er Gemeinschaften als ephemere und liminale Erlebnisform bestimmt: »Communitas gehört dem Hier und Jetzt an; Struktur wurzelt aufgrund von Sprache, Gesetz und Brauch in der Vergangenheit und reicht in die Zukunft.« (Turner 2005: 111) Und drittens widersetzt sich Turner im Unterschied zu Tönnies der Annahme, Gemeinschaft habe feste oder gar überhistorisch gültige Formen. Prozesse der Vergemeinschaftung werden hier als nachträglicher Reaktionsmechanismus auf gesellschaftliche Strukturen verstanden. Die modernisierungstheoretische These der Verdrängung gemeinschaftlicher Beziehungen wird demnach durch ein Modell komplementärer Ergänzung ersetzt, in dem die Instanzen der Communitas sich entsprechend der gesellschaftlichen Struktur je neu formen. Vor diesem Hintergrund wird bei Turner der Begriff der Gemeinschaft aus dem Assoziationsfeld von Ursprünglichkeit, Eigentlichkeit und Dauerhaftigkeit herausgelöst und als ein Moment des außeralltäglichen und mitunter auch rauschhaften Erlebens neu bestimmt. Diese Wendung hat gegenüber den gesellschaftsgeschichtlich überhöhten Positionen der früheren Soziologie eine empirische Öffnung der Debatte bewirkt, die auch eine differenziertere Auseinandersetzung mit konkreten Mechanismen der Vergemeinschaftung ermöglicht- - seien es Momente kollektiven Erlebens und des Rausches, spezifische Ereignisse, Rituale und Praktiken oder auch Prozesse der wie gesellschaftliche Ordnung im Wechselspiel von funktionalen, arbeitsteilig-ökonomischen Erfordernissen und kollektiven Riten, Festen und gemeinschaftlichen Praktiken gestiftet und abgesichert wird (vgl. auch Durkheim 1994: 300). Eine ähnliche zeitgenössische Position nimmt hierzu Michel Maffesoli ein, der Gemeinschaft mit Rausch, Erlebnis und »kollektiver Efferveszenz« in Verbindung bringt (vgl. Maffesoli 1986: 106 f.). <?page no="140"?> Gemeinschaft versus Gesellschaft 141 Exklusion und Gewalt. Ein wenig aus dem Blick gerät hierbei jedoch die politische Dimension von Gemeinschaft. Dass diese auch in gegenwärtigen Gesellschaften virulent bleibt, bezeugen zwei weitere Diskussionslinien, die sich entlang der Debatte um Gemeinschaft gebildet haben: der Liberalismus-Kommunitarismus-Streit sowie dekonstruktivistische Positionen, die sich um eine Neubestimmung des Politischen bemüht haben. Beide sollen nun abschließend zusammen mit den Diskussionen um posttraditionale Vergemeinschaftung skizziert werden. 4. Neuere Diskussionslinien Der international wichtigste Stichwortgeber bei der Erneuerung der Gemeinschaftsdebatte ab den 1980er-Jahren ist der US-amerikanische Kommunitarismus. Entstanden in Reaktion auf die Reformulierung des politischen Liberalismus durch John Rawls in seiner Schrift A Theory of Justice von 1971, ist der zentrale Ort dieser bis in die 1990er-Jahre vehement geführten Debatte die politische Philosophie. Neben den vertragsrechtlichen Aspekten, die bereits bei Rawls im Zentrum stehen, kreist der Streit vor allem um normativ-ethische Fragen, die allesamt das Verhältnis von Gemeinschaft und Gerechtigkeit betreffen. 20 Die kommunitaristische Kritik, etwa von Michael Sandel, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre, ist dabei primär am Stellenwert und der Tragweite der individualistischen Grundannahmen von Rawls ausgerichtet, wobei hier zwei Aspekte problematisiert werden: die politisch-ethischen Konsequenzen einer individualistischen Rechtskonzeption und die Personenkonzeption des Liberalismus, d. h. die aus Sicht des Kommunitarismus falschen theoretischen bzw. sozialontologischen Annahmen des Individualismus. Entsprechend sind es zwei Fragen, die diese Debatte bestimmen: die sozialtheoretische Frage, ob das Individuum der Gemeinschaft oder die Einbettung in gemeinschaftliche Bindungen dem Individuum vorgängig ist; und die politische Frage nach der normativen Präferierung bzw. dem nicht zuletzt auch rechtlichen Primat im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft (vgl. Taylor 1995). Ungeachtet gegenseitiger Missverständnisse 21 macht der Streit zwischen beiden Positionen damit noch einmal deutlich, welche politischen, rechtlichen und ethischen Probleme an der Frage nach Gemeinschaft hängen-- weshalb die Debatte bis heute eine Fortsetzung in Diskussionen um Kollektivrechte, den Schutz von Minderheiten oder gruppenbezogene Diskriminierungen findet (vgl. ex. Kymlicka 1995). Eine weitere Konzentration auf die politischen und philosophischen Aspekte des Gemeinschaftskonzepts findet sich in dekonstruktivistischen Positionen, denen vor allem Jean-Luc Nancy und Roberto Esposito zuzurechnen sind. Mit dem Kommunitarismus teilen diese die Betonung der konstitutiven Einbettung der Subjekte in gemeinschaftliche Bezüge, wenngleich weniger die normative Bindung an Wertegemeinschaften gemeint ist, sondern die unaufhebbare Gemeinschaftlichkeit menschlicher Existenz. Damit lassen sich die Versuche einer Dekonstruktion der Gemeinschaft als eine Art dritte Position zum Liberalismus-Kommunitarismus-Streit begreifen, die sich an zwei Eigentümlichkeiten des Gemeinschaftsdenkens abarbeiten: den darin oftmals enthaltenen Ursprungsmythen sowie der identitätslogischen Konzeption des Gemeinschaftsbegriffs. Mit dieser Stoßrichtung zielen die dekonstruktivistischen Positionen darauf, das Gemeinschaftsdenken der »Dialektik von Ursprung und Vollendung, von Verlust und Wiederfindung, von Abspaltung und Rückkehr« (Esposito 2004: 170) zu entreißen, wobei der Identi- 20 So auch der Titel des Bandes, der sich um eine Diskussion dieser Positionen für den deutschsprachigen Raum bemüht. Vgl. Brumlik/ Brunkhorst 1993. 21 Zu Fehlwahrnehmungen in der Rezeption der Debatte: vgl. Joas 1993. <?page no="141"?> 142 Lars Gertenbach täts- und Ursprungslogik des Gemeinschaftsdenkens ein Begriff der »undarstellbaren« oder »entwerkten Gemeinschaft« (Nancy 1988; 2004) entgegengesetzt wird. Obwohl die stark an Heidegger orientierte Argumentation von Nancy und Esposito auf einer recht abstrakten Ebene verbleibt, 22 hat die Problematisierung des Gemeinschaftsbegriffs zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den semantischen Implikationen und oftmals stillschweigenden Prämissen der Debatte um Gemeinschaft und Gesellschaft beigetragen und gleichzeitig wieder darauf hingewiesen, dass die Frage nach Gemeinschaft unhintergehbar politisch ist (vgl. Böckelmann/ Morgenroth 2008). Im Gegensatz zu den primär philosophischen und politikwissenschaftlichen Beiträgen lässt sich als dritte wichtige Position seit den 1980er-Jahren die soziologische und ethnographische Diskussion um das Konzept der posttraditionalen Vergemeinschaftung ausmachen. Ihren Ausgangspunkt hat diese Debatte in der Beobachtung von neuen Mustern der Vergemeinschaftung in der Spätmoderne, die durch Freiwilligkeit, Kurzlebigkeit und Spontaneität gekennzeichnet sind (vgl. Hitzler et al. 2008). 23 Als prototypische Phänomene des Wandels der Gemeinschaftsbildung und -bedeutung gelten hierbei vor allem Jugendszenen, Subkulturen und eventhafte Zusammenkünfte in urbanen Räumen (vgl. Hitzler 2008). In bemerkenswerter Opposition zur Begrifflichkeit bei Tönnies sind posttraditionale Gemeinschaften nicht durch natürliche Bindungen, Dauerhaftigkeit und feste Zugehörigkeit bestimmt, vielmehr zeichnen sich gerade durch ihren situativen und flüchtigen Charakter und eine erlebnisorientierte, ästhetische und zuweilen auch rauschhafte Haltung aus- - weshalb Bauman hier auch von »ästhetischen« bzw. »Instant-Gemeinschaften« spricht (2009: 81 ff.). Ähnlich wie bei Turner befinden sich diese »Eventgemeinschaften« nicht in direkter Opposition zu gesellschaftlichen Organisationsformen, sie entstehen vielmehr »innerhalb der Vollzugsroutinen moderner Gesellschaftlichkeit« (Hitzler et al. 2008: 18, H.i. O.). So unterschiedlich diese drei Diskussionslinien ausfallen, gemeinsam ist ihnen, dass sie auch international als zentrale Wegmarken der neueren Diskussion um Gemeinschaft und Gesellschaft gelten können. Entsprechend sind die Fragen, die sich hieran anschließen, zugleich auch wichtige Desiderate der aktuellen Forschung. Innerhalb der soziologischen Debatte wird hierbei vor allem über die theoretische und empirische Reichweite des Konzepts der posttraditionalen Vergemeinschaftung diskutiert. Eine bis heute offene Frage ist in diesem Zusammenhang, ob derart flüchtige Assoziationen überhaupt als Gemeinschaften im starken Sinne begriffen werden können (und sollen). Als relevant erweist sich auch die Frage, ob posttraditionale Gemeinschaften imstande sind, jene Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und Nähe zu erfüllen, die aufseiten der Subjekte das Begehren nach Gemeinschaftlichkeit erst motivieren. Lassen sich also posttraditionale Gemeinschaften als funktionales Äquivalent zu »klassischen Gemeinschaften« begreifen oder ist davon auszugehen, dass diese Anforderungen unter den heutigen Bedingungen nicht mehr zeitgemäß sind? Haben wir es hier mit neuen Arten sozialer Beziehungen zu tun, die über die klassischen Formen der Instituierung des Sozialen hinausgehen? Neben diesen Aspekten zeichnen sich noch weitere Problemkreise und Diskussionslinien der aktuellen Forschung ab, die sich etwa auf die Beziehung von Gemeinschaftsbildung zu Exklusion und Gewalt, die Möglichkeit netzwerkförmiger Gemeinschaften (bzw. die Differenzen zwischen Gemeinschaften und Netzwerken) sowie die Bedeutung »virtueller Gemeinschaften« beziehen. Beson- 22 Vgl. ausführlicher in Bippus et al. 2010. 23 Ebenfalls von »posttraditionaler Gemeinschaft« spricht Axel Honneth. Im Unterschied zu den soziologischen Arbeiten geht es Honneth aber um eine primär normative Diskussion der Form von Gemeinschaft in liberaldemokratischen Gesellschaften, die er als »liberal community« begreift (vgl. Honneth 1993: 261). <?page no="142"?> Gemeinschaft versus Gesellschaft 143 ders die Frage nach der Bedeutung zeitgenössischer Kommunikationsmedien ist zugleich mit der Hinwendung zu aktuellen politischen Protesten verknüpft, wie sie im »Arabischen Frühling«, am Taksim-Platz in Istanbul oder bei der Occupy-Bewegung anzufinden sind. Denn hierbei handelt es sich keineswegs nur um technisch gut vernetzte und medial organisierte Protestbewegungen, sondern um eine ohne den technisch-medialen Anteil undenkbare, kreative Neuformierung politischen Gemeinschaftshandelns. Und nicht zuletzt wurde hierin auch deutlich, wie sehr Gemeinschaftsbildung als ein zutiefst affektives Geschehen begriffen werden muss-- ein Aspekt, der vor allem in der politischen Debatte um Gemeinschaften bislang kaum berücksichtigt wurde. Obwohl der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft in der heutigen Soziologie also nicht mehr die zentrale theorietragende Funktion zugeschrieben wird, zeigen diese wenigen Beispiele bereits, dass die hieran diskutierten Fragen keineswegs obsolet sind. Wie sehr sie sich aber beantworten lassen, wird auch davon abhängen, ob es gelingt, die Unterscheidung stärker mit aktuellen Debatten in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu verknüpfen. Als Klammer kann hierbei die Frage nach den verschiedenen Formen der Instituierung und Stabilisierung des Sozialen fungieren- - eine Frage, die sich mit der binären Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft allein kaum fassen lässt. Literatur Bauman, Zygmunt (2009): Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt/ M. Bippus, Elke/ Huber, Jörg/ Richter, Dorothee (2010) (Hg.): ›Mit-Sein‹. Gemeinschaft- - ontologische und politische Positionierungen, Wien/ New York. 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Die Sonderrolle dieses Autors in der Geschichte der Soziologie ergibt sich wohl daraus, dass er einerseits die ihm vorausgehende Tradition der Klassiker von Vilfredo Pareto über Émile Durkheim bis Max Weber zum ersten Mal systematisch erschlossen und andererseits die Ergebnisse seiner Rekonstruktion zu einer Gesellschaftstheorie verarbeitet hat, die in Hinblick auf kategoriale Differenziertheit, Systematik und empirische Reichweite beinahe konkurrenzlos dasteht. Die Auseinandersetzung mit dem breitgefächerten Werk von Parsons lohnt sich daher stets schon deswegen, weil alle seine Teile Anregungen enthalten, die für die Weiterentwicklung sei es der Gesellschaftstheorie oder der soziologischen Einzeldisziplinen fruchtbar gemacht werden können. Im Folgenden soll ein Überblick über die Entwicklung der Theorie von Parsons gegeben sowie am Ende der Ausblick auf eine anerkennungstheoretische Aktualisierung eröffnet werden. 2. Die voluntaristische Handlungstheorie Im Zentrum von Parsons’ Werk steht die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung. In seiner ersten großen Schrift The Structure of Social Action aus dem Jahr 1937 entwickelt er diese Frage anhand seiner berühmt gewordenen Kritik am Utilitarismus, genauer an den handlungstheoretischen Prämissen der utilitaristischen Denkströmung, denen zufolge menschliches Handeln grundlegend nutzenorientiert, d. h. auf die effiziente Erreichung von Zielen ausgerichtet ist. In Parsons’ Augen werden die handlungstheoretischen Prämissen und problematischen Konsequenzen dieser Position, die eigentlich der englischen Philosophie des 18. und frühen 19.- Jahrhunderts zuzurechnen ist, in ihrer Reinform durch die politische Philosophie von Thomas Hobbes repräsentiert (Parsons 1968 [1937]: 90 f.). In der Sekundärliteratur brachte das Parsons den etwas fehlgeleiteten Vorwurf ein, den Begriff des Utilitarismus zu lose gebraucht bzw. für seine Zwecke rhetorisch missbraucht zu haben, da Hobbes bekanntermaßen weit vor dem 18.- Jahrhundert wirkte (vgl. Camic 1979; dagegen aber Gould 1989). Parsons, der jedoch vor allem an den ideengeschichtlichen Ursprüngen des utilitaristischen Denkens interessiert war, entdeckt in Hobbes’ Hauptwerk Leviathan (1651) nicht nur die Grundbausteine jenes Denkens, sondern auch die erste Formulierung des Problems sozialer Ordnung. Hobbes geht in diesem Werk von einem hypothetischen Naturzustand aus, in dem keine verbindlichen Normen existieren und in dem alle Menschen, der utilitaristischen Auffassung ent- <?page no="149"?> 150 Axel Honneth / Kristina Lepold sprechend, ihren eigenen Nutzen in Form einer Pluralität von Begierden zu maximieren trachten. Angesichts von Ressourcenknappheit sind die Mittel, über die der eine verfügt, allerdings die Mittel, die dem anderen zur Realisierung seiner Begierden fehlen. Die Folge einer solchen uneingeschränkt egoistischen Interessenverfolgung wäre zwangsläufig ein Krieg aller gegen alle, ein durch permanente Gewalt und Betrug geprägter Zustand. Soziale Ordnung ist unter diesen Bedingungen dauerhaft also nicht möglich. »A purely utilitarian society«, wie Hobbes sie entwerfe, »is chaotic and unstable«, »an inherently unstable phenomenon, incapable of empirical subsistence.« (Parsons 1968 [1937]: 93) Einen Ausweg sieht Hobbes nur in einem starken Staat, dem Leviathan, und in der Unterwerfung aller Menschen unter dessen Autorität. Die damit angedeutete Lösung erscheint Parsons jedoch zu brüchig: Sie überdehnt die Rationalität der Akteure entscheidend, da sie voraussetzt, dass diese aus dem langfristigen Motiv der Selbsterhaltung heraus ihre kurzfristigen Interessen zurückstellen und per Vertragsschluss ihr Gewaltpotenzial an eine zentrale Herrschaftsinstanz abtreten. Das erscheint aus individueller Perspektive angesichts der möglichen Vorteilsnahme durch andere allerdings ganz und gar nicht rational-- ein Problem, das in den Wirtschaftswissenschaften und den davon stark beeinflussten soziologischen und politikwissenschaftlichen Theorien der rationalen Wahl unter dem Stichwort des Kollektivgutproblems verhandelt wird. Aus der Sicht von Parsons scheitert Hobbes bei der Lösung des Problems sozialer Ordnung an den utilitaristischen Prämissen seiner Handlungstheorie, deren Fehler sich dann, wie Parsons ausführt, in den Arbeiten von Locke, Malthus, Godwin, der Evolutionstheorie des 19.-Jahrhunderts und Marx in unterschiedlicher Weise wiederholen sollten. Die Kritik von Parsons an diesen utilitaristischen Positionen besteht in dem Nachweis, dass jeder Versuch, soziale Ordnung auf Basis von utilitaristischen Prämissen zu denken, in das sogenannte utilitaristische Dilemma mündet-- in eine Wahl nämlich zwischen zwei gleichermaßen unannehmbaren theoretischen Positionen. Entweder wird die freie Wahl der Ziele des Handelns betont, die Ziele der Akteure besitzen also einen rein zufälligen Charakter und die Koordination ihrer Handlungen über die Zeit kann nicht erklärt werden, oder aber die Ziele der Akteure werden als durch einen externen Faktor-- Handlungssituation oder Vererbung- - determiniert betrachtet, womit den utilitaristischen Grundannahmen, insbesondere der individueller Entscheidungsfreiheit, direkt widersprochen würde. Die Lösung des Problems sozialer Ordnung ist daher Parsons zufolge innerhalb des utilitaristischen Theoriehorizonts nicht möglich (ebd.: 93). Wie aber ist soziale Ordnung-- verstanden als die auf Zeit gestellte Koordination einer Vielzahl von individuellen Handlungen-- dann erklärbar, wenn gleichzeitig am Moment der Freiheit der Akteure festgehalten werden soll? Das nun ist die systematische Herausforderung, vor der Parsons nach seiner Kritik am Utilitarismus steht. In Auseinandersetzung mit den Werken von Alfred Marshall, Vilfredo Pareto sowie insbesondere Émile Durkheim und Max Weber arbeitet Parsons seine eigene Antwort auf diese Frage aus, wobei er mit diesen Autoren eine Auswahl trifft, die später für die Soziologiegeschichte aufgrund ihrer kanonischen Definition der soziologischen Klassiker-- insbesondere durch die oft bemerkte und kritisierte Auslassung von Georg Simmel, aber auch anderer, mehrheitlich amerikanischer Autoren-- folgenreich werden sollte. Interessant aus Sicht von Parsons ist, dass jene vier so verschiedenen Autoren in ihren Arbeiten nicht nur mit ähnlichen theoretischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, sondern überdies auch ähnliche Intuitionen hegen, was die Überwindung dieser Schwierigkeiten betrifft. Unabhängig voneinander hätten sie nicht nur die Begrenztheit der utilitaristischen Handlungskonzeption erkannt, sondern wären überdies auf die Bedeutung geteilter Werte und Normen aufmerksam geworden-- eine auch als Konvergenzthese bezeichnete Behauptung, die Parsons wohl vor allem zur Plausibilisierung des eigenen theoretischen Projekts diente <?page no="150"?> Strukturfunktionalismus 151 und im Nachhinein häufig zum Anlass kritischer Kommentare wurde, wobei man oftmals übersehen hat, dass lediglich die Konvergenz der Theorien in einer spezifischen Hinsicht behauptet wurde (prominent etwa bei Pope, Cohen und Hazelrigg 1975). Die geteilten Werte und Normen jedenfalls sind es, die in Parsons’ Augen den Schlüssel zur Lösung des Problems sozialer Ordnung darstellen. Im Anschluss an seine Kritik am Utilitarismus und inspiriert von den Arbeiten Marshalls, Paretos, Durkheims und Webers entwickelt Parsons eine »normativistische Ordnungstheorie«. Dabei nutzt er ein der kantischen Transzendentalphilosophie strukturanaloges Argument: Geteilte Werte und Normen sind die transzendentalen Bedingungen sozialer Ordnung. Soziale Ordnung ist also nur durch das Vorhandensein geteilter Werte und Normen möglich. Diese geteilten Werte und Normen strukturieren nämlich die einzelnen Handlungsziele der Akteure, nehmen diesen also die Zufälligkeit, die noch aus den utilitaristischen Annahmen folgte, und ermöglichen so die auf Zeit gestellte Koordination von Handlungen einer Vielzahl von Akteuren. Was dies genau bedeutet, kann man sich etwa am Beispiel des Funktionierens von Märkten klar machen, woran übrigens auch erkennbar wird, dass Parsons’ Kritik am Utilitarismus keinesfalls zu einer einseitigen Hinwendung zur idealistischen Tradition führte, sondern ein Interesse daran offenbarte, die besten Einsichten beider Traditionen zu verbinden. Auf den ersten Blick scheinen Märkte nämlich zu funktionieren, als würden sie von einer unsichtbaren Hand geleitet: Durch die Vermittlung zwischen Angebot und Nachfrage bilden sich bestimmte Preise, die von niemandem konkret beabsichtigt waren, sondern eher als nicht intendierte Folge des rationalen, nutzenmaximierenden Verhaltens vieler Individuen anzusehen sind. Diese Ordnung beschreibt Parsons als »faktische Ordnung«. Dass aber die Koordination dieser Individuen auf eine bestimmte Weise überhaupt stattfinden kann und über die Zeit stabil ist, indem etwa bestimmte Ziele und Mittel zu deren Erreichung als legitim gelten und andere nicht, ist von der Rahmung durch eine »normative Ordnung« abhängig. Noch das vermeintlich reinste rationale, nutzenmaximierende Verhalten ist somit normativ imprägniert-- eine vor allem auf Durkheim zurückgehende theoretische Einsicht, die die Soziologie insgesamt, aber vor allem auch die Wirtschaftssoziologie nachhaltig beeinflussen sollte, wovon etwa Jens Beckerts hervorragende Studie Die Grenzen des Marktes (1997) Zeugnis ablegt. Wie Parsons in dem nur drei Jahre nach The Structure of Social Action veröffentlichten Aufsatz »Die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns« schreibt, sei wirtschaftliches Handeln durch institutionelle Muster geprägt, also durch »normative[n] Muster, durch die definiert wird, welche Formen des Handelns oder welche sozialen Beziehungen in einer gegebenen Gesellschaft als angemessen, rechtmäßig oder erwartet betrachtet werden« (Parsons 1964 [1940]: 140; Hervorh. A. H./ K. L.). Das vorangegangene Zitat macht überdies deutlich, was durch die Rede von der Geteiltheit von Werten und Normen bereits impliziert ist, dass es nämlich vorweg, wie von Durkheim beschrieben, stets eines Konsenses über die herrschenden Werte und Normen in einer Gesellschaft, eines normativen Konsenses bedarf. Die Individuen müssen diese Werte und Normen als verbindlich anerkennen, sie müssen diesen zustimmen, diese als-- hier mit Weber gesprochen-- legitim erachten. Soziale Ordnung ist also bei genauerer Betrachtung für Parsons nur durch die Existenz eines normativen Konsenses möglich, da nur eine legitime Ordnung langfristig auf die Folgebereitschaft ihrer Mitglieder zählen kann-- eine zentrale Annahme, die sich wie ein roter Faden durch Parsons’ weitere Theorieentwicklung zieht. Diese Annahme des normativen Konsenses bildet gleichzeitig die Brücke zu Parsons’ Handlungstheorie, die er auch als »voluntaristische Handlungstheorie« bezeichnet. Handeln wird von Parsons zunächst im sogenannten »action frame of reference« (im Deutschen übersetzt als »handlungstheoretischer Bezugsrahmen«) als Prozess der Zielerreichung konzipiert, in dem Werte und Normen einen eigenständigen Platz neben den Kategorien Ziel, Mittel <?page no="151"?> 152 Axel Honneth / Kristina Lepold und Bedingungen einnehmen. Dieses normative Element spielt für ihn, wie sich schon angedeutet hat, sowohl bei der Zwecksetzung als auch bei der Mittelwahl eine entscheidende Rolle. Parsons erweitert damit in bedeutender Hinsicht das Handlungsschema, das noch den utilitaristischen Positionen zu eigen war, auch wenn er die Engführung auf Zweck-Mittel-Relationen letztlich beibehält und so andere Handlungsformen wie expressives Handeln nicht zu fassen vermag (vgl. Joas 1992: 54). Wichtig ist für Parsons in diesem Zusammenhang vor allem, dass sich die Individuen in ihrer Zustimmung zu den herrschenden Werten und Normen auf diese verpflichten. Der Konsens bzw. die Zustimmung ist für ihn der entscheidende Grund, weshalb die gesellschaftlichen Werte und Normen im Handeln der Individuen überhaupt wirksam werden und soziale Ordnung im Ergebnis möglich ist. Insofern sind die »normativistische Ordnungstheorie« und die »voluntaristische Handlungstheorie« für Parsons aufs Engste verknüpft-- ein Zusammenhang, der in der Sekundärliteratur nicht selten übersehen, ja sogar als Gegensatz konstruiert wurde (vgl. Gouldner 1970: 190; Scott 1963; dagegen aber Alexander 1983: 20, 35-45). Handeln ist für Parsons vor diesem Hintergrund immer auch mit einer moralischen Anstrengung (»effort«) verbunden: Es geht im Handeln darum, die herrschenden Werte und Normen angesichts von realen Gegebenheiten wie Interessens- und Machtkonstellationen zu verwirklichen (Parsons 1968 [1937]: 76 f., 396). Dabei nennt er neben dem Gefühl der moralischen Verpflichtung soziale Achtung und Scham als motivationale Mechanismen, worauf an späterer Stelle in diesem Beitrag noch näher eingegangen wird. Insgesamt kann Parsons’ Voluntarismus als »soziologische Wendung« »der Kantischen Idee der Freiheit als des Gehorsams gegenüber selbstgegebenen Gesetzen« interpretiert werden (Habermas 1995 [1981], Bd. 2: 310). Durch den Rekurs auf das Normative gelingt es Parsons also nicht nur, die Zufälligkeit des Handelns, die noch aus den utilitaristischen Prämissen folgte, zu umgehen. Es gelingt ihm zugleich auch, das Moment der menschlichen Freiheit in seine Lösung des Ordnungsproblems zu integrieren. Bei dieser Lösung beließ es Parsons allerdings nicht. Vor allem die Fragen, wie genau die Verknüpfung zwischen geteilten Werten und Normen und dem Handeln zu denken sei und was die Akteure zum wert- und normkonformen Handeln motiviere, blieben in seinem Frühwerk noch relativ offen. Dies sollte sich in der Folgezeit, mitunter durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Freud’schen Psychoanalyse, ändern. 3. Strukturfunktionalismus und Systemtheorie Im weiteren Werkverlauf widmete sich Parsons vor allem dem Ausbau seiner Theorie der sozialen Ordnung, die er selbst als »strukturfunktionalistisch« bezeichnete. Sein Ziel ist es, die Erfordernisse zu benennen, die funktional notwendig sind, damit eine Gesellschaft in ihrer Struktur dauerhaft bestehen kann. Wie wir gleich sehen werden, hielt Parsons dabei an seiner Einsicht aus dem Frühwerk in die Bedeutung von geteilten Werten und Normen fest. Daher wird sein »Strukturfunktionalismus« in der Sekundärliteratur oftmals auch mit dem Begriff »normativistischer Funktionalismus« bezeichnet. Der Ausgangspunkt seines Unternehmens ist zunächst noch ein handlungstheoretischer, allerdings gerät Parsons, wie ebenfalls sogleich deutlich werden wird, zunehmend in Schwierigkeiten, diesen handlungstheoretischen Ansatz und die funktionalistische Ordnungstheorie zu integrieren. In der 1951 erschienenen Schrift The Social System und dem zur gleichen Zeit mit Edward A. Shils gemeinsam herausgegebenen Band Toward a General Theory of Action wird das Problem der Ordnung differenzierter als zuvor entfaltet und stellt sich nun im Dreieck von sozialem System, Persönlichkeitssystem und kulturellem System: Die geteilten Werte schlägt Parsons hier <?page no="152"?> Strukturfunktionalismus 153 zunächst dem kulturellen System zu. Eingang in das Handeln der Individuen finden sie auf zwei Weisen. Einerseits werden die kulturellen Werte im sozialen System in Rollen institutionalisiert und so in die Form von handlungsverbindlichen Normen gegossen. Durch Rollen werden also von den kulturellen Werten abgeleitete Verhaltensweisen definiert, die man von den Inhabern der Rollen je nach Kontext erwartet und deren Enttäuschung im Normalfall sozial sanktioniert wird (vgl. Parsons/ Shils 1951: 191). Beispiele für soziale Rollen sind etwa die Rolle des Arztes oder die der Mutter. Andererseits werden die Werte und die aus ihnen abgeleiteten Normen von den Individuen im Prozess der Sozialisierung internalisiert, d. h. erlernt, und so im Persönlichkeitssystem verankert. Es handelt sich bei den drei »Subsystemen« demnach um interdependente Systeme, die jedoch auch eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen. Deshalb ist eine vollkommen konsistente Realisierung der kulturellen Werte aus Parsons’ Sicht auch nie möglich. Einerseits kann es nämlich zu sozialen Situationen kommen, in denen verschiedene Verhaltenserwartungen konfligieren, in denen also ein Rollenkonflikt vorliegt. Wie Parsons erklärt: »By this is meant the exposure of the actor to conflicting sets of legitimized role expectations such that complete fulfillment of both is realistically impossible.« (Parsons 1951: 280) Klassisch kann man hier etwa an die beruflich erfolgreiche Frau denken, die nicht gleichzeitig eine »gute Mutter« sein kann. Andererseits kann die Erfüllung von sozialen Verhaltenserwartungen von der individuellen Persönlichkeit als nicht befriedigend, und somit als nicht seinen Bedürfnisdispositionen entsprechend, erfahren werden. Hier reagiert Parsons in der Theoriekonstruktion auf Kritik, die an der Charakterisierung des Handelns als moralische Anstrengung in The Structure of Social Action geübt wurde, an der bislang unklar blieb, woher der Wille zu dieser Anstrengung kommen soll. Parsons bedient sich hier theoretisch primär bei der Psychoanalyse von Freud, kombiniert sie aber, wie sich später noch zeigen wird, in einer auf den ersten Blick schwer zu durchdringenden Weise mit Elementen von George H. Mead und William I. Thomas, um als Antrieb des Handelns die Vermeidung von Deprivationen und die Erreichung von Gratifikationen feststellen zu können. Während Konformität mit den Rollenerwartungen im Normalfall zu Gratifikationen führt, kommt es zu Entfremdung, die sich in deviantem Verhalten äußern kann, wenn etwa die erwartete Anerkennung einer Leistung durch ein soziales Gegenüber ausbleibt oder ein Akteur den normativen Erwartungen selbst nicht gerecht zu werden vermag (vgl. ders., Kap. VII: insb. 257-264). Selbst wenn Parsons solche Phänomene der Entfremdung oder des insbesondere von den Symbolischen Interaktionisten im Rückgang auf Mead betonten role-making, der immer auch kreativen Aneignung von Rollen (im Gegensatz zum bloßen role-taking), durchaus mitdachte, lag die Betonung seines handlungstheoretischen Ansatzes doch auf dem reibungslosen Funktionieren von Systemen. Allgemein wurde an diesem handlungstheoretischen Ansatz Kritik vor allem von den bereits erwähnten Symbolischen Interaktionisten um Herbert Blumer und von Parsons’ berühmtem Schüler und Begründer der Ethnomethodologie Harold Garfinkel geäußert-- also aus dem Lager der sogenannten »Interpretativen Ansätze«, die die Interpretationsbedürftigkeit von Normen und Werten und die Bedeutung des Alltagswissens der Akteure in den Vordergrund stellten. Am prägnantesten wird dies wohl in Garfinkels Formel der »cultural« oder »judgmental dopes« zur Charakterisierung der Parsonianischen Akteure auf den Punkt gebracht, die also wörtlich »trottelhaft« und ohne eigene Interpretationsleistung vermeintlich objektiv einsehbare Werte und Normen befolgten (Garfinkel 1967: 68; vgl. dazu ausführlich auch Joas/ Knöbl 2004: 183-250). Aber auch Parsons’ Schüler Robert K. Merton (1995 [1949]) etwa, der wie Parsons innerhalb des funktionalistischen Theoriehorizonts arbeitete, diesem also in seinen Grundannahmen viel näher stand als etwa Blumer oder Garfinkel, betonte wesentlich stärker als Parsons ein Moment von Innovation als Folge von Rollenkonflikten. <?page no="153"?> 154 Axel Honneth / Kristina Lepold Parsons beließ es in dieser Phase seiner Theorieentwicklung zu Beginn der 1950er-Jahre jedoch nicht bei der Antwort auf die Frage, wie die geteilten Werte und Normen Eingang in die Handlungsorientierungen der Akteure finden können, sondern entwickelte auch eine umfassende Typologie von Handlungsorientierungen bzw. Handlungsalternativen, versuchte also etwas über den genaueren Inhalt des Handelns auszusagen. Nach dem Vorbild von Webers berühmter Handlungstypologie entwarf Parsons die pattern variables des Handelns- - fünf dichotome Wahlmöglichkeiten, die den Raum aller denkbaren Handlungsorientierungen auf der Ebene von kulturellen Werten, sozialen Rollendefinitionen und persönlichen Gewohnheiten abstecken sollten: Affektivität vs. Neutralität, Kollektiv-Orientierung vs. Selbstorientierung, Partikularismus vs. Universalismus, Zuschreibung vs. Leistung, Diffusität vs. Spezifität (vgl. Parsons 1951: 67). Jede Handlung ist also laut Parsons durch eine besondere Kombination aus allen fünf grundlegenden Orientierungsalternativen gekennzeichnet. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich wird, wieso es genau fünf solche Wahlmöglichkeiten sein sollten, die jedes Handeln strukturieren, scheint es aber zunächst, als wäre es Parsons damit gelungen, die Handlungstheorie so weiterzuentwickeln, dass sie sich problemlos mit der nunmehr das soziale System, das Persönlichkeitssystem und das kulturelle System umfassenden Ordnungstheorie verbinden lässt. Bei genauerer Betrachtung bleibt jedoch unklar, wie sich der Inhalt der Handlungsorientierungen genau zu den eigentlich im Zentrum des Interesses stehenden funktionalen Erfordernissen des Systems verhalten soll (vgl. auch ders./ Shils 1951: 93). So kommt es dann einsetzend mit den gemeinsam mit Robert Bales und Edward A. Shils veröffentlichten Working Papers in the Theory of Action von 1953 zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des strukturfunktionalistischen Theoriegebäudes, in deren Verlauf Parsons seine Begriffe zunehmend von der handlungstheoretischen auf die systemtheoretische Ebene umstellt. Die Ergebnisse der sozialpsychologischen Kleingruppenuntersuchungen von Bales verallgemeinernd, nehmen Parsons und seine Mitstreiter an, dass jedes System zum eigenen Erhalt vier Funktionen erfüllen muss: die Anpassung an eine sich wandelnde Umwelt (»Adaptation«), die Zielsetzung und -realisierung (»Goal Attainment«), die Bewahrung des Zusammenhalts der Mitglieder des Systems (»Integration«) und die Bewahrung der latenten Wert- und Normbindungen (»Pattern Maintenance« oder »Latency«). Bei der Entwicklung dieses sogenannten AGIL-Schemas treten nun also explizit Revisionen zutage, die Parsons am Systembegriff seit 1951 vorgenommen hatte: Ein System bezeichnet nicht mehr nur einen strukturierten Interaktionszusammenhang, innerhalb dessen gewisse Funktionen erfüllt werden müssen, um die Struktur des Ganzen zu bewahren, sondern wird unter Verwendung einer biologistischen bzw. kybernetischen Sprache als grenzerhaltendes System (»boundary maintaining system«) in einer komplexen Umwelt gedacht. Das Handeln der Akteure selbst tritt in dieser Formulierung des Problems sozialer Ordnung in den Hintergrund, so dass von einer durchaus problematischen Verselbständigung des Systems gesprochen werden kann, welches eigenen funktionalen Imperativen gehorcht. Scharf wurde diese Entwicklung unter anderem von Jürgen Habermas (1995 [1981], Bd. 2) kritisiert. Parsons ordnet die vier Funktionen des AGIL-Schemas vier funktional differenzierten Subsystemen der Gesellschaft zu: Dabei erfüllt die Wirtschaft die Anpassungsfunktion, die Politik die Zielerreichungsfunktion, die gesellschaftliche Gemeinschaft die Integrationsfunktion und die Kultur die Funktion der Aufrechterhaltung der Wertbindung. Dieses Schema soll sich auf jedes Subsystem unverändert übertragen lassen, wie Parsons etwa gemeinsam mit Neil Smelser in Economy and Society (1956) an der Sphäre der Wirtschaft vorführt. Parsons und Smelser beleuchten hier überdies die Austauschprozesse zwischen den einzelnen, füreinander ebenfalls Umwelten <?page no="154"?> Strukturfunktionalismus 155 bildenden Subsystemen, die durch spezielle Medien ermöglicht werden- - eine Idee, die später von Parsons’ Schüler Niklas Luhmann aufgegriffen und weiter radikalisiert werden sollte. Für die Wirtschaft benennt Parsons hier das Geld als Medium, in der weiteren Theorieentwicklung für die Politik das Medium der Macht, für die gesellschaftliche Gemeinschaft das Medium des Einflusses und für die Kultur das Medium der Wertbindung (vgl. hierzu Parsons 1967, 1969a und b). Zwischen den einzelnen Subsystemen wird eine sogenannte kybernetische Hierarchie angenommen, wonach zwar die übertragene Energie von A über G und I bis L abnimmt, die Steuerung eines jeden Systems aber von L nach A verläuft. Ihren Höhepunkt erreicht diese systemtheoretische Zuspitzung in Parsons’ letztem Werk Action Theory and the Human Condition von 1978, in dem eine Übertragung des Vier-Funktionen-Schemas auf das Handeln selbst vorgenommen wird (für alternative Deutungen dieser Entwicklung vgl. Münch 1982, aber auch Wenzel 1990). Auch wenn Parsons sich damit denkbar weit von den handlungstheoretischen Ambitionen aus seinem Frühwerk The Structure of Social Action entfernt hat, bringt dieses Buch doch noch einmal die damals angenommene Zentralstellung von Werten und Normen zum Ausdruck: Ordnung kann nach Parsons nur durch den wie auch immer gearteten Rückgriff auf das Normative gedacht werden. 4. Modernisierungstheorie Oft wurde Parsons dafür kritisiert, durch seine Fokussierung auf den Ausbau der funktionalistischen Ordnungstheorie Phänomene des sozialen Wandels nicht in den Blick nehmen zu können. Auch die Analyse der Austauschprozesse zwischen gesellschaftlichen Subsystemen innerhalb eines sozialen Systems, die der Autor ja im Kontext seiner Medientheorie entwickelt hatte, änderte daran wenig, konnte er mit diesem bis zu den 1960er-Jahren entwickelten analytischen Instrumentarium doch nicht viel zu Wandlungsprozessen von sozialen Systemen, von Gesellschaften im Ganzen, sagen (vgl. Joas/ Knöbl 2004: 130 f.). Das sollte sich allerdings mit dem Erscheinen der zwei in diesem Zusammenhang wichtigsten Monografien Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives (1966) und The System of Modern Societies (1971) ändern. In diesen Schriften versucht Parsons nämlich, die Entstehung des »Systems moderner Gesellschaften« in evolutionärer wie vergleichender Perspektive nachzuzeichnen. Die Frage, die ihn in dieser Phase der Ausarbeitung seiner Gesellschaftstheorie umtreibt, ist also, warum sich der historische Durchbruch zur Moderne im Westen, nicht aber in einer anderen intermediär entwickelten Zivilisation, ereignet hat (Parsons 1966: 4). Bei seinen Überlegungen greift Parsons auf das AGIL-Schema zurück und betrachtet Veränderungen in den Funktionsweisen der Gesellschaft, die eine Steigerung ihrer Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Umweltbedingungen ermöglichen. Verständlich wird dieser Schritt vor dem Hintergrund, dass Parsons, wie bereits deutlich wurde, Gesellschaften als grenzerhaltende Systeme in einer komplexen Umwelt begreift. Den vier Funktionen des AGIL-Schemas entsprechend beschreibt er nun vier Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung: das »adaptive upgrading« (A), die strukturelle Differenzierung (G), die Inklusion (I) und die Wertverallgemeinerung (L). »Adaptive upgrading« bezeichnet dabei eine Anpassungssteigerung aufgrund von Verbesserungen an den verfügbaren Ressourcen, strukturelle Differenzierung die Entwicklung der Arbeitsteilung, durch die immer komplexere Probleme bearbeitbar werden, Inklusion eine Erhöhung der Integrationsleistung der gesellschaftlichen Gemeinschaft und Wertverallgemeinerung schließlich den Prozess, durch den partikularistische Wertvorstellungen sukzessive durch universalistische ersetzt werden (vgl. ders. 1971: 26 ff.). Wenngleich Parsons damit eine multidi- <?page no="155"?> 156 Axel Honneth / Kristina Lepold mensionale Theorie sozialen Wandels zu entwerfen versucht, schreibt er doch der strukturellen Differenzierung- - deren etwas willkürlich erscheinende Zuordnung zum Funktionsbereich der Zielerreichung zu Recht bemängelt wurde-- eine herausgehobene Bedeutung zu. Der Prozess gesellschaftlicher Entwicklung ist durch eine Abfolge von Entwicklungsschritten gekennzeichnet, die Parsons als »evolutionäre Universalien« bezeichnet. Als »evolutionäre Universalie« gilt ein bestimmter Entwicklungsschritt dann, wenn er so wichtig für die weitere Evolution im Sinne einer Steigerung der Anpassungsfähigkeit ist, »that, rather than emerging only once, it is likely to be ›hit upon‹ by various systems operating under different conditions« (ders. 1964: 339). Menschliche Gesellschaften sind in ihrer elementarsten Form durch eine basale Differenzierung in vier Subsysteme gekennzeichnet, denen Parsons die vier Funktionen des AGIL-Schemas zuordnet: Religion (L), Verwandtschaftssystem (I), Sprache (G) und Technologie (A). Der Übergang von sogenannten primitiven Gesellschaften zu höher entwickelten intermediären Gesellschaftstypen wird dann durch zwei aufs Engste miteinander verknüpfte Entwicklungsschritte erreicht: durch soziale Stratifizierung und durch kulturelle Legitimierung. Durch soziale Stratifizierung wird das vormals undifferenzierte Netz von Verwandtschaftsgruppen zunächst vertikal differenziert. Es entsteht in anderen Worten eine gesellschaftliche Statushierarchie, die nach Auffassung Parsons’ einerseits die Zentralisierung von politischer Verantwortung ermöglicht und andererseits die Loslösung der ökonomischen Verteilungsstruktur vom Verwandtschaftssystem bedingt. Hand in Hand mit der sozialen Stratifizierung geht die kulturelle Legitimierung, die in zweierlei Hinsicht die notwendige Begleiterin der sozialen Stratifizierung ist: Zum einen trägt die kulturelle Legitimierung entscheidend zur Rechtfertigung der neu entstehenden sozialen Ordnung- - insbesondere der Verteilung politischer Verantwortung auf nur wenige Personen bzw. Statusgruppen-- bei und erlaubt so die Verfolgung komplexerer kollektiver Ziele. Zum anderen vermag sie sozialen Zusammenhalt über die verschiedenen Statusgruppen hinweg zu stiften, der nun nicht mehr wie noch zuvor über das Verwandtschaftssystem hergestellt werden kann. Ein zweites Paar von evolutionären Universalien- - Bürokratie sowie Geld und Märkte- - tritt dann im deutlich fortgeschrittenen Prozess gesellschaftlicher Entwicklung auf und markiert den Übergang zum modernen Gesellschaftstypus. Durch die Entstehung von Bürokratien wird die Ausübung von politischer Herrschaft, wie Parsons im Rückgang auf Weber argumentiert, zu einer institutionellen Angelegenheit und damit von konkreten Personen unabhängig. Dies ermöglicht eine enorme Effektivitätssteigerung in der politischen Organisation einer Gesellschaft- - man kann hier etwa an solche administrativen Kapazitäten denken, wie sie für ein funktionierendes Steuerwesen oder große militärische Einsätze erforderlich sind. Das materielle Gegenstück zu dieser stark erhöhten politischen Steuerungskapazität stellen Geld und Märkte dar, die die effiziente Bereitstellung und Verwendung von Ressourcen gewährleisten. Im Zuge der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung- - und eng mit der Entstehung von Bürokratien sowie Geld und Märkten verbunden-- bildet sich als fünfte evolutionäre Universalie ein generalisiertes Rechtssystem heraus. Dieses System ist Parsons zufolge relativ unabhängig von religiösen Instanzen als auch von politischen Interessengruppen und umfasst universalistische Rechtsnormen, die Bürokratien wie auch das Markt- und Geldsystem kulturell untermauern. Der sechste und letzte Schritt im Prozess gesellschaftlicher Entwicklung besteht in der Entstehung demokratischer Vereinigung [democratic association]. Politische Verantwortung wird nun an Wahlen gekoppelt, an denen alle wahlberechtigten Bürger teilnehmen dürfen, und damit entscheidend an den gesellschaftlichen Werte- und Normenkonsens rückgebunden. Wenn wir uns an die fünf pattern variables des Handelns aus dem vorangegangenen Abschnitt erinnern, wird auch deutlich, dass Parsons den Modernisierungsprozess nun auf der Ebene der Handlungsorientierungen in erster Linie <?page no="156"?> Strukturfunktionalismus 157 entlang der zwei pattern variables »Partikularismus vs. Universalismus« und »Zuschreibung vs. Leistung« begreift, nämlich als sukzessive Verschiebung von der je ersten zur zweiten Alternative. Auch im Fall der drei übrigen pattern variables gewinnt die je zweite Handlungsalternative-- d. h. affektive Neutralität, Selbstorientierung und Spezifität-- in modernen Gesellschaften prinzipiell an Bedeutung, die alternativen Handlungsorientierungen bestehen aber je nach Kontext fort- - man denke etwa an die Familie, wo Affektivität und Diffusität zentral sind, oder an die von Parsons untersuchte Rolle des Arztes, die insbesondere durch Kollektiv-Orientierung (in dem Fall ein durch den hippokratischen Eid formalisierten Professionsethos) gekennzeichnet ist. Mithilfe der pattern variables gelingt Parsons also überdies eine differenziertere Erfassung der von Ferdinand Tönnies vorgenommenen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft als den Gründervätern der Soziologie. Insgesamt stellt sich der Modernisierungsprozess für Parsons als eindeutige Erfolgsgeschichte dar, worin ein Fortschrittsoptimismus Ausdruck findet, der in dieser Form von den Gründervätern der Soziologie-- die als Zeitgenossen die problematischen Folgen der Modernisierung unmittelbar vor Augen hatten und unter Stichworten wie Entfremdung und Entzauberung fassten- - wohl nicht geteilt worden wäre und heute von der spätmodernen Modernisierungskritik auch zu Recht zurückgewiesen wird. In seinem 1942 erschienenen Aufsatz »Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland vor der Zeit des Nationalsozialismus« analysiert Parsons jedoch auch ausführlicher die Risiken einer einseitigen Modernisierung (vgl. hierzu auch die englischsprachigen Aufsätze von Parsons in Gerhardt 1993): Im Vergleich zur Entwicklung des »liberal-demokratischen« Gesellschaftstyps in den USA und England hinkte die kulturelle und zivilgesellschaftliche Modernisierung in Deutschland hinter der rapiden wirtschaftlichen und bürokratischen Modernisierung hinterher, so dass es in den Entwicklungsdimensionen Inklusion und Wertverallgemeinerung zu dramatischen Rückschritten kam, die sich in der exklusiv definierten Volksgemeinschaft und einem krassen Wertepartikularismus widerspiegelten. Ob man den gegenwärtigen Globalisierungsprozess in ähnlicher Weise als einseitige Entwicklung insbesondere mit Blick auf die Integrationsproblematik beschreiben kann, fragt Richard Münch (2001). Obgleich Parsons also insgesamt einen einseitigen Fortschrittsoptimismus an den Tag legte und die liberalen Demokratien des kapitalistischen Westens aufgrund ihrer großen Anpassungsfähigkeit sicherlich für die überlegene Gesellschaftsform hielt, trifft eine andere vielfach geübte Kritik an seinem evolutionstheoretischem Ansatz nicht zu, der zufolge das westliche Gesellschaftsmodell bei Parsons nicht nur das wünschenswerte, sondern auch das natürliche Endziel aller Entwicklung bilde. Diese Kritik übersieht, dass Parsons in entscheidenden Punkten von früheren Evolutionstheorien wie derjenigen von Spencer abwich, indem er insbesondere mit der Vorstellung eines unilinearen Geschichtsverlaufs brach. So glaubte Parsons nicht, dass es nur einen, nämlich den westlichen Entwicklungsweg gebe, den alle Gesellschaften natürlicherweise beschreiten würden. Vielmehr war er der Ansicht, dass manche Gesellschaften bestimmte Evolutionsstufen überspringen ebenso wie andere gar keinen signifikanten Entwicklungsprozess durchlaufen könnten (Parsons 1964: 341; vgl. auch Joas/ Knöbl 2004: 136 f.). Eine wichtige Weiterentwicklung stellt in diesem Zusammenhang die Konzeption der »multiple modernities« von Parsons’ Schüler Shmuel N. Eisenstadt (2000) dar, der gegenüber Parsons kritisch die Bedeutung des kulturellen Programms der Moderne und dessen kreative Aneignung in westlichen wie nicht westlichen Kontexten hervorhebt und die Moderne als vielgestaltige globale Achsenzeit interpretiert. <?page no="157"?> 158 Axel Honneth / Kristina Lepold 5. Anerkennungstheoretische Aktualisierung Schon an mehreren Stellen der bisherigen Darstellung wurde darauf verwiesen, dass sich im Werk von Parsons leicht konkurrierende Antworten auf die Frage finden, woher aufseiten der Gesellschaftsmitglieder die individuellen Motive zur Übernahme und Befolgung der jeweils etablierten Werte und Normen stammen sollen; auf jeden Fall hat aus dem bislang Dargestellten nicht deutlich hervorgehen können, aus welcher Quelle sich die individuelle Bereitschaft zur Normbefolgung ergeben soll. Seit der Veröffentlichung der Aufsatzsammlung »Social Structure and Personality« (Parsons 1964; dt. 1979), deren erster Teil ausschließlich Beiträge zur Sozialisationstheorie von Freud enthält, schien die Lösung für dieses Problem bei Parsons klar zu sein: Es ist die Internalisierung der durch den Vater innerhalb der Familie repräsentierten Gesellschaftsnormen, welche im heranwachsenden Kind allmählich eine Bereitschaft heranreifen lässt, die sozial verankerten Verpflichtungen »aus freien Stücken« zu übernehmen. Auch wenn Parsons in diesem Zusammenhang stärker als Freud die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Sozialisationsprozessen betont und dabei auch der besonderen Rolle der Mutter größere Aufmerksamkeit schenkt, bleibt es im Wesentlichen doch bei der psychoanalytischen Vorstellung, nach der das Kind in einer Mischung aus unterwürfigem Respekt, Angst und Zuneigung die an der innerfamilial erfahrbaren Berufsrolle des Vaters haftenden Normen und Werte so weit verinnerlicht, bis es schließlich zur Akzeptierung der institutionalisierten Erwartungen seiner gesellschaftlichen Umwelt motiviert ist. In einem undurchsichtigen Spannungsverhältnis zu dieser Auffassung steht nun allerdings die bei Parsons ebenfalls anzutreffende, hier bereits erwähnte Aussage, der zufolge es primär das Streben des Einzelnen nach gesellschaftlicher Bestätigung und Anerkennung sei, was die individuelle Bereitschaft zur Übernahme der herrschenden Werte und Normen motivieren würde. Nicht, dass die damit angedeutete Idee vollkommen unvereinbar mit der von Freud entwickelten Sozialisationstheorie sein müsste, aber zunächst besteht doch zwischen der intersubjektivistischen Vorstellung eines sich um soziale Wertschätzung sorgenden Subjekts und der psychoanalytischen Vorstellung eines sich aus angstvollem Respekt unterordnenden Subjekts eine große theoretische Kluft (vgl. zur Diskrepanz beider Erklärungsmodelle: Honneth 1992: 154-174); und wie es auch immer um die Spannung zwischen diesen beiden Ansätzen bei Freud selbst bestellt sein mag-- bei ihm finden sich ebenfalls Hinweise auf eine Herleitung der moralischen Motivation nicht aus angstbesetzter Unterwerfung unter die väterliche Autorität, sondern aus dem Verlangen nach der liebevollen Zuwendung der Eltern (vgl. Deigh 1996: v. a. Kap. 3 u. 4)--, bei Parsons scheinen sie relativ unvermittelt nebeneinander zu stehen. Auf der einen Seite, dort, wo er sich in seiner Sozialisationstheorie auf Freud stützt, scheint er also damit zu rechnen, dass die Anstrengung des Einzelnen, in seinem Verhalten die jeweils herrschenden Normen zu übernehmen und die entsprechenden Rollenverpflichtungen gewissenhaft zu erfüllen, aus der vorgängigen, den Ödipuskonflikt auflösenden Verinnerlichung der vom Vater repräsentierten Forderungen der gesellschaftlichen Umwelt stammt, das andere Mal, dort, wo häufig Hinweise auf William I. Thomas und George Herbert Mead fallen, führt er dieselbe Anstrengung auf das lebenslange Bemühen zurück, in den Augen der anderen Gesellschaftsmitglieder als wertvolle, anerkennungswürdige Person zu gelten. Nun wäre eine solche Spannung in der Erklärung moralischer Kooperationsbereitschaften für die Theorie von Parsons allerdings nicht weiter von Belang, würde sie nicht auch einen Niederschlag auf anderen Ebenen seiner Theoriekonstruktion finden. So zeigt sich für die sozial geteilten Werte und Normen, die ja im kulturellen Subsystem beheimatet sein sollen, dass ihre Bedeutung leicht in Abhängigkeit davon variiert, welche der beiden Herleitungen jeweils bevorzugt wird. Folgt man nämlich einer leicht stilisierten Variante der zweiten Erklärung und begreift als moti- <?page no="158"?> Strukturfunktionalismus 159 vationalen Mechanismus des moralischen Einverständnisses der Subjekte deren Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, müssen jene Werte und Normen stets auch die Eigenschaft besitzen, bestimmte Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmale als besonders anerkennungswürdig erscheinen zu lassen. Nicht mehr alle normativen Prinzipien können die Funktion erfüllen, die ihnen von der Theorie zugedacht wird, sondern nur noch solche, die kraft wertender Kontraste und mit verpflichtender Bindung soziale Wertschätzung generieren können. Von Relevanz ist diese Differenz aber auch, weil die zweite, anerkennungstheoretische Deutung der jeweils herrschenden Werte und Normen viel stärker dazu einlädt, den Prozess ihrer subjektiven Aneignung als ein potenziell konflikthaftes Geschehen zu denken. Sobald es nämlich soziale Anerkennung oder Wertschätzung ist, was mit der Erfüllung der rollenspezifisch definierten Verpflichtungen in Aussicht gestellt wird, kommt die Möglichkeit ins Spiel, dass unter dem Druck von Bestrebungen um statusmäßige Besserstellung über die Auslegung der entsprechenden Handlungsnormen gestritten wird. Mit der Tendenz, die individuelle Bereitschaft zur sozialen Pflichterfüllung anerkennungstheoretisch zu erklären, wächst daher bei Parsons die Neigung, das Konflikthafte am Prozess der gesellschaftlichen Integration zu betonen. Vor allem der 1949 veröffentlichte Aufsatz zum Marx’schen Theorem des Klassenkampfes (Parsons 1964c [1949]) gibt gut zu erkennen, wie sich bei ihm zugleich mit der wachsenden Aufmerksamkeit für die Anerkennungsbedürftigkeit der Gesellschaftsmitglieder auch das Gespür für die Konfliktanfälligkeit gesellschaftlicher Subsysteme vergrößert: Diese müssen nach der Auffassung Parsons’ nun, so hatten wir gesehen, in ihren sozial integrierenden Normen immer auch Standards enthalten, aufgrund derer die Mitglieder sich wechselseitig Achtung und Anerkennung zollen können; solche Bewertungsmaßstäbe sind freilich nur in seltenen Fällen so überparteilich und gewissermaßen neutral formuliert, dass sie auf Dauer vor Zweifeln und kritischen Rückfragen der Beteiligten gefeit sind; sobald derartige Stimmungen der normativen Verunsicherung aber in Gefühle der moralischen Empörung umschlagen, können jederzeit leicht soziale Konflikte in Gang kommen, in denen die bislang durch die herrschenden Bewertungsmaßstäbe Benachteiligten eine für sie vorteilhaftere Deutung der zugrunde liegenden Normen zu erstreiten versuchen. Insofern wird für Parsons in dem Augenblick, in dem er als motivationale Quelle aller Bereitschaft zur Rollenübernahme das individuelle Streben nach Anerkennung ausmacht, der Konflikt zu einem endemischen Bestandteil jeder normativ institutionalisierten Handlungssphäre. Damit soll gewiss nicht gesagt werden, dass sich der Systemtheoretiker Parsons am Rande seiner offiziellen Theorie bereits zur Einsicht in die sphärenspezifische Dynamik eines Kampfes um Anerkennung durchgerungen hat; aber viele seiner materialen Überlegungen und Bemerkungen weisen doch immerhin in eine Richtung, an deren Ende die Überzeugung steht, dass in keiner normativ integrierten Handlungssphäre der soziale Konflikt je stillzustellen wäre, da sich deren Mitgliedern immer neue Anlässe zu einer verbesserten, gerechteren Interpretation der Anerkennungsnormen eröffnen. Ausblicke auf eine solche Perspektive eröffnen sich etwa dort, wo Parsons aus der wachsenden Verunsicherung über den Gehalt des im kapitalistischen Wirtschaftssystems herrschenden Leistungsprinzips auf einen Anstieg von Konflikten um dessen angemessene Auslegung schließt (Parsons 1964c [1949]: 215 ff.), oder wo er mit einer Zunahme von konflikthaften Bestrebungen der Frauen rechnet, zu sozialer Wertschätzung auch außerhalb des privaten Bereichs von Haushalt und Kindererziehung zu gelangen (vgl. dazu und zu der hier verfolgten Perspektive insgesamt: Honneth 2013a). In der Konsequenz einer solchen, von Parsons sicherlich nur peripher entwickelten Auffassung läge die Vorstellung, dass die jeweiligen Subsysteme von Haus aus Handlungssphären bilden, in denen um die angemessene Deutung der sie integrierenden, die individuellen Rollenmuster und Verhaltenserwartungen aufeinander abstimmenden Werte und Normen ständig und unvermeidlich zwischen den Beteiligten gerungen werden muss; nicht die konsensstiftende, son- <?page no="159"?> 160 Axel Honneth / Kristina Lepold dern die konflikterzeugende Eigenschaft dieser für die soziale Integration funktional erforderlichen Prinzipien träte in den Vordergrund. Die integrationistische Tendenz, die der soziologische Strukturfunktionalismus von Parsons sicherlich aufweist, würde bei Zugrundelegung einer derart veränderten Konzeption der gesellschaftlichen Subsysteme durch eine konflikttheoretische Perspektive ersetzt. Unter Aufnahme von Anregungen, die im Werk Parsons’ selbst schon in eine solche Richtung weisen, hat in den letzten Jahrzehnten sein Schüler Jeffrey Alexander diesen Weg einer konflikttheoretischen Transformation des Strukturfunktionalismus am entschiedensten verfolgt. Die umfangreiche und beeindruckende Studie, die er im Jahr 2006 über »The Civic Sphere« vorgelegt hat, kann als vorläufiger Höhepunkt all seiner entsprechenden Bemühungen verstanden werden (Alexander 2006); und auch, wenn darin bei aller Hervorhebung des Streits und Konflikts um die legitime Ausdeutung demokratischer Schlüsselwerte anerkennungstheoretische Überlegungen nur am Rande eine Rolle spielen (vgl. dazu Honneth 2013b), darf dieses Buch doch als erstes Signal einer neuen Phase in der Rezeption der Theorie von Parsons genommen werden, in der deren Beitrag zu einer soziologischen Erschließung des »Kampfes um Anerkennung« im Vordergrund stehen könnte. 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Der anschließende Abschnitt behandelt die erkenntnisbzw. beobachtungstheoretischen Prämissen der Systemtheorie sowie die daraus folgende Methodik der Theoriekonstruktion und stellt weitere Aspekte der Theorie funktionaler Differenzierung (insbesondere am Beispiel des Wissenschaftssystems und unter Einschluss der gesellschaftstheoretischen Selbstlokalisierung der Systemtheorie) vor (3.). Der Schlussteil (4.) erläutert, in welcher Weise die Annahme einer funktional differenzierten Weltgesellschaft durch die neuere systemtheoretische Diskussion zum Thema Inklusion/ Exklusion sowie zur Rolle parasitärer Netzwerke modifiziert wird. 1. Soziale Systeme Die Luhmannsche Systemtheorie geht davon aus, dass Soziales nicht auf Bewusstseinsprozesse zurückgeführt werden kann, sondern eine eigenständige (»emergente«) Ebene der operativen Prozessierung von Sinn konstituiert. Sie unterscheidet deshalb soziale Systeme von psychischen Systemen und gründet diese Differenzierung auf die Unterscheidung der Operationen, durch deren Verkettung sich diese beiden Systemtypen reproduzieren. Psychische Systeme reproduzieren sich durch Verkettung von Gedanken, soziale Systeme durch aneinander anschließende Kommunikationen (vgl. Luhmann 1990: 24 ff.). Beide Systemtypen prozessieren »selbstreferenziell«, indem sie nur systemintern verfertigte Operationen desselben Typs miteinander verknüpfen. Sie werden deshalb von Luhmann in Anknüpfung an die Neurobiologen Maturana und Varela (vgl. u. a. 1980 und 1987) als »autopoietische Systeme« (d. h. sich selbst erzeugende Systeme) charakterisiert (vgl. Luhmann 1990: 30 ff.). Die Unterscheidung des Systems von seiner Umwelt hat demnach nicht den Status einer nur analytischen Differenzierung des wissenschaftlichen Beobachters, sondern ist als vom beobachteten System selbst produzierte Differenz zu begreifen. »Autopoiesis« darf freilich nicht mit »Autarkie« verwechselt werden. Soziale Systeme benötigen insbesondere die Kooperation von Bewusstsein zur Betreibung von Kommunikation. Und umgekehrt scheint menschliches (Selbst-)Bewusstsein sich nur durch die Partizipation an Kommunikation bilden zu können (vgl. Mead 1934; Luhmann 1990: 38). Kommunikationen als Operationen sozialer Systeme sind nicht als Handlungen im Sinne Webers vorzustellen. Sie sind nicht durch den »subjektiv gemeinten Sinn« definiert (Weber 1972: 1), den die Handelnden psychisch mit ihrem Verhalten verbinden. Eine elementare Kommunikationseinheit ist vielmehr von vornherein sozial, nämlich als Ergebnis des Zusammenwirkens von mindestens zwei Prozessoren (Alter und Ego) konzipiert. Sie wird produziert, indem <?page no="162"?> Theorie sozialer Systeme 163 Alter und Ego zwei aufeinander folgende Verhaltensäußerungen erzeugen, von denen die Äußerung Alters erkennen lässt, dass sie sich auf die vorausgegangene Verhaltensäußerung Egos als Mitteilung einer Information bezieht und ein (mehr oder weniger bestimmtes) Verstehen dieser vorausgegangenen Äußerung anzeigt (vgl. Schneider 2002: 279 ff.). Der soziale Sinn einer Äußerung wird so durch kommunikative Zuschreibung erzeugt. Sagt jemand beispielsweise: »Wissen Sie, wie spät es ist? « und erhält die Antwort: »Mach’ mich nicht an, Alter«, dann wird der vorausgegangenen Äußerung damit (und für den Sprecher möglicherweise überraschend) der Sinn eines Annährungsversuchs kommunikativ zugewiesen, der zugleich als unerwünscht deklariert und abgelehnt wird. Jede Operation eines Systems impliziert neben dem Bezug auf das System (Selbstreferenz) zugleich einen Bezug auf dessen Umwelt (Fremdreferenz). Ein Gedanke (psychisch-selbstreferenzieller Aspekt) hat jeweils einen bestimmten Inhalt (fremdreferenzieller Aspekt). Eine Mitteilung (selbstreferenzieller Aspekt von Kommunikation) teilt jeweils eine bestimmte Information mit (fremdreferenzieller Aspekt von Kommunikation). Die Differenz zwischen System und Umwelt wird so in den Binnenkontext des Reproduktionsprozesses psychischer und sozialer Systeme hineinkopiert-- als Unterscheidung zwischen dem selbstreferenziellen Aspekt (Schließung des Systems durch operative Selbstbezüglichkeit) und dem fremdreferenziellen Aspekt (Umweltbezug) jeder einzelnen Operation. Die operative Reproduktion der Differenz zwischen psychischen und sozialen Systemen geschieht über die selbstreferenzielle Seite der Operation. Sie sichert die Überschneidungsfreiheit der Systeme durch scharfe Trennung der verknüpften Operationssorten. Übereinstimmungen über die Systemgrenzen hinweg sind demgegenüber im Blick auf die fremdreferenzielle Seite verschiedener Operationssorten möglich. Der gedachte Inhalt einer Äußerung (ihr »subjektiv gemeinter Sinn«) und der ihr kommunikativ zugewiesene Informationssinn können übereinstimmen. Ebenso gut ist es freilich möglich, dass Ego die in Alters Anschlussäußerung angezeigte Sinnzuweisung als Missverstehen beobachtet und dann versucht, dieses Missverstehen durch eine weitere Äußerung zu korrigieren, um so die Diskrepanz zwischen subjektiv gemeintem und kommunikativ zugeschriebenem Sinn aufzulösen. Die Systemtheorie kann hier an empirische Befunde der Konversationsanalyse anschließen (vgl. Heritage 1984: 254 ff.; Schegloff 1992; Schneider 2000), die gezeigt hat, dass in der Interaktion unter Anwesenden in der Regel an jeder dritten Stelle einer Sequenz von Äußerungen verschiedener Teilnehmer die Unterscheidung richtig verstehen/ falsch verstehen in der Kommunikation aufgerufen ist und eine Seite dieser Unterscheidung (implizit oder explizit) bezeichnet wird. In die Interaktion unter Anwesenden ist damit ein Mechanismus eingebaut, der in kurzer Taktung aktiviert wird und kommunikativ anzeigt, inwiefern die laufende Kommunikation auf hinreichend übereinstimmendem Verstehen der Teilnehmer beruht (vgl. Schneider 2004: 320 f.). Die »Intersubjektivität« der Sinnzuweisungen wird so als Nebenprodukt der Interaktion kontinuierlich überprüft und bestätigt. Dort, wo sich die Kommunikation durch Nutzung von Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck oder elektronische Medien von der Bindung an die Interaktion unter Anwesenden löst, ist dieser Korrekturmechanismus nicht mehr strukturell verankert. Ermöglicht wird dadurch die Pluralisierung kommunikativer Sinnzuweisungen, wie leicht an der Wirkungsgeschichte von Texten zu erkennen ist (vgl. Gadamer 1965; Schneider 1992). Sinn wird von Luhmann nicht mehr mit Bezug auf Bewusstsein, sondern abstrakter, nämlich durch die Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit bestimmt, deren Gebrauch es erlaubt, immer neue gedankliche bzw. kommunikative Ereignisse an vorausgegangene Ereignisse gleichen Typs anzuschließen (vgl. Luhmann 1984: 100). Jedes aktuelle Ereignis ist von einem Horizont von Möglichkeiten umgeben, von denen eine im nächsten Schritt ausgewählt und damit aktualisiert <?page no="163"?> 164 Wolfgang Ludwig Schneider werden kann, die dann wiederum auf weitere Möglichkeiten der Fortsetzung verweist etc. Komplexität als Überfülle von Möglichkeiten, die niemals alle zugleich realisiert werden können, wird dadurch in die Zeitdimension verschoben, d. h. im Übergang von Ereignis zu Ereignis einerseits reduziert (durch die Aktualisierung einer Möglichkeit und die damit einhergehende Negation der nicht aktualisierten Alternativen), andererseits jedoch regeneriert (insofern die jeweils aktualisierte Möglichkeit zugleich eine Mehrzahl von Möglichkeiten der Fortsetzung aufblendet, unter denen im nächsten Schritt eine Auswahl getroffen werden muss). Zunächst nicht realisierte und insofern negierte Möglichkeiten (z. B. eine mögliche Frage oder ein möglicher Einwand) können unter Umständen später aufgerufen und verwirklicht werden. Ihre Negation erfolgt jeweils provisorisch und ist im Prinzip reversibel. Die jeder Prozessierung von Sinn zugrunde liegende Differenz zwischen dem, was aktuell gegeben ist, und dem, was dadurch möglich erscheint, »gibt allem Erleben Informationswert« (Luhmann 1984: 111). Mit Gregory Bateson bestimmt Luhmann die Minimaleinheit von Information als »a difference that makes a difference« (Luhmann 1984: 112 mit Verweis auf Bateson 1972: 489), d. h. durch die Hintereinanderschaltung zweier Unterscheidungen, die so miteinander gekoppelt sind, dass durch die Aktivierung der ersten Unterscheidung die zweite Unterscheidung aufgerufen wird. Man hört etwa im Rundfunk, dass es regnen soll und empfiehlt daraufhin einem Familienmitglied, das gerade das Haus verlässt, einen Regenschirm mitzunehmen. Hier wird die Differenz »regnerisches im Unterschied zu trockenem Wetter« angesprochen und aktiviert dann die Unterscheidung »Schirm mitnehmen/ Schirm zu Hause lassen«, wobei die zueinander passenden Seiten der beiden Unterscheidungen (»regnerisches Wetter/ Schirm mitnehmen«) ausgewählt und explizit bezeichnet werden. Als informativ kann die so generierte Sinneinheit gelten, wenn sie als neu und insofern überraschend erlebt wird. Durch Wiederholung (z. B. wenn derselbe Wetterbericht zum zweiten Mal gehört und mit derselben Empfehlung verbunden wird) verliert sie deshalb ihren Charakter als Information, bleibt aber weiterhin sinnvoll (vgl. Luhmann 1984: 102). Die Funktion von Sinn für die Autopoiesis von psychischen und sozialen Systemen besteht darin, dass er das jeweils aktuelle (gedankliche bzw. kommunikative) Ereignis mit Verweisungen auf anschließend aktualisierbare Möglichkeiten ausstattet, die für die Fortsetzung des Systemprozesses in Frage kommen. Um sicherzustellen, dass die Kommunikation nicht ins Stocken gerät und deshalb die Auflösung eines sozialen Systems droht, reicht dies jedoch noch nicht aus. Denn Kommunikation steht unter der Prämisse doppelter Kontingenz (vgl. Luhmann 1984: 151 f.). Damit ist gemeint, dass sowohl der Produzent als auch der Rezipient einer Mitteilung eine Auswahl aus verschiedenen Möglichkeiten der Mitteilung bzw. des Verstehens einer Äußerung als Mitteilung einer Information trifft, die auf beiden Seiten auch anders hätte ausfallen können. Um unter diesen Bedingungen zu einer erfolgreichen Koordination der beiderseitig kontingenten (d. h. auch anders möglichen) Sinnselektionen zu kommen, müssen die Kommunikationsteilnehmer Erwartungserwartungen, also Erwartungen darüber entwickeln, welche Sinnerwartungen andere als Grundlage für die Produktion kommunikativer Ereignisse benutzen (vgl. Luhmann 1984: 158). Sozial generalisierte Erwartungserwartungen fungieren als Strukturen sozialer Systeme, die das Problem doppelter Kontingenz zu lösen erlauben, indem sie für andere Kommunikationsteilnehmer erkennbar machen, welche Anschlussäußerungen in einer gegebenen sozialen Situation geeignet sind, die problemlose Fortsetzung der Kommunikation zu ermöglichen. Durch Differenzierung zwischen unterschiedlichen Abstraktionsgraden der Identifikation zusammenhängender Erwartungsstrukturen kann das Potenzial sozialer Systeme für die Verarbeitung von Komplexität erheblich gesteigert werden. Die Unterscheidung zwischen Personen, <?page no="164"?> Theorie sozialer Systeme 165 Rollen, Programmen und Werten (vgl. Luhmann 1984: 429 ff.) bezeichnet die hier möglichen Abstraktionsniveaus, die im Prozess sozialer Evolution allmählich auseinander gezogen-werden. »Personen« meinen dabei nicht psychische Systeme oder gar Menschen als psychophysische Verbundeinheiten. In deutlicher Abweichung von handlungstheoretischen Akteurskonzepten (vgl. Schneider 2011) sind damit vielmehr individualisierte »Erwartungscollagen« (Luhmann 1984: 178) gemeint, die im Rahmen von Kommunikation als Adressen der Zurechnung (vgl. Fuchs 1997) dienen. Die Kategorie »Person« wird so für Zurechnungszwecke eingesetzt, wenn mitgeteilt wird, dass Hans x getan hat (bzw. voraussichtlich tun wird), dass er z. B. eine Stelle bei Firma y angetreten hat, eine Wohnung zu mieten beabsichtigt, er gestern wieder einmal zu viel getrunken und sich durch für ihn dann typische ausfällige Äußerungen »unmöglich gemacht« hat, er ein engagierter Anhänger einer bestimmten politischen Partei ist etc. Es ist das von Hans so gezeichnete und aus vielen Fragmenten zusammengefügte Bild, das in der Kommunikation konstruiert und das als Prämisse und Bezugspunkt für die Auswahl kommunikativer Anschlüsse jederzeit aufgerufen werden kann. Rollen als Zurechnungseinheiten für die Identifikation von Erwartungszusammenhängen ermöglichen deren Lösung von individualisierten Adressen. An Rollen gekoppelt, bleiben Erwartungskonfigurationen im Wesentlichen konstant, auch wenn die Personen wechseln. Moderne Organisationen nutzen diese Möglichkeit in weitestgehendem Umfang. Durch Bindung an Rollen können Erwartungszusammenhänge auf Organisationsziele zugeschnitten sowie unter Gesichtspunkten der sachlichen Optimierung (also unter weitgehender Absehung von Rücksichten auf Personen und persönliche Beziehungen verwandtschaftlicher, freundschaftlicher oder nachbarschaftlicher Art) aufeinander abgestimmt werden. Die Bildung von Organisationen als Sozialsystemen eigenen Typs wird dadurch zu einer tragenden Voraussetzung für die Ausdifferenzierung von makrosozialen Kommunikationszusammenhängen wie dem ökonomischen System, dem Rechtssystem, der Wissenschaft oder dem politischen System, die auf die Erfüllung bestimmter gesellschaftlicher Funktionen spezialisiert sind. Eine weitere Stufe der Abstraktion von Erwartungszusammenhängen ist mit Programmen erreicht. Programme legen Kriterien der Richtigkeit für Kommunikationen fest, bei deren Erfüllung mit ihrer Annahme gerechnet werden kann. Zu einer Differenzierung von Erwartungsprogrammen gegenüber sozialen Rollen kommt es, wenn auf diese Weise das Verhalten einer Mehrheit von Rollenträgern bzw. Stelleninhabern strukturiert wird (vgl. Luhmann 1984: 432 f., der dort u. a. »eine chirurgische Operation«, »die Einrichtung eines Warenhauses auf Winterschlussverkauf« und die »Planung und Aufführung einer Oper« als Beispiele für Programme nennt). Werte bezeichnen die letzte Abstraktionsstufe der Identifikation von Erwartungsmustern. Entkoppelt vom Bezug auf bestimmte Situationen, symbolisieren sie allgemeine Gesichtspunkte der Vorzugswürdigkeit, die zur Bewertung von Zuständen und Ereignissen bzw. Handlungen eingesetzt werden können (vgl. Luhmann 1984: 433). So etwa, um bildungspolitische Maßnahmen als die Chancengleichheit fördernd zu loben oder das Verhalten von Konzernen als ausbeuterisch und umweltzerstörend zu brandmarken. Die Unterscheidung der eben genannten Stufen der Abstraktion von Erwartungszusammenhängen markiert eine wesentliche Verknüpfungsstelle zwischen der allgemeinen Theorie sozialer Systeme und der Theorie der Gesellschaft. Wie später noch zu zeigen sein wird, sind über die Differenzierung sozialer Rollen hinaus vor allem Programme und Werte von zentraler Bedeutung für die Entstehung der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. Nachdem die Eigenschaften sozialer Systeme weiter oben vorrangig an einen bestimmten Systemtyp, nämlich der Interaktion unter Anwesenden, erläutert worden sind, kamen in den letz- <?page no="165"?> 166 Wolfgang Ludwig Schneider ten Abschnitten zwei weitere Typen sozialer Systeme, nämlich Organisation und Gesellschaft, in den Blick, wobei die Gesellschaft sich wiederum in unterschiedliche primäre gesellschaftliche Teilsysteme differenziert. Allen sozialen Systemen und Sozialsystemtypen ist gemeinsam, dass sie sich durch die Verknüpfung von Kommunikationen reproduzieren. Die Schließung eines sozialen Systems gegenüber anderen sozialen Systemen in seiner Umwelt verlangt deshalb zusätzliche Unterscheidungen, die es erlauben, kommunikative Ereignisse verschiedener Ausprägung voneinander zu unterscheiden, und zwar so, dass sie jeweils einen geschlossenen Zusammenhang aneinander anschließender Operationen bilden, in den andere kommunikative Operationen nicht intervenieren können. In der Interaktion unter Anwesenden ist es die Unterscheidung zwischen Anwesenden und Abwesenden (vgl. Luhmann 1984: 560 und 564), die diese Grenze zu anderen sozialen Systemen markiert. Ein Interaktionssystem operiert nur auf der Innenseite dieser Unterscheidung, der Seite der Anwesenden also oder genauer, der Seite der in der Kommunikation als anwesend Behandelten. Personen mögen physisch anwesend sein und können durch die laufende Kommunikation doch ignoriert und insofern als abwesend definiert werden (vgl. Kieserling 1999: 66 f.; Schneider 2012: 596 f.), wie dies etwa bei den an verschiedenen Tischen sitzenden und einander wechselseitig ignorierenden Gruppen von Gästen in einem Restaurant zu beobachten ist. Organisationen reproduzieren sich als aufeinander Bezug nehmende Kommunikationen von Entscheidungen (vgl. Luhmann 2000: 68). Als Strukturen, welche die Verfertigung von Entscheidungen orientieren, dienen dabei Entscheidungsprämissen, über die die Organisation in der Vergangenheit ebenfalls selbst entschieden hat. Wer zur Mitwirkung an der Entscheidungskommunikation berechtigt bzw. verpflichtet ist und wer nicht, ist hier nicht durch die Unterscheidung von Anwesenden und Abwesenden konditioniert, sondern durch die Unterscheidung der Mitglieder von Nichtmitgliedern einer Organisation. Die Abgrenzung des Systems gegenüber seiner Umwelt erfolgt durch die Beziehung der Entscheidungskommunikation auf die Mitglieder der Organisation, deren Mitgliedschaft im System selbst Resultat einer systeminternen Entscheidung ist. Gesellschaft ist das umfassendste Sozialsystem, das soweit reicht, wie Kommunikationen potenziell füreinander relevant sind und aufeinander Bezug nehmen können (vgl. Luhmann 1997: 150 ff.). Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft, in der die Kommunikationsnetze multinationaler Organisationen, der alltägliche Gebrauch von Verbreitungsmedien und die Lösung funktionssystemischer Kommunikation aus der Bindung an lokale Kontexte Kommunikationen mit potenziell globaler Relevanz und Anschlussfähigkeit ausrüstet (vgl. Stichweh 2000: 17 f.), existiert Gesellschaft nur noch im Singular-- als Weltgesellschaft. Dabei war und ist Gesellschaft immer intern differenziert. In Abhängigkeit von der primären Form der Differenzierung von Gesellschaft lassen sich drei Gesellschaftstypen unterscheiden: (1) Die frühesten menschlichen Gesellschaften sind segmentär differenziert in Einheiten, die sich nach verwandtschaftlicher Zugehörigkeit und Lokalität gliedern (vgl. Luhmann 1997: 634 ff.); (2) zur Bildung von stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften kommt es durch Hierarchisierung von Verwandtschaftsverbänden (Entstehung einer durch Heiratsbeschränkungen geschlossenen adligen Oberschicht, welche die gesellschaftlich wichtigen Funktionen für sich monopolisiert) sowie durch die territoriale Gliederung in Zentren der Herrschaft und deren Peripherie (vgl. Luhmann 1997: 663 ff. und 678 ff.); (3) charakteristisch für die moderne Gesellschaft ist die primäre Differenzierung in Funktionssysteme, die durch das Auseinandertreten unterschiedlicher Großkontexte kommunikativer Informationsverarbeitung entsteht, von denen jeder auf die Bearbeitung eines bestimmten gesellschaftlichen Bezugsproblems spezialisiert ist (vgl. Luhmann 1997: 707 ff.). <?page no="166"?> Theorie sozialer Systeme 167 2. Die moderne Gesellschaft als soziales System Die Ausgangsannahme entfaltend, nach der Kommunikationen die elementaren Ereignisse sind, durch deren Verkettung sich soziale Systeme bilden und reproduzieren, nimmt Luhmanns Gesellschaftstheorie die Form einer Theorie der sozialen Evolution von Kommunikation an. Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei eine bisher noch nicht explizit behandelte vierte kommunikative Selektion, die Luhmann nicht zu den drei Selektionen (Mitteilung, Information und Verstehen) zählt, die konstitutiv sind für die Synthese einer elementaren Kommunikationseinheit. Diese vierte Selektion ist die Entscheidung zwischen der Annahme und der Ablehnung einer Kommunikation (vgl. Luhmann 1984: 204). Gleichgültig wie die Entscheidung zwischen diesen Alternativen schließlich ausfällt, ist danach die Fortsetzung der Kommunikation möglich. Annahme ist dafür also nicht unbedingt erforderlich. Im Falle der Ablehnung einer Mitteilung kann die Kommunikation als Konflikt weitergeführt werden (vgl. Luhmann 1984: 530 f.). Wenn aber von vornherein nicht mit Annahme zu rechnen und das Betreiben von Kommunikation auch nicht durch die gegebenen Umstände erzwungen ist, wird die Beteiligung daran durch die Erwartbarkeit von Ablehnung demotiviert (vgl. Luhmann 1984: 218). Insofern gilt: Nur wenn im Normalfall die Annahme von Kommunikation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, ist auch deren Anschlussfähigkeit und daher die Kontinuierung eines sozialen Systems sicherzustellen. Damit ist ein Grundproblem bezeichnet, das in jeder Phase der evolutionären Expansion von Kommunikation, angefangen von den frühen Jäger- und Sammlergesellschaften bis hin zur modernen Weltgesellschaft, immer wieder erfolgreich gelöst worden sein muss. Die Untersuchung der Frage, welche Form die Lösung dieses Problems auf den verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung annimmt, ist deshalb für die Systemtheorie von erheblicher Bedeutung. In den frühen Jäger- und Sammlergesellschaften ist Kommunikation noch völlig an die Interaktion unter Anwesenden gebunden. Anschlüsse müssen daher rasch erzeugt werden. Für die Entwicklung von Zweifeln und Ablehnungsmotive bleibt unter diesen Voraussetzungen wenig Zeit. Zugleich riskiert jede Ablehnung, die Interaktion in einen Konflikt zu transformieren, dem sich die Beteiligten kaum entziehen können. Entlang der Loyalitätsbindungen zwischen Verwandten kann ein Konflikt leicht andere Gruppenmitglieder zur Parteinahme motivieren und sich dadurch schnell ausbreiten. Um dieses Risiko kontrollieren zu können, entwickeln Jäger- und Sammlergesellschaften oft wirksame Formen der Konfliktrepression und d. h. zunächst vor allem der Vermeidung offener Ablehnungen in der Kommunikation (vgl. Luhmann 1997: 466 f.). Wie konversationsanalytische Untersuchungen gezeigt haben (vgl. Sacks 1987), ist mit der »Präferenz für Zustimmung« auch unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen ein entsprechender Mechanismus zur Vermeidung von Konflikten in die Erwartungsstruktur der faceto-face Interaktion eingebaut. Eine neue Stufe der Entwicklung wird erreicht, wenn Verbreitungsmedien wie Schrift und Buchdruck entstehen, die es ermöglichen, Kommunikation aus der Bindung an die Interaktion unter Anwesenden zu lösen. Damit entfällt der Druck zur raschen Reaktion, sodass Zeit für die Entwicklung von Ablehnungsmotiven zur Verfügung steht. Ebenso werden Ablehnungen möglich, ohne sie gegenüber dem Absender einer Mitteilung direkt zu äußern und dadurch die Verwicklung in einen Konflikt zu riskieren. Die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung von Mitteilungen erhöht sich dadurch in hinreichendem Maße, um Kommunikation auf der Basis der Verwendung von Verbreitungsmedien zu entmutigen. Um diese evolutionäre Schwelle für die Expansion von Kommunikation zu überwinden, sind Einrichtungen erforderlich, welche die Selektion von Kommunikationen in einer Weise konditi- <?page no="167"?> 168 Wolfgang Ludwig Schneider onieren, die geeignet ist, Adressaten zur Annahme zu motivieren (vgl. Luhmann 1997: 321). Diese Aufgabe wird durch eine neue Klasse von Medien erfüllt: Es sind die sogenannten symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die knapper als Erfolgsmedien bezeichnet werden (vgl. Luhmann 1997: 316 ff.). Prominente Beispiele für diese Medien sind Wahrheit, Recht, Macht und Eigentum. Diese Medien legen bestimmte Bedingungen fest, denen sich die Auswahl mitgeteilten Sinns unterstellt. Und sie motivieren Adressaten zur Annahme, insofern diese darauf vertrauen, dass die mitgeteilten Informationen diesen Bedingungen genügen. Wie schon an den Titeln der exemplarisch genannten Erfolgsmedien abzulesen ist, erreichen sie die Kopplung von kommunikativer Selektion und Annahmemotivation durch die Herstellung einer Verbindung zwischen den mitgeteilten Informationen und sozial anerkannten Gesichtspunkten der Vorzugswürdigkeit, d. h. von Werten (s. o.). Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bringen die von ihnen genutzten Werte jedoch in eine spezifische Form. Sie unterscheiden Werte nicht von anderen Werten, wie etwa Schönheit von Reichtum oder Freiheit von Gleichheit oder Solidarität, sondern überführen sie in die Form eines binären Codes. Dazu wird jeweils ein Wert mit seinem durch Negation erreichbaren Gegenwert zur Einheit einer kommunikationsleitenden Differenz zusammengespannt (vgl. Luhmann 1997: 364 ff.). Werte (als Gesichtspunkte der Vorzugswürdigkeit) wie Wahrheit, Recht, Eigentum oder Macht, die auf diese Weise zu Codes der Form wahr/ unwahr, Recht/ Unrecht, Eigentum haben/ nicht haben (bzw. zahlen/ nicht zahlen), Machtüberlegenheit/ Machtunterlegenheit binarisiert und sozial institutionalisiert werden, etablieren unterschiedliche und gegeneinander geschlossene semantische Räume für die Betreibung von Kommunikation. Wer etwa eine Tatsachenbehauptung mit dem Anspruch auf Wahrheit formuliert, kann dann erwarten, dass Anschlussäußerungen sich ebenfalls innerhalb der Leitdifferenz wahr/ unwahr bewegen (und nicht etwa die Ausgangsbehauptung als gotteslästerlich oder als jugendverderbend kritisieren). Eingerichtet wird so jeweils ein geschlossener Kontext der Informationsverarbeitung, der große Mengen von Kommunikationsbeiträgen strukturiert, indem er eine Leitunterscheidung vorgibt, zwischen deren positivem und negativem Wert die Kommunikation oszilliert. Gesellschaftliche Relevanz erhält binär codierte Kommunikation durch ihre Spezialisierung auf die Lösung maßgeblicher gesellschaftlicher Bezugsprobleme (Funktionen). So bedient das Medium Wahrheit die Gewinnung neuen Wissens, das Medium Recht die Stabilisierung normativer Erwartungserwartungen, deren Geltung durch abweichendes Verhalten in Frage gestellt erscheint, Macht stellt Kapazitäten für kollektiv bindende Entscheidungen bereit und Eigentum (bzw. Geld als »Zweitcodierung des Eigentums«; Luhmann 1988: 191) dient der Regulierung von Knappheit im Blick auf die Vorsorge für eine ungewisse Zukunft. Die binäre Codierung von Kommunikation und die Kopplung der Codes an bestimmte Funktionen etablierten Bedingungen für die Evolution einer funktionsspezifischen Semantik (Theorien und Methoden für das Medium Wahrheit; Gesetze, Verträge und Präjudizien für das Medium Recht etc.), die als Programme Kriterien der Richtigkeit für die Zuordnung von Kommunikationen zu den Werten eines Codes bereitstellen (vgl. Luhmann 1997: 362). Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bilden die Grundlage für die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft wie etwa des politischen Systems, des ökonomischen Systems, des Rechtssystems und des Wissenschaftssystems. Die erkennbare Zuordnung einer Kommunikation zum binären Code eines Funktionssystems markiert dabei den selbstreferenziellen Aspekt der Operation, der ihre Systemzugehörigkeit anzeigt und durch die ausschließliche Verkettung von Operationen dieses Typs die Schließung des Systems erlaubt. Demgegenüber steht der Inhalt der Mitteilung, der auf diesen Code bezogen wird (also der Inhalt der Behauptung, für die Wahrheit beansprucht; der besondere Sachverhalt, aus dem ein <?page no="168"?> Theorie sozialer Systeme 169 Rechtsanspruch abgeleitet wird; der Gegenstand, der zum Kauf angeboten wird), für den fremdreferenziellen Aspekt und damit den Umweltbezug der Operation. Für die Durchsetzung funktionaler Differenzierung bedarf es freilich der Erfüllung weiterer Voraussetzungen. So muss mit der Transformation der Differenzierungsform auch der Modus der gesellschaftlichen Inklusion von Personen umgestellt werden. Unter den Bedingungen stratifikatorischer Differenzierung waren Personen über die Zuordnung zu Familienhaushalten mit einer bestimmten Rangposition im hierarchisch geordneten Gefüge ständischer Schichtung inkludiert. Über die Zugehörigkeit zu einer Familie definierte sich ihr sozialer Status und waren die dadurch für sie zugänglichen Rollen bestimmt. Die Umstellung auf den Primat funktionaler Differenzierung löst diesen Zusammenhang auf. Gesellschaftliche Inklusion von Personen verlangt nun deren Partizipation an den Funktionssystemen. Weil jedes dieser Systeme nur auf die Bearbeitung eines bestimmten Bezugsproblems spezialisiert ist, kann gesellschaftliche Inklusion nicht über die Komplettinklusion der Person in ein Funktionssystem realisiert werden, sondern ist nur durch die multiple Partizipation an den verschiedenen Funktionssystemen-möglich. Der für die moderne Gesellschaft charakteristische Inklusionsuniversalismus der Funktionssysteme, der Zugangsoffenheit für alle zumindest suggeriert, ist auf diese Lage zugeschnitten (vgl. Luhmann 1997: 765). Strukturell tragen die Funktionssysteme diesen Inklusionsanforderungen dadurch Rechnung, dass sie asymmetrisch aufeinander bezogene Komplementärrollenpaarungen einrichten, wie Produzent/ Konsument (Ökonomie), Regierende/ Regierte (Politik), Lehrer/ Schüler (Erziehungssystem), Arzt/ Patient (System der Krankenbehandlung), die systemspezifische Leistungsrollen den dazu komplementären Publikumsrollen gegenüberstellen (vgl. Luhmann 1997: 739). Die Inklusion derselben Person in eine Vielzahl von Funktionssystemen wird dabei über die von Situation zu Situation rasch wechselbaren Publikumsrollen ermöglicht. Von zentraler Bedeutung für die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen ist darüber hinaus die Entstehung von Organisationen als neuartigem Typus sozialer Systeme. Weil viele Organisationen (wie Produktionsbetriebe, Handelsfirmen und Banken, Krankenhäuser und Arztpraxen, Schulen und Universitäten, Gerichte und Anwaltskanzleien) sich primär auf die Verfolgung von Zwecken konzentrieren, die jeweils in besonderem Maße für die Bearbeitung funktionssystemspezifischer Bezugsprobleme relevant sind und die dafür benötigten Leistungsrollenträger rekrutieren, bilden sie eine notwendige Basis für die Durchsetzung funktionaler Differenzierung. Die vorstehende Skizze zeigt, in welcher Weise die oben erläuterten Abstraktionsniveaus der Identifikation von Erwartungszusammenhängen (Personen, Rollen, Programme, Werte) in den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft aufeinander bezogen werden und wie die Systembildungsebenen Interaktion, Organisation und Gesellschaft dabei miteinander verknüpft sind. Das Prinzip, das hier die Schließung der Funktionssysteme ermöglicht, ist die binäre Codierung von Kommunikation. Es ist die Leitdifferenz, mit der ein Funktionssystem die Welt beobachtet, die dazu führt, dass aus Mitteilungen systemspezifische Informationen gewonnen werden. Insofern derselben Mitteilung aus der Perspektive der Leitdifferenzen verschiedener Funktionssysteme ein jeweils systemspezifischer Informationssinn zugewiesen werden kann, wird der Informationssinn kommunikativer Ereignisse als Folge gesellschaftlicher Differenzierung sozial pluralisiert, wird jedes Ereignis potenziell zu einem »Mehrerleiereignis« (Fuchs 1992: 183 f.; Luhmann 1990: 88 f.), dem durch die Einbettung in die Reproduktionszusammenhänge verschiedener Funktionssysteme eine Mehrzahl von anschlussfähigen Bedeutungen zugewiesen werden kann. <?page no="169"?> 170 Wolfgang Ludwig Schneider 3. Funktionssysteme als beobachtende Systeme und die Integration der Gesellschaft Das Prinzip der binären Codierung der Informationsverarbeitung in den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft erscheint vor dem Hintergrund der Theorie der Beobachtung, die Luhmann in Anknüpfung an den Formenkalkül von George Spencer Brown (1979) formuliert hat, als besonders prominentes Beispiel, das die universell gültige Struktur jeder Art des Beobachtens illustriert. Die Theorie der Beobachtung umreißt die allgemeinsten erkenntnistheoretischen Prämissen der Systemtheorie, aus denen eine entsprechende Methodik der Theoriekonstruktion folgt. Beobachten als elementare Systemoperation ist als Simultanvollzug der Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens zu rekonstruieren (vgl. Luhmann 1990: 81). Indem etwas bezeichnet wird, so die gleichsam axiomatische Annahme, wird es zugleich von anderem unterschieden. Ein bezeichneter Gegenstand wird etwa von allen anderen Gegenständen in einem Raum unterschieden, die Bezeichnung einer Aussage als wahr profiliert sich gegen die Möglichkeit ihrer Bezeichnung als unwahr, der Erwerb einer Ware durch Zahlung gegen die Möglichkeit ihres Nichterwerbs. Welche Informationen aus einer Mitteilung gewonnen werden, hängt (s. o.) von den Unterscheidungen ab, mit denen sie beobachtet wird. Neben dem binären Code eines Funktionssystems sind auch die systemspezifischen Programme, die Kriterien der Zuordnung zu den Werten eines Codes bereitstellen, als Bündel von Unterscheidungen zu begreifen, mit denen soziale Systeme ihre Umwelt beobachten und den Informationsgehalt kommunikativer Ereignisse bestimmen. Das mit jeder Operation des Beobachtens vollzogene Unterscheiden-und-Bezeichnen kann dabei gedeutet werden als Anwendungsfall eines der Evolution selbstorganisierender Systeme zugrunde liegenden »allgemeineren Mechanismus, den man als ›Überschussproduktion-und- Selektion‹ bezeichnen könnte« (vgl. Luhmann 1990: 81). Die im Medium Sinn erfahrene Wirklichkeit und der Möglichkeitshorizont, in dem das System operiert, werden durch die Unterscheidungen entworfen, die es im Netzwerk seiner Operation verwendet und verändert. Die Welt eines Systems ist insofern Resultat systeminterner Konstruktion. Konstruktion darf hier aber nicht mit Halluzination verwechselt werden. Die Unterscheidungen des Systems spannen immer nur einen Möglichkeitsraum auf, der offen lässt, welche Möglichkeit aktualisiert, d. h. bezeichnet wird. Auch die Kriterien, die das System für die Entscheidung zur Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite einer benutzten Unterscheidung verwendet, determinieren diese Entscheidung nicht. Die Umwelt muss hier in jeweils nicht vorhersehbarer Weise mitwirken. Das System entwirft die Möglichkeiten und delegiert gleichsam die Auswahl zwischen ihnen an die Umwelt. Versucht man, sich die »Dinge an sich« (Kant), d. h. unabhängig von jeder Unterscheidung, mit der sie beobachtet werden können, vorzustellen, dann bleibt nur die unbestimmte, weil unbezeichenbare Komplexität der Welt, über die sich nichts weiter sagen lässt. Wissenschaftliche Beobachtungen richten sich nicht allein auf die Welt der Dinge und Ereignisse. Sie präsentieren sich nicht als in solistischem Direktzugriff gewonnene Einsichten in das Wesen der Dinge, sondern beobachten jeweils mit, wie der gewählte Wirklichkeitsausschnitt bereits von anderen wissenschaftlichen Beobachtern beobachtet worden ist. Sie bewegen sich damit immer auch auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, auf der jede Beobachtung in vergleichender Bezugnahme auf andere Beobachtungen diese und sich selbst als kontingent setzt, dadurch noch in der Feststellung von Übereinstimmung die Möglichkeit präsent hält, dass andere Beobachter zu anderen Ergebnissen kommen können, und sich so als Element eines <?page no="170"?> Theorie sozialer Systeme 171 rekursiv operierenden Kommunikationszusammenhangs ausweist. Publikationen als kompakte kommunikative Ereignisse, durch deren Verkettung sich Wissenschaft als soziales System reproduziert, dokumentieren dies in ebenso einfacher wie offensichtlicher Weise, indem sie ihre eigenen Ergebnisse zugleich auf den »Stand der Forschung«, d. h. auf vorausgegangene und als Publikationen vorliegende Beobachtungen kritisch oder affirmativ beziehen und ihren eigen Beitrag zur Gewinnung neuer Erkenntnis in Relation dazu profilieren (vgl. Luhmann 1990: 296 ff.). Die Reproduktion auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung ist keine Besonderheit der Wissenschaft, sondern charakteristisch für die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. Im politischen System wird die öffentliche Meinung dazu benutzt, zu beobachten, wie andere Beobachter vorgetragene Entscheidungsvorschläge beobachten, um auf diese Weise Konsens- und Durchsetzungschancen zu testen (vgl. Luhmann 2002: 286 f.). Im Wirtschaftssystem zeigen Preise Erwartungen im Hinblick auf die von Anbietern vermutete Zahlungsbereitschaft potenzieller Käufer an und ermöglichen es so, dass andere Marktteilnehmer (seien dies nun Kaufinteressenten oder Konkurrenten) die sich darin ausdrückende Marktbeobachtung der Anbieter vergleichend beobachten und ihre eigenen Entscheidungen daran orientieren (vgl. Luhmann 1988: 118 f.). Derartige Einrichtungen zur Beobachtung der Beobachtungen einer Vielzahl anderer Beobachter treten in den Funktionssystemen an die Stelle, die in der Interaktion unter Anwesenden die jeweils unmittelbar beobachtbare Reaktion der anderen einnimmt. Sie ermöglichen die Strukturierung von Situationen doppelter Kontingenz unter Bedingungen interaktionsfreier Kommunikation. Vollzogen als Einheit der Unterscheidung von Bezeichnung und Unterscheidung ist jede Beobachtung paradox gebaut. Im operativen Vollzug der Beobachtung bleibt diese Paradoxie jedoch latent, weil die Ausführung einer Bezeichnung die dabei zugrunde gelegte Unterscheidung nur implizit voraussetzt, ohne sie zugleich explizieren zu können. Zwar ist es auch möglich, Unterscheidungen zu bezeichnen (wie es die Systemtheorie tut, wenn sie den binären Code eines Funktionssystems bezeichnet). Dies ist aber nur möglich durch Unterscheidung der bezeichneten (in sich differenziell konstituierten) Einheit von einer anderen, so etwa von den binären Codes anderer Funktionssysteme. Und auch die zusammenfassende Bezeichnung unterschiedlicher binärer Codes durch das Prinzip der binären Codierung kommt nicht umhin, dieses wiederum von anderem zu unterscheiden etc. Sozial folgenreich wird dieser einfache beobachtungstheoretische Sachverhalt, sobald Systeme sich selbst beobachten und beschreiben. Dies geschieht, wenn sich Reflexionstheorien als Selbstbeschreibungen der Funktionssysteme entwickeln, welche die Identität des jeweiligen Systems, d. h. seine Einheit in der Vielheit seiner Operationen zu bestimmen versuchen. Eine plausible Vermutung ist, dass solche Theorien gleichsam als Rückschlageffekt funktionaler Differenzierung entstehen: Indem jedes Funktionssystem seine gesellschaftliche Umwelt aus seiner eigenen Perspektive erfasst, wird es durch die anderen Funktionssysteme mit einer Mehrzahl von Fremdbeschreibungen und dadurch mit der Frage konfrontiert, welche Beschreibungen aus seiner Binnenperspektive zu den eigenen Operationen und deren Codierung passen und sich affirmativ auf seine gesellschaftliche Funktion beziehen lassen (vgl. Kieserling 2004: 55 und 65 f.). In Theorieform betrieben, verortet sich die Reflexion der Funktionssysteme typisch im Wissenschaftssystem. Prominente Beispiele für Reflexionstheorien sind die Wirtschaftstheorie, die politische Theorie, die Theorie der Erziehung oder die Rechtstheorie. Für die Analyse der Funktionssysteme der Gesellschaft sind drei Relationen von hervorgehobener Bedeutung, von denen bisher zwei angesprochen worden sind: Reflexionstheorien artikulieren die Identität eines Funktionssystems, machen also dessen Beziehung zu sich selbst als Einheit in kommunikativ verfertigten (Selbst)Beschreibungen zum Thema. Über die Funktion bezieht es sich auf die Gesamtgesellschaft. Bisher noch nicht diskutiert wurde die Beziehung eines Funk- <?page no="171"?> 172 Wolfgang Ludwig Schneider tionssystems zu anderen Teilsystemen (und hier insbesondere: anderen Funktionssystemen) in seiner innergesellschaftlichen Umwelt. Diese Beziehung wird über Leistungen hergestellt, die es für andere Teilsysteme erbringt. Erneut am Beispiel der Wissenschaft illustriert, sind diese drei Relationen wie folgt zu spezifizieren (vgl. dazu Luhmann 1990: 635 ff.): Der Reflexion von Wissenschaft als sozialem System widmet sich für die Wissenschaft insgesamt vor allem die Erkenntnisbzw. Wissenschaftstheorie. Die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen thematisieren ihre Identität jeweils in der Reflexion des für sie relevanten Problem- und Theorienbestandes. Durch die gesellschaftliche Funktion des Gewinns von neuen Erkenntnissen, deren disziplinäre Relevanz sich vor dem Hintergrund dieses Problem- und Theoriebestandes ausweist, lässt sich vor allem die Grundlagenforschung leiten. Der Produktion von Wissen, das von anderen Funktionssystemen als Leistung abgenommen wird, dient die anwendungsbezogene Forschung. Inwiefern wissenschaftliches Wissen im Kontext anderer Funktionssysteme anwendbar ist, entscheidet sich dabei erst im Binnenzusammenhang dieser Systeme, sodass Grundlagenforschung absichtslos (man denke nur an die Entdeckung von Radioaktivität und Kernspaltung) anwendungstaugliche Ergebnisse und umgekehrt anwendungsorientierte Forschung wissenschaftsextern als nutzlos betrachtete Resultate erzeugen kann. Von welchem Standort aber wird all dies beobachtet? Die Systemtheorie beantwortet diese Frage nach ihrer Selbstlokalisierung in der Gesellschaft wie folgt: Als Theorie ist sie dem Funktionssystem Wissenschaft zuzurechnen, das sich intern in Disziplinen differenziert, zu denen auch die Soziologie gehört, in der es unterschiedliche Theorieangebote gibt, von denen eines die Systemtheorie ist. Die Systemtheorie beobachtet die Gesellschaft also auf der Basis des binären Codes wahr/ unwahr. Sie verfertigt eine Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft, welche damit den Status einer Selbstbeschreibung der Gesellschaft hat. Auf Konkurrenzangebote trifft sie hier vor allem in den Massenmedien und den Protestbewegungen (vgl. Kieserling 2004: 53). Weil die Systemtheorie der modernen Gesellschaft im Wissenschaftssystem angesiedelt ist und eine Beschreibung von Wissenschaft als Funktionssystem enthält, fällt diesem Teil ihrer Gesellschaftstheorie auch die Rolle einer Reflexionstheorie der Wissenschaft zu, die zu den reflexionstheoretischen Angeboten der Erkenntnisbzw. Wissenschaftstheorie in Konkurrenz tritt. Gestützt auf die Theorie der Beobachtung (s. o.), lässt sich die inhaltliche Position, die sie dabei einnimmt, als »konstruktivistisch« bezeichnen (vgl. Luhmann 1990: 516 ff.). Im Blick auf alle anderen Funktionssysteme liefert die Systemtheorie hingegen nur Fremdbeschreibungen, die durch eine deutliche Distanz zu den reflexionstheoretischen Selbstbeschreibungen dieser Systeme gekennzeichnet sind, weil sie als wissenschaftliche Theorie weder den Code dieser Systeme selbst benutzt, noch auf den Vorrang der Systemfunktion verpflichtet ist. Sie ist in den von ihr fremdbeschriebenen Funktionssystemen deshalb im Regelfalle kaum anschlussfähig und steht in einem Spannungsverhältnis zu deren Reflexionstheorien (vgl. Kieserling 2004: 52 f.). Weil jede Reflexionstheorie die gesellschaftliche Umwelt ihres Bezugssystems aus dessen Perspektive, d. h. unter Priorisierung seiner Funktion und Codierung beschreibt, sieht sich nicht nur jedes Funktionssystem mit einer Pluralität von Fremdbeschreibungen, sondern auch die moderne Gesellschaft als Gesamtzusammenhang mit einer Mehrzahl von Beschreibungen konfrontiert. Die Systemtheorie kann schon aufgrund ihrer eigenen Prämissen nicht beanspruchen, die Differenz dieser Beschreibungen in einer Metabeschreibung zum Verschwinden zu bringen. Sie kann nur versuchen, diese Pluralität durch ihre Rekonstruktion als Ausdruck der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft verständlich zu machen. Die Einheit der Gesellschaft lässt sich dabei nur paradox, nämlich durch ihre primäre Differenzierungsform bestimmen. Diese Paradoxie indiziert keinen Theoriefehler, sondern steht für ein Realproblem, das sich im Prozess der Reproduktion der Gesellschaft zur Geltung bringt und theoretisch zu entfalten ist. Die <?page no="172"?> Theorie sozialer Systeme 173 dafür einschlägige Unterscheidung ist die von Differenzierung und Integration. Jede differenzierungstheoretische Beschreibung der Gesellschaft wirft die Frage auf, wodurch die gegeneinander differenzierten Teile zusammengehalten, d. h. zu einem als Einheit identifizierbaren Zusammenhang integriert werden. Bei allen Unterschieden im Detail konvergiert die differenzierungstheoretische Tradition von Durkheim über Parsons bis Habermas hier in der Annahme, dass es gemeinsam geteilte Werte und Normen sind, welche die verschiedenen Teile miteinander verbinden. Sie sollen für die Integration der Gesellschaft durch eine gemeinsame Moral sorgen, deren Form dann in Abhängigkeit von der Veränderung der gesellschaftlichen Differenzierungsform variiert. Luhmanns Systemtheorie setzt sich explizit von dieser Annahme ab. Moral erscheint ihm für die Bedienung der Integrationsfunktion unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft ungeeignet. Er formuliert dagegen die These, »dass die Codes der Funktionssysteme auf einer Ebene höherer Amoralität fixiert werden müssen« (Luhmann 1997: 751). Damit ist gemeint, dass die Zuordnung von Kommunikationsbeiträgen zu beiden Seiten eines Codes möglich sein muss, ohne moralische Achtungsverluste für deren Urheber nach sich zu ziehen. Das Risiko des Verlusts politischer Macht, des Vertretens neuer Hypothesen oder des Klagens vor Gericht, wird erst tragbar, wenn nicht die moralische Disqualifikation von abgewählten Machthabern, von Forschern, deren Hypothesen als unwahr verworfen werden, oder von unterlegenen Klägern und Beklagten droht. Die Codes der Funktionssysteme verhalten sich insofern inkongruent gegenüber Kriterien der Moral. Moral kann freilich eine Schutzfunktion für die Funktionssysteme übernehmen. So »vor allem dort, wo die binäre Codierung selbst unterlaufen wird-- etwa durch Doping beim Sport, durch Bedrohung der Richter, durch Fälschung der Daten in der empirischen Forschung« (Luhmann 1997: 752). Ebenso bei Versuchen, Konvertibilitätsschranken zwischen unterschiedlichen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zu durchbrechen, z. B. durch Kauf politischer Entscheidungen, akademischer Titel oder richterlicher Urteile. In diesen Fällen stützt Moral funktionale Differenzierung, trägt also gerade nicht zu einer funktionssystemübergreifenden Integration der Gesellschaft bei. Insbesondere jenseits solcher selektiver Kopplungen an die Struktur funktionaler Differenzierung sind die Bewertungskriterien der Moral in hohem Maße individualisiert und sozial pluralisiert. In Problem- und Konfliktsituationen leicht zu aktivieren, aber weder dazu in der Lage, Direktiven für deren Lösung bereitzustellen, noch gesellschaftsweiten Konsens zu mobilisieren, ist Moral daher vor allem geeignet, Konflikte zu entfachen und zu verstärken und deshalb untauglich, die Funktion der Integration zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen zu erfüllen (vgl. Luhmann 1997: 404). Wenn aber nicht durch gemeinsame Werte und Normen, wie ist gesellschaftliche Integration dann zu erreichen? Luhmanns Antwort lautet: Durch die wechselseitige Leistungsabhängigkeit der Funktionssysteme. Als Folge der Spezialisierung auf die Erfüllung seiner besonderen Funktion kann kein Funktionssystem alle von ihm benötigten Voraussetzungen selbst erzeugen. Die Ökonomie etwa ist auf ein funktionierendes Rechtssystem angewiesen, das es ermöglicht, Eigentumsübertragungen zuverlässig vorzunehmen und Verträge einzuklagen. Ihr Bedarf an ausbildungsfähigem Arbeitskräftenachwuchs macht sie abhängig vom Erziehungssystem. Um diesen Bedarf befriedigen zu können, ist das Erziehungssystem einerseits auf hinreichende Sozialisationsleistungen der Familien, andererseits auf eine ausreichende Finanzierung durch den Staat angewiesen. Die Finanzierungsmöglichkeiten des Staates hängen wiederum von dem Steueraufkommen ab, das er aus dem Wirtschaftssystem bezieht etc. Durch seinen Bedarf an extern erzeugten Leistungen unterliegt jedes Funktionssystem Beschränkungen durch seine innergesellschaftliche Umwelt. Die Leistungsbeziehungen zwischen den Funktionssystemen etablieren strukturelle Kopplungen zwischen ihnen, <?page no="173"?> 174 Wolfgang Ludwig Schneider welche in jedem einzelnen Funktionssystem die Realisierung systeminterner Möglichkeiten limitieren. »Integration« meint unter diesen Voraussetzungen nicht mehr die koordinierte Herstellung einer übergreifenden gesellschaftlichen Einheit, sondern nur noch »die wechselseitige Einschränkung von Freiheitsgraden von strukturell gekoppelten Systemen« (Luhmann 1995: 238). 4. Inklusion und Exklusion als Supercodierung funktionaler Differenzierung und die Bedeutung parasitärer Netzwerke Die systemtheoretische These der weltweiten Durchsetzung des Regimes funktionaler Differenzierung trifft auf erhebliche empirische Plausibilitätsprobleme. In großen Regionen der Welt haben Millionen von Menschen keinen Zugang zu schulischer Erziehung, Krankenbehandlung, Rechtsschutz und legalen Beschäftigungsverhältnissen. Für die entsprechenden Funktionssysteme zählen sie nicht als relevante Adresse. Von der Mitwirkung an ihrer Kommunikation sind sie exkludiert. Eine Theorie, die in solchen »unterentwickelten« Regionen nur Restbestände vormoderner Strukturen sieht, mit deren Verschwinden bald zu rechnen ist, leuchtet angesichts der Resistenz solcher Strukturen gegenüber Modernisierungsanstrengungen immer weniger ein (vgl. Luhmann 1995: 238). Darüber hinaus finden sich Zonen der Exklusion nicht nur in Gegenden, die weit entfernt sind von den städtischen Zentren der Moderne, sondern auch in den Ghettos der Großstädte. Wenn Wohlstand und extremes Elend in enger Nachbarschaft koexistieren, liegt es scheinbar nahe, soziale Ungleichheit auf die Dominanz von Stratifikation als Differenzierungsprinzip zuzurechnen und dieser Differenzierungsform damit den Vorrang vor dem Prinzip funktionaler Differenzierung zuzuerkennen. In einer pessimistischen Wendung der Systemtheorie deutet Luhmann derartige Phänomene jedoch anders, nämlich als Hinweis darauf, dass im Schatten der Funktionssysteme große Zonen der Exklusion möglicherweise gerade als Folge funktionaler Differenzierung entstehen und dauerhaft stabilisiert werden könnten. Die Unterscheidung von Inklusions- und Exklusionsbereichen in der Weltgesellschaft könnte sich, so Luhmanns These, als »Supercode« erweisen, der die verschiedenen Codes der Funktionssysteme als Leitdifferenz überformt und darüber entscheidet, wo Kommunikation sich an den funktionssystemischen Codes orientiert und wo nicht (vgl. Luhmann 1995: 260). Extreme Formen sozialer Ungleichheit erscheinen vor diesem Hintergrund nicht als Ergebnis stratifikatorischer Differenzierung, wie sie in ständisch oder kastenförmig differenzierten Gesellschaften zu beobachten war, sondern als (selbst funktionsloses aber gleichwohl systematisch erzeugtes) Nebenprodukt funktionaler Differenzierung, das entsteht, weil die Funktionssysteme aufgrund ihrer internen Rationalitätskriterien nicht egalisierend, sondern »abweichungsverstärkend« wirken (vgl. Luhmann 1997: 167). Dadurch können kumulierende Exklusionseffekte erzeugt werden, bei denen Einschränkungen der Fähigkeit zur Erfüllung der Partizipationsanforderungen an einem Funktionssystem dazu führen, dass auch die Partizipationschancen im Blick auf andere Funktionssysteme erheblich beeinträchtigt werden. Möglich werden so regelrechte Exklusionskarrieren (wie etwa: Sozialisation in einem bildungsfernen Milieu begünstigt »Schulversagen«; kein Schulabschluss, deshalb keine Berufsausbildung, keine Arbeit, kein Einkommen und keine Kaufkraft; daher keine Möglichkeit, eine ärztliche Behandlung zu bezahlen, Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, eine Wohnung zu bezahlen etc.). Vor solchen seriellen Exklusionseffekten können gut ausgebaute Einrichtungen der sozialstaatlichen Absicherung schützen. Nationale Wohlfahrtsstaaten, als Segmente des weltpolitischen Systems, fungieren hier als inklusionsvermittelnde Systeme (Bommes/ Halfmann 1994, zit. nach Stichweh 2000: 92), die Exklusionseffekte registrieren und versuchen, <?page no="174"?> Theorie sozialer Systeme 175 ihnen zu begegnen. Dies ist freilich nur soweit möglich, wie die dafür relevanten funktionssystemischen Wirkungsmechanismen durch nationalstaatliche Interventionen noch erreichbar sind und dafür bzw. für sekundäre kompensatorische Maßnahmen ausreichende Ressourcen bereitstehen (vgl. Stichweh 2000: 92 ff.). Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind bzw. die staatliche Politik Inklusionsvermittlung kaum als Ziel verfolgt und deshalb keine wohlfahrtsstaatlichen Präventions- und Auffangeinrichtungen etabliert werden, droht für eine große Zahl von Personen eine weitgehende Exklusion von den Möglichkeiten der Funktionssysteme. Die Ausgeschlossenen sammeln sich dann u. U. in Ghettos an den Rändern der Großstädte, bilden so auch räumlich abgegrenzte, aber gleichwohl innergesellschaftliche Zonen der Exklusion, in denen Banden und mafiose Organisationen herrschen, die im Modus der Illegalität parasitäre Kopplungen zu den Funktionssystemen einrichten (vgl. Luhmann 1995: 250, 256; Stichweh 2005: 61), und in denen Gewalt als Mittel der Selbstbehauptung und der Nutzung illegaler Erwerbschancen eine zentrale Rolle spielt. Eine weitere und vor allem in der neueren systemtheoretischen Diskussion relevante Forschungsperspektive, die auch für die Differenzierung zwischen Inklusions- und Exklusionsbereichen unter Bedingungen funktionaler Differenzierung relevant ist, untersucht das Verhältnis von Organisationen, Funktionssystemen und sozialen Netzwerken (einführend dazu Holzer 2006; weiterführend Bommes/ Tacke (Hg.) 2011). Netzwerke werden dabei als Kandidat für einen vierten Systemtyp, neben Interaktion, Organisation und Gesellschaft (einschließlich ihrer Differenzierung in primäre Subsysteme), diskutiert, der in unterschiedliche Beziehungen zu Organisationen und Funktionssystemen treten kann. Bestimmte Arten von Netzwerken können die regionale Durchsetzung des Regimes funktionaler Differenzierung erheblich beeinträchtigen. In exemplarischer Deutlichkeit zu beobachten ist dies etwa in Ländern Afrikas, in denen durch ethnische Kriterien der Zugehörigkeit sich gegeneinander abgrenzende Netzwerke um die Kontrolle des Staatsapparates konkurrieren (vgl. Wimmer 1995). Stellen in der Verwaltung werden hier nicht nach universalistischen Kriterien der sachlichen Qualifikation besetzt. Entscheidungen, die Amtsträger zu treffen haben, sind kaum an formalisierten Regeln orientiert. Sowohl die Vergabe von Stellen als auch behördliche Entscheidungen werden stattdessen primär durch partikulare Kriterien der Verwandtschaft und der ethnischen Zugehörigkeit und/ oder durch Schmiergeldzahlungen konditioniert (vgl. Japp 2011: 275 ff.). Wer weder über die entsprechenden Netzwerkkontakte verfügt, noch über die nötigen Finanzmittel für erfolgreiche Korruption, hat unter solchen Voraussetzungen kaum oder zumindest in erheblich vermindertem Umfang Zugang zu staatlichen Leistungen wie Gesundheitsfürsorge, Arbeitsvermittlung, Rechtspflege oder schulische Erziehung. Bei einem gleichzeitig schwach entwickelten und nach analogen Kriterien funktionierenden privatwirtschaftlichen Sektor bedeutet dies dann für breite Gruppen der Bevölkerung, dass ihre Chancen der Inklusion in die Funktionssysteme dramatisch verringert sind. Dieser Befund kann über die Grenzen funktionssystemischer Kommunikation hinaus zu der These generalisiert werden, dass Ethnizität unter solchen Voraussetzungen in den kommunikativen Kontakten zwischen den Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen als ein Ablehnungswahrscheinlichkeit steigerndes und insofern inverses Erfolgsmedium fungiert, oder mit Japp (2011: 275) formuliert: Ethnizität wirkt hier als »parasitär-diabolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«. Unabhängig davon, ob der Zugang zu den Leistungen von Funktionssystemen durch ethnische Netzwerke vermittelt ist, oder durch Netzwerke, die auf der Basis von personenbezogenen Kriterien anderer Art operieren, hat dies negative Folgen für die Leistungsproduktion. Weil die Rationalitätskriterien der Funktionssysteme ständig durch partikularistische Orientierungen <?page no="175"?> 176 Wolfgang Ludwig Schneider außer Kraft gesetzt werden, ist das Niveau der Erzeugung funktionssystemischer Leistungen gering. Die daraus resultierenden Knappheiten verstärken wiederum die Tendenz, für deren Kompensation persönliche Beziehungen und Netzwerkkontakte zu beanspruchen. Eine so strukturierte Situation tendiert deshalb dazu, sich durch zirkuläre Selbstverstärkung zu stabilisieren. Inklusionsbeschränkungen dieser Art entstehen, aus der Perspektive der Theorie gesellschaftlicher Evolution beobachtet, typisch dann, wenn mit der Auflösung stratifikatorisch differenzierter agrarwirtschaftlicher Ordnungen »Eigentum/ Familie […] als Ressourcenquellen ersetzt (werden) durch die legalen/ illegalen Einflussmöglichkeiten, die Positionen in Organisationen bieten« (Luhmann 1995: 251). Entkoppelt von traditionalen Ordnungen und übertragen auf die funktional differenzierte Ordnung der modernen Gesellschaft, beginnen dann »Netzwerk(e) der Gunsterweise und Vorteilsverschiebungen […] parasitär zu operieren« (Luhmann 1995: 251). Für den Zugang zu Arbeitsstellen, Krediten, die hinreichend schnelle Bearbeitung von Anträgen und von Klagen vor Gericht bedarf es der Inklusion in Netzwerke, weil die entsprechenden Leistungen faktisch nicht über die Rollenverpflichtungen der zuständigen Leistungsrolleninhaber in Organisationen, sondern nur in der partikularistischen Form von persönlichen (bzw. durch Dritte auf der Basis persönlicher Bekanntschaft vermittelten) Gefälligkeiten und Freundschaftsdiensten abgerufen werden können. Die Funktionssysteme und ihre Organisationen sind dabei zwar vorausgesetzt, sie arbeiten jedoch nicht nach ihren eigenen universalistischen Kriterien, sondern stellen über »Personen-in-Positionen« nur die ansprechbaren Adressen und die Ressourcen für das Operieren von Netzwerken bereit (Luhmann 1995: 254). Über Ressourcentausch und wechselseitige Konditionierung von Entscheidungen werden dabei gleichsam kurzschlüssige Querverbindungen zwischen Organisationen und Funktionssystemen hergestellt. Deren je interner Spielraum für die Selektion von Möglichkeiten auf der Basis systemeigener Kriterien wird dadurch drastisch eingeschränkt. An die Stelle der Konditionierung von Entscheidungen durch systemeigene Programmstrukturen, die auf die Erfüllung der Systemfunktion zugeschnitten sind, tritt die Konditionierung durch systemfremde und funktionsinadäquate Kriterien der Netzwerkzugehörigkeit. Indem Netzwerke das Operieren von Organisationen und Funktionssystemen nach ihren eigenen partikularen Kriterien programmieren, reproduzieren sie sich als Parasiten dieser Systeme (zur Explikation des hier in Anlehnung an Serres 1981 zugrunde gelegten Konzepts des Parasiten vgl. Schneider/ Kusche 2011: 176 ff.). Die volle Entfaltung der Eigenrationalität von Organisationen und Funktionssystemen wird dadurch verhindert (Luhmann 1995: 257). Diese Effekte müssen Netzwerke freilich nicht in jedem Falle erzeugen. Für Netzwerke typisch ist die »rekursive Verknüpfung von Reziprozitätserwartungen« zwischen Adressen, die durch Zugehörigkeit zu unterschiedlichen (und sich häufig verschiedenen Funktionssystemen primär zuordnenden) Organisationen einander den Zugang zu sachlich verschieden Leistungen vermitteln können (Bommes/ Tacke 2011: 43 und 46). So verfasst, können Netzwerke auch als »sekundäre Systembildungen« mit der Funktion der Absorption von Unsicherheiten operieren, die durch die Orientierung an den Rationalitätskriterien von Organisationen und Funktionssystemen nicht absorbiert werden können (vgl. Bommes/ Tacke 2011: 47; Tacke 2011: 95; Schneider/ Kusche 2011: 187 f. und 192 f.). Unter bestimmten Voraussetzungen leisten personalisierte Beziehungen in den Funktionssystemen dabei einen Beitrag zu deren effektiverem Operieren. Die bekannte These von Granovetter, dass wirtschaftliche Beziehungen als »eingebettete« Beziehungen zu analysieren sind (vgl. Granovetter 2000), verdeutlicht dies in exemplarischer Weise. Sie behauptet die Allgegenwart von Beziehungen des Netzwerkstyps in ökonomischen Märkten und erklärt deren Prominenz vor allem dadurch, dass sie Vertrauen zwischen Transaktionspartnern generieren, damit Unsicherheit absorbieren und so eine bessere Kalkulation von Transaktionskosten ermöglichen. Systemtheoretisch kann diese These wie folgt gedeutet werden: Markt- <?page no="176"?> Theorie sozialer Systeme 177 preise sind Unterschiede, bei denen ohne Kenntnis der zu erwartenden Transaktionskosten unklar bleibt, welche Kostenunterschiede sie machen. Vor dem Hintergrund von Batesons Definition von Information (»a difference that makes a difference«; s. o.) heißt dies: Die Erzeugung von Information ist gestört; die Preissignale werden durch den »noise« der unbekannten Transaktionskosten überlagert und verlieren deshalb ihre Aussagekraft. In der Transformation dieses Lärms in Information, indem sie es ermöglichen, auf der Basis personenbezogenen Vertrauens Transaktionskosten besser einzuschätzen und dadurch das Risiko ökonomischer Transaktionen zu kontrollieren, besteht die Funktion von Netzwerken im ökonomischen System. Zusammen mit kalkulierbaren Transaktionskosten erhalten Marktpreise den benötigten Informationswert, um zwischen Zahlen und Nichtzahlen entscheiden zu können. Netzwerke leben gleichsam davon, dass sie in dieser Funktion gebraucht und deshalb immer wieder in Anspruch genommen werden. Sie parasitieren insofern am Wirtschaftssystem, freilich in einer Weise, die das Wirtschaftssystem nicht schädigt, sondern sein reibungsloseres Funktionieren ermöglicht. Die Adressen, durch deren Verbindung solche Netzwerke geknüpft werden, sind vor allem die »Grenzstellen« (vgl. Luhmann 1964: 220 ff.) von Organisationen, wie Ein- und Verkäufer, Kundenbetreuer etc. Die an diesen Grenzstellen aufgebauten persönlichen Beziehungen »sind Arbeitsmittel im notwendigen Privatbesitz« (Luhmann 1964: 238), die im Interesse der eigenen Organisationen genutzt werden können, die aber zugleich besondere Pflege verlangen, so etwa durch die Weitergabe wichtiger Informationen, Rücksichtnahme auf die Situation des Kontaktpartners, Entgegenkommen in Verhandlungen, durch Tauschgeschäfte und persönliche Gefälligkeiten. Der Übergang von strategischer Beziehungspflege zum Verrat an den Interessen der Organisation oder gar zur Korruption kann dabei ins Fließen geraten. Netzwerke persönlicher Beziehungen können deshalb leicht von nützlichen Symbionten von Organisationen zu einseitigen, die Organisation schädigenden Parasiten mutieren bzw. zwischen reziprok-symbiotischem und einseitigem Parasitismus oszillieren. Die Ergebnisse der Diskussion der systemtheoretischen Annahme einer funktional differenzierten Weltgesellschaft in Verbindung mit der Unterscheidung von Inklusion/ Exklusion und der Rolle von Netzwerken lassen sich abschließend in den folgenden Thesen zusammenfassen: (A) Die These, dass die Differenzierung in Funktionssystemen unter den Bedingungen der moderne Weltgesellschaft als primäre Form der Differenzierung der Gesellschaft zu betrachten ist, meint nicht, dass funktionale Differenzierung in globalem Maßstab ausnahmslos durchgesetzt ist bzw. irgendwann sein wird, sondern nur, dass funktionale Differenzierung die Bedingungen für die (regional variierende) Reproduktion anderer Differenzierungsformen definiert. (B) Funktionale Differenzierung hat nicht den Abbau von Strukturen der sozialen Ungleichheit zur Folge. Sie trägt vielmehr durch ihre eigenen Rationalitätskriterien auf dem Wege der Abweichungsverstärkung zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei. Die innergesellschaftlichen Grenzen funktionaler Differenzierung lassen sich dabei durch die Unterscheidung zwischen Inklusions- und Exklusionsbereichen der modernen Gesellschaft bestimmen. Daraus folgende Forschungsfragen betreffen die Art der sozialen Konditionierungen, die für die Zuordnung zu den Inklusions- und Exklusionsbereichen sorgen, die Differenzierungsformen, die im Exklusionsbereich funktionaler Differenzierung zu beobachten sind, und das Verhältnis der dort identifizierten Differenzierungsmuster zur funktionalen Differenzierungsform. (C) Als bedeutsame konditionierende Einrichtung für die Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion wurden soziale Netzwerke beleuchtet, die in der jüngeren systemtheoretischen Diskussion als wesentliche Strukturbildungen der Weltgesellschaft bzw. als vierter Systemtyp neben Interaktion, Organisation und der (heute: funktional differenzierten) Gesellschaft <?page no="177"?> 178 Wolfgang Ludwig Schneider diskutiert werden. Das Verhältnis sozialer Netzwerke zu Organisationen und Funktionssystemen wurde dabei durch die Möglichkeiten der Einschränkung bzw. Steigerung ihrer Effektivität auf der Basis (einseitig bzw. reziprok) parasitärer Kopplung bestimmt. Literatur Bateson, Gregory (1972): Steps to an Ecology of Mind, San Francisco. Bommes, Michael/ Halfmann, Jost (1994): Migration und Inklusion. Spannungen zwischen Nationalstaat und Wohlfahrtsstaat. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46 (3): 406-424. Bommes, Michael/ Tacke, Veronika (2011): Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes. In: dies. (Hg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft. Wiesbaden, 25-50. Bommes, Michael/ Tacke, Veronika (Hg.) (2011): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden. Fuchs, Peter (1992): Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt/ M. 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Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, einerseits durch eine etwas distanziertere Einstellung zum Marxismus (Rapic 2014), andererseits durch eine entschiedene Wendung zur gegenwärtigen soziologischen Forschung. Anders als dies seiner Meinung nach in der Dialektik der Aufklärung und anderen Arbeiten von Adorno und Horkheimer geschehen wäre, soll die Philosophie die einzelnen Sozialwissenschaften nicht ersetzen, sondern ihnen als »Platzhalter und Interpret« dienen. Hier lässt sich Habermas’ Doppelrolle als Philosoph und Soziologe verstehen: Die Philosophie kann den Wissenschaften vorausgehen, indem sie Themen skizziert, die später in den Wissenschaften aufgenommen und verarbeitet werden, und sie kann die Wissenschaften ergänzen, indem sie Ergebnisse verallgemeinert und reflektiert (Habermas 1981b; Brunkhorst 2009: 214-220). 1. Methodologie: Rekonstruktive Wissenschaft Methodologisch bzw. metatheoretisch hat Habermas seine Theorie auf dem Wege einer doppelten Kritik entwickelt: einerseits entlang der Zurückweisung des Positivismus, zuerst in seinem Beitrag zum Positivismusstreit in den 1960er-Jahren (Adorno 1969), andererseits anhand der kritischen Aneignung einiger Gehalte der verstehenden Soziologie (Habermas 1972), die jedoch die Dimensionen von Herrschaft und Ausbeutung nicht adäquat erfasse. Der Positivismus bedeute aufgrund seiner Ablehnung der Reflexion, also der Ablehnung kritischer Fragen zum erkenntnistheoretischen und gesellschaftlichen Kontext der Wissenschaft zugunsten der bloßen Methodologie (Wellmer 1967), eine Halbierung der Wissenschaft. Entsprechend formuliert er, »dass wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus« (Habermas 1968b: 9). Die positivistische These der Einheitswissenschaft, die die grundsätzliche Ähnlichkeit aller Wissenschaften behauptet (Neurath 1929), scheitert nach Habermas’ Auffassung aufgrund der engen Beziehung zwischen den Sozialwissenschaften und der Geschichte, also aufgrund des Umstands, dass »die inhaltliche Interpretation der Grundprädikate von einem spezifischen Sinngehalt abhängen [kann], der hermeneutisch mit Bezug auf eine bestimmte historische Lage expliziert werden muss« (Habermas 1982a: 139). Zehn Jahre später schreibt Habermas, »dass das Problem des ›Verstehens‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften seine große methodologische Bedeutung nur hat <?page no="180"?> Kritische Theorie 181 gewinnen können, weil ein Zugang zur symbolisch vorstrukturierten Wirklichkeit über Beobachtung allein nicht zu gewinnen ist und weil das Verständnis eines Teilnehmers methodisch nicht so leicht zu kontrollieren ist wie die Wahrnehmung eines Beobachters« (Habermas 1982a: 549). Im Kontext dieser Positivismuskritik gelangt Habermas zugleich zu einer vorsichtigen Aneignung der marxistischen Tradition. In diesem Sinne führt er aus, »dass eine kritische Selbstaufklärung des Positivismus in die gleiche Dimension hineinführt, in die Marx von gleichsam der entgegengesetzten Seite hineingeführt worden ist« (Habermas 1963, 179). In einem späteren Interview wiederholt er diese Behauptung: »Rückblickend habe ich manchmal den Eindruck, dass ein Student, der sich von Kant bis Hegel einschließlich Schellings mit einem systematischen Interesse durchgearbeitet hatte und der dann über Lukács zu Marx vorangegangen ist, ein Stück der Kritischen Theorie der dreißiger Jahre sozusagen nacherfinden konnte.« (Habermas 1985: 169) Vor diesem Hintergrund hat Habermas dann in den 1970er-Jahren den Begriff der »rekonstruktiven Wissenschaft« entwickelt (Habermas 1984: 18-19; Outhwaite 2000). Dabei hat er sich von den Restbeständen eines in Erkenntnis und Interesse immer noch vorhandenen erkenntnistheoretischen Rahmens entfernt, um sich einer insofern praktischeren Auffassung zuzuwenden, als sie die detaillierte Betrachtung kommunikativer und sonstiger Praktiken beinhaltet. Seit dem Artikel »Objektivismus in den Sozialwissenschaften« (Habermas 1982a) äußert sich das bei Habermas in Begriffen, die der sozialen Phänomenologie von Alfred Schütz entstammen und mit deren Hilfe vielfältige Welten oder Welt-Einstellungen auseinandergehalten werden. Die früher erkenntnistheoretisch angegangenen Fragen des Verstehens und des Methodendualismus werden jetzt also in einem Rahmen umformuliert, der eher der Sozialtheorie und der Methodologie angehört: »Wenn wir die beiden gekennzeichneten Positionen nicht als Erkenntnistheorien, sondern als die Rechtfertigungen von Erkenntnisprogrammen auffassen, die forschungsstrategische Entscheidungen absichern sollen, dann läßt sich der Grundsatzstreit auf einer methodologischen Ebene reformulieren.« (Habermas 1982a: 566) Damit ist im Gegensatz zu positivistischen Wissenschaftstheorien nicht gemeint, dass Erkenntnistheorie auf Methodologie reduziert wird (Wellmer 1967), sondern eher, dass im Laufe einer reflektierten Betrachtung der Wissenschaftspraxis erkenntnistheoretische Fragen dahingestellt bleiben dürfen. Die für Habermas nunmehr ausschlaggebende Unterscheidung trennt die objektivierende, neutrale Einstellung gegenüber Tatsachen in der Welt von einer expressiven Einstellung gegenüber der subjektiven Welt des Sprechers und einer normenkonformen Einstellung gegenüber legitimen Erwartungen. Sein Modell der rekonstruktiven Wissenschaften, die die Voraussetzungen solcher faktisch vorhandenen Einstellungen explizieren, liegt dabei quer zur Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften: Es umfasst sowohl Logik und Linguistik, die formale Regeln offenlegen, die wir im alltäglichen Sprachgebrauch befolgen, als auch seine eigene Theorie des kommunikativen Handelns, um die es hier geht: »Die Theorie des kommunikativen Handelns ist keine Metatheorie, sondern Anfang einer Gesellschaftstheorie die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen. Ich verstehe die Analyse der allgemeinen Strukturen verständigungsorientierten Handelns nicht als Fortsetzung der Erkenntnistheorie mit anderen Mitteln.« (Habermas 1981a: 7) Wie erwähnt, wird Habermas zu Recht sowohl als Philosoph wie auch als Soziologe angesehen. In seinem entwickelten Modell behält die Philosophie eine Rolle als Platzhalter und Interpret (Habermas 1981b). Die Aufgabe seiner kritischen Gesellschaftstheorie sei, »jene Pathologien der Moderne, an denen andere Forschungsansätze aus methodologischen Gründen vorbeigehen, zu identifizieren und zu erklären« (Habermas 1981a: 554). Die Philosophie kann also sozialwissenschaftliche Analysen zu einer umfassenderen Diagnose entwickeln. Trotz seiner Formulierung <?page no="181"?> 182 William Outhwaite einer Diskursethik oder, genauer, einer diskursiven Begründung der Moral, bleiben normative Fragen bei Habermas problematisch (Finlayson 2013); so hat Axel Honneth (2000; 2007) versucht, den Begriff der gesellschaftlichen Pathologie auch anthropologisch zu untermauern und, wie Habermas (2003) auch, das Thema der Zeitdiagnose wieder aktuell zu machen. 2. Der sozialtheoretische Grundbegriff: Kommunikatives Handeln Die Grundkategorien der habermasschen Theorie sind diejenigen einer breitgefassten soziologischen Handlungstheorie, die aber, wie erwähnt, auch sozialgeschichtliche und systemtheoretische sowie strukturalistische Elemente und Motive berücksichtigt. In dieser Hinsicht ähnelt der Ansatz von Habermas weniger den Theorien von Talcott Parsons, von dem er einige Kategorien übernimmt (vgl. Holmwood 2009), oder Niklas Luhmanns, den er in seinen Arbeiten ständig erwähnt und der ihn gewissermaßen als Nemesis begleitet; Affinitäten bestehen hier eher zu den Konzeptionen von Pierre Bourdieu und Anthony Giddens. Den Grundbegriff der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt Habermas zunächst in Abgrenzung von anderen Handlungstheorien. In einem ersten Schritt unterscheidet er dabei das, was Max Weber als Zweckrationalität begriffen hatte, in zwei Typen: teleologisches und strategisches Handeln. Im teleologischen Handeln ist der zentrale Begriff […] die auf die Realisierung eines Zwecks gerichtete, von Maximen geleitete und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Handlungsalternativen. Das teleologische wird zum strategischen Handlungsmodell erweitert, wenn in das Erfolgskalkül des Handelnden die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen kann […] Dieses Handlungsmodell liegt den entscheidungs- und spieltheoretischen Ansätzen in Ökonomie, Soziologie und Sozialpsychologie zugrunde. Der Begriff des normenregulierten Handelns bezieht sich […] auf Mitglieder einer sozialen Gruppe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren-… Dieses normative Handlungsmodell liegt der Rollentheorie zugrunde. Der Begriff des dramaturgischen Handelns bezieht sich […] auf Interaktionsteilnehmer, die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Augen sie sich darstellen. Der Begriff des kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren. (Habermas 1981a: 126-128) Für Habermas sind das teleologische und das strategische, das normative sowie das dramaturgische Modell einseitig bzw. unterkomplex: »Allein das kommunikative Handlungsmodell setzt Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus.« (Habermas 1981a: 142) Wenn er, wie hier, im Handlungsmodell die Rolle der Sprache oder auch der jeweiligen Weltbezüge hervorhebt (die objektive Welt, von der Behauptungen gemacht werden, die subjektive Welt der Intentionen der Sprecher und die soziale Welt der Normen), so meint er nicht, »daß soziales Handeln auf die Interpretationsleistungen der Kommunikationsteilnehmer reduziert, Handeln an Sprechen, Interaktion an Konversation angeglichen wird. Tatsächlich ist […] die sprachliche <?page no="182"?> Kritische Theorie 183 Verständigung nur der Mechanismus der Handlungskoordinierung« (Habermas 1981a: 143). Auch soziologisch lassen sich die erwähnten Einseitigkeiten plausibel machen. Ich kann strategisch handeln, tue es jedoch, wie mir scheint, nicht immer (Nagel 1970); ich kann ausgesprochen dramaturgisch handeln, etwa durch »power dressing«, oder es sein lassen; ich kann mich an Normen orientieren oder aber sie gar nicht beachten, wie beispielsweise Touristen, die sich benehmen, als seien sie zu Hause. Der entscheidende Punkt beim kommunikativen Handeln ist, dass immer die Möglichkeit besteht, nein zu sagen, wenn etwas falsch, unehrlich oder unangemessen erscheint. In einem bekannten Beispiel von Habermas will ein Student einem Professor das von ihm verlangte Wasser nicht bringen, weil 1. keine Wasserleitung vorhanden sei, 2. der Professor das Wasser gar nicht wolle, sondern nur beabsichtige, den Studenten zu demütigen, oder 3. jener gar nicht berechtigt sei, eine solche Forderung zu stellen (Habermas 1981a: 411-412). Die Möglichkeit des Nein- Sagen-Könnens ist dabei von der kommunikativen Einstellung der Interaktionspartner abhängig. So muss mit Strafe rechnen, wer einen Befehl zurückweist, und wer eine ehrenwörtliche Erklärung abgibt, verbittet sich deren Infragestellung. Angesichts solcher Fälle wird, zumindest für moderne Gesellschaften, die Annahme fragwürdig, dass strategische Interaktionen gegenüber dem prinzipiell vorrangigen kommunikativen Handeln nachrangig bleiben und lediglich einen abgeleiteten Typus darstellen (Strecker 2009). Demgegenüber hat Habermas klargemacht, er sage »nicht, daß die Menschen kommunikativ handeln möchten, sondern daß sie es müssen. Wenn Eltern ihre Kinder erziehen, wenn die lebenden Generationen sich das überlieferte Wissen der vorangegangen aneignen, wenn Individuen und Gruppen kooperieren, […] müssen sie kommunikativ handeln. Es gibt elementare gesellschaftliche Funktionen, die nur über kommunikatives Handeln erfüllt werden können.« (Habermas 1993: 146) Der oben erwähnte Hinweis auf Mechanismen der Handlungskoordinierung (Habermas 1981a: 143) zeigt, dass Habermas über eine eng gefasste Handlungstheorie hinausgehen will. Das entwickelt er vor allem in Bezug auf eine andere Form der Handlungskoordinierung, die über Märkte und bürokratische Macht erfolgt. Die historischen Details dieses Modells führe ich weiter unten aus; hier ist zunächst der kategoriale Rekurs auf Elemente der Systemtheorie von Belang. Dies stellt Habermas am Ende des zweiten Halbbandes der Theorie des kommunikativen Handelns klar, wo er vier Theoriebereiche unterscheidet: Gesellschaftsgeschichte, Systemtheorie, Handlungstheorie (hier enger gefasst, als verstehende Soziologie) und einen genetischen Strukturalismus, mit dem er sich Max Webers Religionssoziologie, George Herbert Meads Kommunikationstheorie und Emile Durkheims Theorie der sozialen Integration im Laufe des Buches angeeignet habe (Habermas 1981a: 550-554). Wichtig ist dabei vor allem der Kontrast zwischen Systemtheorie und Handlungstheorie, die »jeweils [systemische und lebensweltliche; W. O.] Aspekte [der Moderne] isoliert und überverallgemeinert« (Habermas 1981a: 553) haben sollen. 3. Die moderne Gesellschaft: Ungleichgewichtige Rationalisierung Damit kommen wir zu Habermas’ Theorie der Moderne. Das kritische Verhalten, also die Bereitschaft, faktische oder normative Behauptungen selbständig zu überprüfen, das er in seiner Diskurstheorie (siehe unten) rekonstruiert hat, wird in der europäischen (und auch amerikanischen) Aufklärung verallgemeinert. Das hat Habermas in seinem ersten Buch, Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), dargestellt. Max Weber hat seinerzeit die Hintergründe dieses Prozesses analysiert. »Für den Ausgangszustand der Modernisierung sind vor allem zwei Momente wichtig: die berufsethisch ausgerichtete methodische Lebensführung von Unternehmern und Staatsbe- <?page no="183"?> 184 William Outhwaite amten sowie das Organisationsmittel des formalen Rechts. Beiden liegen, formal betrachtet, die gleichen Bewußtseinsstrukturen zugrunde: posttraditionale Rechts- und Moralvorstellungen.« (Habermas 1981a: 238) Während Max Weber ständig auf Paradoxien der Rationalisierung hinweist, etwa die Irrationalität einer ins Extreme getriebenen rationalen Arbeitsethik, stellt Habermas die präzisere Frage nach einer ungleichgewichtigen Rationalisierung, die er darin identifiziert »daß kapitalistische Wirtschaft und moderne Verwaltung auf Kosten anderer Lebensbereiche expandieren und diese, die ihrer Struktur nach auf moralisch-praktische und expressive Formen der Rationalität angelegt sind, in Formen ökonomischer oder administrativer Rationalität hineinpressen« (Habermas 1981a: 259). Hier greift Habermas auch auf Marx zurück, genauer auf Georg Lukács’ Begriff der Verdinglichung, der Webers Rationalisierung mit Marx’ Entfremdung verbindet. Der theoretische Rahmen ist somit der westliche Marxismus, besonders die frühe Kritische Theorie von Horkheimer, Marcuse, Adorno und anderen. Wo aber Max Weber, wie er meint, Rationalisierung zu kognitivindividualistisch erfasst und Adorno und Horkheimer in eine zu abstrakte, pessimistische und schließlich aussichtslose Kritik der instrumentellen Vernunft verfallen, will Habermas seine Kapitalismuskritik kommunikationstheoretisch begründen. Die spezifischen Pathologien der Moderne sind vor allem die Reduktion der Möglichkeiten des kommunikativen Handels durch die »Kolonialisierung der Lebenswelt« (Iser 2009). 4. Sozialer Wandel: Rationalisierung, Komplexitätssteigerung und-die Kolonialisierung der Lebenswelt Habermas übernimmt den Begriff der Lebenswelt von der phänomenologischen Philosophie (Husserl) und der an Husserl und Bergson anknüpfenden Soziologie von Alfred Schütz. Bei Habermas aber bezeichnet Lebenswelt den Bereich informeller sozialer Interaktionen und der über Sprache und, allgemeiner, kommunikatives (und auch strategisches) Handeln geregelten Handlungskoordinierung. Verhältnisse zwischen Freunden und Familienmitgliedern werden meist informell geregelt und nur im Ausnahmefall etwa durch Zahlungen an Kinder für kleinere Leistungen oder durch Eheverträge. Die explizite Versprachlichung von Normen und ihre reflexive Prüfung werden von Habermas begrüßt, und die Handlungskoordinierung über Geld und Märkte einerseits und administrative Macht andererseits gilt ihm als eine im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung notwendige Komplexitätssteigerung. Diese formellen Medien nennt Habermas, im Anschluss an Parsons, »Kommunikationsmedien«, wenn auch, wie er betont, »entsprachlichte«: Wenn die Bankmaschine mir ›sagt‹, dass die Grenze meiner erlaubten Auszahlungen erreicht ist, wird diese Information zwar sprachlich vermittelt (in der von mir gewählten Sprache), aber die Maschine folgt einer automatisch gesetzten Regel. Problematisch wird dieser Prozess der Mediatisierung »für Habermas […] erst, sobald die entsprachlichten Medien auf die intern normativ organisierte Sphäre der Lebenswelt übergreifen und sie so beschädigen, dass die symbolische Reproduktion-darunter leidet. Wenn das Individuum nämlich sein gesamtes Leben mit jenen Kategorien zu betrachten beginnt, mit denen es innerhalb des Arbeitsprozesses operieren muss, wird seine Selbstwahrnehmung, seine Weise zu denken und zu kommunizieren, defizitär.« (Iser 2009: 329) Am Ende der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981a: 576) reformuliert Habermas Elemente seiner Krisendiagnose, die er 1973 programmatisch in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus vorgestellt hat. Schon damals hat er ausgeführt, dass Krisen der kapi- <?page no="184"?> Kritische Theorie 185 talistischen Reproduktion sich nicht mehr direkt in Konflikten manifestieren würden, weil sie sich verlagerten und Rationalitätskrisen des Staates sowie Legitimations- und Motivationskrisen verursachten; auch in der Theorie des kommunikativen Handelns führt er aus, dass die »neuen Konflikte« weniger »in Bereichen der materiellen Reproduktion« als »vielmehr in Bereichen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation« (Habermas 1981a: 576) zu finden seien. Habermas hat sich gelegentlich von dieser Kolonialisierungsthese distanziert. Anscheinend hält er aber noch an dem Prinzip fest, sodass er für die Anfänge des Differenzierungsprozesses behauptet: »Geld und Macht müssen als Medien in der Lebenswelt verankert, d. h. mit Mitteln des positiven Rechts institutionalisiert werden können.« (Habermas 1981a: 564) Hat sein Begriff der Verrechtlichung 1981 noch pejorative Konnotationen, so betrachtet er das Recht seit der Entwicklung seiner Rechtstheorie allerdings optimistischer (oder, wie andere sagen würden, unkritischer). 5. Der demokratische Rechtsstaat Habermas hat versucht, seine kritische Theorie der modernen Gesellschaft nicht mehr, wie in den 1960er-Jahren, geschichtsphilosophisch (Theorie und Praxis) oder dann erkenntnistheoretisch (Erkenntnis und Interesse) zu begründen, auch nicht transzendentalphilosophisch wie Karl- Otto Apel (1973; 1979), sondern durch eine Rekonstruktion der impliziten Regeln des kommunikativen Handelns. Auf dieser Grundlage entwickelt er nicht nur eine Gesellschaftstheorie, sondern auch eine Diskursethik, oder genauer eine Diskurstheorie der Moral, und eine politische und juristische Philosophie des demokratischen Rechtsstaates. Die Diskursethik, die auf der rekonstruktiven Wissenschaft der Universalpragmatik beruht, verfährt auch rekonstruktiv in dem Sinne, dass sie ein Moralprinzip nicht abstrakt vorschreibt, sondern aus unserer alltäglichen kommunikativen Praxis herleitet. »Der Universalisierungsgrundsatz […] läßt sich als eine Rekonstruktion derjenigen Alltagsintuitionen verstehen, die der unparteilichen Beurteilung moralischer Handlungskonflikte zugrunde liegen.« (Habermas 1983: 127) Sie »steht und fällt […] mit den beiden Annahmen, daß (a) normative Geltungsansprüche einen kognitiven Sinn haben und wie Wahrheitsansprüche behandelt werden können, und daß (b) die Begründung von Normen und Geboten die Durchführung eines realen Diskurses verlangt und letztlich nicht monologisch, in der Form einer im Geiste hypothetisch durchgespielten Argumentation möglich ist« (Habermas 1983: 78). Wie Thomas McCarthy (1978: 326) treffend schreibt: »The emphasis shifts from what each can will without contradiction to be a universal law to what all can will in agreement to be a universal norm.« Auf diese Weise bricht Habermas mit einer langen Tradition postkantischer Moralphilosophie. Sein Moralprinzip ist gleichwohl formaler Natur: Der Inhalt muss von wirklichen menschlichen Gemeinschaften aufgefüllt werden. Die Grundlage bildet das Diskursprinzip: »Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.« (Habermas 1992: 138) Dieses Prinzip kann nicht nur moralische, sondern auch juridische Normen begründen: In diesem Fall spielen ethische und pragmatische Gesichtspunkte konkreter politischer Gemeinschaften auch eine Rolle. Daraus ergibt sich für Habermas eine sehr enge Verbindung zwischen Recht und Demokratie: Unter modernen Verhältnissen können nur demokratische Prozeduren juridische Prinzipien begründen. Der letzte Satz der »Tanner Lectures« von 1986, in denen Habermas diese Theorie zum ersten Mal vortrug, heißt: »Kein autonomes Recht ohne verwirklichte Demokratie.« (Habermas 1992: 599) In Fak- <?page no="185"?> 186 William Outhwaite tizität und Geltung (Habermas 1992: 11) wiederholt er, daß »der Rechtsstaat ohne radikale Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten ist«. Doch haben wir mit diesen normativen Fragen nicht das Thema der Gesellschaftstheorie aus den Augen verloren? Habermas zufolge ist dem nicht so. Politische Soziologie und Rechtssoziologie sind nicht beliebige Bindestrichsoziologien; das Verhältnis von Staat, Recht und Gesellschaft ist komplizierter, als es sowohl im historischen Materialismus (Habermas 1992: 11-12) wie auch in der nicht marxistischen Soziologie erscheint: »In den Kontroversen, die wir seit dem 17.- Jahrhundert kontinuierlich über die rechtliche Verfassung des politischen Gemeinwesens führen, artikuliert sich auch ein moralisch-praktisches Selbstverständnis der Moderne im ganzen. Dieses kommt gleichermaßen in den Zeugnissen eines universalistischen Moralbewußtseins wie in den freiheitlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates zum Ausdruck.« (Habermas 1992: 11) Das heißt auch, dass eine Gesellschaftstheorie sich metatheoretisch between facts and norms (wie der Titel der englischsprachigen Übersetzung von Faktizität und Geltung lautet) situieren muss. Habermas entwickelt seinen Begriff der Demokratie mit einem Hinweis auf die beiden gegenwärtig herrschenden Ansätze: »Nach liberaler Auffassung vollzieht sich der demokratische Prozeß ausschließlich in der Form von Interessenkompromissen […] Demgegenüber vollzieht sich nach republikanischer Auffassung die demokratische Willensbildung in der Form einer ethisch-politischen Selbstverständigung […]. Die Diskurstheorie nimmt Elemente von beiden Seiten auf und integriert sie im Begriff einer idealen Prozedur für Beratung und Beschlußfassung. Dieses demokratische Verfahren stellt einen internen Zusammenhang zwischen pragmatischen Überlegungen, Kompromissen, Selbstverständigungs- und Gerechtigkeitsdiskursen her und begründet die Vermutung, daß unter Bedingungen eines problembezogenen Informationszuflusses und sachgerechter Informationsverarbeitung vernünftige bzw. faire Ergebnisse erzielt werden.« (Habermas 1992: 359; siehe auch 361 f.) Solidarität, für Habermas ein sehr wichtiger Begriff (Dews 1986), ist eine treibende Kraft dieses Demokratiemodells: »Die sozialintegrative Kraft der Solidarität, die nicht mehr aus Quellen des kommunikativen Handelns allein geschöpft werden kann, soll sich über weit ausgefächerten autonome Öffentlichkeiten und rechtsstaatlich institutionalisierte Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung entfalten und über das Rechtsmedium auch gegen die beiden anderen Mechanismen gesellschaftlicher Integration, Geld und administrative Macht, behaupten können.« (Habermas 1992: 363; siehe auch Habermas 2001a) In den letzten drei Kapiteln von Faktizität und Geltung behandelt Habermas wieder die Fragen der politischen und medialen Öffentlichkeit, die ihn schon am Anfang seiner Karriere beschäftigten. In einer seiner seltenen autobiografischen Äußerungen anlässlich der Verleihung des Inamori- Preises (Habermas 2005), erwähnt er persönliche Gründe für diese Aufmerksamkeit. Bei der Lektüre von Faktizität und Geltung bleiben zwei Fragen offen. Kritische Leser haben erstens auf die deutlichen Unterschiede in der Behandlung des Rechts zwischen der Theorie des kommunikativen Handelns und Faktizität und Geltung verwiesen. Wird Verrechtlichung im ersten Buch eher kritisch als Teil des Entfremdungsprozesses der kapitalistischen Moderne betrachtet, so wird das Recht im späteren Werk als eine der Quellen der politischen Vernunft und der deliberativen Demokratie gefeiert. Insbesondere Vertreter der »critical legal studies« haben ihre Enttäuschung hierüber geäußert. Diese Reaktionen stehen nicht zuletzt im Zusammenhang damit, dass Habermas in seinen Reflexionen auf die antikommunistischen Revolutionen von 1989 (Habermas 1990a; 1990b) erklärt hat, dass er eine verstaatlichte Wirtschaft nicht mehr für realistisch hält und Sozialismus für ihn jetzt radikale Demokratie bedeutet. Oder vielleicht genauer, wie William Scheuerman (1999: 154) schreibt: »For Habermas, radical democracy has <?page no="186"?> Kritische Theorie 187 to come to grips with the exigencies of social complexity. Failure to do so can prove disastrous, as demonstrated by Soviet-style state socialism.« Letzteren hatte Habermas (1963: 164-6: 1982b: 281-3) von Anfang an abgelehnt. Was ihm im Rückblick an Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1962) missfiel, war eher die Idee, dass sich »Ökonomie und Staatsapparat« wie in der marxschen Vision »von innen« demokratisieren ließen; das hätte er schon 1981 verstanden (Habermas 1990b: 35 f.). Dazu kam zudem noch die optimistischere Auffassung des Rechtssystems in demokratischen Staaten. Entsprechend lautete der Titel einer italienischen Rezension von Faktizität und Geltung: »Habermas verlässt Marx und wendet sich nach rechts.« (Sorge 1992). Diesen Kritiken wende ich mich weiter unten zu. Die zweite offene Frage, diejenige nach der Globalisierung, leitet zu einem der Hauptthemen von Habermas’ aktuelleren Arbeiten über. Der Begriff des demokratischen Rechtsstaates, den Habermas in Faktizität und Geltung expliziert, ist auf den Nationalstaat begrenzt. Die Begriffe »Globalisierung« und »kosmopolitisch« kommen nicht vor. Erst Anfang der 1990er-Jahre wird von Globalisierung geredet, in der Soziologie wohl zuerst bei Martin Albrow und Elizabeth King (1990), Anthony Giddens (1991) und Roland Robertson (1992). David Held (1995), den Habermas gut kennt und mehrfach zitiert, hat seitdem ein umfassendes Konzept einer »cosmopolitan democracy« entwickelt. Das grundlegende Prinzip hat Mary Kaldor schon 1993 in einem Seminarvorschlag erläutert: »The term cosmopolitan, when applied to political institutions, implies a layer of governance that constitutes a limitation on the sovereignty of states and yet does not itself constitute a state. In other words, a cosmopolitan institution would coexist with a system of states but would override states in certain clearly defined spheres of activity.« (Archibugi 1998: 216) In einer wichtigen Wende seines Denkens beginnt Habermas in den 1990er-Jahren, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, zuerst in einem Nachwort (Habermas 1993) zu seinem Interviewband Vergangenheit als Zukunft, wo er Paul Kennedys Kritik des Nationalstaates erwähnt: »For some problems, it is too large to operate effectively; for others, it is too small.« (Kennedy 1993: 131); dann emphatisch in der Einbeziehung des Anderen (1996), dessen dritter Teil den Titel »Hat der Nationalstaat eine Zukunft? « trägt; und schließlich ausführlich in Die postnationale Konstellation, wo Habermas (1998: 136) die Frage stellt, »ob politische Gemeinschaften eine kollektive Identität jenseits der Grenzen einer Nation ausbilden und damit Legitimitätsbedingungen für eine postnationale Demokratie erfüllen können«. Den Kontext bildet folgender Umstand: »Im nationalen Rahmen fällt es […] der Politik immer schwerer, mit einem globalisierten Wettbewerb Schritt zu halten.« (Habermas 1998: 8) Von grundlegender Bedeutung ist hierbei wieder die Frage der Solidarität, im europäischen Fall also, »daß beispielsweise Schweden und Portugiesen bereit sind, füreinander einzustehen. Erst dann können ihnen […] gleiche Bedingungen für individuelle und nach wie vor national geprägte Lebensentwürfe zugemutet werden.« (Habermas 1998: 150) In seinen neueren Schriften zur EU ist Habermas zunehmend pessimistisch geworden. Der »Exekutivföderalismus« drohe, zu einer »intergouvernementalen Herrschaft des europäischen Rates« ausgebaut zu werden: »Die Regierungschefs würden auf diese Weise das Europäische Projekt in sein Gegenteil verkehren. Aus dem ersten demokratisch verrechtlichten supranationalen Gemeinwesen würde ein Arrangement zur Ausübung postdemokratisch-bürokratischer Herrschaft. Die Alternative besteht in der konsequenten Fortführung der demokratischen Verrechtlichung der Europäischen Union.« (Habermas, 2011: 81) Wie bei allen post-Formulierungen bedeutet das Präfix keinen radikalen Bruch, sondern eher das, was der unübersetzbare deutschsprachige Begriff der Aufhebung meint. Auch der Begriff der Postdemokratie (Crouch 2004) beschreibt eine degenerative Entwicklung innerhalb der demokratischen Formen. Theoretisch drückt sich eine solche Kontinuität für Habermas in dem oben <?page no="187"?> 188 William Outhwaite zitierten Hinweis auf »nach wie vor national geprägte Lebensentwürfe« aus; praktisch meint dies die »Zumutung, dass dieselben Personen lernen, zwischen der Rolle des Angehörigen eines ›europäischen Volkes‹ und der eines ›Unionsbürgers‹ zu differenzieren« (Habermas 2011: 62). Diese Idee eines Doppelmandats als Deutscher oder Brite und als Europäer soll als Leitfaden zu weiteren Verfassungsinnovationen dienen. Dieselbe Ambivalenz der Post-Formulierung finden wir in einem anderen Hauptthema der Arbeit von Habermas in diesem Jahrhundert: dem, wie er sagt, »umstrittene[n]« Begriff der postsäkularen Gesellschaft (Habermas 2007: 33). Diesen diskutiert er zuerst in einem Interview 1999 in New York (Habermas 2001a), dann 2001 gleich nach den Terroranschlägen des 11. September (Habermas 2001b), erneut in Zwischen Naturalismus und Religion (Habermas 2005) und schließlich in einem Gespräch mit dem damaligen Kardinal Ratzinger (Habermas/ Ratzinger 2005). Wie Helge Høibraaten (2009: 273) treffend schreibt, ist damit nicht gemeint, »dass es statt um das Ende aller Religion als Konsequenz der Aufklärung um die Wiederkunft der alten Religion am Ende der Moderne gehen könnte«. So schreibt Habermas (2001a: 176 f.): »Aus derselben Modernisierung, für die Religion und Kirche wichtige Anfangsbedingungen erfüllt hatten, sind eine säkularisierte Gesellschaft und ein weltanschaulicher Pluralismus hervorgegangen, die dann ihrerseits die Formen des religiösen Glaubens und der kirchlichen Praxis zu einer kognitiven Umstrukturierung genötigt haben […] In modernen Gesellschaften müssen religiöse Lehren mit der unabweisbaren Konkurrenz anderer Glaubensmächte und Wahrheitsansprüche zurechtkommen […] Deshalb wird der moderne Glaube reflexiv.« Dieses Gespräch fand vor dem 11. September 2001 statt. Danach setzt sich Habermas eingehender mit Fragen des religiösen Fundamentalismus auseinander und wendet sich auch wieder der Problematik der multikulturellen Gesellschaft zu, die er schon in Einbeziehung des Anderen (1996) analysiert hatte. Besonders relevant sind hier die Texte über religiöse Toleranz in Zwischen Naturalismus und Religion. Der Begriff des Naturalismus verweist auf ein drittes Thema der neueren Arbeiten von Habermas: Fragen der Bioethik, die er in Die Zukunft der menschlichen Natur (Habermas 2001c) behandelt. Hier geht es um die Implikationen der neuen biomedizinischen Techniken (Genmanipulation, Klonen usw.) für die Perspektive einer, wie er sagt, »liberalen Eugenik« und überhaupt für unsere Begriffe der menschlichen Identität. Diese Herausforderungen hat Habermas (2001b: 9) in einen Zusammenhang gestellt und gefragt, »ob und wie weit wir uns einer gentechnischen Selbstinstrumentalisierung unterziehen oder gar das Ziel einer Selbstoptimierung verfolgen sollen […] war zwischen den Wortführern der organisierten Wissenschaft und der Kirchen ein Kampf der Glaubensmächte entbrannt. Die eine Seite befürchtete Obskurantismus und eine wissenschaftsskeptische Einhegung archaischer Gefühlsreste, die andere Seite wandte sich gegen den szientistischen Fortschrittsglauben eines kruden Naturalismus, der die Moral untergräbt.« In der Einleitung zu Zwischen Naturalismus und Religion (Habermas 2005a: 7) wiederholt er diese Analyse: »Zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichnen heute die geistige Situation der Zeit- - die Ausbreitung naturalistischer Weltbilder und der wachsende politische Einfluss religiöser Orthodoxien.« Wie Hans Joas (2005; vgl. dazu Habermas 2007; Anderson 2007) in einer Rezension schrieb, gebraucht Habermas seinen üblichen Kontrast zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive: »Dem subjektiv empfundenen Freiheitsbewusstsein steht eine Beobachterperspektive gegenüber, aus der nach Ursachen und Gesetzmäßigkeiten gefragt wird und die zu einem naturwissenschaftlichen Determinismus verdichtet werden kann.« Joas stellt an dieser Stelle insbesondere den Begriff der postsäkularen Gesellschaft in Frage: »Weder sind ja die Zahlen der Gläubigen plötzlich stark angeschwollen, noch hat der Staat sein säkulares Selbstverständnis abgelegt. Es geht Habermas um eine Überwindung säkularistischer Ideologien-- aber diese haben nie eindeu- <?page no="188"?> Kritische Theorie 189 tig dominiert, und ihre Überwindung ist entsprechend kein Übergang in eine neue Form von Gesellschaft.« Erwähnt werden sollte in diesem Zusammenhang, dass Habermas (2001a; 2008: 185) wiederholt betont hat, dass er »nicht fromm« geworden sei. Dieser kurze Blick in seine neueren Schriften hat gezeigt, dass Habermas sich zu Fragen der Bioethik, der Medizin- und Religionssoziologie, der politischen Soziologie, aber auch der Tagespolitik äußert, weil er ein breites Spektrum gesellschaftlicher Herausforderungen und Problemlagen wahrnimmt. Dies bringt uns zu der oben gestellten Frage zurück, ob man ihn eher der Soziologie oder der Philosophie zurechnen soll. Der verstorbene Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf (2008: 120), mit dem Habermas seit den 1950er-Jahren befreundet war, rechnet ihn zur letzteren Gruppe: »Für Habermas war die Soziologie, glaube ich, immer einer von mehreren Ankern in der Wissenschaftswelt. Er war und blieb Philosoph.« Ich würde eher behaupten, dass er zwischen beiden vermittelt. In einem Konferenzbeitrag 1981 der, wie Hauke Brunkhorst (2009: 215) suggerierte, »ein, wenn nicht der Schlüssel zum ganzen Werk« ist, skizziert Habermas ein Modell der »Philosophie als Platzhalter und Interpret« (Habermas 1981b), das er weiterhin vertritt. In einem Modell, das Ähnlichkeiten mit Richard Rortys philosophischer conversation und Zygmunt Baumans Intellektuellenbegriff (Bauman 1987) aufweist, sieht Habermas eine Rolle für die Philosophie als Interpretin zwischen den Wissenschaften, die kritische und zeitdiagnostische Implikationen expliziert. 6. Kritiken und Weiterentwicklungen Die Einwände gegen die Kritische Theorie von Habermas lassen sich, wenn man von Kritiken an spezifischen Einzelaspekten der Universalpragmatik (z. B. Schnädelbach 1982) absieht, die auf die allgemeinere Fragen des Verhältnisses zwischen dem kommunikativen Handeln und der Lebenswelt verweisen, folgendermaßen gliedern. Ein erster Einwand lautet, dass Habermas andere Theorieansätze vernachlässigt oder unterschätzt habe. Insbesondere Michel Foucault ist hier zu nennen (Honneth 1985), allgemeiner verschiedene Theoretiker der Postmoderne wie Jean-François Lyotard (Frank 1988) oder Jacques Derrida, dann auch Pierre Bourdieu (Susen 2007) und vielleicht auch Niklas Luhmann (Neves 2009). Obgleich diese Vorwürfe sicher gewichtig sind, beruhen einige der Kritiken aus diesen Theoriebereichen doch auf Missverständnissen. Lyotard hat zum Beispiel im Verständigungsbegriff einen heimlichen Autoritarismus gesehen (Lyotard 1983; vgl. Bennington 1996). Andere monieren, Habermas ersetze Politik in anarchistischer Weise durch Diskurs; Faktizität und Geltung (1992) antwortet auf diese letzte Kritik. Ein wesentlicherer Einwand besagt, dass die habermassche Theorie strukturell für bestimmte Einsichten blind sei. Dies formuliert v. a. die feministische Kritik (Nancy Fraser, Seyla Benhabib, Amy Allen, Diana Coole; vgl. Baehr 2009). Seine Modelle der Öffentlichkeit und der Politik seien patriarchal geprägt und würden dem Umstand nicht gerecht, dass die Moderne Prozesse der Ausbeutung und Ausschließung von Frauen teilweise sogar verstärkt habe. Die vielleicht wichtigsten Kritiken aber kommen vonseiten der allgemeinen soziologischen Theorie und betreffen die Handlungstheorie, sodann vonseiten des Marxismus, insofern Habermas seinen Ansatz in kritischer Anlehnung an den historischen Materialismus entwickelt, und schließlich von postkolonialen Theorien, die seinen Begriff der Moderne in Frage stellen. Der zentrale Punkt der soziologischen Kritik ist, dass der Einfluss von Talcott Parsons, mit seiner Betonung der normativen Integration der Gesellschaft, und allgemeiner der Systemtheorie auf Habermas zu stark sei. Diese Kritik teilen Autoren wie Anthony Giddens, Hans Joas, Thomas McCarthy und John Holmwood. Giddens (1982a: 157-158; 1982b) hat scharfsinnig auf das <?page no="189"?> 190 William Outhwaite normative Übergewicht in Habermas’ Modell hingewiesen: »It is an error to suppose that communicative action can be examined solely on the level of norms« (Giddens 1982a: 157 f.) Allgemeiner hat Joas (1986) eine »unglückliche Ehe« von Hermeneutik und Funktionalismus bei Habermas diagnostiziert und McCarthy (1986) die »Versuchungen der Systemtheorie« benannt. Später hat Holmwood, der Parsons freundlicher gesonnen ist (Holmwood 1996), gleichwohl die Frage gestellt, »how Habermas transformed Marx into Parsons«: »The problem for Habermas is that he entered the terrain of Parsons and accepted that a general theoretical framework is a necessary precondition for social enquiry and that it can be grounded in terms of a generalized problem of social order.« (Holmwood 2009: 70) Stattdessen, so Holmwood (2009: 71), sollte es einer Kritischen Theorie darum gehen, »substantive social contradictions-- contradictions other than those identified by Marx« in den Blick zu nehmen. Das hat Axel Honneth in seinen Arbeiten getan, auf die ich unten zu sprechen komme. Zahlreiche andere Kritiker betonen, dass Habermas sich viel zu sehr von Marx entfernt habe. Tom Rockmore beispielsweise hat mit wachsender Vehemenz behauptet, dass Habermas hinter Grundeinsichten des historischen Materialismus zurückfalle: »Habermas, who breaks with Marx to avoid ideological distortion in claims to know, reconceives the subject as independent of context. As a result, he retreats back behind Hegel, for whom the subject of knowledge is a real human being, to a quasi-Kantian conception of subjectivity.« (Rockmore 1999: 284; vgl. schon 1989) Auch Martin Hartmann (2009: 321) spricht im Kontext der Rekonstruktion des historischen Materialismus von einer »grundsätzliche[n] Abkehr von einer wesentlichen marxistischen Doktrin«, die in seinen Schriften aber teilweise kompensiert werde: »Űberbauphänomene wie die Moral und das Recht werden […] aus ihrer Abhängigkeit von ökonomisch-materiellen Prozessen befreit und verlieren damit letztlich ihren bloß die je aktuellen Verteilungsverhältnisse legitimierenden ideologischen Charakter.« So »kann Habermas in einem nächsten Schritt seiner Rekonstruktion sogar die ›normativen Strukturen‹ als ›Schrittmacher der sozialen Evolution‹ bezeichnen […], weil die Fortschritte des technisch-instrumentellen Wissens […] erst dann implementiert werden können, wenn sie auf einen institutionellen Rahmen treffen, in dem die mit ihnen einhergehenden potentiell effizienteren Arbeitsweisen rechtlich und moralisch abgesichert werden.« Es ist ja klar, dass Habermas schon sehr früh, unter Einfluss einerseits Max Webers (vielleicht vermittelt durch die frühere Kritische Theorie), andererseits der Systemtheorie, eine vom Marxismus weit entfernte Analyse der gesellschaftlichen Modernisierung anbietet. In der Moderne, so schreibt Habermas (1968a: 71), »werden die traditionalen Zusammenhänge zunehmend Bedingungen der instrumentalen oder der strategischen Rationalität unterworfen: die Organisation der Arbeit und des wirtschaftlichen Verkehrs, das Netzwerk des Transports, der Nachrichten und der Kommunikation, die Institute des privaten Rechtsverkehrs und […] die staatliche Bürokratie. So entsteht die Infrastruktur einer Gesellschaft unter Modernisierungszwang.« Es liegt nahe, Habermas’ Modell der normativen Evolution im Sinne von Überlegungen kantisch orientierter Marxisten zu verstehen. Während es diesen jedoch darum geht, im Marxismus moralische Motive zur Geltung zu bringen (Lukes 1985), versucht Habermas eher hegelianisch, normative Lernprozesse als wesentlichen Teil eines reformulierten historischen Materialismus zu berücksichtigen. So erklärt er 1984 in einem Interview mit Perry Anderson und Peter Dews: »Having rejected the orthodoxy of the philosophy of history, I had no wish to lapse back either into ethical socialism, or into scientism« (in Dews 1986: 151). Vorbild sind ihm, wenn überhaupt, also eher die Austromarxisten und Karl Kautsky (vgl. Lukes 1985: 14-19). Im selben Interview fährt er fort: »So you can see that from the outset my theoretical interests have been consistently determined by those philosophical and socio-theoretical problems which arise out of the movement of thought from Kant through to Marx. My intentions were given their stamp by <?page no="190"?> Kritische Theorie 191 Western Marxism in the mid-fifties, through a coming-to-terms with Lukács, Korsch and Bloch, Sartre and Merleau-Ponty, and of course with Horkheimer, Adorno and Marcuse. Everything else which I have made my own has only acquired its significance in connection with the project of a renewal of the theory of society grounded in this tradition.« Allerdings weist Habermas’ Rekonstruktion des historischen Materialismus eine gewisse Unentschiedenheit aus. Einerseits schreibt er: »Kultur […] bleibt ein Überbauphänomen, auch wenn sie beim Übergang zu neuen Entwicklungsniveaus eine Rolle zu spielen scheint, die prominenter ist als viele Marxisten bisher angenommen haben.« (1976: 12) Und wie Hartmann (2009: 322) bemerkt, hält Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns »am evolutionären Modell der Gesellschaftsentwicklung und auch an den marxistischen Begriffen ›Basis‹ und ›Überbau‹ fest. Die evolutionären Impulse für sozialen Wandel, etwa für die Ausdifferenzierung des Wirtschafts- und des Herrschaftssystems, gehen ›vom Bereich der materiellen Produktion‹ aus.« Andererseits gibt Habermas (1976: 162) der normativen Entwicklung ein gewisses Primat und argumentiert daß […] Wissen erst mit der Folge einer Produktivkraftentfaltung implementiert werden kann, wenn der evolutionäre Schritt zu einem neuen institutionellen Rahmen und einer neuen Form der Sozialintegration vollzogen ist. Offen geblieben ist die Frage, wie dieser Schritt vollzogen wird. Die deskriptive Antwort des historischen Materialismus heißt: durch soziale Konflikte, durch Kampf, durch soziale Bewegungen und politische Auseinandersetzungen […] Aber nur eine analytische Antwort kann erklären, warum eine Gesellschaft einen evolutionären Schritt vollzieht, und wie es zu verstehen ist, daß soziale Kämpfe unter bestimmten Umständen zu einer neuen Form der Sozialintegration führen. Die Antwort, die ich vorschlagen möchte, heißt: die Gattung lernt nicht nur in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-praktischen Bewußtseins. Die Regeln kommunikativen Handelns entwickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im Bereich des instrumentellen und strategischen Handelns, aber sie folgen dabei einer eigenen Logik. Diese Überlegung aus Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus stellt freilich einen Vorgriff auf die Theorie des kommunikativen Handelns dar und belegt mithin eine Kontinuität, die der Annahme entgegensteht, dass Habermas den Marxismus verworfen habe. Gleichwohl bleibt die Frage nach dem Verhältnis der Theorie des kommunikativen Handelns zum historischen Materialismus. Ich halte es für einen Kategorienfehler, beide im Sinne des angeführten Zitates gewissermaßen pari passu zu setzen und als gleichrangig zu verstehen. Wenn der historische Materialismus als solcher auch vollkommen unhaltbar ist, so steckt er doch wenigstens einen Rahmen ab, der effektiver gefüllt werden könnte. Die Theorie des kommunikativen Handelns kann eine so allgemeine Rolle kaum in Anspruch nehmen, weil sie stricto sensu nur einen theoretischen Rahmen entwickelt, der dann auf geschichtliche Entwicklungen wie die der westlichen Moderne (wie Habermas das in dem gleichnamigen Buch auch tut) angewendet werden können. Auch der historische Materialismus ist der Frage ausgesetzt, ob seine erklärende Kraft bis zu Stammesgesellschaften reicht (Terray 1969), aber sein Anspruch auf einen umfassenderen historischen und transdisziplinären Status ist plausibler. Mit anderen Worten, die Theorie des kommunikativen Handelns kann, wie mir scheint, nur ein Bestandteil, wenngleich ein sehr wichtiger Bestandteil, einer kritischen Gesellschaftstheorie sein-- nicht zuletzt weil die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse, die sie so gut beschreibt, einen breiteren interdis- <?page no="191"?> 192 William Outhwaite ziplinären analytischen Rahmen verlangen. Was Habermas treffend formuliert, ist eine Entwicklungslogik, die sich von Verständigungsprozessen in der Lebenswelt bis zum demokratischen Rechtsstaat erstreckt; aber die Formen solcher Entwicklungen, Gegenbewegungen usw. bleiben ein anderes Feld. Schon früh hat die Kritik zudem auf den problematischen Status von Habermas’ Begriff der Moderne hingewiesen. So schreibt z. B. Giddens (1982b: 335): »I was somewhat surprised to see that the section of your book concerned with myths in oral cultures amounts to only a few pages. If you are going to demonstrate that oral cultures-- and agrarian civilisations also-- operate at a lower stage of rationality to Western or modernised culture, surely a more detailed treatment is called for? « Seitdem hat die postkoloniale Kritik den Begriff der Moderne grundsätzlich problematisiert (Bhambra 2007; Gutierrez 2010; dazu auch Wagner 2012). Bei Habermas, wie bei Max Weber, bleibt trotz allem Gespür für Ambivalenzen vielleicht zu viel vom Mythos des »europäischen Wunders«. Klaus Eder (2009) jedoch hat Habermas’ evolutionstheoretischen Begriff der Moderne verteidigt: »Die Theorie kommunikativen Handelns als eine Theorie der Konstruktion des Sozialen in sprachlich vermittelter Verständigung kann […] die Besonderheit sozialer Evolution als eines Prozesses der Entbindung kommunikativer Vergesellschaftung bestimmen. […] die Moderne […] wäre dann eine besondere Form des Sozialen, die als eine universalistische Kultur an manchen Orten und zu bestimmten Zeiten emergiert (bzw. emergierte) und damit jene Rationalitätsstrukturen in die Welt brachte, von denen bereits Weber so fasziniert war.« (Eder 2009: 66, 68) Die postkoloniale Kritik würde sich dann auf den Verdacht beschränken, dass bei Habermas und anderen eine Überbetonung der Eigenständigkeit und des endogenen Charakters der europäischen und nordamerikanischen Moderne zu vermuten sei. In der auf Habermas folgenden, sogenannten dritten Generation der kritischen Theorie verdienen die Arbeiten von Axel Honneth und Seyla Benhabib besondere Aufmerksamkeit. Auf ersteren möchte ich im Folgenden noch etwas näher eingehen. Axel Honneth, der 1996 Habermas’ Lehrstuhl in Frankfurt und sodann in der Nachfolge Helmut Dubiels die Leitung des dortigen Instituts für Sozialforschung übernommen hat, hat versucht, eine grosso modo habermassche Theorie durch eine Theorie der Anerkennungskämpfe zu ergänzen. In seinem frühen Buch Kritik der Macht (1985) teilt er zunächst Habermas’ Kritik am Pessimismus Adornos und Horkheimers. Habermas hatte auf die entsprechenden Leerstellen der frühen Kritischen Theorie reagiert, indem er in der Theorie des kommunikativen Handelns eine Theorie des sozialen Handelns sowie eine normative Grundlage für die Gesellschaftskritik und bald darauf die Diskursethik entwickelte. Honneth ging dann darüber hinaus, indem er die Theorie des kommunikativen Handelns mit einer foucaultschen Machtanalyse verband. Anders als Habermas, der Foucault und anderen Denkern der Postmodene misstrauisch gegenüberstand, war also Honneth, wie zuvor schon der gemeinhin der zweiten Generation der Kritischen Theorie zugerechnete Albrecht Wellmer, bereit, postmoderne und poststrukturalistische Gedanken produktiv aufzunehmen. Wichtig für den auf Anerkennungskämpfe fokussierten Ansatz war dabei die Überlegung, dass es notwendig sei, einen schärferen theoretischen und nicht nur politischen Blick auf konkrete soziale Konflikte zu entwickeln. Dass Habermas der Theorie in diesen Fragen eine bescheidenere Rolle zuweist, drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass er, der das politische Geschehen bekanntlich immer sehr genau verfolgt hat, seine politischen Schriften nachdrücklich von seinen theoretischen Arbeiten unterscheidet. Honneth zufolge muss eine kritische Theorie jedoch mehr leisten können. In diesem Zusammenhang beruft er sich schon früh auf das zentrale Prinzip der Kritischen Theorie, das auf Hegels Kritik an der kantischen Moraltheorie zurückgeht und dem zufolge effektive Kritik nicht nur in abstrakten Prinzipien, sondern auch sozial verankert sein muss: <?page no="192"?> Kritische Theorie 193 »Will die Theorie die moralischen Maßstäbe, die sie ihrer Kritik der Gesellschaft zugrunde legt, nicht nur appellativ behaupten, so muß sie empirisch wirksame Formen von Moralität nachweisen können, an die sie begründet anknüpfen kann.« (Honneth 2000: 110) Honneths Grundidee ist, dass Missachtungserfahrungen Anerkennungskämpfe auslösen und diese als Motor der sozialen Entwicklung fungieren. Dabei unterscheidet er im Anschluss an Hegel drei Formen sozialer Anerkennung und identifiziert folglich theoretisch drei Felder sozialer Kämpfe, nämlich »die emotionale Zuwendung in sozialen Intimbeziehungen wie der Liebe oder der Freundschaft, die rechtliche Anerkennung als moralisch zurechnungsfähiges Mitglied einer Gesellschaft und schließlich die soziale Wertschätzung von individuellen Leistungen und Fähigkeiten« (Honneth 2000: 104). In diesem Zusammenhang hat Honneth (2000) den Begriff der Sozialpathologie rehabilitiert, der zuvor allenfalls in akademischen Diskussionen über Durkheim und in journalistischen Floskeln über »kranke« oder »zerbrochene« Gesellschaften auftauchte. Honneth dagegen macht ihn gewissermaßen ex negativo fruchtbar als Folie für »eine ethische Vorstellung von gesellschaftlicher Normalität, die auf die Ermöglichungsbedingung von Selbstverwirklichung zugeschnitten ist« (Honneth 2000: 58). Ohne sich in den Fallstricken organizistischer Analogien oder funktionalistischer Verkürzungen zu verstricken, expliziert er damit ein Thema, das in der früheren Kritischen Theorie, von Adornos Blick auf das »beschädigte Leben« (1951) bis zu Habermas’ (1981) Analyse der Verdinglichung und der Kolonialisierung der Lebenswelt, latent geblieben war. Heute nun befindet sich die Kritische Theorie in Auseinandersetzung mit liberalen Gerechtigkeitskonzeptionen, denen es an einer gesellschaftstheoretischen Einbettung fehlt, sowie mit kulturalistischen, foucaultianischen und hermeneutischen Linien der Gesellschaftskritik. Dabei rekurriert Honneth auf die intellektuellen Quellen der Tradition der Kritischen Theorie und richtet sein Augenmerk zugleich auf gegenwärtige Sozialpathologien und die gegen diese gerichteten sozialen Bewegungen. In ähnlicher Weise haben in den USA Seyla Benhabib, Nancy Fraser und andere die Kritische Theorie in Verbindung mit feministischen Theorien weiterentwickelt. Benhabib (2004; 2006) hat sich zudem besonders mit Fragen der Einwanderung, Ethnizität und Bürgerschaft in Europa beschäftigt. Ihr zufolge sind die Strukturen, die im Kontext des kulturellen Pluralismus und von Minderheitenrechtsansprüchen entstanden sind, »quite compatible with a universalist deliberative democracy model« (Benhabib 2002: 19). In diesem Sinne handelt es sich bei der weiteren Ausarbeitung der deliberativen Demokratie durch John Dryzek (1990) und andere um einen wichtigen Beitrag zur Fortführung der Ideen von Habermas und der Kritischen Theorie. Literatur Adorno, T. W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/ M. Adorno, T. W., Albert, H., Dahrendorf, R., Habermas, J., Pilot, H., und Popper, K. R., (1972): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt und Neuwied, 2. Auflage. Albrow, Martin and Elizabeth King (eds.) (1990): Globalization, Knowledge and Society, London. Anderson, Joel (2007): ›INTRODUCTION. 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Und schließlich hilft auch ein erster Blick auf die bekanntesten Studien Foucaults zu Themen wie Wahnsinn, Disziplinierung und Regierung kaum weiter: Ausgangspunkte der Argumentationen sind zumeist historische Epochen, die in gängiger soziologischer Perspektive wenig relevant vor den großen Modernisierungsumbrüchen des 19.-Jahrhunderts liegen und im Fall der späten Schriften zur Sorge um das Selbst sogar bis zu den Denkern der Antike zurückreichen. Handelt es sich also um das Ergebnis einer Kette von Missverständnissen, wenn wir heute ganz selbstverständlich die Arbeiten Michel Foucaults in den Kanon grundlegender gesellschaftstheoretischer Entwürfe aufnehmen? Die vorläufige Antwort auf diese Frage lautet: ja und nein. Ja, weil Foucault nie eine abgeschlossene Theorie der modernen Gesellschaft vorgelegt hat oder vorlegen wollte und selbst nicht mit einem fest umrissenen Begriff der Gesellschaft gearbeitet hat. Und nein, weil Foucaults Werk quer zu disziplinären Grenzziehungen zentrale Impulse für die soziologische Theorie geliefert und wesentliche Kategorien soziologischen Denkens neu formuliert und geprägt hat. Dabei sind seine zeitdiagnostischen Arbeiten zu den Ursprüngen der heutigen Disziplinar- oder Normalisierungsgesellschaft ebenso einflussreich wie seine enge Verzahnung von Theorieentwicklung und materialorientierter Analyse. Es wird im Folgenden also nicht um einen lückenlosen Rundgang durch das Oeuvre Foucaults gehen. Vielmehr soll aufgezeigt werden, entlang welcher Rezeptionsstufen sich die soziologische Inhalation des Foucault’schen Denkens vollzogen hat und welche thematischen Schwerpunkte und Innovationen die Gesellschaftstheorie ihm verdankt. Um dieses Ziel zu erreichen, soll im Folgenden einleitend und stichwortartig auf den Rezeptionskontext eingegangen werden, der Foucaults Werk schließlich auch innerhalb der deutschsprachigen Soziologie als Beitrag zu einer poststrukturalistischen Gesellschaftswissenschaft lesbar gemacht hat (1.). Anschließend werden die wesentlichen methodischen Werkzeuge vorgestellt, die Foucault entwickelt hat (2.). Im dritten Abschnitt werden jene Aspekte seiner Arbeit präsentiert, die vor allem in der soziologischen Gesellschaftstheorie Anschluss gefunden haben (3.), um abschließend die soziologischen Resonanzen zusammenzufassen, die sein Denken hervorgerufen hat (4.). <?page no="197"?> 198 Sina Farzin 1. Poststrukturalistische Gesellschaftstheorie: Rezeptionskontext und Grundlagen Dass wir heute Michel Foucaults Arbeiten ganz selbstverständlich unter der Überschrift einer poststrukturalistischen Gesellschaftstheorie referieren, lässt sich weder zwangsläufig aus seinem Selbstverständnis noch aus dem ursprünglichen französischen Diskussionskontext ableiten, dem sie entstammen. Vielmehr liegt dieser inzwischen kanonischen Zuordnung eine teilweise verwundene Rezeptionsgeschichte zugrunde, die hier in groben Konturen einleitend nachgezeichnet werden soll. Zunächst ist dabei auffällig, dass der Begriff Poststrukturalismus nicht der französischsprachigen Debatte entnommen ist-- auch wenn wir heute fast ausschließlich französischsprachige Denker wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean Baudrillard oder Julia Kristeva als Urheber poststrukturalistischen Denkens adressieren (das zeigt sich auch in der im angloamerikanischen Sprachraum häufig synonym verwendeten Wendung »french theory«). Es handelt sich um eine Zuschreibung, die vor allem im nordamerikanischen akademischen Feld der 1980er- Jahre geprägt wurde, um eine Reihe sehr unterschiedlicher theoretischer Ansätze zu kennzeichnen, die sich ab den 1960er-Jahren in Frankreich entwickelten (Angermüller 2007: 9 ff.). Sie entstammen so unterschiedlichen Feldern wie der Linguistik, Philosophie und Geschichtswissenschaft, sperren sich gegen eindeutige disziplinäre Festlegungen und sind zunächst durchweg »soziologiefern« (Schrage 2012: 74). Die gemeinsame Denkbewegung, die eine Subsumierung dieser verschiedenen Strömungen ermöglicht, kann als umfassende De-Ontologisierung beschrieben werden: Im Kern steht stets das bereits im Strukturalismus problematisierte Verhältnis von sprachlicher Beschreibung und Wirklichkeit, das nicht als ein objektivierbar abbildendes gefasst wird. Die strukturalistische Grundannahme, dass jede Form von Sinn durch ein Netz aus Verweisen und Relationen gebildet werden muss und nicht in den bezeichneten Objekten gründet, wird radikalisiert und auf neue Erkenntnisfelder übertragen. »Gegenüber dem linguistischen Model des Strukturalismus wird der Ereignischarakter der Sprache betont, gegenüber dem ahistorischen Verständnis des autonomen Subjekts werden die historischen Konstitutionsbedingungen von Subjektivität betrachtet und gegenüber der Ideologiekritik marxistischer Prägung sowie dem Szientismus heben die Poststrukturalisten den performativen Charakter und die Historizität von Wahrheitsaussagen hervor.« (Schrage 2012: 74) Identitäten und Objekte sind ihrer jeweiligen Beschreibung nicht vorgelagert oder mit ihrer Bezeichnung eindeutig identisch. Sie werden vielmehr im Akt dieser Beschreibung oder Bezeichnung erzeugt, wobei dieser Akt keine einmalige Bedeutungsfestlegung ist, welche dann unverändert wiederholt werden könnte, sondern in ständigen Aktualisierungen bestätigt werden muss und sich wandeln kann. Identitäten, Objekte, Strukturen werden so zu kontingenten Einheiten der Analyse, die ihrer Untersuchung nicht vorgelagert sind, sondern durch Prozesse der Bedeutungszuschreibung hervorgebracht werden. Damit wird ein Denkraum eröffnet, innerhalb dessen nicht nach dem eigentlichen Wesen der Dinge gefragt wird, sondern nach ihrer sozialen und historischen »Gewordenheit«. Es geht nicht um die Identifizierung scheinbar wesentlicher, also unverrückbarer, Eigenschaften, sondern um die Rekonstruktion jener Prozesse, die eben diese erzeugen. Die sogenannten Poststrukturalisten wurden so zur wichtigen theoretischen Referenz für die im angloamerikanischen Raum seit den 1960er-Jahren immer stärker hervortretende Kulturalisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften (Reckwitz 2000). Im Rahmen der Ausdifferenzierung der Cultural Studies als interdisziplinärer Perspektive wurden vermeintlich feststehende Kategorien wie Gender-, Klassen- oder Rassenzugehörigkeit als Effekte sozialer Zuschreibungen analysiert. <?page no="198"?> Poststrukturalismus 199 Diese- - auch im angloamerikanischen Kontext nicht reibungslos verlaufende- - Aneignung verschiedener Denkfiguren unter dem Schlagwort des Poststrukturalismus wurde in Deutschland erst spät und über den Umweg der zunächst eher literaturals sozialwissenschaftlich geprägten Cultural Studies aufgegriffen. Das galt besonders für die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Arbeiten Foucaults, die sowohl der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung (Wehler 1998) als auch der Kritischen Theorie Frankfurter Schule seit den 1970er-Jahren als »Angriffsfläche« (Bublitz 2008: 386) dienten. 1 Vor allem die von Habermas (1985: Kap. 9 und 10) formulierte Kritik an dem Ausufern des Machtbegriffs Foucaults führte für die deutsche Soziologie zu zahlreichen »Rezeptionssperren«, die vor allem durch Axel Honneths mehrfache Re-Lektüren relativiert wurden (Honneth 1985; Honneth/ Saar 2003). Hinzu kam der verstärkte Bezug auf Foucaults Arbeiten zur Subjektkonstitution in der Geschlechterforschung, die Etablierung der Gouvernementalitätsstudien sowie Anknüpfungen an Foucaults Konzept der Bio-Macht. Während in all diesen Bereichen seit den 1980er-Jahren Foucaults Werk vor allem im Rahmen einer sich selbst als kritisch verstehenden Sozialwissenschaft rezipiert wurde, lässt sich spätestens seit den 2000er-Jahren eine zunehmende disziplinäre Vereinnahmung erkennen, die Foucault generell als »soziologischen Klassiker« (Angermüller 2004) ausweist. Im Zuge dieser steigenden Akzeptanz im soziologischen Mainstream tritt die gesellschaftskritische Foucault-Lektüre hinter weitere Rezeptionslinien zurück: Thematisch wird der diskurstheoretische Beitrag zu zentralen Themenfeldern wie bspw. der Soziologie der Familie, der Ungleichheit, des Wohlfahrtsstaats oder der Wirtschaft ausgelotet (vgl. zur damit einhergehenden De-Politisierung der Theorie: van Dyk 2012). Theoretisch werden Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen dem Foucault’schen Theoriekorpus und anderen, nicht poststrukturalistischen Sozialtheorien diskutiert (vgl. etwa zum Verhältnis zur Kritischen Theorie: Kappeler 2008, zur Systemtheorie: Stäheli 2004, zur Habitustheorie: Reckwitz 2011). Methodisch wird die Umsetzung diskursanalytischer Annahmen in empirisch kontrollierte Forschungsdesigns vorangetrieben (Bührmann et al. 2007; Keller 2005). Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen, ja teilweise ausufernden Foucault-Rezeption innerhalb der Soziologie in den vergangenen Jahren beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf jene Denkfiguren Foucaults, die ihr Irritationspotenzial vor allem auf der Ebene gesellschaftstheoretischer Grundannahmen entfalten. Sie können mit der für Foucault zentralen Trias Macht-Wissen- Subjekt umrissen werden. 2. Die Werkzeugkiste »Alle meine Bücher […] sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten.« (Foucault 2002, 887). Kaum eine Metapher Foucaults dürfte mehr zitiert worden sein als sein Bild der Theorie als Werkzeugkiste. Dahinter steckt zum einen das Unbehagen gegenüber universalen theoretischen Fundamenten, deren Güte allein über ihre systematische Kohärenz bestimmt wird. Zum anderen zeigt sich hier Foucaults Anspruch, Theorie und Empirie nicht gegeneinander auszuspielen, sondern den Erkenntnisprozess als fortlaufende Verzahnung konkreter Analysen und ihrer Reflexion entlang des jeweiligen Materials zu gestalten (Foucault 2003: 521 f.). Im Folgenden sollen zunächst einige der zentralen theoretischen Begriffe der Foucault’schen Werkzeugkiste benannt, sowie die damit für ihn verbundenen methodischen Konsequenzen erörtert werden. Die Begriffe, 1 Zur Analyse der deutschsprachigen Rezeption bis in die 1990er-Jahre vgl. Eßbach 1991. <?page no="199"?> 200 Sina Farzin die es zu erläutern gilt, sind zum einen der Diskurs und dessen Aufgehen im Dispositiv, zum anderen die von Foucault zu dessen Analyse entwickelten Methoden der Archäologie bzw. Genealogie. Dieser Einstieg in das Werk Foucaults verleitet dazu, es »aufgeräumter« erscheinen zu lassen, als dieses der Fall ist. Foucault entwirft keine kohärente Sozialtheorie, um diese dann am empirischen Material zu prüfen. Tatsächlich kann das Foucault’sche Denken eher als ein beständiges Suchen, Probieren, Verwerfen beschrieben werden, das Bernhard Waldenfels einst in der Metapher des »Bastelns« gefasst hat (Waldenfels 1991: 292). Dennoch folgen wir hier auch aus pragmatischen Gründen dieser inzwischen kanonischen Einteilung des Foucault’schen Werks. 2 Foucault selbst beschreibt sein Vorgehen als Stolpern: »Ich habe keine allgemeine Theorie und auch kein sicheres Instrument. Ich taste mich voran und fabriziere nach besten Kräften Instrumente, die Objekte sichtbar machen sollen. […] So taste ich mich voran und stolpere von Buch zu Buch.« (Foucault 2003: 521 f.) Zu Beginn dieses Stolperns stehen mehrere zentrale Werke Foucaults, die seinen Namen vor allem mit dem Feld der Diskurstheorie und -analyse verknüpfen, dies sind Die Ordnung der Dinge (1971), Die Archäologie des Wissens (1973) und Wahnsinn und Gesellschaft (1973a). Der Begriff des Diskurses ermöglicht es Foucault, die scheinbar unhintergehbare Objektivität der Gegenstände seines Erkenntnisinteresses zu durchbrechen. Im Kern auf das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zielend, versteht Foucault Diskurse als Praktiken, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1973: 74). Der Diskurs ist für Foucault ein »ähnliches System der Streuung von Aussagen« (ebd. 58), das durch wiederkehrende Regelmäßigkeiten Objekte und Subjektpositionen hervorbringt, z. B die moderne Medizin und Ärzte und Patienten in diesem Diskurs mit jeweils verschiedenen Möglichkeiten legitim zu sprechen. Diese Regelmäßigkeiten dürfen dabei nicht mit fixen Regeln oder Normen verwechselt werden, wie sie etwa strukturalistischen Theorien zugrunde liegen (vgl. Stäheli/ Tellmann 2002: 240 f.). Vielmehr werden sie durch den Diskurs selbst hervorgebracht und können sich im historischen Verlauf ändern, etwa in der Frage, welche Mitsprache- oder Informationsrechte ein Patientensubjekt hat. Aufgabe des Diskursforschers ist es dann-- gleich einem Archäologen-- die Regelmäßigkeiten der Aussagen zu erkennen, die im historischen Material sichtbar werden. In diesem Sinne behandelt Foucault historische Dokumente und Quellen nicht als Belege einer dahinterliegenden, vergangenen Wirklichkeit, die es durch ihre Analyse zu ergründen gälte. Seine archäologische Methode zielt gerade darauf, die jeweiligen Aussagen in ihrer Positivität als eigentlichen Untersuchungsgegenstand zu begreifen. »Eine Archäologie bedeutet, wie der Name nur allzu offensichtlich sagt, eine Beschreibung des Archivs. (…) Ich meine damit die Gesamtheit der Regeln, die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft die Grenzen und Formen der Sagbarkeit definieren: worüber können wir sprechen? Was wurde als Diskursbereich konstituiert? « (Foucault 2001: 869) Der Diskurs kann damit als eine Formation von Wissen verstanden werden, die jeweils spezifische Objekte und Subjekte hervorbringt. So untersucht Foucault beispielsweise, wann der Wahnsinn zum Gegenstand des medizinischen Diskurses wurde und mit ihm der Wahnsinnige zum Subjekt, dessen Möglichkeiten zu sprechen radikalen Einschränkungen unterlagen (Foucault 1973a; 1973b). Dieses Programm, das Foucault vor allem in Die Archäologie des Wissens theoretisch expliziert, setzt also den Diskursbegriff an die Stelle des Wissens. Wissen ist dann nicht der Korpus wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern das Resultat einer bestimmten diskur- 2 Eine alternative Aufbereitung sowie eine Kritik bieten Raffnsøe/ Gudmand-Høyer/ Sørensen Thaning (2011). <?page no="200"?> Poststrukturalismus 201 siven Praxis, das erst in einem weiteren Schritt wissenschaftlich angeeignet wird oder werden kann. Zugleich, so zeigt das letzte Zitat, ist der Diskursbegriff eng auf den Bereich des Sagbaren bezogen und damit aller sprachlichen Reflexion vorgeordnet. Zwar behandelt Foucault in dieser Phase das Verhältnis von Sagbarkeit und Sichtbarkeit im Diskurs am Beispiel des ärztlichen Blicks (Die Geburt der Klinik 1962), jedoch liegt der Fokus seiner Untersuchungen stets auf der inneren-- sprachlichen-- Ereignishaftigkeit des Diskurses. Nicht-diskursive Elemente und ihre Wirkungen auf das Erscheinen der jeweiligen Subjekte und Objekte sind vorerst ausgeklammert. Vielmehr interessiert Foucault das Binnenverhältnis verschiedener Diskurse einer Epoche, für das er den übergreifenden Begriff der Episteme vorschlägt. »Unter Episteme versteht man in der Tat die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Figuren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht werden […] [E]s ist die Gesamtheit der Beziehungen, die man zu einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert.« (Foucault 1973: 272 f.) So ist etwa der Diskurs des Wahnsinns nicht eine isolierte medizinhistorische Erscheinung. Er ist eingebettet in einen Möglichkeitsraum, der nicht nur die Wissenschaft umgreift, sondern durch eine Vielzahl von juristischen, politischen, literarischen und alltäglichen Einflüssen durchzogen wird. Als Bestandteil der modernen Episteme formieren sie gemeinsam den Menschen als Subjekt und Objekt aller Erkenntnis und unterscheiden sich darin von anderen historischen »Möglichkeitsräumen«. Die frühen Studien Foucaults stehen ganz im Zeichen dieses positivistischen Diskursbegriffs und der archäologischen Methode, die eine möglichst tiefgreifende Analyse des historischen Materials ermöglichen soll. Erst später nimmt Foucault auch die nicht-diskursiven Elemente des Sozialen in den Blick. Diese Akzentverschiebung führt schließlich in verschiedenen der erwähnten »Suchbewegungen« zur Einführung einer erweiterten theoretischen Optik: Der Diskurs geht ein in ein umfassenderes Modell des Dispositivs, die Archäologie tritt hinter die Genealogie zurück. Was ermöglichen diese Werkzeuge? Wie bereits beschrieben, ist der Diskurs, beschränkt auf das Feld der Sagbarkeit, als eine Ansammlung von Aussagen zu verstehen. Damit geraten jedoch zahlreiche wirksame Aspekte sozialer Praxis überhaupt nicht in den Blick-- etwa sprachlich nicht thematisierte Institutionen, die materiellen Grundlagen konkreter Situationen, die Räume, in denen etwas stattfindet oder die Technik, die zum Einsatz kommt. Foucault versammelt diese Aspekte unter dem im französischen geläufigen Terminus des Dispositivs, das u. a. im technischen oder militärischen Kontext die Anordnung verschiedener Elemente bezeichnet (vgl. Link 2008: 237 ff.). »Das was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist erstens eine entschiedene heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes.« (Foucault 2003: 392) Diese Ausweitung der Perspektive ist begleitet von der Umstellung der archäologischen Methode hin zur Genealogie. Darunter versteht Foucault im Anschluss an Nietzsche ein Vorgehen, das keine festen Identitäten zu seinem Gegenstand macht, sondern gerade das Geworden- Sein dieser Identitäten nachzuzeichnen sucht. Die Genealogie führt »alles, was am Menschen als unsterblich galt, wieder dem Werden zu« (Foucault 2002: 179). Diese Neu-Justierung wird durch die genannte Berücksichtigung nicht diskursiver Praktiken und Elemente bedingt, die eben keine diskursiven Ereignisse sind, die archäologisch kartiert werden könnten. Viel- <?page no="201"?> 202 Sina Farzin mehr wird genealogisch analysiert, welche äußeren sozialen Praktiken Diskurse ermöglichen und welche gesellschaftlichen Kräfte sie bewirken. Identitäten und Objekte sind dann ihrer jeweiligen Beschreibung nicht vorgängig oder mit ihrer Bezeichnung eindeutig identisch. Sie werden vielmehr im Akt dieser Beschreibung oder Bezeichnung erzeugt, wobei dieser Akt keine einmalige Bedeutungsfestlegung ist, welche dann unverändert wiederholt werden könnte, sondern in ständigen Aktualisierungen bestätigt werden muss und sich wandeln kann. Sie werden so zu kontingenten Einheiten der Analyse, die ihrer Untersuchung nicht vorgelagert sind, sondern durch Prozesse der Bedeutungszuschreibung hervorgebracht werden. Die diskursive Institution des Wahnsinns etwa entsteht in einem sozialen Kontext, in dem die Vorstellung eines rationalen, gesunden, formbaren »Gesellschaftskörpers« sich zunehmend durchsetzt und alle Bereiche der Gesellschaft-- Arbeitsorganisation, Erziehung, Wohlfahrt, Strafrecht-- umfasst (Castel 1976). Foucault lenkt damit den Blick weg von der inneren Struktur und Regelmäßigkeit des Diskurses zu den äußeren Bedingungen und Einbettungen, die er unter dem Sammelbegriff der Machttechnologien fasst. Damit rückt der Machtbegriff in eine zentrale Position, indem er zum movens des Sozialen selbst wird. Die genealogische Methode öffnet so den Blick auf verschiedene Machttypen, die das Soziale formen und an denen verschiedenen Subjektkonstitutionen kristallisieren. Die theoretischen Neujustierungen zwischen Diskurs und Dispositiv, Archäologie und Genealogie stellen also keinen wirklichen Bruch dar, wie er manchmal in der Sekundärliteratur durch die Einteilung korrespondierender Werkgruppen suggeriert wird. Eher umkreisen sie einen Kern von Problemen, denen Foucault sich immer wieder aus verschiedenen Richtungen nähert und der im folgenden Abschnitt auf seine gesellschaftstheoretischen Anteile bezogen beleuchtet wird. 3. Subjekt-- Wissen-- Macht: Foucaults Denken im Blick soziologischer Gesellschaftstheorie Die aufgezeigten Bereicherungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Werkzeugkiste durch Foucault setzen ihn in die Lage, das eingangs proklamierte Forschungsprogramm einer konsequent de-ontologischen Perspektive umzusetzen. Foucault steht nicht auf dem festen Grund, den die philosophische Tradition sich durch die Verankerung der Erkenntnis im autonomen Subjekt geschaffen hat. Ihn interessiert vielmehr die historische Umsetzung und die soziale Praxis, die notwendig war, um dieses Subjekt auf der Bildfläche erscheinen zu lassen. Er versteht diesen Prozess nicht als eine fortlaufende Emanzipations- und Befreiungsbewegung, sondern als emergente und kontingente Entwicklung, an deren (vorläufigem) Ende der Mensch sich im Zentrum jeder Wissensordnung positioniert. Der entscheidende Umbruch findet- - so Foucault- - im 19.- Jahrhundert statt. Galt zuvor im Zeitalter der klassischen Episteme eine Entsprechung zwischen den Dingen selbst und ihren Repräsentationen (Foucault spricht vom »Zeitalter der Repräsentation«) wird mit dem Bruch zur Moderne das Fundament der Erkenntnis umgestellt: Nicht das Wesen der Dinge, sondern der Mensch mit seinen Möglichkeiten und Grenzen wird zum Apriori jeder Erkenntnis. Der Mensch wird so zum Subjekt und Objekt des Wissens zugleich: Als Objekt wird er Gegenstand der biologischen, philosophischen, politischen, erzieherischen oder wirtschaftlichen Diskurse. Als autonomes Subjekt wird er in diesen Diskursen vorausgesetzt und erzeugt. Im Zentrum der modernen Episteme steht nun der »Mensch mit seiner nicht eindeutigen Position als Objekt für ein Wissen und als Subjekt das erkennt: Unterworfener Souverän, betrachteter Betrachter« (Foucault 1971: 377). <?page no="202"?> Poststrukturalismus 203 Er selbst beschreibt diese Kontinuität als Auseinandersetzung mit der Schnittstelle zwischen Kultur und Subjekt: »Zunächst möchte ich sagen, welches Ziel ich in den letzten zwanzig Jahren in meiner Arbeit verfolgt habe. Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlage für solch eine Analyse zu schaffen. Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht. Und zu diesem Zweck habe ich Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen.« (Foucault 2005: 269) Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Vorwurf des Anti-Humanismus, der häufig gegen Foucault erhoben wurde, zutrifft und zugleich fehlgeht: Der moderne Humanismus stellt für Foucault nicht die normative Perspektive des eigenen Denkens dar, sondern wird zum Gegenstand selbst. Er erscheint in genealogischer Perspektive nicht als Endpunkt einer Fortschrittsgeschichte, sondern lediglich als eine unter vielen möglichen Organisationen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses. So ist Foucaults vielzitierte Wendung vom Verschwinden des Menschen »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1971: 462) eben nicht als düstere Untergangsprognose zu verstehen, sondern als Hinweis auf die Möglichkeit einer anderen »Ordnung der Dinge« ohne dieses Andere zu qualifizieren. In dieser Absage an teleologische Geschichtsmodelle sowie an das souveräne Subjekt als Urheber aller Welterkenntnis liegt die teils heftige Ablehnung des Foucault’schen Programms begründet, die, wie eingangs erwähnt, vor allem aus sozialphilosophischer und -historischer Richtung formuliert wurde. Was aber bedeutet das hier zunächst stichwortartig skizzierte Forschungsprojekt Foucaults für die soziologische Perspektive auf die moderne Gesellschaft? Foucault hat selbst mehrfach betont, kein Interesse am Verfertigen einer Gesellschaftstheorie zu haben: Perhaps the reason why my work irritates people is precisely the fact that I’m not interested in constructing a new schema or in validating one that already exists. Perhaps it’s because my objective isn’t to propose a global principle for analyzing society. […] My general theme isn’t society but the discourse of true and false, by which I mean the correlative formation of domains and objects and of the verifiable, falsifiable discourses that bear on them; and it’s not just their formation that interests me, but the effects in the real to which they are linked. (Foucault 1994: 237) Dennoch-- darauf deutet schon der vorstehende Hinweis Foucaults auf die enge Verklammerung von Kultur und Subjekt-- können Foucaults Studien in einem gewissen Sinne auch als sehr spezifische Versuche einer Zeitdiagnose der modernen Gesellschaft gelesen werden. Seine Studien motiviert nicht das Streben nach historischer Rekonstruktion, sondern das auf die Genealogie der betroffenen Gegenstände gerichtete Reflektieren gegenwärtiger Probleme: »Genealogie heißt, dass ich die Analyse von einer gegenwärtigen Frage aus betreibe.« (Foucault 2005: 831) So liefert Foucault der Soziologie einen alternativen Blick auf die Praxis des Sozialen, einerseits jenseits modernisierungs- und fortschrittsoptimistischer Makrotheorien, andererseits in Distanz zur mikrotheoretischen Fundierung des Sozialen im rationalen Akteurssubjekt. Er diagnostiziert vielmehr spezifische Machttechnologien und ihre Verzahnung mit bestimmten Wissensformationen, die weitreichende gesellschaftliche Wirkungen entfalten. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen verdeutlicht werden: erstens am Überwachungs- und Disziplinierungsdispositiv und den damit verbundenen Normalisierungstechnologien, zweitens an der Erweiterung dieser Perspektive durch das Konzept der Gouvernementalität. <?page no="203"?> 204 Sina Farzin 3.1 Überwachung, Disziplin, Normalisierung Ein wiederkehrender Gegenstand der Foucault’schen Genealogien ist die Beschäftigung mit modernen Formen des Strafens in verschiedenen sozialen Kontexten, etwa in juristischer Form oder auch im Erziehungssystem. Im Kontext dieses Handbuches sind sie besonders interessant, da Foucault selbst diese Thematik als eine Art Gegenentwurf zu klassischen soziologischen Theorien der Gesellschaft einführt: Die herkömmliche Soziologie, d. h. die Soziologie nach Art von Durkheim, formuliert dieses Problem folgendermaßen: Wie kann die Gesellschaft einen Zusammenhalt zwischen den Individuen herstellen? […] Welches Organisationssystem erlaubt der Gesellschaft die Konstitution einer Ganzheit? Ich für meinen Teil habe mich gleichsam für das umgekehrte Problem, oder, wenn sie wollen, für die umgekehrte Antwort interessiert: Durch welches System des Ausschlusses kann die Gesellschaft zu funktionieren beginnen, wen muss sie dazu ausschließen, welche Trennlinien muss sie ziehen, welches Spiel von Negation und Verwerfung braucht sie? (Foucault 2002: 656) Foucault benutzt den Begriff der Gesellschaft hier und an anderer Stelle zumeist in einer eher alltagsweltlichen, kaum problematisierten Form. Es wurde dementsprechend häufig kritisiert, dass er implizit an einem nationalstaatlichen »Containermodell« von Gesellschaft festhält (vgl. zusammenfassend Lemke 2007: 45 f.). Dieser für Soziologen nicht uninteressanten Debatte soll hier nicht gefolgt werden, es wurde bereits oben deutlich, dass für Foucault die Auseinandersetzung mit Gesellschaftskonzepten zweitrangig ist. Wichtig und soziologisch relevant ist an dieser Stelle zunächst die Verschiebung der Perspektive: Nicht Integration und Inklusion werden thematisiert, sondern die negativen Effekte der Ausschließung, die jede imaginierte Kollektivität hervorbringt. Ähnlich wie in den genannten Studien zum Wahnsinn die »Schattenseiten« der Vernunft untersucht werden, treten in seiner Studie Überwachen und Strafen (1977) die Ausgeschlossenen der normativen und moralischen Ordnung in den Blickpunkt. Foucault zeichnet mit Überwachen und Strafen nach, wie die Strafpraxis im Übergang zur Moderne einen grundlegenden Wandel erfährt. Ist die Bestrafung bis ins 18.-Jahrhundert hinein vor allem ein öffentliches Spektakel, in dem der lokale Herrscher seine Macht durch die Folter und Vernichtung des Körpers des Straftäters demonstriert, verschwinden Strafrituale nun aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Unter dem Begriff der Disziplinarmacht beschreibt Foucault ein entpersonalisiertes Machtsystem, das den Straftäter weder zur Schau stellt noch verbannt, sondern in ein Geflecht produktiver Kontrollmechanismen einbindet. Isolierte Zellenhaft, strukturierte Tagesabläufe, Appelle und Arbeitseinsätze überziehen den Tagesablauf des einzelnen Gefangenen mit einem dichten Kontrollnetz. Das zentrale Paradigma dieser Neuorganisation der Macht sieht Foucault im Bauplan des Panopticon, einer von Jeremy Bentham entworfenen kreisförmigen Gefängnisarchitektur, in der die Insassen im Bewusstsein einer stets möglichen unsichtbaren Überwachung gehalten werden: Sein Prinzip ist bekannt: an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude, in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen: das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, […] sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so dass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Auf- <?page no="204"?> Poststrukturalismus 205 seher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. […] Die Sichtbarkeit ist eine Falle. (Foucault 1977: 257) Das Ziel dieser potenziell lückenlosen Überwachung besteht nicht in der externen Kontrolle der Subjekte, sondern in der Internalisierung der Kontrollnormen durch diese selbst. Wenn abweichendes Verhalten ständig sichtbar werden kann, ist die einzige Möglichkeit, sich der Sanktion zu entziehen, die Selbstkontrolle. Durch ein enges Netz aus Architektur, Überwachung und Disziplinierung wird der Sträfling, Schüler oder Kranke schließlich, so die Vision, durch (Selbst-) Disziplinierung wieder zum Bestandteil eines »homogenen Gesellschaftskörper[s]« (ebd. 237). Dabei sind die Mechanismen der Disziplinarmacht nicht allein so restriktiv zu verstehen, wie es das Beispiel des Strafvollzugs nahelegt: Sie durchdringen vielmehr alle gesellschaftlichen Sphären und werden im ständigen Wechselspiel von Norm und Abweichung zur Grundlage der Genese von Individualität. Denn die Technologien des Panoptismus sowie weitere Kontrolltechniken gehen über die materiale Wirkung der Architektur hinaus in zahllose weitere soziale Praxen ein: die Benotung von Schülern, die Erhebung medizinischer Daten zur Festlegung von Maßstäben für Gesundheit und Krankheit, die Einführung von Arbeits- und Industriestandards. Alle diese Maßnahmen legen die Parameter fest, die es ermöglichen, den Einzelnen in Bezug zum Kollektiv zu setzen. Das Subjekt erscheint in seiner Individualität also durch den in ihm angelegten doppelten Wortsinn als »Sub-jectum«: Es unterwirft sich externen Normen und wird selbst durch sie hervorgebracht, es ist Unterworfenes und Unterwerfendes zugleich: Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. […] Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände misst, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt. (Foucault 1977: 236) Während in Überwachen und Strafen die Disziplinarmacht in ihren Effekten auf das Individuum im Vordergrund steht, erweitert Foucault den Themenkomplex der Normalisierung in späteren Arbeiten hin zur Analytik von Kollektivsubjekten (vgl. Foucault 1999). Denn nicht allein sanktionsfähige Abweichungen werden in der Durchdringung aller Lebensbereiche durch Normen sichtbar. Vielmehr stellt die permanente Selbstbeobachtung der Gesellschaft in Form von statistischen Erhebungen und Messungen, wie sie sich in der Moderne etabliert, die umfassendere Kategorie des »Normalen« zur Verhaltens- und Erwartungssteuerung bereit. Nicht mehr eine externe Norm (etwa ein »gottgefälliges« Leben zu führen), sondern die statistisch erhobene Verteilung wird zum Maßstab dessen, was sozial als möglich oder unmöglich, erwartbar oder unwahrscheinlich gilt. Die Normalisierungsmacht wird so zu einer Technologie, die es ermöglicht, mit der zunehmenden Unsicherheit und Kontingenz der Moderne umzugehen, ohne auf externe, vorgegebene Maßstäbe zu verweisen, die keine gesellschaftsweite Verbindlichkeit mehr beanspruchen können, etwa religiöse Weltbilder oder die politische Macht des Souverän. (vgl. Link 2006) Die hier skizzierten Arbeiten Foucaults zum Themenkomplex der Disziplinierung und Normalisierung sind, so dürfte deutlich geworden sein, für mehrere soziologische Kernprobleme relevant. Individualisierung wird hier in direkter Verzahnung mit Umbrüchen der gesellschaftli- <?page no="205"?> 206 Sina Farzin chen Macht/ Wissensordnung gedacht und als Effekt sozialer Praktiken- - und eben nicht der willentlichen Emanzipation des Einzelnen-- verstanden: Die implizit soziologische These dieser Arbeiten besagt, dass die Entstehung neuzeitlicher Individualität nicht einfach sich verbreitenden Humanitätsvorstellungen zu verdanken ist, sondern zugleich intrinsisch mit den funktionalen Erfordernissen der modernen Gesellschaft verknüpft sei. Das moderne Subjekt entstehe nicht spontan durch eine Zivilisierung der Strafpraxis, sondern werde mittels disziplinierender und regulativer Verfahren erzeugt. Subjektivierung bezeichnet vor diesem Hintergrund die in Institutionen stattfindende Verwandlung empirischer Einzelmenschen in solche, die sich als Subjekte begreifen und als Individuen handeln. (Schrage 2008: 4125) Normalisierung ist Bestandteil dieser Mechanismen und erweitert die Vorstellung einer Sanktionsmacht um die Technologie der Orientierung allen Verhaltens an ständig wandelbaren und selbsterzeugten Durchschnittswerten und aggregierten Daten. Beide Aspekte treffen in der Soziologie auf vielfältige gesellschaftstheoretische Resonanzmilieus, die in Abschnitt 4 erläutert werden sollen. Zuvor jedoch folgen wir einer weiteren Um- und Weiterschrift der Thematik Subjektivität/ Macht/ Wissen, die Foucault selbst unter dem Stichwort der Gouvernementalität vorgenommen hat und die das Feld der Gouvermentality Studies begründen. 3.2 Gouvernementalität Die im Konzept der Normalisierungsmacht angedeutete Verschiebung der Perspektive von der individuellen Subjektivierung zur Konstitution kollektiver Bezugsgrößen wird im Konzept der Gouvernementalität weiter vorangetrieben und mit der beschriebenen Analyse von Subjektivierungstechnologien verbunden. Ging es in Überwachen und Strafen zunächst vor allem um das Verhältnis des Einzelnen zu den normierenden Effekten der Macht, tritt nun das Verhältnis der staatlichen Herrschaft zur Bevölkerung selbst in den Mittelpunkt. Durch die statistische Erfassung der Individuen, ermöglicht durch den modernen Staatsapparat und seine Verwaltung, entsteht ein Gesellschaftskörper, der Objekt politischen Regierens wird. Mit der politischen Ökonomie etabliert sich dementsprechend in der Moderne eine umfassende Sozialwissenschaft (aus der auch die Soziologie hervorgeht), die sich auf Fragen der Versorgung, Optimierung und Steuerung dieses Gesellschaftskörpers spezialisiert. Gestützt auf die Methoden der modernen Statistik liefert sie der Staatsmacht die Grundlage einer neuen Form des Regierens im modernen Verwaltungsstaat. Damit rückt die »Ebene der Makromacht« (Foucault 2004a: 514) neben die Beschäftigung mit den lokalen Technologien auf der Mirkoebene. Es ist die Verschränkung dieser Herrschafts- und Selbsttechniken, die Foucault interessiert und die er im Rahmen mehrerer Vorlesungen nachzeichnet (Foucault 2004; 2004a). Damit wird auch hier wieder das Geworden-Sein des modernen Staates in den Mittelpunkt gerückt und mit dem Themenkomplex der Subjektivierung verschränkt: Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter <?page no="206"?> Poststrukturalismus 207 ›Gouvernementalität‹ die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ›Regierung‹ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen-- Souveränität, Disziplin-- geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zu Folge gehabt hat. Schließlich glaube ich, dass man unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16.- Jahrhunderts zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ›gouvernementalisiert‹ hat. (Foucault 2003: 820 f.) Dieses ausführliche Zitat ist eine der wenigen Definitionen des Begriffs der Gouvernementalität und es umreißt dabei zugleich das Forschungsprogramm, das Foucault unter diesem Stichwort ausarbeitet. Dabei expliziert er das Konzept der Gouvernementalität auf den im Zitat angedeuteten Bedeutungsebenen: Allgemein als »Art und Weise wie man Menschen steuert« (Foucault 2004a: 261), in historischer Perspektive als Durchsetzung des modernen liberalen Verwaltungsstaats (wodurch zugleich der vorherige Fokus auf die Disziplinarmacht relativiert wird) und in zeitdiagnostischer Anwendung als Werkzeug zur Analyse der Durchsetzung neoliberaler Regierungsformen im ausgehenden 20.- Jahrhundert. Die entscheidenden Erweiterungen der Werkzeugkiste bilden in diesem Kontext das Konzept der Regierung sowie die Ergänzung des Machtbegriffs durch den Begriff der Herrschaft. Diese Denkbewegung ermöglicht es Foucault zum einen, seinen weiten Machtbegriff in Hinblick auf die Stabilisierung von Machtbeziehungen zu fokussieren. Zunächst ist Macht für Foucault-- um es soziologisch zu umschreiben- - Kennzeichen jeder Form von gesellschaftlicher Interaktion. »Es ist stets möglich, dass die einen auf das Handeln der anderen einwirken. Eine Gesellschaft ohne ›Machtbeziehungen‹ wäre nur eine Abstraktion.« (Foucault 2005: 289) Ist Macht im weitesten Foucault’schen Sinne eine Art produktive und fluide Kraft innerhalb aller sozialen Beziehungen, gerinnt sie in Form von Herrschaft zu dauerhaften und einschränkenden Zuständen, die sich durch Asymmetrie und die Beschränkung der Freiheit zwischen Individuen oder Gruppen auszeichnen (vgl Lemke 2001). Im damit aufgespannten Dreieck von Macht-Herrschaft-Subjekt kommt nun dem Konzept der Regierung die entscheidende Scharnierfunktion zu. Regierung, verstanden als »Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung« (Foucault 2005: 1116), führt das Gerinnen der Macht zu relativ stabilen Herrschaftspraktiken und ist zugleich Basis verschiedener Subjektivierungstechniken. Weder Regierung noch Herrschaft noch Macht lassen sich also als Aspekte eines abgegrenzten politischen Systems oder des Staates selbst analysieren, sondern werden von Foucault als gesellschaftsweit wirksame Prinzipien begriffen. Vor diesem Hintergrund analysiert Foucault verschiedene historische Formationen des Regierens, um die zunehmende Gouvernementalisierung des Staates zu beleuchten. Der Staat ist in diesem Verständnis kein vorgegebenes Objekt, sondern eine »komplexe Verbindung zwischen Techniken der Individualisierung und totalisierenden Verfahren« (Foucault 2005: 277). Im Zentrum des Arguments steht dabei die Beobachtung, dass sich die Macht zunehmend von der Verschränkung mit der Person des souveränen Machthabers ablöst und sich auf alle Bereiche des sozialen Lebens ausdehnt. Gegenstand der Herrschaftstechniken wird das Kollektiv der Bevölkerung, das durch einen anonymisierten Staat vor Gefahren geschützt werden muss, durch ihn verwaltet wird und bis zur Ebene der Bio-Politik kontrolliert wird. Das Prinzip, nach dem sich diese Ausweitung des modernen Verwaltungsstaates vollzieht, ist ein ökonomisches. Die Wis- <?page no="207"?> 208 Sina Farzin senstechniken der politischen Ökonomie- - statistische Erhebungen, Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Normalverteilungen, Kosten/ Nutzen-Kalkulationen-- ermöglichen es, jeden Lebensbereich nach Maßgabe ökonomischer Rationalität zu bewerten, zu organisieren und zu regieren. Sie werden zur Grundlage der liberalen Regierung als bestimmter Form der Gouvernementalität, die sich durch ein ständiges Schwanken zwischen der individuellen Freiheit des Einzelnen und der staatlichen Ermöglichung und Sicherung dieser Freiheit auszeichnet. »Das Problem des Liberalismus besteht darin, die ›Produktionskosten‹ der Freiheit zu bestimmen: In welchem Maß stellt die freie Verfolgung der individuellen Interessen eine Gefahr für das Allgemeininteresse dar? Die liberale Freiheit kann daher nicht unbeschränkt gelten, sondern wird einem Sicherheitsdispositiv unterstellt.« (Lemke 2001: 114) Der liberale Staat garantiert seiner Bevölkerung die Freiheit als prekäre, zu schützende Größe, die durch verschiedene Sicherheitstechniken bewahrt werden muss. Ausschlaggebend ist dabei stets die statistische Normabweichung vom Mittelwert- - so werden Ernteausfälle ab einem bestimmten Ausmaß durch staatliche Interventionen bekämpft, Krankheiten durch spezielle Maßnahmen eingedämmt, sobald sie als epidemisch eingestuft werden oder bestimmte Häufungen von Verbrechen mit besonderer polizeilicher Präsenz bekämpft (vgl. Foucault 2004: 19, 57 ff.). Dabei spielen nicht allein die Techniken der Wissenserzeugung eine zentrale Rolle für die Gouvernementalisierung des Staates, vielmehr prägt die ökonomische Rationalität die gesamte Logik des Regierens. Diese Liberalisierung des Regierens, die Foucault am Beispiel des amerikanischen Marktliberalismus untersucht, zielt auf die Universalisierung von Marktprinzipien durch den Staat, um so in letzter Konsequenz die »Differenz zwischen Sozialem und Ökonomie überhaupt zu eliminieren« (Lemke 2001: 116). Die Verschränkung von Sicherheit, Neoliberalismus und Regierung hat seit der Formulierung des Konzepts der Gouvernementalität durch Foucault eine immense Anzahl an zeitdiagnostischen und gesellschaftstheoretischen Ausarbeitungen erfahren. Sie können in ihrer Vielzahl kaum referiert werden, sollen jedoch im abschließenden Abschnitt zumindest schlaglichtartig benannt werden. 4. Soziologische Resonanzen Die Arbeiten Foucaults zum Themenkomplex Macht und Subjektivierung haben seit den 1990er-Jahren zunehmend auch in der deutschsprachigen Soziologie vielfältige Resonanzen erzeugt. Nach der Überwindung der einleitend geschilderten Rezeptionsblockaden, die vor allem im Kontext der »Frankfurter« Sozialphilosophie und der »Bielefelder« Sozialgeschichte errichtet worden waren, zeigten sich Parallelen und Berührungspunkte zu tradierten soziologischen Fragen und Debatten. Zugleich-- wiederum über den Umweg der angloamerikanischen Sozialwissenschaft-- wurden Foucaults Arbeiten als Grundlage verschiedener interdisziplinärer soziologienaher Forschungsfelder wie etwa den Gender Studies, den Cultural Studies und nicht zuletzt den Governmentality Studies auch in breiteren disziplinären Zusammenhängen diskutiert. Beide Resonanzmilieus sollen in diesem letzten Abschnitt überblicksartig kartiert werden. Innerhalb der soziologischen Theoriediskussion sind seit den 1990er-Jahren zunehmend die produktiven Potenziale und sozialtheoretischen Berührungspunkte in den Arbeiten Michel Foucaults ausgelotet worden. Dabei stand zunächst vor allem das Konzept der Disziplinarmacht im Fokus des Interesses, verknüpft die Soziologie die Frage nach der sozialen Integration doch seit den Klassikern mit der Frage sozialer Disziplinierung und Herrschaft (Bublitz 2008: 390). Machttheoretisch gerieten dabei die Differenzen und Berührungspunkte zwischen klassischen Machtbe- <?page no="208"?> Poststrukturalismus 209 griffen wie etwa bei Weber oder Habermas und dem Foucault’schen Konzept in den Fokus (Lemke 2001a; Inhetveen 2008). Auf der Ebene allgemeiner Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose wurde das Verhältnis zwischen Disziplinargesellschaft und differenzierungstheoretischen Entwürfen ausgeleuchtet (Kneer 1996). Der Zusammenhang zwischen Disziplinierung und Subjektivierung wurde dabei vor allem mit der Zivilisationstheorie von Norbert Elias in Dialog gebracht, der ja bereits das Individualität erzeugende Wechselspiel zwischen zunehmender sozialer Kontrolle und internalisierter Selbstkontrolle analysiert hat (Kim 1995; Binkley/ Ernst 2010). Diese zumeist rekonstruierend vergleichenden Annäherungen haben Foucault als anschlussfähigen Autor lesbar gemacht und punktuelle Aspekte seiner Arbeit soziologisch reformuliert. Eine umfassende Hinwendung zum Foucault’schen Forschungsdreieck Macht-Wissen-Subjekt vollzieht sich in den vergangenen Jahren vor allem unter dem missverständlichen Label einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft (Stäheli 2000; Moebius/ Reckwitz 2008). Darunter ist wie eingangs geschildert weniger eine einheitliche Schule zu verstehen, als ein Ensemble von Denkarten, welche die Idee fester Identitäten (der Gesellschaft, der Subjekte, der Sozialstruktur, der Institutionen etc.) verweigern und die Identitätsproduktion mit all ihren Brüchen und kontingenten Grenzziehungen in den Fokus rücken (vgl. Stäheli 2000: 69 f.). Im Zuge dieser Konjunktur kommt der Arbeit Foucaults in der deutschsprachigen Rezeption eine so zentrale Stellung zu, dass sein Name teilweise als Synonym für eine sich poststrukturalistisch verstehende Soziologie generell verwendet wird. 3 Eine wesentliche Rezeptionslinie bilden dabei Studien aus dem Bereich der Gender Studies, die zumeist anschließend an die Foucault Rezeption Judith Butlers die Genealogie genderbezogener Subjektivierungsprozesse analysieren (vgl. als Überblick Villa 2012). Aber auch der Zusammenhang zwischen Subjektivierung und Normalisierung wurde soziologisch weiter ausgeleuchtet und zu einer Theorie des Umgangs der modernen Gesellschaft mit ihrer eigenen, überbordenden Kontingenzproduktion weiterentwickelt (Link/ Neuenhoff 2003). Die breiteste und wirkmächtigste Rezeption der Foucault’schen Arbeiten erfuhren jedoch in den vergangenen Jahrzehnten die Vorlesungen zum Konzept der Gouvernementalität. Hier ist die Rezeption im deutschsprachigen wie im internationalen Diskurs so weit fortgeschritten, dass man die Etablierung eines eigenständigen Forschungsfeldes der Governmentality Studies beobachten kann (Burchell/ Gordon/ Miller 1991). Zunächst fanden Foucaults Thesen vor allem in der französischen Debatte Resonanz, was natürlich auch dem Umstand geschuldet war, dass die entsprechenden Vorlesungsmanuskripte erst seit den 1990erbzw. 2000er-Jahren in englischer bzw. deutscher Übersetzung vorliegen. Eine Reihe seiner Schüler untersuchte vor allem in historisch genealogischer Perspektive die Gouvernementalisierung des Staates sowie einzelner Lebensbereiche wie etwa die Familie (Donzelot 1980, Ewald 1993). Diese genealogisch orientierte Rezeptionslinie wurde in den 1990er-Jahren im angloamerikanischen Raum durch eher gegenwartdiagnostische Arbeiten abgelöst. In einer Vielzahl von Studien rückt immer stärker die Verschränkung von Fremd- und Selbstregierung der Subjekte unter neoliberalen Bedingungen in den Mittelpunkt (Rose 1996, Brown 2006, als Überblick: Binkley/ Capetillo 2009). Damit finden beide Aspekte der Gouvernementalität- - Führung (gover) durch Regierung und subjektiv/ subjektivierende Denkweise (mentalite)- - stärkere Berücksichtigung als in einer eher historisch orientierten Perspektive (vgl. Dean 1999: 16 ff.). Im Rahmen dieses Forschungsprogramms finden sich zahlreiche Studien zu einzelnen Aspekten neoliberalen Regierens-- bspw. über die Kontrolle von Krimina- 3 Diese Fokussierung bedeutet auch eine bedauerliche Verkürzung, da andere poststrukturalistisch argumentierende Autorinnen teilweise sehr viel expliziter gesellschaftstheoretisch argumentiert haben. Vgl. nur zu einem diskursiven Gesellschaftskonzept Laclau/ Mouffe 1991. <?page no="209"?> 210 Sina Farzin lität, Terrorismusbekämpfung, Gesundheitsvorsorge und -politik, Versicherungswesen, Altern, Städteplanung, etc. (einen Überblick über die deutschsprachige Forschung geben Bröckling/ Hempel/ Krasmann 2010; Angermüller/ van Dyk 2010; Bröckling/ Krasmann/ Lemke 2000) -- sowie zur Neoliberalisierung der Subjektivierung selbst (Bröckling 2007; Opitz 2004). Diese Vielfalt der Themen, die hier nur schlagwortartig deklariert und nicht referiert werden kann, deutet bereits auf ein produktives und lebendiges Forschungsfeld, das sich im Anschluss an Foucault in der deutschsprachigen Soziologie zunehmend institutionalisiert. Problematisch ist diese Engführung der Foucault-Rezeption im Bereich der Gouvernementalitätsforschung unabhängig von ihrer mannigfaltigen empirischen Umsetzung jedoch mindestens aus zwei Gründen. Sie führt einerseits zu einer Verabsolutierung der Foucault’schen Ideen zu feststehenden Begriffen, da die zentralen Konzepte kaum hinterfragt oder erweitert werden. Häufig verwendet man sie bruchlos zur Beschreibung empirischer Zusammenhänge, die dann tatsächlich (und ganz gegen Foucaults proklamierte Intention) als homogene und isolierte Diskurse »objektiviert« werden (Gertenbach 2012: 124). Andererseits laufen die Gouvernementalitätsstudien in ihrer Fokussierung auf Michel Foucault als singulären Begriffsgeber Gefahr, sich in eine Art theoretische Isolation zu manövrieren, die kaum eine interparadigmatische Verbindung mit anderen theoretischen Ansätzen innerhalb der Disziplin zulässt (Lemke 2000: 45 ff.). Beide Aspekte finden aktuell zunehmend Eingang in die Debatten (Krasmann/ Volkmer 2007). Es wird auch vom Ergebnis dieser Diskussionen abhängen, inwieweit es gelingt, Foucaults Arbeiten in einem breiteren theoretischen Kontext lesbar zu machen und sie so dauerhaft in der Soziologie zu verankern. Literatur Angermüller, Johannes (2007): Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld. Angermüller, Johannes/ van Dyk, Silke (Hg.) (2010): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt/ M. Binkley; Samuel/ Capetillo, Jorge (2009) (Hg.): A Foucault for the 21st Century: Governmentality, Biopolitics and Discipline in the New Millennium, Cambridge Binkley, Samuel/ Ernst, Stefanie (Hg.) (2010): Foucault Studies 8: Special Section on Michel Foucault and Norbert Elias. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/ M. Bröckling, Ulrich/ Hempel, Leon/ Krasmann, Susanne (Hg.) 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Wehler, Hans-Ulrich (1998): Die Herausforderung der Sozialgeschichte, München. <?page no="212"?> 213 Robin Celikates Praxistheorie: Pierre Bourdieu Pierre Bourdieu gilt als wichtigster französischer Soziologe seit Émile Durkheim und als einer der Hauptvertreter der Praxistheorie (manchmal auch: Praxeologie)-- also jener Familie nicht kognitivistischer und nicht individualistischer Gesellschaftstheorien, in deren Zentrum weder einzelne Handlungen noch makrosoziale Strukturen, sondern-- als vermittelndes Glied-- soziale Praktiken stehen und zu der auch die Ansätze von Erving Goffman, Charles Taylor und Anthony Giddens gezählt werden können. Diese Herangehensweise ist in der soziologischen Theoriebildung inzwischen derart einflussreich geworden, dass sogar von einem practice turn die Rede ist (vgl. Schatzki et al. 2001; Reckwitz 2003). 1930 in einem Dorf in den Pyrenäen geboren und aus einfachen Verhältnissen stammend, erlebte Bourdieu eine glänzende, von der Philosophie über die Ethnologie zur Soziologie führende akademische Karriere, die 1981 mit der Berufung ans renommierte Collège de France ihren Höhepunkt fand und die ihn selbst angesichts der Struktur des wissenschaftlichen Feldes in Frankreich vor ein soziologisches Rätsel stellte (vgl. Bourdieu 2002). In den Jahren vor seinem Tod 2002 wurde Bourdieu zudem zu einem der führenden öffentlichen Intellektuellen und engagierte sich in Frankreich und Europa gegen soziale Ungleichheit und die Prekarisierungseffekte neoliberaler Politik (Bourdieu 2004b; ders. et al. 1997; vgl. den Überblick zu Leben und Werk in Fröhlich/ Rehbein 2009 und Jurt 2008). Kennzeichnend für Bourdieus Ansatz ist, dass seine Theoriebildung immer auf der Basis von und im Austausch mit empirischer Forschung erfolgt. Die weit über die Soziologie hinaus und zum Teil sogar in die Alltagssprache wirkenden Grundbegriffe seiner Theorie wie Habitus, soziales Feld, symbolische Gewalt und symbolisches Kapital strukturieren nicht nur seine Analyse der sozialen Wirklichkeit, sondern sind zugleich durch seine Feldstudien geprägt. Diese decken eine immense Bandbreite an Themen und Fragestellungen ab: von der Krise der traditionellen algerischen Gesellschaft und der »Illusion der Chancengleichheit« im französischen Bildungssystem über die symbolische Bedeutung des Eigenheims bis zur Manifestation sozialer Ungleichheit in den »feinen Unterschieden« legitimen Geschmacks und den Funktionsweisen der »männlichen Herrschaft«. Das in diesen Studien fundierte allgemeine Theorieprogramm findet sich in inzwischen als Klassiker der Sozialtheorie geltenden Büchern wie Entwurf einer Theorie der Praxis (1972/ 1976), Sozialer Sinn (1980/ 1987) und Meditationen (1997/ 2001) ausgearbeitet. Dabei erhebt Bourdieus Praxistheorie, die sowohl den »praktischen Sinn« (also das implizite, verkörperte Wissen) der Akteure als auch die makrostrukturelle Reproduktion sozialer Ungleichheit systematisch zu berücksichtigen versucht, den Anspruch, eine Reihe von Dualismen zu überwinden: An die Stelle des Gegensatzes zwischen Handlungstheorien und Strukturtheorien sowie zwischen Subjektivismus und Objektivismus tritt bei ihm eine selbstreflexive und relationale, um die Begriffe Struktur, Habitus und Praxis zentrierte Soziologie (Abschnitt 2), die zudem eine Analyse sozialer Klassenkämpfe (inklusive einer allgemeinen Ökonomie sozialer Praktiken) <?page no="213"?> 214 Robin Celikates mit einem kultursoziologischen Gespür für symbolische Klassifikationskämpfe verknüpft. Relational ist diese Theorie, insofern sie das für den Alltagsverstand ebenso wie die konventionelle Soziologie charakteristische Denken in Substanzen (etwa Individuen und sozialen Gruppen mit eindeutig identifizierbaren Eigenschaften) ablehnt und den sozialen Raum statt dessen als Ensemble von Relationen begreift, innerhalb derer sich Positionen immer nur relativ zu anderen Positionen bestimmen lassen. Wie sich im Folgenden jedoch zeigen wird, ist Bourdieus Werk trotz aller Vermittlungsbemühungen durch strukturalistische, objektivistische und ökonomistische Tendenzen geprägt, die nicht zuletzt der engen Verschränkung seiner praxistheoretischen Grundannahmen mit der methodologischen These eines Bruchs zwischen der Perspektive der »gewöhnlichen« Akteure und der epistemisch privilegierten, da sozialwissenschaftlich fundierten Beobachterperspektive geschuldet sind (Abschnitte 1 und 3). Die daraus resultierenden Probleme haben zu zahlreichen Kritiken und zur Suche nach Alternativen auch aus der praxistheoretischen Perspektive geführt (Abschnitt 4). 1. Methodologie: Der Gabentausch und die Notwendigkeit des-doppelten-Bruchs Bourdieus sozialtheoretisches Werk ist durchzogen von methodologischen Reflexionen über den Status der Soziologie und die Rolle des Soziologen. In diesen Reflexionen stellt sich Bourdieu dezidiert in eine auf Durkheim zurückgehende Traditionslinie, die sich durch zwei Operationen bestimmen lässt: die wissenschaftstheoretische Abgrenzung der Wissenschaft vom Common Sense sowie dessen epistemologische Disqualifizierung und die im engeren Sinne methodologische (also forschungspraktische) Forderung, wissenschaftliche Erkenntnis im systematischen Bruch mit sowie gegen den Widerstand von Common Sense, bloßer Meinung und Ideologie zu erreichen (vgl. ausführlicher Celikates 2009: 41 ff.). Dementsprechend formuliert Bourdieu das erste methodologische Prinzip, nach dem sich die Sozialwissenschaft zu richten habe, schon früh wie folgt: »Der wissenschaftliche Tatbestand wird gegen die Illusion des unmittelbaren Wissens errungen.« (Bourdieu et al. 1991: 15) Die Soziologie als Wissenschaft befindet sich demnach im ständigen Kampf mit der »Spontansoziologie« der »gewöhnlichen« Akteure. Um sich als wirkliche Wissenschaft zu konstituieren, muss die Soziologie die naive »Primärphilosophie des Sozialen« zurückweisen, welche die soziologische Analyse zu kontaminieren droht (ebd.: 17, 28). Damit geraten die Sozialwissenschaften in einen strukturellen Konflikt mit dem Selbstverständnis der Akteure, denn diese meinen in ihrer Naivität zu wissen, was sie tun. Dabei handelt es sich um eine »Illusion der Reflexivität« (ebd.: 29), weil sich die Akteure der sozialen Bedingtheit und Vermitteltheit dessen, was sie als gegeben und unmittelbar einleuchtend wahrnehmen, gar nicht bewusst sein können-- weil sie also gerade nicht wissen, was sie tun. Nur von einem Standpunkt außerhalb ihrer Praktiken und im Bruch mit ihrem Selbstverständnis und dem Common Sense lässt sich erkennen, was sie selbst nicht zu sehen in der Lage sind. Diese methodologische Prämisse von Bourdieus Werk verdankt sich ebenso wie seine Theorie der sozialen Praxis nicht zuletzt der Analyse eines auf den ersten Blick etwas marginalen Phänomens- - nämlich des Gabentausches bei den Kabylen, einem Stamm in Algerien, zu dem Bourdieu seine ersten Feldforschungen durchgeführt hat. Dort wird Bourdieu mit einem Szenario konfrontiert, dem er das Rätsel entnimmt, an welchem er sich fortan abarbeiten wird (vgl. Schultheis 2004): Was geschieht eigentlich, wenn etwa bei einer Hochzeit großzügige Geschenke gemacht werden? Die Akteure selbst nehmen die jeweiligen Gaben im Normalfall genau so, nämlich als äußerst großzügig wahr. Sie fassen sie außerdem als freiwillige Akte des Gebens auf, <?page no="214"?> Praxistheorie 215 die insofern unabhängig voneinander sind, als sie sich nicht miteinander verrechnen lassen. Der eine schenkt dem anderen nicht, um seinerseits wieder beschenkt zu werden, sondern weil er ihm aufrichtig seine Ehrerbietung erweisen möchte. Der andere erwidert das Geschenk nicht, weil er sich in der Schuld des ersten fühlt, sondern schenkt seinerseits aus Ehrerbietung. Eine phänomenologisch oder hermeneutisch orientierte ethnologische oder soziologische Beschreibung wird an erster Stelle dieses Selbstverständnis der Akteure zu rekonstruieren und das Phänomen »aus der Perspektive des Eingeborenen« (Geertz) zu verstehen suchen. Als Beispiel für eine solche Beschreibung führt Bourdieu wiederholt Marcel Mauss’ (1984) Aufsatz über Die Gabe an. Darin analysiert Mauss, der Neffe und Schüler Durkheims, die eigentümliche Verschränkung von Reziprozität und Nichtreziprozität sowie von Freiwilligkeit und Verpflichtung, wie sie die Erfahrung der Akteure im für den Gabentausch charakteristischen Zyklus von Geben, Nehmen und Erwidern prägt. Dass Mauss dabei zu stark an die Perspektive der Teilnehmer gebunden bleibe und deren naive Selbstbeschreibung reproduziere, darin stimmt Bourdieu mit Claude Lévi-Strauss (2004) überein. Letzterer fordert gegenüber der phänomenologischen Herangehensweise eine objektivistische Analyse des Austauschzyklus, die sich von den Erfahrungen und Selbstdeutungen der Akteure nicht irreführen lässt. Nur so werde erkennbar, dass der Tausch den Beteiligten selbst unbewussten Gesetzen folgt und damit eine Struktur instantiiert, die wesentlich übersubjektiv ist. Wie die Gabe von den Teilnehmern der Praxis erlebt wird, ist eine Sache-- was tatsächlich passiert, eine ganz andere. Das ist auch für Bourdieu eine Wahrheit, die erst durch den objektivistischen Bruch mit dem Selbstverständnis und der Perspektive der Teilnehmer in den Blick kommt. Bourdieu zufolge handelt es sich dabei aber nur um die halbe Wahrheit (vgl. Bourdieu 1976: 217 ff.; 1987: Kap. 6). Während für Lévi-Strauss und alle anderen objektivistischen-- also etwa strukturalistischen und marxistischen-- Ansätze die erlebte Wahrheit der Teilnehmer gar keine Rolle mehr spielt und höchstens nebenbei erklärt wird, gehört diese für Bourdieu wesentlich zum Phänomen, das verstanden und erklärt werden soll. Die subjektive Erfahrung des Tausches ist konstitutiver Bestandteil der soziologisch zu verstehenden und zu erklärenden Realität und lässt sich deshalb nicht, wie im Strukturalismus, ausblenden. Die epistemologische Operation des Bruchs muss also komplexer verstanden werden. Besonders deutlich zeigt sich dieses Defizit der objektivistischen Betrachtungsweise Bourdieu zufolge daran, dass in ihr die zeitliche Dimension des Gabentausches verlorengeht. Für die Praxis des Gabentausches ist die zeitliche Struktur, ihre spezifische Temporalität jedoch konstitutiv. Die Gegengabe muss zeitlich verzögert erfolgen und sich auch sonst von der ursprünglichen Gabe unterscheiden. Erst die temporale Struktur ermöglicht die Praxis als Ganzes und im Rahmen der Praxis wiederum den Einsatz von Strategien, die mit dem Tempo und dem Timing der Transaktion spielen. Neben der Eröffnung des Spielraums für solche Strategien, die das objektivistische Verständnis nur als Abweichungen vom Modell verbuchen, nicht aber als wesentliche Merkmale der Praxis selbst verstehen kann, liegt die Verzögerung zwischen den Handlungen noch einem weiteren konstitutiven Merkmal der Praxis zugrunde. Erst die spezifische Zeitlichkeit der Praxis macht es nämlich möglich, dass der von Bourdieu diagnostizierte eigentlich ökonomische Charakter der Tauschhandlungen, die nur scheinbar nicht dem Eigeninteresse der Akteure dienen, verdeckt und verkannt wird (vgl. Bourdieu 1987: 193). Gäbe es das zeitliche Intervall nicht, so könnte man zwischen dem Gabentausch und einer gewöhnlichen Markttransaktion, zwischen Gabe und Ware gar nicht unterscheiden. Dieser Unterschied aber definiert für die Akteure gerade die Praxis des Gabentausches, auch wenn ihm aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Beobachterin nur eine relative Gültigkeit zukommen kann. Die von der soziologischen Beobachterin erkannte Wahrheit über den Tausch-- dass es sich nicht um Akte des interesselosen Gebens handelt, sondern um einen sublimierten Kampf um <?page no="215"?> 216 Robin Celikates symbolische Macht und materielle Vorteile-- kann in der offiziellen Beschreibung des Tausches aus der Teilnehmerperspektive gar nicht vorkommen. Was die Akteure objektiv tun, kann nicht mit dem zusammenfallen, was sie subjektiv zu tun meinen: Die Praxis funktioniert nur, »weil die Subjekte im eigentlichen Sinne nicht wissen, was sie tun« (Bourdieu 1976: 179). Diese konstitutive Ambivalenz des Verhältnisses der Akteure zur Praxis des Gabentausches bezeichnet Bourdieu als die »doppelte Wahrheit der Gabe«: Die Gabe ist einerseits eine großzügige Geste, die völlig rein von Eigeninteresse und Kalkül ist-- andererseits untersteht sie ebenso faktisch einer Tauschlogik, welche die involvierten Parteien ihrem »zwanglosen Zwang« unterwirft; der offiziellen Logik der Ehre und des Gebens steht die inoffizielle und uneingestandene Logik der Ökonomie gegenüber (vgl. Bourdieu 1976: 46). Das aber vermag allein die sozialwissenschaftliche Beobachterin zu erkennen-- den Akteuren selbst ist nur die halbe Wahrheit zugänglich. Auch wenn der Bruch mit der Teilnehmerperspektive als komplexe Operation verstanden werden muss, ist er doch unvermeidlich. Ein adäquates Verständnis des Gabentausches setzt damit einen zweifachen Bruch voraus: den primären Bruch mit der Teilnehmerperspektive, weil nur so der eigentlich ökonomische Charakter des Tausches in den Blick kommt, und den sekundären Bruch mit dieser objektivistischen Perspektive, weil in ihr unverständlich wird, warum die Teilnehmer der Praxis den Tausch so verstehen, wie sie ihn verstehen. Bourdieu zufolge kann nur der zweite Bruch den »Theorie-Effekt« verhindern, der die externe Beobachterin glauben macht, ihr Modell entspreche der Realität (vgl. Bourdieu 1997). Die soziologische Beobachterin hat im Gegensatz zu den Handelnden die Zeit und die Muße (scholē) zu totalisieren, zu enttemporalisieren, in Distanz zur Hektik des Geschehens zu gehen, gelassen abzuwarten und zu beobachten. In Wirklichkeit führt ihr Modell damit jedoch zu einer Reihe von Verzerrungen der Praxis: zu einer Synchronisierung ihres Vollzugscharakters, zu einer Neutralisierung ihrer Kontextgebundenheit und zu einer Enthistorisierung ihres Gewordenseins. Die rein theoretische Sicht auf die Praxis ist sich dieses »scholastischen Fehlschlusses« nicht bewusst und blendet den Widerspruch aus, der zwischen der Zeitlosigkeit der theoretischen Reflexion und jener Zeit der Praxis besteht, die nur in ihrem Vollzug produziert wird und erlebbar ist (vgl. Bourdieu 1998: Kap. 7; 1987: 148 f.; 2001a). Diese Entzeitlichung verdeckt die für die Praxis charakteristische Ungewissheit und Nicht-Kalkulierbarkeit-- jene Logik der Praxis, die für Bourdieu im Gegensatz zur »logischen Logik« der Reflexion steht (vgl. Bourdieu 1976: 248 ff.). Der Analyse des Gabentausches wird von Bourdieu ein in doppelter Hinsicht paradigmatischer Status zugewiesen: Zum einen soll am Gabentausch die methodologische Differenz von Phänomenologie und Objektivismus sowie die Überlegenheit seines eigenen Ansatzes demonstriert werden; zum anderen wird das so entwickelte Modell einer ökonomischen Analyse scheinbar nicht ökonomischer Praktiken sowie die Diagnose der Verkennung des ökonomischen Charakters und des präreflexiven Verhältnisses der Akteure zu ihrer Praxis auf alle Formen von Praxis ausgeweitet. Auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Praktiken können von ihm so als strukturgleich behandelt werden: der Gabentausch, der innerfamiliäre Tausch zwischen Generationen (als Dankbarkeit und Liebe verklärt), der Markt für kulturelle Güter (dessen Ökonomie sich als verkehrte Welt darstelle, in der es um die reine Kunst gehe, und nicht etwa um einen Kampf um Anerkennung und symbolisches Kapital) und das religiöse Feld (in dem die Kirche als Wirtschaftsunternehmen nur funktioniere, insofern sie sich gerade als Unternehmen verneine). Die Analyse des Gabentausches erweist sich damit als Grundlage von Bourdieus »allgemeiner Wissenschaft der Ökonomie der praktischen Handlungen«, seiner Diagnose des strukturell präreflexiven Charakters der Praxis und seiner Forderung nach einem Bruch mit dem Selbstverständnis der Akteure. <?page no="216"?> Praxistheorie 217 2. Sozialtheoretische Grundbegriffe: Struktur, Habitus und Praxis Wie bereits bemerkt, ist es das dem Ansatz Bourdieus zugrunde liegende methodologische Ziel, die Dualismen von Akteurs- und Strukturtheorie, von Mikro- und Makro-Perspektive, von Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden und damit die Einseitigkeiten phänomenologischer wie strukturalistischer Ansätze zu vermeiden (vgl. Bourdieu 1976: 146 ff.; 1987: 49 ff.; Müller 2002; Strecker 2012, 2.4). Dieses Ziel soll durch eine relationale Theorie erreicht werden, die weder die Seite der objektiven sozialen Strukturen noch jene des Handelns in konkreten Kontexten verabsolutiert. Als Bindeglied zwischen den beiden Polen der Struktur und der Praxis fungiert dabei der Habitus (vgl. Krais/ Gebauer 2002). Diese allgemeinen Überlegungen buchstabiert Bourdieu dann aber nicht mit Bezug auf Gesellschaft als solche, sondern mit Bezug auf verschiedene, in einem historischen Differenzierungsprozess entstandene soziale Felder aus, die (ob es nun das Feld der Kunst, der Wissenschaft, der Ökonomie oder der Politik ist) alle ihrer eigenen, von den anderen relativ unabhängigen Logik folgen und in denen es um einen jeweils spezifischen »Einsatz« geht, um den sich die sozialen Kämpfe drehen. Allerdings sind vor allem aus zeitdiagnostischer und gesellschaftskritischer Perspektive auch die Relationen zwischen den Feldern von Bedeutung, etwa wenn Bourdieu in seinen späteren Arbeiten den Fokus auf die Intrusion ökonomischer Logiken in andere Felder, also die umfassende Ökonomisierung des Sozialen (etwa der Bildung) richtet. Als Habitus bezeichnet Bourdieu die durch Internalisierung objektiver sozialer Lebensbedingungen ausgeprägten Dispositionen der Akteure, die wiederum ihr Handeln und Denken strukturieren. Der Habitus ist zum einen erworben, weil er sich auf Erziehung, Sozialisation und Konditionierung zurückführen lässt; er ist zum anderen generativ und produktiv, weil er die Erfahrungs-, Handlungs- und Denkweisen der Akteure strukturiert und hervorbringt. Da die Prägung des Habitus nicht im luftleeren Raum, sondern stets unter konkreten sozialen Bedingungen stattfindet, ist er nicht nur strukturierend, sondern selbst strukturiert-- und zwar durch die sozialen Bedingungen, unter denen die Akteure leben. Der Habitus ist, wie Bourdieu immer wieder formuliert, deshalb zugleich modus operandi (Art des Vorgehens und Handelns) und opus operatum (selbst ein Produkt) (vgl. etwa Bourdieu 1987: 98 f.). Die Funktionsweise des Habitus ist so dauerhaft und stabil wie vereinheitlichend und übertragbar, also in verschiedensten Handlungskontexten auf eine Weise wirksam, die dem Handeln der Akteure (wie sie essen, sich kleiden, gehen, denken, sprechen- - »funktionieren«) einen jeweils eigenen »Stil« verleiht. Die von Bourdieu diagnostizierte Übereinstimmung von Strukturen und Praktiken wird demnach »genetisch« erklärt, nämlich über die Verinnerlichung von Strukturen, die im habituell geprägten Handeln dann wieder »veräußert« werden. Wie wir handeln, ist Bourdieu zufolge deshalb nicht primär als Resultat bewussten Entscheidens oder des Befolgens von Regeln zu verstehen, sondern als durch unseren jeweiligen Habitus geprägt. Um die umfassende und einheitsstiftende Prägung des Verhaltens durch den Habitus zu betonen, spricht Bourdieu eher von Praxis und Praktiken als von einzelnen Handlungen. Wir wachsen in die Praktiken, an denen wir teilnehmen, und in die sozialen Spiele, die wir zu spielen verstehen, also etwa in die Praxis des Gabentausches, hinein und verinnerlichen-- verkörpern im wörtlichen Sinne-- von früh an, welche Meinungen und Handlungen unsere Umgebung von uns erwartet. Der Habitus ist für Bourdieu deshalb ganz wesentlich körperliche hexis, »das Körper gewordene Soziale« (Bourdieu/ Wacquant 1996: 161). Vermittelt über den Habitus strukturieren die sozialen Strukturen Erfahren, Handeln und Denken des Individuums, ohne sie vollständig zu determinieren. Die Akteure befinden sich stets innerhalb eines Systems von Möglichkeiten, dessen Grenzen nur dann spürbar werden, wenn sie an die für die jeweilige Praxis und die eigene Stellung in ihr konstitutiven Schranken geraten und sich im wörtlichen Sinne »deplatziert« verhalten. <?page no="217"?> 218 Robin Celikates Durch ihren jeweiligen Habitus werden die Handelnden mit einem praktischen Sinn, einem Gefühl für die Spiele, an denen sie als soziale Akteure beteiligt sind, ausgestattet. Der Sinn für das Spiel ist ein Sich-Auskennen, ein Gefühl für den eigenen Platz, ein savoir-faire, und als solcher zugleich ein Sinn für die Möglichkeiten wie für die Grenzen des Spieles und seiner jeweiligen Spieler. Dieser Orientierungssinn ermöglicht den Akteuren die praktische Vorwegnahme wahrscheinlicher Handlungsverläufe und sorgt für die unbewusste Anpassung an das objektiv Mögliche (vgl. Bourdieu 1982: 734; Bourdieu 1987: 122). Er versetzt die Akteure aber auch in die Lage, mit einer gewissen Flexibilität zu reagieren, da mit dem Habitus die Fähigkeit verbunden ist, zu improvisieren und in neuen und immer wieder verschiedenartigen Situationen zu handeln-- allerdings stets in einer Weise, die dem eigenen Habitus und (vermittelt über dessen Prägung) der objektiven Position auf dem sozialen Spielfeld entspricht. Das jeweilige Feld (ob es nun das der Kunst, der Wissenschaft, der Ökonomie oder der Politik ist), auf dem die Spieler interagieren, ist dabei bestimmt durch die objektiven Verhältnisse zwischen den Positionen der Akteure, die wiederum auf der jeweiligen Verfügung über (soziale, kulturelle und ökonomische) Formen der Macht und des Kapitals beruhen. Die Akteure sind in eine Art permanenten Kampf um die Behauptung und Verbesserung ihrer Positionen auf dem Feld der Kräfteverhältnisse verstrickt, auch wenn sie ihr Handeln gar nicht bewusst daran ausrichten und ihre Praxis vielleicht sogar auf einer Verkennung dieser Tiefenstruktur beruht. Bourdieus Analyse des akademischen Feldes am Beispiel des französischen Hochschulsystems kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten (vgl. Bourdieu 1988): Die Spieler konkurrieren, angetrieben durch das von Bourdieu auch als illusio bezeichnete feldspezifische Interesse an Erkenntnis um die Akkumulation verschiedener Formen wissenschaftlichen Kapitals (Reputation und andere Formen symbolischen Kapitals auf der einen, staatlich zuerkannte Machtpositionen und andere Formen institutionalisierten Kapitals auf der anderen Seite) und reproduzieren so-- unter anderem durch den Einsatz spezifischer Distinktionsstrategien (etwa: wer bereitet mit wem durch wen finanzierte Forschungsprojekte vor? )-- das soziale Feld als durch die entsprechenden Kämpfe dynamisiertes und zugleich stabilisiertes Kräfteverhältnis. Trotz der praxistheoretischen und relationalen Ausrichtung seiner Theorie, tendiert Bourdieu selbst immer wieder zu eher »mechanistischen« Beschreibungen des Zusammenhangs von Struktur, Habitus und Praxis, von denen er dann behaupten muss, dass sie gar nicht so deterministisch gemeint sind, wie sie klingen. Die Akteure verhalten sich so, wie sie sich verhalten, aufgrund ihres »Habitus als eines inkorporierten Programms (durchaus im Sinne der Informatik verstanden)«; sie agieren »als ebenso viele sowohl voneinander unabhängige als auch objektiv aufeinander abgestimmte kognitive Maschinen«, die »nach der Formel [(Habitus) (Kapital)] + Feld =-Praxis« funktionieren, auch wenn sie ihr Handeln durchaus als selbstbestimmt und frei erleben mögen (Bourdieu 1982: 666, 175; 2004a: 14). Damit droht das Handeln aber in die »quasizirkulären Verhältnisse quasi-vollkommener Reproduktion« eingeschlossen und zu einer bloßen Verlängerung externer Strukturen zu werden (Bourdieu 1987: 117). Das kommt auch in Bourdieus These von der objektiven Harmonisierung des Gruppenbeziehungsweise Klassenhabitus durch homogene Lebensbedingungen zum Ausdruck, die mit der Behauptung einhergeht, »individuelle Dispositionen« seien nichts als »strukturelle Varianten des Gruppen- oder Klassenhabitus« (Bourdieu 1976: 189). Der Habitus umfasst jedoch nicht nur praktische, das Handeln strukturierende Schemata, sondern auch dem Leib eingeschriebene, »somatisierte« kognitive sowie emotionale Strukturen und bestimmt deshalb die Weise, in der die Welt für ein bestimmtes Individuum »da« ist. Als eine Weise des »In-der-Welt-Seins« prägt der Habitus, wie ich in die Welt gestellt bin, und damit, wie ich die Welt und meine Stellung in ihr erfahre-- aber auch, wie ich mich zu ihr stellen, welche <?page no="218"?> Praxistheorie 219 Einstellungen ich zu mir sowie zu meiner Umwelt einnehmen kann. Er umfasst die geteilten Interpretationsschemata, die das, was als Welt des Common Sense erfahren wird, erst produzieren. Dabei besteht eine zentrale Leistung des Habitus als Erfahrungsspeicher in der Entlastung der Akteure vom Reflexionsdruck, in der Reduktion von Unsicherheit und Komplexität durch die Bereitstellung von als unkontrovers, weil als natürlich erfahrenen Handlungs-, Denk- und Bewertungsschemata, die Bourdieu auch als doxa bezeichnet, um neben der Funktion der Entlastung zugleich ihren präreflexiven und reflexionsbegrenzenden Charakter zu verdeutlichen. Als zweite Natur entlastet der Habitus nicht nur von Reflexion und ermöglicht präreflexives Verhalten; er stellt auch eine Grenze der Reflexion dar. Die Möglichkeit einer distanzierenden Bezugnahme auf den eigenen Habitus und die durch ihn generierten Handlungen scheint für die Träger eines jeweiligen Habitus nicht vorgesehen. Da der Habitus Erfahren, Wahrnehmen, Denken, Beurteilen und Handeln strukturiert und auf diese Weise experienzielle, perzeptive, kognitive, evaluative und praktische Schemata etabliert, schränkt er den von der Akteurin als gegeben erfahrenen Horizont des Möglichen ein. Der Habitus ist deshalb ein entscheidender Komplize in der Reproduktion sozialer Strukturen und Hierarchien. Die aus objektiven und symbolischen Strukturen bestehende soziale Ordnung tendiert dazu, sich selbst zu reproduzieren, indem sie sich in die Körper der Gesellschaftsmitglieder einschreibt und dadurch der Infragestellung entzieht. Beschleunigt sich der soziale Wandel und ändern sich die Feldstrukturen zu schnell, kann der Habitus der Akteure daher auch »hinterherhinken«; Bourdieu bezeichnet dies als hysteresis-Effekt, der einen langsamen und oft schmerzhaften Anpassungsprozess erfordern kann (wie im Fall der algerischen Landbevölkerung angesichts der mittels Enteignung und »Umsiedlung« vorangetriebenen Umstrukturierung der algerischen Gesellschaft). Die dauerhaften dispositionalen Strukturen, die den Habitus ausmachen, werden zugleich durch über Sozialisationsprozesse vermittelte soziale Strukturen strukturiert und strukturieren ihrerseits das Handeln und Denken des Individuums-- sie sind sowohl geformt als auch formend. Dementsprechend ist die Praxis der Individuen zugleich durch den Habitus strukturiert und wirkt (neu-)strukturierend auf die Struktur und darüber vermittelt auf den Habitus zurück. Als Produkte historisch situierter Praktiken werden soziale Strukturen wie auch individuelle Habitusformen permanent durch eben diese Praktiken nicht bloß reproduziert, sondern gleichzeitig verändert, wobei die Veränderungen entweder im Rahmen der Kreativität der Alltagspraxis sowie der für die jeweiligen Felder konstitutiven sozialen Kämpfe oder als Anpassungsleistungen an strukturelle Veränderungen etwa in anderen sozialen Feldern zu begreifen sind. Diese Dynamisierung des Verhältnisses von Habitus, Struktur und Praxis findet ihre Grenze allerdings in der recht statischen Idee der Rahmung aller praktischen Vollzüge durch die ersten beiden Dimensionen (vgl. etwa Sewell 2005, Kap. 4). Wie wir bereits am Beispiel des Gabentausches gesehen haben, ist die doxa der Teilnehmer einer sozialen Praxis, also ihr praktischer Glaube an das von ihnen als selbstverständlich Erfahrene, Bourdieu zufolge mit einer strukturellen Täuschung über diese Bedingungen und Bedingtheiten ihres Handelns verbunden. Nur aufgrund ihrer gleichzeitigen Anerkennung und Verkennung können soziale Praktiken als etwas Natürliches vollkommene Legitimität genießen (vgl. Bourdieu 1987: 122-124). Das soziale Spiel, das die Akteure als Teilnehmer einer bestimmten Praxis oder in einem bestimmten sozialen Feld spielen, kann von ihnen nicht in Frage gestellt werden. Diese Immunität gegen Reflexion und Infragestellung ist konstitutiv für das Funktionieren des Spiels und im Selbstverständnis der Akteure verankert. Genau das meint Bourdieu mit illusio: Die Akteure müssen sich auf eine Weise auf das Spiel einlassen und Interesse an ihm entwickeln, dass ihnen jede Distanzierungsfähigkeit abhandenkommt und die Illusion zu einem Teil ihrer Identität wird. Erst die unhinterfragte Akzeptanz der Regeln des Spiels garantiert als <?page no="219"?> 220 Robin Celikates feldspezifische doxa dessen reibungslosen Ablauf-- und damit im Großen die Reproduktion der sozialen Ordnung. In einer »kollektiven Euphemisierungsarbeit« (Bourdieu 1976: 376) inszenieren die Akteure die Konflikt- und Alternativlosigkeit der sozialen Welt, deren Funktionieren von ihrem stillen und präreflexiven Einverständnis abhängig ist. Als Verinnerlichung und Verkörperung objektiver sozialer Verhältnisse und ihrer symbolischen Repräsentationen spielt der Habitus deshalb eine zentrale Rolle in der »Verzauberung« sozialer Beziehungen, die sicherstellt, dass die Reflexion der Akteure immer einen Schritt zu spät kommt. Die Teilnehmer verkennen den eigentlich konventionellen und sozial instituierten Charakter ihrer Praktiken demnach notwendigerweise als natürlich und selbstverständlich. Vermittelt über die »performative Magie des Sozialen« (Bourdieu 1987: 107) wirkt der Habitus als einer der Pfeiler symbolischer Herrschaft- - jener Herrschaft, die von den Unterworfenen als natürlich und daher legitim anerkannt und durch die habituellen Dispositionen der Herrschaftsunterworfenen stabilisiert wird. Der Habitus übernimmt damit im Bourdieu’schen Denken in zweifacher Hinsicht eine der Ideologie analoge Funktion: Zum einen stützt er-- ganz im Sinne des Funktionalismus-- die Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt; zum anderen bleibt er- - ganz im Sinne der Idee des Bruchs- - in seinem Wirken für die in der doxa gefangenen Akteure undurchschaubar und kann deshalb alleine aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Beobachterin analysiert werden. Die quasiideologischen Überzeugungs- und Dispositionssysteme sind zugleich funktional notwendig und objektiv angemessen- - da sie auf die Inkorporierung der sozialen Strukturen zurückführbar sind und damit der objektiven Position im sozialen Feld entsprechen- - und notwendig falsch- - da sie eine fundamentale (und funktionsnotwendige) Verkennung ihrer eigenen Bedingungen, Ursachen und Effekte umfassen. Die durch den Habitus gestützte symbolische Herrschaft lebt allein von der Anerkennung der ihr Unterworfenen-- durch die habituelle Absicherung der Anerkennung entzieht sie sich aber jeder Infragestellung und Kritik. Damit scheint Bourdieu freilich den emanzipatorischen Anspruch seines eigenen Ansatzes zu unterlaufen. Auch wenn die Unterworfenen an ihrer Unterwerfung als Komplizen partizipieren, haben sie es nämlich gar nicht in der Hand, ihre Situation zu durchschauen oder gar zu verändern. Es scheint, als sei (zumindest radikaler) sozialer Wandel daher nicht nur relativ unwahrscheinlich, sondern zudem auf die Aufklärungsarbeit der kritischen Soziologie angewiesen. 3. Die Aufgabe der Soziologie: Sozialwissenschaft als Kritik Dass der jeweils eigene Habitus nicht zum Objekt der Reflexion werden kann, ist sicherlich eine der umstrittensten Thesen Bourdieus; dass die Praxis die Frage nach ihrer Begründung und ihrer Logik sowie Reflexion und Selbstbeobachtung nicht zulässt, ist, wie oben gesehen, eine ihrer Implikationen. Praktiken werden, so Bourdieu, »definitionsgemäß nicht reflektiert«, schließen »den Rekurs auf sich selbst« aus und folgen einer »vorlogischen Logik« (Bourdieu 1987: 50, 167; 1976: 248). Erst vom Standpunkt der wissenschaftlichen Beobachterin aus, die nicht in die Praxis involviert ist und nichts in das Spiel investiert hat, und die deshalb wenn schon nicht gänzlich desinteressiert, so doch zumindest an etwas gänzlich anderem, nämlich einer objektiven Analyse, interessiert ist, kommt die illusio und die Bedingtheit der Praxis als solche in den Blick. Der Bruch ist hier somit zugleich praktisch und epistemologisch. Die Fähigkeit der kritischen Selbstdistanzierung von alltäglichen sozialen Praktiken kommt nur der sozialwissenschaftlichen Beobachterin zu, die mit der Teilnehmerperspektive bricht. Denn die Beobachterin hat dem Handelnden voraus, »die Handlung von außen wie ein Objekt erfassen« zu können (Bourdieu 1987: 165; <?page no="220"?> Praxistheorie 221 vgl. Bourdieu/ Wacquant 1996: 100). Dieser Beobachterstandpunkt und das mit ihm einhergehende methodologische Primat von Erklären vor Verstehen ermöglicht erst die theoretische Operation der Demaskierung der aus der Innenperspektive unsichtbaren Mechanismen und Strukturen, die der Praxis hinter dem Rücken der Akteure ihre jeweilige Gestalt geben. Die Aufgabe einer kritischen Sozialwissenschaft besteht vor diesem Hintergrund in der Aufklärung der Akteure und der Auflösung ihrer doxa auf der Basis objektiver Erkenntnis (vgl. Bourdieu 1998: 99; 1997: 113, 130 sowie Wacquant 2004; vgl. zur Gegenüberstellung von doxa und reflexiver Soziologie auch Susen 2007: Teil II). Die kritische Funktion der Wissenschaft liegt für Bourdieu in der Enthüllung einer hinter dem Schein liegenden Wirklichkeit. Ihr könnte damit eine eminent praktische Rolle zukommen, da sie eine prise de conscience ermöglicht, die wiederum die Bedingung emanzipatorischen kollektiven Handelns ist. Dessen Aussichten schätzt Bourdieu angesichts der »Trägheit« der sozialen Strukturen und der durch sie geprägten Habitusformen aber wiederum eher skeptisch ein. Zudem sind die sozialwissenschaftlichen Analysen, die den Bruch mit dem Selbstverständnis der Akteure voraussetzen, für letztere nur schwer zu akzeptieren-- sie provozieren vielmehr Reaktionen, die Bourdieu im Anschluss an das Vokabular der Psychoanalyse als Formen der Abwehr und der Verneinung beschreibt. Zwar muss sich Bourdieu zufolge die Sozialwissenschaftlerin als Beobachterin gesellschaftlicher Phänomene die Frage nach den sozialen Voraussetzungen und den verzerrenden Effekten der Objektivierung stellen, die aus einer Praxis wie jener des Gabentausches ein beobachtbares Geschehen macht. Dadurch wird die sozialwissenschaftliche Analyse reflexiv und gewinnt das methodologische Selbstbewusstsein der Grenzen des Objektivismus, der die Wahrheit der Praxisteilnehmer nicht integrieren kann (vgl. Bourdieu 2001b: Kap. 3). Der objektivistische Bruch mit der Erfahrung der »Eingeborenen« bleibt aber auch bei Bourdieu erkenntnislogisch wie wissenschaftspraktisch primär. Die Fähigkeit zur kritischen Distanzierung gerät damit zu einem Vorrecht der sozialwissenschaftlichen Beobachterin, das gewöhnlichen Akteuren höchstens temporär und partiell im Augenblick der Krise eines Feldes zugänglich wird (vgl. Bourdieu 1988: 286 f.). Der Soziologie spricht er das »epistemologische Privileg« zu, »dem historizistischen und soziologistischen Zirkel entkommen« zu können und durch soziologische Reflexion die »Neutralisierung« der sozialen Bedingtheit der eigenen Position zu ermöglichen (Bourdieu 1988: 11; Bourdieu/ Wacquant 1996: 97). Bourdieus Konzeption einer kritischen Sozialwissenschaft basiert mithin auf zwei Schritten: erstens auf der handlungstheoretischen Konzeptionalisierung des Zusammenhangs von Struktur, Habitus und Praxis über Generationsprinzipien und Verhaltensregelmäßigkeiten, die Individualität nur als geregelte Abweichung in den Blick bekommt und Reflexivität und Distanzierung ausschließt; zweitens auf der methodologischen Forderung eines radikalen Bruchs mit der Perspektive und dem Selbstverständnis der Akteure. Sein Versuch der Vermittlung zwischen Objektivismus und Subjektivismus, Struktur- und Handlungstheorie bricht damit am Ende unter dem Übergewicht der sozialen Strukturen zusammen. Mit der Annahme, die soziale Welt, in deren Kontext Menschen »handeln«, bestehe aus Relationen, die nicht im Sinne von interaktiven oder intersubjektiven Beziehungen zu verstehen sind, sondern als objektive Verhältnisse, die unabhängig vom Bewusstsein und Handeln der Individuen existieren, läuft Bourdieu Gefahr, den sozialen Raum als in seiner Beharrlichkeit durch Handeln nicht signifikant zu verändernde und von kritischen und selbstreflexiven Praktiken unabhängige Struktur zu hypostasieren (vgl. Bourdieu/ Wacquant 1996: 127; Butler 1999; Reckwitz 2004; Alexander 1995). Bourdieus Bestimmung der Aufgabe der Soziologie, den Schleier zu zerreißen, der den Akteuren einen objektiven Blick auf die Gesellschaft verstellt, erscheint damit als exemplarischer Fall einer »Hermeneutik des Verdachts« (Ricœur), die sich mit der Selbstbeschreibung der <?page no="221"?> 222 Robin Celikates Akteure nicht nur nie zufrieden geben kann, sondern sie als illusionär erweisen will, weil sich das eigentliche Geschehen immer hinter deren Rücken abspielt. Bourdieus Theorie ist damit zugleich Theorie der Gesellschaft, Theorie der sozialen und epistemologischen Hindernisse, die der Gegenstand der Erkenntnis in den Weg legt, und Theorie der Notwendigkeit dieser Hindernisse für das Funktionieren der Gesellschaft. Die diese Theoriearchitektur fundierenden Prinzipien der Nichtbewusstheit und des Widerstands gegen die soziologische Objektivierung sichern die durch Selbstobjektivierung erreichte epistemologische Ausnahmestellung der Sozialwissenschaftlerin ab. 4. Kritiken und Alternativen Gegen das Bourdieu’sche Programm einer kritischen Sozialwissenschaft lassen sich vier Kategorien von Einwänden erheben, die normative, politisch-strategische, methodologische und empirische Zweifel an der Möglichkeit und der Notwendigkeit eines epistemologischen Bruchs zwischen der Perspektive der Akteure und der Perspektive der Wissenschaft artikulieren (vgl. ausführlicher Celikates 2009: 76 ff.). Dem normativen Einwand zufolge sollten soziologische Analysen die Selbstinterpretationen der Subjekte aus moralischen Gründen respektieren. Aussagen wie, »Das hast du nur gesagt, weil du ein Kleinbürger/ Yuppie etc. bist«, reduzieren die Person auf eine vermeintlich objektive Eigenschaft und sind Ausdruck einer zumindest symbolisch gewaltsamen Objektivierung (vgl. Boltanski 2004). Dieser Einwand beruht auf dem Verdacht, dass sich die kritische Sozialwissenschaftlerin die Einnahme einer Einstellung gegenüber den anderen Akteuren erlaubt, die im Kontext der Alltagspraxis nicht so ohne Weiteres akzeptiert werden würde. Gewichtiger erscheint der politisch-strategische Einwand, der auf zwei Probleme hinweist, in die Bourdieus Konzeption der kritischen Sozialwissenschaft führt. Erstens scheint sich eine Theorie, die sich selbst jene objektive Erkenntnis zutraut, welche den »gewöhnlichen« Akteuren aus strukturellen Gründen versagt sein soll, der Gefahr eines epistemischen und ethischen Autoritarismus auszusetzen. Natürlich ist dieser Einwand nicht so zu verstehen, dass ein Ansatz wie derjenige Bourdieus notwendig autoritär strukturiert ist; ein solcher Ansatz scheint aber kaum theoretische Ressourcen bereitzustellen, um dieser Gefahr entgegenzutreten. So tendiert Bourdieu selbst dazu, das Beharren der Akteure auf ihren Selbstdeutungen und ihren Widerstand gegen die vermeintlich objektive sozialwissenschaftliche Analyse nicht etwa als (potenziellen) Einwand wahrzunehmen, sondern gerade als Bestätigung seiner Einsichten zu verbuchen. Alternative Beschreibungen und Deutungen können dann als reaktionär (Verteidigung partikularer Interessen) oder als soziologisch erklärbarer Widerstand (gegen die Aufgabe eines idealisierten Selbstbildes) gedeutet werden. Das aber ist eine Immunisierungsstrategie, die durch die Objektivierung des Gegners jeden Dialog unterminiert und das Gegenüber letztendlich entmündigt. Zweitens besteht eine mögliche Spannung zwischen Desillusionierung und Mobilisierung, zwischen einer positivistischen Perspektive, der zufolge die soziale Welt rigiden Gesetzen untersteht, die hinter dem Rücken der Akteure wirken und nur aus der wissenschaftlichen Beobachterperspektive erkannt werden können, und einer kritischen Perspektive, die gerade die Veränderbarkeit der sozialen Verhältnisse und die Handlungsfähigkeit der Akteure sowie deren Ansprechbarkeit durch die Kritik voraussetzt (vgl. etwa Boltanski 2010: Kap. 2). Werden die Akteure als in der Reproduktion der herrschenden sozialen Verhältnisse gefangen verstanden, gehen der kritischen Sozialwissenschaft- - ganz zu schweigen vom politischen Engagement- - die Adressaten verloren. <?page no="222"?> Praxistheorie 223 Drittens ist Bourdieus Sozialtheorie mit einem methodologischen Einwand konfrontiert, der die grundsätzliche Möglichkeit der von ihr in Anspruch genommenen objektiven Erkenntnis bestreitet. Auf einer ganz allgemeinen Ebene zielt dieser Einwand auf das »positivistische Selbstmissverständnis« der Soziologie als Wissenschaft, die eine von den Selbstverständnissen der Akteure unabhängige oder diesen unerkannt zugrunde liegende soziale Realität zum Gegenstand habe. Gegen dieses Selbst(miss)verständnis verortet die postempiristische Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften- - wie sie sich unter dem Einfluss von Alfred Schütz, Peter Winch, Charles Taylor, Anthony Giddens und anderen herausgebildet hat-- die Besonderheit der Sozialwissenschaften auf der ontologischen, methodologischen und epistemologischen Ebene: Ihr Gegenstandsbereich unterscheide sich prinzipiell von jenem der Naturwissenschaften und erfordere daher auch andere Methoden, die wiederum eine andere Art des Wissens generierten. Das Selbstverständnis der Akteure und ihre Selbstdeutungen sind dem Untersuchungsgegenstand hier nicht äußerlich, sondern untrennbar mit ihm verwoben, so dass die soziologische Beobachterperspektive ihren Gegenstand ohne Einbeziehung der Teilnehmerperspektive gar nicht in den Blick bekommt. Denn wenn die Erfahrungen und Selbstinterpretationen der Akteure konstitutiv sind für die soziale Wirklichkeit, kann diese Wirklichkeit nicht erfasst werden, wenn man Erstere zu umgehen versucht (vgl. etwa Taylor 1985). Verliert die Soziologie die »Alltagssoziologie« der »gewöhnlichen« Akteure aus dem Blick, entgeht ihr zudem, wie erfolgreich diese darin sind, das Handeln anderer Akteure zu erklären, zu interpretieren, vorauszusagen und zu beeinflussen. Es existiert deshalb »keine klare Trennungslinie zwischen den von handelnden Laien angestellten informierten soziologischen Reflexionen und ähnlichen Bemühungen von Seiten der Spezialisten« (Giddens 1997: 47). Die theoretische Praxis der Sozialwissenschaftler unterscheidet sich demnach nicht strukturell oder prinzipiell von der reflexiven Alltagspraxis der »gewöhnlichen« Akteure. Beide verschränken sich vielmehr auf zumindest dreifache Weise: »Die besten und interessantesten Ideen in den Sozialwissenschaften sind a) an der Begünstigung des Meinungsklimas und der sozialen Prozesse, die sie hervorgebracht haben, beteiligt, b) in höherem oder geringerem Ausmaß mit Gebrauchstheorien verquickt, die diese Prozesse zu konstituieren helfen, und c) somit kaum klar von den Reflexionen zu unterscheiden, die handelnde Laien zur Geltung bringen, wenn sie Gebrauchstheorien diskursiv artikulieren oder verbessern.« (Ebd.: 48) Die Bourdieus Modell der Asymmetrie und des Bruchs inhärente Unterschätzung der Akteure und ihrer reflexiven Fähigkeiten geht dabei einher mit einer entsprechenden Überschätzung der kritischen Sozialwissenschaft und ihrer Möglichkeiten, aus der Beobachterperspektive soziale Zusammenhänge zu erkennen, die den Akteuren nicht bewusst sein können (vgl. etwa Boltanski 2008 und 2010). Die Inanspruchnahme einer objektivistischen und wissenschaftlichen, nicht selbst normativen Grundlage durch die kritische Sozialwissenschaft erscheint dann als Versuch, sich den normativen Begründungsanforderungen zu entziehen, denen jede Kritik im Alltag unterliegt (vgl. Boltanski/ Thévenot 2007: 26 f.). Dieser methodologische Einwand leitet zum empirischen Einwand über, dem zufolge Bourdieus kritische Sozialwissenschaft die Struktur der von ihr untersuchten Praxis verfehlt, da sie ein verzerrtes Bild der sozialen Realität zeichnet (auch hier kann dieser Einwand nur recht allgemein und nicht in Form von ebenfalls existierenden Einwänden gegen einzelne Studien Bourdieus diskutiert werden). So beruht die Stabilität von Herrschaft Bourdieu zufolge nicht zuletzt darauf, dass die ihr Unterworfenen die herrschende Meinung, die zugleich die Meinung der Herrschenden ist und deren Interessen dient, inkorporieren und die Legitimität der Herrschaft anerkennen, indem sie ihre Grundlagen und Reproduktionsweisen verkennen. Diese Annahme ist empirisch jedoch überaus fragwürdig. Die Unwahrscheinlichkeit kritischer Reflexion, die Bourdieu an konkreten Praktiken (etwa dem Gabentausch der Kabylen und den Essgewohnheiten der franzö- <?page no="223"?> 224 Robin Celikates sischen Arbeiterklasse) mehr oder weniger überzeugend nachweisen kann, wird von ihm generalisiert und in die Definition der Praxis selbst eingebaut. Die häufig unterstellte Einheitlichkeit und Integriertheit sozialer Ordnungen lässt sich jedoch ebenso wenig mit der sozialen Pluralität und Heterogenität der institutionellen Kontexte, der Praktiken und der Selbstverständigungsdiskurse vereinbaren wie mit der Tatsache, dass es den Akteuren aufgrund dieser Pluralität und Heterogenität möglich ist, sich von konkreten Situationen und Interaktionszusammenhängen kritisch zu distanzieren und etwa oppositionelle Bewusstseinsformen auszubilden (vgl. etwa Certeau 1988: Kap. IV.2; Rancière 1983: 239 ff.). Dieser allgemeine empirische Einwand lässt sich auf verschiedene Weisen ausbuchstabieren. Zunächst impliziert die Idee, dass die Gesellschaft durch soziale Normen zusammengehalten wird, deren Internalisierung Normkonformität garantiert und damit soziale Ordnung ermöglicht, indem sie das Handeln der Individuen unabhängig von ihrem Wissen in sozialverträgliche Bahnen lenkt, eine unplausible Vorstellung des »übersozialisierten Akteurs«. So weist etwa Bernard Lahire (2001) darauf hin, dass es keine homogene Makrostruktur gibt, die vermittelt über die Prägung eines einheitlichen Habitus garantieren könnte, dass die individuellen Verhaltensweisen nicht allzu weit voneinander abweichen. Vielmehr führe die Pluralität und Heterogenität der sozialen Kontexte und Handlungsfelder zu pluralen und heterogenen Habitusformen und verlange von den »gewöhnlichen« Akteuren ein Maß an Reflexivität, das über den praktischen Sinn, wie Bourdieu ihn verstehe, hinausgehe. Diese sehr basale Form der Reflexivität liegt den alltäglichen Praktiken der Rechtfertigung und der Kritik ebenso zugrunde wie jenen »Mikropraktiken« des Widerstands der »gewöhnlichen« Akteure, deren Existenz einer ideologiekritischen oder hegemonietheoretischen Perspektive leicht entgeht, da sie häufig auf der Ebene lokaler Interaktionen angesiedelt sind und sich nicht immer auf der Makroebene sozialer Strukturen und überlieferter Deutungsmuster bemerkbar machen (vgl. Scott 1985 und 1990). Ein genauerer soziologischer und historischer Blick entdeckt ein vielfältiges Repertoire an Formen der Kritik und des Widerstands, an gegenhegemonialen Praktiken und Selbstverständnissen, mit denen die Akteure die Legitimität des Status quo in Frage stellen. Gegen die auch von Bourdieu vertretene These eines mentalen und politischen Konformismus, der durch die Verinnerlichung einer herrschaftslegitimierenden Sichtweise gestützt wird, kann mit Scott dreierlei betont werden: Historisch und empirisch ist jede Form der Herrschaft immer mit (mehr oder weniger offenem oder verstecktem) Widerstand konfrontiert; die kulturellen Formen der Selbstverständigung der Beherrschten weisen häufig eine utopische, kritische und sogar revolutionäre Dimension auf, die dem vermeintlichen Glauben der Unterdrückten an die Legitimität, Natürlichkeit und Alternativlosigkeit ihrer Unterdrückung widerspricht; sozialer Wandel wird häufig »von unten« initiiert, wobei versteckte Formen des Widerstands vor allem deshalb als Wegbereiter offenen Widerstands fungieren, weil mit ihnen Diskurse der Kritik und der Rechtfertigung verbunden sind, die Formen oppositionellen Bewusstseins fördern, die wiederum eine Voraussetzung für die bewusste Transformation des Status quo darstellen. Eine solche Perspektive widerspricht der These von der vermeintlichen Passivität der Akteure, die in ihrem aufeinander abgestimmten Handeln objektive soziale Strukturen reproduzieren und die Sichtweise der Herrschenden internalisieren. Stattdessen betont sie die reflexiven und kritischen Potenziale der Alltagspraxis, die etwa in Formen der Aneignung und des Umfunktionierens sowie anderen alltäglichen und populären Taktiken oder Künsten des Handelns zum Ausdruck kommen und die keinen Bruch mit dem Common Sense voraussetzen, sondern selbst eine seiner Varianten darstellen (vgl. Certeau 1988: Kap. IV.2). Dabei spielt zumindest in komplexen Gesellschaften die soziale Zirkulation soziologischer Theorien und ihrer Semantiken eine wichtige <?page no="224"?> Praxistheorie 225 Rolle, die diese zunehmend in Ressourcen verwandeln, die auch »gewöhnlichen« Akteuren zugänglich sind und die von diesen in Praktiken des Urteilens, der Rechtfertigung und der Kritik abgerufen werden können-- genau diese Einsicht ist in der französischen Sozialtheorie nach Bourdieu in Form einer Soziologie der Kritik bzw. der kritischen Alltagspraxis auch systematisch ausgearbeitet worden (Boltanski/ Thévenot 2007: 61; Chiapello 2003: 157; Celikates 2009: 136 ff.). In eine ähnliche Richtung zielen auch der Einwand, Bourdieu verfehle die für die Alltagspraxis wesentliche normative Infrastruktur und Eigenlogik (Honneth 1999), sowie neuere Analysen des Gabentausches, die sich gegen Bourdieus reduktionistische und ökonomistische Kategorien wenden und die Logik der Gabe sowohl phänomenologisch als auch normativ ernst zu nehmen bestrebt sind und deren Relevanz für die Etablierung und Aufrechterhaltung des sozialen Bandes unterstreichen (vgl. Caillé 2005; Hénaff 2009). Eine der Idee des epistemischen Bruchs und der Asymmetrie verpflichtete kritische Sozialwissenschaft wie diejenige Bourdieus droht damit zum einen die Komplexität der Praxis zu verfehlen, indem sie die Reflexivität der Akteure sowie die Praktiken, in denen diese Reflexivität zum Ausdruck kommt, ausblendet; zum anderen sucht sie aufgrund dieses falschen Bildes nach einem wissenschaftlichen Standpunkt, der außerhalb der analysierten Praxis angesiedelt ist und die Objektivität der kritischen Perspektive der Sozialwissenschaftlerin verbürgen soll, indem er die Enthüllung einer unabhängig von den Selbstverständnissen der Akteure existierenden sozialen Realität erlaubt. Die hier diskutierten Einwände betreffen freilich in erster Linie die handlungstheoretischen Grundlagen und das methodologische Selbstverständnis von Bourdieus Ansatz, nicht so sehr seine substanziellen soziologischen Forschungen (etwa zum französischen Bildungssystem und seinen Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit oder zur prekären Situation des in Folge der Zwangsmodernisierung entstandenen algerischen Subproletariats), die weiterhin in weiten Teilen als überzeugend gelten können. Trotz der in diesem Abschnitt formulierten und in gewissen Hinsichten recht grundsätzlichen Kritik steht die Originalität und Fruchtbarkeit von Bourdieus praxistheoretischem Ansatz außer Zweifel. Viele der heute interessantesten sozialtheoretischen Debatten sind ohne Einbeziehung der in seinem Werk ausgearbeiteten theoretischen Perspektive und Grundbegrifflichkeit nicht zu verstehen, auch wenn deutlich geworden ist, dass Letztere die soziale Realität zum Teil nur einseitig zu erfassen vermögen. Nicht zuletzt ist es die für Bourdieus Werk charakteristische Zusammenführung von empirischer Forschung, methodologischer Reflexion, philosophisch fundierter Theoriebildung und engagierter Gesellschaftskritik, die auch heute ein leider nur selten erreichtes Vorbild für das abgibt, was die moderne Gesellschaftstheorie leisten kann. Literaturverzeichnis Alexander, Jeffrey (1995): The Reality of Reduction. The Failed Synthesis of Pierre Bourdieu. In: ders.: Finde-Siècle Social Theory. London, 128-217. Bittlingmeyer, Uwe H. et al. (Hg.) (2002): Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus, Opladen. Boltanski, Luc (2004): Une sociologie toujours mise à l’épreuve. 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Diese Gewissheit bringt etwa Jürgen Habermas in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels wie folgt auf den Punkt: »Das soziale Band, das aus gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird, geht aber in den Begriffen des Vertrages, der rationalen Wahl und der Nutzenmaximierung nicht auf.« (Habermas 2001: 13) Die Persistenz der in derartigen (Vor-)Urteilen zum Ausdruck kommenden Missverständnisse erklärt sich zu einem beträchtlichen Teil aus der disziplinstrategischen Bedeutung einer Abgrenzung gegenüber den Wirtschaftswissenschaften, wie sie etwa Durkheim, Weber oder Parsons vollzogen haben. Der Soziologie gereicht diese Abgrenzung mittlerweile zweifelsohne zum Nachteil. Denn der Rational-Choice-Ansatz hat gerade in jüngerer Zeit eine äußerst dynamische Entwicklung genommen, in deren Zuge einige Grundannahmen des Ansatzes aufgegeben oder überarbeitet wurden. Man hat die Verzahnung von Theorie und Empirie auf ein neues Niveau gehoben, was schon jetzt dazu geführt hat, dass die international maßgeblichen Beiträge zu klassischen Themenkomplexen wie soziale Ordnung, Kooperation, Sanktionen oder Vertrauen von soziologisch und psychologisch offenen Ökonomen stammen (Fehr/ Gintis 2007). Auch soziologische Vertreter des Rational-Choice-Ansatzes haben freilich an diesen Entwicklungen teil und widmen sich zudem eigenständigen Fragen, welche sich unter anderem aus den reichhaltigen soziologischen Anwendungsfeldern ergeben (Kroneberg/ Kalter 2012, Wittek et al. 2013). Dieser Handbuchbeitrag gibt, ausgehend von den Beiträgen von James S. Coleman und Hartmut Esser, einen Einblick in den Rational-Choice-Ansatz und seine neueren Entwicklungen und kann damit eine Gelegenheit zur Neuentdeckung und -bewertung dieses Erklärungsprogramms sein. 1. Wissenschaftsverständnis Was die Theorien und Ansätze vor allem eint, die mit dem Rational-Choice-Ansatz in Verbindung gebracht werden, ist ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis. Danach sollte es Wissenschaften um die Beantwortung von »Warum«-Fragen gehen und die Funktion von Theorien <?page no="228"?> Theorien rationaler Wahl 229 darin bestehen, ein kausales Verständnis einer Vielzahl konkreter Phänomene zu ermöglichen. Beispielsweise: Warum haben es größere Gruppen selbst in demokratisch verfassten Gemeinwesen häufig schwerer, ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen? Warum führt ökonomische Entwicklung in autokratisch regierten Gesellschaften häufig zu Demokratisierungsprozessen? Warum sinkt die Fertilität mit der ökonomischen Entwicklung einer Gesellschaft? Gesucht werden jeweils die kausalen Mechanismen, die dem beobachtbaren Zusammenhang zugrunde liegen, und die auch seine Ausnahmen zu erklären vermögen. Eine Anforderung an wissenschaftliche- - und somit auch soziologische- - Theorien ist die Möglichkeit, sie wiederholt mit der (in bestimmter Weise aufbereiteten) Realität konfrontieren und an ihr überprüfen zu können. Im Unterschied zu anderen soziologischen Ansätzen wird somit betont, dass Theorien weitaus mehr als rein begriffliche Zugänge zur Wirklichkeit sind. Zwar legt man kein naives Verständnis von Theorie, theorieunabhängiger Realität und Wahrheit zugrunde, aber die konstruktivistischen Grundeinsichten werden auch nicht zum Anlass genommen, gänzlich auf die empirische Kontrolle von Theorieentwicklung zu verzichten. Ein derartiges, am Vorbild der Naturwissenschaften orientiertes, aber auch in anderen Sozialwissenschaften wie der Ökonomie oder der Psychologie geteiltes Wissenschaftsverständnis betrachtet Wissenschaft als einen sozialen Prozess, innerhalb dessen beschreibende und erklärende Aussagen immer wieder geprüft werden und die sich bewährenden Aussagen bis auf Weiteres in einen sich kumulativ vergrößernden Wissensbestand übergehen-- was die Möglichkeit von revolutionären wissenschaftlichen Paradigmenwechseln wohlgemerkt nicht ausschließt. Als Folge dieses Wissenschaftsverständnisses findet man hier nicht die für andere soziologische Ansätze konstitutive Bedeutung einzelner Theoretiker und der fortwährenden (Neu-)Interpretation ihrer Werke. Gleichwohl werde ich mich der gestellten Aufgabe annehmen, die Beiträge von James S. Coleman und Hartmut Esser genauer darzustellen. Dies ist unter anderem lohnenswert, um die Vielfalt möglicher Ausgestaltungen des Rational-Choice-Ansatzes, die zugrunde liegenden weichenstellenden Annahmen und die wichtigsten neueren Entwicklungen deutlich zu machen. 1 2. Das Makro-Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung Neben dem beschriebenen Wissenschaftsverständnis fußt der Rational-Choice-Ansatz auf der Auffassung, dass man kollektive Phänomene unter Rekurs auf Akteure, ihre Beziehungen zueinander, ihr Handeln und die Folgen ihres handelnden Zusammenwirkens erklären sollte. Sofern es sich bei diesen Akteuren um menschliche Individuen und nicht etwa um korporative Akteure wie Regierungen oder kollektive Akteure wie soziale Bewegungen handelt, wird dies auch als methodologischer oder strukturtheoretischer Individualismus bezeichnet. In jedem Fall sind die Analyseeinheiten und deren Interaktion auf einer tieferen Ebene angesiedelt als das zu erklärende soziale Phänomen. Ähnlich wie man das Verhalten von Gasen aus der Interaktion von Molekülen 1 Die wichtigsten ideengeschichtlichen Hintergründe des Rational-Choice-Ansatzes und der Erklärenden Soziologie bilden- - neben Klassikern der Soziologie wie Marx und Weber- - die englische und schottische Moral- und Sozialphilosophie des 17. und 18.-Jahrhunderts und der Kritische Rationalismus des 20.-Jahrhunderts. Unmittelbar prägende Figuren waren für James S. Coleman seine akademischen Lehrer Robert K. Merton, Paul F. Lazarsfeld und Seymour Martin Lipset sowie Gary S. Becker (siehe Braun/ Voss 2013), für Hartmut Esser unter anderem René König, Hans Albert, Raymond Boudon und Siegwart M. Lindenberg. <?page no="229"?> 230 Clemens Kroneberg ableiten kann, lassen sich soziale Strukturen, Zusammenhänge und Prozesse unter Rekurs auf die sie antreibenden und reproduzierenden Akteure, deren Handeln und dessen unintendierte Folgen erklären. Aus zwei Gründen ist dies sogar notwendig: Erstens existieren auf der Makro-Ebene keine allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten. Vielmehr gibt es immer Ausnahmen von Zusammenhängen wie denen zwischen ökonomischer Entwicklung und Demokratisierung oder Fertilitätsrückgang. Zweitens bleiben Makro-Zusammenhänge unverstanden, besitzen also einen Blackbox-Charakter, solange nicht ein kausaler Mechanismus angegeben wird, der den beobachteten Zusammenhang zustande bringt. Die notwendige Mikrofundierung soziologischer Erklärungen wird schematisch im Makro- Mikro-Makro-Modell dargestellt (siehe Abb. 1). Für soziologische Erklärungen ist es erstens notwendig, den Einfluss der Situation bzw. sozialer Strukturen auf Akteure zu beschreiben, zweitens anzugeben, nach welchen Selektionsregeln die Akteure eine bestimmte Handlungsalternative auswählen, und drittens zu analysieren, wie sich das interessierende kollektive Phänomen aus dem Zusammenwirken der Akteure ergibt. Hartmut Esser hat für diese Erklärungsschritte die Bezeichnungen »Logik der Situation«, »Logik der Selektion« und »Logik der Aggregation« eingeführt. Diese sind vor allem im deutschsprachigen Raum gebräuchlich- - wie auch die Bezeichnung des Modells als (Essers) »Badewanne«, wohingegen man im englischsprachigen Raum von »Coleman’s boat« redet (der zentrale Durchbruch stammt allerdings von Wippler/ Lindenberg 1987, zu den historischen Vorläufern siehe Schmid 2006). Sowohl James S. Coleman als auch Hartmut Esser bauen ihre Theoriegebäude auf dem Makro- Mikro-Makro-Modell auf. Wie ich zeigen werde, setzen sie dabei aber unterschiedliche Schwerpunkte. Coleman geht auf der Mikro-Ebene von einer relativ engen und sparsamen Variante der Theorie rationaler Wahl aus und entwickelt auf dieser Grundlage eine Reihe komplexer Modelle über den Einfluss sozialer Strukturen und die Dynamik sozialer Systeme. Esser hat dagegen eine weitaus komplexere, integrative Handlungstheorie entwickelt und eingesetzt, um auf den ersten beiden Schritten des Makro-Mikro-Makro-Modells zu differenzierteren und soziologisch umfassenderen Analysen zu gelangen, welche auch Grundeinsichten anderer soziologischer Paradigma einzubeziehen erlauben. Diese Differenz ist also in erster Linie eine handlungstheoretische und es sind auch handlungstheoretische Annahmen, auf denen sowohl die Identität als auch die Vielfältigkeit des Rational-Choice-Ansatzes gründet (Goldthorpe 1998). Ausgangssituation Akteure Kollektives Phänomen Handeln Abbildung 1: Das Makro-Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung <?page no="230"?> Theorien rationaler Wahl 231 3. Handlungstheoretische Annahmen: Was behaupten Theorien rationaler Wahl (nicht)? Unter »Theorien rationaler Wahl« im engeren Sinne sind nun solche Ansätze zu verstehen, die neben dem beschriebenen Wissenschaftsverständnis und dem Makro-Mikro-Makro-Modell auch noch eine bestimmte Handlungstheorie zu Grunde legen: die Erklärung sozialen Handelns als rationale Wahl zwischen gegebenen Alternativen, d. h. als eine Wahl, von der die Akteure erwarten, dass sie ihre Präferenzen unter den gegebenen Umständen bestmöglich realisiert. Der Begriff der Rationalität suggeriert jedoch fälschlicherweise, es ginge diesen Theorien darum, ein bestimmtes oder jegliches Handeln als rational zu kategorisieren oder gar auszuzeichnen (siehe etwa Joas 1992). Tatsächlich verfolgen die Theorien jedoch ausschließlich das Ziel, menschliches Handeln zu erklären bzw. zu verstehen und dabei möglichst präzise anzugeben, unter welchen Bedingungen Akteure welche Handlungsalternative verfolgen werden: »The rational choice approach is not a theory of cognition. It does not argue that people think in ways typically associated with rationality as used in common discourse (e.g., reasoned, thoughtful, reflective), nor does it assume people undertake literal calculations. The rational choice approach simply refers to the consistency between people’s preferences and choices.« (McCarthy 2002: 422) Theorien rationaler Wahl vertreten daher nicht die Gegenthese zu Auffassungen, nach denen Akteure auf Basis von Wertüberzeugungen, Emotionen, Gewohnheiten oder kulturellen Deutungsmustern handeln. Als äußerst sparsame oder abstrakte Handlungstheorie interessieren sie diese unterschiedlichen psychologischen Mechanismen vielmehr schlichtweg nicht. Menschliches Handeln lässt sich als Ergebnis der Maximierung subjektiv erwarteten Nutzens darstellen, solange Akteure Präferenzen und Erwartungen aufweisen, hinsichtlich derer sie sich konsistent verhalten. Ob die Akteure dabei tatsächlich kalkulieren, unhinterfragt verinnerlichten Normen folgen oder emotional reagieren, wird bewusst ausgeblendet. Dieser Umstand bleibt in der soziologischen Rezeption häufig unerkannt, was zu unberechtigter Kritik führt, etwa an einer vermeintlichen Überschätzung von Wahlfreiheit und Reflexionsvermögen. 2 Über die beschriebene Maximierungsannahme hinaus treffen Theorien rationaler Wahl typischerweise eine Reihe von Zusatzannahmen, die sie soziologisch gehaltvoller, aber teilweise auch empirisch begrenzter werden lassen. Letzteres gilt vor allem für die enge Version der Theorie rationaler Wahl, die gemeinhin als »Homo oeconomicus« bezeichnet wird. Diese geht davon aus, dass Akteure rein egoistische Präferenzen besitzen, nur handfeste Restriktionen berücksichtigen und Erwartungen unter optimaler Ausnutzung der vorhandenen Information ausbilden. Die weite Version der Theorie gibt diese Annahmen auf und lässt stattdessen auch soziale Präferenzen (Altruismus, Fairness, u. a.) und verzerrte Erwartungen zu (Opp 1999). Damit wird ein nur noch minimaler Begriff von Rationalität vertreten: Akteure handeln in Einklang mit konsistenten Präferenzen und subjektiven Erwartungen, gleich welchen Ursprungs und Inhalts. Man bezeichnet diese Handlungstheorie auch als Werterwartungstheorie und teilweise synonym als SEU- Theorie (SEU =-subjective expected utility). 2 Worauf es hier ankommt, ist die große Diskrepanz zwischen dem innerhalb des Rational-Choice- Ansatzes bei weitem dominierenden Verständnis von »Nutzenmaximierung« als technische Darstellungsweise konsistenter Präferenzen und dem innerhalb der Soziologie dominierenden (Miss-) Verständnis von »Nutzenmaximierung« als ein psychologischer Mechanismus unter anderen. Selbstverständlich gibt es jedoch einzelne Vertreter und Varianten des Rational-Choice-Ansatzes die eine abweichende psychologische Interpretation vertreten sowie Soziologen, denen das übliche Verständnis bekannt ist. <?page no="231"?> 232 Clemens Kroneberg Mit Hilfe von weiten RC-Theorien lassen sich eine Reihe von Erklärungsproblemen lösen, auf die enge RC-Theorien in einer Vielzahl von Anwendungsgebieten gestoßen sind, z. B. warum sich Personen an demokratischen Wahlen beteiligen, obwohl dies einen gewissen Aufwand bedeutet, ihre eigene Stimme aber praktisch nie den Ausschlag geben wird. Durch die Annahme einer Präferenz für normkonformes Verhalten oder verzerrter Erwartungen vermögen weite RC- Theorien einen Großteil der empirischen Kritik am RC-Ansatz zurückzuweisen. Aufgrund ihrer größeren theoretischen Offenheit besitzen weite RC-Theorien jedoch einen geringeren Informationsgehalt. Sie sehen sich daher einer lautstarken wissenschaftstheoretischen Kritik ausgesetzt, die einen Verlust von Erklärungskraft und Falsifizierbarkeit diagnostiziert (zu dieser »Zwickmühle der Kritik« siehe Kroneberg 2011: 45-47). Auch James S. Coleman sah die Annahme internalisierter Normen als gefährliche Erweiterung der Theorie rationaler Wahl an und baute seine Sozialtheorie daher auf der engen Variante der Theorie auf. 4. Die Sozialtheorie von James S. Coleman Die Sozialtheorie von James S. Coleman zeigt exemplarisch, welches Leistungsvermögen Theorien besitzen, die von der Annahme rationalen Handelns ausgehen und Interaktionssysteme zwischen mehreren Akteuren mathematisch präzise modellieren. Ein zentraler Baustein seiner Sozialtheorie ist ein Tauschmodell, anhand dessen sowohl die Erklärungskraft als auch die Grenzen von Colemans Ansatz besonders deutlich werden. Das Modell geht von einer Menge von Akteuren sowie einer Menge von Ressourcen oder Ereignissen aus. Die Akteure besitzen unterschiedlich viel Kontrolle über die und Interesse an den Ressourcen. Insoweit die Akteure daran interessiert sind, (mehr) Kontrolle über Ressourcen zu erlangen, die von anderen Akteuren kontrolliert werden, besteht zwischen ihnen eine Interdependenz und ein wechselseitiges Tauschinteresse. Ausgehend von einer bestimmten Kontroll- und Interessensverteilung vermag Colemans Tauschmodell nicht weniger vorherzusagen als den Wert oder Preis aller Ressourcen oder Ereignisse, die Macht aller Akteure, die sich im Gleichgewicht ergebenden Kontrollanteile und den Nutzenzuwachs aller Akteure. Die sich ergebende Kontrollverteilung, die Preise und die Machtverteilung sind allesamt Makro-Phänomene, die aus der Anfangsverteilung von Interesse und Kontrolle folgen, wenn man den im Modell angenommenen kausalen Mechanismus unterstellt. Es handelt sich also um ein Paradebeispiel einer Makro-Mikro-Makro-Erklärung. Das (teils erweiterte) Modell wurde empirisch auf diverse Phänomene angewendet, von der Analyse von Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern (Coleman 1990: 706-709) über die Erklärung von politischen Verhandlungen (Pappi/ Henning 1998, Linhart 2006) bis hin zu makrosoziologischen Fragen, wie der nach den Entstehungsbedingungen von Nationen, ethnischen Spaltungen und Populismus im Prozess der Staatenbildung (Kroneberg/ Wimmer 2012). Über im engeren Sinne wissenschaftliche Anwendungen hinaus wurden Weiterentwicklungen des Coleman-Modells sogar während politischen und ökonomischen Verhandlungen beratend eingesetzt, um für den Auftraggeber die Verhandlungskonstellation zu analysieren und eine optimale Strategie zu identifizieren. Man kann mit Recht fragen, welche andere soziologische Theorie Ähnliches zu leisten vermag. Der Unterschied zwischen der Erklärungs- und Vorhersagekraft eines derartigen Modells und den in der soziologischen Theorie dominierenden orientierenden oder konstitutionstheoretischen Feststellungen ist jedenfalls beachtlich. Man denke beispielsweise an die zunehmend populären Praxistheorien, für die soziale Praktiken, etwa »die Praktik des Verhandelns, […] als routinisierte Formen körperlicher ›performances‹ und sinnhafter Verstehensleistungen begriffen [werden], welche in der Praxis untrennbar aneinander gekoppelt auf- <?page no="232"?> Theorien rationaler Wahl 233 treten.« (Reckwitz 2004: 318) Der Wert derartiger konstitutionstheoretischer Ansätze besteht vor allem darin, ein neues begriffliches Vokabular bereitzustellen, das eine neue Perspektive auf soziale Phänomene ermöglicht. Dies ist eine legitime, einem geisteswissenschaftlichen Erkenntnisinteresse nahestehende Zielsetzung. 3 Das eingangs beschriebene Wissenschaftsverständnis beansprucht dagegen, Theorien und Modelle entwickeln zu können, die eine Analyse komplexer Kausalzusammenhänge ermöglichen und daher manchmal sogar einen hohen praktischen Anwendungswert besitzen (Coleman 1993). Das Coleman-Modell zeigt auf beeindruckende Art und Weise (ebenso wie die weiter unten beschriebenen spieltheoretischen Modelle), dass dieses metatheoretische Programm realisierbar ist. Das Coleman-Modell ist andererseits ebenso gut geeignet, die großen methodologischen Herausforderungen deutlich zu machen, vor denen dieses Programm steht. Die analytische Erklärungskraft des Modells verdankt sich nämlich in erster Linie seiner Mathematisierung, die jedoch auf einer Reihe von Annahmen beruht, deren Realitätsnähe nicht immer gegeben ist (Linhart 2006). Um die wichtigsten zu nennen: Das betrachtete Tauschsystem muss alle relevanten Akteure und Ressourcen beinhalten, es dürfen keine Transaktionskosten vorliegen, die Akteure müssen perfekt informiert sein und es dürfen keine zusätzlichen sachlichen oder persönlichen Differenzen oder zeitlichen oder räumlichen Distanzen bestehen, die für das Tauschhandeln relevant sind. Wie (un-)realistisch diese Annahmen sind bzw. wie folgenreich ihre partielle Verletzung ist, muss von Anwendung zu Anwendung beurteilt werden. Zudem besteht eine wichtige Form des Theoriefortschritts innerhalb dieses Programms in dem schrittweisen Ersetzen stark vereinfachender durch realistischere Annahmen. So existieren mittlerweile Weiterentwicklungen des Coleman- Modells, welche zwischen Tauschpartner variierende Transaktionskosten systematisch einzubeziehen erlauben, wodurch sich u. a. soziale Netzwerkstrukturen modellieren und analysieren lassen (Pappi/ Henning 1998). Colemans sozialtheoretisches Hauptwerk »Foundations of Social Theory« (Coleman 1990) räumt dem beschriebenen Tauschmodell einen zentralen Platz ein, geht aber weit über dieses hinaus. Unter anderem entwickelt Coleman eine systematische Erklärung der Entstehung und Durchsetzung sozialer Normen und bietet neuartige Analysen von Herrschaftsbeziehungen, der Bedeutung sozialer Netzwerkstrukturen und sozialen Kapitals. Dabei nutzt Coleman häufig das analytische Potenzial der Spieltheorie, welche von großer Bedeutung für den Rational-Choice- Ansatz und die erklärende Soziologie generell ist (Diekmann 2009). Diese in der Mathematik wurzelnde, aber nicht nur in allen Sozialwissenschaften, sondern auch in der Biologie äußerst erfolgreich eingesetzte Theorie beschäftigt sich mit der Analyse von Situationen strategischer Interdependenz, in denen die Akteure wechselseitig berücksichtigen, dass die Folgen ihres Handeln vom kontingenten Handeln der jeweils anderen Akteure abhängen. Der besondere soziologische Wert der Spieltheorie besteht darin, dass sich durch ihre formalisierte Darstellungsweise Probleme sozialer Ordnung sehr präzise charakterisieren lassen und dass sie vorherzusagen erlaubt, welche kollektiven Zustände sich in den beschriebenen Akteursinterdependenzen einstellen werden. Am häufigsten wird hierfür das von John Nash entwickelte Gleichgewichtskonzept verwendet, nach dem eine Kombination von Strategien aller Spieler genau dann ein Gleichgewicht bildet, wenn keiner der Spieler einen Anreiz hat, einseitig von ihr abzuweichen. Ihre Strategien stellen dann wechselseitig beste Antworten aufeinander dar. Eine Grundeinsicht der Spieltheorie ist, dass individuell rationale Akteure häufig kollektiv irrationale Zustände herbei- 3 Trotz des unterschiedlichen Wissenschaftsverständnisses können von komplexitätserschließenden (z. B. praxistheoretischen) Ansätzen zudem durchaus wichtige Impulse für die Weiterentwicklung analytisch-modelltheoretischer Arbeiten ausgehen (siehe dazu Kroneberg 2011: 31 ff., 114 ff.). <?page no="233"?> 234 Clemens Kroneberg führen. Der klassische Fall einer sozialen Dilemma-Situation ist das sogenannte Gefangengendilemma, in dem eine Kooperation unterbleibt, obwohl sich alle Akteure durch sie besser stellen würden, als wenn sie im Zustand allseitiger Verweigerung verblieben. Dieses Modell vermag eine Reihe unterschiedlicher Phänomene zu erklären, von Doping im Spitzensport über Umweltverschmutzung bis zum Rüstungswettlauf zwischen Staaten. Eine soziologisch besonders wichtige Anwendung der Spieltheorie ist das Kollektivgutproblem. Dieses entsteht vor allem daraus, dass die Durchsetzung der Gruppeninteressen auch denjenigen zugute kommt, die selbst keinen Beitrag geleistet haben. Beispielsweise profitieren auch diejenigen Arbeiter nach einem erfolgreichen Streik von einem höheren Tariflohn, die nicht in der Gewerkschaft sind und sich nicht am Arbeitskampf beteiligt haben. Wie Mancur Olson in seinem klassischen Beitrag »Die Logik kollektiven Handelns« (Olson 1965) gezeigt hat, führt dieser Anreiz zum Trittbrettfahren dazu, dass Gruppen (etwa soziale Klassen) häufig nicht in der Lage sind, ihr Gruppeninteresse zu realisieren. Dies gilt im besonderen Maße für große Gruppen wie Patienten oder Gewerkschaften (und weniger für Ärzte oder Arbeitgeber), da das Gewicht des eigenen Beitrags für die Kollektiverstellung mit der Gruppengröße abnimmt. Auch Colemans Analyse der Entstehung sozialer Normen setzt an derartigen Situationen an. Gemäß Coleman entsteht eine Nachfrage nach einer Norm, wenn die Handlungen bestimmter Akteure wohlfahrtsmindernde Auswirkungen (sogenannte negative Externalitäten) auf andere Akteure haben. Beispielsweise entsteht im Gefangenendilemma oder Kollektivgutproblem der Wunsch nach einer Kooperationsnorm. Die betroffenen Akteure besitzen also ein Interesse, das Kontrollrecht über die entsprechenden Handlungen zu erwerben. Die Nachfrage nach einer Norm erklärt freilich noch nicht deren Angebot (sogenannter funktionalistischer Fehlschluss). Ein zweites, eigenständiges Erklärungsproblem besteht daher in der Frage, wie es zur erfolgreichen Einrichtung der Norm kommt. Für den Fall des Gefangenendilemmas setzt Coleman die Realisierung einer sozialen Norm mit der Präsenz wirksamer Sanktionen gleich: »[…] unless the beneficiaries of a norm have the capability of applying effective sanctions when necessary, it is meaningless to say that they hold the right to control the action.« (Coleman 1990: 266) Die Frage lautet also nunmehr, unter welchen Bedingungen es rationalen Akteuren gelingt, durch glaubhafte Sanktionsdrohungen oder Sanktionen Kooperation in Gefangenendilemma-Situationen durchzusetzen. Das Problem einer effektiven Einrichtung von Sanktionen besteht darin, dass jeder zwar ein Interesse an einer Sanktionierung von Abweichlern hat, dass aber niemand derjenige sein möchte, der diese immer mit Kosten verbundene Handlung ausführt. Zu dieser defensiven Furcht, ausgenutzt zu werden, gesellt sich die opportunistische Versuchung, ohne eigene Kosten von den Sanktionen anderer Akteure zu profitieren. Wie schon in der normativ zu regulierenden Ausgangssituation stehen die Akteure also auch hier vor einem Kollektivgutproblem (das sogenannte Kollektivgutproblem zweiter Ordnung). Und wieder stellt sich die Frage, wer diejenigen sanktioniert, die von der Sanktionsnorm abweichen. Dass dieser Regress nicht ins Unendliche geht, ist Coleman zufolge sozialen Beziehungen zu verdanken. Diese machen erstens ein gemeinsames, in seinem individuellen Aufwand reduziertes Sanktionieren möglich. Zweitens können sich sanktionierende Akteure ihre Kosten von solchen anderen Akteuren »gutschreiben« lassen, gegenüber denen sie im Rahmen anderer Tauschverhältnisse Verpflichtungen eingegangen sind. Profitieren diese Akteure von der Sanktion, so können sie etwa bereit sein, auf einen Teil der Gegenleistungen zu verzichten oder aber Handlungen zu unterlassen, die dem Akteur möglicherweise schaden. Ohne Colemans Analyse hier eine detaillierteren Prüfung unterziehen zu können, stellt sich generell die Frage nach der Reichweite von Erklärungen sozialer Normen, die auf einer engen Version der Theorie rationaler Wahl beruhen. Ein stabiles und kollektiv wie individuell effizien- <?page no="234"?> Theorien rationaler Wahl 235 tes Kooperationsgleichgewicht ist zunächst nur eine Verhaltensregelmäßigkeit und hat solange und soweit nichts mit sozialen Normen als Verhaltensregeln zu tun, wie es nur auf egoistischen materiellen Interessen beruht. Dem Phänomen sozialer Normen wird die enge Version der Theorie rationaler Wahl daher nur in Teilaspekten gerecht. Coleman scheint zwar zumindest den Legitimitätsaspekt sozialer Normen zu berücksichtigen, indem er seinen Normbegriff auf dem Begriff des Rechts aufbaut. Eine genauere Analyse offenbart jedoch auch bei ihm eine Tendenz zur Reduktion von Recht- und Normphänomenen auf Interessen- und Machtphänomene (Baurmann 1993). So hat nach Coleman ein Akteur dann ein Recht, eine Handlung auszuführen, wenn die relevanten anderen Akteure die Ausführung dieser Handlung akzeptieren. Relevant sind diejenigen Akteure, deren Interessen von der Handlung betroffen sind und die gemeinsam die Macht zur Kontrolle dieser Handlung haben. Zwar muss nach Coleman zwischen diesen ein Konsens bestehen, doch ist es für die Existenz einer sozialen Norm nicht notwendig, dass die Normadressaten das Recht als solches anerkennen. Folglich besäße nach diesen Definitionen ein Tyrann das Recht, die politische Opposition zu unterdrücken, obwohl er nur die Macht dazu hat. 5. Von Coleman zur experimentellen Spieltheorie James S. Coleman gehört zu den einflussreichsten Soziologen des 20.-Jahrhunderts und war der wohl wichtigste soziologische Vertreter des Rational-Choice-Ansatzes. Die Bandbreite seiner häufig bahnbrechenden Beiträge- - etwa auch zum Konzept des sozialen Kapitals oder zur mathematischen Soziologie-- kann hier nicht annährend nachvollzogen werden (siehe ausführlich Braun/ Voss 2013). Seine Sozialtheorie bleibt allerdings bewusst einer engen Variante des Rational-Choice-Ansatzes verpflichtet und sieht beispielsweise weitgehend von der Möglichkeit ab, dass Akteure Normen verinnerlicht haben und sich deshalb für das Gemeinwohl (etwa die Durchsetzung sozialer Normen) engagieren. Die sozialtheoretische Bedeutung seiner Analysen besteht daher vor allem darin, einen Referenzpunkt für die Erklärung sozialer Ordnung bereitzustellen: Wenn man versteht, wie voraussetzungsreich die Entstehung sozialer Ordnung unter rationalen Egoisten ist, kann man in einem zweiten Schritt all diejenigen Mechanismen zu identifizieren versuchen, welche empirisch ordnungsbildend wirken-- und darunter neben institutionellen und anderen »externen« Lösungen des Ordnungsproblems auch »interne« Lösungen, die auf einer Internalisierung sozialer Normen oder persönlichen moralischen Regeln beruhen. Das größte Defizit von Colemans Theorie der Normenentstehung besteht darin, dass es ihm nicht gelungen ist, diese eng mit einem empirischen Forschungsprogramm zu verzahnen, welches geeignet wäre, die entwickelten Modelle zu testen und weiterzuentwickeln. Gelungen ist dies dagegen in der experimentellen Spieltheorie (Fehr/ Gintis 2007). Diese seit etwa zwei Jahrzehnten boomende Forschungsrichtung konfrontiert Versuchspersonen mit Situationen strategischer Interdependenz und lässt sie um reale Geldbeträge spielen. Eines ihrer wichtigsten Resultate ist, dass sich Menschen nur unter bestimmten Bedingungen und insgesamt relativ selten so verhalten, wie es das wirtschaftswissenschaftliche Bild vom Homo oeconomicus erwarten lässt. Vielmehr besitzen die meisten Menschen soziale Präferenzen, also beispielsweise eine Präferenz für Fairness, Gleichheit oder Reziprozität. Für die Soziologie und Psychologie kommt diese Einsicht nicht überraschend. Durch die Möglichkeiten experimenteller Forschung hat es die experimentelle Spieltheorie jedoch geschafft, in kürzester Zeit weit über derartige Grundeinsichten hinauszukommen. Komplexere Versuchsanordnungen ermöglichen beispielsweise zu untersuchen, unter welchen Bedingungen Akteure bereit sind, nicht beitragende Akteure zu sanktionie- <?page no="235"?> 236 Clemens Kroneberg ren. Interessanterweise sind sie auch dann dazu bereit, wenn ihnen persönlich dadurch kein unmittelbarer monetärer Nutzen, sondern nur Kosten entstehen-- ein Phänomen, das als »altruistisches Bestrafen« bezeichnet wird. Je nachdem, ob die Möglichkeit zur Bestrafung besteht, werden Kollektive im Aggregat über die Zeit Kooperation erhalten können-- indem prosoziale Akteure stärker egoistische Akteure durch ihre Sanktions(-drohungen) zum Beitragen motivieren-- oder einen kontinuierlichen Rückgang von Kooperation erleben-- da die meisten prosozialen Akteure ebenfalls aufhören zu kooperieren, wenn dies einseitig ausgenutzt werden kann (Fehr/ Gächter 2002). Die experimentelle Spieltheorie ermöglicht somit Einsichten darin, welche sozialen und institutionellen Strukturen kooperationsförderlich sind, und ist daher wiederum auch von hohem praktischem Nutzen (»Mechanism Design«, »Behavioral Economic Engineering«). Handlungstheoretisch hat sie die Abkehr von der engen Variante der Theorie rationaler Wahl-- wie sie noch Coleman vertreten hat-- stark befördert. Meist spricht man sogar nur noch von einem »preferences, beliefs, and constraints«-Ansatz (Fehr/ Gintis 2007) und lässt damit die Frage der Rationalität (über die Minimalanforderung intern konsistenter Präferenzen hinaus) bewusst offen. 6. Hartmut Essers erklärende Soziologie: Paradigmenintegration Colemans Sozialtheorie realisiert seine methodologische Forderung, das komplexe Zusammenwirken mehrerer Akteure ins Zentrum soziologischer Theoriebildung zu rücken. Um dessen Komplexität analysieren zu können, sei es zweckmäßig, zunächst von relativ einfachen bzw. abstrakten handlungstheoretischen Annahmen auszugehen. Ein hohes Maß deskriptiver Genauigkeit in der Beschreibung der Handlungswirksamkeit verinnerlichter Normen, der Ausbildung von Erwartungen oder der Deutung von Situationen würde es häufig unmöglich machen, die Interaktion einer Vielzahl von Akteuren zu modellieren. Colemans Annahme der Nutzenmaximierung ist daher weniger Ausdruck seines Glaubens an die menschliche Rationalität, als ein Hilfsmittel für die Mathematisierung seiner Sozialtheorie, für die eine wie auch immer geartete Maximierungsannahme notwendig ist. Es gibt also gute methodologische Gründe für Colemans selbstauferlegte Bescheidenheit in Bezug auf die verwendete Handlungstheorie. Gleichwohl ist dies nur eine theoretische Option im Rahmen der erklärenden oder analytischen Soziologie. Hartmut Essers Werk-- wie auch die späteren Arbeiten von Raymond Boudon (2011) und Siegwart Lindenberg (2008)-- steht beispielhaft für eine zweite Option: den Versuch einer realistischeren, damit aber auch komplexeren und differenzierteren Analyse individuellen und sozialen Handelns (Kroneberg 2011, Kroneberg/ Kalter 2012). Die von Esser entwickelte Handlungstheorie wird als Frame-Selektionstheorie bezeichnet, das formale Modell auch als das Modell der Frame-Selektion (Esser 2010, Kroneberg 2011). Ausgehend von Essers Re-Interpretation der Theorie des Alltagshandelns von Alfred Schütz (Esser 1991) übernimmt diese integrative Handlungstheorie die Einsichten der verstehenden Soziologie in die variable Rationalität der Akteure und die Bedeutung von Situationsdeutungen für menschliches Handeln. Das Modell betrachtet, welche Situationsdeutung Akteure vornehmen (Frame-Selektion), welche Verhaltensdispositionen sie aktivieren (Skript-Selektion) und welche Handlungsalternative sie schließlich auszuführen versuchen (Handlungsselektion). Zudem erlaubt es zu analysieren, inwieweit diese Selektionen aus einem spontanen Aktivierungsprozess oder aus einer reflektierten Entscheidung resultieren. Im Gegensatz zum ökonomischen Credo, dass Anreize menschliches Verhalten bestimmen, folgt aus dem Modell eine <?page no="236"?> Theorien rationaler Wahl 237 nur konditionale Relevanz von Anreizen: Eine stark auferlegte Definition der Situation bzw. ein stark aktiviertes Skript können dazu führen, dass andernfalls relevante Anreize bei der Situationswahrnehmung und beim Handeln ausgeblendet werden. Mittlerweile existiert eine ganze Reihe empirischer Anwendungen des Modells der Frame-Selektion, etwa zu Altruismus, Fertilitätsentscheidungen, Kriminalität, Kulturkonsum, Umweltverhalten oder Wählerverhalten (Kroneberg 2011: 159 ff.). Die besondere Stoßrichtung von Hartmut Essers Ansatz besteht in der angestrebten Überwindung der theoretischen Zersplitterung der Soziologie durch ein einheitliches Erklärungsprogramm, das die (als solche anerkannten) wichtigen Einsichten der unterschiedlichen soziologischen Paradigmen zu integrieren erlaubt. Diese Zielsetzung unterscheidet Esser deutlich von jenen Vertretern des Rational-Choice-Ansatzes, die etwa den Symbolischen Interaktionismus oder Luhmanns Systemtheorie lediglich als theoretische Irrwege betrachten, deren Rezeption eine Fehlallokation von Zeit und Aufmerksamkeit bedeuten würde. Nicht zufällig ist Essers Hauptwerk, seine insgesamt sieben Bände umfassende Abhandlung zu den Grundlagen der Soziologie (Esser 1993, Esser 1999-2002), zugleich als Lehrbuch der Soziologie wie als Entwicklung des Ansatzes der Erklärenden Soziologie konzipiert. Wie Esser selbst herausgestellt hat, ist dieser Versuch, eine vereinheitlichende theoretische Grundlage für die gesamte Soziologie zu entwickeln, auch ein zentraler Unterschied zu Colemans Hauptwerk »Foundations of Social Theory« (Esser 1992). Zur beispielhaften Veranschaulichung von Essers Integrationsanspruch soll hier kurz ausgeführt werden, auf welche Weise Esser das für moderne Gesellschaften kennzeichnende Phänomen der »funktionalen« Differenzierung analytisch erfasst. Damit ist das für moderne Gesellschaften charakteristische Ensemble relativ autonomer Ordnungen mit je eigenen kulturellen Leitideen, wie etwa Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst, gemeint. Dieses Thema war in der zweiten Hälfte des 20.-Jahrhunderts eng mit der Systemtheorie verbunden und wurde gerade im Rational-Choice-Ansatz weitgehend ignoriert. Esser erkennt dagegen soziale Differenzierung neben sozialer Ungleichheit, sozialer Ordnung und sozialem Wandel als eines der vier zentralen Grundprobleme der Soziologie an und entwickelt eine handlungstheoretisch fundierte Differenzierungstheorie. Dabei übernimmt Esser den Begriff des sozialen Systems, definiert ihn aber konsequent handlungstheoretisch als bis auf Weiteres immer neu reproduzierte Prozesskette des aneinander anschließenden, mit einem spezifischen Sinn verbundenen, symbolisch markierten und damit auch als Kommunikation wirksamen Handelns (Esser 2000: 33). Für die Identität und den Fortbestand eines sozialen Systems ausschlaggebend ist wohlgemerkt nicht der subjektive Sinn der Akteure, sondern der sozial zugeschriebene Sinn. Soziale Systeme, und gesellschaftliche Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft im Besonderen, zeichnen sich durch eine tendenzielle Unabhängigkeit von individuellen Akteuren und deren Motiven aus: Positionen können neu besetzt werden, ohne dass der spezifische Sinn des Systems gefährdet ist, und selbst etwaige idiosynkratische Motive (der barmherzige Unternehmer) werden dadurch »neutralisiert«, dass diese Handlungen im System ausschließlich unter den Gesichtspunkten der jeweiligen kulturellen Leitidee relevant und weiterverarbeitet werden (Zahlungsfähigkeit, Spielräume für Preiswettbewerb, u. Ä.). Diese Autonomie und Verselbständigungstendenzen sozialer Systeme motivieren letztlich auch die objektivistische Analyse der Systemtheorie und ihren Verzicht auf eine akteurstheoretische Betrachtungsweise. Esser versucht dagegen die beschriebenen Besonderheiten in einer handlungstheoretischen Differenzierungstheorie analytisch zu fassen. Die Grundlage hierfür bildet das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen, das Esser von Siegwart Lindenberg (1989) übernimmt. Dieses <?page no="237"?> 238 Clemens Kroneberg Konzept geht davon aus, dass sich menschliche Akteure in ihren Grundbedürfnissen nicht unterscheiden, sodass Variationen in ihrem Handeln das Ergebnis unterschiedlicher Ressourcen sowie institutioneller und kultureller Ordnungen sind. Menschen streben allgemein nach physischem und sozialem Wohlbefinden. Kulturen und institutionelle Ordnungen-- und damit auch gesellschaftliche Wertsphären oder Teilsysteme-- legen fest, mit welchen Gütern sich diese Bedürfnisse befriedigen lassen. Beispielsweise erlangt man in der Politik soziale Wertschätzung durch Erhalt und Vermehrung von Entscheidungsmacht, in der Wissenschaft durch interessante Wahrheiten und in der Wirtschaft durch Gewinnmaximierung. Diese teilsystemspezifischen Oberziele wiederum müssen durch den Einsatz von Zeit und Ressourcen in mitunter zahlreichen Zwischenschritten produziert werden. Beispielsweise ist Macht in demokratischen politischen Systemen primär über Wahlerfolg zu bekommen, was wiederum entsprechende Investitionen verlangt, wie etwa in eine Wahlkampagne oder noch weiter im Vorfeld in innerparteiliche Beziehungen, um überhaupt einen Listenplatz zu erhalten. Soziale Produktionsfunktionen legen somit sowohl fest, durch welche Güter Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können (sogenannte primäre Zwischengüter), als auch durch welche Produktionsketten diese Güter erstellt werden können (sogenannte indirekte Zwischengüter). Man erkennt sogleich die Parallele zwischen diesem Modell und den Begriffen von binärem Code und Programm in Luhmanns Systemtheorie. Der Fortbestand bestimmter sozialer Systeme erklärt sich somit durch eine Anreizkonstellation: Abweichungen von den sozialen Produktionsfunktionen werden sanktioniert oder sind zumindest weniger effizient zur Bedürfnisbefriedigung. Dies gilt selbstverständlich nicht gleichermaßen für alle Akteure, was der Theorie unter anderem ermöglicht, die Entstehung von Sub- und Gegenkulturen und deren unterschiedliche Attraktivität je nach sozialer Lage zu erklären. Diese Fundierung sozialer Systeme in den Interessen der Akteure anzuerkennen, darf jedoch nicht bedeuten, die eigenständige Rolle kultureller Leitideen zu übersehen. Das Handeln der Akteure trägt nicht nur instrumentellen Charakter, sondern sie identifizieren sich häufig mit den Werten eines Teilsystems. Im Gegensatz zur einfachen Nutzentheorie ermöglicht gerade das Modell der Frame-Selektion kulturelle Deutungsschemata und Orientierungsstandards als eigenständige Erklärungsgrößen zu berücksichtigen. Man kann das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen somit als institutionentheoretisches Komplement zu Framing-Theorien auffassen. Die Verbindung basiert auf der Vorstellung, dass die sozialen Produktionsfunktionen bei hinreichend sozialisierten Akteuren mental als Frames und Skripte repräsentiert sind. Aus dieser theoretischen Verknüpfung ergeben sich jedoch Spannungspunkte (Rössel 2008, Stachura 2009). Ordnungstheoretisch scheint das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen die Einsicht in die Bedeutung der subjektiven Definition der Situation extrem zu relativieren. Aus der Perspektive strikt mikrosoziologischer Ansätze wie dem Symbolischen Interaktionismus verkennt die Vorstellung sozialer Produktionsfunktionen, an denen sich Akteure nur noch auszurichten bräuchten, dass sowohl die kulturellen Ziele als auch die institutionalisierten Mittel in Wirklichkeit vage und vieldeutig sind und daher situational immer erst wieder aufs Neue ausgehandelt werden müssen (Rössel 2008). Vielmehr sei das Ausmaß, in dem Akteure bestimmte kulturelle Ziele, z. B. Wahrheit im Wissenschaftssystem, erreicht haben, eine sozial mehr oder weniger geteilte Zuschreibung und als solche das Ergebnis eines Interaktionsprozesses, der unter anderem durch die Interessen und Macht der beteiligten Akteure geprägt ist. Diese divergierenden Sichtweisen sozialer Ordnung veranschaulichen exemplarisch die Grundlage für die Zersplitterung der Soziologie in verschiedene Paradigmen. Die integrative Zielsetzung von Essers Erklärender Soziologie setzt voraus, dass derartige theoretische Differenzen überwunden werden können. Der Schlüssel hierzu ist, die beiden Sichtweisen nicht als konkurrierende Hypothesen über das »Wesen« institutioneller Ordnungen aufzufassen. Das Konzept sozialer Pro- <?page no="238"?> Theorien rationaler Wahl 239 duktionsfunktionen und die interaktionistische Konzeption situativ ausgehandelter Ordnungen operieren auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen und eignen sich zur Verfolgung unterschiedlicher Fragestellungen. Das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen will erklären, wie das Verhalten von Akteuren in Abhängigkeit bestimmter institutioneller und kultureller Vorgaben variiert. Indem es von solch einer Vorgegebenheit ausgeht, abstrahiert es von der Heterogenität und Unschärfe kultureller und institutioneller Vorgaben. Die interaktionistische Konzeption situativ ausgehandelter Ordnungen rückt diese dagegen ins Zentrum der Betrachtung und ist hier insofern von vornherein deskriptiv genauer. Damit werden aber schlichtweg andere Bestandteile von Variation fokussiert bzw. es wird die umgekehrte Kausalrichtung betrachtet: Man will erklären, wie Zielvorstellungen situativ ausgehandelt werden, wie also soziale Ordnung aus dem handelnden Zusammenwirkens der Akteure hervorgeht. Es wäre methodologisch vollkommen verfehlt, würde man generell von soziologischen Erklärungen solch eine Endogenisierung institutioneller und kultureller Vorgaben verlangen. Ohne abstrahierende Annahmen hinsichtlich der Makro-Bedingungen des Handelns zu treffen, kommt man über die Analyse von »micro encounters« häufig nicht hinaus. Nicht ohne Grund ist diese Beschränkung interpretativen Ansätzen wiederholt vorgeworfen worden. Analytisch interpretiert ist das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen also nicht von vornherein ordnungstheoretisch abzulehnen. Seine Annahme singulärer Oberziele sollte so interpretiert werden, dass unter den relevanten Akteuren zu einem gewissen Grad ein sozialer Konsens hinsichtlich der primären Zielvorstellung besteht, welche mehr oder weniger eindeutig definiert ist. Je ausgeprägter der Konsens und je eindeutiger die Zielspezifikation, umso stärker sind die Anwendungsbedingungen des Konzepts der sozialen Produktionsfunktionen erfüllt. Ob das Konzept eine hinreichend gute Approximation an die soziale Wirklichkeit darstellt oder nicht, hängt vom jeweiligen Anwendungskontext und der Fragestellung ab. Gegen eine derartige Integration soziologischer Ansätze besteht verständlicherweise hartnäckiger Widerstand. Wenn man die konstitutionstheoretischen Einsichten unterschiedlicher Paradigmen derart integriert, beraubt man traditionelle Ansätze der Grundlage ihres Anspruchs auf theoretische Höherwertigkeit. Debatten um das wahre Wesen sozialer Ordnung (wie auch über den »Primat« von Handlung gegenüber Struktur, von Interessen gegenüber Ideen, usw.) sind jedoch aus der Perspektive der erklärenden Soziologie ebenso unfruchtbar wie nicht zu entscheiden. Der Wert unterschiedlicher Begrifflichkeiten und Konzeptualisierungen lässt sich letztlich nur in Bezug auf eine kausale Fragestellung bzw. im Rahmen einer erklärenden Theorie bemessen. Dies anzuerkennen, würde allerdings bedeuten, den Anspruch auf Kausalerklärungen und auf eine empirische Kontrolle soziologischer Theoriebildung zu akzeptieren und somit eine rein konstitutionstheoretische Soziologie hinter sich zu lassen. 7. Gesellschaftliche Relevanz: ja, Gesellschaftstheorie: nein Der Rational-Choice-Ansatz und das allgemeinere Programm der erklärenden Soziologie nimmt eine Sonderstellung unter den soziologischen Großtheorien ein: Im Gegensatz zu »vollwertigen Gesellschaftstheorien« mangelt es an »Gegenwartsdiagnosen«, »Pathologiediagnosen« und »Zukunftsprognosen« auf der Ebene der (Welt-)Gesellschaft. Mittlerweile dürfte deutlich sein, welche Ursachen dies hat. Die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, ist bestenfalls eine empirisch zu beantwortende Frage (z. B. Ausmaß der Ungleichheit, Individualisierung oder Pluralisierung). Gesellschaftliche Großtheorien nehmen sich ihrer allerdings häufig ohne enge Rückbindung an empirische Evidenz an und entwickeln in erster Linie ein neues begriffliches <?page no="239"?> 240 Clemens Kroneberg Vokabular zur Beschreibung von Gegenwartsgesellschaften, ihrer Neuartigkeit und Zukunftstendenzen. Sicherlich existiert eine große gesellschaftliche Nachfrage nach derartigen grand theories (Boudon 2002). Sie regen die Reflexion über die Gesellschaft an und können auch sinnstiftend oder sogar mobilisierend wirken. Diese gesellschaftliche Nachfrage zu bedienen bedeutet jedoch nahezu zwangsläufig eine Abkehr von dem eingangs beschriebenen Wissenschaftsverständnis. Idealtypische Zuspitzungen treten häufig an die Stelle sorgfältiger empirischer Deskription und Fragen nach »Wesen« und »Primat« sozialer Phänomene dominieren gegenüber der Identifikation kausaler Mechanismen. Legt man dagegen ein engeres kausaltheoretisches Wissenschaftsverständnis zu Grunde, so muss man sich mit Theorien mittlerer Reichweite begnügen. Denn der Gegenstand der Sozialwissenschaften weist Besonderheiten auf, die dazu führen, dass kausale Theorien immer nur einen begrenzten Ausschnitt des Sozialen erfassen können. Insbesondere sind viele soziale Prozesse durch externe zufällige Ereignisse beeinflusst, die sich nicht vollständig in theoretischen Modellen berücksichtigen, geschweige denn vorhersagen lassen-- ein Tatbestand, der auch den Naturwissenschaften bekannt ist, etwa in der Meteorologie. Gesellschaftstheoretische Zukunftsprognosen sind daher mit großer Skepsis zu betrachten. Schlichtweg an der Sache vorbei gehen schließlich Versuche, den Rational-Choice-Ansatz selbst wieder zeitdiagnostisch zu deuten. Insbesondere ist dieser Ansatz keine theoretische Verteidigung einer neoliberalen Ellbogengesellschaft. Erstens hat der Übergang von der engen zur weiten Version der Theorie rationaler Wahl die Annahme des materiellen Egoismus hinter sich gelassen. Und zweitens sind aus dem Rational-Choice-Ansatz mittlerweile theoretische Entwicklungen hervorgegangen, die eine Relativierung oder sogar einen Abschied von der ehemals identitätsstiftenden Rationalitätsannahme bedeuten. Die offeneren bzw. stärker epistemologischen Bezeichnungen dieser Ansätze- - erklärende Soziologie, mechanismische Soziologie, analytische Soziologie- - machen deutlich, dass sich ihre Vertreter nur noch dem empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnis und dem Makro-Mikro-Makro-Modell verpflichtet fühlen. Eine erste Gruppe von Arbeiten versucht an die Stelle von Theorien rationaler Wahl stärker psychologisch fundierte Handlungstheorien zu setzen, die sich gleichwohl als allgemeine Mikrofundierung soziologischer Erklärungen eignen (Lindenberg 2008, Boudon 2011, Kroneberg 2011, Kroneberg/ Kalter 2012). Eine zweite Gruppe verzichtet dagegen bewusst auf den Anspruch, einen einheitlichen handlungstheoretischen Kern für alle soziologischen Erklärungen zu suchen. Stattdessen wird-- je nach Fragestellung, Datenlage und Plausibilität-- mit unterschiedlichen Theorien oder gar einfachen Verhaltensannahmen gearbeitet (Hedström/ Bearman 2009). Bemerkenswerterweise betonen mittlerweile auch Hauptvertreter des Rational-Choice-Ansatzes, dass der Begriff der Rationalität für den Ansatz überflüssig sei und es nur darum gehe, präzise Selektionsregeln des Handeln zu spezifizieren (Diekmann/ Voss 2004). Mehr denn je fokussiert die analytische oder erklärende Soziologie somit auf das wissenschaftliche Kerngeschäft: die Entwicklung theoretischer Kausalmodelle und ihrer empirischen Anwendung und Prüfung. Diese Selbstbeschränkung und der Verzicht auf gesellschaftliche Großtheorien und Zeitdiagnosen müssen jedoch keinen Verlust an gesellschaftlicher Relevanz oder gesellschaftspolitischem Engagement bedeuten. Im Gegenteil: Erklärende Theorien und Modelle, welche eine Analyse komplexer Kausalzusammenhänge ermöglichen, können einen hohen praktischen Anwendungswert besitzen, etwa für das Design von Institutionen (Coleman 1993). Idealerweise basieren praktische Empfehlungen niemals nur auf theoretischen Modellen, sondern auch auf systematischer empirischer Forschung. Nicht zufällig, sondern in Einklang mit dem eingangs beschriebenen Wissenschaftsverständnis, sind daher Coleman und Esser auch als empirische Sozialforscher sehr einflussreich gewesen. Hartmut Esser ist der wohl prominenteste deut- <?page no="240"?> Theorien rationaler Wahl 241 sche Migrations- und Integrationsforscher und hat zudem wichtige Analysen und Projekte zur Familiensoziologie und Soziologie des Befragtenverhaltens durchgeführt und angestoßen. James S. Colemans hauptsächliche empirische Forschungsgebiete waren die Jugend- und Bildungssoziologie, daneben aber auch die Organisations- und Gemeindesoziologie. Seine 1965 in Auftrag der US-Regierung erstellte, weltweit größte empirische Studie über Chancengleichheit im Bildungssystem ist als »Coleman-Report« in die Geschichte der empirischen Sozialforschung eingegangen (Coleman et al. 1966). Die Ergebnisse der Studie wurden politisch äußerst kontrovers diskutiert und gaben unter anderem den Anstoß für intensivierte Desegregationsprogramme zur ethnischen Durchmischung von Schulklassen (»busing«). Colemans Folgestudie, die nachzuweisen beanspruchte, dass weiße US-Amerikaner durch Wohnortwechsel die schulische Desegregationspolitik untergraben, führte sogar zu einem regelrechten öffentlichen Skandal (Braun/ Voss 2013). Die Bereitschaft, empirisch fundierte Thesen gegen die herrschende Meinung und öffentlichen Widerstand zu vertreten, kennzeichnet auch Hartmut Essers Beiträge zur Integrationsforschung. Kontrovers diskutiert wurde in den letzten Jahren vor allem seine These, dass Schulleistungen, Bildungs- und späterer Arbeitsmarkterfolg von Einwandererkindern ausschließlich von ihrer Kompetenz in der Sprache des Aufnahmelandes abhängen und die Förderung ihrer Muttersprachkompetenz keinen eigenständigen förderlichen Effekt hat (Esser 2006). Die Vielzahl von (nur mangelhaft evaluierten) Förderprogrammen wäre daher aus wissenschaftlicher Sicht in ihrer Effektivität zu hinterfragen. Die empirischen Forschungsprojekte und Beiträge von James S. Coleman und Hartmut Esser veranschaulichen somit nicht nur den Dialog von Theorie und Empirie. 4 Sie verdeutlichen auch, dass das zugrunde liegende empirisch-analytische Wissenschaftsverständnis keineswegs mit einer geringeren gesellschaftspolitischen Relevanz einhergehen muss. Sowohl Coleman als auch Esser stehen für eine theoretisch ambitionierte, an der Lösung empirischer Erklärungsprobleme ausgerichtete Soziologie, die sowohl die Selbstbezüglichkeit eines in die Sozialphilosophie mündenden Theoretisierens vermeidet als auch den uninspirierten Empirismus des Variablensoziologen. Literatur Baurmann, Michael (1993): Rechte und Normen als soziale Tatsachen. Zu James S. Colemans Grundlegung der Sozialtheorie. In: Analyse & Kritik 15: 36-61. 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So haben sich etwa einige substantielle Schlussfolgerungen, die Coleman aus seinen bildungssoziologischen Analysen oder aus seiner wegweisenden Studie zur Bedeutung von Netzwerken für die Diffusion von Innovationen (am Fall der Übernahme eines neuen Medikaments unter Ärzten) gezogen hat, in Re-Analysen als nicht haltbar erwiesen (Mayer 1997, Van-den-Bulte/ Lilien 2001). <?page no="241"?> 242 Clemens Kroneberg Braun, Norman/ Voss, Thomas (2013): Zur Aktualität von James Coleman. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden. Coleman, James S. (1990): Foundations of Social Theory, Cambridge, MA. Coleman, James S. (1993): The Rational Reconstruction of Society: 1992 Presidential Address. In: American Sociological Review 58 (1): 1-15. Coleman, James S./ Campbell, Ernest Q./ Hobson, Carol J./ McPartland, James/ Mood, Alexander M./ Weinfeld, Frederick D./ York, Robert L. (1966): Equality of Educational Opportunity, Washington, D. C. 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Im Prinzip ist damit zweierlei bereits zu Anfang formuliert: die Erkenntnis, dass Geschichte stets im Kontext von gesellschaftlichen Vorbedingungen verläuft, und die Tatsache, dass Handelnde trotz allem Einfluss auf ihr kollektives Leben bzw. auf Gesellschaft nehmen. Angesichts von Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Transformation ökonomischer und politischer Institutionen im Zuge von Globalisierungsprozessen stellt sich allerdings die Frage, inwieweit Menschen ihre Geschichte wirklich »machen« und die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten können. Auch Anthony Giddens nimmt diese Frage als Sozial- und Gesellschaftstheoretiker ernst. Auf der Grundlage der von ihm entwickelten Strukturierungstheorie versucht er deshalb sowohl für die sozialwissenschaftliche Fachdebatte als auch für die politische Öffentlichkeit Antworten zu geben, die gleichermaßen realistisch und kritisch sind und zu gesellschaftlichen Veränderungen ermutigen. 2. Methodologische Standortbestimmung der Sozialwissenschaften Anthony Giddens bestimmt die zentralen Erkenntnisprobleme sozialwissenschaftlicher Forschung und die methodologischen Konturen seines eigenen Ansatzes in der Auseinandersetzung mit den bis dahin einflussreichsten Strömungen der Soziologie. Es sind insbesondere zwei Grundtendenzen und die zwischen ihnen bestehenden paradigmatischen Gegensätze, die den Ausgangspunkt für seine Begründung einer umfänglichen Sozial- und Gesellschaftstheorie bilden: Der einen Strömung, dem sozialwissenschaftlichen »Objektivismus«, der auf die objektive Qualität und meist auch auf den (unterstellten) Zwangscharakter von sozialer Ordnung fokussiert, stellt Giddens (1997: 34, 41) dabei jenen »Subjektivismus« gegenüber, dessen Perspektive die des Individuums und seiner Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten ist. Maßgeblich für die Entwicklung seines eigenen methodologischen Programms war jedoch zunächst vor allem Giddens’ bewusste Abgrenzung von der erstgenannten Denkrichtung. Deren vorherrschendes Wissenschaftsverständnis charakterisiert und kritisiert er unter der Überschrift des »orthodox consensus« als den in mehrfacher Hinsicht fehlgeschlagenen Versuch, Ziele und Vorgehensweisen von Untersuchungen <?page no="244"?> Theorie der Strukturierung 245 sozialer Zusammenhänge nach dem Modell der Naturwissenschaften zu begreifen (Giddens 1996a: 65). Kennzeichnend dafür ist nach seiner Auffassung vor allem eine bestimmte Vorstellung kausaler Wirkzusammenhänge des Sozialen, die letztlich auf die Ableitung von generalisierbaren Gesetzen-- vergleichbar den Naturgesetzen-- zielt (vgl. ebd.: 68 f.). Schon die konträren Positionen der soziologischen Klassiker in dieser Frage (z. B. jene von Émile Durkheim und Max Weber) weisen das so formulierte Ausgangsproblem freilich als eine voraussetzungsreiche Zuspitzung aus-- dessen ist sich auch Giddens (1994a: 234) mit Blick auf die unterschiedlichen Traditionen und Entwicklungslinien des Fachs durchaus bewusst. Dennoch liefert der von ihm gewählte Zugang nicht nur einen Schlüssel zum Verständnis auch aktuellerer Debatten (etwa im Kontext der »Science Studies«), sondern zugleich wichtige Anhaltspunkte bezüglich der gesellschaftlichen Rolle, die soziologische Erklärungsangebote gegenwärtig spielen können: Wenn es zutrifft, dass die soziale Praxis moderner Gesellschaften durch ein zunehmendes Wissen über ihre eigenen Wirkzusammenhänge mindestens ebenso sehr geprägt ist wie durch naturwissenschaftlich-technische Veränderungsdynamiken (vgl. Giddens 1996b: 26 f., 54 ff.), dann gewinnt auch die Debatte zum Verhältnis von natur- und sozialwissenschaftlichen Denkweisen für gesellschaftstheoretische Gegenwartsdiagnosen an Relevanz. Bereits mit ihrem »empiristischen« Verständnis der Naturwissenschaft als solcher übersieht die orthodoxe Programmatik nach Giddens’ (1996a: 68) Auffassung aber etwas Wesentliches: dass nämlich auch die Formulierung von naturgesetzlichen Erklärungen nur im Kontext interpretativer Deutungsrahmen und Theoriesysteme-- »interpretative systems of meaning«-- möglich ist. Giddens’ Position in dieser Frage ist, das wird an vielen Stellen seines Werkes deutlich, von dem Gedanken beeinflusst, dass Sprache, sei es die des Alltags oder die der Wissenschaft, nicht unvoreingenommen sein kann: »Language is a medium of social practice.« (Giddens 1994a: 245) Als ein solches »Medium sozialer Praxis«, zu der auch wissenschaftliche Erkenntnisproduktion zu zählen ist, wird die Sprache unvermeidlich durch deren Logik und Notwendigkeiten mitbestimmt (vgl. ebd.). Für konkrete soziologische Erklärungen sind allerdings vor allem allzu einfache Verursachungsmodelle problematisch: Menschen handeln auf der Basis ihrer Alltagskompetenzen und diese schließen auch ein umfangreiches Orientierungswissen im Sinne »praktischen Bewusstseins«- - »practical conciousness« (Giddens 1996a: 69)-- über Regeln des Zusammenlebens ein (vgl. ebd.). Während die von Giddens kritisierten Strömungen der Soziologie das verdeckte Wirken von sozialen Kräften ›hinter‹ den beobachtbaren Handlungsweisen unterstellen, unterstreicht er deshalb, dass soziale Einflussgrößen nur vermittelt durch das Zutun von Subjekten wirksam werden können. Weder wird damit behauptet, dass Handelnde zu jedem Zeitpunkt reflektieren, was sie tun, noch dass Handlungsgründe in einem radikalen Sinne frei bzw. unabhängig vom sozialen Kontext sind oder schließlich Handlungsfolgen immer auf die jeweiligen Absichten zurückzuführen wären-- Giddens setzt sich frühzeitig und kritisch mit all diesen Punkten auseinander und korrigiert somit auch die der subjektivistischen Perspektive innewohnenden Vereinseitigungstendenzen (vgl. z. B. Giddens 1984: 197 f.). Worum es aber gehen soll, lässt sich mit ihm am Beispiel des Straßenverkehrs bzw. im Hinblick auf das Verhalten an einer Ampelkreuzung verdeutlichen: Während nämlich die Beteiligten aufgrund des Wissens um bestimmte Regeln handelten (z. B. durch das rechtzeitige Bremsen), erscheine dies unter dem Gesichtspunkt von vermeintlichen Naturgesetzen des Sozialen als ein direktes Resultat des roten oder grünen Lichtsignals der Ampel und ihrer Strahlungswirkung (vgl. hierzu ausführlich Giddens 1996a: 70). Das reduktionistische Moment solcher Kausalannahmen wird für das gewählte Beispiel aber offensichtlich, sobald die Regeln ihre Geltungskraft verlieren und das Überfahren roter Ampeln Schule macht. Die Aufgabe sozialwissenschaftlicher Analysen kann somit als eine zweifache betrachtet werden: Sie besteht zum einen darin, die der Handlungspraxis und dem praktischen Bewusstsein <?page no="245"?> 246 Jörg Oberthür inhärenten Sinnmomente freizulegen. Giddens (1984: 199) beschreibt dieses Vorgehen als »Eintauchen in eine Lebensform«, weil es unter dem Blickwinkel der Teilnahme an den Vollzügen jener Lebensform erfolgt und deren besserem Verständnis dienen soll. Zum anderen sind sozialwissenschaftliche Erklärungen aber auch erforderlich, um aus der Perspektive wissenschaftlicher Beobachtung (vgl. zur Unterscheidung beider Perspektiven: Strecker 2012, 57 f.) zu zeigen, wo und warum das intendierte Handeln Folgen zeitigt, die sich dem Wissen der Beteiligten entziehen und sie mit unerwarteten Problemen konfrontieren (vgl. Giddens 1996a: 73 f.; 1997: 347 ff.). Dass nicht-intentionale Folgen der sozialen Handlungspraxis beispielsweise Ungleichheiten im Ressourcenzugang unterschiedlicher Milieus verfestigen, lässt sich etwa für Zusammenhänge zwischen Bildungsmustern und sozialer Schichtung nachweisen (vgl. Giddens 1996a: 71; 1997: 348 f.). Entscheidend ist jedoch, dass solche (Wechsel-)Wirkungen erst durch bestimmte Praxen-- z. B. die Berufswahl-- aktualisiert werden. Die durch Giddens (1984: 196f ) formulierten »neue[n] ›Regeln der soziologischen Methode‹«-- ein Label das sich auf Émile Durkheims klassischen Titel Les règles de la méthode sociologique (Durkheim 1894) bezieht-- lassen sich entsprechend noch einmal im Hinblick auf drei Grundideen zusammenfassen: Erstens wird soziale Wirklichkeit von Menschen hergestellt, die ihrerseits den Folgen individueller und kollektiver Praxis im Sinne einer Wechselwirkung unterliegen-- eine Wechselwirkung, die in ihren jeweilige Qualitäten, Freiheitsgraden und Verstetigungen zu erforschen ist (vgl. Giddens 1984: 197 f.). Insbesondere die Soziologie muss deshalb zweitens auf die von Akteuren bereits in Anschlag gebrachten Wissensbestände über die Zusammenhänge des Sozialen zugreifen, sie als Ressource des Verstehens nutzen und in die Sprache ihrer Theorien übertragen (vgl. ebd.: 198 f.). Indem Soziologie folglich eine auf »Bedeutungsrahmen« (ebd.: 199) basierende soziale Wirklichkeit interpretiert, lässt sich die Logik ihres Vorgehens drittens als die einer »doppelten Hermeneutik« (ebd.) bezeichnen, womit der wechselseitige Transfer von Wissen zwischen Theorie und Praxis unterstrichen wird (vgl. ebd.). Dies bedeutet also auch die Diffusion von soziologischen Erkenntnissen in die Alltagspraxis handelnder Subjekte, wodurch letztere nicht nur ihr Selbstverständnis reflektieren, sondern rückwirkend die Geltungsgrundlagen von Theorien ändern können (vgl. ebd.; 1996b: 54 f.). Die hiermit skizzierten methodologischen Prämissen der Eigenständigkeit und Reflexivität sozialer Praxis stellen deshalb zugleich eine Verbindung zu sozialtheoretischen Grundlagen und zeitdiagnostischen Analysekategorien her, auf die mit den folgenden Abschnitten Bezug genommen wird. 3. Sozialtheoretische Grundlagen-- Die Theorie der Strukturierung Das Formulieren von Basiskategorien der soziologischen Analyse, wie etwa praktisches Bewusstsein, Regeln oder Handlungen, impliziert nicht nur bereits Annahmen über Zusammenhänge (etwa zwischen kulturellen Sinnsystemen, Kognition und Praxis), die unabhängig von historischen Entwicklungsstufen der Gesellschaft existieren. Es ist zugleich auch die Voraussetzung dafür, dass sich überhaupt sinnvolle Aussagen über exklusive Merkmale der Gegenwartsgesellschaft treffen lassen. In diesem Sinne betrachtet Giddens (1997: 30) die Sozialtheorie als einen Theoriebereich, in dem es um die Konstruktion von Grundbegriffen geht, während sich die Soziologie »nicht mit menschlichen Gesellschaften schlechthin befaßt, sondern […] auf die ›fortgeschrittenen‹ oder modernen Gesellschaften konzentriert«. Für jede Sozialtheorie ergibt sich damit das Problem, Offenheit im Hinblick auf gesellschaftlichen Wandel und neue Phänomene ebenso wie systematische Beschreibungen und logische Erklärungskraft mit ihren Grundannahmen zu gewährleisten. Giddens’ spezifische Herange- <?page no="246"?> Theorie der Strukturierung 247 hensweise an diesen Sachverhalt besteht nun in einer Neuinterpretation derjenigen Wirkungszusammenhänge, die gemeinhin mit der Unterscheidung von Struktur und Handlung aufgegriffen werden. Während als Strukturen in den Sozialwissenschaften üblicherweise dauerhafte Eigenschaften und Relationen kollektiver Einheiten (z. B. Klassen und Milieus) betrachtet und die konkreten Handlungs- und Interaktionsverläufe entweder als deren abhängige oder unabhängige Größen begriffen werden (vgl. Rosa, Strecker, Kottmann 2007: 17), zielt Giddens’ Theorie der Strukturierung auf die Synthese beider Perspektiven ab. Die zu überwindende Schwäche der bisherigen Ansätze liegt hiernach also in ihren jeweiligen Vereinseitigungen der Beziehung von Struktur- und Handlungsphänomenen und den daraus resultierenden Erklärungslücken: Ist etwa mit dem Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons (1951) die Stabilität einer auf systemischer Normierung und Wertinternalisierung basierenden Sozialordnung vergleichsweise schlüssig zu erklären, so lässt dieser Ansatz doch keinen Platz für normativen Wandel infolge individueller oder kollektiver Handlungspraxis (vgl. Lamla 2003: 36). Demgegenüber verhalten sich die Defizite der methodologisch-individualistischen bzw. interpretativen Ansätze komplementär (Giddens verwendet diese Bezeichnungen, um bestimmte Spielarten des sozialwissenschaftlichen Subjektivismus zu markieren): Indem sie die sozialen Ordnungsmuster lediglich als quasi aufsummierte Resultate von individuellen Deutungen und Handlungsweisen in den Blick nehmen, verlieren sie zugleich auch das Sensorium für die immer schon gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen des Handelns und für nicht-intendierte Handlungsfolgen (vgl. ebd.: 43 f.). Giddens versucht nun diese sozialtheoretischen Gegensätze zu überwinden, indem er Korrekturen sowohl am Handlungsals auch am Strukturbegriff vornimmt und beide Seiten als Aspekte einer Einheit konzipiert, was nicht zuletzt auch in der neologistischen Bezeichnung dieses Projekts als Outline of the Theory of Structuration seinen Ausdruck findet (so der englischsprachige Untertitel seines 1995 in deutscher Übersetzung erschienenen Buchs The Constitution of Society). 3.1 Giddens’ Strukturierungsansatz Durch die Erschließung und kritische Aneignung bestehender Strukturbegriffe gelangt Giddens zu der Erkenntnis, dass viele der bisherigen Ansätze dazu tendierten, die Zeitlichkeit sozialer Ordnung auszublenden (vgl. Giddens 1994b: 62). So verweist er (vgl. ebd.) darauf, dass insbesondere in der systemtheoretischen Ausprägung funktionalistischer Theorien Struktur vielfach mit den statischen Beziehungen auf Ebene sozialer Ganzheiten, d. h. Systemen, gleichgesetzt werde, wie sie sich der soziologischen Betrachtungsweise als isolierte »Augenblicksaufnahmen«- - »snapshot[s]« (ebd.)-- darbieten. Giddens erklärt diese Tendenz und ihre Defizite vor allem aus dem Einfluss naturwissenschaftlich-biologistischer Analogien und ihrer ›anatomischen‹ Modellannahmen- - »resting […] upon a supposed parallel with a differentiation between anatomy and physiology in the study of the organism«(ebd.: 61). Die fortlaufende Reproduktion sozialer Systeme-- begriffen als »Ordnung sozialer Beziehungen über Raum und Zeit hinweg« (Giddens 1997: 432)- - und deren strukturgebende stabile Aspekte müssen jedoch ineinandergreifen. Deshalb kann auch die Trennung von relationalen Interaktionsmustern und Interaktionsverläufen (»patterning of interaction«, »the continuity of interaction in time«, Giddens 1994b: 62) für eine Sozialtheorie nur analytisch bzw. perspektivisch sein (vgl. ebd.: 62 f.). Gefragt ist mithin nach einem Strukturverständnis, dass drei Ebenen in ihrer Wechselwirkung integriert: den systemischen Charakter von Beziehungsmustern, die handlungsbzw. interaktionsermöglichende Wirkung von Strukturen und deren raum-zeitliche Reproduktion durch die soziale Praxis selbst. Gleichermaßen beeinflusst durch den Strukturalismus Claude Lévi-Strauss’ (vgl. ebd. 64 f.) und die Philosophie Ludwig Wittgensteins <?page no="247"?> 248 Jörg Oberthür (vgl. ebd., 1997: 72 f.), entfaltet Giddens (ebd.: 77) dementsprechend sein Konzept der »Strukturierung« ausgehend von der Kategorie sozialer (Handlungs-)Regeln, der er jedoch durch die Parallelität von »Regeln und Ressourcen« eine neue Wendung gibt. Als Strukturalismus wird in den Sozialwissenschaften eine Denkrichtung bezeichnet, die in Anlehnung an unter anderem Ferdinand de Saussures (1857-1913) linguistische Arbeiten wesentlich von Claude Lévi-Strauss (1908-2009) entwickelt und geprägt worden ist. Saussure (1931/ 2001: 16 f., 135 ff.) ging davon aus, dass Sprache (»langue«) als grammatischer Zusammenhang von Relationen zwischen Zeichen (bspw. Wörtern) auch die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem (z. B. zwischen Wörtern und Ideen) und somit die Bedeutung des konkreten Sprechens generiert (»parole«). Von diesem Standpunkt aus betrachtet ließe sich also sagen, dass die Sprache sich im Sprechen selbst reproduziert. Mit einem ähnlichen Denkansatz blickt Lévi-Strauss auf soziale Phänomene, in deren oberflächlich wechselnder Gestalt und Abfolge er die »Transformationen« gleichbleibender Strukturen sieht (vgl. Morel et al. 1992: 109 f.; Kauppert 2008: 811 f.). Zu Giddens’ hiervon beeinflusstem und gleichzeitig davon abweichendem Struktur- und Regelverständnis hat die Philosophie Ludwig Wittgensteins (1889-1951) beigetragen: Gegenüber dem von Saussure begründeten linguistischem Strukturalismus wird die Bedeutung sprachlicher Symbole durch Wittgenstein (1953/ 2001: § 7) aus deren praktischem Gebrauch in sozial verfassten »Sprachspielen« erklärt. Solche Sprachspiele stellen interaktive Wechselwirkungszusammenhänge von kollektiv tradiertem Wissen, Praktiken und Kommunikationsprozessen- - kurz von »Lebensformen«-- dar (ebd.: § 23), für welche die Ausdrucksformen von Subkulturen mit ihren verschiedenen Bedeutungsmodifikationen der Standardsprache ein gutes Beispiel bieten. Das scheinbar gleiche Wort kann abhängig von seiner praktischen Verwendung also jeweils andere Bedeutung haben und ist deshalb nur im Kontext bzw. aus der Perspektive der sozialen Praxis zu verstehen. Durch die Metapher des Sprachspiels wird zugleich auch der Charakter von sozialen Regeln in einer generellen Weise umgedeutet: Die Spielräume des Handelns, dessen einzelne Vollzüge, für die das Regelwissen nur den allgemeinen Rahmen bildet, und die Möglichkeit sozialen Wandels rücken hierbei wieder in den Vordergrund. Generell hängt unter diesem Blickwinkel die Integrations- und Reproduktionsfähigkeit sozialer Systeme im entscheidenden Maße davon ab, ob und wie Akteure in verschiedenen Situationen und Kontexten ihre Handlungsweisen durch Regeln aufeinander abstimmen können. In soziologischen Strukturtheorien wurden solche Regeln dabei oftmals so behandelt, als seien sie in erster Linie präskriptiver und-- was damit einhergeht-- handlungsbeschränkender Natur (vgl. Giddens 1997: 222 ff.). Im Unterschied zu dieser Sichtweise geht Giddens jedoch von ihrer prinzipiell zugleich konstituierenden bzw. ermöglichenden Wirkung aus (vgl. ebd.: 78). Dass Regeln auch Optionen implizieren, zeigt noch einmal das Beispiel einer Ampelkreuzung: Die hier geltenden Verkehrsregeln ermöglichen die Mobilität von vielen Menschen bei einem Mindestmaß an Sicherheit. Dennoch hat das Beispiel Grenzen: Viele Regeln sind im Alltag-- ganz anders als Verkehrsregeln-- nicht im gleichen Maße strikt bzw. auf den Punkt zu bringen. Giddens bedient sich daher der von Wittgenstein entlehnten Analogien des Kinderspiels (vgl. Giddens 1994b: 68) und der mathematischen Formel (vgl. Giddens: 1997: 72 f.) um einzukreisen, worum es bei der Wirkungsweise von Regeln in der Praxis geht: Diese müssen nämlich- - gerade wenn und weil sie allgemeine Regeln sind- - auf der Basis von praktischem Bewusstsein, d. h. von implizitem Kontextwissen der Subjekte, in adäquater Weise übersetzt und angewendet werden (vgl. ebd.). Deshalb definiert Giddens (1997: 432) Struktur als den Zusammenhang von »Regeln und Ressourcen, die in rekursiver Weise in die Reproduktion sozialer Systeme einbezogen sind«, und fügt hinzu: »Struktur existiert nur in der Form von Erinnerungsspuren […] und als im Handeln exemplifiziert.« Was hierunter zu verstehen ist, <?page no="248"?> Theorie der Strukturierung 249 kann anhand der Unterscheidung von drei »Modalitäten« (ebd.: 81) bzw. Dimensionen der Strukturierung verdeutlicht werden. Abbildung 1 zeigt, dass die normative und symbolische Strukturreproduktion sozialer Systeme (Legitimation und Signifikation) mit Macht und Herrschaft in komplexer Wechselwirkung stehen- - keines der drei Elemente kommt in der Praxis isoliert zum Tragen (vgl. Giddens 1984: 150). Die begriffliche Trennung von (a) interpretativem Schema, (b) Fazilität bzw. Mittel (ebd.: 148) und (c) Norm ermöglicht jedoch Analysen der Modalitäten, mittels derer sich Akteure im Konkreten auf strukturelle Regeln und Ressourcen stützen und sie in rekursiver Weise ändern oder beibehalten können. (a) Instruktiv für Giddens’ Verständnis der Bedeutungsstrukturierung (Signifikation) ist das Beispiel sprachlicher Verständigung. Analog zu Ferdinand de Saussures Unterscheidung von langue und parole wird zunächst vorausgesetzt, dass die Sprache als Struktur und das konkrete Sprechen als ihre Praxis zwei Seiten einer Medaille bilden: Nur weil die Sprache intersubjektive Regeln (z. B. für die Bildung neuer Aussagen) und Ressourcen (z. B. Zeichen) zur Verfügung stellt, kann sie als Medium fungieren-- im Gegenzug erhält sich Sprache als intakter Sinnzusammenhang jedoch nur durch die permanente Pflege in der Kommunikation (vgl. ebd.: 125 f., 148). Schon allgemeine linguistische Prinzipien (z. B. Subjekt-Objekt-Trennung, Zeitbezüge usw.) und Symbole können hierbei Aufgaben von interpretativen Schemata übernehmen und werden dadurch gleichzeitig reproduziert. Giddens erweitert dieses Wechselwirkungsmodell jedoch, indem er den sozialen Kontext von Sinngebungs- und Kommunikationsprozessen in seiner ganzen Breite einbezieht und auch die Möglichkeit zum reflexiven bzw. kreativen Sprachgebrauch berücksichtigt. So sind Ironie und Täuschung Phänomene, die sichtbar werden lassen, dass kommunikative Sinnstrukturen Handeln keinesfalls determinieren, sondern in der Tat auch immer wieder Spielräume erzeugen (vgl. ebd.: 126 ff.). (b) Das erweiterte sprachpragmatische Modell der Signifikation stellt, indem es u. a. auch strategische und manipulative Kommunikationsformen erfasst, die Verbindung zu sozialer Macht und Herrschaft her (vgl. Giddens 1997: 84, 86). Giddens ist allerdings davon überzeugt, dass zwischen Herrschaft, Macht und Handlungspraxis immer und grundsätzlich unauflösbare Beziehungen bestehen (vgl. ebd.: 85; 1994b: 88 f.). Das dieser Auffassung zugrundeliegende Machtkonzept ist ein zweifaches: Allgemein bezeichnet es zunächst »die Fähigkeit des Handelnden, in Ereignisse einzugreifen, um ihren Gang zu verändern« (Giddens 1984: 135, vgl. auch Giddens 1994b: 88). Macht über andere Akteure bildet eine Sonderform, die daraus abgeleitet ist (vgl. Giddens 1994b: 89 ff., 93; 1984: 135). Stets handelt es sich bei der so begriffenen sozialen Macht Struktur Signifikation Herrschaft Legitimation (Modalität) interpretatives Schema Fazilität Norm Interaktion Kommunikation Macht Sanktion Abbildung 1: Strukturierungsdimensionen (Darstellung übernommen von Giddens 1997: 81) <?page no="249"?> 250 Jörg Oberthür allerdings um ein Merkmal von Beziehungen, in denen Machtressourcen (Fazilitäten) wechselseitig mobilisiert und produziert werden. Diese sind als »allokative« oder »autoritative« Ressourcen klassifizierbar (Giddens 1987: 7), wobei erstere sich auf materielle Güter und Produktionsmittel (»including material goods and the natural forces that may be harnessed in their production«, ebd.), letztere auf die im engeren Sinne soziale Kontrolle über Menschen beziehen (»means of dominion over the activities of human beings«, ebd.). Die Untersuchung von Konstellationen sozialer Machtbeziehungen kann unter dem Blickwinkel ihres Strukturcharakters schließlich Herrschaft als asymmetrische Verteilung von Fazilitäten sichtbar machen (»asymmetries of resources employed in the sustaining of power relations«, Giddens 1994b: 93). Die »Dialektik der Herrschaft« (Giddens 1997: 67) bzw. »Dialektik der Kontrolle« (ebd: 429) impliziert jedoch, dass auch die Beherrschten ihre strukturellen Positionen nutzen können, um Ressourcen aufzuschließen und Widerstandsmomente zu entfalten (vgl. ebd.). Beispiele hierfür können Streiks, Konsumboykotte und Formen des zivilen Ungehorsams sein. (c) Schließlich muss auch die von strukturfunktionalistischen Theorien ins Zentrum gerückte normative Integration von Interaktionsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt einer Strukturierungstheorie reformuliert bzw. in ihrem Doppelcharakter erfasst werden. Bezugspunkt sind hierbei die wechselseitigen Erwartungshaltungen und Ansprüche, die Handelnde im Alltag aneinander richten. Die Legitimationsstruktur sozialer Ordnung ermöglicht und beschränkt infolgedessen, was als soziale Praxis innerhalb von Kollektiven normative Geltung fordern kann. Anders als für Durkheim oder Parsons besteht die Kraft, die Individuen in normenkonformer Weise handeln lässt, jedoch nicht im Ausdruck von ›sozialen Tatsachen‹ und Zwängen (Durkheim) oder Rückkopplungsprinzipien in Funktionssystemen (Parsons). Giddens ist in Abgrenzung von diesen Positionen vielmehr der Ansicht, dass eingegangene Verpflichtungen und gewährte Rechte ebenso wie wechselseitige Sanktionen von Akteuren erst stabile Legitimationsbzw. Normstrukturen bilden können (vgl. Giddens 1994b: 86; Giddens 1997: 83). Damit wird betont, dass nicht Automatismen der Sozialisation, sondern »Asymmetrien von Herrschaft« (ebd.) und »Beziehungen derjenigen, die ihnen nominell unterliegen« (ebd.) die normative Ordnung stützen, wobei letztere »vom Ausdruck der Verpflichtung, den jene Normen angeblich erzeugen, deutlich unterschieden sind« (ebd.). Abermals schließt dies die Möglichkeit zu Widerspruch und normativem Wandel ein. Die drei skizzierten Dimensionen von Struktur bilden, wie erwähnt, in konkreten Praxen einen homogenen Sinnzusammenhang. Diejenigen der dabei in Anschlag gebrachten »Strukturmomente« (Giddens 1997: 69), die sich auf ganze Gesellschaften beziehen lassen (z. B. grundlegende ökonomische Verteilungsprinzipien, Demokratie usw.), werden in der Theorie der Strukturierung als »Strukturprinzipien« (ebd.) bezeichnet-- Praktiken mit maximaler raum-zeitlicher Strukturierungswirkung als »Institutionen« (ebd.). Für konkrete Institutionen können zur Erhöhung der analytischen Schärfe Hierarchien bzw. Beziehungslogiken der darin reproduzierten Strukturdimensionen ausgewiesen werden (z. B. »Signifikation-Herrschaft-Legitimation« für »Diskurse«; vgl. hierzu ebd.: 87). Wichtig ist aber, dass auch das institutionelle Gerüst einer Gesellschaft Ausdruck der-- in Giddens’ Worten-- nur »virtuelle[n] Ordnung« von Strukturen ist, die sich erst im Handeln bzw. durch »Instanziierung« in Raum und Zeit vergegenständlicht (Giddens 1994b: 64). Vor diesem Hintergrund lässt sich nun die Frage stellen, worin sich diese Perspektive der Strukturierungstheorie von jener unterscheidet, deren Verkürzungen unter der Überschrift des ›methodologischen Individualismus‹ zunächst ebenfalls kritisiert worden waren. Eine Antwort hierauf gibt Giddens’ Akteursbzw. Handlungsmodell. <?page no="250"?> Theorie der Strukturierung 251 3.2 Das Stratifikationsmodell des Handelns Dass das eigenverantwortliche Handeln von Menschen eine unerlässliche Bedingung für den Bestandserhalt sozialer Ordnung ist, gehört zu den Alltagsgewissheiten und muss als solche vor dem Hintergrund der an früherer Stelle formulierten methodologischen Prinzipien ernst genommen werden. Gleichwohl scheint es, dass viele Tätigkeiten des alltäglichen sozialen Miteinanders in routinierter Weise, d. h. ohne intensive Reflexion, vollzogen werden, was in aller Regel auch problemlos möglich ist. Die von interpretativen Ansätzen als Quelle der sozialen Ordnung zentral gestellten Deutungs- und Aushandlungsprozesse sind im Rahmen einer Sozialtheorie, welche das Dilemma von Struktur und Handlung überwinden möchte, also gleichermaßen neu zu konzipieren. Tatsächlich vollzieht Giddens mit seinem Begriff des Handelns eine solche Weichenstellung, indem er die Routinen ebenso wie Reflexionsmomente und schließlich auch den Umstand integriert, dass im sozialen Leben vielfach Unerwartetes geschehen kann. Gegenüber analytisch isolierten Einzelhandlungen tritt dabei die Kohärenz von Praktiken bzw. Praxis in den Vordergrund: Giddens (1997: 53) fasst das Handeln als permanenten Fluss bzw. als »Durée« (Dauer) des menschlichen Verhaltens auf. Nicht vor das Handeln oder nach dem Ablauf einer Handlung ist das Subjekt als Planungs- oder Korrekturinstanz gesetzt, vielmehr seien die Momente »reflexive[r] Steuerung« (ebd.) jeder Form sozialen Handelns inhärent (vgl. ebd.: 53 f.). Praxis als Schlüsselbegriff und verstanden als das andauernde Eingreifen menschlicher Akteure in die sie umgebende Umwelt bedingt damit ein anderes Konzept von Intentionalität, das, wie Giddens (1994b: 56 f.) hierzu ausführt, nicht im Sinne klar definierter Ziele, sondern eher »als Prozess«-- »›intentionality‹ as process« (Giddens 1994b: 56)-- ununterbrochener Verhaltenssteuerung verstanden werden sollte. Damit einhergehend finden auch die Kontinuität von Geist und Körper sowie qualitativ unterscheidbare Grade der Bewusstheit ihren Niederschlag. Vieles was Akteure wissen, ist nur implizit bewusst, d. h. nicht aussprechbar, und dennoch Merkmal ihrer Subjektivität-- gleichzeitig können Reflexionsleistungen die Sedimente praktischen Bewusstseins im Bedarfs- und Krisenfall erreichen und dem Fluss des Handelns dadurch eine neue Richtung geben (vgl. Giddens 1997: 91 ff.). Giddens verknüpft diese Überlegungen schließlich zu einem »Stratifikationsmodell« (ebd: 55), das in Abbildung 2 schematisch veranschaulicht wird. Betrachtet man den Mittelteil der Abbildung, so fällt die Unterscheidung von Motiven, Rationalisierung und reflexiver Steuerung ins Auge, die in ihrer aufsteigenden Bewegung der eigentlichen Stratifikation des Handelns entspricht. Auf der höchsten Ebene der reflexiven Steuerung des Handelns können Gründe auch in Form von sprachlichen Erklärungen gegeben werden- - eine Fähigkeit, die Giddens (ebd.: 57) als »diskursives Bewusstsein« bezeichnet und vom nonverunerkannte Handlungsbedingungen reflexive Steuerung des Handelns Handlungsrationalisierung Handlungsmotivation unbeabsichtigte Handlungsfolgen Abbildung 2: Das Stratifikationsmodell des Handelns (Abbildung nach Giddens 1997: 56) <?page no="251"?> 252 Jörg Oberthür balen, jedoch gleichfalls reflexiven Charakter des praktischen Bewusstseins unterscheidet (vgl. ebd.: 56 ff.). Üblicherweise wird der Übergang zur diskursiven Reflexion zwar durch die permanent mitlaufende Selbstkontrolle bzw. Handlungsrationalisierung von Individuen ermöglicht-- diese soziale Basiskompetenz ist jedoch durch tiefliegende Schichten der Motivation des Handelns begrenzt: Als allgemeine Handlungstendenzen bzw. »Handlungspotential[e]« (ebd.: 56) entspringen Motive aus grundlegenden Bedürfnissen, die durch die Subjekte teilweise selbst (v) erkannt, in ihrer unbewussten Form aber nur unter besonderen Vorkehrungen (etwa durch psychologische Verfahren) zugänglich gemacht werden können (vgl. ebd.). Bereits vor dem Hintergrund des Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren im Bewusstsein von Personen wird also deutlich, dass die Genese und Reproduktion sozialer Ordnung nicht als geplante Folge von Einzelhandlungen zu begreifen ist. Abbildung 2 verdeutlicht zudem einen zweiten wichtigen Zusammenhang: Die insbesondere aus dem komplexen Miteinander mehrere Akteure unweigerlich resultierenden »unbeabsichtigten Folgen« des sozialen Handelns wirken regelmäßig als »unerkannte Bedingungen« auf Praktiken zurück-- jedenfalls solange, bis sie reflektiert und abermals zum Ausgangspunkt von neuen (nicht-intendierten) Handlungsfolgen werden. Hierin ist in nuce bereits der Kerngedanke »reflexive[r] Modernisierung« (Beck/ Giddens/ Lash 1996) enthalten, der im Zentrum von Giddens’ später entwickelten gesellschaftstheoretischen Zeitdiagnose steht. An dieser Stelle soll aber vor allem darauf hingewiesen werden, dass die Verkopplung von reflexiver Handlungssteuerung und nicht-intendierten Handlungsfolgen auch das Verhältnis von Sozial- und Systemintegration bzw. unmittelbaren und mittelbaren Formen gesellschaftlicher Ordnung tangiert. Ursprünglich auf David Lockwood (1969) zurückgehend, bezeichnen »Soziale Integration und Systemintegration« bei diesem zwei Aspekte von Struktur: Zum einen stehen Individuen in Relationen zueinander (Sozialintegration, vgl. ebd.: 125), zum anderen sind auch überindividuelle Einheiten-- »Teile eines sozialen Systems« (ebd.) wie Organisationen-- miteinander integriert (Systemintegration, vgl. ebd.). Diese Differenz wird im Rahmen der Strukturierungstheorie aufgegriffen, jedoch modifiziert: Bei der »soziale[n] Integration« (Giddens 1997: 431) handelt es sich danach um die »Reziprozität von Praktiken zwischen Akteuren in Situationen von Kopräsenz« (ebd.), »Systemintegration« hingegen meint die »Reziprozität zwischen Akteuren oder Kollektiven über weite Spannen von Raum und Zeit jenseits von Situationen der Kopräsenz hinweg« (ebd: 431). In Anlehnung an Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes und Erving Goffmans Interaktionsanalysen stellt Giddens (ebd.: 116 ff.) heraus, dass nur unter den Bedingungen gegenseitig körperlicher Wahrnehmung- - d. h. von ›Kopräsenz‹- - das ganze Potenzial der reflexiven Steuerung des Handelns (durch Beobachtung, Aktion und Reaktion) entfaltet werden kann. Dennoch scheint evident, dass die raum-zeitliche Ordnung von Gesellschaften im zunehmenden Maße auch Beziehungen unter nicht unmittelbar Anwesenden organisieren bzw. strukturieren muss. Moderne Kommunikationstechnologien ermöglichen eine erhebliche Expansion in diesem Sinne, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass neben solchen Formen auch noch andere Prinzipien der Verkopplung von Handlungspraxen wirksam werden: Für die Systemintegration stellen institutionelle Arrangements von Zeitpunkten und Orten der Begegnung (z. B. die Verbindung von strukturierten Tagesabläufen und Handlungsräumen), zwischen denen Menschen sich gewissermaßen gleitend fortbewegen und soziale Positionen einnehmen-- Giddens (ebd.: 196) spricht von »Regionalisierungsweisen«--, einen wesentlichen Faktor dar (vgl. ebd.: 196f ). Schließlich ist aber auch die Verkettung von nicht beabsichtigten Folgen und unerkannten Vorbedingungen des Handelns im zuvor skizzierten Sinne ein Prinzip, das Systemeffekte generieren kann (vgl. ebd.: 80). Die Existenz der vom Strukturfunktionalismus beschriebenen »homöostatischen Kausalschleifen«, d. h. von Gleichgewichtsprozessen und <?page no="252"?> Theorie der Strukturierung 253 Rückkopplungseffekten zwischen Handlungsfolgen und -bedingungen, räumt Giddens (ebd.) also durchaus ein. Gegen den systemtheoretischen Funktionalismus wird von ihm jedoch angeführt, dass Gründe und Motive als Grundlage von jeder Form der Praxis durch Systeme weder suspendiert noch selbst hervorgerufen werden können-- womit auch die reflexive Handlungssteuerung schlussendlich niemals völlig stillzustellen ist (vgl. Giddens 1996c: 93 f., 107 f.). Gesellschaften differieren allerdings erheblich darin, auf welche Weise sie die Verklammerung von Sozial- und Systemintegration und somit ihre Stabilität über Raum und Zeit hinweg gewährleisten. Dieses Problem markiert zugleich den Übergang von der Sozialtheorie zur soziologischen Gegenwartsdiagnose. 4. Institutionelle Ordnung und Dynamik der-Gegenwartsgesellschaft Welche Impulse die Theorie der Strukturierung einer Gesellschaftstheorie im engeren Sinne zu geben vermag, hängt auch davon ab, ob und wie es ihr gelingt, zeitdiagnostische Analysen und Erklärungsmodelle zu formulieren. Zu den wichtigsten strukturellen Merkmalen moderner Gesellschaften gehören nach Giddens insbesondere die Ausweitung und Verstetigung sozialer Beziehungsmuster zwischen Nichtanwesenden, die sich von der Unmittelbarkeit vormoderner lokaler Gemeinschaften durch ihre mediale Vermittlung deutlich unterscheiden (vgl. Giddens 1997: 197), sowie das gesteigerte Ausmaß reflexiver Verhaltenssteuerung, das sich nunmehr auch auf die Beeinflussung von Systembedingungen beziehen kann (vgl. Giddens 1996b: 54). Mehrere Faktoren haben historisch zu einer Reichweitenverlängerung von Sinnordnungen, Herrschafts- und Legitimitätsbeziehungen (die drei Dimensionen von Struktur-- siehe Abbildung 1) beigetragen: Schon die Ausbildung der Schriftkultur mit ihrer räumlichen und zeitlichen Verbreiterung gesellschaftlichen Wissens (Signifikation und Legitimation) markiert diesbezüglich eine Zäsur (vgl. Lamla 2003: 74 f.; Giddens 1987: 42 ff.). Der Übergang von der Vormoderne zur Moderne ist darüber hinaus durch die Fähigkeit der räumlichen Kontrolle und zeitlichen Speicherung bestimmter Machtressourcen (allokativer und autoritativer Art) gekennzeichnet, wobei das Spektrum von der vergleichsweise früh einsetzenden Differenzierung zwischen Stadt und Land mit entsprechender Akkumulation der Bevölkerung, Gewaltmitteln und ökonomischen Ressourcen bis hin zu hochmodernen Formen der Organisationsverwaltung reicht (vgl. Giddens 1987: 75 f.; 1997: 197 ff.). Mobilisierungs- und Vernetzungswirkungen, die der beschleunigten Übertragung von Informationen und Gütern zwischen weit entfernten Handlungsräumen dienen, werden schließlich auf der Grundlage von neuen Medien und Technologien (wie z. B. modernen Kommunikationsmitteln und Verkehrstechniken) bewerkstelligt (vgl. Giddens 1987: 172 ff.). Im Ergebnis stellt sich die Gegenwartsordnung für Giddens (1987: 311; 1996b: 80) als komplexe Einheit von vier »institutionellen Dimensionen« auf nunmehr globaler Ebene dar (siehe auch Abbildung 3): Kapitalismus, Überwachung, militärische Macht und Industrialismus bilden ihre Komponenten. Diese institutionellen Achsen stehen in Beziehungen der wechselseitigen Bedingtheit, sind aber durchaus als eigendynamische Strukturbildungen zu betrachten. So wurde die volle Entfaltung kapitalistischer Produktion erst im Zuge technologischer Industrialisierung und effizienterer Kontrolle von Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen möglich (vgl. Giddens 1996b: 79ff ). Die Verfügbarkeit militärischer Machtbzw. Gewaltapparate durch moderne Nationalstaaten ist hingegen ihrerseits sowohl an die industrielle Fertigung von Waffentechnologien und Infrastrukturen als auch an Steigerungs- und Wachstumseffekte von (zumeist kapitalistischen) Volkswirtschaften geknüpft (vgl. ebd.: 78 f.; 1987: 244 ff.). <?page no="253"?> 254 Jörg Oberthür Das Bild, das Giddens hiervon zeichnet, ist jedoch keineswegs ein Ausdruck harmonischer Stabilität-- vor allem dort, wo Konflikte zwischen Interessengruppen in den Blick geraten, wird dies besonders deutlich: Es sind typische soziale (Protest-)Bewegungen, die den Modernisierungsprozess begleitet und katalysiert haben, die noch immer dialektisch auf Herrschaft in Systemen reagieren und vor diesem Hintergrund Autonomie- und Gestaltungsansprüche sozialer Gruppen (z. B. feministische Bewegung-- vgl. Giddens 1996b: 199) engagiert zum Ausdruck bringen (vgl. ebd.: 195ff ). Solche Bewegungen bilden auch in der Gegenwart treibende Kräfte des institutionellen Wandels, und sie sind zugleich ein Ausgangspunkt von immer wieder neuen Widersprüchen und Konflikten, was Giddens unter anderem anhand der Beziehung zwischen Arbeiter- und Ökologiebewegung und ihren teils unvereinbaren Zielstellungen zu zeigen versucht (vgl. Giddens 1987: 316). Die Strukturierungstheorie erweist sich damit nicht nur als Sozialtheorie, die intendierte und nicht-intendierte Handlungsfolgen gleichermaßen berücksichtigt, sondern auch als ein Instrument kritischer Zeitdiagnose, das den strukturellen Widerspruch als ein unaufhebbares und zentrales Prinzip der Moderne offenlegt (Vgl. Giddens 1997: 250 ff.). Ausgehend davon können nun auch dynamisierende Momente der Gegenwartsgesellschaft strukturierungstheoretisch (re-)interpretiert werden. Besondere Beachtung verdient dabei zunächst die »Dislozierung des Raums vom Ort« (Giddens 1996b: 31), also die räumliche Ablösung der Bedingungen und Folgen des Handelns von den Orten seines praktischen Vollzugs (vgl. ebd.: 30 f.). Während räumliche Distanzen sozialer Wechselwirkungen nicht erst in der entwickelten Moderne eine Rolle spielten (und etwa durch Schifffahrt oder Karawanen auch schon in der vorindustriellen Phase im begrenzten Umfang überwunden wurden), ist das verstärkte Hineinwirken weit entfernter Ereignisse in die unmittelbaren Handlungskontexte ein vergleichsweise neues Phänomen, das von Giddens mit dem Begriff der Entbettung gekennzeichnet wird (vgl. ebd.: 33 ff.). Nirgendwo scheint dies greifbarer zu sein als in der Verschränkung von lokalen Praxen mit ihren globalen Folgen und Bedingungen (mitunter auch als Glokalisierung bezeichnet), die vom Arbeitsplatz bis hin zur Webcommunity und vom Supermarkt bis hin zum Klimawandel spürbar wird. Für die hieraus hervorgehenden Entscheidungsprobleme und Zukunftsungewissheiten (z. B. in der Frage politisch verantwortlicher Konsumstile) können traditionelle Normstrukturen und Deu- Überwachung (Informationskontrolle und soziale Beaufsichtigung) Industrialismus (Umgestaltung der Natur: Schaffung der »gestalteten Umwelt«) militärische Macht (Kontrolle über die Mittel zur Gewaltanwendung im Kontext der Industrialisierung des Krieges) Kapitalismus (Kapitalakkumulation im Kontext wettbewerbsorientierter Arbeits- und Produktionsmärkte) Abbildung 3: Die institutionellen Dimensionen der Moderne (Darstellung übernommen von Giddens 1996b: 80) <?page no="254"?> Theorie der Strukturierung 255 tungsmuster jedoch vielfach keine Orientierung bieten (vgl. Giddens 1996d: 114 f.). Aus diesem Grund muss in korrespondierenden Prozessen der »Rückbettung« (Giddens 1996b: 102), welche die erodierten Beziehungsmuster sukzessive durch »abstrakte Systeme« (ebd.: 103) ersetzen, das (Selbst-)»Vertrauen« von Akteuren eine neue Basis finden (vgl. ebd.: 102 ff.). Solche Systeme stellen für Giddens institutionalisierte Formen von stellvertretendem bzw. unpersönlichem Expertenwissen dar, die aber zumindest an bestimmten Stellen-- sogenannten »Zugangspunkte[n]« (ebd: 107)-- noch immer auf das Grundprinzip der Kopräsenz (z. B. durch die Inszenierung von Routine) zurückgreifen (vgl. ebd.: 109 ff.). Die Folge der systemweiten Etablierung und Kommunikation von Expertise ist schlussendlich allerdings der paradoxe Anstieg des Risikobewusstseins in der ganzen Lebensführung (vgl. ebd. S. 156 ff.), was Potenziale der Kritik und Widerstandsmomente induziert (vgl. ebd.: 163 f.). Unter dem Eindruck dieser Veränderungen entsteht eine neue gesellschaftspolitische Leitidee: Sie bezieht sich zwar auch weiterhin und mehr denn je auf Notwendigkeiten des ›Machens‹ von Geschichte-- allerdings in einer Haltung des »utopischen Realismus« (ebd.: 190), der gegebene institutionelle Bedingungen und Entwicklungstendenzen nicht ignorieren kann, sondern, ganz im Sinne von Regeln und Ressourcen, als strukturelle Basis jedweder Veränderung in Rechnung stellt (vgl. ebd.: 191 f.). 5. Chancen der politischen Veränderung Angesichts der unübersichtlichen Ausgangslage vergleicht Giddens (ebd.: 173) den gegenwärtigen gesellschaftlichen Modernisierungsweg mit der Fahrt des »Dschagannath-Wagens« (engl. juggernaut), eines indischen Prozessionsgefährts, das zu Ehren der gleichnamigen Gottheit bei religiösen Festen von Gläubigen gezogen wurde und wegen seiner unberechenbaren Bewegungsdynamik immer wieder Menschenleben forderte: »Dies ist eine nicht zu zügelnde Maschine, die wir als Menschen kollektiv bis zu einem gewissen Grade steuern können, die sich aber zugleich drängend unserer Kontrolle zu entziehen droht und sich selbst zertrümmern könnte.« (ebd., dort auch Anm. 23) Dennoch, schon in Giddens’ Buch über die Konsequenzen der Moderne finden sich neben Risiko- und Widerspruchsbefunden auch die Eckpfeiler einer politischen Neuausrichtung: Unter der Überschrift der »Lebenspolitik« fasst er dort Bestrebungen zusammen, die auf die »Koordination von individuellem Nutzen und planetarischer Organisation« (ebd.: 194) bzw. auf die Verschränkung von persönlicher Selbstentfaltung und sozial gerechten Problemlösungen zielen (vgl. ebd.: 194 f.). Dieses Thema wird gleichermaßen in seinen beiden bislang einflussreichsten politisch-programmatischen Publikationen fortgeführt, hier jedoch stärker in den Kontext der Wohlfahrts- und Demokratiekrisen westlicher Nationalstaaten gestellt. Die in Jenseits von Links und Rechts (Giddens 1999a) und Der dritte Weg (Giddens 1999b) entfalteten Ideen einer neuen Wohlfahrtspolitik schließen unmittelbar an das Problem des riskanten Grundzugs reflexiver Praxen in der Gegenwartsgesellschaft an. Was Giddens (1999a: 208 f.) am traditionellen Verständnis des Sozialstaats kritisiert, ist die Behandlung der meisten Unsicherheiten als »externe Risiken« (ebd: 209) bzw. individuell schwer beeinflussbare Gefährdungen- - mit der Folge einer eher kompensatorischen als vorbeugenden Politik, die letztendlich scheitern müsse (vgl. ebd.). Stattdessen sei es notwendig, die verfügbaren Ressourcen in einer Weise einzusetzen, die zwar »erfinderisch[e] Politik« (ebd.: 214) erfordert, jedoch längerfristig leistungsfähigere, in vielen Fällen kostengünstigere, vor allem aber auch das Problem der sozialen Ungleichheit besser bearbeitende Lösungen in Aussicht stellt (vgl. ebd.). <?page no="255"?> 256 Jörg Oberthür Die Liste der empfohlenen Maßnahmen ist ebenso facettenreich, wie die Schwierigkeiten der reflexiven Moderne komplex erscheinen, und führt schließlich zu einem Reformprogramm in mehreren Punkten, dessen wichtigste Inhalte auf die Stärkung des Engagements Einzelner aber auch lokaler Kulturen und ihrer Solidaritätsbeziehungen abzielen, die soziale Position von Frauen verbessern sowie gleichzeitig die Bedeutung von Familien berücksichtigen und diese demokratisieren sollen und die schließlich staatliche Leistungen mit Gegenleistungen verknüpfen, um der Entstehung von Abhängigkeitsstrukturen vorzubeugen (vgl. ebd.: 217 ff.). Unverkennbar bezieht sich der diese Empfehlungen durchziehende rote Faden darauf, Selbstentfaltung und Autonomie (»Politik der Lebensführung«, ebd.: 185) mit der Beseitigung sozialer Ungleichheit (»emanzipatorische Politik«, ebd.) zu verzahnen (vgl. ebd.: 184 f.). Wie das aussehen könnte, erklärt Giddens (ebd.: 258) mit dem Modell einer »Nachknappheitsgesellschaft«, in der die Frage klassischer sozialer Gegensätze an Bedeutung verlieren, stattdessen aber die gemeinsame Arbeit an umfassenden Problemen (»kollektiv[e] Minuspunkte«, ebd.) in den Vordergrund treten müsse. Da beispielsweise die Gefahr der Zerstörung natürlicher Umwelten Verluste mit sich brächte, welche quer zu Klassenzugehörigkeiten liegen und durch materiellen Reichtum kaum zu kompensieren seien, gehe hiervon gleichzeitig die Chance neuer sozialer Bündnisschlüsse aus (vgl. ebd.: 262). Giddens sieht also ähnlich wie Ulrich Beck (1986: 368 ff.) in unerwünschten Nebenwirkungen der Moderne gleichermaßen das Problem und seine Lösungsmöglichkeiten. So vertritt er die Auffassung, dass ein »neues Abkommen zwischen Reichen und Armen« (Giddens 1999a: 262) durch die Aufwertung gemeinsamer Interessen (z. B. »gesünder leben«, ebd.) auch zur Entschärfung von Ungleichheiten führen könnte: Dies beträfe etwa den Zusammenhang zwischen überkommenen wirtschaftlichen Karrieremustern, Geschlechterbeziehungen und Familienstrukturen (vgl. ebd: 263), aber auch Beziehungen zwischen Armut, Lebensstil und Umweltgefährdungen, die künftig schon bei der Ursache angegangen werden sollten-- konkret etwa im Hinblick darauf »dass unterprivilegierte Gruppen tendenziell recht häufig zu umweltschädlichen Verfahrensweisen oder Lebensformen genötigt« seien (ebd.: 264). Sicher erscheinen solche Überlegungen bzw. die mit ihnen verbundenen Lösungsansätze vergleichsweise optimistisch- - vor allem, wenn man sie mit Blick auf die womöglich in Zukunft auch ökologisch drohenden Güterverknappungen betrachtet (Wasser, Wälder, Öl etc.). Gerade dann gewinnt jedoch die Idee, dass der bislang auf Verteilung von Wachstumsgewinnen basierende Sozialstaat eines grundlegenden Umbaus bedarf, an Relevanz und Aktualität. Im Spektrum etablierter Parteien ist das hiermit in knapper Form beschriebene Projekt indes nicht eindeutig zu positionieren. Als aussichtsreiche politische Kraft gilt Giddens allerdings die Sozialdemokratie, deren Erneuerung er im Untertitel seines im Original 1998 erschienen Buchs The Third Way verkündete. Dass er damit zugleich zum Ideengeber nicht nur der »New Labour«-Regierung von Tony Blair, sondern auch der bundesdeutschen Sozialdemokratie unter dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder wurde, hat die Strahlkraft seiner Gesellschaftsdiagnose erhöht. Wegen der oft mit dem sogenannten dritten Weg in Verbindungen gebrachten sozialstaatlichen Kürzungen zog dies in der Folge aber auch Neoliberalismus-Etikettierungen nach sich. In der Tat sieht Giddens’ (1999b: 81) Eintreten für die Stärkung von »individuelle[r] Freiheit« und für das Prinzip »Keine Rechte ohne Verpflichtungen« den geläufigen Begründungsmustern neoliberaler Deregulierungsprogramme nicht unähnlich. Angesichts der verschiedenen »Dilemmata« (ebd.: 39) und Herausforderungen aktueller Sozialdemokratie hält er jedoch deren Selbstveränderung und den »Versuc[h], über die Sozialdemokratie alten Stils wie den Neoliberalismus hinauszugelangen« (ebd: 38), für zwingend notwendig (vgl. ebd. 36 ff.). Mit Vehemenz beharrt er (ebd: 81.) gleichzeitig darauf, dass »Hauptanliegen der Politik des dritten Weges […] die soziale Gerechtigkeit <?page no="256"?> Theorie der Strukturierung 257 sein[…]« und deswegen der Grundsatz »keine Rechte ohne Verpflichtungen nicht nur für Empfänger staatlicher Leistungen, sondern für jedermann gelten« solle. Hier nun zeigt sich, wie die Theorie der Strukturierung auch noch ihren Einfluss auf Gesellschaft kategorial erfassen könnte: Als Form wissenschaftlichen Expertenwissens sind Giddens’ Analysen zwar in die Praxis von politischen Entscheidungsträgern eingesickert und haben reflexive Gegenströmungen erzeugt. Sie haben allerdings zum Teil auch Resultate und Konflikte produziert, die als nicht-intentionale Folgen soziologischer Kritik verstanden werden können und neue Reflexionen nach sich ziehen werden. 6. Rezeption und Ausblick Giddens’ Wirkung ist auch über die Soziologie hinaus nach wie vor enorm. Die thematische Breite an Publikationen, die in der Anwendung und Fortführung seiner Überlegungen entstanden ist, umfasst die Gebiete der Sozialgeografie (Werlen 1999), der Geschlechterforschung (Kahlert 2008), der Bioethik (McNally/ Wheale 2001) und der Techniksoziologie (Schulz-Schaeffer 1999) und andere mehr. An dieser Stelle können daher lediglich exemplarische Anschlussmöglichkeiten aufgezeigt werden, die im Rahmen der Sozialtheorie, der Zeitdiagnose und der politischen Programmatik Giddens’ bestehen. Zweifellos stellt hierbei der Versuch, das Problem von Struktur und Handlung in den Griff zu bekommen, die größte Schnittmenge zwischen der Strukturierungstheorie und anderen soziologischen Theorieansätzen dar. Jenseits allgemeiner Anspruchsformulierungen in diesem Punkt sind detaillierte Ausarbeitungen der dazu notwendigen Begriffskategorien aber vergleichsweise selten geblieben. Prominent setzte sich allerdings William Sewell, Jr. (1992) in einem Aufsatz mit Giddens’ Theorie der Strukturierung auseinander, um einen eigenen Entwurf zu präsentieren, der wirkliche Ressourcen (»ressources, which are actual«, ebd.: 13) gegenüber dem nur virtuellen Charakter von strukturellen Regeln und Schemata betont. Eine umfangreiche und im Detail ausgearbeitete Sozialtheorie, die in ähnlicher Weise explizit auf Giddens’ Arbeiten Bezug genommen hat, sich aber gleichzeitig kritisch davon abgrenzt, wurde von Margaret Archer (1995) unter der Überschrift des »morphogenetischen Ansatzes« entwickelt. Archer (ebd.: 197 ff.) vertritt darin die These, dass die handlungsstrukturierenden Kausaleffekte gesellschaftlicher Kontextbedingungen erst in »Projekten« von Akteuren »reproduzierend« oder »transformierend« wirksam werden können. Gleichzeitig betont sie (ebd.: 150ff ) jedoch, dass Strukturen emergente Eigenschaften haben, eine Existenz in Raum und Zeit aufweisen und deshalb nicht-- wie vermeintlich durch Giddens geschehen-- einseitig »voluntaristisch« bzw. handlungsabhängig gedeutet werden dürften. Solche Kritik ist häufig formuliert worden, wird indessen aber zumindest von Giddens’ zeitdiagnostischen Analysen und politischen Entwürfen und wegen der darin berücksichtigten institutionellen Eigendynamiken relativiert. Auch Reckwitz (2003: .283) attestiert Giddens im Verhältnis von Struktur und Handlungen so zwar eine »stärker ›akteurstheoretisch[e]‹ Nuancierung«, hebt jedoch ausdrücklich dessen Leistungen am Begriff der Praxis hervor und entwickelt dieses Konzept ausgehend hiervon in Richtung einer »Materialität der Körper« weiter (ebd.: 290 f.). Unter dem eher zeitdiagnostischen Blickwinkel der Modernisierungstheorie schließt sodann Peter Wagner an strukturierungstheoretische Figuren an. Wagner (1995: 41) versucht das historische Mit- und Gegeneinander von »Befreiung und Disziplinierung« in westlichen Gesellschaften als Ausdruck des Doppelcharakters der Moderne selbst zu fassen, wobei er sich ausdrücklich und unmittelbar auf die »Dualität der Struktur« bezieht. »Krisen der Moderne« (ebd.: 62) werden vor diesem Hintergrund als Perioden der Destabilisierung institutioneller Regeln begriffen, <?page no="257"?> 258 Jörg Oberthür in denen-- auf Betreiben von Akteuren-- »ermöglichend[e] und beschränkend[e] Züge dieser Regelungen für verschiedene Gruppen zu verschiedenen Zeitpunkten« wirksam werden (ebd.). Die in diesem Zusammenhang von Wagner formulierte These des gegenwärtigen Verlustes der »Möglichkeit von Politik als der Kommunikation, Interaktion und kooperativen Entschlussfassung über jene Dinge, die Menschen gemeinsam sind« (ebd.: 12) ist jedoch auffallend pessimistisch. Sie geht damit zu Giddens’ politischen Programmüberlegungen zumindest teilweise auf Distanz. Unbeirrbar hält dieser nämlich an der Hoffnung fest, dass der Fortgang der Geschichte jenseits von Gefahren auch Chancen impliziert: »[…] that the quantum leap in power that has created dangers for us can allow us to meet them.« (Giddens 2009: 230). Diese Vorstellung ist zugleich Berührungspunkt und inhaltliches Differenzkriterium der zwischen Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash (1996) geführten Debatte zur »reflexive[n] Modernisierung«. Beck (1996: 299) geht in diesem Zusammenhang zwar von einem Bedeutungszuwachs des Politischen in der Gegenwartsmoderne aus, betrachtet jedoch Spannungen zwischen »Wissen und Nicht-Wissen« als deren zentrales Moment. Gegen Giddens macht er (ebd.: 289) insofern einen Reflexivitätsbegriff stark, der nicht nur die gesellschaftliche Verbreitung und Dynamik (wissenschaftlicher) Erkenntnisse, sondern die Rückwirkung von »Nebenfolgen« (ebd.: 298) der Modernisierung auf mehreren Ebenen beschreibt. Die von Scott Lash (1996: 348) formulierte Position hebt in Abgrenzung von beiden Lesarten reflexiver Modernisierung ihrerseits die zunehmende Bedeutung einer nicht wissenschaftlichen »hermeneutischen oder ästhetischen Reflexivität hervor: »In ihr werden die inhaltlichen Grundlagen, die ungedachten, ›ursprünglichen‹, die Beziehungen und Lebensstil-Affinitäten ausmachenden Unterscheidungen thematisiert.« (ebd.: 356) Es ist auch vor diesem Hintergrund empirisch und theoretisch schließlich eine ebenso spannende wie vermutliche spannungsreiche Entwicklung, wenn Giddens’ Überlegungen zum Klimawandel und zur Nachknappheitsgesellschaft seit einiger Zeit in der ökologischen Postwachstums-Debatte rezipiert werden. Dabei beziehen sich manche Beiträge allerdings insbesondere auf Giddens’ kritische Äußerungen zur zukünftigen »Machbarkeit von Wachstum im Globalen Norden« (Seidl et al. 2010: 216; vgl. Schor 2010), wohingegen Giddens (1999a: 236) selbst zumindest im Hinblick auf die »ärmeren Regionen der Welt« an anderer Stelle Wachstum durchaus als Entwicklungsmöglichkeit betrachtet und darin die globale und widersprüchliche Dimension der Thematik zu integrieren versucht hatte (vgl. Giddens 1999a: 236). Schlussendlich abzuwarten bleibt, inwieweit der oftmals zugleich kapitalismuskritische Zugang solcher Ideenströmungen mit ›dritten Wegen‹ vereinbar ist bzw. welche kritischen Denkanstöße die Strukturierungstheorie ihrerseits in dieser Auseinandersetzung zukünftig vermitteln kann. Literatur Archer, Margret S. (1995): Realist social theory: the morphogenetic approach, Cambridge UK. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. Beck, Ulrich (1996): Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven »reflexiver Modernisierung«. In: Beck, Ulrich/ Giddens, Anthony/ Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M., 289-315. 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Bd. 1: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum. 2. Aufl., Stuttgart. Wittgenstein, Ludwig (1953/ 2001): Philosophische Untersuchungen. Herausgegeben von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. <?page no="260"?> 261 Henning Laux Soziologie der Existenzweisen: Bruno Latour 1. Einleitung Bruno Latour gehört zu den ambitioniertesten und vielseitigsten Soziologen der Gegenwart. Seine interdisziplinär ausgerichteten Untersuchungen distribuiert er nicht nur über die einschlägigen Wissenschaftskanäle, sondern auch mit Hilfe von Hörspielen, Tweets, Theaterstücken, Kunstausstellungen und interaktiven Internetplattformen. Auf diese Weise erreicht er ein wachsendes Publikum innerhalb und außerhalb der Sozialforschung. Latour kann als systematischer Denker vorgestellt werden, der seine empirisch fundierten Theoreme in Auseinandersetzung mit sozialen Problemlagen stetig weiterentwickelt hat. Sein anfänglicher Fokus auf naturwissenschaftliche Laborwelten (Latour 1987, 1988; Latour/ Woolgar 1979) sensibilisiert ihn für die gesellschaftliche Rolle technischer Artefakte (Latour 1992a, 1996b) und die Aporien wissenschaftlicher Wahrheitsproduktion (Latour 1999d). Angesichts dieser Studien attestiert er der westlichen Welt eine widersprüchliche Selbstbeschreibung (Latour 1991), formuliert mit dem »Parlament der Dinge« eine kosmopolitische Alternative (Latour 1999a) und entwickelt mit der Akteur-Netzwerk-Theorie ein Begriffssystem, das zeitgemäße Analysen anleiten soll (Latour 2007a). Die dadurch initiierten Studien zu Feldern wie Politik (Latour 2003, 2007b), Recht (Latour 2010), Kunst (Latour 2002), Religion (Latour 2011) oder Ökonomie (Latour/ Lépinay 2010) werden schließlich in eine »Soziologie der Existenzweisen« (Latour 2013b) überführt. Vor dem Hintergrund dieser positiven Bestimmung der modernen Welt soll ein diplomatischer Prozess in Gang gesetzt werden, der die Grenzen der westlichen Kollektive erweitert und den ökologischen Gefährdungen des Planeten entgegentritt (Latour 2013a, 2014). Latour entwickelt seine Positionen immer wieder in scharfer Abgrenzung zu einer französischen Wissensordnung, welche bis in ihre Kapillaren durch die Soziologien Pierre Bourdieus und Émile Durkheims geprägt ist. Von diesem Erbe distanziert er sich durch einen maßgeblich vom Pragmatismus inspirierten Alternativentwurf (Bogusz/ Laux 2013). Als theoretische Ankerpunkte dienen ihm dabei die Monadologie Gabriel Tardes (2009), die Ethnomethodologie im Anschluss an Clifford Geertz (1994) und Harold Garfinkel (1992), die Überlegungen zur Prozessualität und Natur bei Alfred N. Whitehead (1929), die erkenntnistheoretischen Arbeiten von William James (1907) und Étienne Souriau (1943) sowie die Gesellschaftsanalysen von Gilles Deleuze (1988), Michel Foucault (1991) sowie Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007). Der folgende Text bemüht sich um eine systematische Rekonstruktion des Gesamtwerks, aus der die erkenntnisleitenden Motive und konzeptuellen Basiselemente von Latours Gesellschaftstheorie möglichst deutlich hervortreten. Dabei wird versucht, die einzelnen Werkphasen aus der Retrospektive einer »Soziologie der Existenzweisen« zu beleuchten. <?page no="261"?> 262 Henning Laux 2. Forschungslogik: Das transformistische Modell der Erkenntnis Latours Coming-out als Soziologe ereignet sich in einer thematischen Nische der Disziplin. In den 1980er-Jahren prägt er das Gesicht der »Science and Technology Studies« (STS). In seinem ersten großen Werk, »Laboratory Life« (1979) beschreibt er zusammen mit seinem Kollegen Steve Woolgar die Arbeit des französischen Nobelpreisträgers Roger Guillemin und untersucht mithilfe ethnografischer Studien die Fabrikation von Erkenntnissen. Die Faszination für die Hervorbringung wissenschaftlicher Tatsachen materialisiert sich in der Folgezeit in Arbeiten wie »Science in Action« (1987) oder »The Pasteurization of France« (1988). Diese Bücher dokumentieren einen Denkweg, der mit der wissenschaftssoziologischen Schrift »Die Hoffnung der Pandora« (1999d) einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Das Desiderat dieser Arbeiten lässt sich am besten im Anschluss an die berühmte Fallstudie über den brasilianischen Urwald von Boa Vista darlegen (Latour 1999c). Latour begleitet eine Forschergruppe, bestehend aus Geografen, Botanikern und Geologen, auf einer mehrwöchigen Expedition ins Amazonasgebiet. Er verfasst ein ethnografisches Protokoll über die einzelnen Arbeitsschritte, um herauszufinden, wie neues Wissen generiert wird. Dabei stellt sich heraus, dass der Forschungsgegenstand bereits vor dem eigentlichen Beginn der Untersuchung seiner »Natürlichkeit« beraubt ist. Denn obwohl das Territorium noch nicht kultiviert wurde, ist es definitorisch bereits als »Urwald« ausgeflaggt und auf diese Weise unweigerlich mit verschiedenen Erwartungen verknüpft: gefährliche Tiere, unbekannte Pflanzen, hohe Luftfeuchtigkeit, abrupte Regenfälle, undurchdringliches Chaos, gewagtes Abenteuer etc. Auch sind topografische Charakteristika wie die räumliche Ausdehnung, der Baumbestand oder die Gebirgszüge bereits auf einer mitgeführten Landkarte fixiert. Die Forschergruppe kann sich bei ihrer Expedition ins Ungewisse also auf ein beträchtliches Vorwissen stützen. Im Feld beginnt keineswegs die Abbildung der Realität im Sinne einer Korrespondenztheorie der Wahrheit, sondern die weitere Transformation des Referenten. Der Wald wird vor den Augen Latours mithilfe von Schnüren, Pflöcken und Schildern in Planquadrate eingeteilt und diese Einteilung anschließend mit Bleistift, Papier und Lineal in eine Karte überführt. Aus den markierten Arealen entnehmen die Wissenschaftler Bodenproben, verpacken die Erdklumpen in Tüten und versehen sie mit einer Aufschrift. Diese Tüten repräsentieren fortan die Gesamtheit des Urwalds, sie gewähren eine bessere Übersicht, denn »im Wald sind alle Phänomene auf einmal da und damit unsichtbar. Sie werden sich erst vor jenem Hintergrund abheben und sichtbar werden, den man listigerweise hinter sie gestellt hat.« (Latour 1999c: 63) Alle anderen Faktoren blendet man aus (Gerüche, Geräusche, Tierpopulation, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Wasservorkommen etc.). Die eingetüteten Bodenproben werden schließlich mithilfe eines »Pedokomparators« (einer hölzernen Box mit quadratischen Fächern) und dem international anerkannten »Munsel-Farbcode« (einer einfachen, aber wissensintensiven Schablone) geordnet und auf ihre chemische Zusammensetzung überprüft. Ganz allmählich wird so »die Welt der Dinge in Zeichen verwandelt« (ebd.: 62). Diese Metamorphose ist erforderlich, denn erst wenn die Erdklumpen am Ende der Referenzkette ihre Form verändert haben, können die Untersuchungsbefunde in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Als Zahlen, Tabellen, Fotos, Diagramme oder Tagebücher erreichen sie den Status von »immutable mobiles« (Latour 1987: 227) und lassen sich auf USB-Sticks speichern, in Hosentaschen transportieren und in Fachaufsätzen herbeizitieren, ohne dass hierfür schwere Gesteinsproben, verwesende Pflanzen oder laute Urwaldgeräusche an potenzielle Leser verschickt werden müssten. Im Rahmen seiner wissenschaftssoziologischen Studien gelangt Latour zu der Überzeugung, dass das soziologische Vokabular zur Analyse der ihn interessierenden Wissenschaftspraxis unge- <?page no="262"?> Soziologie der Existenzweisen 263 eignet ist. Für sein Scheitern macht er die moderne Wissensordnung verantwortlich, da sie in Anknüpfung an Platons Höhlengleichnis zwei Sphären voneinander separiert: die objektive Welt der unbestreitbaren Wahrheiten (»Ideenwelt«) und die soziale Welt der subjektiven Konstruktionen (»Höhlenwelt«). Auch wenn Platons Begriffspaar kaum noch in Gebrauch ist, bleibt die dadurch evozierte Vorstellung in Kraft, wenn in lebensweltlichen oder wissenschaftlichen Sprechakten zwischen Realität und Konstruktion, Wirklichkeit und Sprache, Subjekt und Objekt, Tatsache und Wert oder Natur und Kultur unterschieden wird. Die platonische Spaltung der Welt ist bis heute weitgehend akzeptiert, Dissens besteht in den Augen Latours lediglich bezüglich der Frage, ob die beiden Seiten zur Deckung gebracht werden können oder nicht. Während der erkenntnistheoretisch ausgerichtete »Realismus« dies bejaht, weil er davon ausgeht, dass es der Wissenschaft durch methodisch kontrollierte Verfahren gelingen kann, die Wirklichkeit abzubilden, postuliert das Lager der »Konstruktivisten«, dass die Wissenschaft die Realität niemals erreichen, sondern stets verfehlen wird. Angesichts dieser klassischen philosophischen Kontroverse scheint es so, als gäbe es nur diese zwei Alternativen: Entweder kann durch wissenschaftliche Expertise eine Übereinstimmung zwischen Wort und Welt erreicht werden oder die Kluft zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt bleibt unüberwindbar (vgl. Abbildung 1). Latour weist in seinen Schriften die beiden klassischen Erkenntnismodelle mit der Begründung zurück, dass sie weder die tägliche Praxis noch den gesellschaftlichen Status der Wissenschaft adäquat einfangen. Latour moniert, dass der Sozialkonstruktivismus die Hartnäckigkeit empirischer Tatbestände nicht erklären kann, da er überall nur kontingente Machtverhältnisse »wissenschaftl. Erkenntnis« (artikulierte Information) a.) Die klassische Modelle wissenschaftlicher Erkenntnis Realität Wirklichkeit Objekt Wahrheit Welt Natur Realismus (Abbildung) Konstruktion Sprache Subjekt Fiktion Ideologie Gesellschaft Konstruktivismus (Verfehlung) b.) Das transformistische Modell wissenschaftlicher Erkenntnis »Plasma« (unartikulierte Welt) Transformismus (zirkulierende Referenz) Abb. 1: Drei Modelle der Erkenntnis: Realismus, Konstruktivismus, Transformismus <?page no="263"?> 264 Henning Laux am Werk sieht. Der Konstruktivismus zersetze die historisch gewachsene Institution der Wissenschaft, indem er ihr den Kontakt zur Realität abspricht und schaffe sich durch diesen epistemischen Schachzug letztlich selbst ab. Aus gegenläufigen Gründen, aber ebenso vehement, weist Latour das realistische Erkenntnismodell zurück. Er kritisiert den Realismus, weil dieser den Blick auf die vielfältigen Transformationsschritte verstellt, die zur Erzeugung empirischer Tatbestände notwendig sind. Das Modell gewährt der Wissenschaft einen exklusiven Zugang zur Realität und behauptet damit den Primat der Wissenschaft über andere Formen der Welterzeugung wie etwa Politik oder Religion. Diese Auffassung begünstigt die Paralyse der Demokratie, da Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung nun mit guten Gründen dem öffentlichen Diskurs entzogen und einer expertokratischen Minderheit überantwortet werden können. Latour begnügt sich nicht mit einer Kritik an den Implikationen der etablierten Ansätze, sondern entwickelt aus seinen empirischen Studien heraus eine Alternative, die im Folgenden als »transformistisch« bezeichnet wird. Hierfür geht er mit William James davon aus, dass »der ganze Hokuspokus der Erkenntnistheorie« erst in dem Moment beginnt, in dem die »beiden Endpunkte nur noch durch einen Sprung zu verbinden sind« (James 1907b: 246). Das dualistische Modell Platons wird daher revidiert. Latour verlagert den Blick von der analytischen Differenzierung der beiden Extrempole hin zu ihrer praktischen Verbindung und Amalgamierung. Er interessiert sich für die vielen kleinen Schritte, in denen Wort und Welt miteinander verschränkt werden. Dabei beobachtet er weder Kluft noch Korrespondenz, sondern einen Prozess der »zirkulierenden Referenz«. Die Erscheinungen zeigen sich nicht »am Schnittpunkt zwischen den Dingen und den Formen des menschlichen Geistes, sondern sie zirkulieren entlang einer reversiblen Transformationskette. Von Glied zu Glied verlieren sie bestimmte Eigenschaften und nehmen andere an.« (Latour 1999c: 88) Forscher transformieren ihren Gegenstand, denn durch jede Beschreibung wird dem Erkenntnisobjekt ein Stück Wirklichkeit entzogen und ein neues Stück hinzuaddiert. Unterbricht man jedoch die Referenzkette »an irgendeinem Punkt, so ist auch der Transport, die Produktion, die Konstruktion, gewissermaßen die Leitfähigkeit des Wahren unterbrochen. […] Die Wahrheit zirkuliert [in der Kette] wie die Elektrizität entlang eines Drahtes, und zwar so lange, wie er nicht zerschnitten wird.« (ebd.: 85) Doch worauf beruht diese Wahrheit, was genau hält man im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen konstant? Im transformistischen Modell wird das Konzept der unveränderlichen und objektiven Realität durch den Begriff des »Plasmas« ersetzt. Das ist die Bezeichnung für eine Welt, die noch nicht artikuliert und zur Existenz gebracht ist. Das Plasma ist ein symbolischer Platzhalter, für »das, was noch nicht formatiert, noch nicht gemessen, noch nicht sozialisiert ist, was noch nicht in […] Netzwerken zirkuliert« (Latour 2007a: 419). Als unermessliche Potenzialität fungiert es als Baumaterial, geformt von wissenschaftlichen, politischen, religiösen, fiktionalen, juristischen, technischen und anderen Prozessketten. Die Wissenschaft hat keinen besseren Zugang zur Wirklichkeit als andere Lebensbereiche, sondern lediglich einen anderen Modus bei der Artikulation des Plasmas. Die Besonderheit der wissenschaftlichen Artikulationsweise besteht darin, dass sie weder freischwebende Konstruktionen noch detailgetreue Miniaturen der Realität anfertigt, sondern dass sie ihre Signifikate aus der Fülle des Plasmas formt, über sorgfältige Transformationsschritte hinweg konstant hält, um sie schließlich durch den gezielten Einsatz dinglicher immutable mobiles stabil und transportfähig zu machen. Am vorläufigen Ende dieser aufwendigen Referenzkette stehen wissenschaftlich erzeugte Informationen bzw. gut konstruierte Tatsachen, die durch die erfolgreiche Mobilisierung einflussreicher Zeugen als unbestreitbare Erkenntnisse in den kollektiven Wissensbestand übergehen (Laux 2014: 78-101). <?page no="264"?> Soziologie der Existenzweisen 265 3. Forschungsprogramm: Soziologie als empirische Metaphysik Latour erweitert den Radius seiner Analysen im Laufe der Jahre ganz erheblich. Er gelangt nämlich zu der Überzeugung, »daß die Sozialtheorie an der Wissenschaft so radikal gescheitert ist, daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß sie auch auf anderen Gebieten stets gescheitert ist« (Latour 2007a: 162). Daher bemüht er sich seit den 1990er-Jahren um eine gründliche Neuvermessung der Soziologie. Ausgehend von seinem transformistischen Modell der Erkenntnis arbeitet er zunächst im Rahmen zahlreicher Studien jene Probleme heraus, die aus der Vernachlässigung materieller Dinge und technischer Artefakte bei der Beschreibung sozialer Prozesse resultieren. Latour attackiert eine Soziologie, die seit den Klassikern die Wirkung nichtmenschlicher Wesen weitgehend ausgeblendet und die Fiktion einer Gesellschaft ohne nichtmenschliche Wesen maßgeblich befördert hat: Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien, Viren, Alltagsgegenstände, technische Artefakte, Geister, Atmosphären oder Götter werden nicht als relevante Akteure anerkannt. Sie gelten nicht als Teil, sondern bestenfalls als ein stummer Träger, symbolischer Platzhalter oder willfähriges Medium menschlicher Beziehungen. Die Quelle von Sozialität wird in Situationen doppelter Kontingenz verortet und der Kreis relevanter Akteure auf sinnverarbeitende Systeme mit wechselseitigen Erwartungs-Erwartungen reduziert (Bammé 2011; Delitz 2010; Knorr Cetina 2006; Latour 2001; Lindemann 2009a; Schulz-Schaeffer 2008). Es ist allein der Mensch, der als Triebfeder, Träger oder Adresse gesellschaftlicher Prozesse Berücksichtigung findet. Die Sozialtheorie tendiert zu einer restriktiven Haltung, wenn es um die Grenzen ihres Gegenstandsbereichs geht-- »Objekte« müssen draußen bleiben. Doch was sind die Ursachen für die Exklusion der nichtmenschlichen Wesen und inwiefern ist dieser blinde Fleck möglicherweise problematisch? Latour stellt diese Frage im Rahmen seines berühmten Essays »Wir sind nie modern gewesen« und gelangt dabei zu einer beunruhigenden Antwort. Demzufolge konstituiert sich die gesamte westliche Moderne über die Trennung zwischen einer nichtmenschlichen Naturwelt mit materiellen Objekten, unbestreitbaren Fakten und kausalen Wirkmechanismen und einer menschlichen Sozialwelt mit autonomen Subjekten, umstrittenen Werten und vielschichtigen Machtverhältnissen. Die erste Welt fällt in den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften, die zweite gilt als Domäne der Geistes- und Sozialwissenschaften. Das damit konstruierte Grenzregime mag den Kindern der Moderne selbstverständlich vorkommen, doch seine Durchsetzung muss als singuläres Ereignis in der Geschichte der Menschheit betrachtet werden. Nicht umsonst rühmen sich die Modernen dafür, dass es ihnen gelungen ist, die Welt zu rationalisieren, indem sie gelernt haben, unbestreitbare Fakten (Naturwelt) von naivem Aberglauben, totalitären Ideologien und privaten Glaubensvorstellungen (Sozialwelt) zu unterscheiden. Doch die moderne Narration ist für Latour nur die halbe Wahrheit, denn Natur und Gesellschaft werden zwar in der sprachlich vermittelten Reflexion säuberlich voneinander getrennt (»Reinigungsarbeit«), in der Praxis kommt es hingegen zu einer immer stärkeren Verschränkung der offiziell getrennten Pole (»Vermittlungsarbeit«). Die modernen Kollektive verleiben sich die Natur ein, sie vermehren die Hybriden und lassen »Tausende von Naturobjekten in den Gesellschaftskörper einströmen«, im Grunde spielt sich »alles in der Mitte ab, alles passiert zwischen den beiden Polen, alles geschieht durch Vermittlung, Übersetzung und Netze, aber dieser Ort in der Mitte existiert nicht, dafür ist kein Platz vorgesehen. Hier liegt das Ungedachte, das Unbewußte der Modernen.« (Latour 1991: 53) Doch in der Gegenwart erreicht die Ausbreitung der Hybriden einen kritischen Schwellenwert, an dem das bisherige Grenzregime zerfällt. Das Reinigungssystem ist überfordert angesichts der schieren Masse an komplexen Mischwesen, die mittlerweile zwischen Subjekt- und Objektpol oszillieren: Ozonloch, Waldsterben, Klimawandel, künstliche Befruchtung, technische Implantate, unbemannte Drohnen, genmanipulierte Nah- <?page no="265"?> 266 Henning Laux rung etc. Die dadurch evozierten Kontroversen breiten sich aus und lassen sich nicht mehr durch vermeintliche Experten stillstellen. In der Vormoderne wäre eine derartige Entwicklung noch unmöglich gewesen, denn man ging davon aus, dass jede Veränderung der Naturordnung zu einer Veränderung der Gesellschaftsordnung führt, jede einzelne Innovation wurde daher mit äußerster Vorsicht begutachtet und im Zweifelsfall unterbunden (ebd.: 58). Mit dem Eintritt in die Moderne ist dieses Kontrollregime jedoch verschwunden, denn wie bizarr die technischen Innovationen und künstlichen Erzeugnisse auch waren, die aus der Vermittlungspraxis hervorgingen, »sie stellten kein Problem dar, denn sozial gesehen existierten sie nicht, und ihre monströsen Folgewirkungen waren niemandem zuzuschreiben« (ebd.: 59), da in den Laboratorien der Wissenschaft nach allgemeiner Auffassung schließlich nichts weiter getan wurde, »als die Gesetze der Natur zu entdecken« (ebd.: 60). Doch sobald »wir den Dinosauriern ihre Paläontologen zur Seite stellen, den Elementarteilchen ihre Beschleuniger, den Ökosystemen ihre Herbariensammlungen, den Energiebilanzen ihre Stichproben und Nullhypothesen, den Ozonlöchern ihre Meteorologen und ihre Chemiker, sprechen wir schon nicht mehr von der Natur« (Latour 1999a: 52). Unter dem Schleier der Natur-Kultur-Trennung wurde die Gesellschaft jahrzehntelang mit riskanten Hybriden bevölkert, ohne dass diese »Zuwanderungswelle« einer politischen oder gar demokratischen Kontrolle unterstanden hätte. Die Domestizierung der nichtmenschlichen Welt konnte so in einen Prozess der Hybridisierung umschlagen, der sich der menschlichen Kontrolle zu entziehen droht. Im Zeitalter des »Anthropozäns« (Crutzen 2002) kehrt die Natur in Form von schmelzenden Gletschern, tödlichen Flutwellen, künstlichen Viren oder vergifteten Atmosphären in die Gesellschaft zurück, während die Technik in Form von Datenbanken, Smartphones, Networks, Implantaten, Börsentickern oder Apps bis zur Unkenntlichkeit mit der Alltagspraxis verschmilzt. Die nichtmenschlichen Wesen erscheinen angesichts dieser Entwicklungen nicht länger als Gegenpart der Gesellschaft, sondern als »Symbiont« (Serres 1994: 78). Latours Werk ist nun dem Ziel gewidmet, die Chancen und Risiken zu bestimmen, die aus der modernen Amalgamierung von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen resultieren. Zu diesem Zweck skizziert er zunächst die methodologischen Grundlagen einer »neuen Soziologie«. Dabei bemüht er sich um einen Bruch mit den Kategorien der bisherigen Disziplin, da diese unter dem Verdacht stehen, an der modernen Selbsttäuschung mitgewirkt zu haben. Er empfiehlt stattdessen eine methodologische Haltung, die er als »empirische Metaphysik« kennzeichnet. Unter diesem Label verbergen sich drei miteinander verbundene Regeln, die Latour in verschiedenen Schriften entwickelt, ohne sie irgendwo in systematischer Weise zu bündeln oder in komprimierter Form darzulegen (vgl. Callon/ Latour 1992; Latour 1992b, 2007a). Die erste Grundregel dieser empirischen Metaphysik verlangt nach einem sparsamen Umgang mit eingeschliffenen Unterscheidungen und Grenzziehungen. Diese Enthaltsamkeit muss unvollständig bleiben, da die kulturhistorische Ordnung des Sag- und Denkbaren nicht verlassen werden kann. Es soll daher lediglich um den Verzicht auf Weichenstellungen gehen, die sich in Konfrontation mit der Praxis als problematisch erweisen, so dass sie aus einer gewissen Distanz betrachtet werden können. Dazu gehören in Latours Augen mindestens drei fundamentale Dualismen, die es fortan zu vermeiden gilt. Als erstes verwirft er-- wie bereits gezeigt wurde-- die Imagination einer Wissenschaft, die entweder objektive Realitäten abbildet oder freischwebende Konstruktionen hervorbringt, und ersetzt sie durch die Vorstellung einer performativen Forschung, die den von ihr erzeugten Gegenstand über diverse Transformationsschritte konstant hält. Als zweites attackiert er die Natur/ Kultur-Fassade. Diese Unterscheidung darf nach Latours Auffassung nicht länger verwendet werden, um den Gegenstandsbereich der Soziologie zu bestimmen. Denn wenn die Grenzen zwischen Natur und Kultur verschwimmen, dann kann das Soziale nicht mehr als klar umrissenes und allgemein bekanntes Territorium behandelt werden. <?page no="266"?> Soziologie der Existenzweisen 267 Es liegt vielmehr nahe, eine symmetrische Perspektive einzunehmen, die das Soziale als Assoziierungsprozess begreift, in dem menschliche und nichtmenschliche Entitäten miteinander verknüpft werden. Erst durch eine symmetrische Haltung und die Ausklammerung eines anthropozentrisch verengten Gesellschaftsbegriffs kann die Funktion der Dinge für die hereinbrechenden Kollektive taxiert werden. Latours kritische Inventarisierung des soziologischen Vokabulars wendet sich schließlich drittens gegen die weit verbreitete Vorstellung gesellschaftlicher Domänen bzw. Teilbereiche. Seine empirischen Studien belegen, dass wissenschaftliche Aktivitäten keineswegs an den Grenzen des Wissenschaftssystems haltmachen, vielmehr kreuzen und verbinden sie sich mit juristischen, ökonomischen oder politischen Operationsketten und erlangen ihre Dauerhaftigkeit nur durch den Rückgriff auf vermeintlich externe Ressourcen. Latour ist daher misstrauisch gegenüber soziologischen Differenzierungstheorien und verzichtet bei der Vermessung der »neuen Gesellschaft« (zunächst) auf eine differenzierungstheoretische Optik. Die zweite methodologische Grundregel spezifiziert, wie das anspruchsvolle Programm einer empirischen Metaphysik, welche auf zentrale Leitunterscheidungen der bisherigen Forschung verzichtet, im Forschungsalltag umgesetzt werden kann. Latours schlichte, aber berühmte Antwort auf diese Frage lautet: Folge den Akteuren! Dieser Imperativ, den er der ethnomethodologischen Tradition entnimmt, verlangt im unmittelbaren Anschluss an die erste Grundregel danach, eigene Kategorisierungsleistungen zu minimieren, damit die Akteure selbstläufig ihre Sinnwelten entfalten und zu Protokoll geben können: »Die Aufgabe, das Soziale zu definieren und zu ordnen, sollte den Akteuren selbst überlassen bleiben und nicht vom Analytiker übernommen werden.« (Latour 2007a: 45) Die Grenzen einer soziologischen Untersuchung ergeben sich somit nicht aus dem institutionell vorgegebenen Gegenstandsbereich der Disziplin, sondern stets aus der situativen Untersuchungskonstellation und der interessierenden Problemstellung. Um die Vermittlungspraktiken zu analysieren, richtet Latour den Blick auf die Entstehung des Sozialen (Latour 2007a: 27-36). Er interessiert sich für die Laboratorien, Konflikte, Krisen, Intensitätspunkte und Sinnzusammenbrüche der Gesellschaft, denn in solchen Fällen trifft man auf Assoziationen im Entwicklungsstadium. Dann prallen heterogene Elemente und distinkte Perspektiven aufeinander und die Akteure sehen sich dazu gezwungen, in diesen Kontroversen die Grenzen des Sozialen und die von ihnen favorisierte Zusammensetzung des Kollektivs aktiv hervorzubringen. In solchen Kontroversen werden kollektive Welten, private Metaphysiken und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen entfaltet. Um Zugang zu diesen wertvollen Informationen aus der Teilnehmerperspektive zu bekommen, bieten sich qualitative Verfahren der Datengewinnung an, insbesondere ethnografische Methoden, da sie aufgrund ihres explorativen Charakters und ihres operativen Zuschnitts besonders gut dafür geeignet sind, nicht antizipierbare Ereignisse zu registrieren. Latour hat häufig ethnografisch gearbeitet, besteht jedoch an keiner Stelle seines Werks auf dem Einsatz dieser Methode. Die dritte und letzte Grundregel der empirischen Metaphysik verlangt die Entwicklung eines neuen soziologischen Vokabulars, das es ermöglicht, den oftmals widersprüchlichen Konstruktionen der Praxis zu folgen. Dieses Vokabular muss zwei zentrale Kriterien erfüllen: Es darf sich nicht um eine ausgeklügelte »Metasprache« mit einem aufeinander abgestimmten System trennscharfer Kategorien handeln. Denn eine solche Metasprache tendiert dazu, die Akteure zum Schweigen zu bringen, da sie mit idealtypischen Unterscheidungen konfrontiert werden, die ihnen möglicherweise völlig fremd sind. Latour rät angesichts der von ihm anvisierten Neuvermessung der Gesellschaft zur Verwendung einer »Infrasprache«, die möglichst allgemein und bedeutungsarm ist, so dass die Akteure zu Wort kommen (Latour 2007a: 54). Zweitens gilt es, Grundbegriffe zu finden, die so offen und durchlässig angelegt sind, dass damit auch jene Akteure erfasst werden können, die bislang aus dem Bereich der Sozialwissenschaften ausgeschlossen waren. Man benötigt eine <?page no="267"?> 268 Henning Laux symmetrische Sprache, die für sämtliche Prozesse gleichermaßen verwendet werden kann und die dazu in der Lage ist, »die Unterscheidungen zwischen den sozialen und menschenzentrierten Begriffen und den natürlichen und objektzentrierten Repertoiren [zu] verwischen« (Callon/ Latour 1992: 347). Aus den drei erläuterten Prinzipien ergibt sich ein methodologisches Manifest, das die wichtigsten Parameter der empirischen Metaphysik enthält. Zur Umsetzung dieses Forschungsprogramms wurde die Akteur-Netzwerk-Theorie entwickelt, ein infrasprachliches Instrument zur symmetrischen Analyse gegenwärtiger Sozialwelten. 4. Forschungsinstrument: Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist nicht die alleinige Erfindung Latours, sondern ein kollektives Projekt, an dem in der Vergangenheit auch Michel Callon, Madeleine Akrich, John Law, Antoine Hennion und Annemarie Mol maßgeblich beteiligt waren. Die folgende Darstellung beschränkt sich gleichwohl auf Latour. Seine Beiträge zur ANT sind bezüglich ihrer inhaltlichen Konsistenz und thematischen Bandbreite sicherlich mit Abstand am weitesten entwickelt und darüber hinaus gibt es einige Differenzen innerhalb der ANT, die an dieser Stelle nicht umfassender verfolgt werden können. Die Rekonstruktion fokussiert auf Grundbegriffe, die ihre Tragfähigkeit unter Beweis gestellt haben und die vor dem Hintergrund einer »Soziologie der Existenzweisen« (Latour 2013b) weiterhin eine Funktion erfüllen. 4.1 Der symmetrische Handlungsbegriff Für Latour besteht das Charakteristikum der modernen Gesellschaft darin, dass es gelungen ist, Interaktionen und Strukturen mithilfe von Artefakten zu härten und auf Dauer zu stellen. Ohne Ausweise, Ampeln, Preisschilder, Geldscheine, Gesetzesbücher oder Türen müssten soziale Regeln und Machtverhältnisse jeden Tag aufs Neue ausgehandelt werden. Normen allein generieren keine Erwartungssicherheit, denn sie sind zu flüchtig, wenn sie nicht durch den Beitrag der nichtmenschlichen Wesen signalisiert und konserviert werden (Latour 2001). Im Anschluss an diese Beobachtung stellt sich für die Soziologie allerdings die Frage, wie die gesellschaftliche Rolle der nichtmenschlichen Wesen genauer untersucht werden kann. Dabei sind drei Strategien denkbar. Die erste Möglichkeit besteht darin, allen nichtmenschlichen Wesen Intentionalität und Vernunft zuzuschreiben. Immerhin war es im Mittelalter durchaus üblich, Tierprozesse zu führen, bei denen Heuschrecken, Hunde, Raupen, Rüsselkäfer oder Mäuse vor den Kadi zitiert wurden, um sich dort für ihre Missetaten zu verantworten (Berkenhoff 1937; Evans 1906; Fischer 2005; Lindemann 2009a). Und in archaischen Gesellschaften galten Bäume, Tiere, Tote oder Gegenstände als reguläre Adressen der Kommunikation, deren Wirken sich sinnverstehend und empathisch entschlüsseln ließ (Hallowell 1960: 19-52; Luckmann 1980; Luhmann 1997: 643). Eine zweite Strategie könnte darin bestehen, nach hoch entwickelten Tieren (z. B. Primaten) oder Techniken (z. B. im Bereich der künstlichen Intelligenz und Robotik) Ausschau zu halten, die dem Menschen ähneln und die daher relativ problemlos in den Kreis der intentional Handelnden aufgenommen werden können. Latour wählt jedoch eine dritte Strategie, um die Bedeutung der nichtmenschlichen Wesen hervorzuheben. Er stattet sie dafür nicht mit Intentionen aus, sondern modifiziert den Handlungsbegriff, indem er ihn von seinen intentionalistischen Bestandteilen abspaltet. Dazu entwi- <?page no="268"?> Soziologie der Existenzweisen 269 ckelt er ein konsequenzialistisches Modell, das die Anforderungen vergleichsweise niedrig hält. Demzufolge ist »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur« (Latour 2007a: 123). Als Handlungsträger können gemäß dieser Definition alle Entitäten gelten, von denen sich zeigen lässt, dass sie eine Kraft übertragen bzw. vermitteln. Dazu gehören potenziell auch die nichtmenschlichen Wesen, denn Latour geht davon aus, dass sie als widerständige, komplexe und umstrittene »Dinge« zu betrachten sind-- und nicht als bloße Instrumente, die dem menschlichen Willen unterstehen (Latour 1999b, 2005). Dinge sind niemals Fakt oder Fetisch, künstlich oder real, sondern sind beides zugleich, also »Faitiches« (Latour 1999d: 330-339). Faitiches besitzen eine materielle, nicht beliebig verformbare Widerständigkeit und eine symbolische Gestalt, die auf kulturellen Zuschreibungen beruht. Sie sind partiell unverfügbar und unterstehen nicht der völligen Kontrolle anderer, vermeintlich übermächtiger Entitäten. So hat der Personenkreis, der einen Stein zum religiösen Symbol promoviert, keine Autorität über die Wirkungen, die von diesem Artefakt ausgehen werden. Eint und beflügelt das Totem den Glauben einer Dorfgemeinschaft? Vollbringt es die erhofften Wunder? Kann es die Götter zum Sprechen bringen? Garantiert es eine gute Ernte? Oder zerbröselt der Stein einfach nach dem ersten Regenguss? Die Handlungsmacht des Steins ist unübersehbar: »Außer zu ›determinieren‹ und als ›bloßer Hintergrund für menschliches Verhalten‹ zu dienen, können Dinge vielleicht ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort.« (Latour 2007a: 124) Sobald die Performanz der Dinge durch die Symmetrisierung des Handlungsbegriffs auf die Monitore der Soziologie gerät, verändert sich die Analyse. Die dadurch angeleiteten Studien registrieren Aspekte der sozialen Praxis, die bislang unterbelichtet waren. Die ANT zeigt, wie das bloße Gewicht eines gusseisernen Schlüsselanhängers das Verhalten von Hotelgästen verändert (Latour 1996a), das Sexualleben von Jakobsmuscheln die französische Ökonomie beeinflusst (Callon 2006), ein Sicherheitsgurt die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen gewährleistet (Latour 1996c), eine defekte Drehtür eingeschliffene Handlungsroutinen unterbricht (Latour 1996d) oder wie der zwangslose Zwang einer steinernen Bodenschwelle den Straßenverkehr beeinflusst (Latour 1999d: 226-232). Latour leitet aus der gesellschaftlichen Bedeutung der nichtmenschlichen Wesen keine rechtliche Gleichstellung von Menschen, Mikroben, Insekten oder Robotern ab. Sein Argumentationsgang ist strikt funktionalistisch: Menschen und Dinge sind in vielen Bereichen der modernen Gesellschaft äquivalent, immer häufiger übertreffen Maschinen sogar die Leistungen ihrer menschlichen Erbauer, daher benötigt die Soziologie einen symmetrischen Handlungsbegriff: »Das Ziel des Spiels besteht nicht darin, Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder Menschen als Objekte zu behandeln oder Maschinen als soziale Akteure zu betrachten, sondern die Subjekt- Objekt-Dichotomie ganz zu umgehen und stattdessen von der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen.« (Latour 1999d: 236) 4.2 Das Konzept der verteilten Handlungsmacht Latours Innovations- und Irritationspotenzial liegt indes nicht nur in der Tatsache begründet, dass er das Ensemble soziologisch relevanter Akteure erweitert und ein konsequenzialistisches Modell entwirft. Bemerkenswert ist weiterhin, dass er auf die Erklärung individueller Handlungsentwürfe komplett verzichtet. Sein Interesse gilt vielmehr dem Zusammenspiel heterogener Handlungsbeiträge. Aus dieser Perspektive wird ein Mord weder von einem verbrecherischen Bürger noch von einer schrecklichen Schusswaffe verübt, sondern von einem Hybridakteur, den er als Bürger-Waffe <?page no="269"?> 270 Henning Laux bzw. Waffen-Bürger bezeichnet. Es ist vollkommen willkürlich, die Agency lediglich auf eine der beteiligten Entitäten zuzuschreiben, denn weder Waffe noch Bürger verüben den Mord aus eigener Kraft (Latour 2006: 485-489). Inspiriert durch seine wissenschafts- und techniksoziologischen Studien, verlässt Latour die Pfade der konventionellen Handlungstheorie und generalisiert seine empirischen Befunde: »Niemand hat je reine Techniken gesehen-- und niemand je reine Menschen.« (Latour 1996b: 21) Er plädiert für ein Konzept der verteilten Handlungsmacht: »Handeln ist ein Knoten, eine Schlinge, ein Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen.« (Latour 2007a: 77) Akteure handeln nicht ausgehend von ihrer jeweiligen Position im Netz, sondern Akteure sind Netze, sie sind »Akteur-Netzwerke«, da sie immer im Verbund mit anderen Akteuren agieren (Kneer 2009: 24; Latour 2007a: 124, 375). Handeln ist bei Latour kein individuelles Ereignis, sondern Effekt assoziierter Entitäten. Selbst wenn wir geneigt sind, einem Akteur »die Rolle des ersten Bewegers« zuzuschreiben, können wir den Gehalt und Verlauf einer Handlung nur dann verstehen, wenn wir die verschiedenen Kräfte identifizieren, die zu ihrem Gelingen beitragen (Latour 1999d: 221). Sobald die Dinge offiziell als Akteure anerkannt sind, ist kaum noch eine Aktivität denkbar, in die nur ein oder zwei Akteure verstrickt sind. So ist es offenkundig eine Verkürzung, wenn behauptet wird, dass »der Mensch fliegt«, denn »Fliegen ist eine Eigenschaft der gesamten Assoziation« und dazu gehören neben den Piloten, Passagieren und Stewardessen ebenso Kerosin, Startpisten, Maschinen, Flughäfen oder Ticketschalter (ebd.). Es handelt sich um eine phänomenologische Kurzschrift, sobald einzelne Akteure als alleinige Träger einer Handlung identifiziert werden (Latour 2007a: 81). Latours operatives Modell verweist darauf, dass die Aktionen von Menschen und Nicht-Menschen stets in »dieselben Geschichten verwoben« (ebd.: 131) sind. Diese Ausgangsüberlegung befördert ein Handlungskonzept, das über wissenschaftliche und lebensweltliche Gewissheiten hinausweist, in dem es aufhört, Handlungen auf solitäre Adressen zurückzuverfolgen. In Latours Prozesssoziologie verwandeln sich Akteure in Akteur-Netzwerke und Handlungsakte verschwinden zugunsten von Handlungsketten. Eine Handlung ist dislokal und verschoben, sie verteilt sich auf verschiedene Akteure, Zeiten und Orte (Latour 1999d: 344-348; 2007a: 76-108). Auch innerhalb der Handlungsketten lassen sich einzelne Akteure punktualisieren und separieren. Sie gelten in der ANT als »Mittler«, die einer Handlung etwas hinzufügen, ohne dass ihr Beitrag in seiner mentalen Genese transparent, in seinem Gehalt determiniert oder in seinen Konsequenzen vorhersehbar wäre. Mittler übertragen Kräfte, »die andere Mittler dazu bringen, Dinge zu tun. ›Dazu bringen‹ ist nicht dasselbe wie ›verursachen‹ oder ›tun‹.« (Latour 2007a: 374) Keine Entität hat die Kontrolle über das Geschehen, da individuelle Inputs an jedem Knotenpunkt des Netzwerks übersetzt werden, »wann immer wir etwas machen, haben wir nicht das Kommando: Wir werden von der Handlung leicht überrascht, wie jeder Baumeister weiß« (Latour 1999d: 345). Im Gegensatz dazu sind »Zwischenglieder« keine Akteure, denn sie fungieren lediglich als verlässliche Medien und Passagepunkte, die genau das ausführen, was man von ihnen verlangt. Die bisherige Soziologie verortet alle Objekte in dieser Kategorie. In Latours Welt ist diese Zuordnung hingegen keineswegs ausgemacht, es gibt zahlreiche Situationen, in denen Tiere oder Softwareagenten sehr viel mehr tun als intentionale Subjekte. Darüber hinaus sind Zwischenglieder in der ANT ohnehin die absolute Ausnahme. Ein passives und getreues Zwischenglied ist nämlich nur um den Preis sorgfältiger Konstruktion und aufwendiger »Programmierung« zu haben (also z. B. folgsame Gefängnisinsassen, gesetzestreue Bürger, lernwillige Schüler, zuverlässige Computer, gesunde und funktionstüchtige Körper oder gehorsame Hunde). <?page no="270"?> Soziologie der Existenzweisen 271 4.3 Figurationen: Die Verwandlung von Aktanten in Akteure Latours Handlungsbegriff ist im soziologischen Diskurs keineswegs unumstritten. Autoren wie Caillé (2001), Lindemann (2009b), Keller und Lau (2008), Lemke (2010) oder Kneer (2008) bezweifeln die Sinnhaftigkeit der Begriffsbestimmung, denn sie »hat auf sozialtheoretischer Ebene zur Konsequenz, dass er ein flaches Handlungskonzept entwickelt, welches ›handeln‹ mit ›wirken‹ gleichsetzt. Dies verunmöglicht es, etwa zwischen mechanischer Wirksamkeit, intelligentem Verhalten und intentionalem Handeln zu unterscheiden.« (Lindemann 2009a: 117) Es scheint so, als würden mit Latours Modellierung von Agency bedeutsame Differenzen eingeebnet (z. B. zwischen Stein und Mensch), die nicht nur für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft eine gewichtige Rolle spielen, sondern zugleich konstitutiv für moderne Institutionensysteme sind (z. B. Rechtsstaat). Doch Latour argumentiert spätestens seit »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft« ganz klar figurationstheoretisch (Latour 2007a: 93-102). Das heißt, er behauptet, dass grundsätzlich von jedem Artefakt eine Wirkung ausgehen kann. Wer dann im Praxisvollzug als Akteur ausgeflaggt wird, ist eine Frage der performativen Zuschreibung durch Beteiligte und Beobachter. Um die damit verbundenen Prozesse der Anerkennung sichtbar zu machen, unterscheidet Latour zwischen »Aktanten« und »Akteuren« (ebd.: 96). Während der Begriff des Aktanten beim frühen Latour noch ein Hybridwesen aus menschlichen und nichtmenschlichen Wesen bezeichnet, referiert der Terminus in aktuelleren Schriften auf beobachtbare Kraftübertragungen, bei denen noch nicht geklärt ist, wer für diese Impulse eigentlich verantwortlich ist. Ein Aktant ist somit ein Akteur, der noch nicht per Figuration mit Identität und Gestalt versehen wurde (ebd.: 123). So kann »derselbe Aktant zum Handeln gebracht werden mittels eines Zauberstabs, eines Zwergs, eines Gedankens im Geist einer Fee oder schließlich eines Ritters, der zwei Dutzend Drachen tötet.« (ebd.: 95f ) Die Differenz zwischen Aktant und Akteur wird besonders in jenen Momenten deutlich, in denen eine noch nicht artikulierte Kraft (Aktant) den sozialen Status einer Entität (Akteur) verliehen bekommt. Die Gärung von Milch durch die Umwandlung von Zucker (Aktant) ereignet sich zwar schon in Steinzeit und Antike, doch der aus heutiger Sicht verantwortliche Urheber, die »Milchsäurehefe« (Akteur), emergiert erst im Jahr 1858 im Rahmen von Pasteurs berühmter Laborstudie. Die Hefe ist als Potenzialität in der unendlichen Möglichkeitsfülle des Plasmas verfügbar, sie erlangt jedoch erst durch Pasteurs Figuration und die öffentliche Anerkennung seiner Befunde den Rang eines klar umgrenzten Akteurs. Wann immer es Kontroversen über die Verantwortlichkeit für bestimmte Ereignisse und Entwicklungen gibt (Armut, Umweltkatastrophen, Weltfinanzkrise etc.), prozessiert die Unterscheidung zwischen Aktant und Akteur. Latour geht davon aus, dass Handlungen keinen singulären Autor haben, dass sie nicht der Kontrolle des Subjekts unterstehen und dass sich die Grenzen einer Aktion nur mit einem gewissen Maß an Willkür bestimmen lassen. Im Gegensatz zur Systemtheorie gibt die ANT den Handlungsbegriff jedoch nicht auf, sondern reformuliert ihn und kann damit weiterhin über Entitäten als Taktgeber des Sozialen berichten. Latours Akteure sind Effekte gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse und performative Kräfte zugleich. Eine Handlungsquelle kann sich nur dann als Adresse von Zuschreibungen stabilisieren, wenn sich zeigen lässt, dass sie etwas tut. Latour schlägt ein figurationstheoretisches Handlungsmodell vor, das durchaus in der Lage ist, zwischen mechanischer Wirksamkeit und intentionalem Handeln zu unterscheiden. Hierfür wird keine präskriptive Vorauswahl der zulässigen Entitäten getroffen, sondern es gilt, die Zuschreibungen der Akteure zu protokollieren. Für die Soziologie ergeben sich aus diesem Modell vier Leitfragen: Welche Kräfte werden in der Praxis wahrgenommen? Welche Handlungsträger werden intersubjektiv als zulässige Meta- <?page no="271"?> 272 Henning Laux physik anerkannt? Wer aus dieser Gruppe wird als verantwortlicher Akteur figuriert? Und welche Handlungstheorien sind in Gebrauch, also wer wird in einer konkreten Situation als Zwischenglied oder Mittler ausgeflaggt? Entlang dieser Fragenbatterie wird es möglich, »die vielen verschiedenen Welten nachzuzeichnen, welche die Akteure füreinander entwickeln« (Latour 2007a: 87). Doch wie kann eine möglichst vorurteilsfreie Erfassung von akteurgenerierenden Figurationspraktiken gewährleistet werden? An dieser Stelle kommt die zweite Säule der ANT ins Spiel: das Netzwerk. 4.4 Das Soziale als Vernetzungsvorgang Der analytische Schlüssel zum besseren Verständnis einer Gesellschaft, die nie modern gewesen ist, liegt für Latour im Begriff des Netzwerks. Die Metapher verweist auf eine Welt, die sich durch ein komplexes Geflecht aus Knoten und Kanten auszeichnet (Latour 2007a: 228-231). Damit stellt Latour eine Imagination ins Zentrum seiner Überlegungen, die sich ganz erheblich von den in den Sozialwissenschaften dominierenden Bildern der Gesellschaft unterscheidet- - man denke nur an den Leviathan bei Hobbes, den Organismus bei Comte, Spencer, Tönnies und Durkheim, das Klassenmodell bei Marx, das System bei Parsons und Luhmann oder die Felder bei Bourdieu. Anders als bei Manuel Castells, dem Chronisten der »Netzwerkgesellschaft« (Castells 2001), bezeichnet Latour mit dem Netz aber keine Sozialform, die erst in der Gegenwart auftaucht und sich durch spezifische Eigenschaften von anderen Kristallisationsformen des Sozialen unterscheidet. Ganz im Gegenteil: Latour versteht das Netzwerk als transhistorisches »Gewebe unserer Welt« (Latour 1991: 15; 1996e: 369). Er verzichtet darauf, dessen Bestandteile inhaltlich festzulegen und kann aufgrund dieser Abstrahierungsleistung alle Phänomene, die für ihn von Interesse sind, als Netzwerke figurieren. Ausgehend von diesem definitorischen Schachzug erforscht die ANT nicht nur internetbasierte Kommunikationszusammenhänge wie Castells, sondern auch die Beziehungen zwischen Viren und Patienten, Demokratien und Diktaturen, Göttern und Priestern, Toten und Hinterbliebenen oder Waren und Konsumenten. Weil als Knotenpunkte auch nichtmenschliche Wesen in Betracht kommen, werden symmetrische Analysen möglich, die ohne anthropozentrische Stoppregel auskommen. Darüber hinaus vermeidet die ANT ausgehend von der Netzwerkperspektive eine Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft und bemüht sich um einen anderen Umgang mit dem Mikro-Makro-Dualismus sowie einen Verzicht auf emergenztheoretische Erklärungsversuche. Latour ist davon überzeugt, dass die bisherige Soziologie maßgeblich zum Aufbau der aporetischen Gegenüberstellung von Akteuren und Strukturen beigetragen hat, indem sie die Praxis im Anschluss an Durkheim mit der Vorstellung einer »Gesellschaft sui generis« konfrontiert hat. Denn dadurch wurde der Eindruck erweckt, es gebe eine Welt, in der atomisierte Individuen einer emergenten Ordnung gegenüberstehen. Die relationale Topografie des Sozialen, die sich aus der Netzwerkperspektive ergibt, hat dagegen den Vorteil, dass kein qualitativer Sprung zwischen diesen zwei Ebenen notwendig ist. Durch die sorgfältige Entfaltung komplexer Akteur- Netzwerke kann vielmehr ein kontinuierlicher Übergang zwischen Mikro und Makro hergestellt werden (Latour 2007a: 286-423; Latour et al. 2012). Begriffe wie »Struktur« und »Akteur« erweisen sich dann als stenografische Kurzschrift für ein Akteur-Netzwerk, »über das man nur spärliche Informationen hat« (ebd.: 348). Widersteht die Soziologie dem kulturell antrainierten Reflex zum black boxing, so erweisen sich individuelle Akteure und anonyme Strukturen als »provisorische Aggregate« (Latour/ Lépinay 2010: 17), als voraussetzungsvolle Konstruktionen, <?page no="272"?> Soziologie der Existenzweisen 273 die über sorgfältige Transformationsschritte hinweg und unter maßgeblicher Beteiligung nichtmenschlicher Wesen hervorgebracht und stabilisiert werden. 1 Bei der Genese und Disziplinierung sozialer Welten spielen auch symbolische Elemente eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang ist Latours Konzept der »Plug-ins« erwähnenswert (Latour 2007a: 352-368). Dabei handelt es sich um diskursive Anforderungsprofile, die für den Kreis ihrer Adressaten standardisierte Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsmuster bereithalten. Derartige Subjektprofile können vom Akteur je nach Bedarf heruntergeladen werden, »um lokal und provisorisch kompetent zu werden« (ebd.: 362). Wie jeder Besitzer eines Computers jedoch weiß, sind Plug-ins sehr viel mehr als freundliche Zusatzangebote des Softwareanbieters. Früher oder später benötigt man diese Updates, um bestimmte (Handlungs-)Programme überhaupt noch ausführen zu können. Die Individuen erlangen ihre soziale Handlungskompetenz demnach über die Plug-ins. Ein Download des aktuellen Standardprofils generiert gesellschaftliche Anerkennung, eine dauerhafte Missachtung der Updates führt hingegen zu sozialer Exklusion (ebd.: 367). Während Latour einige Arbeit investiert, um die Entstehung und Stabilität von Akteur-Netzwerken zu erklären (wie? ), bleibt er weitgehend stumm, wenn es um die Frage geht, welche konkreten Sozialformen und Aggregate daraus entstehen (was? ). Diese Zurückhaltung ist keineswegs verwunderlich, denn wie gezeigt wurde, ist die ANT ein infrasprachliches Werkzeug, das durch die Skepsis gegenüber klassischen Unterscheidungen der Soziologie den erforderlichen Freiraum zur Beobachtung hybrider Vernetzungsvorgänge generieren soll. Erst wenn das Soziale wieder nachgezeichnet werden kann, lässt sich die moderne Welt positiv bestimmen. Das Ergebnis dieser Untersuchung präsentiert Latour in Form einer »Soziologie der Existenzweisen« (Latour 2013b), deren Grundrisse im folgenden Abschnitt skizziert werden. 5. Forschungsbericht: Soziologie der Existenzweisen (AIME) Latours jüngste Monografie zielt auf eine »vergleichende Anthropologie des Moderne« (Latour 2013b) und muss allein schon aufgrund dieses gewaltigen Anspruchs zu seinen Hauptwerken gezählt werden. Latour legt darin einen Zwischenbericht vor, der seine bisherigen Erkenntnisse über die Verfassung der Moderne in gebündelter Form darlegt. Die darin entwickelte »Soziologie der Erkenntnisweisen« (AIME) kann aufgrund ihres unabgeschlossenen Charakters an dieser Stelle nur in ihren Grundzügen dargelegt werden. Zunächst stellt sich diesbezüglich natürlich die Frage, warum es überhaupt erforderlich wird, eine Soziologie der Existenzweisen zu entwickeln. Latour gibt darauf eine einfache, aber schlüssige Antwort: Die ANT war sehr erfolgreich darin, epistemische Denkschablonen zu unterlaufen, um zu den davon abweichenden Praktiken vorzudringen. Die Fokussierung auf Vernetzungsvorgänge hat allerdings dazu geführt, dass auch solche Differenzen eingeebnet wurden, die den Akteuren wichtig erscheinen. Letztere fühlen sich daher häufig missverstanden, wenn sie mit ANT-Berichten konfrontiert werden. Die Netzwerkperspektive kann transversale Prozessketten freilegen, sie ist jedoch nicht dazu in der Lage, verschiedene Formen und Techniken der Assoziierung voneinander zu unterscheiden. Dadurch geht die zugrundeliegende Logik bzw. Richtung der Verbindungen verloren, also der Modus, in dem Netzwerke erweitert werden.Die Soziologie der Existenzweisen ist nun der Versuch, verschiedene 1 Latour lehnt Mehrebenenmodelle des Sozialen daher strikt ab. Er betrachtet Netzwerke nicht wie andere Autoren als vermittelnde Mesoebene. Im Grunde setzt er sich für das Gegenteil ein, denn er versucht mit Hilfe des Netzwerkbegriffs, »das Soziale flach zu halten«. <?page no="273"?> 274 Henning Laux Tonalitäten und Artikulationsweisen des Sozialen voneinander zu unterscheiden, und zwar nicht irgendwelche, sondern jene, die für die Konstitution und das Verständnis der Moderne von zentraler Bedeutung sind. Es handelt sich dabei um Werte (values), die sich in den Praktiken kristallisieren (experience), die jedoch in den institutionellen Domänen der Moderne nicht adäquat verankert sind (institutional accounts), da sie durch dualisierende Unterscheidungen wie Welt und Wort, Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Immanenz und Transzendenz oder Natur und Kultur unsichtbar gemacht wurden. Die ANT ist trotz ihrer Indifferenz gegenüber den Spezifika der Moderne keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil: Die ANT hat den Blick auf Assoziationsketten gelenkt und dieser Ansatz wird von AIME konsequent weiterverfolgt. Latour kann die ANT daher nahezu bruchlos in den umfassenderen Rahmen der vergleichenden Anthropologie integrieren. Sie wird als »NET-Mode« nun selbst zu einer Existenzweise, welche als eine von zwei Metakategorien dafür verantwortlich ist, dass die anderen Seinsmodi der Moderne überhaupt sichtbar und institutionell entfaltet werden können. Auch das transformistische Erkenntnismodell, vorgestellt im zweiten Abschnitt dieses Textes als Desiderat von Latours Beschäftigung mit der Logik der Wissenschaft, wird im Rahmen der AIME in den Status eines Seinsmodus überführt. Der »REF-Mode« bezeichnet nun die Artikulationsweise, in der die Wissenschaft das Plasma formt und dabei weit entfernte Entitäten über sorgfältige Transformationsschritte zur Existenz bringt. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Konzept der Existenzweisen und was wird mit Hilfe der verschiedenen Modes zur Existenz gebracht? Latour nennt fünf Aspekte, durch die ein Assoziationsmodus genauer charakterisiert werden kann. Zunächst macht sich dieser durch eine spezifische Art der Unterbrechung bemerkbar (hiatus), dann zeichnet er sich durch eine unverwechselbare Prozesslogik aus (trajectory), er besitzt selbstreferenzielle Erfolgs- und Misserfolgskriterien (conditions of felicity and infelicity), er unterbreitet konkrete Seinsvorschläge (beings to institute) und er verändert die Welt auf eine bestimmte Weise (alteration). Von einem Existenzmodus kann gesprochen werden, wenn alle fünf Voraussetzungen erfüllt sind. Latour destilliert insgesamt fünfzehn Existenzweisen, die für moderne Kollektive von entscheidender Bedeutung sind und ermöglicht damit einen »ontologischen Pluralismus« (Latour 2013b: 142). 2 Zur ersten Untergruppe gehören drei Modes, die nicht nur der Moderne, sondern der Menschheit insgesamt vorausgehen: Reproduktion (REP), Metamorphose (MET) und Gewohnheit (HAB). Der REP-Mode bringt Wesen zur Existenz, die durch Reproduktionsprozesse gegen das Verschwinden bzw. Aussterben ankämpfen. Aus dem MET-Mode gehen Entitäten hervor, die zu Veränderungen fähig sind. Und die Assoziierungsvorgänge im HAB-Mode bringen Wesen hervor, die an Gewohnheiten festhalten. Diese drei Modes sind so basal, dass sie sich auf sämtliche Phänomene übertragen lassen. Sie können und müssen daher auch als Ressource von allen anderen Existenzweisen in Anspruch genommen werden, denn nur mit ihrer Hilfe sind (konkrete) Veränderungs-, Erneuerungs- und Habitualisierungsvorgänge denkbar. Zur zweiten Untergruppe der Existenzweisen gehören die Modes der Technologie (TEC), Fiktion (FIC) und Wissenschaft (REF). Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie trotz ihrer 2 Die Liste der Modes ist provisorisch, sie soll im Laufe der Zeit ggf. noch verändert werden: »There is no overarching principle that decides how many there should be. One must simply bear in mind that the addition of a mode by a contributor means a lot of work (one has to be able to cross it with all the others! ) that it must justify itself by its importance as a stakeholder (does it allow us to see more clearly the essential vital questions for the understanding of the Moderns? ) and finally, can it allow us to establish another basis of understanding with the other collectives? Apart from these limits, the worksite is completely open.« <?page no="274"?> Soziologie der Existenzweisen 275 klaren Ausrichtung auf die nichtmenschlichen Entitäten gleichzeitig zur Transformation der menschlichen Wesen beitragen. Sie evozieren nicht nur innovative Amalgame, fragile Artefakte und konstante Objekte, sondern auch geschickte, fantasievolle und zu objektivem Wissen fähige Menschen (Latour 2013b: 372). In der dritten Untergruppe fasst Latour die Modes der Politik (POL), des Rechts (LAW) und der Religion (REL) zusammen. Sie sind auf die menschlichen Entitäten fokussiert und formen aus ihnen im Rahmen anspruchsvoller Prozessketten autonome Bürger, verantwortliche Selbste sowie geliebte und anerkannte Personen. Die vierte Untergruppe besteht aus Attachments (ATT), Organisationen (ORG) und Moralität (MOR), diese Prozesse bringen leidenschaftliche Interessen, handlungsleitende Skripte und die Suche nach optimalen Zweck-Mittel-Relationen zur Existenz. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie menschliche und nichtmenschliche Wesen verlinken und das Rohmaterial für die Kalkulationen der Ökonomie zur Verfügung stellen (ebd.: 465). Die fünfte und letzte Untergruppe beinhaltet schließlich drei Meta-Modes, nämlich Netzwerk (NET), Präposition (PRE) und Doppelklick (DC). Während Latour die beiden erstgenannten Modes als wichtige Ressourcen bei der Entdeckung und Entfaltung des modernen Kollektivs betrachtet, gelten ihm Doppelklick-Prozesse als zentrales Hindernis auf dem Weg zu einem ontologischen Pluralismus, da der DC-Mode dazu tendiert, alle anderen Prozessketten zu amalgamieren bzw. gleichzuschalten, so dass die darin artikulierten Werte verlorengehen. Im Gegensatz dazu erfüllt der PRE-Mode eine ganz zentrale Funktion: Er schützt alle anderen Modes, denn er signalisiert die von ihnen eingeführte Differenz und liefert den Schlüssel zur interpretativen Erfassung der jeweiligen Assoziationsweise (Latour 2013b: 178, 263-264). Im Hinblick auf NET und PRE gilt daher: »To understand rationally any situation whatsoever is at once to unfold its network and define its preposition.« (ebd.: 66) Im Anschluss an diese letzte Bemerkung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von AIME zur soziologischen Differenzierungstheorie, also zu den einschlägigen Arbeiten von Weber, Durkheim, Parsons, Luhmann, Habermas oder Bourdieu. Bereits zum gegenwärtigen Stand der Ausarbeitung von AIME zeichnen sich diesbezüglich einige Ähnlichkeiten und Diskontinuitäten ab. Zunächst fällt auf, dass in der Liste der Existenzweisen zwar einige Kandidaten auftauchen, die auch bei anderen Differenzierungstheorien vorkommen, so wie die Politik, die Wissenschaft, die Religion oder das Recht. Doch Latour verleiht diesen Begriffen einen anderen Sinn und betont, dass es sich bei ihnen trotz der vertrauten Ausdrücke keineswegs um jene Domänen oder Institutionen handelt, die uns aus dem (soziologischen) Alltag vertraut sind. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Modes, die in der Soziologie bislang überhaupt nicht oder nur äußerst selten berücksichtigt wurden, wie etwa REP, MET, HAB oder ATT. Weiterhin fällt auf, dass der Schwerpunkt von AIME, anders als bei den zuvor genannten Autoren, ganz klar auf den Übergängen und Schnittstellen zwischen den einzelnen Modes liegt (crossings). Die Modes sind selbstreferenziell und artikulieren einzigartige Werte, doch sie beruhen auch aufeinander und zwar nicht nur im Sinne wechselseitiger Leistungsbeziehungen, sondern bis in ihre innerste Operationslogik hinein. Ein letzter Unterschied besteht schließlich darin, dass Latour zu keinem Zeitpunkt eine neutrale Beobachterrolle einzunehmen versucht, er sagt ganz klar, dass es ihm darum geht, die durch die Modes artikulierten Differenzen zu erhalten und im Rahmen zukünftiger institutioneller Designs zu berücksichtigen (Latour 2013b: 316, 375). Gemeinsamkeiten zu Theoremen der funktionalen Differenzierung bestehen hingegen in Bezug auf die operative Perspektive, den antifundamentalistischen Gestus und bezüglich des Bruchs mit der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft. AIME ist demzufolge kein Gegenprogramm zur soziologischen Differenzierungstheorie, sondern eine interessante Innovation, die der eingefahrenen Debatte neuen Schwung verleihen könnte <?page no="275"?> 276 Henning Laux 6. Forschungsmotiv: Latours diplomatische Mission Latours erklärter Lieblingsgegner ist das Projekt einer »kritischen Soziologie«, welches für sich einen privilegierten Beobachterstandpunkt reklamiert, von dem aus gesellschaftliche Verblendungszusammenhänge durchschaut und öffentliche Kontroversen mit der Waffe der Wahrheit beendet werden können (Latour 2004). Allerdings wird keineswegs deutlich, welchen Gegner Latour dabei vor Augen hat. Denn weder Pierre Bourdieu, der in diesem Zusammenhang gelegentlich attackiert wird (Latour 2007a: 242), noch die Kritische Theorie im Anschluss an Jürgen Habermas, die Postcolonial Studies um Homi Bhabha oder der Poststrukturalismus im Sinne Foucaults verfahren in der von Latour beschriebenen Weise. Latours Karikatur der kritischen Soziologie erfüllt gleichwohl einen wichtigen Zweck, denn in Auseinandersetzung mit der »kritischen Geste« markiert er seine eigene Beobachterposition und expliziert die von ihm favorisierte Rolle der Soziologie in der Gesellschaft. Latours Position spiegelt sich vermutlich am besten in der Figur des Diplomaten. Bereits im »Parlament der Dinge« (Latour 1999a) erfüllt der Diplomat eine wichtige Funktion, denn er vermittelt zwischen den verschiedenen Sprechern themenzentrierter Parlamente und beteiligt sich an der demokratischen Zusammensetzung des Kollektivs. In AIME und einigen neueren Texten rückt die Diplomatie dann endgültig in den Vordergrund des Interesses, Latours gesamtes Werk wird nun darauf ausgerichtet, die richtigen Worte zu finden, um zu jenen zu sprechen, die sich für umstrittene Werte einsetzen (Latour 2013b: 139). Latours soziologische Diplomatie zielt auf drei potenzielle Konfliktherde der Moderne: (1.) Innerhalb der Moderne stehen verschiedene Werte in Konflikt miteinander. Aufgabe der Diplomatie ist es, die Institutionalisierung divergierender Existenzweisen voranzutreiben. Latour insistiert, »to carry out negotiations for real, with those who are directly interested in formulating other versions of their ideals« (Latour 2013b: 484). Hierfür konsultiert er im Rahmen des AIME- Projekts jene Orte der Gesellschaft, an denen es zum Konflikt verschiedener Existenzweisen kommt. An diesen Intensitätspunkten gilt es zu schlichten, zu vermitteln und Lösungsvorschläge anzubieten. (2.) Diplomatie ist außerdem an jener Front gefragt, die noch immer zwischen »uns« (den Modernen) und den »anderen« (der restlichen Welt) verläuft. Die Diplomatie zielt dabei insbesondere auf ein besseres Selbstverständnis der Modernen. Denn erst wenn klar ist, was es eigentlich bedeutet, modern zu sein, können die Kollektive verglichen werden, um auf dieser Basis zu entscheiden, welche Werte universalisiert, lokalisiert oder getilgt werden sollten. Die durch das AIME-Projekt angeleitete Diplomatie zielt dabei stets auf eine Verständigung zwischen bislang getrennten Wir-Sphären (Latour 2013b: 483). (3.) Schließlich kommt der soziologischen Diplomatie noch eine dritte und letzte Aufgabe zu, sie soll nämlich einen Friedensschluss zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen ermöglichen. Anders formuliert: Die Diplomatie gilt als letzte Hoffnung im Kampf gegen die ökologische Gefährdung der Menschheit. Im Anschluss an den Naturwissenschaftler James E. Lovelock (2006) spricht Latour in diesem Zusammenhang auch von der unausweichlichen »Rache Gaias«. In der griechischen Mythologie bringt Gaia als Muttergöttin das Leben hervor und löscht es als Todesgöttin aus. Aufgrund dieser Doppelfunktion wird die Göttin häufig als Symbol für den lebendigen Planeten Erde verwendet. Wenn Latour von Gaia spricht, so meint er damit planetarische Rückkopplungsschleifen, die sich in Naturkatastrophen niederschlagen und in Zukunft zur Auslöschung des (menschlichen) Lebens führen könnten. Angesichts dieses apokalyptischen Szenarios geht es in Latours Augen darum, mit Hilfe globaler Diplomatie und kollektiver Aktivitäten das Schlimmste abzuwenden: »If there is only one Earth and it is against us, what are we going to do? « (Latour 2013b: 485) <?page no="276"?> Soziologie der Existenzweisen 277 7. Fazit Latour hat im Laufe seiner Forscherbiografie sämtliche Elemente für eine umfassende Gesellschaftstheorie zusammengetragen. Neben methodologischen Reflexionen über die Bedingungen der Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis und die Position sozialwissenschaftlicher Beobachter innerhalb der Gesellschaft, liefert er Basiskategorien und Theoreme, die für das gesamte Spektrum der Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften anschlussfähig sind. Er beschreibt die spezifische Konstitution der modernen Gesellschaft und die ihr eingeschriebene Wandlungsdynamik, er zeigt pathologische Entwicklungen, diskutiert Möglichkeiten der Gesellschaftskritik, äußert sich zu den Chancen und Risiken politischer Steuerung, extrapoliert zukünftige Entwicklungen und interveniert in öffentliche Debatten hinein. Latours konfrontative, waghalsige, experimentelle und mitunter polemische Form der Soziologie hat ihm in der Vergangenheit viel Kritik eingebracht. Doch egal wie umstritten seine Thesen, Theoreme und Befunde im Einzelfall auch sein mögen, an Latour gibt es in der Soziologie kein Vorbeikommen mehr. Literatur Bammé, Arno (2011): Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie. Weilerswist. Berkenhoff, Hans A. (1937): Tierstrafe, Tierverbannung und rechtsrituelle Tiertötung im Mittelalter. Leipzig. Bogusz, Tanja/ Laux, Henning (2013): Wozu Pragmatismus? 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Sozialität von Technik statt Postsozialität (S. 703-719), in: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Frankfurt/ Main. Serres, Michel (1994): Der Naturvertrag. Frankfurt/ M. Souriau, Étienne (1943): Les différents modes d’existence. Paris. Tarde, Gabriel (2009): Monadologie und Soziologie. Frankfurt/ M. Whitehead, Alfred North (1929): Process and Reality. An Essay in Cosmology. New York. <?page no="280"?> 281 Teil IV Untersuchungsfelder der Soziologie <?page no="282"?> 283 Paula-Irene Villa Körper, Geschlecht und Sexualität 1. Thematisierungen und Institutionalisierungen Körper, Geschlecht und Sexualität stellen distinkte soziologische Untersuchungsfelder dar. Sie sind weder aufeinander reduzierbar noch unmittelbar voneinander ableitbar. Gleichwohl eint alle drei Gegenstandsbereiche eine spezifische alltagsweltliche Logik, die sie nicht nur im Sinne des Alltagswissens jeweils konturiert, sondern die zudem von einer Kausalität zwischen ihnen ausgeht. Zunächst stellen Geschlecht, Körper und Sexualität im Alltagsverständnis Eigenschaften von Personen dar, die gegeben sind. Körper, Geschlecht und Sexualität hat man- - ein Mensch ist weiblich oder männlich, ist hetero- oder homosexuell, körperlich entsprechend biologischer Anlagen spezifisch beschaffen. Ausnahmen hiervon, etwa Bisexualität oder Zwischenformen des Geschlechtlichen, gelten-- je nach historischem oder regionalem Kontext-- als kurios, als behandlungsbedürftige Pathologien oder als kalkulierte Performance. Weiterhin, etwas genauer, gelten alltagsweltlich Körper, Geschlecht und Sexualität als universal gegebene, objektive natürliche Tatsachen, als ahistorische und vorsoziale Essenzen (Natur; sex), die zugleich jedoch kulturell, sozial und historisch überformt werden (Kultur; gender). 1 Zudem, so das alltagsrelevante Wissen, bedingen bestimmte Körper (etwa im Sinne ihrer chromosomalen Ausstattung oder Anatomie) Formen natürlicher oder eigentlicher Sexualität (z. B. im Sinne der Fortpflanzung). Kurz und bündig gesprochen: Im Alltagsdenken sitzt die Geschlechterdifferenz eigentlich in einer biologischen Tatsache wie Chromosomensatz oder Anatomie, aus der sich jeweils ein körperliches Geschlecht und soziale Eigenschaften ableiten, und beide Geschlechter sind in ›natürlicher‹ Weise sexuell komplementär aufeinander bezogen, da dies der Generativität dient. Nun sind Teile dieses Alltagsdenken brüchig und fragwürdig geworden, womöglich waren sie es faktisch schon immer: Sexualität wird zunehmend von Reproduktion entkoppelt, Körper werden im Zuge der Popularisierung der kosmetischen Chirurgie bewusst gestaltbar, das Soziale der Geschlechtlichkeit wird in den Auseinandersetzungen um Berufe, Karrieren, Lebensweisen oder Arbeitsteilung verhandelbar. Dass diese sowie weitere Phänomene jedoch zu intensiven, z.T. hochgradig emotionalen Debatten führen, zeigt, wie stark Geschlecht, Körper und Sexualität im Alltagsdenken von der Vorstellung einer gegebenen Eigentlichkeit geprägt sind. Die Soziologie kann sich vor diesem Hintergrund auf Körper, Geschlecht und Sexualität zweifach beziehen: Zum einen als askriptive Merkmale, zum anderen als zu hinterfragende komplexe Konstruktionen, d. h. als beschreibungs- und erklärungsbedürftige soziale Tatsachen. So wird im 1 Die Sex/ Gender-Unterscheidung stand auch am Beginn der Geschlechtersoziologie und wurde lange mitgeführt, bis sie selber in den 1980ern problematisiert wurde. Vgl. West/ Zimmermann 1987. Verwendet wird die Sex/ Gender-Unterscheidung in der geschlechtersoziologischen Forschung kaum mehr, da ihr epistemologisch und empirisch nicht haltbare Naturalisierungen innewohnen. <?page no="283"?> 284 Paula-Irene Villa erstgenannten Sinne in der deskriptiven Statistik Geschlecht als Kategorie behandelt, die Erhebungen zugrunde liegt. Im Rahmen quantitativer Designs wird dann etwa gezählt, wie viele Frauen und Männer in bestimmten Berufen arbeiten oder bestimmte Einkommen erzielen, wie viele homosexuelle Politiker/ innen es gibt oder wo Menschen mit körperlichen Behinderungen leben. Das Gros der soziologischen Auseinandersetzung mit Körper, Geschlecht und Sexualität jedoch arbeitet im Rahmen des zweitgenannten Horizonts. Diese interessiert sich für die praxeologischen, z. B. handlungsbasierten, zugleich institutionell gerahmten, historisch sedimentierten und diskursiv verfassten Deutungs- und Verhandlungsprozesse, die Körper, Geschlecht und Sexualität in der sozialen Welt überhaupt konstituieren. Eine solche soziologische Haltung beinhaltet zwingend einen kontraintuitiven Bruch mit der alltagsweltlichen »doxa« (Bourdieu 1979 und Bourdieu 2005: 63) zugunsten einer auch epistemologisch informierten Infragestellung der ontologischen Qualität vermeintlich gegebener personaler Eigenschaften. Dies muss keineswegs bedeuten, dass die Existenz von biologischen Faktoren soziologisch gänzlich geleugnet würde. Aber es bedeutet doch, dass die soziologische Körper-, Geschlechter- und Sexualitätsforschung-- so unterschiedlich diese im Einzelnen untereinander sind- - besonders auf die Grenzziehungen zwischen Kultur und Natur als soziologisch interessante und erklärungsbedürftige soziale Prozesse innerhalb der sozialen Welt achten. Tatsächlich wird in der soziologischen Thematisierung aller drei Phänomene- - Körper, Geschlecht, Sexualität- - die Naturhaftigkeit im Sinne einer außersozialen Essenz überwiegend problematisiert. Zugleich sind beide hier skizzierten Möglichkeiten der Bezugnahme auf Körper, Geschlecht und Sexualität keine exklusiven Alternativen; insbesondere das Feld der Geschlechtersoziologie ist von einer Vielfalt unterschiedlicher Methoden und Zugänge geprägt. Gänzlich neu ist die Soziologisierung von Geschlecht nicht. Allerdings sollte es historisch betrachtet vergleichsweise lange dauern, bis sich die Disziplin- - auch in ihren institutionellen Formen, z. B. als Professuren, Studiengänge, Kanonisierung in Lehrbüchern, Präsenz in den wissenschaftlichen Vereinigungen- - für die systematische Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht öffnete. 2 Bereits Georg Simmel hatte sich in vielen Schriften mit Geschlecht auseinandergesetzt (vgl. Simmel 1985), und interessanterweise dabei auch das thematisiert, was heute unter dem Titel »Männlichkeitsforschung« (Connell 1999; Meuser 2006; Meuser/ Bereswill/ Scholz 2007) an prominenter Stelle analysiert wird, nämlich die Verallgemeinerung einer partikularen sozialen Position bzw. eines kulturellen Musters als Form der Macht: »Dass das männliche Geschlecht nicht einfach dem weiblichen relativ überlegen ist, sondern zum Allgemein- Menschlichen wird […], wird, in mannigfaltigen Vermittlungen, von der Machtstellung der Männer getragen.« (Simmel 1985: 201; Hervorh. i. O.). So werde faktisch »das Männliche zu dem schlechthin Objektiven und sachlich Maßgebenden verabsolutiert« (ebd.: 202). Diese Argumentation ist für die Geschlechtersoziologie zentral, sie konkretisiert sich in vielfachen empirischen wie theoretischen Differenzierungen. Allerdings sollte es bis in die 1980er-Jahre hinein dauern, bis dies sichtbar und systematisch geschah. Heute diskutiert die soziologische Analyse von Männlichkeiten die ›unsichtbare‹ Verallgemeinerung einer spezifischen Form von Männlichkeit als wirksame Form symbolischer Herrschaft, die demnach als Hegemonie fungiert (Bourdieu 2005; Connell 1999). 2 Diese und nachfolgende Ausführungen gelten, sofern nicht anders ausgewiesen, für den deutschsprachigen Raum. Die Sektion Frauenforschung in der DGS wurde formal 1979 etabliert, sie gehörte mit damals rund 300 Mitgliedern zu den größten Sektionen. Im Jahre 2002 nannte sich die Sektion nach intensiven Debatten und einer Abstimmung aller Mitglieder in »Frauen- und Geschlechterforschung« um. <?page no="284"?> Körper, Geschlecht und Sexualität 285 Ausschlaggebend für die dezidiert soziologische Thematisierung von Geschlecht seit etwa den 1970ern war (dies gilt national für Deutschland wie international etwa für die USA oder Großbritannien) zunächst nicht die disziplinimmanente Anknüpfung an bestehende Theorie- oder Forschungsangebote, auch nicht die Bezugnahme auf die soziologischen Klassiker des frühen 20.- Jahrhunderts. Entscheidend war vielmehr der interdisziplinäre Reflexionszusammenhang, der sich aus der zweiten Frauenbewegung gebildet hatte und der sich seit den späten 1970er- Jahren zunehmend akademisierte. Das Verhältnis zwischen politischer Bewegung einerseits und zunehmender Verwissenschaftlichung andererseits war in der (zunächst Frauendann auch) Geschlechterforschung von Anfang an ausgesprochen spannungsreich und ist es bis heute geblieben, ablesbar an einer stets aufs Neue geführten Debatte. 3 Dies hat seinen Grund weniger in der naiven Politisierung von Wissenschaft seitens des ›Feminismus‹. Wesentlich ist stattdessen die auch in der Wissenschaft, z. B. in der Soziologie, vielfach herausgearbeitete immanente Normativität von Wissenschaft und wissenschaftlicher Erkenntnis selbst. In diesem Sinne weist die Geschlechterforschung-- wie auch die Auseinandersetzung mit Sexualität z. B. im Sinne der queer theory (siehe unten)-- nachdrücklich auf die wiederum soziale Tatsache hin, dass zahlreiche Kategorien und Perspektiven theoretischer wie methodischer Art eben nicht objektiv oder neutral seien, sondern-- wie Simmel bereits postulierte-- partikulare Positionen, die sich im Modus der Macht als das Allgemeine, Objektive oder Normale des Wissens setzen können (vgl. u. a. Hausen/ Nowotny 1986; Schiebinger 1995). Folglich gehört das entsprechende Durcharbeiten des soziologischen Kanons ebenso zu den beständigen Anliegen der Geschlechtersoziologie (vgl. Gildemeister/ Hericks 2012; Wobbe 1995) wie die andauernde Rezeption und kritische Weiterentwicklung aktueller theoretischer und empirischer Perspektiven durch die Geschlechterbrille (vgl. z. B. für die Prekarisierungsdebatte Aulenbacher 2009). Institutionell hat sich in Deutschland die Geschlechtersoziologie durchaus etablieren können, wenngleich in prekärer Weise. Es existieren neben einigen einschlägigen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum und der bereits erwähnten Sektion in der DGS auch vielfache soziologische wie interdisziplinäre Studiengänge mit einem ausgewiesenen Schwerpunkt »Gender«, einschlägige Graduiertenkollegs und 26 Professuren (Fachhochschulen inklusive) mit einer Voll- oder Teildenomination für soziologische Geschlechterforschung. 4 Gleiches lässt sich für die historisch noch jüngeren, sich derzeit institutionell überhaupt formierenden thematischen Felder Körper und Sexualität nicht sagen. Diese hinken in Deutschland-- wie so oft-- dem internationalen Stand hinsichtlich der Institutionalisierung und Sichtbarkeit hinterher (für die Körpersoziologie vgl. für den englischsprachigen Raum Shilling 2003, 3 Dies zeigen auch die unterschiedlichen Bezeichnungen im Feld, die zwischen feministischer Soziologie, Geschlechterforschung, Geschlechterstudien, Frauen- und Geschlechtersoziologie, soziologischer Geschlechterwissenschaft oder Gender Studies changieren. Zwar implizieren diese jeweiligen Stichworte tatsächlich jeweils spezifische Annahmen über Charakter, disziplinäre Zuordnung (bzw. deren Verweigerung) und Gegenstand, doch herrscht im Feld der Gender Studies-- der wohl umfassendste Begriff- - Konsens darüber, dass alle Strömungen zu einer Forschungsgemeinschaft gehören, die ihr eigenes Selbstverständnis z. B. hinsichtlich der Disziplinenfrage beständig thematisiert und dabei auf Vielstimmigkeit und Heterogenität insistiert (vgl. Hark 2005 und Villa 2012b). Institutionell haben sich im deutschsprachigen Raum verschiedene wissenschaftliche Fachgesellschaften gebildet, so seit 2012 für die Bundesrepublik Deutschland die Fachgesellschaft Geschlechterstudien (www.fg-gender. de), in der Schweiz seit 1997 die SGGF (http: / / www.gendercampus.ch/ d/ sggf/ default.aspx). 4 Eine entsprechende Datensammlung, nach Disziplinen, Bundesländern, Art der Hochschule und Widmung sortiert, findet sich unter http: / / www.zefg.fu-berlin.de/ datensammlung/ index.html. (Letzter Zugriff am 20.01.2013). <?page no="285"?> 286 Paula-Irene Villa Turner 1983 sowie die seit 1995 bestehende Fachzeitschrift Body & Society). Während die Körpersoziologie sich zunehmend etabliert, etwa durch die Gründung einer entsprechenden Sektion innerhalb der DGS im Jahre 2005, und einer-- noch überschaubaren-- Zahl einschlägiger Einführungsbzw. Übersichtsbände (z. B. Gugutzer 2004 und 2006; Schroer 2005), befindet sich die Soziologie der Sexualität (in Deutschland) am Anfang der Etablierung im institutionellen Sinne (für den angloamerikanischen Kontext vgl. Seidman 2003). Die Körpersoziologie bedient sich einer Fülle von modernen Klassikern wie P. Bourdieu, N. Elias, M. Foucault, H. Garfinkel, E. Goffman; sie knüpft überdies produktiv an Nachbardisziplinen an, insbesondere an die Geschichte, Philosophie und Anthropologie. In einem engen Sinne, etwa als selbstgewählte Bezeichnung, gibt es hingegen eine Sexualitätssoziologie nicht bzw. kaum (Benkel/ Akalin 2010; Lautmann 2002). Gleichwohl lässt sich eine soziologische Auseinandersetzung mit Sexualität konstatieren, sofern man ein zunächst schlichtes Kriterium zugrunde legt: Sexualität als Dimension und Effekt von gesellschaftlicher Wirklichkeit (vgl. Zeitschrift für Sexualforschung 2/ 2013). In diesem Sinne werden etwa die Arbeiten von M. Foucault zur Geschichte und diskursiven Konstitution der Sexualität lange schon auch in der Soziologie rezipiert (vgl. u. a. Bührmann 1995; Burkhart 2008, Münch 2004: 408 ff.), wird an einer kritischen Weiterentwicklung verschiedener psychoanalytischer Stränge auch soziologisch gearbeitet (z. B. in Anlehnung an die Arbeiten der Kritischen Theorie) oder das Feld der queer studies (vgl. zur Einführung Jagose 2001) zunehmend auch in der Soziologie berücksichtigt. Überdies ist Sexualität nicht nur in der Geschlechtersoziologie ein durchgängiges Thema, 5 sondern Sexualität wird immer wieder in verschiedenen Teilbereichen der Soziologie mehr oder minder sichtbar mit-thematisiert (z. B. Jugendforschung, Kultur- und Mediensoziologie, Biographieforschung, Familiensoziologie). Vor diesem Hintergrund werden nachfolgend diese drei Gegenstände der Soziologie so dargestellt, dass ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen hinreichend nachvollziehbar werden. 2. Infragestellung des Gegenstands: Soziale Naturalisierungen Sofern sich die soziologische Thematisierung von Körper, Geschlecht und Sexualität überwiegend zunächst aus einem politischen Kontext entwickelte, begann sie die Natur des »kleinen Unterschieds« und ihre sozialen Folgen in Frage zu stellen. Da der Verweis auf die Natürlichkeit der Weiblichkeit inklusive ihrer natürlichen (biologischen) Sexualität-- z. B. als passiv und an der Generativität ausgerichtet-- historisch allzu oft für die Abwertung, Diskriminierung und Verfolgung von Frauen gedient hatte, setzte die soziologische Auseinandersetzung an der kritischen, z.T. und zunächst überwiegend feministischen Hinterfragung eben dieser »Natur« an. Abgesehen von G. Simmel und seinen geschlechtersoziologischen Beiträgen findet sich in den konstitutiven Anfängen der Soziologie weder eine Berücksichtigung von Geschlecht, noch und erst recht nicht von Körper oder gar Sexualität. Galt und gilt z.T. nicht nur alltagsweltlich, sondern auch bis in das späte 20.-Jahrhundert hinein, das Geschlecht bzw. die Geschlechterdifferenz als Thema der Naturwissenschaften, insbesondere der Medizin- - d. h. als Natur- -, so gilt dies für Körper und Sexualität umso mehr. So rekurrieren auch die Gründungsfiguren des Faches auf die Natur, um dezidiert soziologische Aussagen zu machen. Dies wird bei K. Marx und F. Engels deutlich, insbesondere in ihren Ausführungen zur Unterscheidung von Produktion und Reproduktion. 5 Etwa in der Erforschung sexualisierter Gewalt, Pornographie, als Aspekt geschlechtlicher sozialer Positionen und Praxen und als Teil vergeschlechtlichter Institutionen (Ehe z. B.) usw. Vgl. für einen Überblick im englischsprachigen Raum Rahman/ Jackson 2010. <?page no="286"?> Körper, Geschlecht und Sexualität 287 Während für Marx und Engels Menschen ihre Geschichte selber machen, und dies auch die historische Formung ihrer eigenen Natur beinhaltet (MEW 3: 18), bleibt die Sphäre der Reproduktion-- verstanden als Wiederherstellung von Arbeitskraft, vor allem aber als Generativität-- entweder ahistorisch oder zugunsten der gesellschaftlich ›eigentlich‹ relevanten Sphäre der Produktionsverhältnisse zumindest unterbestimmt. Im Sinne einer »Geschlechtsdifferenzierungsforschung« (Hirschauer 2003), d. h. einer Analyse der Geschlechterdifferenz als soziale Differenz befassten sich (und befassen sich noch) vielfache soziologische und sozialsowie wissenschaftshistorische Studien mit der historisch-diskursiven Genese der Geschlechterdifferenz in ihrer heute bekannten Form: als natürliche und wesenhafte individuelle Eigenschaft von Personen. Wie kam historisch und durch welche Prozesse kommt gegenwärtig die Ontologie der Geschlechterdifferenz zustande? Geschichtswissenschaftliche Arbeiten rekonstruier(t)en den historischen Charakter der Reproduktion, die Historizität also von Generativität (vulgo: Fortpflanzung) und von Hausarbeit bzw. Fürsorge als Reproduktion der Arbeitskraft. Historische Arbeiten zeig(t)en, wie eng und wie systematisch die Vorstellung der »Arbeit aus Liebe-- Liebe als Arbeit« (Bock/ Duden 1977) mit der historisch spezifischen, bürgerlich-kapitalistischen modernen Gesellschaft verflochten ist, d. h. welchen historischen Charakter sie tatsächlich hat. Zahlreiche Studien, z. B. zur Emergenz der bürgerlich-kapitalistischen Geschlechtscharaktere im 19.- Jahrhundert (Hausen 1976), zur Entstehung einer »weiblichen Sonderanthropologie« (Honegger 1991), zur Medikalisierung des weiblichen Körpers (Duden 1987) oder zur Historizität der Anatomie im Hinblick auf die Geschlechterdifferenz (Laqueur 1992) usw. machten die historisch spezifische Formation der Geschlechterdifferenz deutlich, und zeigten zudem, wie eng dies mit dem historisch wiederum neuen Körperverständnis des langen 19.-Jahrhunderts verbunden war. Folgt man diesen Studien, ist die Ontologie der Geschlechterdifferenz als natürliche, unveränderliche Tatsache faktisch ein Effekt historischer Prozesse im Kontext der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Westeuropa (vgl. zusammenfassend Villa 2013). Dies bedeutet dann auch, dass wir es mit einer im Prinzip kontingenten Form zu tun haben, die ihre Faktizität vor allem aus zwei Quellen bezieht: zum einen aus gesellschaftlichen Strukturen, die implizit vergeschlechtlicht sind bzw. die sich der Geschlechterdifferenz gewissermaßen bedienen (s. Abschnitt 4.), zum anderen aus der andauernden Praxis der Naturalisierung, die sich jedoch selbst praxeologisch verschleiert (s. Abschnitt 3.). Geschlecht, Körper und Sexualität sind demnach je historisch sedimentierte praxeologische Konstruktionen in gesellschaftlichen Konstitutionsverhältnissen. Insofern dies so ist, kann die Soziologie wiederum mindestens zwei Perspektiven einnehmen: Geschlecht, Körper und Soziologie können qualitativ hinsichtlich dieser Prozesse untersucht, oder aber im Wissen um ihre soziale Konstruiertheit als Basiskategorien zur Grundlage quantitativer Untersuchungen gemacht werden. Was die Sexualität angeht, ist die Bezugnahme auf M. Foucault zentral. Auch er hat in seinen verschiedenen Arbeiten (insbesondere Foucault 1987) auf die historische Dimension der Sexualit