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Makroökonomie im Gleichgewicht

Praxis und Theorie

0305
2018
978-3-8385-8635-9
978-3-8252-8635-4
UTB 
Margareta Kulessa

Die Makroökonomie ist wichtige Grundlage der Wirtschaftspolitik. Das Lehrbuch vermittelt Studierenden die Theorie sowie darüberhinaus eine anwendungsorientierte Sicht auf die gesamtwirtschaftlichen Ziele. Fragen im Text laden zum Mitdenken ein und motivieren dazu, sich eine eigene Meinung zu bilden. Multiple-Choice-Tests am Kapitelende prüfen das Verständnis. Zahlreiche Übungsfragen helfen dabei, die Erkenntnisse zu vertiefen. Kurzum: Das Buch verschafft Bachelorstudierenden der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sowie der Rechts- und Sozialwissenschaften den idealen Einstieg in die spannende Welt der Makroökonomie. Schließlich ist die Makroökonomie wichtige Grundlage der Wirtschaftspolitik.

<?page no="2"?> Margareta Kulessa Makroökonomie im Gleichgewicht Praxis und Theorie unter Mitarbeit von Ingo Geurtz UVK Verlagsgesellschaft mbH Konstanz mit UVK/ Lucius München <?page no="3"?> Prof. Dr. Margareta Kulessa lehrt Volkswirtschaftslehre und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule Mainz. Ingo Geurtz (M.Sc.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Mainz. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2018 Lektorat: Rainer Berger, München Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © Sergey Nivens · fotolia.com Druck und Bindung: CPI · Clausen & Bosse, Leck UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Nr. 8635 ISBN 978-3-8252-8635-4 Zusatzmaterial online Sie können Lösungen zu Aufgaben auf Titelebene unter www.utb-shop.de (Reiter »Zusatzmaterial«) herunterladen! <?page no="4"?> Vorwort Es sind im Wesentlichen vier Gründe, die mich bewogen haben, das vorliegende Lehrbuch zu schreiben: [1] die Erfahrung, die ich gemacht hatte, als ich gemeinsam mit einer Kollegin und zwei Kollegen an einem Lehrbuch zu den Grundlagen der Wirtschaftspolitik (2014) gearbeitet hatte, nämlich, dass Lehrbuchschreiben Spaß machen kann, [2] der Wunsch „meiner“ Studierenden nach einem Lehrbuch, in dem sie möglichst den gesamten Inhalt meiner Vorlesung Makroökonomie vorfinden, [3] die Gewissheit, in Ingo Geurtz einen - leider nur befristet beschäftigten - Mitarbeiter zu haben, der mich so kompetent unterstützen wird, dass ich das Projekt zu Ende bringen werde, und [4] die Herausforderung, ein Buch nicht nur für Studierende der Wirtschaftswissenschaften, sondern auch und gerade der anderen Sozialwissenschaften zu schreiben und diesen das Kernthema der Makroökonomie - das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht - und dessen Relevanz für die Gesellschaft nahezubringen, ohne nur an der Oberfläche zu kratzen und dies ohne allzu viel formale Theorie. Die Erfahrung, dass das Schreiben eines Lehrbuchs Spaß machen kann [1], hat sich während der zwei zurückliegenden Jahre zwar bestätigt. Ich muss aber zugeben, dass mir das Projekt neben allen übrigen Verpflichtungen gelegentlich über die Ohren zu wachsen schien. In solchen Phasen haben mich [2-4] motiviert, „durchzuhalten“. Das Verständnis und die Geduld meines Lektors bei UVK/ Lucius waren dabei ebenfalls sehr hilfreich. Hierfür möchte ich Rainer Berger ebenso wie für die äußerst angenehme Zusammenarbeit danken. Was den Wunsch meiner Studierenden betrifft [2], so bin ich dem nunmehr erst einmal nachgekommen. Ich kann indes nicht versprechen, nicht bald doch wieder Stoff aus der Vorlesung herauszunehmen und durch neue Inhalte zu ersetzen, die nicht im vorliegenden Lehrbuch zu finden sind. Ich bin bereit, den etwaigen Unmut meiner zukünftigen Studierenden darüber auf mich zu nehmen. Ingo Geurtz [3] tritt demnächst eine neue Stelle an. Mein Timing war insoweit gelungen. Ich wünsche ihm alles Gute und bedanke mich für die großartige Unterstützung, die weit über seine Mitarbeit an diesem Lehrbuch hinausgeht. Ob es mir gelungen ist, ein Lehrbuch zu schreiben, dass der o.g. Herausforderung [4] genügt, können nur seine Leserinnen und Leser entscheiden. Was die formale Theorie der Volkswirtschaftslehre betrifft, so offenbart ein längerer dritter Teil, dass ich der formalen Modelltheorie mehr Platz eingeräumt habe als zunächst geplant. Das ursprüngliche Konzept ist jedoch insofern erhalten geblieben, als dass Teil I und II des Buches so aufgebaut sind, dass sie für ein tiefgehendes Verständnis der Ziele des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (hoffentlich) voll und ganz ausreichen. Mein Dank geht in diesem Zusammenhang an Ulrike Geurtz, die als Nichtwirtschaftswissenschaftlerin das Manuskript gegengelesen und wertvolle Hinweise gegeben hat. Gleiches gilt für Uwe Legenbauer, dem ich dafür und für noch viel mehr herz- <?page no="5"?> 6 Vorwort lich danke. Meiner Kollegin Agnes Sputek danke ich für ihr offenes Ohr sowie wertvolle Diskussionen und Anregungen zum Teil III. Dank ihr konnte ich einige Unklarheiten beseitigen. Verbleibende Ungereimtheiten und Fehler im gesamten Buch sind selbstverständlich mir allein anzulasten. Außerdem bedanke ich mich bei der Deutschen Bundesbank und hier im Besonderen bei der Hauptverwaltung in Rheinland-Pfalz und dem Saarland für die finanzielle Unterstützung des Lehrbuchprojekts. Schließlich danke ich meinem Sohn David von ganzem Herzen für seine Geduld und verspreche, frühestens dann ein neues Buch anzugehen, wenn er das Abitur in der Tasche hat. Zuletzt ein Hinweis zu der in diesem Buch gewählten männlichen Form: Ich habe durchaus gehadert, ob ich nicht eine Form verwenden soll, die den verschiedenen Geschlechtern besser gerecht wird. Ich habe darauf der besseren Lesbarkeit willen verzichtet. Ich bitte um Verständnis. Mainz, Februar 2018 Margareta Kulessa <?page no="6"?> Inhalt Vorwort....................................................................................................................................... 5 Notationsverzeichnis .......................................................................................................... 17 Teil I: Grundlagen................................................................................................................. 19 1 Volkswirtschaftliche Grundbegriffe .......................................................... 19 Wirtschaftswissenschaften ................................................................................... 19 1.1 Volkswirtschaft ...................................................................................................... 20 1.2 Allokation, Distribution und ceteris paribus ..................................................... 20 1.3 Makroökonomie in Abgrenzung zur Mikroökonomie und BWL ................. 21 1.4 Teilgebiete der Makroökonomie ......................................................................... 22 1.5 2 Gesamtwirtschaftlicher Output und Produktionsfaktoren............. 23 Gesamtwirtschaftlicher Produktionsprozess .................................................... 23 2.1 Produktionsfaktor Kapital.................................................................................... 24 2.2 Sachkapital .............................................................................................................. 24 2.2.1 Immaterielles Kapital ............................................................................................ 25 2.2.2 3 Wirtschaftskreislauf und Inlandsprodukt............................................... 28 Gesamtwirtschaftlicher Kreislauf........................................................................ 28 3.1 Bruttoinlandsprodukt und gesamtwirtschaftliche Einkommensgrößen....... 30 3.2 BIP ........................................................................................................................... 30 3.2.1 3.2.1.1 Entstehungsrechnung des BIP (Produktionsansatz) ....................................... 30 3.2.1.2 Verteilungsrechnung des BIP (Einkommensansatz) ....................................... 31 3.2.1.3 Verwendungsrechnung des BIP (Ausgabenansatz) ......................................... 31 Bruttonationaleinkommen (BNE) ...................................................................... 33 3.2.2 Verteilung des Volkseinkommens ...................................................................... 33 3.2.3 Größte Volkswirtschaften der Welt.................................................................... 34 3.3 Nominales BIP ....................................................................................................... 34 3.3.1 BIP in Kaufkraftparitäten-Dollar........................................................................ 35 3.3.2 Einkommensreichste Volkswirtschaften der Welt ........................................... 36 3.4 4 Wachstumspfad und Konjunkturverlauf................................................. 38 Konjunkturzyklus .................................................................................................. 38 4.1 Auslöser ................................................................................................................... 39 4.2 Probleme ................................................................................................................. 41 4.3 <?page no="7"?> 8 Inhalt Teil II: Leitbild und Ziele.................................................................................................... 43 A Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht.................................................... 43 5 Gleichgewichtsbegriff ..................................................................................... 43 6 Magisches Viereck der Wirtschaftspolitik.............................................. 44 B Vollbeschäftigung/ Hoher Beschäftigungsstand ................................. 47 7 Begriff und Abgrenzung ................................................................................ 47 8 Begründung für die Vollbeschäftigung der Arbeit ............................ 48 9 Beschäftigungsindikatoren........................................................................... 50 Arbeitslosenquote .................................................................................................. 50 9.1 B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT : Definition von Arbeitslosen ...................... 53 9.1.1 ILO-Konzept: Definition von erwerbslos......................................................... 54 9.1.2 Unterbeschäftigungsquoten ................................................................................. 57 9.2 Zum Begriff der „stillen Reserve“ ...................................................................... 60 9.3 Zahl offener Stellen ............................................................................................... 61 9.4 Dauer der Arbeitslosigkeit.................................................................................... 62 9.5 Langzeitarbeitslosenquote .................................................................................... 63 9.6 Erwerbstätigen- und Beschäftigungsquoten ..................................................... 64 9.7 Fazit zu Beschäftigungsindikatoren .................................................................... 66 9.8 10 Ansätze zur Bestimmung des Beschäftigungsziels ............................ 66 Beiträge grundlegender Arbeitsmarkt- und Beschäftigungstheorien ............ 66 10.1 Neoklassische freiwillige Arbeitslosigkeit .......................................................... 67 10.1.1 Natürliche Arbeitslosenquote und NAIRU ...................................................... 67 10.1.2 Unvermeidbare Arbeitslosigkeit .......................................................................... 68 10.2 11 „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? ........................................ 72 Kontextabhängigkeit des Vollbeschäftigungsbegriffs ..................................... 72 11.1 Empirisch-statistische Bestimmung von Vollbeschäftigung .......................... 74 11.2 Zeitliche Entwicklung der Arbeitslosenquote................................................... 74 11.2.1 Zeitliche Entwicklung der Unterbeschäftigungsquote .................................... 75 11.2.2 Internationaler Vergleich der Arbeitslosenquoten ........................................... 76 11.2.3 Schätzung der inflationsstabilen Arbeitslosenquote (NAIRU) ...................... 79 11.2.4 Vollbeschäftigungskorridor.................................................................................. 80 11.2.5 Ergänzende Indikatoren ....................................................................................... 81 11.2.6 11.2.6.1 Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung..................................................................... 82 11.2.6.2 Langzeitarbeitslosigkeit ......................................................................................... 83 <?page no="8"?> Inhalt 9 11.2.6.3 Relation von Arbeitslosen zu offenen Stellen................................................... 83 Fazit zum Ziel der Vollbeschäftigung des Produktionsfaktors Arbeit ......... 85 11.3 Normativität des Vollbeschäftigungsbegriffs.................................................... 85 11.3.1 Beschäftigungsversus arbeitsmarktpolitische Perspektive............................ 85 11.3.2 Pragmatischer Ansatz............................................................................................ 87 11.4 12 Vollauslastung des Produktionsfaktors Kapital................................... 88 Begründung für die Vollauslastung des Kapitals.............................................. 88 12.1 Zielerreichungsindikator....................................................................................... 89 12.2 Bestimmung des hohen Beschäftigungsstands des Kapitals .......................... 91 12.3 Beiträge grundlegender Beschäftigungstheorien .............................................. 91 12.3.1 Kontextabhängigkeit ............................................................................................. 92 12.3.2 Empirisch-vergleichender Ansatz ....................................................................... 92 12.3.3 Fazit zur Vollauslastung des Kapitals................................................................. 94 12.4 C Wirtschaftswachstum...................................................................................... 97 13 Begriff und Abgrenzung ................................................................................ 97 14 Begründungen für Wirtschaftswachstum .............................................. 97 Wohlstand, Beschäftigung und Einfluss ............................................................ 97 14.1 Zweifel am Wachstumsziel................................................................................... 99 14.2 15 Zielerreichungsindikatoren .......................................................................... 99 Wachstum des realen BIP .................................................................................... 99 15.1 Berechnung des Wirtschaftswachstums........................................................... 101 15.2 Entwicklung des Produktionspotenzials.......................................................... 106 15.3 Entwicklung des materiellen Wohlstands ........................................................ 108 15.4 Einkommensgrößen ............................................................................................ 108 15.4.1 Pro-Kopf-Wachstum .......................................................................................... 108 15.4.2 16 Bestimmung des Wachstumsziels ........................................................... 110 Beiträge der neoklassischen Wachstumstheorie ............................................. 110 16.1 Steady State ........................................................................................................... 112 16.1.1 Implikationen der neoklassischen Wachstumstheorie................................... 115 16.1.2 Entwicklungsstand und Wachstum .................................................................. 117 16.1.3 16.1.3.1 Wachstumsziel in Niedrigeinkommensländern .............................................. 117 16.1.3.2 Wachstumsziel in Hocheinkommensländern.................................................. 119 Beiträge der „neuen“ neoklassischen Wachstumstheorie ............................. 121 16.2 Überschlagsrechnung für Deutschland ............................................................ 124 16.3 Einschränkungen ................................................................................................. 128 16.4 Wachstumstrend: Statistische Berechnung...................................................... 129 16.5 <?page no="9"?> 10 Inhalt Potenzialwachstum: Ökonom(etr)ische Schätzung........................................ 133 16.6 Internationaler Vergleich .................................................................................... 136 16.7 17 Fazit zur Bestimmung angemessenen Wirtschaftswachstums ... 138 18 Extratouren zur Wachstumstheorie ........................................................ 139 Extratour zum technischen Fortschritt............................................................ 139 18.1 Phasen des technischen Fortschritts................................................................. 139 18.1.1 Technisches Wissen als Sammelvariable.......................................................... 140 18.1.2 Messung des technischen Fortschritts ............................................................. 141 18.1.3 Endogenisierung technischen Fortschritts ...................................................... 142 18.1.4 Extratour: Optimale Sparquote ......................................................................... 145 18.2 D Preisniveaustabilität....................................................................................... 149 19 Begriff und Abgrenzung .............................................................................. 149 Mikroökonomischer Preismechanismus .......................................................... 149 19.1 Gesamtwirtschaftliche Preisstabilität................................................................ 150 19.2 20 Begründungen für Preisstabilität............................................................. 150 Verlust der Geldfunktionen ............................................................................... 150 20.1 Schuhsohleneffekt und Menükosten ................................................................ 153 20.2 Planungssicherheit ............................................................................................... 154 20.3 Schutz von Gläubigern und Schuldnern.......................................................... 154 20.4 Vermeidung willkürlicher Umverteilungswirkungen ..................................... 155 20.5 Inflationsursachen ............................................................................................... 157 20.6 Begründungen für eine Inflationsrate größer Null......................................... 158 20.7 Überblick ............................................................................................................... 158 20.7.1 Erleichterung von Anpassungsprozessen ........................................................ 158 20.7.2 Deflationsvermeidung......................................................................................... 159 20.7.3 20.7.3.1 Attentismus bei Deflation .................................................................................. 160 20.7.3.2 Steigendes Konkursrisiko bei Deflation .......................................................... 161 20.7.3.3 Deflationsgefahr in der Praxis ........................................................................... 162 Probleme bei der Messung der Inflationsrate ................................................. 162 20.7.4 Substitution Bias .................................................................................................. 163 20.7.5 Problem der Nullzinsgrenze .............................................................................. 163 20.7.6 21 Zielerreichungsindikatoren ........................................................................ 165 Grundlegendes ..................................................................................................... 165 21.1 Verbraucherpreisindex (VPI)............................................................................. 166 21.2 Güterstruktur und Wägungsschema ................................................................. 166 21.2.1 Berechnungsmethode.......................................................................................... 169 21.2.2 <?page no="10"?> Inhalt 11 Hedonische Preise ............................................................................................... 171 21.2.3 Kerninflationsrate ................................................................................................ 172 21.3 BIP-Deflator ......................................................................................................... 173 21.4 Fazit zu den Indikatoren der Preisniveaustabilität ......................................... 175 21.5 Orientierung an den Verbraucherpreisen ........................................................ 175 21.5.1 Entwicklung der Inflationsindikatoren im Vergleich .................................... 176 21.5.2 22 Bestimmung des Inflationsziels ................................................................ 178 Fristigkeit und Korridor ..................................................................................... 178 22.1 Zu niedrige und zu hohe Inflation.................................................................... 179 22.2 Untergrenze .......................................................................................................... 179 22.2.1 Obergrenze ........................................................................................................... 180 22.2.2 Beiträge grundlegender Geld- und Inflationstheorien 22.3 zur Zielwertbestimmung..................................................................................... 183 Geldpolitik: Begriff, Aufgaben und Instrumente ........................................... 183 22.3.1 22.3.1.1 Geldmenge ............................................................................................................ 183 22.3.1.2 Aufgaben der Zentralbank ................................................................................. 185 22.3.1.3 Beeinflussung der Geldmenge ........................................................................... 185 22.3.1.4 Quantitätsgleichung des Geldes ........................................................................ 187 Neoklassische Geldtheorie ................................................................................. 187 22.3.2 Nachfrageorientierte Geldtheorie ..................................................................... 190 22.3.3 Von F RIEDMAN s optimaler Inflationsrate zum Inflationsziel ..................... 192 22.3.4 Optimale Inflationsrate und Null-Zins-Grenze ............................................. 194 22.3.5 Zwei Weiterentwicklungen der (neo-)klassischen Geldtheorie.................... 195 22.3.6 22.3.6.1 Monetarismus ....................................................................................................... 195 22.3.6.2 Neue klassische Makroökonomik ..................................................................... 197 23 Fazit zur Bestimmung von Preisniveaustabilität ............................... 198 Zusammenfassung ............................................................................................... 198 23.1 Politökonomische Überlegungen ...................................................................... 199 23.2 Geldpolitische Ziele in der Praxis ..................................................................... 199 23.3 24 Extratouren zur Inflationsrate ................................................................... 201 Extratour zu den Preisindexen nach L ASPEYERES und P AASCHE .............. 201 24.1 Extratour zur gefühlten Inflation...................................................................... 202 24.2 E Außenwirtschaftliches Gleichgewicht .................................................... 205 25 Begriff .................................................................................................................. 205 26 Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 206 Grundlagen der Zahlungsbilanz ........................................................................ 206 26.1 Teilbilanzen als Gleichgewichtsindikatoren .................................................... 211 26.2 <?page no="11"?> 12 Inhalt Konzept des Außenbeitrags ............................................................................... 211 26.3 Implikationen eines negativen Außenbeitrags ................................................ 212 26.3.1 Implikationen eines positiven Außenbeitrags ................................................. 214 26.3.2 Konzept der Leistungsbilanz ............................................................................. 214 26.4 Implikationen einer negativen Leistungsbilanz............................................... 215 26.4.1 Implikationen einer positiven Leistungsbilanz ............................................... 217 26.4.2 EU-Scoreboard für makroökonomische Ungleichgewichte......................... 221 26.5 Konzept der Devisenbilanz ............................................................................... 222 26.6 Konzept der Grundbilanz .................................................................................. 226 26.7 Konzept der autonomen Zahlungsbilanz ........................................................ 227 26.8 27 Wechselkursentwicklung als Gleichgewichtsindikator................... 228 Vorbemerkungen ................................................................................................. 228 27.1 Wechselkurs und Devisenmarktgleichgewicht................................................ 231 27.2 Devisenangebot und Devisennachfrage .......................................................... 231 27.2.1 Wechselkursvolatilität ......................................................................................... 231 27.2.2 Dauer der Wechselkursänderung ...................................................................... 233 27.2.3 Ausmaß der Wechselkursbewegung ................................................................. 234 27.2.4 Stabilitätsprobleme des Wechselkurses ............................................................ 234 27.3 EU-Schwellenwerte für die Wechselkursentwicklung ................................... 237 27.4 28 Fazit zur Bestimmung außenwirtschaftlichen Gleichgewichts.... 239 29 Extratour zu den Wechselkursrisiken für Unternehmen................ 240 F Zielbeziehungen .............................................................................................. 245 30 Arten von Zielbeziehungen ........................................................................ 245 31 Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität ...................................... 246 Kurzbis mittelfristig: Inflationswirkungen einer 31.1 steigenden Beschäftigung ................................................................................... 246 Langfristig: Beschäftigungswirkungen eines instabilen Preisniveaus .......... 247 31.2 (Modifizierte) Phillipskurve................................................................................ 247 31.3 Inflation und Arbeitslosigkeit in Deutschland................................................ 249 31.4 32 Vollbeschäftigung und angemessenes Wirtschaftswachstum.... 250 Wachstumswirkungen auf die Beschäftigung ................................................. 250 32.1 Beschäftigungswirkungen auf das Wachstum ................................................. 251 32.2 <?page no="12"?> Inhalt 13 33 Wirtschaftswachstum und Preisniveaustabilität ............................... 251 Kurzbis mittelfristige Inflationswirkungen von Wirtschaftswachstum ... 251 33.1 Langfristige Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum 33.2 und Preisniveaustabilität ..................................................................................... 252 34 Zielbeziehungen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts ...... 252 Zielcharakter ......................................................................................................... 252 34.1 Externes versus internes Gleichgewicht .......................................................... 253 34.2 Ausgangssituation ................................................................................................ 253 34.2.1 Leistungsbilanzgleichgewicht und Vollbeschäftigung ................................... 253 34.2.2 Ausgeglichene Leistungsbilanz und Preisniveaustabilität ............................. 254 34.2.3 Langfristige Wechselkursanpassungen ............................................................. 255 34.2.4 35 Entzauberung des Magischen Vierecks? .............................................. 256 36 Extratour zu den Ursprüngen der Phillipskurve ................................ 256 Historische Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Löhnen ........................ 256 36.1 Nachfragepolitische Implikationen................................................................... 259 36.2 Schlussfolgerungen für andere wirtschaftspolitische Bereiche .................... 260 36.3 37 Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve..................................................................... 262 Inflationserwartungen und expansive Geldpolitik ......................................... 262 37.1 Natürliche Arbeitslosenquote ............................................................................ 264 37.2 Rationale Erwartungen ....................................................................................... 265 37.3 Theorie rationaler Erwartungen und Lucas-Kritik ........................................ 265 37.3.1 Beispiel aus der Welt der 37.3.2 „Neuen Klassischen Makroökonomik (NKM)“ ............................................ 267 Theorie der Real Business Cycles...................................................................... 268 37.3.3 Beispiel aus der Welt des „Neukeynesianismus“............................................ 271 37.3.4 „Alte“ neoklassische Synthese ........................................................................... 273 37.3.5 Kontraktive Geldpolitik und Phillipskurve ..................................................... 274 37.4 Fiskalpolitik und Phillipskurve .......................................................................... 275 37.5 Wirtschaftspolitische Implikationen der Phillipskurven-Diskussion .......... 276 37.6 Zentrale Erkenntnisse ......................................................................................... 276 37.7 Mix makroökonomischer Theorien .................................................................. 277 37.8 Konvergenz wirtschaftspolitischer Empfehlungen........................................ 278 37.9 <?page no="13"?> 14 Inhalt G Modifikationen des Begriffs des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und Alternativen............................................................. 279 38 Magisches Fünfeck der Stabilitätspolitik.............................................. 279 Begriff der tragfähigen Staatsfinanzen ............................................................. 279 38.1 Entwicklung zentraler Schuldenindikatoren ................................................... 281 38.2 Begründungen ...................................................................................................... 282 38.3 Kritik am Ziel eines ausgeglichenen Haushalts .............................................. 283 38.4 39 Weitere Vielecke (Polygone) der Wirtschaftspolitik ....................... 285 Magisches Sechseck ............................................................................................. 285 39.1 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und soziale Gerechtigkeit .............. 286 39.2 Marktleistungsgerechtigkeit................................................................................ 286 39.2.1 Bedarfsgerechtigkeit ............................................................................................ 286 39.2.2 40 Magisches Viereck einer sozial-ökologischen Wirtschaftspolitik............................................................................................ 287 Grafische Darstellung ......................................................................................... 287 40.1 Begriff der nachhaltigen Entwicklung.............................................................. 288 40.2 Teil III: Einfaches makroökonomisches Totalmodell .......................................... 291 41 Einleitung............................................................................................................ 291 42 Über die Modellbildung in der Ökonomie .......................................... 292 Abstraktion und Isolation .................................................................................. 292 42.1 Abstraktion ........................................................................................................... 292 42.1.1 Isolation................................................................................................................. 292 42.1.2 Mechanisierung und Aggregation ..................................................................... 292 42.2 Normative Elemente der positiven Modelltheorie ........................................ 293 42.3 Marktgleichgewichtsmodelle .............................................................................. 294 42.4 43 Einführung in „unser“ Modell.................................................................... 296 Betrachteter Zeithorizont und zentrale Annahmen....................................... 297 43.1 Annahme der konstanten Faktorausstattung .................................................. 297 43.1.1 Annahme nur eines Produktionsfaktors (Arbeit) ........................................... 297 43.1.2 Annahme der geschlossenen Volkswirtschaft................................................. 297 43.1.3 Mittlere Frist ......................................................................................................... 298 43.1.4 Kurze Frist ............................................................................................................ 298 43.1.5 <?page no="14"?> Inhalt 15 44 Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell......................................... 299 Gütermarkt ........................................................................................................... 299 44.1 Multiplikatoreffekt einer Nachfrageerhöhung ................................................ 302 44.2 Definition und argumentative Herleitung ....................................................... 302 44.2.1 Grafische Herleitung ........................................................................................... 303 44.2.2 IS-Kurve ................................................................................................................ 304 44.3 Herleitung ............................................................................................................. 304 44.3.1 Verschiebungen.................................................................................................... 307 44.3.2 Geldmarkt ............................................................................................................. 307 44.4 Geldangebot und Geldnachfrage ...................................................................... 307 44.4.1 Wertpapiermarkt .................................................................................................. 311 44.4.2 Anpassungen auf dem Geldmarkt .................................................................... 312 44.4.3 LM-Kurve ............................................................................................................. 315 44.5 Herleitung ............................................................................................................. 315 44.5.1 Verschiebungen.................................................................................................... 317 44.5.2 IS-LM-Modell....................................................................................................... 318 44.6 Politikmaßnahmen............................................................................................... 319 44.6.1 44.6.1.1 Expansive Fiskalpolitik ....................................................................................... 320 44.6.1.2 Kontraktive Fiskalpolitik .................................................................................... 322 44.6.1.3 Expansive Geldpolitik......................................................................................... 323 44.6.1.4 Kontraktive Geldpolitik...................................................................................... 324 Ungleichgewichte ................................................................................................. 326 44.6.2 Zinssteuerung im IS-LM-Modell ...................................................................... 330 44.7 Ergänzungen......................................................................................................... 331 44.7.1 44.7.1.1 Investitionsfalle .................................................................................................... 331 44.7.1.2 Liquiditätsfalle ...................................................................................................... 331 45 Modell der mittleren Frist ........................................................................... 332 Neoklassischer Arbeitsmarkt ............................................................................. 332 45.1 Flexibles Preisniveau ........................................................................................... 335 45.2 Preisniveauänderungen und der Arbeitsmarkt................................................ 335 45.2.1 Preisniveauänderungen und der Geldmarkt.................................................... 336 45.2.2 Preisniveauänderungen und der Gütermarkt .................................................. 336 45.2.3 Kurze und mittlere Frist: Zwischenfazit .......................................................... 337 45.3 46 AS-AD-Modell .................................................................................................. 338 AS-Kurve .............................................................................................................. 338 46.1 Herleitung der SRAS-Kurve .............................................................................. 338 46.1.1 Verschiebungen der SRAS-Kurve..................................................................... 341 46.1.2 AD-Kurve ............................................................................................................. 345 46.2 Herleitung der AD-Kurve .................................................................................. 345 46.2.1 Verschiebungen der AD-Kurve ........................................................................ 347 46.2.2 <?page no="15"?> 16 Inhalt 47 Zusammenführung von AS und AD........................................................ 349 Konjunkturschwankungen und AS-AD .......................................................... 350 47.1 Fiskalpolitik im AS-AD-Modell ........................................................................ 351 47.2 Expansive Fiskalpolitik ....................................................................................... 351 47.2.1 Kontraktive Fiskalpolitik .................................................................................... 353 47.2.2 Geldpolitik im AS-AD-Modell .......................................................................... 354 47.3 Expansive Geldpolitik......................................................................................... 354 47.3.1 Kontraktive Geldpolitik...................................................................................... 355 47.3.2 Neutralität des Geldes......................................................................................... 356 47.4 Extratour zu den Abläufen auf dem Arbeitsmarkt ........................................ 357 47.5 48 Änderungen des Produktionspotenzials: Verschiebungen der LRAS........................................................................... 359 49 Angebotsschocks und AS-AD.................................................................... 362 50 Erwartungen im AS-AD-Modell................................................................ 364 Deflations- und Rezessionserwartungen ......................................................... 364 50.1 Perfekte Erwartungen ......................................................................................... 365 50.2 51 Implikationen des AS-AD-Modells für die Praxis ............................. 366 Lehrbuchverzeichnis ......................................................................................................... 368 Quellenverzeichnis............................................................................................................. 369 Stichwortverzeichnis ......................................................................................................... 377 <?page no="16"?> Notationsverzeichnis C Konsum D Gesamtwirtschaftliche Nachfrage d Nachfrageneigung (Konsumneigung) E Erwartungen EUR Euro (€) G Staatskonsum GBP Great Britain Pound (£) i Zins(niveau) I Investitionen K Kapital(stock) k Kassenhaltungskoeffizient L Arbeit, Arbeitsmenge M Nominale Geldmenge M/ P Reale Geldmenge P Preisniveau r Realzins S Sparen s Sparquote, Sparneigung T Technisches Wissen, technischer Fortschritt USD US-Dollar ($) V Sammelvariable (enthält z.B. Erwartungen, Steuern, Transfers) w Reallohn W Nominallohn Y BIP, Realeinkommen, Produktion Y pot Produktionspotenzial Z Zinseinnahmen π Inflationsrate X s , X d Eine der genannten Variablen mit einem hochgestellten s oder d bezeichnet das jeweilige Angebot (s = supply) oder die Nachfrage (d = demand) der Variablen; z.B. M s =money supply, L d =labour demand <?page no="18"?> Teil I: Grundlagen 1 Volkswirtschaftliche Grundbegriffe Wirtschaftswissenschaften 1.1 Wirtschaften ist der Umgang mit knappen Mitteln zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Menschliche Bedürfnisse sind teils nicht materiell, d.h. nicht unmittelbar durch Güter zu befriedigen. Dazu zählen die Bedürfnisse nach Zuneigung, Bindung, Selbstwert und Kontrolle. Die direkte Befriedigung dieser Bedürfnisse zählt nicht zu den engeren Themen der Wirtschaftswissenschaften, auch wenn ihre Erfüllung teils an materielle Bedürfnisse gekoppelt sein kann. Z.B. mag ein hohes Einkommen das Selbstwertgefühl mittelbar erhöhen oder das Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben verstärken. Die Ökonomie befasst sich mit der Befriedigung materieller Bedürfnisse wie Nahrung, Wohnen, Mobilität, Wärme und Freizeitgestaltung. Güter sind Mittel zur Befriedigung solcher Bedürfnisse. Dabei stehen wirtschaftliche Güter im Vordergrund, also solche, die knapp sind und bewirtschaftet werden müssen. Als freie Güter zählen demgegenüber Güter, die ohne menschliches Zutun im Überfluss vorhanden sind und folglich keiner Bewirtschaftung bedürfen. Nicht zuletzt aufgrund der fortschreitenden Umweltbelastung sind viele ehemals freie Güter allerdings knapp geworden. Beispiele für freie Güter sind Luft oder das Meerwasser. Allerdings ist saubere Luft in vielen Regionen kein freies Gut mehr und die Meere leiden zunehmend unter der konkurrierenden Nutzung (WBGU, 2014). Unter Wirtschaften ist der bewusste Umgang mit knappen Gütern zu verstehen. Die Wirtschaftswissenschaft ist die Lehre des Wirtschaftens. Ihr Anliegen ist es zum einen, den Umgang mit knappen Gütern zu beschreiben und zu erklären (positive Wirtschaftstheorie). Zum anderen befasst sie sich mit den Zielen des Wirtschaftens und versucht, Wege aufzuzeigen, wie diese angesichts der Güterknappheit am besten erreicht werden können (normative Wirtschaftstheorie). Dieses Lehrbuch befasst sich im I. und III. Teil überwiegend mit der deskriptiven und erklärenden gesamtwirtschaftlichen Theorie, also der positiven Theorie. Teil II widmet sich demgegenüber vor allem der normativen Theorie und nimmt den größten Teil des Lehrbuchs ein: Gegenstand ist das Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Die Lehre des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bedient sich indes bei der Definition des Gleichgewichts und bei der Frage nach seiner Erreichbarkeit auch der Erkenntnisse der positiven Theorie. Die Wirtschaftswissenschaften lassen sich in die Volkswirtschaftslehre (VWL) und Betriebswirtschaftslehre (BWL) unterteilen. Die BWL stellt das Unternehmen in den Mittelpunkt der Untersuchung und betrachtet die Märkte und die übrige relevante Umwelt aus der Perspektive eines einzelnen Unternehmens. Die VWL nimmt demge- <?page no="19"?> 20 Grundlagen genüber eine Vogelperspektive ein und betrachtet z.B. alle Akteure auf einem Markt und fasst d ie se zu Grupp en z us a m m en ( z.B. alle E iscre mekonsumenten und -produzenten auf dem Eiscrememarkt, alle Arbeitskräfte und Arbeitgeber etc.). Volkswirtschaft 1.2 Eine Volkswirtschaft ist die Summe aller Einzelwirtschaften in einem abgegrenzten Raum. Der betrachtete Raum sollte eine gewisse Anzahl an Einzelwirtschaften und eine Fläche überschreiten, ohne dass es dafür ein festgelegtes Maß gibt. Island ist z.B. mit 330 Tsd. Einwohnern eine Volkswirtschaft, aber Köln mit einer dreifachen Bevölkerungszahl ist im engeren Sinne keine Volkswirtschaft, sondern eine Lokalwirtschaft oder unter Einbezug des Umlands bestenfalls eine Regionalwirtschaft. Unter Einzelwirtschaften sind die einzelnen Unternehmen, die privaten Haushalte und der Staat zu verstehen. Da der Staat aus unterschiedlichen institutionellen Einheiten (z.B. Parlament, Regierung, Judikative, Zentralbank, Wettbewerbsbehörde und Sozialversicherungen) besteht, können diese alternativ auch als Einzelwirtschaften betrachtet werden. Einzelwirtschaften, die einen oder mehrere Menschen umfassen können, werden in der ökonomischen Analyse als Wirtschaftssubjekte bezeichnet. Damit wird zweierlei hervorgehoben: Das eine ist, dass entscheidende und handelnde Einheiten („Subjekte“) gemeint sind. Das andere ist, dass das Subjekt hier auf sein ökonomisches Entscheiden und Handeln hin untersucht wird, durchaus wissend, dass dies bei weitem nicht alles ist, was Menschen ausmacht. Allokation, Distribution und ceteris paribus 1.3 Die Volkswirtschaftslehre (VWL) kommt im Allgemeinen ohne viele Fremdwörter aus. Zu den Ausnahmen zählen der Begriff der Allokation und der Distribution. Unter der Faktorallokation ist die Verwendung der Produktionsfaktoren (Arbeit, Realkapital etc.) gemeint. Wünschenswert ist eine kostenminimale Faktorallokation. Anders ausgedrückt: Mit den verfügbaren Produktionsfaktoren soll ökonomisch umgegangen werden. Die Faktorallokation subsummiert, wie viele Produktionsfaktoren zur Herstellung der Gütermengen eingesetzt werden. Die Verteilung (auch: Zuteilung) der Güter auf die Verwendungsmöglichkeiten wird Güterallokation genannt. Der primäre Allokationsmechanismus ist in Wettbewerbswirtschaften der Markt. Als effiziente Allokation gilt, wenn mit den Produktionsfaktoren die größtmögliche Gütermenge erstellt wird (kostenminimale Produktion) und sowohl die Struktur der produzierten Güter als auch deren Verwendung diejenige ist, die der Gesellschaft den höchstmöglichen Nutzen stiftet. Nutzen kann als Grad des Wohlbefindens/ Wohlergehens der Menschen verstanden werden. In der vorherrschenden Lehre des Wirtschaftens (sog. Mainstream) wird in aller Regel unterstellt, dass sich die gesellschaftliche Wohlfahrt aus den individuellen Nutzen ableiten lässt. Dies ist typisch für den methodologischen Individualismus, der den volkswirtschaftlichen Mainstream prägt: Das Handeln und Streben von sozialen Einheiten (z.B. Unternehmen, Gewerkschaft) wird durch die Aggregation individuel- <?page no="20"?> Volkswirtschaftliche Grundbegriffe 21 len Verhaltens erklärt (→ Kap. 42.2) und das Ergebnis aus eben dieser Perspektive bewertet. Wird mit den verfügbaren Produktionsfaktoren der höchstmögliche Nutzen, die maximale Wohlfahrt, erreicht, spricht man auch von optimaler Faktor- und Güterallokation oder einem Allokationsoptimum. Staatliche Maßnahmen zur Beeinflussung der Allokation werden als Allokationspolitik bezeichnet. Demgegenüber versteht man unter Distribution, wie die produzierten Güter und das erwirtschaftete Einkommen auf die Personen verteilt werden. Dabei werden Einzelper so nen z u pr iva te n H au ha lten z usa mm engef ass t. D ie V ertei lu ng des E in kom men s über den Markt wird als Verteilung des Primäreinkommens (Primärverteilung) bezeichnet. Die Einkommensverteilung, die nach staatlichen Eingriffen der Besteuerung und Umverteilung entsteht, wird als Verteilung der Sekundäreinkommen (Sekundärverteilung) bezeichnet. Umverteilungspolitik wird auch Distributionspolitik genannt. Schließlich ist die Ceteris-paribus-Klausel („unter sonst gleichen Bedingungen“) aus der Volkswirtschaftslehre nicht mehr wegzudenken. Angesichts der extremen Komplexität der ökonomischen Wirklichkeit wären ohne sie keine strukturierten Wirkungsanalysen wirtschaftlicher Vorgänge möglich. Ceteris-paribus-Klausel (c.p.): „Analyse eines Zusammenhangs unter der Annahme, dass sich nur die betrachtete Variable ändert bei gleichzeitiger Konstanz aller anderen ökonomischen Variablen.“ Quelle: S PRINGER G ABLER V ERLAG , 2016 Makroökonomie in Abgrenzung zur Mikroökonomie 1.4 und BWL Die Makroökonomie unterscheidet sich von der Mikroökonomie und der BWL zuvorderst in Bezug auf das Aggregationsniveau. Während etwa die BWL eine Einzelwirtschaft (den Betrieb) und ihr Verhalten betrachtet und dabei das Verhalten der (potenziellen) Kunden und Konkurrenten berücksichtigt, schließt die Mikroökonomie daraus auf das Verhalten aller Akteure auf dem Markt für ein Gut (z.B. Eiscreme). Die Makroökonomie beschäftigt sich hingegen z.B. mit dem Güterangebot aller Produzenten und der Nachfrage aller Einzelwirtschaften in einem Wirtschaftsraum. Sie wird deshalb auch als Niveautheorie bezeichnet. Die Mikroökonomie betrachtet mithin nur einen winzigen Ausschnitt einer Volkswirtschaft (Partialanalyse). Die Makroökonomie betrachtet hingegen die Nachfrage und das Angebot aller Wirtschaftseinheiten (Privathaushalte, Unternehmen, Staat, Ausland etc.) - entweder auf einem oder auf allen gesamtwirtschaftlichen Märkten (Totalanalyse). In Anlehnung an das oben verwendete Bild der Vogelperspektive: Die Mikroökonomie kreist über z.B. dem Eiscrememarkt und macht gelegentlich Ausflüge zu eiscremenahen Märkten für z.B. Wassereis, Kuchen, Eismaschinen, Sahne oder Eiswaffeln. Die Makroökonomie kreist demgegenüber so hoch über der gesamten <?page no="21"?> 22 Grundlagen Volkswirtschaft, dass sie Bewegungen auf z.B. dem Eiscrememarkt gar nicht wahrn i mm t. Ein gesamtwirtschaftlicher Markt ist mit einem Eiscrememarkt nicht zu vergleichen. Daher bedarf es ergänzend zur Mikroökonomie einer eigenen Theorie, der Makroökonomie. Hinzu kommen die Wechselwirkungen zwischen dem gesamtwirtschaftlichen Gütermarkt und den übrigen gesamtwirtschaftlichen Märkten. Ohne diese lassen sich keine gesamtwirtschaftlich relevanten Schlüsse ziehen. Zu nennen sind, außer dem gesamtwirtschaftlichen Gütermarkt der Geld-, Finanz-, Arbeits- und Devisenmarkt. Teilgebiete der Makroökonomie 1.5 Die makroökonomische Theorie lässt sich vereinfacht in die Konjunktur-, Wachstums- und Verteilungstheorie unterteilen. Zusätzlich umfasst die Makroökonomie außenwirtschaftliche Themen wie etwa die Theorie des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts (→ Kap. 25). Die Konjunkturtheorie befasst sich mit den Ursachen und Wirkungen kurzfristiger Schwankungen der Bruttoinlandsprodukts (→ Kap. 4.1) und somit den Schwankungen des Beschäftigungsgrads der Produktionsfaktoren sowie mit Schwankungen der Inflationsrate (→ Kap. 21.1). Die Konjunkturtheorie wird auch als makroökonomische Theorie der kurzen Frist oder als Beschäftigungstheorie bezeichnet. Die Beschäftigungstheorie untersucht u.a. die Wirkungen der Geld- und Fiskalpolitik auf die Beschäftigung und das Preisniveau. Geldpolitik ist die Versorgung der Volkswirtschaft mit Geld und obliegt der Zentralbank (auch: Notenbank) (→ Kap. 22.3.1). Die Fiskalpolitik ist die gesamtwirtschaftlich relevante Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates (→ Kap. 44.6.1). Die Wachstumstheorie hat das langfristige Wirtschaftswachstum zum Untersuchungsgegenstand (→ Kap. 16.1 u. 18). Sie kann als Theorie der langen Frist bezeichnet werden (→ Kap. 43.1). Bei der makroökonomischen Verteilungstheorie steht die Analyse der Marktverteilung der Einkommen auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital im Vordergrund. Diese wird auch als funktionelle Einkommensverteilung bezeichnet. Die Verteilung dieses Primäreinkommens auf Personen (personelle Primärverteilung) ist hingegen weniger Gegenstand. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Sekundärverteilung, also die Verteilung, die sich nach steuer- und (anderen) umverteilungspolitischen Maßnahmen ergibt. Aspekte der personellen Primärverteilung oder der Sekundärverteilung, werden dann in die makroökonomische Analyse einbezogen, wenn sie gesamtwirtschaftlich erhebliche Effekte ausüben. Z.B. lassen sich makroökonomische Hypothesen aufstellen, wie sich eine Umverteilung von einkommensreichen hin zu einkommensschwachen Privathaushalten auf die gesamtwirtschaftliche Konsumgüternachfrage auswirkt. <?page no="22"?> Gesamtwirtschaftlicher Output und Produktionsfaktoren 23 2 Gesamtwirtschaftlicher Output und Produktionsfaktoren Gesamtwirtschaftlicher Produktionsprozess 2.1 Der Output einer Volkswirtschaft ist eine Wertschöpfungsgröße, d.h. er besteht aus dem im Inland erwirtschafteten Wertschöpfungsanteil der produzierten Güter. Alternativ lässt sich der Output als Summe der inländischen Endprodukte abzüglich importierter Vorleistungen definieren. Der mit Abstand gebräuchlichste Indikator für die gesamtwirtschaftliche Produktion ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es misst die gegen Entgelt geschaffene Wertschöpfung zu Marktpreisen. Unentgeltlich produzierte Leistungen sind im BIP nicht enthalten. (→ Kap. 3.2.1) Das BIP ist insoweit eine Hilfsgröße für den gesamtwirtschaftlichen Output.  Was meinen Sie? Woran macht sich Ihres Erachtens der Wert von Gütern fest? Am Marktpreis, an den Kosten, an der im Gut versteckten Mühe bzw. der aufgewendeten Arbeitskraft? Oder sind (auch) ganz andere Größen für Sie relevant? (→ Kap. 15.1) Man kann sich den gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess wie eine Black Box vorstellen: Neben den Vorleistungen gehen die Produktionsfaktoren in den Prozess ein. Je mehr Faktoren eingesetzt werden oder umso höher die Faktorproduktivität ist, desto höher ist c.p. der Output. Die klassische Dreiteilung der Produktionsfaktoren ist die in Arbeit, Boden und Kapital. In der modernen Makroökonomie ist es hingegen bei allgemeinen Fragestellungen üblich, die Faktoren auf Arbeit und Kapital zu reduzieren. Boden gilt dann als Bestandteil des Kapitals (Bodenkapital). In der Wachstumstheorie wird außerdem das technische Wissen und in der Umweltökonomie das Naturkapital (einschl. Boden) hinzugefügt. Schließlich wird teils auch das Humankapital - die qualitative Ausstattung der Arbeitskräfte - als eigenständiger Produktionsfaktor aufgeführt, etwa in der Theorie vom Wachstum in Entwicklungsländern (→ Kap. 16.1.3). In der makroökonomischen Theorie wird unter dem Produktionsfaktor Arbeit primär die Menge an verfügbaren Arbeitskräften verstanden. Humankapital wird implizit zum technischen Wissen gezählt oder gleich behandelt wie Sachkapital (z.B. B LANCHARD und I LLING , 2014, S. 352ff.). Im anschließenden → Kap. 2.2 wird ein weitgefasster Kapitalbegriff vorgestellt, der physisches Kapital (Sachkapital) und immaterielles Kapital summiert. Sowohl technischer Fortschritt als auch Humankapital werden dort zum immateriellen Kapital einer Volkswirtschaft gezählt. <?page no="23"?> 24 Grundlagen Produktionsfaktor Kapital 2.2 Unter Kapital wird Realkapital verstanden. Geld- und Finanzkapital zählen nicht zum Kapital, da sie gesamtwirtschaftlich betrachtet keine Produktionsfaktoren darstellen. Kapital besteht aus Gebrauchsgütern, die bei der Produktion eingesetzt werden (Potenzialfaktoren). Verbrauchsgüter (Repetierfaktoren), wie z.B. Rohstoffe, zählen nicht zum Kapital. Die Einstufung eines Produktionsgutes als Kapitalgut oder als Repetierfaktor ist nicht immer eindeutig. In der Praxis wird daher auf die Lebensdauer und die Nutzungshäufigkeit des Gutes abgestellt. In der amtlichen volkswirtschaftlichen Statistik sind dies z.B. wenigstens ein Jahr und der regelmäßige oder wiederholte Einsatz. Das Kapital einer Volkswirtschaft besteht grundsätzlich aus Sachkapital und immateriellem Kapital. Sachkapital 2.2.1 Unter Sachkapital versteht man im Wesentlichen produzierte Sachanlagegüter. Es umfasst Produktionsanlagen im weitesten Sinne, also etwa Maschinen, Gebäude und andere Investitionsgüter sowie die öffentliche Infrastruktur. Aber auch relativ „kleine“ Güter, wie z.B. Werkzeuge, Möbel, Küchengeräte, zählen zum Sachkapital ebenso wie etwa der Fön im Frisörsalon, das Bett im Hotel oder die Gefriertruhe im Kiosk. Die gleichen Gegenstände in Händen des nichtproduzierenden Sektors (private Haushalte) gelten hingegen nicht als Investitions-, sondern als Konsumgüter. Die Unterscheidung zwischen Investitionsgütern und Konsumgütern erweist sich in der Praxis mitunter jedoch als schwierig, wie einige Beispiele verdeutlichen:  Öffentliche Infrastruktur (z.B. eine Straße oder Brücke) wird oft von Konsumenten (z.B. Spaziergänger und Freizeitradler) sowohl als Konsumgut sowie von Produzenten (z.B. Spediteure) auch als Vorleistung genutzt. Zum Sachkapital einer Volkswirtschaft wird die öffentliche Infrastruktur letztlich deshalb gezählt, weil mit ihr Dienstleistungen für den Konsum bzw. Vorleistungen für Unternehmen erstellt werden.  Teile des Anlagevermögens des Staates weisen allerdings scheinbar unproduktiven Charakter auf. Dies wird gelegentlich z.B. für die Ausrüstung der Zentralbank, der Polizei und der Armee behauptet. Einerseits spräche dafür, dass mit der Ausrüstung keine Konsumgüter oder Vorleistungen im herkömmlichen Sinne produziert werden, so dass diese Anlagegüter kein Sachkapital im engeren Sinne darstellen. Andererseits spräche für eine Hinzurechnung dieser Ausrüstungsgüter zum Sachkapital, dass sie der Produktion öffentlicher Güter wie Geldversorgung und Preisniveaustabilität, innerer und äußerer Sicherheit dienen. Seit 2014 werden in Deutschland alle solche Güter ungeachtet ihrer zivilen oder nichtzivilen Nutzung zum Anlagevermögen der Volkswirtschaft gezählt, also etwa auch Waffen und Panzer.  Schwierigkeiten entstehen auch bei Gebrauchsgütern in Unternehmensbesitz, etwa bei der Kaffeemaschine in der Anwaltskanzlei. Zum einen wird sie für Mandanten eingesetzt (Produktionsgut), zum anderen bedient sich ggfs. auch die Familie der Anwältin der Maschine (Konsumgut).  Wohngebäude gelten unbestritten als Kapital, wenn sie vom Eigentümer vermietet werden. Selbstgenutztes Eigentum kann hingegen als ein langlebiges Konsumgut und nicht als Kapital eingestuft werden, da es der Eigentümerhaushalt selbst nutzt („konsumiert“). Auf den zweiten Blick könnte man aber auch argumentieren, dass <?page no="24"?> Gesamtwirtschaftlicher Output und Produktionsfaktoren 25 der Eigentümer A. als Produzent fungiert, der den Wohnraum an den Konsumenten A., also sich selbst, vermietet. Damit wäre selbstgenutztes Wohneigentum Teil des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks. Denkt man diese Überlegungen konsequent zu Ende, müsste allerdings jedes Gebrauchsgut zum Kapitalstock zählen und zwar unabhängig davon, ob es dem Konsum von Haushalten oder der Produktion dient. Solch eine weite Definition wäre jedoch für gesamtwirtschaftliche Analysen unbrauchbar. Das produzierte Sachkapital betrug in Deutschland laut der amtlichen VGR (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen) Ende 2015 etwa 9.250 Mrd. Euro (netto zu Wiederbeschaffungspreisen). Zum Vergleich: Das Gebrauchsvermögen privater Haushalte wird auf ca. 1.000 Mrd. Euro geschätzt (S TATISTISCHES B UNDESAMT und D EUTSCHE B UNDESBANK , 2016, S. 7).  Wissensbox 1: Zählen Tiere, Pflanzen, Böden und andere natürliche Ressourcen zum Kapital … In makroökonomischen Lehrbüchern werden natürliche Ressourcen entweder zum Realkapital gezählt (sog. Naturkapital) oder unter dem dritten Produktionsfaktor Boden subsummiert. Dabei wird alternativ auch vom Produktionsfaktor Umwelt gesprochen. In der Vermögensrechnung von S TATISTISCHEM B UNDESAMT und B UNDES- BANK werden allerdings seit ca. 15 Jahren nicht nur Nutzpflanzungen, sondern auch Nutztiere zu den produzierten Sachanlagen gezählt. Sie wurden mit knapp 10 Mrd. Euro (2015) bilanziert, was wenig mehr als 0,1 % des gesamten produzierten Sachanlagevermögens entspricht. Bebauter Boden wird in der amtlichen Statistik als eigene Vermögensart mit einem Bilanzwert von ca. 3.250 Mrd. Euro ausgewiesen (S TATISTISCHES B UNDESAMT und D EUTSCHE B UNDESBANK , 2016, S. 9). … und Datenbanken und Software? Sie werden in den amtlichen VGR zum geistigen Eigentum gezählt, welches Bestandteil des immateriellen produzierten Anlagevermögens ist. Ihr Wert wurde für 2013 mit 130 Mrd. Euro beziffert, das gesamte „geistige Eigentum“ mit ca. 980 Mrd. Euro (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2017c). Immaterielles Kapital 2.2.2 Immaterielles Kapital wird gelegentlich neben Arbeit, Kapital und Boden als vierter Produktionsfaktor bezeichnet. Der Begriff des immateriellen Kapitals ist allerdings (noch) kein so etablierter Begriff wie z.B. Sach- oder Humankapital. Es ist auch nicht klar definiert, welche Güter dazu zählen und wie sich diese in Untergruppen gliedern lassen. Für gesamtwirtschaftliche Zwecke bietet es sich an, das immaterielle Kapital einer Volkswirtschaft zu unterteilen in: <?page no="25"?> 26 Grundlagen  Technischer Fortschritt/ Stand des technischen Wissens. Dieser Produktionsfaktor meint das technische Wissen, das in der Volkswirtschaft verbreitet ist und angewandt wird. Er ist in anderen Produktionsfaktoren inkorporiert, z.B. in Maschinen, oder er ist in Form von Humankapital untrennbar mit den Beschäftigten verbunden.  Forschungsniveau. Forschung und Entwicklung können als immaterielle Gebrauchsgüter definiert werden, die über einen längeren Zeitraum für die Produktion genutzt werden. In der amtlichen gesamtwirtschaftlichen Vermögensrechnung werden F&E-Ausgaben seit 2014 zum immateriellen produzierten Anlagevermögen gezählt. 2016 lagen sie bei ca. 820 Mrd. Euro.  Humankapital. Es ist direkt mit dem Produktionsfaktor Arbeit verknüpft und bezieht sich im Wesentlichen auf die Kenntnisse der Arbeitskräfte, die für den Produktionsprozess bedeutsam sind. Das sind z.B. schulische Bildung und berufliche Qualifikation sowie andere beruflich relevante hard and soft skills.  Image. Das Ansehen und die Reputation eines Landes oder einer Region können unter internationalem Blickwinkel ebenfalls als Produktionsfaktor (Standortfaktor) einer Volkswirtschaft erachtet werden.  Institutionelle öffentliche Infrastruktur. Hierunter fallen z.B. der institutionelle Rahmen zur Schaffung und Aufrechterhaltung der politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung sowie die Institutionen für innere und äußere Sicherheit.  Immaterielles Sozialkapital. Dies umfasst vor allem die privaten sozialen Strukturen in der Volkswirtschaft/ Gesellschaft, also z.B. soziale Vernetzung, sozialer Zusammenhalt, Vertrauenskultur, Korruptionskultur oder allgemein die Art des Umgangs der Menschen miteinander und die zugrundeliegenden Normen. Immaterielles Kapital ist auf die menschliche Arbeitskraft angewiesen, um zum Produktionsprozess beizutragen. Sein Beitrag zur Leistungserstellung besteht im Wesentlichen darin, die Produktivität der materiellen Produktionsfaktoren zu erhöhen. Die Ausstattung mit immateriellen Produktionsfaktoren lässt sich somit auch als qualitative Ausstattung einer Volkswirtschaft bezeichnen. Vereinfacht gilt, dass die Produktivität - Output je Inputeinheit - positiv mit der Höhe der immateriellen Ausstattung korreliert. So sind z.B. Fachkräfte (viel Humankapital) in einer Stunde produktiver als Ungelernte (wenig Humankapital). Anders ausgedrückt: Der Produktionskoeffizient von Arbeit und Sachkapital - also der Input je Outputeinheit - sinkt mit steigendem immateriellem Kapital. So bedarf es z.B. bei großer sozialer Vernetzung, einer ausgesprochenen Vertrauenskultur, geringer Kriminalität und Gewalttätigkeit zur Erstellung eines Gutes geringerer Kosten, als wenn diese nur in dürftigem Umfang vorhanden wären. Zu denken ist dabei etwa an die Kosten der Kommunikation, der Sicherung eingegangener Vereinbarungen sowie zum Schutz von Erwerbstätigen und Produktionsstätten. Das immaterielle Kapital ist angesichts seines ergänzenden und überwiegend qualitativen Charakters kein Gegenstand der makroökonomischen Beschäftigungstheorie. Entsprechend ist es auch nicht üblich, von seiner Beschäftigung oder Auslastung zu sprechen. Die effiziente Nutzung des vorhandenen Humankapitals, seine Mehrung und die der anderen immateriellen Produktionsfaktoren sind vielmehr Themen der Wachstumstheorie und -politik (→ Kap. 16 u. 18.1). <?page no="26"?> Gesamtwirtschaftlicher Output und Produktionsfaktoren 27  Wissensbox 2: Was ist das immaterielle Kapital eines Unternehmens? In der Betriebswirtschaftslehre herrscht ebenfalls kein einheitliches Verständnis vom Begriff des immateriellen Kapitals. Es wurden insbesondere für Zwecke der Rechnungslegung und der Kommunikation verschiedene Ansätze entwickelt, um das nichtphysische Kapital in unterschiedliche Kategorien immaterieller Vermögenswerte („assets“) zu unterteilen. Hierzu zählen:  das betriebswirtschaftlich relevante Humankapital der Beschäftigten einschließlich deren sozialer Kompetenz,  unternehmenseigenes Know-how über Betriebsabläufe etc.,  Imagewert des Unternehmens einschließlich des Namens (Marke),  die Unternehmenskultur und das Betriebsklima,  geistige Eigentumsrechte, d.h. gewerbliche Schutzrechte (z.B. Patente), Urheberrechte und nicht offenbartes geistiges Eigentum („Betriebsgeheimnisse“),  Lizenzen und andere Nutzungsrechte an immateriellen Gütern,  Kunden- und Lieferantenbeziehungen,  sowie gesellschaftliche und politische Kontakte etc. In der Bilanz müssen entgeltlich erworbene immaterielle Vermögenswerte mit ihrem Anschaffungswert aktiviert (HGB §266(2)) werden. Das wäre etwa der Fall, wenn ein fremder Markenname erworben wird. Selbst Fußballspieler, für die Transfersummen gezahlt wurden, sind rechtlich ebenfalls als Vermögensgut zu bilanzieren, und somit sind Ablösesummern von den Profivereinen nicht als Betriebsausgaben absetzbar. Selbstproduziertes immaterielles Kapital darf hingegen nur eingeschränkt bilanziert werden: „Selbst geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens können als Aktivposten in die Bilanz aufgenommen werden. Nicht aufgenommen werden dürfen selbst geschaffene Marken, Drucktitel, Verlagsrechte, Kundenlisten oder vergleichbare immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens.“ (HGB §248(2)) Quelle: M ÖLLER , P IWINGER und Z ERFAß , 2009. <?page no="27"?> 28 Grundlagen 3 Wirtschaftskreislauf und Inlandsprodukt Gesamtwirtschaftlicher Kreislauf 3.1 Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Sektoren einer Volkswirtschaft und mit dem Ausland lassen sich als ein geschlossener Kreislauf darstellen. Der Gedanke geht auf den Arzt und Ökonomen F RANÇOIS Q UESNAY (1694-1774) zurück. Die vier gesamtwirtschaftlichen Sektoren - auch als Pole oder Konten bezeichnet - sind die Privathaushalte, die Unternehmen, der Staat und das Ausland. Hinzu kommt das sog. Vermögensänderungskonto. Dies ist ein gedanklicher Pol, um das Sparen und des sen V er wen dun g a b b ild en z u kö nn en . M an k ann ihn si ch a ls g esa mtwi r tsc h aftl ich es Sparkonto vorstellen, auf das die einzelnen Sektoren ihre Ersparnis (Einnahmen minus Ausgaben) übertragen und aus dem sich die Sektoren bedienen, um kreditfinanzierte/ n Investitionen oder Konsum zu tätigen. → Abb. 3.1 stellt den Wirtschaftskreislauf für eine Volkswirtschaft ohne Außenbeziehungen (Modell der geschlossenen Volkswirtschaft) und ohne Staat innerhalb eines Zeitraums von z.B. einem Monat oder einem Jahr dar. Es sind nur monetäre Ströme abgebildet, d.h. realwirtschaftliche Ströme (Güter- und Faktorströme) sind nur implizit enthalten. Es sind jeweils nur Nettoströme zwischen den Konten ausgewiesen, z.B. sind Kredite zwischen den Haushalten oder Zahlungen für Zwischenprodukte innerhalb des Unternehmenssektors nicht sichtbar. Abb. 3.1: Wirtschaftskreislauf einer geschlossenen Volkswirtschaft ohne Staat Die privaten Haushalte sind die Eigentümer der Produktionsfaktoren (→ Kap. 2), die hier zu Arbeit und Kapital zusammengefasst sind. Den Teil der Faktoren, den sie nicht selbst nutzen, stellen sie den Unternehmen für den Produktionsprozess zur Verfügung. Dafür erhalten sie Primäreinkommen in Form von Löhnen, Zinsen und Gewinnen. Das Einkommen verwenden sie teils zur Bezahlung von Konsumgütern, die ihnen der Unternehmenssektor verkauft, und teils zum Sparen. Das gesparte Einkommen sowie nicht ausgeschüttete Gewinne dienen der Finanzierung von Investitionsgütern. Vermögensänderung private Haushalte Unternehmen Sparen Konsumausgaben Primäreinkommen (Löhne, Zinsen und Gewinne) Sparen (nicht ausgeschüttete Gewinne) Investitionsfinanzierung <?page no="28"?> Wirtschaftskreislauf und Inlandsprodukt 29 Lagerinvestition. Nicht abgesetzte Produkte des Unternehmenssektors sind ungeplante Lagerinvestitionen.  Aufgabe 1: Überlegen Sie! Angenommen, ein Single-Haushalt verfügt insgesamt über 480 Std. potenzielle Arbeitszeit im Monat (30 Tage à 16 Std.) Haushalt. Außerdem verfügt er über ein Haus mit sechs Wohnungen sowie zwei Blumenwiesen. Was könnte mit selbstgenutzter Arbeit und selbstgenutztem Kapital gemeint sein? Der Wirtschaftskreislauf lässt sich um den Staat und das Ausland erweitern, wobei das Ausland („übrige Welt“) nicht nach Sektoren untergliedert wird. Dennoch würde die Abbildung derart unübersichtlich, dass hier auf eine grafische Darstellung verzichtet wird. Die Ströme des Haushalts- und Unternehmenssektors an den Staat sind:  direkte Steuern (z.B. Einkommen- und Erbschaftsteuer) und indirekte Steuern (z.B. Mehrwertsteuer und spezielle Verbrauchsteuern) u.Ä. sowie Beiträge an die gesetzlichen Sozialversicherungen, da diese in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) zum Staat zählen,  Primäreinkommensströme vom Unternehmenssektor, soweit der Staat Zinsen oder Gewinne aus staatlichen Unternehmensbeteiligungen (einschl. öffentlicher Unternehmen) erhält. Ströme des Staates an Haushalte und Unternehmen sind:  Transfers und Subventionen,  Primäreinkommen (z.B. an öffentlich Bedienstete und Kreditgeber),  Bezahlung der Vorleistungen des Unternehmenssektors (z.B. für den Straßenbau). Schließlich strömen Ersparnisse des Staats an das Vermögensänderungskonto, wenn die Staatseinnahmen die -ausgaben übersteigen. Ein etwaiges Budgetdefizit schlägt sich umgekehrt in einem Strom vom Vermögensänderungskonto hin zum Staat nieder. Die Beziehungen zum Ausland sind wie folgt (→ Kap. 26.1):  Exporteinnahmen minus Importausgaben: Nettoexporteinnahmen  Primäreinkommen vom Ausland minus Primäreinkommen ans Ausland: Saldo der Primäreinkommen  Sekundäreinkommen (Transfers etc.) vom Ausland minus Sekundäreinkommen ans Ausland: Saldo der Sekundäreinkommen  Je nachdem, ob der Saldo der drei Posten negativ oder positiv ist, fließt ein Strom vom Ausland ans Vermögensänderungskonto oder vom Konto ans Ausland.  Aus dem Vermögensänderungskonto werden Vermögensübertragungen, Direktinvestitionen, Kredite und andere Finanzströme ans Ausland finanziert. <?page no="29"?> 30 Grundlagen Bruttoinlandsprodukt und gesamtwirtschaftliche Ein- 3.2 kommensgrößen BIP 3.2.1 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Wert aller im Inland produzierten Endverbrauchsgüter (privater und staatlicher Konsum, Investition einschl. Lagerinvestition und Export) abzüglich importierter Vorleistungen. Die Bewertung erfolgt zu Marktpreisen. In Fällen, in denen keine Marktpreise ermittelt werden können, wie z.B. bei vielen Gütern, die vom Staat oder Non-Profit-Organisationen angeboten werden, wird auf Herstellungs- und Bereitstellungskosten zurückgegriffen, d.h. es werden Kostenpreise verwendet. Das BIP misst die zu Marktpreisen bewertete Bruttowertschöpfung einer Volkswirtschaft in einer Zeitperiode. Das nominale BIP ist vom realen, d.h. preisbereinigten, BIP zu unterscheiden (→ Kap. 15.1). Die Berechnung des BIP erfolgt ex post, d.h. im Nachhinein. Die Inlandsproduktberechnung ist Bestandteil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR). Diese werden größtenteils vom S TATISTISCHEN B UNDESAMT erstellt und veröffentlicht (www.destatis.de). Die VGR verfolgt den Anspruch, den monetären Wirtschaftskreislauf für zurückliegende Zeiträume möglichst umfassend abzubilden. Neben der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts und anderer Einkommensgrößen umfasst sie Rechnungen zu Input-Output-Strömen zwischen den Wirtschaftsbereichen, zum Vermögen, zur Finanzierung, zu außenwirtschaftlichen Strömen und zum Arbeitsvolumen. Die deutsche VGR folgt den Vorgaben des E UROPÄISCHEN S YSTEMS V OLKSWIRT- SCHAFTLICHER G ESAMTRECHNUNGEN AUF NATIONALER UND REGIONALER E BENE , kurz als ESVG 2010 bezeichnet. Diese wiederum sind an die internationalen Empfehlungen der V EREINTEN N ATIONEN (UN) angepasst, welche die internationale Vergleichbarkeit der Daten erleichtern sollen. Das BIP kann von Seiten der Produktion, des Einkommens oder der Ausgaben berechnet werden. Diese werden in der Fachsprache meistens als Entstehungs-, Verteilungsbzw. Verwendungsseite bezeichnet (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2016a). 3.2.1.1 Entstehungsrechnung des BIP (Produktionsansatz) Zunächst wird der Verkaufswert der Produktion der Unternehmen zu Herstellerpreisen erfasst und anschließend werden die Vorleistungen abgezogen. Diese werden für die jeweiligen Wirtschaftsbereiche addiert. Ergebnis ist die Bruttowertschöpfung des Unternehmenssektors. Gleiches geschieht zu Kostenpreisen für Güter, die der Staat und Organisationen ohne Erwerbszweck (z.B. Kirchen, DRK, ASB, NABU) produzieren. Das Ergebnis ist die gesamtwirtschaftliche Bruttowertschöpfung. Zum BIP, das zu Marktpreisen bewertet wird, gelangt man durch Addition der indirekten Steuern (Produktabgaben) und Subtraktion der Produktsubventionen. <?page no="30"?> Wirtschaftskreislauf und Inlandsprodukt 31 3.2.1.2 Verteilungsrechnung des BIP (Einkommensansatz) Zunächst wird das Primäreinkommen der inländischen Haushalte aus Arbeit ermittelt. E s b esteht a us den B rut tol ö h n en u nd geh älter n z zgl . der A rbe it ge be rant eile a n den Sozialbeiträgen. Diesem Arbeitnehmerentgelt werden Gewinne, Zinsen und Einkommen aus Selbstständigkeit (Unternehmens- und Vermögenseinkommen) hinzugefügt. Hiervon werden Primäreinkommen aus dem Ausland abgezogen und Primäreinkommen an das Ausland addiert, um zu dem Einkommen zu gelangen, das im Inland erwirtschaftet wurde, und zwar unabhängig davon, ob es an in- oder ausländische Personen fließt. Von dem resultierenden Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten gelangt man zum Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen, indem Produktionsabgaben addiert und Subventionen abgezogen werden. Durch die Addition der Abschreibungen erhält man schließlich das BIP. Inländer-/ Ausländerbegriff in den VGR. Eine natürliche Person gilt dann als Inländer - auch: Gebietsansässiger -, wenn ihr erster Wohnsitz im Inland ist. Bei juristischen Personen ist der Hauptsitz maßgeblich. Ausländer - auch: Gebietsfremde - haben ihren entsprechenden Sitz außerhalb der betrachteten Volkswirtschaft. 3.2.1.3 Verwendungsrechnung des BIP (Ausgabenansatz) Die im Inland erstellten Waren und Dienstleistungen des Endverbrauchs können vier Verwendungskategorien zugeordnet werden: Konsum der privaten Haushalte, Konsum des Staates, Investition (einschl. Lagerinvestition) der Unternehmen und Export. Durch die Addition der Ausgaben für Konsum- und Investitionsgüter sowie der Staatsausgaben (ohne Transfers und Subventionen) und der Exporteinnahmen (den Ausgaben des Auslands für inländische Güter) gelangt man zu den gesamten Güterausgaben. Diese entsprechen jedoch nicht dem BIP, da sie auch Ausgaben für importierte Güter enthalten. Folglich gelangt man zum BIP, indem man die Importausgaben abzieht. <?page no="31"?> 32 Grundlagen Aggregate Rechnung (Ansatz) zur Berechnung des BIP Entstehung (Produktion) Verteilung (Einkommen) Verwendung (Ausgaben) Produktionswert minus Vorleistungen 2.821 Mrd. plus Gütersteuern minus Gütersubventionen 312 Mrd. Arbeitnehmerentgelt 1.593 Mrd. Gewinne/ Selbstständigeneinkommen 745 Mrd. plus Produktionsabgaben minus Subventionen 307 Mrd. Primäreinkommenssaldo ggü. dem Ausland 65 Mrd. plus Abschreibungen 552 Mrd. private Konsumausgaben (inkl. Non-Profit-Organisationen) 1.679 Mrd. Staatl. Konsumsausgaben 616 Mrd. plus Investitionsausgaben (inkl. Abschreibungen) 599 Mrd. plus Exporteinnahmen 1.441 Mrd. minus Importausgaben 1.200 Mrd. BIP (Bruttowertschöpfung zu Marktpreisen) 3.133 Mrd. BNE (Bruttonationaleinkommen) 3.197 Mrd. Quelle: S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2017a, S. 9. Tab. 3.1: Die Berechnung des BIP Deutschlands 2016 (in Euro, Stand: Feb. 2017) <?page no="32"?> Wirtschaftskreislauf und Inlandsprodukt 33 Bruttonationaleinkommen (BNE) 3.2.2 Das früher als Bruttosozialprodukt bezeichnete BNE ist eine Schätzgröße für die Bruttowertschöpfung in Marktpreisen, die von inländischen Produktionsfaktoren im In- und Ausland erstellt wurde. Dieser Ansatz wird in der Einkommensrechnung als Inländerkonzept (wer? ) bezeichnet, während das BIP auf die im Inland geschaffene Wertschöpfung abstellt und daher vom Inlandskonzept (wo? ) gesprochen wird. Um zum BNE zu gelangen, müsste man streng genommen den Anteil des inländischen BIP, den ausländische Faktoren erwirtschaftet haben, vom BIP abziehen. Außerdem müsste jener Anteil, den inländische Faktoren in der übrigen Welt erwirtschaftet haben, zum BIP addiert werden. Da es unmöglich ist, diese Werte zu ermitteln, werden die Primäreinkommenszahlungen an das Ausland subtrahiert bzw. vom Ausland addiert. Damit wird hilfsweise unterstellt, dass die Arbeitnehmer und Bezieher von Gewinn- und Vermögenseinkommen ihrem Anteil an der Wertschöpfung entsprechend entlohnt werden. Aufgrund des relativ hohen Gewinn- und Vermögenseinkommens aus dem Ausland weist Deutschland höhere Primäreinkommensströme aus dem Ausland als an das Ausland auf (→ Kap. 26.1). Der Saldo von 65 Mrd. Euro ist im Vergleich zum gesamten BIP von über 3.100 Mrd. Euro indes relativ gering. Verteilung des Volkseinkommens 3.2.3 Arbeitnehmerentgelte sowie Gewinne und andere Vermögenseinkommen bilden das Volkseinkommen einer Volkswirtschaft. Das Statistische Bundesamt schätzt es für 2016 auf 2 338,4 Mrd. Euro (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2017a, S. 9). Die jeweiligen Anteile werden als Lohn- und Gewinnquote bezeichnet. Bei der Interpretation dieser Quoten ist zu berücksichtigen, dass das Einkommen von Einzelunternehmern in den „Gewinnen“ enthalten ist. Lohnquote = Arbeitnehmerentgelt/ Volkseinkommen Gewinnquote = Gewinne plus Vermögenseinkommen/ Volkseinkommen  Aufgabe 2: Erklären und recherchieren Sie! a) Berechnen Sie die Lohn- und Gewinnquote für Deutschland im Jahr 2016 (→ Tab. 3.1). b) Recherchieren Sie die benötigten Daten auf  www.destatis.de für 1980, 1990, 2000 und 2010 und berechnen Sie die jeweilige Lohnquote. Welche Entwicklung lässt sich aus den insgesamt fünf Prozentwerten erahnen? <?page no="33"?> 34 Grundlagen Größte Volkswirtschaften der Welt 3.3 Nominales BIP 3.3.1 Um die Bruttoinlandsprodukte verschiedener Währungsgebiete vergleichen zu können, bedarf es der Umrechnung in eine einheitliche Währung. In → Tab. 3.2 ist dies mithilfe des bilateralen USD-Wechselkurses erfolgt. Wenn z.B. das deutsche BIP im Jahr 2015 3.030 Mrd. EUR betrug und ein Euro 1,11 US-Dollar (USD) kostete, dann ergibt sich durch Multiplikation des BIP (3.030 Mrd. EUR) mit dem Wechselkurs (1,11 USD/ EUR) ein deutsches BIP von ca. 3.360 USD. Volkswirtschaft nominales BIP (Mrd. USD) 1 USA 18.036 2 China 11.226 3 Japan 4.382 4 Deutschland 3.365 5 Großbritannien 2.863 6 Frankreich 2.420 7 Indien 2.088 8 Italien 1.825 9 Brasilien 1.801 10 Kanada 1.552 11 Südkorea 1.382 12 Russland 1.365 Euroraum 11.606 Europäische Union 16.326 Weltprodukt 74.196 Quelle: IMF, 2017. Tab. 3.2: Die scheinbar größten Volkswirtschaften der Welt 2015 (nominales BIP) Die Unterschrift der → Tab. 3.2 enthält das Adjektiv „scheinbar“ und soll signalisieren, dass das nominale BIP zu jeweiligen Preisen kein geeigneter Indikator für die reale Größe einer Volkswirtschaft ist. Das liegt an den unterschiedlichen - zum jeweiligen Wechselkurs in US-Dollar umgerechneten - Güterpreisen. Wenn hypothetisch das BIP von Großbritannien (UK) und Frankreich (F) aus homogenen „Güterpäckchen“ bestehen würde, und das Güterpäckchen würde in UK umgerechnet 1,25 USD und in F nur 1,00 USD kosten, dann wäre die reale Wirtschaftsleistung von UK kleiner als die von F, nämlich 2.290 gegenüber 2.420 Güterpäckchen. <?page no="34"?> Wirtschaftskreislauf und Inlandsprodukt 35 BIP in Kaufkraftparitäten-Dollar 3.3.2 Verzerrende Preis- und Wechselkurseffekte ließen sich vermeiden, wenn die produzierten Güter in allen Ländern zu den gleichen Preisen bewertet würden. Das ist technisch indes nicht möglich. Allerdings ist die Umrechnung der nominalen BIPs in sog. Kaufkraftparitäten-Dollar (KKP-USD oder PPP-USD, purchasing power parity) ein Ansatz, diesem Ideal näherzukommen. Zur Berechnung wird ein fiktives Güterpäckchen (sog. Warenkorb, → Kap. 21.2.1) konstruiert, das einigermaßen repräsentativ für alle Länder sein soll. Dann wird der Preis dieses Warenkorbs in den USA ermittelt und auf die übrigen Länder angewandt. Im Jahr 2015 kostete der Korb in Deutschland etwa 75 % dessen, was er in den USA kostete. Das Ergebnis sind die in KKP-USD umgerechneten nationalen BIP. → Tab. 3.3 zeigt, dass sich nicht nur die Reihenfolge der Länder gegenüber → Tab. 3.2 ändert, sondern dass z.B. mit Indonesien (nom. BIP = 930 Mrd. USD) ein „neues“ Land zu den größten Volkswirtschaften zählt. Volkswirtschaft BIP in KKP-USD (Mrd.) 1 China 19.695 2 USA 18.036 3 Indien 8.003 4 Japan 5.118 5 Deutschland 3.860 6 Russland 3.759 7 Brasilien 3.216 8 Indonesien 2.849 9 Großbritannien 2.700 10 Frankreich 2.665 11 Mexiko 2.234 12 Italien 2.186 13 Türkei 1.907 14 Südkorea 1.856 15 Saudi Arabien 1.704 16 Kanada 1.637 Europäische Union 19.371 Weltprodukt 114.870 Quelle: IMF, 2017 . Tab. 3.3: Die größten Volkswirtschaften der Welt 2015 <?page no="35"?> 36 Grundlagen Einkommensreichste Volkswirtschaften der Welt 3.4 Die Länder mit dem höchsten BNE pro Kopf werden als die einkommensreichsten Länder der Welt bezeichnet. Das BNE ist als Indikator geeigneter als das BIP, da das BIP auch die Nettowertschöpfung enthält, die von ausländischen Haushalten im Inland erbracht wird (→ Kap. 3.2.2). Das BNE berücksichtigt zudem auch Primäreinkommen, die inländischen Haushalten aus der übrigen Welt zufließen. Da letztlich nicht das nominale Einkommen, sondern dessen Kaufkraft für den materiellen Durchschnittswohlstand relevant ist, wird das BNE beim internationalen Vergleich in KKP- USD umgerechnet. → Tab. 3.4 listet die 12 Länder mit dem höchsten kaufkraftbereinigten BNE auf. Zum Vergleich sind Daten für Deutschland, für das ärmste der erfassten Länder und der weltweite Durchschnitt angegeben. Volkswirtschaft BNE pro Kopf in KKP-USD 1 Katar 138.480 2 Macau (China) 102.480 3 Kuwait 84.360 4 Brunei Darussalam 82.140 5 Singapur 81.360 6 Luxemburg 72.080 7 Vereinigte Arabische Emirate 70.020 8 Bermuda 66.670 (2013) 9 Nor we ge n 65 .2 10 10 Schweiz 63.990 11 Hongkong (China) 57.860 12 USA 57.540 17 Deutschland 49.090 180 Zentralafrikanische Republik 620 Welt 15.659 Hinweis: ohne Liechtenstein, Monaco, San Marino Quelle: W ELTBANK , 2017. Tab. 3.4: Die einkommensreichsten Volkswirtschaften der Welt (2015) <?page no="36"?> 37  Multiple-Choice-Aufgabe 1: Verständnisüberprüfung: BIP und BNE Das BIP in Aland beträgt 5.000 Mrd. A-Kronen. Eine A-Krone kostet 2 USD. Für 1 USD kann man in Aland doppelt so viele Güter wie in den USA kaufen. Das aländische BIP beträgt in KKP-USD  5.000 Mrd.  10.000 Mrd.  20.000 Mrd.  1.245 Mrd. Aland (s.o.) hat 50 Mio. Einwohner und diese beziehen zusammen ein Primäreinkommen von per Saldo 100 Mrd. A-Kronen. Das BNE pro Kopf in KKP- USD beträgt  80 Tsd.  98 Tsd.  102 Tsd.  120 Tsd.  408 Tsd. Kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an.  China ist die einkommensreichste Volkswirtschaft der Welt.  Die USA sind die größte Volkswirtschaft der Welt.  Deutschland ist die größte Volkswirtschaft der EU.  Wenn das britische Pfund gegenüber dem US-Dollar unter sonst unveränderten Bedingungen um 30 % aufwerten würde (d.h. ein Pfund kostet mehr USD als zuvor), dann läge UK in der → Tab. 3.2 vor Deutschland.  Wenn das britische Pfund gegenüber dem US-Dollar unter sonst unveränderten Bedingungen um 30 % aufwerten würde, dann rückt UK in → Tab. 3.3 vor Deutschland. <?page no="37"?> 38 Grundlagen 4 Wachstumspfad und Konjunkturverlauf Konjunkturzyklus 4.1 Mittelbis langfristig wachsen Volkswirtschaften in aller Regel gleichmäßig. Ausnahmen geschehen im Falle schwerer Krisen, die zu Strukturbrüchen führen. Beispiele für solche Krisen sind innere und äußere Kriege, extreme Naturkatastrophen, Umbrüche des wirtschaftlichen Systems oder erhebliche Erschütterungen durch schwere Wirtschafts- und Finanzkrisen wie etwa zwischen den zwei Weltkriegen in Deutschland oder auch für manche europäischen Länder während der jüngsten internationalen Finanzkrise. Der langfristige Wachstumstrend ist in → Abb. 4.1 linear und somit als Gerade dargestellt (s. auch die „mittlere Frist“ in → Kap. 47.1). Kurzfristig schwankt indes das BIP bzw. das BIP-Wachstum um den Trend. Diese Schwankungen treten in allen wirtschaftlich weiter entwickelten Marktwirtschaften auf, ohne auf diese beschränkt zu sein. Sie werden als Konjunkturschwankungen bezeichnet und folgen einem Muster, das als Konjunkturzyklus bezeichnet wird. Der idealtypische Sechs-Phasen-Zyklus ist in → Abb. 4.1 dargestellt. Alternativ wird er auch in vier Phasen unterteilt, wobei dann nicht zwischen Expansion und Aufschwung bzw. Abschwung und Rezession unterschieden wird. Abb. 4.1: Der idealtypische Konjunkturzyklus Ein Konjunkturzyklus dauert in der Regel zwei bis mehr Jahre und folgt in den seltensten Fällen dem in → Abb. 4.1 dargestellten Idealverlauf. In der Praxis ist es keineswegs trivial, zu erkennen, in welcher Phase sich eine Volkswirtschaft befindet. Dies liegt nicht allein an der Verfügbarkeit aktuellster Zahlen, sondern vor allem an den Schwierigkeiten, die kurzbis mittelfristige Wirtschaftsentwicklung hervorzusagen. Prognosen fußen immer auf einer großen Zahl von Annahmen über die zukünftige Entwicklung verschiedenster Einflussgrößen. Diese reichen von Annahmen über Wechselkurse, Ölpreise und Wetterbedingungen bis hin zu Annahmen über die politische Entwicklung im betrachteten und in anderen Ländern sowie psychologisch geprägte Variablen wie z.B. den Optimismus/ Pessimismus der Wirtschaftssubjekte. Hochkonjunktur Depression langfristiger Wachstumstrend reales BIP Zeit <?page no="38"?> Wachstumspfad und Konjunkturverlauf 39 In der Praxis findet häufig eine grobe Faustregel Anwendung: Wenn das um jahreszeitliche Einflüsse bereinigte Quartals-BIP zweimal hintereinander schrumpft (oder deutlich unter dem mittelfristigen Durchschnitt sinkt), liegt ein Abschwung/ eine Rezession vor. Steigt das saisonbereinigte BIP zwei Quartale hintereinander (bzw. liegt deutlich über dem Durchschnitt), wird dies als Anzeichen für einen Aufschwung/ eine Expansion erachtet. Sogenannte double dips und seltener auch triple dips mindern indes die Treffsicherheit dieser Faustregel. Unter multiplen dips versteht man, dass eine Volkswirtschaft trotz Anzeichen einer konjunkturellen Erholung erneut in eine Rezession bzw. Depression verfällt. Double peaks sind das entsprechende Pendant für zwei Hochs hintereinander. Sowohl Depression als auch Hochkonjunktur sind mit negativen Erscheinungen verbunden und gelten als gesamtwirtschaftlich unerwünscht. Es ist naheliegend, dass sie sich umso problematischer erweisen, je größer der Ausschlag ist. Relativ kleine Schwankungen, die sich in Kürze ausgleichen, sind hingegen vergleichsweise unproblematisch. Für Deutschland wären etwa Schwankungen von bis zu plus/ minus 0,3 Prozentpunkten pro Jahr durchaus tragbar. Rezession und Expansion sind aus makroökonomischer Perspektive ebenfalls problematisch, nicht zuletzt weil sie in eine nennenswerte Depression bzw. Hochkonjunktur münden können. Auslöser 4.2 Auslöser für eine Rezession ist in aller Regel eine exogene Störung der gesamtwirtschaftlichen Märkte, die zu einem spürbaren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage führt. Je nachdem, ob die originäre Störung unmittelbar die Nachfrageseite oder zuerst die Angebotsseite auf dem gesamtwirtschaftlichen Gütermarkt betrifft, handelt es sich um einen sog. Nachfrageschock oder Angebotsschock. Beispiele für einen negativen Nachfrageschock sind ein Rückgang der Nachfrage des Auslands nach inländischen Waren und Dienstleistungen (Exportnachfrageschock) oder ein innenpolitisches Ereignis, das zu einem Anstieg des Zukunftssicherungsbedürfnisses und damit zu einem Anstieg des Sparens führt, welcher gleichbedeutend mit einem Rückgang der Konsumgüternachfrage ist (Konsumnachfrageschock). Kontraktiv wirkende Änderungen in der Geld- oder Fiskalpolitik sind ebenfalls Beispiele für negative Nachfrageschocks. Für Rezessionen, die durch Nachfrageschocks ausgelöst werden, ist typisch, dass die Inflationsrate sinkt. Mit anderen Worten, die Nachfrageinflation nimmt ab. Im Extrem kommt es zur Deflation, worunter in der Theorie ein sinkendes Preisniveau verstanden wird, von der in der Praxis teils aber auch bei einer sehr niedrigen positiven Inflationsrate gesprochen wird (→ Kap. 20.7.3). Beispiele für einen negativen Angebotsschock sind Kostenschocks, etwa steigende Rohstoffpreise, übermäßige Lohnerhöhungen oder eine spürbare Erhöhung der Unternehmenssteuern. Die Zerstörung von Produktionskapital durch Natur- oder andere Katastrophen können ebenso wie Krankheitsepidemien negative Angebotsschocks auslösen. Des Weiteren sind Schwankungen des Arbeitsangebots oder der Produktivitätsentwicklung mögliche Ursachen für Abweichungen des realen BIPs vom Wachstumstrend (→ Kap. 37.3.3). <?page no="39"?> 40 Grundlagen Solche Angebotsschocks bewirken einen Rückgang der Produktion, d.h. das BIP sin kt bz w. wä ch st deutl ich l angs ame r. Dam it s in kt c.p. a uc h das Volk se in komm en und die Güternachfrage wird c.p. sinken. Angebotsschocks gehen meist mit einem Inflationsanstieg einher. Hält dieser in der Rezession an, spricht man von Stagflation: Stagnation und Inflation gehen Hand in Hand. Solch eine Situation erlebten Deutschland und andere Industrieländer z.B. im Kontext der Ölpreisschocks während der 1970er- Jahre (→ Beispiel 31). Es lassen sich nicht alle Schocks eindeutig nur als nachfrage- oder angebotsseitig klassifizieren, da der gleiche Auslöser sowohl unmittelbar Kostensteigerungen als auch Nachfragrückgänge nach sich ziehen kann. Ein Beispiel ist die genannte Ölpreiskrise: Die Produzentenseite litt unter erheblich ansteigenden Energiekosten. Gleichzeitig brach die Inlandsnachfrage nach inländischen Gütern ein, weil die Wirtschaftssubjekte einen weitaus größeren Teil ihrer Einnahmen für Heizöl, Benzin und andere Erdölprodukte ausgeben mussten, so dass weniger Einkommen für die Inlandsnachfrage übrig blieb. Der schematische Weg in eine Depression vollzieht sich wie folgt: Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage/ das Einkommen sinkt, woraufhin die Gewinne sinken und Lagerbestände aufgebaut werden. Die Unternehmen senken dann ihre Produktion. Das BIP und somit das Einkommen sinken, woraufhin die Nachfrage c.p. erneut sinkt und die Produktion in Folge ebenfalls usw. Die Arbeitslosigkeit steigt und die Auftragsbücher leeren sich, Insolvenzen nehmen zu und die Konjunkturerwartungen verdüstern sich. Der einsetzende Pessimismus wirkt zusätzlich dämpfend auf die Güternachfrage. Kommen Preissenkungserwartungen hinzu, kann das Abwarten auf weiter sinkende Güterpreise (Attentismus, → Kap. 20.7.3) die Rezession bzw. Depression weiter verschlimmern. Der Prozess über eine Expansion hin zu einer konjunkturellen Überhitzung verläuft in analoger Weise mit umgekehrten Vorzeichen: Ein positiver Nachfrageschock lädt die Produzenten c.p. zu Mehrproduktion und Preiserhöhungen ein. Gestiegene Gewinne und Einkommen fördern die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage. Die Inflationsrate steigt weiter und die Kapazitätserweiterungspläne der Unternehmen nehmen zu, d.h. die Investitionsgüternachfrage steigt parallel zur Konsumgüternachfrage. Hierdurch werden die Produzenten ermutigt, weiterhin Produktionserhöhungen zu planen. Die Auftragsbücher quellen über und Arbeitskräfte werden zunehmend knapper. Lohn- und Preisanstiege gehen weiter und verstärken sich gegenseitig. Optimistische Zukunftserwartungen sowie die Angst der Sparer vor weiter steigender Inflation fördert die Verschuldungstendenz der Wirtschaftssubjekte und regt die Güternachfrage zusätzlich an. <?page no="40"?> Wachstumspfad und Konjunkturverlauf 41 Probleme 4.3 Es ist allgemein bekannt, mit welchen negativen sozialen, ökonomischen und politischen Erscheinungen eine Rezession und vor allem eine Depression verbunden ist oder verbunden sein kann. Dazu zählen:  steigende Arbeitslosigkeit (→ Kap. 8),  sinkende Einkommen,  Rückgang der sozialen Sicherheit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene,  soziale Instabilität und Abnahme der inneren Sicherheit,  politische Radikalisierung,  Zerstörung von Real- und Humankapital durch eine Zunahme von Konkursen bzw. steigende Arbeitslosigkeit, wodurch sich die Wachstumsmöglichkeiten verringern,  Unterinvestitionen in Kapital, Bildung/ Qualifizierung und Forschung & Entwicklung mit potenziell negativen Wachstumswirkungen,  Ceteris-paribus-Zunahme der Staatverschuldung durch Rückgang der staatlichen Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen aufgrund sinkender Einkommen bei gleichzeitigem Anstieg der Sozialausgaben. Eine konjunkturelle Überhitzung (Hochkonjunktur) ist zum einen wirtschafts- und gesellschaftspolitisch problematisch, weil sie über kurz oder lang die nächste Rezession einläutet. Die Empirie der letzten Jahrzehnte zeigt, dass der konjunkturelle Fall häufig umso tiefer war, je größer der Boom zuvor war. Negativwirkungen der Expansion und Hochkonjunktur sind zum anderen:  steigende Inflationsrate (→ Kap. 20),  Fehlallokation von Produktionsfaktoren und Überinvestition,  Überschuldung der Wirtschaftssubjekte infolge zu positiver Einkommens- und Absatzerwartungen sowie in Erwartung einer steigenden Inflation,  Überbewertung von Aktien, Immobilien oder anderen Vermögenswerten, die kippen und in eine abrupte Rezession führen kann (sog. Platzen von Spekulationsblasen).  Aufgabe 3: Überlegen Sie! Die Hochkonjunktur wird aus der individuellen (einzelwirtschaftlichen) Sicht der Wirtschaft überwiegend als positiv empfunden. Es gibt indes auch vereinzelt individuell empfundene Nachteile. Nennen und erklären Sie jeweils aus Sicht eines privaten Haushalts, eines Unternehmens und des Staates zwei „individuelle“ Vorteile und je einen „individuellen“ Nachteil, die bei Expansion/ Hochkonjunktur empfunden werden können. <?page no="42"?> Teil II: Leitbild und Ziele A Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 5 Gleichgewichtsbegriff Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht kann als das zentrale Leitbild der Stabilitätspolitik erachtet werden. Unter Leitbild ist eine Vorstellung über einen anzustrebenden Zustand zu verstehen, der einen hohen Allgemeinheitsgrad aufweist und den Handelnden zur Orientierung dient. Ein Leitbild ist zwar zunächst ein gedankliches Ideal, aber im Vergleich zu Utopien oder Visionen ist es näher an der Praxis und erscheint zumindest grundsätzlich realisierbar. Einige Leser kennen den Begriff des Marktgleichgewichts bereits aus der Mikroökonomie. Verkürzt wird gesagt, dass der Markt für ein Gut x (z.B. für Eiscreme) dann im Gleichgewicht ist, wenn geplante Nachfrage und Angebot übereinstimmen. Dann wird nämlich der Markt geräumt, ohne dass z.B. zahlungsbereite Nachfrager nicht zum Zuge kämen oder Anbieter z.B. ungeplante Lagerbestände aufbauen müssten. Marktgleichgewicht bedeutet, dass die Pläne der Wirtschaftssubjekte (Anbieter und Nachfrager) in Erfüllung gehen. Damit besteht für die Marktteilnehmer ceteris paribus („unter sonst gleichen Bedingungen“) kein Anlass für Verhaltensänderungen. Sprich: Der Markt ist in Balance. Preis und Menge sind stabil und bleiben es auch, soweit keine äußeren Einflüsse den Markt ins Ungleichgewicht bringen. In der volkswirtschaftlichen Theorie werden solche marktrelevanten Ereignisse, die außerhalb des Modells verursacht werden, als exogene Störungen oder - besonders in der Makroökonomie - als exogene Schocks bezeichnet. Auf dem Eiscrememarkt wäre z.B. ein Kälteeinbruch oder ein Anstieg des Milchpreises eine exogene Störung, welche die Konsumenten bzw. Produzenten zu Verhaltensänderungen bewegen würde. Das Bild des ausbalancierten Marktes lässt sich auch auf die Makroökonomie übertragen: Gleichgewicht auf den gesamtwirtschaftlichen Märkten ist durch die Stabilität gesamtwirtschaftlicher Mengen und Preise gekennzeichnet, etwa der gesamtwirtschaftlichen Produktion und des Preisniveaus. Der Begriff der Stabilität darf indes nicht mit Starrheit gleichgesetzt werden. Zum einen rufen die vielen exogenen Störungen (z.B. Änderungen der Auslandsnachfrage oder Ölpreisänderungen) immer wieder Verhaltensänderungen und Anpassungsbedarf hervor. Zum anderen entwickeln sich marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaften aus sich heraus weiter, etwa durch technischen Fortschritt. Neben exogene treten endogene Veränderungen. Da eine Volkswirtschaft also ein dynamischer Prozess ist, müsste im Kontext des gesamtwirtschaftli- <?page no="43"?> 44 Leitbild und Ziele chen Gleichgewichts streng genommen von der stabilen Entwicklung gesamtwirtsc haft lic he r Me nge n und Pr eis e gesp roche n wer d en , an sta tt vo n i hrer St abil it ät (im Sinne von Starrheit). Der handlungsweisende Charakter dieses makroökonomischen Leitbilds wird in Deutschland daran deutlich, dass der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Eingang in die Verfassung gefunden hat. Der alte Artikel 115 des G RUNDGE- SETZES (Fassung von 1967) zur prinzipiellen Begrenzung der Staatsverschuldung lautete: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“ (Art. 115 Abs. 1 Nr. 2 GG, Hervorhebung nicht im Original) Mit der Verankerung der Schuldenbremse im Jahr 2009 (→ Wissensbox 34) entfiel zwar der Gleichgewichtsbegriff in Art. 115 GG. Er findet sich aber in Artikel 109: „Bund und Länder erfüllen gemeinsam die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin und tragen in diesem Rahmen den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung.“ (Art. 109 Abs. 2, Hervorhebung nicht im Original) Der deutsche Gesetzgeber konkretisiert im S TABILITÄTSGESETZ von 1967 den gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtsbegriff als „Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“ (§1 S TAB G). Das Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts wird auch als externes Gleichgewicht und die übrigen drei Ziele als internes Gleichgewicht bezeichnet. S TABILITÄTSGESETZ ist die nichtamtliche Abkürzung für das im Jahr 1967 in Kraft getretene G ESETZ ZUR F ÖRDERUNG DER S TABILITÄT UND DES W ACHS- TUMS DER W IRTSCHAFT (S TAB G). Das S TAB G fällt unter das allgemeine Wirtschaftsverwaltungsrecht. 6 Magisches Viereck der Wirtschaftspolitik Die genannten Ziele sind die vier Ziele, die gemeinsam als Magisches Viereck der Wirtschaftspolitik bezeichnet werden (→ Abb. 6.1). Das Adjektiv „magisch“ spiegelt die These wider, dass es geradezu an Zauberei grenze, wenn alle Ziele gleichzeitig realisiert würden. Dies liegt vor allem daran, dass zwischen den vier Zielen teilweise Konkurrenzbeziehungen herrschen können (→ Kap. 31ff.). Der Begriff des Magischen Vierecks der Wirtschaftspolitik hält sich in Deutschland seit mittlerweile über einem halben Jahrhundert. Und dies, obwohl er unbefriedigend erscheint, da die Oberziele der Wirtschaftspolitik wesentlich über diese vier Ziele hinausgehen. Sie umfassen u.a. <?page no="44"?> Magisches Viereck der Wirtschaftspolitik 45 auch Verteilungsgerechtigkeit, funktionierenden Wettbewerb und Umweltschutz (→ Kap. 39f.). Somit erscheint es treffender, vom „Magischen Viereck der Stabilitätspolitik“ bzw. der „Konjunktur- und Wachstumspolitik“ zu sprechen oder eben von gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht. Abb. 6.1: Das Magische Viereck der Stabilitätspolitik In den folgenden vier Kapiteln werden die einzelnen Ziele näher beleuchtet. Dabei stehen vier Fragen im Mittelpunkt:  Begriff und Abgrenzung. Auf welchen Sachverhalt stellt das Ziel grundsätzlich ab?  Begründung. Wie lässt sich das Ziel (ökonomisch) begründen?  Indikatoren. Welche geeigneten Zielerreichungsindikatoren gibt es?  Zielwertbestimmung. Welche Werte sollten die Indikatoren annehmen, damit das Ziel als erreicht erachtet wird? Welche Ansätze gibt es zur Bestimmung und was folgt aus ihnen für die Praxis? Vollbeschäftigung Preisniveaustabilität außenwirtschaftliches Gleichgewicht Wachstum <?page no="46"?> B Vollbeschäftigung/ Hoher Beschäftigungsstand 7 Begriff und Abgrenzung In der makroökonomischen Theorie wird das Ziel des hohen Beschäftigungsstands meistens als Vollbeschäftigungsziel bezeichnet. Im Bereich der Theorie der Wirtschaftspolitik werden die zwei Begriffe häufig als gleichbedeutend erachtet, auch wenn sie aus semantischem Blickwinkel nicht identisch erscheinen. Im Folgenden werden die Begriffe synonym verwendet, soweit nicht ausdrücklich ein Unterschied hervorgehoben wird. Zunächst ist zu klären, welche oder wessen Beschäftigung auf einem hohen Stand sein soll. Grundsätzlich ist hiermit die Beschäftigung bzw. Auslastung der Produktionsfaktoren im gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess gemeint. Es werden jedoch weder alle verfügbaren Produktionsfaktoren, noch die vollumfängliche Produktion in die Zielanalyse einbezogen. Der Be griff Vo llbes ch ä ftig ung b ezieh t si ch zuvo rder st auf den Pr odukt io nsf akt or Arbeit. Außerdem wird auch der Beschäftigungsgrad des Produktionsfaktors Kapital einbezogen, der vereinfachend mit dem produzierten Anlagekapital gleichgesetzt wird. Das bedeutet, dass z.B. der Produktionsfaktor Umwelt nicht einbezogen wird. Dies leuchtet unmittelbar ein, denn seine Vollbeschäftigung ist kein gesellschaftspolitisches Ziel. Die Umweltziele sind andere, etwa der Schutz oder die nachhaltige Nutzung der Umwelt (→ Kap. 40). Außerdem ergibt es für die meisten Umweltgüter keinen Sinn, von Vollbeschäftigung zu sprechen. Was wäre z.B. mit der Vollauslastung der Wattenmeere oder der Erdatmosphäre gemeint? Ähnliches gilt auch für das Image, die institutionelle Infrastruktur und das immaterielle Sozialkapital. So lässt sich der Bestand an „Image“, institutioneller Rahmensetzung seitens des Staates oder des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft schwer berechnen. Und noch weniger lässt sich dessen jeweiliger - wie auch immer definierter - „Auslastungsgrad“ ermitteln. Die Beschäftigung der Produktionsfaktoren Humankapital und technischer Fortschritt ist ebenfalls kein ausdrücklicher Gegenstand der Beschäftigungsdiskussion. Allerdings ist ihre Vollbeschäftigung indirekt im gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsziel enthalten. Das liegt daran, dass das Humankapital und der Stand der Technik unmittelbar in den Produktionsfaktoren Arbeit bzw. Kapital inkorporiert sind. Vereinfachend kann angenommen werden, dass die Vollbeschäftigung von Arbeit und Kapital automatisch eine relativ hohe Auslastung des Humankapitals und des Stands des Wissens bzw. der Technik mit sich bringt. Im Mittelpunkt der Beschäftigungstheorie und -politik steht erstens die Güterproduktion, an denen die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital beteiligt sind. Zweitens wird nur die entgeltliche Leistungserstellung betrachtet. Das bedeutet, dass unentgeltlich erstellte Leistungen nicht zu dem hier relevanten gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess zählen. Damit werden z.B. ehrenamtliche Tätigkeiten sowie unbezahlte Dienstleistungen im Haushalt (Reinigungs-, Erziehungs-, Heimwerker-, Bastelarbeiten usw.) und Nachbarschaftshilfe nicht berücksichtigt. Die ausschließlich mit diesen Tä- <?page no="47"?> 48 Leitbild und Ziele tigkeiten beschäftigten Personen zählen ebenso wenig zu den Beschäftigten wie etwa ni chterwer bstä tige Studier ende. Unter Vollbeschäftigung wird hier ein hoher Beschäftigungsstand verstanden, bei dem die Arbeitskräfte und das Kapital in einer Volkswirtschaft gut ausgelastet sind (Normalauslastung). Unter Beschäftigung wird die entgeltliche Beschäftigung einschließlich der beruflichen Selbstständigkeit verstanden. 8 Begründung für die Vollbeschäftigung der Arbeit Bei Zielsetzungen, die den Arbeitsmarkt betreffen, sollte stets bedacht werden, dass es unmittelbar um Menschen geht, da Arbeitsleistungen untrennbar an Menschen gebunden sind. Daher gehen Begründungen für das Vollbeschäftigungsziel weit über das rein wirtschaftliche Ziel eines höchstmöglichen materiellen Wohlstands hinaus. Hinzu kommen sowohl andere gesamtgesellschaftliche Gründe als auch individuelle Begründungen. Gesamtwirtschaftliche und -gesellschaftliche Gründe  Materieller Wohlstand. Eine möglichst hohe Auslastung der Arbeitskräfte führt c.p. zu einer hohen Güterproduktion, welche in der Regel wiederum eine hohe Versorgung mit Gütern ermöglicht und somit zu materiellem Wohlstand beiträgt.  Fiskalische Gründe. Soweit eine höhere Beschäftigung mit einem höheren Inlandsprodukt und Nationaleinkommen gleichzusetzen ist, impliziert sie in der Regel eine höhere Steuerbasis. Somit verfügt der Staat unter sonst gleichen Bedingungen über höhere Einnahmen als ein Land mit niedrigerem Inlandsprodukt. Diese Einnahmen stehen dann zur Tätigung wohlfahrtssteigernder Ausgaben zur Verfügung. Alternativ kann der Staat bei höherer Steuerbasis ein gegebenes Ausgabenniveau mit niedrigeren Steuersätzen realisieren, so dass die Menschen über einen größeren Teil ihres Erwirtschafteten frei verfügen können. Außerdem muss der Staat bei Vollbeschäftigung geringere Ausgaben als bei Unterbeschäftigung tätigen, etwa zur sozialen Absicherung von Arbeitslosenhaushalten, so dass auch deshalb der Spielraum für andere potenziell wohlfahrtserhöhende Ausgaben steigt.  Erhalt und Aufbau von Humankapital. Sind Menschen über längere Zeit arbeitslos, verlieren sie oft ihr berufsspezifisches Know-how und weitere Fähigkeiten, womit der gesamtwirtschaftliche Bestand an Humankapital sinkt. Eine hohe Beschäftigung fördert nicht nur den Erhalt, sondern in Folge des learning by doing (training on the job) auch die Vergrößerung des Humankapitalstocks.  Krankheitsprävention. Ein Teil der Arbeitslosen, insbesondere die von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffenen, reagiert mit psychischen Beschwerden, wie z.B. Depressionen oder psychosomatischen Krankheiten. Gesundheitspolitische Gründe können daher auch als Begründung für das Beschäftigungsziel herangezogen werden. Allerdings muss hier relativierend beachtet werden, dass es zugleich eine hohe Zahl von Gesundheitsproblemen gibt, die berufsbedingt auftreten und daher auf Erwerbstätigkeit und nicht auf Arbeitslosigkeit zurückzuführen sind. <?page no="48"?> Begründung für die Vollbeschäftigung der Arbeit 49  Erhalt des quantitativen Arbeitskräftepotenzials. Mehrjährige Erwerbslosigkeit kann sogar dazu führen, dass die allgemeine Erwerbsfähigkeit eines Menschen verloren geht, da soziale Fähigkeiten abnehmen können, die (nicht nur) in der Berufswelt als wichtig gelten. Hierzu zählen Motivation und sog. „Sekundärtugenden“, wie z.B. Ordnung, Pünktlichkeit, Disziplin, Zuverlässigkeit und Fleiß.  Kriminalitäts- und Gewaltprävention. Die meisten Erwerbsfähigen erzielen den Großteil ihres Einkommens aus Erwerbstätigkeit. Verlieren sie ihre Arbeit, geht damit häufig ein spürbarer Einkommensverlust einher. Daher wird vermutet, dass mit steigender Arbeitslosigkeit die Gefahr der Einkommenskriminalität in einer Gesellschaft zunimmt. Vereinzelte Studien zeigen zudem, dass Arbeitslosigkeit und parallele Einkommensungleichheit mit der Zahl von Gewaltdelikten positiv korrelieren. Dabei scheinen junge Männer tendenziell am ehesten mit aggressivem Verhalten zu reagieren. Tatsächliche oder vermeintliche Aussichtslosigkeit, der subjektiv und objektiv niedrigere gesellschaftliche Status von Arbeitslosen oder ein geringes Selbstwertgefühl in einer durch Konsum und Erwerbstätigkeit geprägten Gesellschaft mögen hierfür ursächlich sein.  Sozialer Frieden und Erhalt des Sozialkapitals. Soweit eine hohe Arbeitslosigkeit mit Kriminalität und Aggression, erheblicher Einkommensungleichheit, sozialer Spaltung und dem Verlust sozialer Kompetenzen einhergeht, mindert sie das Sozialkapital einer Volkswirtschaft und gefährdet den sozialen Frieden bis hin zu gesellschaftlichen Unruhen. Die Begründungen, die aus einzelwirtschaftlicher Sicht gegen Erwerbslosigkeit sprechen, sind mannigfaltig, da sie vom einzelnen Individuum abhängen. Somit muss die folgende Aufzählung unvollständig bleiben. Individuelle Gründe  Einkommenssicherung. Erwerbstätigkeit ist in den Industrieländern die Haupteinkommensquelle der Menschen. Im Jahr 2012 bezogen die privaten Haushalte in Deutschland im Durchschnitt ca. 62 % ihres monatlichen Bruttoeinkommens (insgesamt knapp 4.000 EUR) aus selbstständiger oder unselbstständiger Erwerbstätigkeit. 22,5 % des Einkommens stammten aus staatlichen Transferzahlungen und nur 10 % aus Vermögen (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2015). Da sich zudem knapp 60 % des Vermögens auf nur 10 % aller Haushalte verteilen, ist anzunehmen, dass das Markteinkommen der meisten Menschen vom Erwerbseinkommen dominiert wird (D EUTSCHE B UNDESBANK , 2013).  Zufriedenheit durch Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft. Empirische Studien für Deutschland kommen zu dem Ergebnis, dass Erwerbstätigkeit für die Zufriedenheit und das Wohlbefinden erwachsener Menschen sehr bedeutsam ist. Auswertungen des SOEP (S OZIO - OEKONOMISCHES P ANEL ) ergeben, dass nur die Gesundheit und das Familienleben wichtiger sind, während das Haushaltseinkommen ein ähnlich bedeutsamer Zufriedenheitsfaktor wie die Erwerbstätigkeit ist. Erwerbstätige sind im Durchschnitt deutlich zufriedener als Arbeitslose (→ Abb. 8.1). Die Zahl von rund 1,3 Mio. Sozialhilfeempfängern (sog. Hartz IV-Aufstocker), die im Jahr 2013 trotz geringer finanzieller Anreize einer niedrig entlohnten oder geringfügigen Beschäftigung nachgingen (B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT , 2014, S. 10), spricht ebenfalls dafür, dass die Beschäftigung für viele Menschen einen Nutzen jenseits des Einkommens birgt. <?page no="49"?> 50 Leitbild und Ziele  Selbstwertgefühl, soziale Wertschätzung und soziale Kontakte nehmen bei Arbeitslosigkeit oft ab, was die negative Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Zufriedenheit mit erklären dürfte. Gleiches gilt für psychische und psychosomatische Gesundheitsprobleme, die bei längerer Arbeitslosigkeit auftreten können.  Sicherheitsgefühl. Insbesondere länger andauernde Arbeitslosigkeit erzeugt Unsicherheit und Angst bei Menschen, da sie fürchten, dass ihre Arbeitsmarktchancen sinken, u.a. weil das berufliche Wissen und die Qualifikation abnehmen bzw. potenzielle Arbeitgeber dies vermuten. Quelle: SOEP, 2015 (eigene Berechnungen). Erläuterung: Durchschnittliche, allgemeine und gegenwärtige Lebenszufriedenheit der Erwerbstätigen (Voll- und Teilzeit) sowie Arbeitslosen in West- und Ostdeutschland; Skala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) Abb. 8.1: Selbsteinschätzung der Zufriedenheit in Deutschland 1991-2013 9 Beschäftigungsindikatoren Arbeitslosenquote 9.1 Die Arbeitslosenquote (ALQ) ist zweifelsohne der meistgenannte Indikator für den Erreichungsgrad des Ziels der Vollbeschäftigung. Sehr allgemein ist unter der Arbeitslosenquote ein Quotient aus der Zahl (#) der Arbeitslosen und der Zahl (#) der verfügbaren Arbeitskräfte zu verstehen. Sie gibt an, wie viel Prozent der gesamtwirtschaftlich verfügbaren Arbeitskräfte arbeitslos sind. Arbeitslosenquote ALQ # Arbeitslose # Arbeitskräfte ⋅ 100 4 4,5 5 5,5 6 6,5 7 7,5 8 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 Lebenszufriedenheit (Skala von 0 bis 10) Erwerbstätige West Erwerbstätige Ost Arbeitslose West Arbeitslose Ost <?page no="50"?> Beschäftigungsindikatoren 51  Was meinen Sie? Wie würden Sie Ihre Arbeitslosenquote (Zähler und Nenner) konkret definieren? Sprich: Welche Personen würden Sie zu den Arbeitslosen und welche zu den Arbeitskräften zählen? Die Aussagefähigkeit einer Arbeitslosenquote hängt insbesondere davon ab, wer zu den Arbeitslosen und wer zu den Arbeitskräften gezählt wird. Das denkbare Spektrum ist enorm groß und normative Vorstellungen spielen bei der Begriffsabgrenzung ebenso wie Fragen der Praktikabilität eine große Rolle. Zur Illustration werden vier Fragen erörtert, die es zu klären gilt.  Zählen zu den Arbeitslosen auch die Menschen, die gar nicht erwerbstätig sein möchten? Zu politischen oder wirtschaftlichen Ordnungen, in denen das Individualprinzip und die individuelle Freiheit einen hohen Stellenwert einnehmen, passt es, wenn nur die Menschen in der Arbeitslosenquote berücksichtigt werden, die erwerbstätig sein möchten. Es ist indes auch denkbar, dass das dominierende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ziel in der maximalen Produktion materieller Güter bestünde. Dann wäre es erstrebenswert, möglichst alle erwerbsfähigen Personen im Produktionsprozess voll einzusetzen, gegebenenfalls auch gegen ihren Willen. Dann böten sich als Nenner die Zahl aller erwerbsfähigen Menschen und als Zähler z.B. alle erwerbsfähigen Beschäftigungslosen an.  Nicht-Erwerbsfähige zählen ex definitione nicht zu den Arbeitslosen. Welche Menschen gelten aber als nicht erwerbsfähig? Das Alter gilt in der Praxis als ein maßgebliches Kriterium für die Erwerbsfähigkeit. In Deutschland werden traditionell Menschen unter 15 Jahren und über dem gesetzlichen Renteneintrittsalter (65- 67 J.) per se nicht zu den Erwerbsfähigen gezählt. Man könnte das Erwerbsfähigkeitsalter aber auch anders festlegen. So konzentrieren sich viele Arbeitsmarktanalysen des S TATISTISCHEN B UNDESAMTS zunehmend auf die Bevölkerung zwischen 19 und 65 Jahren (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2016b). Die I NTERNATIONALE A R- BEITSORGANISATION ( ILO) empfiehlt das Alter von 14-74 Jahre. In der Statistik der USA gibt es hingegen kein vorgegebenes Höchstalter und das Erwerbsfähigkeitsalter beginnt erst bei 16 Jahren. Behinderte, chronisch Kranke und gebrechliche Menschen gelten als nicht erwerbsfähig, wenn die Behinderung, die Krankheit oder die altersbedingte Gebrechlichkeit eine Erwerbstätigkeit nicht zulassen. Auch hierfür müssen Kriterien festgelegt werden, die aber nicht jedem Einzelfall gerecht werden dürften.  Welche Erwerbsfähigen zählen zu den Arbeitslosen? Es ist üblich, nur die Arbeitskräfte zu den Arbeitslosen zu zählen, die Arbeit suchen und dem Arbeitsmarkt kurzfristig zur Verfügung stehen. Damit gelten z.B. Menschen, die aufgrund fehlender Angebote zur Betreuung ihrer Kinder oder zur Pflege von Angehörigen nicht erwerbstätig sein können, per se nicht zu den Arbeitslosen.  Angenommen, eine Person hat einen Job mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 4 Stunden und würde gerne halbtags (etwa 20 Std./ Woche) arbeiten: Wörtlich genommen ist sie zwar nicht arbeitslos, aber dennoch arbeitsuchend. Zählen Beschäftigte, die mehr arbeiten möchten, zu den Arbeitslosen oder nicht? <?page no="51"?> 52 Leitbild und Ziele  Aufgabe 4: Überlegen Sie! a) Welchen Einfluss üben die jeweiligen alternativen Definitionen auf die Höhe der Arbeitslosenquote aus? b) Welchen weiteren Klärungsbedarf können Sie außer dem o.g. identifizieren? Fest steht, es gibt nicht die eine und einzige „richtige“ Definition der Arbeitslosenquote. In Deutschland finden hauptsächlich zwei Arbeitslosenquoten (ALQ) Anwendung. Diese sind die Arbeitslosenquote der B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT (BA) und die Arbeitslosenquote nach dem ILO-Konzept (→ Wissensbox 3). Letztere wird vom S TATISTISCHEN B UNDESAMT in Ergänzung zur Erwerbstätigenrechnung veröffentlicht und wird in der EU nach einheitlichen Vorgaben ermittelt.  Wissensbox 3: Was ist die I NTERNATIONAL L ABOUR O RGANIZATION (ILO)? Die ILO existiert seit knapp 100 Jahren. „Sie ist zuständig für die Formulierung und Durchsetzung internationaler Arbeits- und Sozialstandards. Die weltweit geltenden Mindeststandards sollen die Rechte bei der Arbeit und damit menschenwürdige Arbeit für alle Menschen auf der Welt sicherstellen.“ (I NTERNATIONAL L ABOUR O RGANIZATION , 2015) In ihren ersten Konventionen ging es um den 8-Stunden-Tag, die 48-Stunden- Woche, ein Mindestalter für die Industriearbeit und den Mutterschutz. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückten die kollektiven Arbeitsrechte (Vereinigungsfreiheit, kollektive Lohnverhandlungen) stärker in den Vordergrund. Seit Anfang dieses Jahrhunderts bildet der Begriff der decent work und das Ziel der „guten Arbeit für alle“ den Dreh- und Angelpunkt. Die ILO ist mittlerweile eine Sonderorganisation der V EREINTEN N ATIONEN und heißt ins Deutsche übersetzt I NTERNATIONALE A RBEITSORGANISATION (IAO). Sie ist durch ihre Dreigliedrigkeit einzigartig innerhalb des Systems der V EREINTEN N ATIONEN : In ihren Gremien sind die 187 Mitgliedstaaten (Oktober 2017) jeweils durch einen Vertreter der Regierung, der Arbeitnehmer(-verbände) und der Arbeitgeber(-verbände) vertreten. Der Hauptsitz ist in der Schweiz in Genf. Darüber hinaus unterhält sie Zweigstellen in ca. 50 Ländern, darunter eine in Berlin. Deutschland wird erstmals 1919 Mitglied der ILO, trat 1933 unter der Hitler- Regierung jedoch wieder aus. Die Bundesrepublik wird Mitte der 1950er Mitglied, die DDR im Jahr 1974. Deutschland zählt inzwischen zu den wichtigsten Geldgebern der ILO. Im Nenner beider Arbeitslosenquoten steht die Zahl der Erwerbspersonen. Im Allgemeinen setzen sich die Erwerbspersonen aus den Erwerbstätigen plus den Arbeitslosen zusammen. Die B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT (BA) erfasst in ihrer Arbeitslosenquote jedoch nur zivile Erwerbspersonen, d.h. Soldaten werden nicht mitgerechnet. Schließlich unterscheidet man, ob lediglich die abhängig Beschäftigten oder alle Er- <?page no="52"?> Beschäftigungsindikatoren 53 werbstätigen (abhängig Beschäftigte plus Selbstständige und mithelfende Familienangehörige) eingerechnet werden. Letzteres ist heute üblich, wenn man den gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarkt betrachtet. Handelt es sich indes um Teilarbeitsmärkte - z.B. räumlich oder nach Strukturvariablen wie Alter, Geschlecht etc. getrennt - bezieht die BA regelmäßig nur abhängig Beschäftigte in den Nenner ein. Ein Grund hierfür ist die Zuverlässigkeit der Daten: So können für Teilmärkte einigermaßen verlässliche und differenzierte Daten zu abhängig Beschäftigten z.B. mithilfe der gesetzlichen Sozialversicherungen ermittelt werden, nicht aber zu Selbstständigen. B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT : Definition von Arbeitslosen 9.1.1 In der ALQ der BA werden nur diejenigen zu den Arbeitslosen gezählt, die bei den Arbeitsagenturen als solche registriert sind. Der Begriff der Arbeitslosigkeit ergibt sich aus dem S OZIALGESETZBUCH (SGB III). Arbeitslos ist demnach, wer  regelmäßig unter 15 Wochenstunden beschäftigt ist (15-Stunden-Kriterium),  zugleich bereit ist, regelmäßig mind. 15 Wochenstunden zu arbeiten und den Vermittlungsbemühungen der A GENTUR FÜR A RBEIT zur Verfügung steht,  mind. 15 Jahre alt ist und das gesetzliche Renteneintrittsalter noch nicht erreicht hat,  arbeitsfähig ist und  sich persönlich bei einer Arbeitsagentur bzw. einem Jobcenter arbeitslos gemeldet hat. Außer d em g el ten M en s ch en , a uc h w en n s ie alle diese K rite rien er f ü lle n, nac h S GB dann nicht als arbeitslos, wenn sie  Schüler, Studierende, Rentner oder Kurzarbeiter sind,  58 Jahre oder älter sind und seit 12 Monaten kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsangebot erhalten haben bzw. im Vorruhestand sind,  wegen familiärer Erziehungs- oder Pflegearbeit zu stark eingebunden sind,  kurzfristig erkrankt sind oder  sich in einer Maßnahme aktiver Arbeitsmarktpolitik befinden (Weiterbildung, Umschulung, Ein-Euro-Job etc.). Die Berechnung der ALQ über die Schlüsselgröße der nach dem SGB definierten Arbeitslosen ist nicht ohne Probleme. Das notwendige Kriterium der Registrierung führt dazu, dass diejenigen nicht in die Arbeitslosenquote eingehen, die zwar gern arbeiten würden und könnten, aber nicht offiziell arbeitslos gemeldet sind. Ein Grund kann sein, dass sie keine Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung haben und ihre Vermittlungschancen durch die Arbeitsagentur als sehr niedrig einschätzen. Sie bilden die sog. stille Reserve im engeren Sinne. Auf der anderen Seite lässt sich in der Praxis nicht vermeiden, dass registrierte Arbeitslose mit eingehen, die gar nicht die Absicht haben, zu arbeiten. Schattenwirtschaftliche Tätigkeiten (Schwarzarbeit) können außerdem nicht hinreichend erfasst werden, so dass ggfs. sogar Vollzeitbeschäftigte in die Arbeitslosenzahl eingehen. <?page no="53"?> 54 Leitbild und Ziele Schließlich zählen Arbeitsuchende in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, BAgefö rd erter S el bststä nd igkei t od er V or r uh estan d nich t als ar b eitslo s. Da s füh rt u.a. dazu, dass sich die ALQ „kosmetisch“ drücken lässt, indem die Zahl der Menschen, die in solche Maßnahmen geschickt werden, erhöht wird. Dieser Kreis der Arbeitsuchenden wird als stille Reserve in Maßnahmen bezeichnet. In den Medien wird meistens die Arbeitslosenquote der BA wiedergegeben. Im internationalen und im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext wird hingegen überwiegend die Arbeitslosenquote nach dem ILO-Konzept verwendet. Sie wird in Deutschland häufig als Erwerbslosenquote bezeichnet, um Verwechslungen mit der ALQ der BA zu vermeiden. ILO-Konzept: Definition von erwerbslos 9.1.2 Die Erwerbslosenquote basiert auf Daten aus Repräsentativbefragungen und Mikrozensen, die gemäß dem Labour-Force-Konzept der ILO durchgeführt werden. Somit unterscheidet sich die Berechnungsgrundlage erheblich von der Meldestatistik der BA. Nach dem Labour-Force-Konzept ist nur erwerbslos, wer zugleich  gar keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, d.h. in dem Berichtzeitraum (meist 1 Woche) nicht einmal eine Stunde arbeitet (1-Stunden-Kriterium),  eine Beschäftigung von mindestens einer Wochenstunde sucht und in den letzten vier Wochen spezifische Suchschritte unternommen hat,  eine Tätigkeit kurzfristig aufnehmen kann, d.h. binnen zwei Wochen und  14 bis 74 Jahre alt ist (optional kann das nationale Statistikamt diese Vorgabe durch das gesetzliche Mindesterwerbsalter und das gesetzliche Renteneintrittsalter ersetzen).  Was meinen Sie? Laut Arbeitslosendefinition der B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT (SGB) ist eine Person nicht arbeitslos, wenn sie 15 Std./ Woche oder mehr erwerbstätig ist (15- Stunden-Kriterium). Gemäß dem Erwerbslosenkonzept der I NTERNATIONA- LEN A RBEITSORGANISATION ist eine Person nicht arbeitslos, wenn sie in der Berichtswoche eine Stunde oder mehr erwerbstätig war (1-Stunden-Kriterium).  Welches Kriterium finden Sie passender?  Wie würden Sie das Ihrer Ansicht nach ideale Stunden-Kriterium definieren? Arbeitsuchende Studierende, nichtgemeldete Arbeitsuchende und Arbeitsuchende in Weiterbildungsmaßnahmen etc. gehen in die Quote nach dem ILO-Konzept ein, nicht aber in die ALQ der BA. Andererseits zählen arbeitsuchende Teilzeit- oder Kurzzeitbeschäftigte nach dem ILO-Konzept niemals zu den Erwerbslosen, auch wenn sie nur ein paar Stunden die Woche oder nur für sehr kurze Zeit beschäftigt sind. Unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte oder Kurzzeitbeschäftigte zählen nach der BA-Definition hingegen dann zu den Arbeitslosen, wenn sie weniger als 15 Std./ Woche oder nicht regelmäßig arbeiten und die anderen SGB-Kriterien erfüllen. <?page no="54"?> Beschäftigungsindikatoren 55 → Tab. 9.1 lässt erkennen, dass die ALQ der BA deutlich höher ist als die Erwerbslosenquote gemäß ILO. Dies liegt nur zu einem geringen Teil an der Größe des Nenners. Hauptursächlich ist der deutlich größere Zähler. Die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen von ca. 2,7 Mio. war 2016 um eine Mio. höher als die der Erwerbslosen. Hierfür dürften vor allem arbeitslos gemeldete, unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte - darunter schätzungsweise knapp 500 Tsd. Minijobber (K ÖRNER , M EINKEN und P UCH , 2013, S. 51) - ausschlaggebend sein. Ihre Zahl übersteigt offensichtlich die Zahl derer, die laut ILO-Konzept erwerbslos, aber gemäß der BA-Definition nicht arbeitslos sind, z.B. arbeitsuchende Schüler, Studierende, Rentner und ca. 800 Tsd. Personen in Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik.  Wissensbox 4: Verschiedene Arbeitslosenquoten im Überblick: Konzepte der B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT  Bezogen auf die zivilen Erwerbspersonen: # gemeldete Arbeitslose # zivile Erwerbstätige gemeldete Arbeitslose ⋅ 100 Im Zähler erscheinen nur Arbeitsuchende, die bei den Arbeitsagenturen gemeldet sind und die Kriterien für Beschäftigungslosigkeit des S OZIALGESETZBUCHES (SGB III) erfüllen. Hierunter fallen auch Beschäftigte mit einer Wochenarbeitszeit unter 15 Stunden, soweit sie die übrigen Kriterien erfüllen. Schüler/ innen, Studierende, Rentner/ innen gelten ebenso wie Menschen in aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen (z.B. Qualifizierungsmaßnahmen) nicht als arbeitslos.  Bezogen auf abhängig Beschäftigte und Arbeitslose (d.h. ohne Selbstständige etc.): # gemeldete Arbeitslose # abhängig Beschäftigte gemeldete Arbeitslose ⋅ 100 ILO-Konzept: Erwerbslosenquote des S TATISTISCHEN B UNDESAMTS # Erwerbslose # alle Erwerbstätigen Erwerbslose ⋅ 100 Erwerbslosigkeit wird hier durch Befragungen ermittelt. Als erwerbsbzw. arbeitslos gilt nur, wer gar nicht erwerbstätig ist (1-Stunden- Kriterium), aktiv eine Arbeit sucht, erwerbsfähig und kurzfristig verfügbar ist. Das Symbol der Raute (#) steht für Anzahl. (Zivile) Erwerbstätige und Arbeits-/ Erwerbslose ergeben zusammen die Gruppe der (zivilen) Erwerbspersonen. <?page no="55"?> 56 Leitbild und Ziele Indikator Bevölkerung 82,2 Mio. im erwerbsfähigen Alter (15-64 J.) 54 Mio. im erwerbsfähigen Alter, ILO-Konzept (15-74 J.) 62,1 Mio.* Erwerbspersonenpotenzial (IAB) 46,5 Mio.* Erwerbstätige (BA) 43,4 Mio. gemeldete Arbeitslose 2,7 Mio. Langzeitarbeitslose (mind. 12 Monate) 0,9 Mio. Unterbeschäftigung (BA-Konzept o. Kurzarbeit) 3,6 Mio. Erwerbstätige (ILO) 41,5 Mio. Erwerbslose (ILO) 1,7 Mio. Langzeiterwerbslose (mind. 12 Monate) 0,7 Mio. Langzeiterwerbslose (mind. 24 Monaten) 0,5 Mio. ungenutztes Arbeitskräftepotenzial (ILO-Konzept) 5,4 Mio. Unterbeschäftigte 2,6 Mio. unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte 1,4 Mio. Arbeitslosenquote (BA-Konzept) 6,0 % Unterbeschäftigungsquote (BA-Konzept o. Kurzarbeit) 8,1 % Erwerbslosenquote (ILO-Konzept) 4,1 % Quote des ungenutzten Arbeitskräftepotenzials (ILO-Konzept) 12,4 % gemeldete offene Stellen (BA) 650 Tsd. freie Stellen (IAB) 1.000 Tsd. Quelle: B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT , 2017; E UROSTAT 2016; F UCHS et al., 2015; I NSTITUT FÜR A RBEITSMARKT - UND B E- RUFSFORSCHUNG , 2017a; OECD, 2016a; S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2016c; S TATISTISCHES B UNDESAMT 2017. Tab. 9.1: Deutsche Beschäftigungslage im Überblick (2016) <?page no="56"?> Beschäftigungsindikatoren 57  Multiple-Choice-Aufgabe 2: Verständnisüberprüfung: Arbeitslosenquoten In einer Volkswirtschaft leben 120 Mio. erwerbsfähige Personen. Hierunter befinden sich nach dem ILO-Konzept 5 Mio. Erwerbslose und 95 Mio. Erwerbstätige. Nach dem Labour-Force-Konzept beträgt die Zahl der Erwerbspersonen  _____ Mio. Die Erwerbslosenquote beträgt ca.  4,2 %  5,0 %  5,3 % Es gibt nach der Definition der BA insgesamt 6 Mio. Arbeitslose und 100 Mio. Erwerbspersonen, darunter 4 Mio. Soldaten. Die Arbeitslosenquote beträgt dann ca.  6 %  6,25 %  5,88 % Welche Ursache(n) könnte(n) erklären, dass die Arbeitslosenquote (BA) die Erwerbslosenquote (ILO) übersteigt?  Menschen in Maßnahmen aktiver Beschäftigungspolitik (z.B. Umschulung) werden zu den Arbeitslosen (BA), nicht aber zu den Erwerbslosen (ILO) gezählt.  Viele Arbeitslose (BA) gelten nicht als erwerbslos, weil sie einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen.  Rentner können zu den Arbeitslosen (BA) zählen, aber ex definitione nicht zu den Erwerbslosen (ILO). Unterbeschäftigungsquoten 9.2 Das Ausmaß der Unterauslastung der verfügbaren Arbeitskräfte wird durch die gängigen Arbeitslosenquoten nicht umfassend dargestellt, da die ALQ der BA und die Erwerbslosenquote nach dem ILO-Konzept jeweils nur einen Teil des unbeschäftigten Arbeitsangebots erfassen. Unterbeschäftigungsquoten geben zusätzlich Auskunft. Es kann unterschieden werden zwischen der Unterbeschäftigungsquote, die an die ALQ der BA anschließt, und der Unterbeschäftigtenquote, die an die ILO- Definition von Erwerbstätigkeit der ILO gekoppelt ist. Die zwei Quoten drücken sehr unterschiedliche Sachverhalte aus. <?page no="57"?> 58 Leitbild und Ziele Die Unterbeschäftigungsquote wird im deutschsprachigen Raum traditionell als das Ve rhä l tn is von U nterbeschäftigten zur S um me aus Un te rb eschäftigten und E r werbstä tigen definiert. Zu den bekanntesten Unterbeschäftigungsquoten zählen die der BA und der ihr angegliederten Forschungseinrichtung, dem I NSTITUT FÜR A RBEITS- MARKT - UND B ERUFSFORSCHUNG (IAB). Die BA unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Unterbeschäftigten, je nachdem wie nah oder wie weit weg sie vom Arbeitslosenstatus gemäß SGB III sind. Die sog. Unterbeschäftigung im engeren Sinne umfasst im Wesentlichen alle bei der BA gemeldeten Arbeitsuchenden. Dieser Kreis umfasste 2016 neben den knapp 2,7 Mio. registrierten Arbeitslosen die stille Reserve in Maßnahmen (u.a. Qualifizierung, vorruhestandsähnliche Regelungen, Reha- Maßnahmen) von knapp 900 Tsd. Menschen. Die Unterbeschäftigung im weiteren Sinne umschließt außerdem Kurzarbeit und Altersteilzeit sowie aus der Arbeitslosigkeit hervorgehende Selbstständigkeit, soweit diese von der BA gefördert wird. Der Vorteil der Unterbeschäftigungsquoten der BA besteht aus der hohen Zuverlässigkeit der Daten. Der Nachteil ist die eingeschränkte Aussagekraft, da z.B. nichtgemeldete Arbeitsuchende nicht erfasst werden. Das IAB bezieht daher auch rund 200 Tsd. nichtgemeldete Erwerbssuchende in die Unterbeschäftigten mit ein (F UCHS et al., 2014, S. 10; F UCHS et al., 2015; F UCHS et al., 2016, S. 8). Das IAB schätzt diese stille Reserve im engeren Sinne auf der Basis von Haushaltsbefragungen. Die Unterbeschäftigtenquote nach dem Labour-Force-Konzept der ILO ist demgegenüber auf die Unterbeschäftigung von Erwerbstätigen fokussiert. Diese Quote wird im Englischen als rate of time-related underemployment bezeichnet. Sie gibt an, wie viel Prozent der Erwerbstätigen gegen Bezahlung gerne mehr arbeiten würden, verfügbar sind und sich aktiv um Mehrarbeit bemühen. In Anbetracht des 1-Stunden-Kriteriums für Erwerbstätigkeit ist sie eine wichtige Informationsbasis zur Ergänzung der Erwerbslosenquote. Im Jahr 2015 waren etwa 6,5 % der Erwerbstätigen nach Schätzungen des S TATISTISCHEN B UNDESAMTS unterbeschäftigt (→ Tab. 9.1). Das DIW schätzt die Quote sogar auf mind. 20 % (H OLST und B RINGMANN , 2016, S. 6). Die Unterbeschäftigtenquote wird für Deutschland vom S TATISTISCHEN B UNDESAMT auf der Grundlage von Haushaltsbefragungen veröffentlicht, allerdings erst seit 2006. Das S TATISTISCHE B UNDESAMT hält demgegenüber deutlich längere Zeitreihen über das Ausmaß unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung bereit. Als unfreiwillig teilzeitbeschäftigt gilt, wer als Hauptgrund für die Teilzeittätigkeit angibt, dass er oder sie keine Vollzeitstelle gefunden habe. Unter der Quote unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter wird ihr Anteil an allen Teilzeitbeschäftigten verstanden. 15 % der Teilzeitbeschäftigten gaben im Jahr 2015 an, lieber mehr Stunden erwerbstätig zu sein (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2017b). In Ostdeutschland lag sie 2014 sogar über 30 % (R ENGERS , 2015, S. 26). Die OECD veröffentlicht in ihrer online zugänglichen Datenbank auch internationale Zahlen über den Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an allen Erwerbstätigen. Allerdings sind die konkreten Zahlen nicht nur für die verschiedenen OECD-Staaten, sondern auch im Zeitverlauf nur bedingt vergleichbar. Das liegt daran, dass es zum einen internationale Unterschiede hinsichtlich der praktizierten Definition und Erfassungsmethode gibt. Zum anderen haben etliche Länder diese in den zurückliegenden 15 Jahren mehrfach geändert. <?page no="58"?> Beschäftigungsindikatoren 59  Wissensbox 5: Verschiedene Unterbeschäftigungsquoten im Überblick Unterbeschäftigungsquote nach BA-Konzept (vereinfacht u. ohne Kurzarbeit) # gemeldete Arbeitsuchende Altersteilzeitler geförderte Selbstständige Zähler # übrige zivile Erwerbstätige ⋅ 100 Unterbeschäftigungsquote des IAB Zähler wie oben stille Reserve i. e. S. Erwerbspersonenpotenzial ⋅ 100 Das Erwerbspersonenpotenzial umfasst alle zugleich erwerbsfähigen und -willigen Menschen. Es beinhaltet Personen, die ihren Erwerbswunsch realisiert haben, und diejenigen, denen das noch nicht gelungen ist (S TATISTISCHES B UN- DESAMT , 2015b). Unterbeschäftigtenquote nach ILO-Konzept (S TATISTISCHES B UNDESAMT ) # Erwerbstätige, die mehr Arbeit suchen # Erwerbstätige ⋅ 100 Die Quote gibt den Anteil der Erwerbstätigen an, die gegen entsprechendes Entgelt mehr arbeiten möchten. Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung (S TATISTISCHES B UNDESAMT , OECD) Quote der unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten # unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte # Teilzeitbeschäftigte ⋅ 100 Anteil an allen Erwerbstätigen # unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte # Erwerbstätige ⋅ 100 Quote des ungenutzten Arbeitskräftepotenzials Dieser Indikator ist vergleichsweise neu und verfolgt den Anspruch, die Unterauslastung des mittelfristig aktivierbaren Arbeitskräftepotenzials zu messen. Das Arbeitskräftepotenzial besteht aus den Erwerbstätigen, Erwerbslosen, Unterbeschäftigten minus Überbeschäftigen und der stillen Reserve gemäß ILO-Konzept. Überbeschäftigte sind Erwerbstätige, die weniger arbeiten möchten und zwar auch bei vol- <?page no="59"?> 60 Leitbild und Ziele lem Lohnverzicht. Die stille Reserve gemäß ILO-Konzept bilden Personen zwischen 15 u. 74 Ja h r en oh ne Er wer bs t ä t igkeit, di e dem Ar beitsm a r kt gru ndsä tzli ch zu r Ver fügung stehen, aber nicht aktiv nach Arbeit suchen oder nicht kurzfristig eine Erwerbstätigkeit aufnehmen können oder möchten. Die Quote des ungenutzten Arbeitskräftepotenzials berechnet sich wie folgt: # Erwerbslose unterbeschäftigte Erwerbstätige Überbeschäftigte stille Reserve # Erwerbstätige Erwerbslose stille Reserve ⋅ 100 Diese Quote ist zwar der umfassendste Indikator, hat aber verschiedene Nachteile als Beschäftigungsindikator. Dazu zählt gerade auch die Komprimierung in nur eine Zahl, so dass es sich empfiehlt, für eine Bewertung auch die einzelnen Bestandteile zu betrachten. Der Eingang der gesamten stillen Reserve nach dem ILO-Konzept in den Nenner impliziert außerdem, dass unter Umständen auch freiwillig Arbeitslose berücksichtigt werden. Es kann außerdem darüber diskutiert werden, ob Erwerbstätige am Limit der gesetzlichen bzw. tariflichen Höchstarbeitszeit, die mehr arbeiten möchten, als Unterbeschäftigte gelten sollen. Des Weiteren liegen noch keine längeren Zeitreihen und erst recht noch keine international vergleichbaren Daten zu diesem Indikator vor. Schließlich gibt dieser Indikator wie auch die Arbeitslosen- und Unterbeschäftigungsquoten keine genaue Auskunft über den Auslastungsgrad des Produktionsfaktors Arbeit, da nur Kopfzahlen angegeben werden. Ein Vollzeitbeschäftigter mit Wunsch nach zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche hat z.B. das gleiche Gewicht wie eine Minijobberin mit Wunsch nach einer Vollzeitstelle. Grundsätzlich wäre daher eine Umrechnung in Zeiteinheiten begrüßenswert. Dies könnten z.B. Arbeitsstunden pro Woche, Monat oder Jahr sein. Zwar sehen die Empfehlungen der ILO für die Berechnung der Quote des ungenutzten Arbeitskräftepotenzials vor, dass nicht nur Köpfe gezählt werden, sondern die Zahl der jeweiligen Arbeitsstunden angegeben und eine Höchstarbeitszeit berücksichtigt wird. Für diese aufwendige Berechnung von tatsächlichem, gewünschtem und max. möglichem Arbeitsvolumen fehlen jedoch derzeit sowohl die einheitlichen Standards als auch die erforderlichen Mittel. Zum Begriff der „stillen Reserve“ 9.3 Unter dem Begriff der stillen Reserve wurden ursprünglich die Erwerbsfähigen verstanden, die erwerbstätig sein möchten, aber die aktive Arbeitsplatzsuche aufgegeben haben. Dies wurde in Deutschland lange Zeit mit den Arbeitsuchenden gleichgesetzt, die nicht bei der BA gemeldet sind. Diese Personen werden vom IAB als die stille Reserve im engeren Sinne bezeichnet. Außerdem gibt es den Begriff der stillen Reserve in Maßnahmen. Diese umfasst diejenigen Personen, die sich zwar Arbeit suchend gemeldet haben, aber nicht den Arbeitslosigkeitskriterien des S OZIALGESETZBUCHES genügen, weil sie sich z.B. in arbeitsmarktpolitischen oder Beschäftigungsfördermaßnahmen einschl. vorruhestandsähnliche Regelungen befinden. Die stille Reserve im engeren Sinne und die stille Reserve in Maßnahmen bilden nach dem Sprachgebrauch des IAB zusammen die stille Reserve im weiteren Sinne. <?page no="60"?> Beschäftigungsindikatoren 61 Die stille Reserve gemäß der ILO-Definition setzt im Wesentlichen an dem ursprünglichen Begriffskonzept an und ergänzt es um die Erwerbsfähigen, die grundsätzlich erwerbstätig sein möchten, jedoch dem Arbeitsmarkt nicht kurzfristig zur Verfügung stehen. Und schließlich wächst die Begriffsverwirrung dadurch, dass gelegentlich alle Erwerbswilligen, die aufgrund fehlender Möglichkeiten der Betreuung bzw. Pflege von Angehörigen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, ebenfalls zur stillen Reserve gerechnet werden.  Multiple-Choice-Aufgabe 3: Verständnisüberprüfung: Unterbeschäftigungsquoten In einer Volkswirtschaft leben 120 Mio. erwerbsfähige Personen. Hierunter befinden sich nach dem ILO-Konzept 5 Mio. Erwerbslose und 95 Mio. Erwerbstätige. 9 Mio. Erwerbstätige würden gerne mehr Stunden als bisher gegen Entgelt arbeiten. Die Unterbeschäftigtenquote nach dem Labour-Force-Konzept der ILO beträgt ca.  9 %  9,5 %  11,2 %  14 % Angenommen, es gäbe nach der Definition der BA insgesamt 8 Mio. Arbeitslose und 92 Mio. zivile Erwerbspersonen. 3 Mio. Menschen befänden sich in Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik (z.B. Ein-Euro-Jobs, Umschulung, vorruhestandsähnliche Regelungen) und 2 Mio. Menschen in Altersteilzeit oder in geförderter Selbstständigkeit. Die Unterbeschäftigungsquote (BA-Konzept) (ohne Kurzarbeit) beträgt dann ca.  4,8 %  5 %  10,5 %  13,7 % Zahl offener Stellen 9.4 Die B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT veröffentlicht regelmäßig die Zahl der gemeldeten Arbeitsstellen. Darunter sind die offenen Stellen in Wirtschaft und Verwaltung zu verstehen, die der BA gemeldet werden und die für mindestens 7 Tage und binnen der nächsten 3 Monate zu besetzen sind. Die Zahl der gemeldeten Arbeitsstellen ist als Indikator für die Zahl der zu besetzenden Stellen nur bedingt geeignet, weil die Arbeitgeber nicht alle freien Stellen melden. Das I NSTITUT FÜR A RBEITSMARKTFORSCHUNG <?page no="61"?> 62 Leitbild und Ziele lässt daher Unternehmensbefragungen durchführen und schätzt auf dieser Basis die gesa mte Za h l off en er A rbei ts stell en. In den Medien wird meistens die Zahl der gemeldeten Stellen der Zahl der Arbeitslosen gegenübergestellt (→ Tab. 9.1). Andere Vorgehensweisen sind ebenso denkbar und für beschäftigungspolitische Zwecke aussagekräftiger. Eine Möglichkeit von vielen ist es, die Zahl der Unterbeschäftigten (BA-Konzept oder IAB-Konzept) pro geschätzter freier Stelle anzugeben. jeweils in Tsd. 2016 Gemeldete offene Stellen 660 Geschätzte freie Stellen 990 Gemeldete Arbeitslose 2.700 Unterbeschäftigung (IAB-Konzept)* 3.600 * Unterbeschäftigung (IAB-Konzept) = gemeldete Arbeitsuchende, die als arbeitslos gemäß SGB III gelten oder die sich in Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik, Vorruhestand o.ä. befinden sowie stille Reserve i.e.S. Quelle: I NSTITUT FÜR A RBEITSMARKT - UND B ERUFSFORSCHUNG , 2017b; B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT , 2017. Tab. 9.2: Arbeitsuchende und unbesetzte Stellen in Deutschland 2016 Dauer der Arbeitslosigkeit 9.5 Die methodische Festlegung und empirische Ermittlung der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit verursacht eine Reihe von keineswegs trivialen Problemen (G EHRICKE et al., 2012). Die BA unterscheidet zum einen zwischen der Dauer der gemeldeten Arbeitslosigkeit und der Dauer der gemeldeten Arbeitsuche und der Meldedauer. Des Weiteren wird zwischen der bisherigen Dauer (Bestandsdauer) und der abgeschlossenen Dauer (Abgangsdauer) der Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsuche unterschieden. Die bisherige Dauer misst den Zeitraum, seit dem die derzeit Arbeitslosen im Durchschnitt arbeitslos sind. Sie lag 2014 in Deutschland bei knapp 70 Wochen (B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT , 2015, S. 154). Bei der abgeschlossenen Dauer werden demgegenüber die Personen betrachtet, die in einem bestimmten Zeitraum (z.B. in einem Jahr) ihre Arbeitslosigkeit für längere Zeit beendeten. Sie gibt Auskunft über die durchschnittliche Verweildauer in Arbeitslosigkeit und lässt sich verwenden, um das Verweilrisiko einzelner Personengruppen einzuschätzen. Z.B. betrug sie für Deutschland im Jahr 2014 bei Männern 36,1 und bei Frauen 40,4 Wochen (B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT , 2015, S. 109). Eine niedrige durchschnittliche Bestandsdauer deutet in aller Regel darauf hin, dass keine erhebliche (gemeldete) Arbeitslosigkeit vorliegt oder diese überwiegend durch die vorübergehende Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz bedingt ist. Eine niedrige durchschnittliche Abgangsdauer lässt ohne weitere Informationen hingegen kaum Schlüsse über die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungslage zu. <?page no="62"?> Beschäftigungsindikatoren 63 Langzeitarbeitslosenquote 9.6 Die Langzeitarbeitslosenquote der B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT gibt an, wie viel Prozent der Arbeitslosen gemäß SGB III seit mind. 12 Monaten arbeitslos sind. Die anteilige Langzeitarbeitslosenquote bezieht sich auf den Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen. Analog geht die ILO vor. Sie unterscheidet zwischen der long-term unemployment rate und der incidence of long-term unemployment. Die Aussagefähigkeit der Langzeitarbeitslosenquote ist relativ gering, wenn man nicht parallel die ALQ oder Erwerbslosenquote kennt. Aus der anteiligen Langzeitarbeitslosenquote lässt sich demgegenüber mehr ablesen: Ist sie hoch, deutet das auf persistente Beschäftigungsprobleme in größerem Umfang hin. Knapp 2 Prozent der Erwerbspersonen waren in Deutschland im Jahr 2016 seit mindestens 12 Monaten arbeitslos bzw. erwerbslos. Etwa eine halbe Mio. Menschen waren seit über 2 Jahren erfolglos auf Arbeitssuche (→ Tab. 9.1).  Wissensbox 6: Langzeitsarbeitslosenquoten im Überblick: Konzepte der BA Bezogen auf die gemeldeten Arbeitslosen: # gemeldete Arbeitslose mit Dauer der Arbeitslosigkeit ab 12 Monate # gemeldete Arbeitslose ⋅ 100 Anteilige Langzeitarbeitslosenquote, bezogen auf die Erwerbspersonen: # gemeldete Arbeitslose mit Dauer der Arbeitslosigkeit ab 12 Monate # zivile Erwerbspersonen ⋅ 100 Konzepte der ILO Longterm unemployment rate (Langzeiterwerbslosenquote), bezogen auf die Erwerbslosen: # Erwerbslose mit Dauer der Arbeitslosigkeit ab 12 Monate # Erwerbslose ⋅ 100 Incidence of longterm unemployment (anteilige Langzeiterwerbslosenquote), bezogen auf alle Erwerbspersonen # Erwerbslose mit Dauer der Arbeitslosigkeit ab 12 Monate # alle Erwerbspersonen ⋅ 100 <?page no="63"?> 64 Leitbild und Ziele Erwerbstätigen- und Beschäftigungsquoten 9.7 Die Erwerbstätigenquote gibt den Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter an. Erwerbstätigkeit wird gemäß dem ILO-Konzept ermittelt. Als Bezugsgruppe werden entweder Bürger ab 15 Jahren bis zum Regelarbeitsalter oder bis einschließlich 74 Jahre gewählt. Dies waren in Deutschland im Jahr 2015 ca. 54 Mio. bzw. ca. 62 Mio. Personen Die Erwerbstätigenquote der 15-64-Jährigen betrug ca. 74 % bzw. die der 15-74-Jährigen betrug rund 70 % (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2016). Die Erwerbsquote unterscheidet sich von der Erwerbstätigenquote dadurch, dass im Zähler zusätzlich die Erwerbslosen stehen. Sie gibt den Anteil der Erwerbspersonen an der erwerbsfähigen Bevölkerung an. Sie lag für die 15-74-Jährigen im Jahr 2015 bei ca. 73 %. Die Beschäftigungsquote der BA setzt die Beschäftigten, die bei gesetzlichen Sozialversicherungen gemeldet sind, ins Verhältnis zur Bevölkerung im Alter von 15 bis 65 Jahre. Gemeldet sind sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer und geringfügig Beschäftigte (z.B. Minijobber), welche zusammen etwa 84 % aller Erwerbstätigen ausmachen. Unter anderem sind Selbstständige und Beamte hierin nicht erfasst. Die Beschäftigungsquote der BA lag 2015 bei 57 %. Die Eignung der Erwerbstätigen- und Beschäftigungsquote als Indikatoren für den Beschäftigungsgrad des Arbeitsangebots ist stark eingeschränkt. Das liegt insbesondere daran, dass sich unter der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter viele Menschen befinden, die nicht arbeiten möchten und entsprechend auch keine Arbeit anbieten. Die kurzbis mittelfristige Entwicklung der Beschäftigungs- und der Erwerbstätigenquote liefert allerdings in Zusammenschau mit anderen demografischen Daten brauchbare Hinweise darüber, ob sich Arbeitskräfte in die stille Reserve zurückgezogen oder sich aus ihr hinaus und auf aktive Arbeitssuche begeben haben. Daraus können dann wiederum Anhaltspunkte über die Angebots-Nachfrage-Relation auf dem Arbeitsmarkt gewonnen werden. <?page no="64"?> Beschäftigungsindikatoren 65   Multiple-Choice-Aufgabe 4: Verständnisüberprüfung: Sonstige Beschäftigungsindikatoren In einer Volkswirtschaft leben 120 Mio. erwerbsfähige Personen. Hierunter befinden sich nach dem ILO-Konzept 5 Mio. Erwerbslose und 95 Mio. Erwerbstätige. 1 Mio. Menschen sind seit mind. 12 Monaten erwerbslos. Die Langzeiterwerbslosenquote beträgt ca.  20 %  5 %  4,2 % Die Erwerbsquote beträgt ca.  95 %  83,3 %  9,2 % Die Erwerbstätigenquote beträgt ca.  95 %  83,3 %  79,2 % Kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an.  Die Beschäftigungsquote der BA berücksichtigt keine Selbstständigen.  Wenn die abgeschlossene Dauer der Arbeitslosigkeit (Abgangsdauer) unter 3 Monaten liegt, existiert keine gesamtwirtschaftlich problematische Arbeitslosigkeit. <?page no="65"?> 66 Leitbild und Ziele Fazit zu Beschäftigungsindikatoren 9.8 Die Ausführungen zeigen, dass es nicht den einen perfekten Indikator gibt, der eine Erreichung oder Verfehlung des Ziels der Vollbeschäftigung (bzw. hoher Beschäftigungsstand) des Produktionsfaktors Arbeit angibt. Vielmehr weisen die Indikatoren zum einen sowohl Stärken als auch Schwächen auf. Diese sollten bekannt sein, bevor sich an eine Bewertung des Zielerreichungsgrads herangewagt wird. Zum anderen genügt es nicht, lediglich einen Indikator für die Bewertung heranzuziehen. Welche Indikatoren man für die hier interessierende stabilitätspolitische Fragestellung nach der empirischen Definition von gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht schließlich heranzieht, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Im Folgenden werden primär die Erwerbslosen- und Langzeitarbeitslosenquote gemäß dem ILO-Konzept verwendet. Daraus soll aber nicht auf deren methodische Überlegenheit geschlossen werden. Der Hauptgrund für diese Auswahl ist vielmehr die bessere internationale Vergleichbarkeit. Diese ist nämlich hilfreich, wenn diskutiert wird, bei welchen Werten von hohem Beschäftigungsstand gesprochen werden kann. Da die ILO-Erwerbslosenquote allerdings im Unterschied zur Arbeitslosenquote der BA arbeitsuchende Beschäftigte selbst dann nicht als arbeitslos einstuft, wenn sie nur sehr wenig beschäftigt sind, werden im Folgenden auch vereinzelt Quoten der BA betrachtet. 10 Ansätze zur Bestimmung des Beschäftigungsziels  Was meinen Sie? In der Vergangenheit kam es mehrfach zu Verfassungsklagen wegen möglicherweise verfassungswidriger Defizite (Neuverschuldung) im deutschen Bundeshaushalt. Hintergrund ist der von 1969 bis 2009 gültige Wortlaut des Art. 115 GG, dass Überschreitungen der Verschuldungsgrenzen nur „[…] zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts […]“ zulässig sind. Im deutschen Raum gibt es den unbestimmten Rechtsbegriff des „recht und billig Denkenden“. Angenommen, Sie würden als ein/ e solche/ r Bürger/ -in vom Verfassungsgericht angehört und sollten in wenigen Worten und möglichst konkret antworten:  Wann ist Ihres Erachtens das Ziel „hoher Beschäftigungsstand der Arbeit“ erreicht?  Wann ist das Ziel Ihres Erachtens ernsthaft verletzt? Beiträge grundlegender Arbeitsmarkt- 10.1 und Beschäftigungstheorien Vereinfachend lassen sich in der beschäftigungstheoretischen Literatur zwei Herangehensweisen zur Definition von Vollbeschäftigung herauskristallisieren. Die eine basiert ganz wesentlich auf der neoklassischen mikroökonomischen Sichtweise des Arbeitsmarkts. Die andere rührt aus einer stärker makroökonomischen Betrachtungswei- <?page no="66"?> Ansätze zur Bestimmung des Beschäftigungsziels 67 se des Arbeitsmarktes als Teil des Beziehungsgeflechts von verschiedenen gesamtwirtschaftlichen Märkten. Neoklassische freiwillige Arbeitslosigkeit 10.1.1 Nach traditionellem Verständnis neoklassischer Erkenntnisse bedeutet die Vollbeschäftigung des Produktionsfaktors Arbeit das Folgende: Jeder Erwerbsfähige, der bereit ist, zu den herrschenden Marktbedingungen zu arbeiten, findet eine Beschäftigung in dem von ihm gewünschten Ausmaß. Zugleich weist kein Unternehmen, das bereit ist, zu den herrschenden Marktbedingungen Arbeitskräfte einzustellen, offene Stellen auf. Mit anderen Worten: Es herrscht Arbeitsmarktgleichgewicht in dem Sinne, dass geplantes Arbeitsangebot und geplante Arbeitsnachfrage übereinstimmen. Herrscht ein Arbeitsangebotsüberhang, liegt Unterbeschäftigung vor. Übersteigt die Arbeitsnachfrage das Angebot, spricht man von Überbeschäftigung. Ansatz des neoklassischen Arbeitsmarktgleichgewichts. Vollbeschäftigung bedeutet, dass die Pläne der Arbeitsanbieter (Arbeitskräfte) und Arbeitsnachfrager (Arbeitgeber) in Erfüllung gehen. Es gibt keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit und keine nicht besetzten Stellen. Arbeitskräfte, die nur bereit sind, zu besseren als den herrschenden Arbeitsbedingungen zu arbeiten, werden als freiwillig arbeitslos bezeichnet und werden hier nicht zu den Arbeitslosen gezählt. (zum neoklassischen Arbeitsmarkt s. → Kap. 45.1) Implikationen für Beschäftigungsziel: Das Ziel Vollbeschäftigung ist bei einer Arbeitslosenquote von Null erreicht. Natürliche Arbeitslosenquote und NAIRU 10.1.2 Die makroökonomische Betrachtungsweise bezieht demgegenüber die Interdependenzen gesamtwirtschaftlicher Märkte ein: Von Vollbeschäftigung des Produktionsfaktors Arbeit wird dann gesprochen, wenn die Arbeitslosigkeit gerade hoch genug ist, damit vom Arbeitsmarkt keine inflationsverschärfenden Impulse auf die Volkswirtschaft ausgehen. Die in dieser Situation herrschende Arbeitslosenquote wird in Bezugnahme auf Publikationen (1968) von M ILTON F RIEDMAN (1912-2006, Nobelpreis 1976) und E DMUND S. P HELPS (*1933, Nobelpreis 2006) als natürliche Arbeitslosenquote bezeichnet. Diese Bezeichnung orientiert sich an A BRAHAM P. L ERNER (1903-1982), der bereits 1951 einen ähnlichen Sachverhalt herausgearbeitet und als low full employment bezeichnet hatte. Mittlerweile setzt sich indes der weniger wertbeladene Begriff der NAIRU (non-accelerating inflation rate of unemployment) zunehmend durch. Im Deutschen wird die NAIRU auch als inflationsstabile Arbeitslosenquote (alternativ: inflationsneutrale ALQ) bezeichnet. Dem Konzept der inflationsstabilen Arbeitslosenquote liegt die Überlegung zugrunde, dass es bei einer Quote unter der „natürlichen“ Arbeitslosenquote infolge der gestiegenen Arbeitskräfteknappheit zu gesamtwirtschaftlichen Lohnsteigerungen kommt, die über der bisherigen Inflationsrate zzgl. dem Anstieg der Arbeitsproduktivität liegen. Dadurch steigen die Stückkosten und die Preise. Die gestiegene Inflationsrate ruft <?page no="67"?> 68 Leitbild und Ziele wiederum Lohnsteigerungen hervor usw. usf. Diese Lohn-Kosten-Preis-Spirale führt zu ste igend en Infla tio nsr aten , w o dur ch es übe r kurz oder lang zu einem Rückgang des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung kommt mit dem Ergebnis, dass die Arbeitslosenquote ansteigt und letztlich auf ihr inflationsstabiles („natürliches“) Niveau zurückkehrt. Dieser inflationsstabile Beschäftigungsstand entspricht - vereinfacht formuliert - der Beschäftigung bei Normalauslastung, die wiederum auch als Vollauslastung oder -beschäftigung bezeichnet wird (→ Kap. 15.3). Im angelsächsischen Sprachraum wurde entsprechend über längere Zeit hinweg auch von der full employment unemployment rate anstelle der natural rate gesprochen. Dieses Verständnis von Vollbeschäftigung/ Vollauslastung trägt explizit der Preisniveaustabilität (→ Kap. 19ff.), einem weiteren Ziel des Magischen Vierecks, Rechnung. Außerdem enthält das Konzept die implizite Botschaft an die Stabilitätspolitik, dass es über Maßnahmen zur Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage - etwa im Rahmen expansiver Fiskal- oder Geldpolitik (→ Kap. 44.6.1 ) - nicht gelingen kann, die Arbeitslosigkeit unter ihr „natürliches“, also das inflationsneutrale Niveau zu drücken. Ansatz der inflationsstabilen Arbeitslosenquote (NAIRU). Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot stehen in einem Verhältnis, bei dem es weder zu anhaltender Inflation („Überbeschäftigung“), noch zu Deflation („Unterbeschäftigung“) aufgrund von Lohnentwicklungen kommt. Die Differenz zwischen tatsächlicher Arbeitslosenquote und NAIRU bezeichnet man als Arbeitslosigkeitslücke. Implikationen für das Beschäftigungsziel: „Hoher Beschäftigungsstand“ bedeutet, dass eine Arbeitslosenquote erreicht wird, die der NAIRU entspricht. Die Arbeitslosigkeitslücke beträgt dann Null. Das Konzept der NAIRU mag sich nicht allen Lesern von selbst erschließen. Daher sei darauf hingewiesen, dass die NAIRU im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Totalmodells wieder aufgegriffen und hergeleitet wird (→ Kap. 47). Unvermeidbare Arbeitslosigkeit 10.2 Idealtypisch herrscht im mikroökonomisch abgeleiteten Arbeitsmarktgleichgewicht eine Unterbeschäftigungsquote von Null, da alle Arbeitsanbieter (erwerbsfähige und -bereite Arbeitskräfte) eine Beschäftigung im gewünschten Umfang haben. Zugleich sind alle Stellen besetzt. Dieser Modellzustand kann in der Realität nicht erreicht werden, da die zugrundeliegenden Annahmen der vollständigen Konkurrenz (→ Kap. 16.1) realitätsfern sind. Weder existiert vollständige Markttransparenz, noch Homogenität der angebotenen und der von Arbeitgebern nachgefragten Arbeit. Mangels Markttransparenz nimmt es Zeit in Anspruch, bis ein Arbeitsuchender auf eine geeignete offene Stelle trifft und umgekehrt. In der Folge kommt es unvermeidlich sowohl zu Arbeitslosigkeit als auch zu Stellenvakanzen. Die anzutreffende Inhomogenität des Produktionsfaktors Arbeit und der Arbeitsplätze verstärkt diesen Umstand. Außerdem <?page no="68"?> Ansätze zur Bestimmung des Beschäftigungsziels 69 macht die Heterogenität Suchprozesse in begrenztem Umfang auch volkswirtschaftlich wünschenswert. Je besser Arbeitnehmer und Stellen in qualitativer Hinsicht zusammenpassen, umso höher dürften die Produktivität und letztlich auch die ökonomische Wohlfahrt sein.  Beispiel 1 Eine Drehbuchautorin mit „zwei linken Händen“ wird arbeitslos. Nach einer Woche schlägt ihre Tante vor, dass sie eine Stelle als Hausmeistergehilfin in dem Hotel ihres Schwagers annimmt. Täte sie dies, würde zwar die Beschäftigung quantitativ zunehmen. Die Autorin wäre aber wahrscheinlich nicht nur unzufrieden, sondern auch der Volkswirtschaft entginge die höhere Wertschöpfung, die sie z.B. als Erwerbstätige in der Filmbranche erzielt hätte. Ebenso fährt der Hotelier besser, wenn er eine geeignetere Person einstellt. Dauert die Arbeitslosigkeit der Drehbuchautorin hingegen lange an und ist die Stelle im Hotel dann noch vakant, kann die Beschäftigung der Autorin als Hausmeistergehilfin volkswirtschaftlich durchaus effizient sein. Anders als im einfachen Arbeitsmarktmodell gibt es in der Praxis also Sucharbeitslosigkeit, die auch als friktionelle Arbeitslosigkeit bezeichnet wird. Damit gelangt man zu einem angepassten neoklassischen Vollbeschäftigungsbegriff. Ansatz des Arbeitsmarktgleichgewichts bei Marktintransparenz. Vollbeschäftigung bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit auf friktionelle Arbeitslosigkeit begrenzt ist. Implikationen für das Beschäftigungsziel: Ein hoher Beschäftigungsstand liegt vor, wenn es außer der Sucharbeitslosigkeit keine Arbeitslosigkeit gibt und offene Stellen nur temporär vakant sind. Neben der friktionellen Arbeitslosigkeit gelten die saisonale sowie eine gewisse strukturelle (sektorale und regionale) und institutionelle Unterbeschäftigung als unvermeidbar. Saisonale Arbeitslosigkeit. Sobald saisonal abhängige Waren und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft produziert werden, tritt geradezu zwingend saisonale Arbeitslosigkeit auf. Z.B. weisen die Bau- und Agrarwirtschaft sowie der Sommertourismus im Winter einen Beschäftigungsrückgang auf, der durch „winterliche“ Branchen (z.B. Wintersport, Weihnachtsgeschäft) nicht kompensiert wird. Zudem können „Sommerarbeitskräfte“ z.B. nicht ohne Weiteres für das typische Wintergeschäft und umgekehrt eingesetzt werden, wenn die Qualifikationserfordernisse unterschiedlich sind. Die Arbeitslosen- und Beschäftigungsstatistik enthält daher überwiegend saisonbereinigte Zahlen. Sektorale und regionale Arbeitslosigkeit. Marktwirtschaften unterliegen einem ständigen sektoralen Strukturwandel. Nachfragepräfenzen ändern sich, Rohstoffe werden knapper, Innovationen führen zu neuen Produkten, Produktions- und Managementverfahren, der Wertewandel trägt zu verändertem Konsumverhalten bei, die Globalisierung erhöht den Wettbewerbsdruck usw. Einige Branchen schrumpfen, während <?page no="69"?> 70 Leitbild und Ziele andere expandieren und neue Branchen entstehen. Damit geht eine kontinuierliche Wandl ung d er Beschä ftigu n gs str uktur e inh er . Die A nford er un gen a n die A rbei tskr äf te verändern sich, was Anpassungsbedarf erzeugt, der nicht kurzfristig zu bewältigen ist. Der oftmals parallele regionale Strukturwandel erzeugt ebenso Anpassungsdruck auf den Arbeitsmärkten. Da im Zuge des Strukturwandels Arbeitsuchende und offene Stellen beruflich, sektoral oder regional nicht zusammenpassen, spricht man auch von Mismatch-Arbeitslosigkeit. Strukturelle Arbeitslosigkeit wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Hier wird sie als Sammelbegriff für Such- und Mismatch-Arbeitslosigkeit verwendet. Diese Definition struktureller Arbeitslosigkeit bildet einen dritten Ausgangspunkt für die Definition von Vollbeschäftigung, nämlich dass die Arbeitslosigkeit auf Such-, Mismatch- und saisonal bedingte Arbeitslosigkeit begrenzt ist. Ansatz der unvermeidbaren Arbeitslosigkeit. Vollbeschäftigung liegt vor, wenn die Arbeitslosigkeit in etwa dem Maß entspricht, das sich aus saisonaler, Sucharbeitslosigkeit und aus Gründen des sektoralen und regionalen Strukturwandels unvermeidlich ergibt. Implikationen für das Beschäftigungsziel: Ein hoher Beschäftigungsstand ist erreicht, wenn die saisonal bereinigte Zahl der Arbeitslosen in etwa der saisonal bereinigten Zahl der offenen Stellen entspricht. Eine weitere Form der Arbeitslosigkeit ist freiwillige Arbeitslosigkeit. In der mikroökonomisch fundierten Theorie des Arbeitsmarktgleichgewichts sind damit Arbeitsanbieter gemeint, die nicht bereit sind, zu den herrschenden Arbeitsmarktbedingungen eine Beschäftigung aufzunehmen. Im Marktmodell gelten sie streng genommen nicht als arbeitslos. In der Praxis lässt sich kaum vermeiden, dass ein Teil der in der Statistik als erwerbs- oder arbeitslos erfassten Personen de facto keine Arbeit oder keine Arbeit zu dem herrschenden Lohn, den Arbeitsbedingungen oder am Ort der vakanten Stelle etc. aufnehmen würde. Neben der unvermeidbaren strukturellen und „freiwilligen“ Arbeitslosigkeit gibt es Arbeitsmarktprobleme, die durch institutionelle Regelungen (z.B. Arbeits- und Kündigungsrecht, System der Lohnfindung, soziales Sicherungssystem) hervorgerufen werden. Diese institutionelle Arbeitslosigkeit könnte durch institutionelle Veränderungen zwar grundsätzlich vermieden oder zumindest reduziert werden, aber unter den gegebenen institutionellen Bedingungen ist auch sie quasi unvermeidbar. Dabei überschneidet sich die institutionelle Arbeitslosigkeit mit den übrigen genannten Arten. So erhöhen z.B. lang andauernde Arbeitslosenzahlungen die Sucharbeitslosigkeit, während effiziente Arbeitsvermittlungsinstitutionen sie senken; hohe Sozialtransfers steigern z.B. strukturelle und freiwillige Arbeitslosigkeit, Mobilitätshilfen senken regionale Arbeitslosigkeit; effektive Qualifizierungsstrukturen senken Mismatch-Arbeitslosigkeit usw. Somit gelangt man zu einem weiteren Ansatz zur Bestimmung des Beschäftigungsziels. Dies ist der Zustand, in welchem die Arbeitslosigkeit in etwa der saisonal bedingten, strukturellen und institutionellen Arbeitslosigkeit entspricht. <?page no="70"?> Ansätze zur Bestimmung des Beschäftigungsziels 71 Darüber hinausgehende Arbeitslosigkeit stellt konjunkturelle Arbeitslosigkeit dar. Konjunkturelle Unter- und Überbeschäftigung wird durch Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen, also der makroökonomischen Entwicklung hervorgerufen. Durch ihren gesamtwirtschaftlichen Charakter unterscheiden sich konjunkturelle Beschäftigungsprobleme von denen, die auf Teilarbeitsmärkte begrenzt sind und die sich gleichzeitig auf einem Teilmarkt als Arbeitskräftemangel (Nachfrageüberschuss) und auf einem anderen Teilmarkt als Arbeitslosigkeit (Angebotsüberschuss) äußern. Konjunkturpolitischer Ansatz der Normalauslastung. Vollbeschäftigung ist erreicht, wenn auf dem gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarkt weder Arbeitslosigkeit, noch Arbeitskräfteknappheit herrscht, die auf Schwankungen des Auslastungsgrads der volkswirtschaftlichen Produktionskapazitäten zurückzuführen sind. Vollbeschäftigung heißt also nicht maximale, sondern „normale“ Auslastung des Produktionsfaktors Arbeit. Implikationen für das Beschäftigungsziel: Ein hoher Beschäftigungsstand ist erreicht, wenn der Produktionsfaktor in dem Sinne voll ausgelastet ist, dass weder konjunkturelle Überbeschäftigung, noch konjunkturelle Arbeitslosigkeit herrscht. Anders formuliert: Die saisonal bereinigte Arbeitslosenquote entspricht der Quote der strukturellen plus der institutionellen Arbeitslosigkeit. Wie oben erwähnt, wird der Begriff der strukturellen Arbeitslosigkeit nicht einheitlich verwendet. In Teilen der Literatur und amtlichen Statistik wird auch die institutionelle Arbeitslosigkeit als strukturell bezeichnet. Dafür spricht zum einen, dass strukturelle und institutionelle Arbeitslosigkeit beide c.p. quasi unvermeidlich sind. Dafür spricht zum anderen auch, dass die Höhe der strukturellen Arbeitslosigkeit durch institutionelle Regelungen beeinflusst wird. Dagegen spricht jedoch, dass institutionelle Ursachen grundsätzlich vermieden werden könnten, nicht aber der Strukturwandel und sich verändernde qualifikatorische Anforderungen an die Arbeitskräfte.   Multiple-Choice-Aufgabe 5: Verständnisüberprüfung: Arten von Arbeitslosigkeit Das Studierendenwerk entlässt während der vorlesungsfreien Zeit vorübergehend einen Teil des Küchenpersonals. Dieser Vorgang trägt ceteris paribus (c.p.) zur unmittelbaren Erhöhung folgender Art(en) von Arbeitslosigkeit bei  saisonale Arbeitslosigkeit  natürliche Arbeitslosigkeit  konjunkturelle Arbeitslosigkeit <?page no="71"?> 72 Leitbild und Ziele Im Laufe der Rezessionsphase kommt es c.p. zum Anstieg folgender Art(en) von Arbeitslosigkeit  konjunkturelle Arbeitslosigkeit  institutionelle Arbeitslosigkeit  freiwillige Arbeitslosigkeit Kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an.  Im mikroökonomisch fundierten neoklassischen Arbeitsmarktgleichgewicht sind alle Erwerbsfähigen beschäftigt.  Das Konzept der inflationsstabilen Arbeitslosenquote (NAIRU) geht von der Annahme aus, dass das Lohnniveau bei sinkender Beschäftigung steigt.  Friktionelle Arbeitslosigkeit kann zu einer Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Faktorallokation beitragen. 11 „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? In gewisser Hinsicht wäre es für die Praxis ideal, wenn sich sagen ließe: „Vollbeschäftigung liegt vor, wenn der Indikator „x“ den Wert „y“ annimmt. Höhere oder niedrigere Werte weisen auf Zielverletzungen hin.“ Daraus könnte auf vergleichsweise einfache Weise auf politischen Handlungsbedarf geschlossen werden. Die bisherigen Ausführungen zeigen jedoch, dass die Statistik und die Sozialwissenschaft der Politik nicht nur eine einzige Definition von Vollbeschäftigung offerieren. Vollbeschäftigung bzw. hoher Beschäftigungsstand ist vielmehr ein dehnbarer Begriff. Erschwerend kommt in der Praxis hinzu, dass die Arbeitslosen- und Beschäftigungsstatistiken keinen idealen Indikator zur Messung des Beschäftigungsstands bereithalten. Daraus folgt, dass eine Aussage wie die oben skizzierte stark vereinfacht wäre. Kontextabhängigkeit des Vollbeschäftigungsbegriffs 11.1 Außerdem lässt sich kein allgemeingültiger Zielwert für alle Länder bzw. Volkswirtschaften bestimmen. Es kommt vielmehr darauf an, welches Land bzw. was für eine Volkswirtschaft betrachtet wird. Es sind verschiedene Gesichtspunkte dafür maßgeblich, welches Beschäftigungsziel angestrebt werden sollte bzw. realistisch ist. Ein Aspekt ist, wie hoch z.B. die Arbeitslosenquote in der Vergangenheit war. Relevant ist auch, ob die betrachtete Volkswirtschaft vor kurzem einen erheblichen Strukturbruch erlebt hat. Ist dies der Fall, kann von einem hohen Beschäftigungsstand sicherlich bei einer höheren Arbeitslosenquote gesprochen werden als in einer Volkswirtschaft ohne strukturelle Verwerfungen. Als Beispiel seien Nachkriegswirtschaften wie Deutschland Ende der 1940er-Jahre oder Transformationswirtschaften wie die ehemaligen Ostblockstaaten in den 1990er-Jahren genannt. So betrug die Arbeitslosenquote auf dem früheren Gebiet der B UNDESREPUBLIK D EUTSCHLAND im Jahr <?page no="72"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 73 1950 um die 11 %. Anfang der 1990er-Jahre (1992-93) lag sie in den neuen deutschen Bundesländern bei 14-15 % und ähnlich hoch auch in Polen (OECD, 2015b). Wenige Jahre später (1998) lag sie in den neuen Bundesländern um die 19 % und in Polen um die 10 %. Für Polen kann dies als damals hoher Beschäftigungsstand bezeichnet werden. In den USA hingegen würde 10 % Arbeitslosigkeit als erhebliche Unterbeschäftigung gewertet werden. Ein weiterer Aspekt ist, ob es sich um ein aufstrebendes Entwicklungsland oder ein wirtschaftlich sehr weit entwickeltes Land handelt. Aufholende dynamische Volkswirtschaften sind durch überdurchschnittliches Investitionswachstum und Produktivitätsanstiege sowie Nachfragewachstum gekennzeichnet. Sind die verfügbaren Arbeitskräfte bereits einigermaßen gut ausgelastet - was jedoch nicht zwingend ist und sich oft erst im Zuge des Aufholprozesses einstellt -, dann impliziert andauerndes hohes Wirtschaftswachstum eine niedrige Arbeitslosenquote. Auch hierfür ist Nachkriegsdeutschland ein Beispiel: Im Zeitraum des „deutschen Wirtschaftswunders“ von 1960 bis 1973 lag die amtliche Arbeitslosenquote im früheren Bundesgebiet zwischen 0,7 und 1,5 % (mit Ausnahme des Jahres 1967) (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2015c). Das staatliche und private soziale Sicherungssystem spielt ebenfalls eine Rolle dafür, welcher Grad der Arbeitslosigkeit als inakzeptabel hoch und als Gefährdung für die gesellschaftliche und politische Stabilität erachtet wird. Sind Arbeitslose soweit abgesichert, dass sie und ihre Familie nicht unter das Existenzminimum rutschen, erscheint eine höhere Arbeitslosigkeit eher akzeptabel, als wenn Arbeitslose nicht oder schlecht abgesichert sind. Das Angebot an Qualifizierungsprogrammen und Ähnlichem ist ebenfalls entscheidend. Schließlich sind auch gesellschaftliche Wertvorstellungen maßgeblich dafür, welches Beschäftigungsziel angestrebt wird. Leiden das Selbstwertgefühl und damit ggfs. auch die Gesundheit der Menschen erheblich unter der Arbeitslosigkeit oder gilt Erwerbslosigkeit als gesellschaftlicher Makel, dann ist das Beschäftigungsziel ehrgeiziger anzulegen als wenn mit Arbeitslosigkeit keine Gesundheitsprobleme oder gesellschaftliche Ausgrenzung einhergehen. Maßgeblich ist also auch, welchen Einfluss die Erwerbstätigkeit auf die gesellschaftliche Wertschätzung und den sozialen Status eines Menschen ausübt. Dies ist keine feste Größe, sondern variiert zwischen Gesellschaften und im Zeitverlauf. „Vollbeschäftigung ist kein zeit- und gesellschaftsloses Konstrukt.“ Quelle: Y OLLU -T OK und S ESSELMEIER , 2012, S. 19. Wenn im Folgenden der Frage nach dem angemessenen Zielwert für Vollbeschäftigung/ hoher Beschäftigungsstand weiter nachgegangen wird, werden sich die Ausführungen im Wesentlichen auf die aktuelle Situation in Deutschland beschränken. Das heißt, es geht um ein wirtschaftlich sehr weit entwickeltes Land (Industrieland mit hohem Pro-Kopf-Einkommen) mit einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung und einem vergleichsweise umfassenden sozialen Sicherungssystem. <?page no="73"?> 74 Leitbild und Ziele Empirisch-statistische Bestimmung 11.2 von Vollbeschäftigung Zeitliche Entwicklung der Arbeitslosenquote 11.2.1 Ein naheliegender Ansatz zur Ermittlung des angestrebten Beschäftigungsstands besteht darin, die Arbeitsmarktentwicklung der letzten Jahre zu betrachten. Damit gewinnt man einen Eindruck darüber, was in der Volkswirtschaft unter normalen konjunkturellen Umständen machbar ist. Dabei sollte möglichst ein Zeitraum gewählt werden, der einerseits lang genug ist, um etwaige Gesetzmäßigkeiten erkennen zu können. Andererseits sollte er nicht so lang sein, dass sich der Charakter und die Struktur der Volkswirtschaft deutlich geändert haben. Es empfiehlt sich außerdem, einen Zeitraum zu betrachten, der frei von (wirtschaftlichen) Extremereignissen ist. Ist dies nicht möglich, sollten nähere Kenntnisse über die wesentlichen wirtschaftlichen Entwicklungen im betrachteten Zeitraum vorhanden sein, um die Gefahr von Fehlinterpretationen zu senken. Schließlich ist wichtig, dass die betrachteten Indikatoren keine Änderungen hinsichtlich ihrer Definition und Ermittlungsmethode aufweisen, die zu Trugschlüssen über die Arbeitsmarktentwicklung führen könnten. Quelle: S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2015a. Abb. 11.1: Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit in Deutschland 2000-2015 → Abb. 11.1 gibt Auskunft über die Entwicklung der Zahl der Erwerbspersonen sowie der saisonal bereinigten Arbeitslosenquote (BA) und Erwerbslosenquote (ILO) in Deutschland für die Jahre 2000-2015. Der Zeitraum ist so gewählt, dass durchgehend die gleiche Volkswirtschaft - nämlich das vereinigte Deutschland - betrachtet wird und der „Strukturbruch“ durch die deutsche Vereinigung (1990) einige Jahre zurückliegt. Das volkswirtschaftliche Extremereignis der US-Finanzkrise und die nachfolgende „Eurokrise“ liegen jedoch innerhalb des Zeitraums. Andernfalls wäre die betrachtete Zeitspanne möglicherweise zu kurz, um Schlüsse über das „normale“ Ausmaß der Arbeitslosigkeit im heutigen Deutschland ziehen zu können. Die Abbildung zeigt eine wellenförmige Entwicklung der Arbeitslosenquoten bei zugleich moderatem, aber stetigem Anstieg der Erwerbspersonenzahl. Das Auf und Ab der Arbeitslosenquoten spiegelt im Wesentlichen konjunkturelle Beschäftigungsschwankungen 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 ALQ, ELQ in Prozent; Rest in Mio. Erwerbspersonen Erwerbslose Erwerbstätige ALQ ELQ <?page no="74"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 75 wider. Allerdings erscheint es zunächst überraschend, dass die Arbeitslosigkeit zu Beginn der Finanzkrise nur leicht angestiegen ist und im unmittelbaren Anschluss sogar abnahm. Das Hoch der Erwerbslosenquote (der Arbeitslosenquote) lag 2005 bei 10,3 % (11,7 %) und das Tief 2015 lag bei 4,3 % (6,4 %). 2016 hat sich die Lage weiterhin verbessert (→ Tab. 9.1). Eine Möglichkeit zur Ermittlung der aus strukturellen und institutionellen Gründen unvermeidbaren Arbeitslosenquote (→ Kap. 10.2) besteht darin, kurzfristige Schwankungen von der längerfristigen Trendkomponente methodisch zu trennen (→ Kap. 16.5f.). Vom Trend würde dann auf die „normale“ Arbeitslosenquote geschlossen. Eine weniger anspruchsvolle Vorgehensweise bedient sich der einfachen deskriptiven Statistik und ihrer Maße: Die arithmetischen Mittel der ALQs liegen zwischen 2000 und 2015 bei 7,1 % (ILO-Konzept) und 8,7 % (BA-Konzept). Unter der Annahme, dass die normale Arbeitslosenquote in dem Zeitraum stabil ist, würde Normalauslastung der Arbeit also bei einer Erwerbslosenquote (ILO) von vielleicht 7-8 % bzw. bei einer ALQ (BA) von 8-9 % liegen. Dies kann aber ein Trugschluss sein und zwar dann, wenn (a) die Volkswirtschaft in der Zeit extremen sektoralen/ regionalen Änderungen („Strukturbrüche“) oder Krisen unterworfen war, oder wenn (b) institutionelle Reformen die gesamtwirtschaftliche Arbeitsmarktlage spürbar beeinflusst haben. So wurden in Deutschland z.B. in den Jahren ab 2003 institutionelle Reformen durchgeführt, die auf größere Arbeitsanreize abzielten (z.B. durch den Abbau von Lohnersatzleistungen und die Senkung der Zumutbarkeitsschwellen für Arbeitsangebote) sowie Maßnahmen zur Entlastung der Arbeitgeber enthielten (z.B. in den Bereichen Lohnnebenkosten, Kündigungsschutz und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse). Die Reformen der sog. Agenda 2010 dürften in den nachfolgenden Jahren die Höhe der institutionellen Arbeitslosigkeit - insb. der Erwerbslosenquote nach dem ILO-Konzept - reduziert haben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008ff. ist ebenfalls zu berücksichtigen. Insoweit mag die als im Durchschnitt als „normal“ zu betrachtende Erwerbsbzw. Arbeitslosenquote bis etwa 2005 sogar über den oben ermittelten Durchschnittswerten von 7,1 % und 8,7 % gelegen haben, während sie mittlerweile deutlich darunter liegt. Zeitliche Entwicklung der Unterbeschäftigungsquote 11.2.2 Die Arbeitslosenquote der BA berücksichtigt nicht die gemeldeten Arbeitsuchenden in Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik und andere Personen mit einem der Arbeitslosigkeit ähnlichen Status. Diese werden hingegen in der Unterbeschäftigungsquote der BA erfasst, welche insoweit ein besseres Bild der Beschäftigungslage zeichnet. → Schaubild 11.2 zeigt die Entwicklung der Unterbeschäftigungsquote für Deutschland seit 1995. Sie lag bis 2006 deutlich über 11 % und ist danach mit Ausnahme des Jahrs 2009 (Finanzkrise! ) kontinuierlich gesunken. Die Entwicklung der Unterbeschäftigungsquote spiegelt erwartungsgemäß sowohl konjunkturelle Schwankungen als auch die Wirkungen der institutionellen Reformen noch deutlicher wider als die Arbeitslosenquote (→ Abb. 11.1). <?page no="75"?> 76 Leitbild und Ziele Quelle: B UNDESAGENTUR FÜR A RBEIT , 2015 (und eigene Berechnungen). Abb. 11.2: Unterbeschäftigungsquote (BA) in Deutschland 1995-2014 (ohne Kurzarbeit) Die Betrachtung nur einer Volkswirtschaft über einen längeren Zeitraum hinweg gibt brauchbare Hinweise auf den Beschäftigungsstand, der unter den gegebenen strukturellen und institutionellen Bedingungen in der Volkswirtschaft durchschnittlich in etwa erreichbar ist. Dies passt zu dem konjunkturpolitischen Ansatz zur Definition von Vollbeschäftigung und dem hieraus abgeleiteten Ziel, konjunkturelle Arbeitslosigkeit zu verhindern. Internationaler Vergleich der Arbeitslosenquoten 11.2.3 Besteht hingegen der (politische) Anspruch, die Arbeitslosigkeit auf das strukturell unvermeidbare Maß zu reduzieren, ist die Betrachtung mehrerer Volkswirtschaften geeigneter. Der internationale Vergleich wirtschaftlich ähnlich entwickelter und strukturierter Länder lässt nämlich gewisse Rückschlüsse auf die Höhe des mittelbis langfristig maximal machbaren Beschäftigungsstands zu. Das heißt, der internationale Vergleich gibt Hinweise auf die institutionell bedingte Arbeitslosigkeit, die vermeidbar wäre. Denn da die institutionellen Rahmenbedingungen in den Ländern unterschiedlich sind, sollten sie sich auch in einem unterschiedlich hohen Maß an institutioneller Arbeitslosigkeit niederschlagen. Die national definierten Arbeitslosen- und Beschäftigungsquoten werden in den einzelnen Ländern unterschiedlich definiert und ermittelt. Daher eignen sie sich nicht für einen internationalen Vergleich. Stattdessen werden die Indikatoren gemäß dem Labour-Force-Konzept der ILO verwendet. → Abb. 11.3 zeigt die Erwerbslosenquoten des 4. Quartals 2016 für Deutschland und 20 weitere OECD-Mitgliedstaaten. Deutschland ist hier eines der Länder mit der niedrigsten Arbeitslosenquote. Dies impliziert jedoch nicht zwingend, dass die unvermeidliche Erwerbslosenquote für ein marktwirtschaftlich organisiertes Hocheinkommens- und Industrieland bei konjunktureller Normalauslastung etwa 4,5 % beträgt. Denn schließlich handelt es sich bei der Übersicht um die Betrachtung nur einen Quartals. 8% 9% 10% 11% 12% 13% 14% 15% 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 <?page no="76"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 77 Quelle: OECD, 2016a. Abb. 11.3: Erwerbslosenquoten in der OECD 2016 (4. Quartal) Der internationale Vergleich der Arbeitslosigkeit über einen längeren Zeitraum ist für die hier interessierende Fragestellung geeigneter. Der Nachteil ist allerdings, dass die parallele Betrachtung der vielen Daten leicht unübersichtlich zu werden droht (→ Abb. 11.4). → Abb. 11.5 zeigt die Entwicklung der Erwerbslosenquote (1995-2015) deshalb nur für einen Teil der in → Abb. 11.3 genannten Länder. Sie reicht aus, um eine Vorstellung über das Intervall zu erhalten, in welchem sich die Arbeitslosenquoten in industriell weit entwickelten Hocheinkommensländern in der jüngeren Vergangenheit bewegten. 24,8 21,7 12,3 11,7 10,5 10,3 9,5 8,0 7,7 7,3 7,0 6,9 6,2 6,0 5,3 5,2 4,9 4,6 4,5 3,6 3,4 Griechenland Spanien Portugal Italien Frankreich Türkei Finnland Belgien Luxemburg Schweden Kanada Niederlande Dänemark Neuseeland Vereinigtes Königreich USA Schweiz Deutschland Norwegen Süd-Korea Japan OECD-Schnitt (6,7%) Angaben in % <?page no="77"?> 78 Leitbild und Ziele Quelle: OECD, 2016a. Abb. 11.4: Entwicklung der Erwerbslosenquoten in OECD-Staaten 1995-2015 Quelle: OECD, 2016a. Abb. 11.5: Entwicklung der Erwerbslosenquoten in Deutschland, den USA und im OECD- Durchschnitt 1995-2015 Erwerbslosenquoten unter 2 % sind nahezu nichtexistent (→ Abb. 11.4). Quoten unter 3 % sind sehr selten und somit ein Zeichen für Überbeschäftigung. Erwerbslosenquoten zwischen 3 und 4 % sind sowohl insgesamt (→ Tab. 11.2) als auch für die Länder mit der tendenziell niedrigsten Erwerbslosigkeit (USA und Japan) so selten, dass auch sie höchstwahrscheinlich primär in expansiven Phasen auftreten. Erwerbslosenquoten über 9 % sind vor allem vor der Finanz- und der nachfolgenden Eurokrise (2008ff.) aufgetreten und insgesamt zu selten als dass sie als unvermeidbar gelten können. Quoten unter 7 % und über 4 % sind hingegen häufig genug, um unter nor- 0% 1% 2% 3% 4% 5% 6% 7% 8% 9% 10% 11% 12% 13% 14% 15% 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Deutschland 0% 1% 2% 3% 4% 5% 6% 7% 8% 9% 10% 11% 12% 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 USA OECD Deutschland <?page no="78"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 79 malen konjunkturellen Bedingungen als erreichbar erachtet zu werden. Sprich: Der Blick auf → Abb. 11.4 und → Tab. 11.1 lässt den Schluss zu, dass Vollbeschäftigung im Sinne unvermeidbarer Arbeitslosigkeit „irgendwo“ bei einer ELQ zwischen 4 und 7 % liegen könnte. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Betrachtung eines anderen Zeitraums - z.B. 1980 bis 2000 - andere Schlussfolgerungen nahelegen würde. 1995-2015 Ar ithm eti sches Mit tel Median Maximum ohne 2009-15 [mit 2009-15] Minimum Rela tive H äu fig keit eine r Qu ot e von 4-7 % De uts ch land (21 Werte) 8,1 % 8,3 % 11 ,3 % [11,3 %] 4,6 % 0,24 USA (21 Werte) 6,0 % 5,5 % 7,4 % [9,6 %] 4,0 % 0,76 21 OECD- Staaten (427 Werte) 7,4 % 6,8 % 20,8 % [27,5 %] 1,9 % 0,35 Quellen: OECD, 2016a ( eigene Berechnungen). Tab. 11.1: Entwicklung der Erwerbslosenquote, OECD 1995-2015 Schätzung der inflationsstabilen Arbeitslosenquote (NAIRU) 11.2.4 Das Verhältnis von Arbeitsangebot zu Arbeitsnachfrage, bei dem es zu keinen inflationsbeschleunigenden oder deflationären Prozessen kommt, stellt sich annahmegemäß bei einer bestimmten Arbeitslosenquote ein, der sog. NAIRU (→ Kap. 10.1.2). Die inflationsstabile Arbeitslosenquote kann nicht beobachtet, sondern muss geschätzt werden. Dabei werden verschiedene Ansätze verwendet. Der statistische Ansatz geht - vereinfacht formuliert - davon aus, dass die NAIRU dem Trend der ALQ entspricht. Die statistische Bereinigung der tatsächlichen Arbeitslosenquote um zyklische Schwankungen führt somit zur NAIRU bzw. zu ihrer Entwicklung im Zeitverlauf. Ökonometrisch anspruchsvollere Ansätze gehen von Modellen aus, die es erlauben, institutionelle Änderungen und andere Änderungen auf der Angebotsseite zu berücksichtigen. Zusätzlich lässt sich der Lohn-Inflations-Zusammenhang explizit in das Modell bzw. die Berechnungen integrieren. Die Schätzung der NAIRU ist mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden, welche mit unterschiedlichen Methoden angegangen werden können. Somit liegt es nahe, dass verschiedene Untersuchungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die → Tab. 11.2 zeigt exemplarisch die NAIRU-Schätzungen für die sechs wirtschaftlich größten OECD-Mitglieder. Die OECD schätzt die NAIRU in einem gemischten Ansatz aus Trendermittlung und ökonometrischem Modell (T URNER et al., 2001). Die geschätzte NAIRU ist in den kontinentaleuropäischen Ländern im Durchschnitt höher als in den USA. In den USA ist sie wiederum höher als in Japan, auch wenn sie in Japan im Laufe der 1990er-Jahre deutlich angestiegen ist. Ferner ist die geschätzte NAI- RU nach 2008 in allen Ländern mit Ausnahme Deutschlands für mehrere Jahre gestiegen. Die deutsche NAIRU hat sich den Schätzungen der OECD zufolge der von den <?page no="79"?> 80 Leitbild und Ziele USA und Großbritannien, in denen die institutionellen Bedingungen als besonders besch äftigu ng sför der lich g elt en, zun äch st an gen äh er t un d l iegt mittler weile dar unter . Jahr USA Japan Deutschland UK Frankreich Italien 1990 5,99 2,53 6,1* 8,83 8,56 8,93 1995 5,61 3,08 7,15 8,16 9,79 9,42 2000 5,39 3,81 7,61 6,12 8,99 9,11 2005 5,57 4,12 8,11 5,60 8,70 7,77 2007 5,71 4,15 7,66 5,97 8,50 7,42 2009 6,00 4,28 7,28 6,56 8,79 7,57 2011 6,09 4,31 6,84 6,86 8,96 7,80 2013 6,10 4,31 6,52 6,92 9,16 9,49 2015 5,43 3,84 4,95 5,97 9,2 9,1 Quelle: OECD, 2015a. (*1991) Tab. 11.2: Schätzungen der NAIRU für die sechs größten Volkswirtschaften in der OECD 1990-2015 Legt man die Zahlen aus → Tab. 11.2 zugrunde, so lässt sich ein ähnlicher Schluss ziehen wie aus der Betrachtung der Entwicklung der beobachteten Erwerbslosenquoten (→ Abb. 11.4). Dazu zählt, dass eine Erwerbslosenquote unter 3 % dauerhaft nicht aufrechtzuerhalten ist. Das Bild ändert sich kaum, wenn man für den Zeitraum alle Länder betrachtet, für welche sich Schätzungen der NAIRU in der OECD- Datenbank befinden. Vielmehr bekräftigt sich dann der Eindruck, dass eine NAIRU von wiederholt unter 4 % nur in sehr wenigen Ländern vorkam. Neben Japan und Österreich sind dies Länder, die in wirtschaftlicher Hinsicht kaum mit den übrigen Staaten vergleichbar sind (Island, Luxemburg, Schweiz und Südkorea). Vollbeschäftigungskorridor 11.2.5 Besonders für die Praxis empfiehlt es sich, das Vollbeschäftigungsziel nicht als eine feste Zahl (z.B. ALQ von 0,8 %), sondern in Form eines Intervalls anzugeben. Dafür sprechen die oben erläuterten Definitions- und Messprobleme, die unterschiedlichen Ansätze sowie die Kontextabhängigkeit und Komplexität des Vollbeschäftigungsbegriffs. Außerdem suggeriert ein einzelner Zielwert eine (Schein-)Genauigkeit, mit welcher der Beschäftigungsstand in einer Volkswirtschaft gesteuert werden kann, die nicht gegeben ist. In jüngerer Zeit wird daher zunehmend zum Konzept eines Vollbeschäftigungskorridors übergegangen (S TRAUBHAAR und B RÄUNINGER , 2011, S. 12). Vereinfacht ausgedrückt gibt der Korridor die Bandbreite der ALQ an, innerhalb der von Vollbeschäftigung gesprochen werden könnte. Allerdings impliziert eine ALQ innerhalb des Korridors nicht immer zwingend Vollbeschäftigung, sondern kann im Einzelfall auch eine Abweichung davon sein - je nach Höhe der übrigen Indikatoren sowie den übrigen gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen. Die Anforderung an solch <?page no="80"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 81 einen Vollbeschäftigungskorridor besteht darin, das Intervall für die Arbeitslosigkeit zu quantifizieren, von dem in aller Regel gesagt werden kann, dass keine ernsthafte Verletzung des Vollbeschäftigungsziels vorliegt. Der Nachteil eines Korridors anstelle eines exakten Zielwerts ist jedoch, dass ein Vollbeschäftigungskorridor vor allem, wenn er relativ weit definiert ist, die Gefahr birgt, den Staat und die Tarifparteien allzu leicht aus der beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Verantwortung zu entlassen.   Beispiel 2: Beispiele für Definitionen von Vollbeschäftigung „Ich bin der Meinung, unsere Arbeitslosenzahl brauchte nicht mehr als 3 Prozent zu betragen. Diese 3 Prozent wären als die Folge von Saisonarbeit, Stellenwechsel und internationalen Handelsschwankungen kaum zu vermeiden.“ (B EVERIDGE , 1946, S. 15) „Unter Vollbeschäftigung - oder hohem Beschäftigungsstand - wird […] eine Arbeitslosenquote von 0,8 % [...] verstanden.“ (SVR, 1967, S. 128) „Eine gesellschaftlich akzeptierte Arbeitslosigkeit könnte bei fünf Prozent liegen. […] [D]urch die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt wird es immer eine Quote von etwa zwei Prozent geben. Die Spannbreite dieses Spektrums [für eine Definition von Vollbeschäftigung] reicht insofern von zwei bis fünf Prozent.“ (S TRAUBHAAR , 2012, S. 12) „Schon bei einer Arbeitslosenquote von rund fünf Prozent fühlt sich eine Gesellschaft vollbeschäftigt.“ (B ERNAU , 2013) „[Es] lässt sich schlussfolgern, dass mit einer Arbeitslosenquote zwischen 2 und 3 Prozent wieder Vollbeschäftigung erreicht sein könnte.“ (W EBER , 2014, S. 9) „The Bank of England […] deem „full employment“ to be when the jobless rate is at about 5 per cent. […] The chancellor, however, redefined the target as meaning that Britain would “have more people working than any of the other countries in the G7 group.“ (F INANCIAL T IMES , 2014) Friktionelle Arbeitslosigkeit „[…] ist der Grund, weshalb Vollbeschäftigung nicht mit einer Arbeitslosenquote von Null gleichgesetzt wird, sondern schon bei 2 bis 4 Prozent erreicht ist.“ (I NSTITUT DER DEUTSCHEN W IRTSCHAFT , 2015) Ergänzende Indikatoren 11.2.6 Ist die Arbeitslosenquote bzw. Erwerbslosenquote im zeitlichen und internationalen Vergleich sehr hoch - also z.B. größer als 10 % - so kann in aller Regel von einer ernsthaften Verletzung des Vollbeschäftigungsziels gesprochen werden. Selbst wenn eine sehr hohe ALQ mit den Vollbeschäftigungsansätzen der inflationsstabilen ALQ (NAIRU) und der Normalauslastung vereinbar sein könnte, würde sie in der politischen Praxis wohl als inakzeptabel hoch gelten. Ist die ALQ hingegen niedrig oder mittelhoch, ist eine Bewertung schwieriger, so dass weitere Indikatoren berücksichtigt werden sollten. Einerseits kann nämlich z.B. bei einer geringen Erwerbslosenquote dennoch eine erhebliche Unterbeschäftigung mit spürbaren volkswirtschaftlichen und individualökonomischen Negativwirkungen vorliegen. Gründe können u.a. unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung oder große stille Reser- <?page no="81"?> 82 Leitbild und Ziele ven sein. Andererseits kann bei einer mittelhohen Erwerbslosenquote prinzipiell sogar Überbes chäf ti gu ng he rrsche n, w en n z .B. di e Da uer n d er A rbeit slos igk ei t seh r niedrig sind oder relativ viele offene Stellen existieren. 11.2.6.1 Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung Das Labour-Force-Konzept der ILO versteht Erwerbstätigkeit in einem extensiven Sinn (R ENGERS , 2006, S. 238), indem es eine Person mit einer Beschäftigung von nur einer Stunde in der Berichtswoche bereits zu den Erwerbstätigen rechnet (1-Stunden- Kriterium). Ein umfassenderes Bild über den Auslastungsgrad erhält man, wenn ergänzend das Ausmaß unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung betrachtet wird. Schätzungen hierüber werden seit geraumer Zeit von der OECD für einen Teil der Mitgliedstaaten veröffentlicht, so dass - mit einigen Einschränkungen - internationale Vergleiche möglich sind. Jahr Deutschland Frankreich Italien Japan UK USA EU- Schnitt OECD- Schnitt 1995 1,6 6,2 2,4 … 3,2 … 2,9 2,2 2000 2,3 4,6 3,2 … 2,5 0,7 2,8 1,8 2005 4,9 4,9 4,9 4,7 2,1 0,9 3,8 2,6 2010 5,3 5,3 7,3 6,2 4,0 1,7 5,2 3,5 2011 4,1 5,2 8,2 5,8 4,7 1,8 5,3 3,4 2012 3,9 5,3 9,7 5,2 4,9 1,8 5,7 3,5 2013 4,0 6,8 11,0 5,0 5,0 1,8 6,3 3,7 2014 3,7 7,0 11,7 4,8 4,6 1,7 6,3 3,7 Quelle: OECD, 2016c. Tab. 11.3: Anteil der unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten an den Erwerbstätigen in den größten OECD-Volkswirtschaften in Prozent 1995-2014 → Tab. 11.3 verdeutlicht, dass unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung in den Ländern unterschiedlich stark verbreitet ist. Ihr Anteil an den Erwerbstätigen liegt in dem betrachteten Zeitraum zwischen 2 und 12 %. In den USA ist sie den Daten der OECD zufolge eher selten, allerdings hat sie dort während der Finanz- und Wirtschaftskrise zugenommen. Vergleicht man → Tab. 11.3 mit → Abb. 11.2, so ist ein gewisser Gleichklang zwischen der Entwicklung der Erwerbslosigkeit mit der unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigung zu erkennen. In Deutschland nahm unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung ab dem Jahr 2000 zunächst spürbar zu. Hier schlägt vor allem die Zunahme sog. Minijobs zu Buche, die durch die sog. Agenda 2010-Reformen begünstigt wurde. Dies geschah zunächst bei parallelem Anstieg der Erwerbslosigkeit. Als diese nach 2009 kontinuierlich zurückging, ging die unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung wenig später ebenfalls deutlich zurück. Dies gilt sowohl anteilig an der Erwerbstätigkeit als auch in absoluten Zahlen: Die Personen, die in Deutschland Teilzeit arbeiten, jedoch gerne mehr arbeiten möchten und dies auch könnten, sank von ca. 2 Mio. (2010) auf 1,5 Mio. (2014). <?page no="82"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 83 11.2.6.2 Langzeitarbeitslosigkeit Eine hohe ALQ bei zugleich niedriger Abgangs- und Bestandsdauer der Arbeitslosigkeit weist auf hohe Fluktuationsraten am Arbeitsmarkt hin. Somit herrscht in solch einem Fall eine große - freiwillige oder unfreiwillige - Mobilität der Arbeitskräfte. We nn die K urz zeita rb eitslo sigkeit zur S uch e na ch einem b esser p ass end en A rbe i tspl atz genutzt wird, geht damit meistens eine höhere Produktivität einher. Somit ist die Kurzarbeitslosigkeit aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht nur negativ, sondern auch positiv zu sehen. Aus individualökonomischer Sicht sind die Einkommensverluste durch kurze Zeiten der Arbeitslosigkeit ebenfalls meist akzeptabel. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Ersparnisse und die staatlichen Lohnersatzleistungen ausreichen, den materiellen Lebensstandard für die Dauer der Arbeitslosigkeit ungefähr zu halten. Wie oben (→ Kap. 8) ausgeführt, ist Langzeitarbeitslosigkeit hingegen für die Betroffenen mit sehr hohen materiellen sowie immateriellen Einbußen verbunden und kann erhebliche volkswirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Kosten verursachen. → Abb. 11.6 gibt einen Eindruck über die Langzeitarbeitslosenquote in sechs OECD-Staaten. Sie divergiert erheblich zwischen den Ländern. In Deutschland war in den letzten 20 Jahren ca. jeder zweite Arbeitslose seit Längerem ohne Beschäftigung, während Langzeitarbeitslosigkeit in den USA erst im Zuge der Finanzkrise ein nennenswertes Ausmaß erreichte. Quelle: OECD, 2016a. Abb. 11.6: Anteil der Langzeiterwerbslosen an allen Erwerbslosen in OECD-Staaten 1995-2014 11.2.6.3 Relation von Arbeitslosen zu offenen Stellen Daten über die Zahl offener Stellen liegen nur für einen Teil der OECD- Mitgliedstaaten und nur für jeweils unterschiedliche Zeiträume vor. Entsprechend ist die Zahl der Länder und der Jahre begrenzt, mittels derer ein durchschnittliches Verhältnis von Arbeitslosen zu offenen Stellen ermittelt werden kann. → Abb. 11.7 zeigt, wie viele Erwerbslose (ILO-Konzept) auf eine offene Stelle in einzelnen OECD- Staaten im Zeitraum 2000-2013 kamen. In diesen Ländern war die Zahl der Arbeitsu- 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Frankreich Italien Deutschland OECD-Schnitt Japan Kanada USA <?page no="83"?> 84 Leitbild und Ziele chenden zu jedem Zeitpunkt mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der offenen Stelle n. Die se r Be fu nd de ut et da rauf hin, dass e s in allen V ol kswirtschaften Ar beitslosigkeit gibt, die über reine Sucharbeitslosigkeit hinausgeht. Mit anderen Worten: Ein gewisses Maß an struktureller (und institutionell bedingter) Arbeitslosigkeit scheint unvermeidbar zu sein. Dies scheint selbst für Länder wie den USA der Fall zu sein, in denen der Arbeitsmarkt als relativ wenig reguliert und die Lohnersatzleistungen als wenig attraktiv gelten. Sieht man von den USA und Großbritannien ab, erscheint sogar ein Verhältnis zwischen Arbeitssuchenden und offenen Stellen von etwa 5: 1 empirisch „normal“ zu sein. Deutschland lag bis 2011 deutlich darüber, was die Einschätzung vieler Ökonomen stützt, dass Deutschland lange Zeit unter einem überdurchschnittlich hohen Maß an struktureller und institutionell bedingter Arbeitslosigkeit litt. Quelle: OECD, 2016a. Abb. 11.7: Erwerbslose pro freier Stelle in OECD-Ländern 2000-2013   Was meinen Sie jetzt? Angenommen, Sie würden nochmals als Bürger/ -in vom Verfassungsgericht angehört, hätten → Tab. 9.1 vorliegen und sollten folgende Fragen beantworten:  Wurde Ihres Erachtens das Ziel „hoher Beschäftigungsstand“ in Deutschland im Jahr 2016 erreicht?  Wurde das Ziel Ihres Erachtens ernsthaft verletzt?  Charakterisieren und quantifizieren Sie „Ihren“ persönlichen Vollbeschäftigungskorridor mithilfe von maximal drei Indikatoren. 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Schweden Schweiz Norwegen Österreich UK Deutschland USA <?page no="84"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 85 Fazit zum Ziel der Vollbeschäftigung des Produktions- 11.3 faktors Arbeit Normativität des Vollbeschäftigungsbegriffs 11.3.1 Es gibt weder eine einheitliche Definition von Vollbeschäftigung bzw. hohem Beschäftigungsstand, noch lässt sich die Höhe des Beschäftigungsstands einfach ermitteln, geschweige denn mithilfe nur eines Indikators. Vollbeschäftigung wird unterschiedlich definiert und ist zudem ein zeit- und gesellschaftsabhängiges Konstrukt. Die Einstufung einer konkreten Beschäftigungslage als Unter-, Voll- oder Überbeschäftigung ist hoch normativ. Das heißt, bei der Einschätzung fließen unweigerlich Werturteile in erheblichem Maße ein. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die menschliche Arbeitskraft untrennbar mit dem Menschen verbunden ist. Erwerbstätigkeit bildet zudem nach wie vor die Haupteinkommensquelle der meisten Menschen. Sie ist auch darüber hinaus von großem Stellenwert für die Zufriedenheit und das Selbstwertgefühl des Einzelnen sowie seinen gesellschaftlichen Status. Die Entscheidung, ob das Beschäftigungsziel erreicht ist und anhand welcher Indikatoren dies zu bewerten ist, hängt unter anderem davon ab, welche Begründungen für einen hohen Beschäftigungsstand an vorderster Stelle stehen. Wer die individuellen Begründungen besonders stark gewichtet, wird die anteilige Langzeitarbeitslosenquote für einen der wichtigsten Indikatoren erachten. Wem vor allem die dauerhafte Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktion ein Anliegen ist, der wird die Langzeitarbeitslosigkeit ebenfalls als ein Kernproblem erachten, insb. weil sie Humankapital vernichtet, aber er würde auch der Erwerbsquote im Allgemeinen und der Quote des ungenutzten Arbeitskräftepotenzials im Besonderen hohes Gewicht beimessen. Steht hingegen der konjunkturpolitische Stabilisierungsauftrag im Vordergrund, so ist strukturell bzw. institutionell bedingte Arbeitslosigkeit und daher auch ein großer Teil der Langzeitarbeitslosigkeit von geringerer Bedeutung. In der makroökonomischen Theorie - und zwar insbesondere in Lehrbüchern - hat es sich eingebürgert, zwischen der kurz-, mittel- und langfristigen Sicht zu unterscheiden (→ Kapitel 46). Die kurz- und mittelfristige Sicht berührt eher Fragen des Beschäftigungsgrads und der Konjunkturpolitik, während die langfristige Sicht primär wachstumspolitisch relevante Zusammenhänge behandelt. Vollbeschäftigung ist ein zentraler Begriff der kurz- und mittelfristigen Makroökonomie, während Vollbeschäftigung in der Wachstumstheorie meistens vorausgesetzt wird (→ Kap. 16.2) und es dabei nicht um die Auslastung, sondern um die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials geht. Beschäftigungsversus arbeitsmarktpolitische Perspektive 11.3.2 Ein divergierendes Verständnis von Vollbeschäftigung ist nicht nur charakteristisch für den Unterschied zwischen Konjunkturpolitik und Wachstumspolitik, sondern auch für den Unterschied zwischen Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungspolitik (F REDE- BEUL -K REIN et al., 2014, S. 319ff.). Vereinfacht kann gesagt werden, dass die Bewältigung friktioneller, saisonaler und Mismatch-Arbeitslosigkeit in das Ressort der Arbeitsmarktpolitik fällt. Im Falle sektoraler und regionaler Beschäftigungsprobleme sind außerdem die sektorale Strukturpo- <?page no="85"?> 86 Leitbild und Ziele litik und die Regionalpolitik gefordert. Soweit Maßnahmen im Hinblick auf freiwillige Arbe it sl os ig ke it e rgri ff en w er de n, k ö nnen a uc h die s e zu r A r bei tsma r ktp ol itik gez ä h lt werden. Arbeitsmarktpolitik ist in hohem Maße mikroökonomisch ausgerichtet. Sie verfolgt neben wirtschaftspolitischen Zielen auch andere gesellschaftspolitische Anliegen, z.B. sozial- und bildungspolitische Ziele. Die institutionell bedingte Arbeitslosigkeit wird seitens etlicher Politikbereiche beeinflusst. Ihre Bewältigung sollte entsprechend nicht allein der Arbeitsmarkt-, Lohn- und Sozialpolitik zugeordnet werden. Bildungs- und Wachstumspolitik, Wettbewerbs- und Außenhandelspolitik und viele andere Politikbereiche sind ebenso gefordert. Die Beschäftigungspolitik ist im Gegensatz zur stark mikroökomisch geprägten Arbeitsmarktpolitik makroökonomisch ausgerichtet. Sie ist zuständig, wenn Abweichungen vom Ziel des hohen Beschäftigungstandes durch die Entwicklung makroökonomischer Aggregate bedingt sind. Steigt eine Komponente der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, werden ceteris paribus mehr Arbeitskräfte zur Befriedigung der Nachfrage benötigt. Sinkt die Güternachfrage bzw. das Güterangebot, werden weniger Arbeitskräfte benötigt. Resultat sind im Wesentlichen konjunkturbedingte Beschäftigungsschwankungen. Die Grenzen zwischen strukturellen und konjunkturellen Beschäftigungsproblemen sind allerdings fließend. So kann beispielsweise einem Rückgang der Beschäftigung in Folge sinkender Auslandsnachfrage je nach Ursache besser mit konjunkturpolitischen Maßnahmen oder besser mit strukturellen Arbeitsmarktmaßnahmen begegnet werden. In der wirtschaftspolitischen Praxis ist es leider keineswegs immer eindeutig, welche Ursachen einem unerwünschten Beschäftigungsniveau zugrunde liegen. Hinzu kommt, dass die konjunkturelle Arbeitslosigkeit möglicherweise die Höhe der Trendarbeitslosigkeit beeinflusst. Menschen, die aufgrund konjunktureller Schwankungen den Arbeitsplatz verloren haben, finden teils selbst in konjunkturell guten Zeiten keine Beschäftigung. Das kann am Verlust an Humankapital durch Arbeitslosigkeit liegen. Ist z.B. die tatsächliche oder seitens der Arbeitgeber vermutete Produktivität von Langzeitarbeitslosen niedriger als der Tarif- oder gesetzliche Mindestlohn, führt ein Humankapitalverlust im Zuge konjunktureller Arbeitslosigkeit c.p. zu einem Anstieg der permanenten Arbeitslosigkeit. Selbst wenn es weder Tariflöhne, noch gesetzliche Mindestlöhne gäbe, kann dieser Effekt eintreten. Dies wäre z.B. der Fall, wenn Arbeitslose nicht bereit sind, zu einem relativ niedrigen Lohn zu arbeiten, weil alternative Einkommensquellen (Sozialleistungen, Unterstützung durch Familie und Freunde, Vermögenseinkommen) ausreichen, um das soziokulturelle Existenzminimum oder mehr zu decken. Der Einfluss der konjunkturellen Arbeitslosigkeit auf die Höhe der mittelbis langfristigen („normalen“ oder „natürlichen“) Arbeitslosigkeit kann aber auch dadurch erklärbar sein, dass konjunkturelle Entwicklungen das Trend-BIP beeinflussen. In konjunkturellen Tiefs oder gar Krisenjahren gehen Investitionen zurück. Damit geht nicht nur das kurzfristige Wachstum konjunkturell bedingt zurück, sondern das mittelbis langfristige Wachstum des Produktionspotenzials sinkt evtl. ebenfalls. Mithin werden von Krise zu Krise in den konjunkturell normalen Phasen weniger neue Produktionskapazitäten aufgebaut als es ohne Tief bzw. Krise der Fall gewesen wäre. Entsprechend werden zur Bedienung und Wartung des Kapitals auch weniger Arbeitskräfte benötigt. Die zugrundeliegende These lautet: Der Konjunkturverlauf ist mehr als ein Schwanken <?page no="86"?> „Hoher Beschäftigungsstand“ in der Praxis? 87 der tatsächlichen Produktion um den mittelbis langfristig determinierten Wachstumspfad bei Normalauslastung. Konjunkturelle Entwicklungen beeinflussen vielmehr den langfristigen Wachstumspfad. Diese These widerspricht der neoklassischen Vorstellung eines gleichgewichtigen Wachstumspfads (→ Kap. 16.1.1 ), der von Störungen unabhängig sei. Die Überlegung, dass Konjunkturausschläge den Wachstumstrend nachhaltig beeinflussen, lässt sich demgegenüber in die keynesianische Theorie der Makroökonomik durchaus einfügen. Der keynesianischen Theorie zufolge bestimmen nicht allein die Verfügbarkeit an Arbeitskräften (Arbeitsangebot) und die Kosten des Produktionsfaktors Arbeit (Lohn, Lohnnebenkosten, Lohnstückkosten etc.) das mittel- und langfristige Beschäftigungsniveau, sondern die Höhe der Güternachfrage einschließlich der Nachfrage nach Investitionsgütern spielt sowohl kurzfristig als auch langfristig ebenfalls eine Rolle. Pragmatischer Ansatz 11.4 Vollbeschäftigung lässt sich zwar in der Praxis nicht eindeutig bestimmen, aber die Betrachtung der nationalen Beschäftigungslage im Zeitverlauf und im internationalen Vergleich erlaubt gleichwohl einige Schlussfolgerungen für die Definition von Vollbeschäftigung. Die Entwicklung der Erwerbslosenquote (ILO-Konzept) bei gleichzeitiger Betrachtung der Quote der unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten erlaubt z.B. eine Einschätzung dessen, was normalerweise möglich ist und entsprechend als hoher Beschäftigungsstand bezeichnet werden kann. Speziell für Deutschland stellt außerdem die Unterbeschäftigungsquote der BA einen vergleichsweise gut geeigneten Indikator dar.  Beispiel 3: Ein Beispiel für einen Vollbeschäftigungskorridor ILO-Quoten für Deutschland und ähnliche Volkswirtschaften  Erwerbslosenquote: 4-6 %  Langzeiterwerbslosenquote: 10-25 %  Anteil unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter an den Erwerbstätigen: 0,5-3 % Ein Wert außerhalb eines Intervalls kann zu einem gewissen Grad durch ausgleichende Werte in anderen Intervallen kompensiert werden. Beispiele: Vollbeschäftigung wäre trotz einer Langzeitarbeitslosigkeit von 40 % gegeben, wenn die Erwerbslosigkeit bei 4 % und unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung bei 1 % läge. Vollbeschäftigung und nicht Überbeschäftigung wären trotz einer Erwerbslosenquote von 2 % gegeben, wenn die unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung bei mehr als 20 % aller Erwerbstätigen gegeben wäre. Welcher Korridor letztlich als Vollbeschäftigung erachtet wird, ist nicht frei von Willkür. Das erschwert es, sich auf eine Zielmarke festzulegen. Die Festlegung eines Vollbeschäftigungskorridors erfordert aber auch Mut, u.a. weil das Risiko von Fehldiagnosen besteht. Es sei z.B. angenommen, dass die Erwerbslosenquote bei 5 % liegt. Unter den Erwerbslosen befinden sich nur 15 % Langzeitarbeitslose. Die Quote der <?page no="87"?> 88 Leitbild und Ziele unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten beträgt 3 %. Es klingt plausibel, diese Situation zumindest als keine ernstha ft e V er le tz un g d es V ollbe sc häft ig un gsz ie ls zu b ewer ten . W a s aber, wenn im Extrem alle unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten nur einen Bruchteil der gewünschten Arbeitszeit beschäftigt sind (z.B. 1-4 statt 30-40 Std./ Woche)? Dann wäre die Volkswirtschaft vermutlich weit von Vollbeschäftigung entfernt. Der Leser sollte also im Kopf behalten, dass eine abschließende Einschätzung ohne weitere zuverlässige Informationen nicht möglich ist. Jeder Beschäftigungsindikator hat seine Schwächen und zeitliche wie auch internationale Vergleiche können zu Fehlschlüssen verleiten. 12 Vollauslastung des Produktionsfaktors Kapital Da es im allgemeinen Sprachgebrauch üblicher ist, wird im Folgenden meist vom Ziel der Vollauslastung des gesamtwirtschaftlich verfügbaren Kapitals und nicht von dessen Vollbeschäftigung gesprochen. Wie bereits erwähnt, wird im Kontext der Auslastung des Faktors Kapitals auf das produzierte Anlagekapital abgestellt. Damit wird Humankapital ebenso wie andere Formen des immateriellen Kapitals nicht berücksichtigt.  Wissensbox 7: Potenzial- und Repetierfaktoren In der betriebswirtschaftlichen Produktions- und Kostentheorie werden die Produktionsfaktoren gegliedert in Potenzialfaktoren und Repetierfaktoren. Potenzialfaktoren werden mehrmalig verwendet (z.B. Druckmaschinen), während Repetierfaktoren (auch: Verbrauchsfaktoren) nur einmalig im Produktionsprozess verwendet und dabei voll verzehrt werden (z.B. Druckfarben). Kapital besteht aus Potenzialfaktoren (→ Wissensbox 7). Die Einstufung eines Produktionsgutes als Potenzialfaktor ist allerdings nicht immer eindeutig (→ Kap. 2.2). Begründung für die Vollauslastung des Kapitals 12.1 Als Begründung für eine Vollauslastung des Kapitals wird vor allem das wirtschaftspolitische Ziel angeführt, mit dem vorhandenen Kapitalbestand (Kapitalstock) einen möglichst großen materiellen Wohlstand zu erreichen. Hinzu kommen ebenso wie bei der Vollbeschäftigung der Arbeit fiskalische Gründe. Je besser die Produktionskapazitäten ausgelastet sind, desto höher sind c.p. der produzierte Güterberg und in der Regel auch das Nationaleinkommen sowie die Konsumausgaben, welche via die Einkommen- und Konsumbesteuerung (z.B. ESt u. MwSt.) die Steuerbasis vergrößern (→ Kap. 8). Für eine Vollauslastung des Kapitals sprechen zudem grundsätzlich auch individualökonomische Gründe. Kapitaleigentümer beziehen aus der Nutzung ihres Kapitals Einkommen. Liegt ihr Kapital brach, entstehen ihnen keine Einkünfte. Da jedoch andere Einkommensarten (insb. Löhne und Gehälter) in der Praxis den deutlich größeren Teil <?page no="88"?> Vollauslastung des Produktionsfaktors Kapital 89 des Einkommens fast aller privaten Haushalte ausmachen, spielt die unmittelbare individuelle Einkommenssicherung als Begründung für die Vollauslastung des Kapitals eine wesentlich geringere Rolle als bei dem Ziel der Vollbeschäftigung der Arbeit. Die Auslastung der Produktionskapazitäten ist hingegen von nennenswerter mittelbarer Relevanz für die individuelle Einkommenssicherung, denn in vielen Fällen hängt das individuelle Haushaltseinkommen aus Erwerbstätigkeit mit der Kapitalauslastung zusammen. Liegt z.B. das Kapital eines Rechtsanwalts (Büromöbel, Rechtskommentare und andere Fachliteratur, IT-Ausstattung etc.) brach, dann bedeutet dies vereinfacht, dass er (nahezu) erwerbslos ist, und weder er, noch seine (ehemaligen) Mitarbeiter ein Erwerbseinkommen beziehen. Gleiches gilt für den Auslastungsgrad in der verarbeitenden Industrie: Sind die Maschinen nicht voll ausgelastet, bedarf es in der Regel auch weniger Arbeitskräfte als bei einem voll ausgelasteten Kapitalstock. Zielerreichungsindikator 12.2 Der Indikator für den Beschäftigungsstand des Produktionsfaktors Kapital ist dessen Auslastungsgrad. Da der Auslastungsgrad des gesamtwirtschaftlichen Kapitalstocks nicht direkt beobachtet werden kann, muss der Kapitalauslastungsgrad geschätzt werden. Dafür wird hauptsächlich auf Unternehmensbefragungen zurückgegriffen. In den Befragungen werden Unternehmen gebeten, den Auslastungsgrad ihrer Produktionskapazitäten selbst einzuschätzen und in Prozent anzugeben. Das Befragungsergebnis wird dann hochgerechnet, um zum gesamtwirtschaftlichen Auslastungsgrad zu gelangen. Solche Befragungen finden mittlerweile in den meisten OECD-Staaten und in einigen Schwellenländern statt. Die E UROPÄISCHE K OMMISSION hat harmonisierte Standards für die Unternehmensbefragungen entwickelt, die in die amtlichen Statistiken der EU eingehen (E UROPEAN C OMMISSION , 2014). In Deutschland ist das Münchener I FO -I NSTITUT mit den Umfragen beauftragt. Diese führt es im Rahmen des ifo- Konjunkturtests (→ Wissensbox 8) durch. In Österreich macht dies das WIFO- I NSTITUT und in der Schweiz die KOF (Konjunkturforschungstelle der ETH Zürich).   Wissensbox 8: Was ist der ifo-Konjunkturtest? Er ist ein vom IFO -I NSTITUT entwickeltes und angewandtes Verfahren der Befragung von Unternehmen. Monatlich werden rund 7.000 Unternehmen nach ihrer wirtschaftlichen Lage, ihrer Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage und ihren Erwartungen befragt. Die Fragen bzw. Ergebnisse beziehen sich auf ca. 300 Teilmärkte (Produktgruppen). Der Test wird seit 1950 angewendet. Der prominenteste Indikator, der anhand der Umfrageergebnisse ermittelt und veröffentlicht wird, ist der ifo-Geschäftsklimaindex: Die Unternehmen werden zum einen um die Einstufung ihrer Geschäftslage als gut, befriedigend oder schlecht gebeten. Zum anderen sollen sie ihre Erwartungen für die kommenden sechs Monate als günstiger, gleichbleibend oder ungünstiger einschätzen. Das Geschäftsklima ist der Mittelwert der Lage- und Zukunftseinschätzungen. Er liegt zwischen plus 100 und minus 100. <?page no="89"?> 90 Leitbild und Ziele Andere Indikatoren des ifo-Konjunkturtests sind das Beschäftigungsbarometer, Index der Exporterwartungen und - seit 2003 - ein Index für die Kredithürde, d.h. den Schwierigkeiten, einen Unternehmenskredit zu erhalten. Bei den meisten Fragen wird um eine qualitative bzw. ordinal skalierte Antwort gebeten. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die vierteljährlich erbetene Auskunft nach dem Auslastungsgrad. Quellen: CES IFO G ROUP , 2015a, 2015b. Ein Nachteil der Befragungen ist, dass nur Unternehmen der verarbeitenden Industrie und das Bauhauptgewerbe nach der prozentualen Auslastung ihrer Produktionsanlagen befragt werden. Diese Branchen tragen aber mit nur ca. 26 % bzw. 5 % zum BIP bei. Der primäre Sektor (Fischerei, Land- und Forstwirtschaft) und der tertiäre Sektor (Dienstleistungsbranchen) werden gar nicht abgedeckt. Die Vernachlässigung lässt sich beim primären Sektor gut damit begründen, dass sein Beitrag zum BIP in Industrieländern gering ist (in Deutschland unter 1 %). Außerdem unterliegt die landwirtschaftliche Auslastung ohnehin kaum konjunkturellen Einflüssen, denn zumindest die Nachfrage nach Nahrungsmitteln ist weitgehend konjunkturunabhängig. Insoweit hängt der Auslastungsgrad des landwirtschaftlichen Kapitals (Mähdrescher etc.) in Deutschland kaum von der Konjunkturlage ab, sondern in hohem Maße von klimatischen und strukturellen Bedingungen. Der tertiäre Sektor trägt hingegen ca. 70 % zum BIP bei und ist in Teilen durchaus konjunkturabhängig. Die Dienstleistungsunternehmen werden jedoch nicht nach ihrem quantitativen Auslastungsgrad gefragt. Das liegt zu einem guten Teil daran, dass es für viele Dienstleistungsunternehmen nicht oder nur schwer möglich ist, den Auslastungsgrad ihres Kapitals in Prozent anzugeben. Man denke hier z.B. an die Auslastung eines Föns im Friseursalon. Eine der Ausnahmen ist das Hotelgewerbe, dessen Auslastungsgrad sich recht präzise anhand der Bettenbelegung berechnen lässt und für Deutschland vom S TATISTISCHEN B UNDESAMT ermittelt wird.   Wissensbox 9 Fragen aus den EU-weit harmonisierten Unternehmensbefragungen  an Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes: „Wir haben eine Kapazitätsauslastung von bis 30 40 50 60 70 80 90 100 Prozent“  an nicht finanzielle Dienstleistungsunternehmen: „Könnten Sie bei steigender Nachfrage mit ihren derzeitigen Ressourcen mehr Leistung erbringen? Nein/ Ja, um ca. … Prozent mehr.“ Quelle: E UROPEAN C OMMISSION , 2014, S. 27 u. 32. Die E UROPÄISCHE K OMMISSION sieht seit 2011 indes vor, dass in der von ihr beauftragten Unternehmensumfrage der Dienstleistungssektor trotz der methodischen Unwägbarkeiten zumindest mittelbar nach der Kapazitätsauslastung gefragt wird (E UR OPÄISCHE Z ENTRALBANK , 2014, S. 64-68). Aus den Angaben (→ Wissensbox 9) <?page no="90"?> Vollauslastung des Produktionsfaktors Kapital 91 lässt sich aufgrund der Ungenauigkeit zwar nicht auf den Auslastungsgrad des Sektors schließen, wohl aber auf dessen Tendenz (steigend, fallend oder gleichbleibend). Bestimmung des hohen Beschäftigungsstands 12.3 des Kapitals Beiträge grundlegender Beschäftigungstheorien 12.3.1 Die Beiträge der wirtschaftswissenschaftlichen Beschäftigungstheorie zur Definition des Kapitalauslastungsgrad, der Vollbeschäftigung bzw. einen hohen Beschäftigungsstand darstellt, sind im Prinzip die gleichen wie im Falle des Produktionsfaktors Arbeit. Im einfachen neoklassischen Faktormarktmodell wird unter Vollbeschäftigung verstanden, dass die maximale Auslastung der Produktionsanlagen erreicht ist. Das mikroökonomisch fundierte, neoklassische Modell abstrahiert jedoch sehr stark, indem es sehr realitätsferne Annahmen trifft. Dazu zählen die Homogenität des Kapitals, unendlich hohe Anpassungsgeschwindigkeiten und keine Transaktionskosten (z.B. Raumüberwindungskosten) (→ Kap. 16.1.1). Der sektorale und regionale Strukturwandel impliziert bei Heterogenität und einer gewissen Anpassungsträgheit, dass in der Volkswirtschaft viele Produktionsanlagen unterausgelastet sind und manche sogar brachliegen. Geht z.B. die Nachfrage nach heimisch produzierter Steinkohle zurück, so lassen sich die Förderanlagen nicht oder zumindest nicht in Kürze einer anderen wirtschaftlichen Verwendung zuführen. Hinzu kommen saisonale Schwankungen des Auslastungsgrads. Somit läuft der Beitrag des einfachen neoklassischen Modells in der wirtschaftspolitischen Praxis darauf hinaus, dann von Vollauslastung des Kapitals zu sprechen, wenn die Unterauslastung nicht über dem strukturell und saisonal unvermeidlichen Niveau liegt. In makroökonomisch orientierten Totalmodellen wird ebenso wie beim Arbeitsmarkt nicht die maximale Auslastung als Vollbeschäftigung erachtet. Die Vollauslastung des Kapitals gilt vielmehr dann als erreicht, wenn eine höhere Auslastung mit inflationären Prozessen verbunden wäre. Man könnte Vollauslastung somit als „inflationsneutrale Kapitalauslastung“ bezeichnen. Alternativ wird unter der Vollbeschäftigung des Kapitals die Abwesenheit von konjunktureller Über- oder Unterauslastung der Produktionsanlagen verstanden, also die gesamtwirtschaftliche „Normalauslastung“. Alle Ansätze verdeutlichen, dass die Zielsetzung auf einen Kapitalauslastungsgrad hinausläuft, der spürbar unter der nur gedanklich möglichen Maximalauslastung von technisch 100 % liegt. Der neoklassisch hergeleitete Vollbeschäftigungsbegriff stellt ein ehrgeizigeres Beschäftigungsziel dar als die sonst in der Makroökonomie gebräuchlichen Konzepte. Das am wenigsten ehrgeizige Ziel leitet sich aus dem Ansatz der hier als „inflationsneutral“ bezeichneten Auslastung der Produktionsanlagen ab. Quantitativ genauere Schlussfolgerungen über den wirtschaftspolitisch optimalen Auslastungsgrad können aus der Theorie allein nicht gezogen werden. <?page no="91"?> 92 Leitbild und Ziele Kontextabhängigkeit 12.3.2 Die Einstufung eines konkreten Kapitalauslastungsgrad als hoher Beschäftigungsstand bzw. als Schwelle zu einer ernsthaften Verletzung des Vollbeschäftigungsziels des Magischen Vierecks erfordert eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklungsphase einer Volkswirtschaft. In dynamischen, wirtschaftlich aufholenden Volkswirtschaften ist der „normale“ Auslastungsgrad gewöhnlich höher als in langsam wachsenden Industrieländern. Er ist in der Regel auch höher als in wirtschaftlich sehr unterentwickelten Ländern. Hier ist Kapital zwar äußerst knapp, was auf einen hohen Auslastungsgrad schließen ließe. In der Praxis mangelt es in diesen Ländern aber oft an ausreichendem Humankapital, Infrastruktur und institutionellem Sozialkapital, die zu den Voraussetzungen für eine Vollauslastung der Produktionsanlagen zählen. Volkswirtschaften in strukturellen Umbruchphasen haben demgegenüber naturgemäß eine niedrigere Auslastungsquote als sonst ähnliche Volkswirtschaften. Dies gilt besonders für den „inflationsneutralen“ Auslastungsgrad. Ein Beispiel hierfür sind verschiedene osteuropäische Transformationswirtschaften nach dem Zusammenfall des Ostblocks. Schlecht ausgelastete Produktionsanlagen und hohe steigende Inflationsraten gingen häufig Hand in Hand (IMF, 1997). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Deutschland. Allgemeiner gesprochen geht es um den angemessenen Zielwert für ein wirtschaftlich weit fortgeschrittenes Land mit einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Empirisch-vergleichender Ansatz 12.3.3 → Abb. 12.1 zeigt den geschätzten Kapitalauslastungsgrad der verarbeitenden Industrie für Deutschland, den Euroraum und die USA in den Jahren 1990 bis 2014. Quellen: E UROSTAT , 2015; Board of Governors of the Federal Reserve System, 2015. Abb. 12.1: Kapazitätsauslastung der verarbeitenden Industrie in Deutschland, dem Euroraum und den USA, 1990-2014 (%, vierteljährlich, saisonbereinigt) 65% 70% 75% 80% 85% 90% 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Deutschland EU USA <?page no="92"?> Vollauslastung des Produktionsfaktors Kapital 93 I/ 1990-IV/ 2014 (jeweils 100 Beobachtungswerte) arithm. Mittelwert Median Max. Min. ohne 2009/ 10 [mit 2009/ 10] Modalintervalle (Anzahl der Werte) Deutschland 80,8 % 84,6 % 90,0 % 79,0 % [III/ 2009: 70,0 %] 84-85 % (17) 85-86 % (13) 83-84 % (12) 82-83 % (12) EURO (19) 81,1 % 81,6 % 85,3 % 76,8 % [III/ 2009: 69,3 %] 81-82 % (21) 82-83 % (17) 80-81 % (13) 84-85 % (12) USA 79,8 % 80,2 % 84,6 % 73,5 % [II/ 2009: 67,3 %] 80-81 % (14) 81-82 % (12) 82-83 % (12) 79-80 % (11) Quellen: E UROSTAT , 2015; B OARD OF G OVERNORS OF THE F EDERAL R ESERVE S YSTEM , 2015 und eigene Berechnungen. Tab. 12.1: Deskriptive Statistik zur Kapazitätsauslastung im sekundären Sektor → Tab. 12.1 gibt einen Überblick über verschiedene statistische Maße für den 25jährigen Zeitraum. Es lässt sich ablesen, dass der Auslastungsgrad in Deutschland ohne Berücksichtigung der Finanzkrise zwischen 79 und 90 % schwankte. In Deutschland lag der Auslastungsgrad am häufigsten zwischen 82 und 86 %, nämlich in über der Hälfte der betrachteten Quartale. In den USA liegt das entsprechende Intervall (79- 83 %) um 3 Prozentpunkte niedriger. Die → „Spaghetti“-Abbildung 12.2 bekräftigt, dass der Auslastungsgrad in Deutschland auch gegenüber anderen Industrieländern auf relativ hohem Niveau liegt. Die anderen zwei Länder mit ähnlich hohem Niveau sind Frankreich und die Niederlande. Mag also → Abb. 12.2 nahelegen, dass der „normale“ Auslastungsgrad in Industrieländern bei 81-83 % liegt, kann eine Auslastung von 81 % z.B. für Deutschland tendenziell schon auf eine konjunkturelle Unterauslastung hindeuten. <?page no="93"?> 94 Leitbild und Ziele Quellen: E UROSTAT , 2015. Abb. 12.2: Kapazitätsauslastung der verarbeitenden Industrie in 14 OECD-Ländern, 1990-2014 (%, vierteljährlich, saisonbereinigt) Fazit zur Vollauslastung des Kapitals 12.4 Der gesamtwirtschaftliche Auslastungsgrad des Produktionsfaktors Kapital kann nicht unmittelbar beobachtet werden. Daher ist die Wirtschaftspolitik auf Unternehmensbefragungen angewiesen. Unternehmensbefragungen zur Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage werden in allen EU-Mitgliedsländern und u.a. auch in den USA durchgeführt. Im Rahmen des ifo-Konjunkturtests werden etwa knapp 3.000 deutsche verarbeitende Unternehmen nach dem prozentualen Grad ihrer Kapazitätsauslastung befragt. Die Auswertung der Antworten in den vergangenen 25 Jahren lässt den Schluss zu, dass die Auslastung in Deutschland sehr häufig zwischen 83 und 86 % liegt. Die „normale“ Auslastung beträgt vermutlich 84-85 %. Die Betrachtung weiterer Industrieländer zeigt, dass die ermittelten Kapazitätsauslastungen in den meisten dieser Volkswirtschaften um 1-3 Prozentpunkte niedriger liegen. Daher ist der hier angegebene „Vollauslastungskorridor“ nicht allgemeingültig, sondern er kann je nach Land auch niedriger liegen. Die Verwendung des ermittelten Kapazitätsauslastungsgrads als gesamtwirtschaftlichem Indikator ist insoweit unbefriedigend, als lange Zeit nur Unternehmen des sekundären Sektors einbezogen wurden. Erst seit 2011 werden auch Dienstleistungsunternehmen indirekt nach ihrer prozentualen Auslastung gefragt. Somit sind die Ergebnisse bis dahin nur bedingt geeignet, um Aussagen über den gesamtwirtschaftlichen Auslastungsgrad des Kapitals zu treffen. Eine Auswertung der Daten für die ersten 60% 65% 70% 75% 80% 85% 90% 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Deutschland <?page no="94"?> Vollauslastung des Produktionsfaktors Kapital 95 drei Jahre der Befragungen von Dienstleistungsunternehmen vermittelt jedoch den Eindruck, dass die Auslastungsgrade im tertiären Sektor und in den verarbeitenden Branchen weitgehend parallel verlaufen. Allerdings scheint der Dienstleistungssektor als Ganzes weniger konjunkturanfällig als das verarbeitende Gewerbe zu sein. Außerdem war der geschätzte Auslastungsgrad im Schnitt um einige Prozentpunkte höher. Entsprechend dürfte auch der „Vollauslastungskorridor“ etwas höher liegen. Bei der Interpretation der Indikatoren ist zu beachten, dass die Unternehmen nach der Auslastung ihrer Kapazitäten bzw. ihrer vorhandenen Ressourcen befragt werden. Darunter können neben materiellem Anlagekapital auch immaterielle Kapitalgüter oder sogar die vorhandenen Arbeitskräfte verstanden werden. Je nachdem, welche Produktionsfaktoren die befragten Personen hierzu zählen und was sie unter 100-prozentiger Auslastung verstehen, divergieren die Antworten der befragten Unternehmen (→ Beispiel 4).  Beispiel 4 Ein Unternehmen verfügt über Produktionsanlagen zur Erstellung von maximal 100.000 Einheiten des Gutes x pro Quartal. Zur Erstellung der Maximalproduktion benötigt das Unternehmen 10 Vollzeitbeschäftigte. Im betrachteten Quartal beschäftigte das Unternehmen 8 Vollzeitarbeitskräfte. Es produzierte 64.000 Gütereinheiten, obwohl es mit den vorhandenen Arbeitskräften 80.000 Einheiten hätte produzieren können. Nun wird die Geschäftsführerin des Unternehmens am Ende eines Quartals nach der Kapazitätsauslastung gefragt. Angenommen, die Befragte versteht unter Vollauslastung die Menge, die das Unternehmen mit den vorhandenen Produktionsfaktoren produzieren könnte. Dann wird sie 80 % angeben. Bezieht sie Vollauslastung allein auf das Sachkapital, wird sie 64 % angeben.  Aufgabe 5: Überlegen Sie! a) Erklären Sie anhand selbst gewählter Beispiele, warum eine Arbeitslosenquote von 0 % nicht realisierbar ist. b) In einer Volkswirtschaft namens Effland beträgt die nach den ILO-Standards ermittelte Erwerbslosenquote im Jahr 2012 ungefähr 2 %. Erläutern Sie drei selbst erdachte Sachverhalte, aufgrund derer Ihrer Auffassung nach das Ziel des hohen Beschäftigungsstands dennoch verfehlt wurde. c) In vielen europäischen Ländern sind die Erwerbslosenquoten junger Menschen (15-29 Jahre) überdurchschnittlich hoch. Daher hat die EU-Kommission zu besonderen Anstrengungen zur Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit aufgerufen. Erläutern Sie vor dem Hintergrund der Ihnen bekannten Begründungen des Ziels des hohen Beschäftigungsstands, warum die Beseitigung hoher Jugendarbeitslosigkeit aus volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher sowie aus individueller Sicht besonders wichtig ist. <?page no="95"?> 96 Leitbild und Ziele d) Vergleichen Sie die Entwicklung der Beschäftigungsindikatoren für den Faktor Arbeit in Deutschland in den Jahren 2007-2011 (→ Kap. 11.2), insbesondere der Erwerbslosenquote (→ Abb. 11.1), mit der Entwicklung des Kapazitätsauslastungsgrads (→ Abb. 12.2). d1) Welchen Unterschied sehen Sie gegenüber der Entwicklung in anderen OECD-Staaten? d2) Erklären Sie drei mögliche Gründe für die Beobachtung. (Diese müssen nicht die wirklichen Gründe sein. Entscheidend ist vielmehr die Plausibilität der Ausführungen.) <?page no="96"?> C Wirtschaftswachstum 13 Begriff und Abgrenzung Das Ziel des angemessenen und stetigen Wirtschaftswachstums stellt auf den kontinuierlichen Anstieg der wirtschaftlichen Wertschöpfung in einer Volkswirtschaft ab. Das Ziel hat sowohl eine kurzfristige als auch eine mittelbis langfristige Dimension. Aus kurzfristiger, d.h. stabilisierungspolitischer Perspektive geht es primär um die Stetigkeit des Wachstums. Gemeint ist, dass konjunkturelle Schwankungen (→ Kap. 4.1) des Auslastungsgrads der Produktionsfaktoren idealerweise ausbleiben oder, und das ist realistischer, möglichst gering ausfallen. Im Vordergrund des Wachstumsziels steht jedoch die langfristige Perspektive. Sie ist Gegenstand der Wachstumstheorie und -politik. Das gängige Maß für die gesamtwirtschaftliche Leistungserstellung ist das reale, d.h. preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) (→ Kap. 3.2.1). Für die langfristig ausgerichtete Wachstumspolitik ist der jährliche Anstieg der produzierten Menge über einen längeren Zeitraum relevant. Für die kurzfristiger ausgerichtete Konjunkturpolitik ist zusätzlich die um saisonale Schwankungen bereinigte Entwicklung von Quartal zu Quartal bedeutsam.   Wissensbox 10 Zitat des Bundesministeriums für Wirtschaft „Unter den Begriff Wirtschaftswachstum fällt […] ein Trendwachstum, das sich ergibt, wenn man von den vorübergehenden saisonalen und konjunkturellen Schwankungen der Wirtschaftsentwicklung absieht. Das Wirtschaftswachstum in diesem Sinne ist Gegenstand der theoretischen und empirischen Wirtschaftsforschung sowie eines der Hauptziele wirtschaftspolitischen Handelns.“ Quelle: BMWI, 2016 14 Begründungen für Wirtschaftswachstum Wohlstand, Beschäftigung und Einfluss 14.1 Wirtschaftswachstum bedeutet eine anhaltende Steigerung der Güterproduktion und führt unter sonst gleichen Bedingungen zu einer höheren Versorgung der Gesellschaft mit Gütern, woraus auf eine Zunahme des materiellen Wohlstands geschlossen werden kann. Daneben treten weitere Begründungen, von denen die wichtigsten in der folgenden Aufzählung ebenfalls enthalten sind: <?page no="97"?> 98 Leitbild und Ziele  Ziel der Steigerung des materiellen Wohlstands. Dieses schließt den Abbau und die Beseitigung von materieller Armut ein.  Vermeidung bzw. Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Funktionierende Marktwirtschaften sind durch Wettbewerb gekennzeichnet, der die Unternehmen zu Produktivitätssteigerungen animiert. Eine steigende Arbeitsproduktivität würde ohne Wachstum, d.h. bei gleichbleibendem Produktionsvolumen, zu einem Rückgang der Beschäftigung von Arbeit führen.  Fiskalische Gründe. Wirtschaftswachstum führt c.p. zu einem Anstieg der Steuerbasis, etwa den Einkommen und den Konsumausgaben. Somit erzielt der Staat bei unveränderten Steuertarifen höhere Einnahmen, wodurch sich sein finanzieller Handlungsspielraum erweitert. Die zusätzlichen Einnahmen kann der Staat zum einen für zusätzliche Ausgaben tätigen, die zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen führen. Hierbei wäre z.B. an die Politikbereiche Gesundheit, Umweltschutz, Bildung oder Sicherheit zu denken (damit ist jedoch nicht gesagt, dass staatliche Ausgaben tatsächlich immer auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen bewirken). Zum anderen ermöglicht es der Anstieg der Steuerbasis, dass der Staat sein Ausgabenniveau hält und parallel die Steuersätze senkt. Damit verbleibt bei gleichbleibender staatlicher Aufgabenerfüllung ein größerer Teil des Einkommens bei den privaten Haushalten, worin die allermeisten eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation sehen dürften.  Internationaler Einfluss. Je größer eine Volkswirtschaft eines Landes in Relation zu den übrigen Ländern ist, desto mehr Einfluss kann dessen Regierung auf wirtschaftlichem Wege auf andere Regierungen ausüben. Dies kann durch Leistungen (z.B. Transferzahlungen) oder durch Druck (z.B. Handelssanktionen) geschehen. Außerdem bemisst sich der Stimmenanteil in einigen internationalen Organisationen wie dem I NTERNATIONALEN W ÄHRUNGSFONDS (IWF) und der W ELTBANKGRUP- PE u.a. am BIP. Selbst bei der E UROPÄISCHEN Z ENTRALBANK (EZB) hat das BIP, wenn auch zu einem kleinen Teil, Einfluss auf das Stimmausübungsrecht der nationalen Zentralbankpräsidenten. Außerdem stammen drei der sechs Direktoriumsmitglieder der EZB seit Beginn (1999) nicht zufällig aus den drei Volkswirtschaften der Eurozone mit dem höchsten BIP (Deutschland, Frankreich und Italien). Diese Begründungen für Wirtschaftswachstum implizieren nicht „je höher das Wachstum, umso besser“. Vielmehr geht es um ein angemessenes Wachstum, das dauerhaft realisiert werden kann, ohne dass es zu gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen kommt.  Aufgabe 6: Überlegen Sie! Vertreter der Postwachstumsökonomie und des degrowth befürworten ein Null- oder negatives Wachstum des BIP, vor allem in wirtschaftlich wohlhabenderen Regionen. Welche Überlegungen, Annahmen und Entwicklungen könnten erklären, warum manche ein Nullwachstum der deutschen Volkswirtschaft für angemessen oder sogar ihr Schrumpfen für wünschenswert erachten? <?page no="98"?> Zielerreichungsindikatoren 99 Zweifel am Wachstumsziel 14.2 Wirtschaftswachstum wird nicht (mehr) von allen Ökonomen als anstrebenswert erachtet. Das rührt vor allem aus der Überlegung, dass materielles Wirtschaftswachstum an eine Belastung bis hin zur Zerstörung der natürlichen Umwelt und Ressourcen und damit der Lebensgrundlagen des Menschen gekoppelt ist. Und da besonders in den ärmeren Entwicklungsländern der materielle Wohlstand nicht ausreicht, selbst bei gerechter Verteilung für die Beseitigung absoluter Armut zu sorgen, vertreten Postwachstumsökonomen die Meinung, dass zumindest die wirtschaftlich reichen Ländern zugunsten der Armen auf Wachstum verzichten müssen. Diese Auffassung ist z.B. charakteristisch für Vertreter der Postwachstumsökonomie. Allerdings gehen die optimistischeren Ökonomen davon aus, dass sich das Wachstum von Volkswirtschaften und Umweltschäden entkoppeln lassen (→ Kap. 40.2). Zweifel am Wachstumsstreben kommt auch aus der Glücksforschung. Sie argumentiert auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse, dass ein höheres Einkommen und ein höherer Konsum die Menschen nicht dauerhaft zufriedener („glücklicher“) machen würden. Wohlfahrt, i.S. von Bedürfnisdeckung und Zufriedenheit, sei im Wesentlichen von nicht materiellen Faktoren abhängig, sobald die materiellen Grund- und Sicherheitsbedürfnisse (Trinkwasser und Nahrung, Wohnen, Kleidung, Energie- und Transportdienstleistungen etc.) ausreichend gedeckt seien (→ Kap. 40.2). Daher müsse dem Wachstumsziel nicht der hohe Stellenwert beigemessen werden, der ihm derzeit zugewiesen wird. 15 Zielerreichungsindikatoren Wachstum des realen BIP 15.1 Das BIP umfasst alle in einer Volkswirtschaft gegen Entgelt hergestellten Endprodukte abzüglich importierter Vorleistungen. Unentgeltlich produzierte Güter sind nicht enthalten. Insoweit ist das BIP eine Hilfsgröße für die Leistungserstellung in einer Volkswirtschaft. Das BIP ist außerdem eine Bruttowertschöpfungsgröße, da das im Produktionsprozess verschlissene Realkapital nicht in Abzug gebracht wird (zum BIP s. → Kap. 3.2.1).  Beispiel 5: Zum „Wert“ unentgeltlich erstellter Leistungen „Im Jahr 2013 hat die in Deutschland lebende Bevölkerung 35 % mehr Zeit für unbezahlte Arbeit aufgewendet als für bezahlte Erwerbsarbeit. Wie das Statistische Bundesamt weiter mitteilt, ergibt sich daraus rechnerisch ein Wert für die unbezahlte Arbeit von 826 Milliarden Euro. Dieser Betrag für unbezahlt geleistete Arbeiten im Haushalt, bei der Betreuung und Pflege von Angehörigen sowie bei der Nachbarschaftshilfe und bei ehrenamtlichen Tätigkeiten liegt höher als die Nettolöhne und -gehälter aller Arbeitnehmer/ -innen in Höhe von 780 Milliarden Euro. […] Während 2013 rund 89 Milliarden Stunden von der Bevölkerung unbezahlt gearbeitet wurden, waren es 1992 noch 102 Milliarden Stunden. <?page no="99"?> 100 Leitbild und Ziele Mit rund vier Stunden am Tag leisten Frauen nach wie vor deutlich mehr an unbezahlter Arbeit als Männer, die auf gut 2,5 Stunden kommen. Im Jahr 1992 hatten Frauen täglich noch knapp fünf Stunden für unbezahlte Arbeit aufgewendet und Männer 2 ¾ Stunden.“ Quelle: S TATISTISCHES B UNDESAMT , Pressemitteilung Nr. 137 vom 19.04.2016. Grundsätzlich kann das reale BIP in Mengeneinheiten der einzelnen Endprodukte dargestellt werden (→ Beispiel 6). In der Praxis existiert jedoch eine sehr große Zahl unterschiedlicher Endprodukte. Allein das Güterverzeichnis für Produktionsstatistiken (GP) unterscheidet zwischen mehr als 50.000 Produkten. Diese reichen von A wie „Aale, frisch“ bis zu Z wie „Zylindervorhängeschlösser“. Würde man das reale BIP in Mengen der vielen verschiedenen Produkte und entsprechend auch das Wachstum für jedes Produkt einzeln angeben, verlöre man schnell den Überblick oder finge an, „Äpfel mit Birnen“ zu vergleichen. Daher bedarf es eines Umrechnungsfaktors, der eine rechnerische Addition der Gütermengen erlaubt. Hierfür liegt es aus ökonomischer Sicht nahe, die Mengen verschiedener Güter jeweils mit dem Wert der einzelnen Güter zu multiplizieren, um dann das BIP in Werteinheiten darstellen zu können. Wie viel ist aber ein Produkt wert und was bestimmt den Wert? In der Theorie kann dies z.B. der Gebrauchswert (der Nutzen) sein. Allerdings lassen sich „Nutzeneinheiten“ nur schwer messen und vor allem ist der Gebrauchswert eines Gutes kontextabhängig und für die individuellen Nutzer unterschiedlich hoch. Somit kommt eine Bewertung der Güter mit ihrem Gebrauchswert für die Berechnung einer makroökonomischen Größe in der Praxis nicht in Frage. Alternativ könnte der Wert eines Produkts z.B. auch an der Menge der eingesetzten Arbeit (Arbeitswert) oder an den Herstellungs- und Vertriebskosten festgemacht werden. Schließlich können die einzelnen Güter mittels ihres Tauschwerts bewertet werden. Dieses Prinzip liegt auch der Inlandsproduktberechnung in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) zugrunde. Letztlich kann jedoch der Tauschwert nicht ermittelt werden, so dass auf Marktpreise zurückgegriffen wird. Dabei sind in diesem Zusammenhang die tatsächlich gezahlten Preise gemeint, also z.B. auch staatlich regulierte oder Monopolpreise. Sind gar keine Marktpreise verfügbar, werden Kostenpreise zur Bewertung herangezogen. Das ist vor allem bei Gütern der Fall, die der Bevölkerung seitens des Staats unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden (sog. Staatskonsum). Hierzu zählen z.B. große Teile der öffentlichen Infrastruktur sowie die innere und äußere Sicherheit. Das nominale BIP setzt sich aus den Mengen und den (Markt-)Preisen der produzierten Endverbrauchsgüter zusammen. Entsprechend wird es in Geldeinheiten (z.B. EUR) angegeben. <?page no="100"?> Zielerreichungsindikatoren 101 Nominales BIP in einer Volkswirtschaft mit n Gütern: BIP q ⋅ p mit q i : Mengen des Gutes i und p i : Preis des Gutes i Mit Wirtschaftswachstum ist naheliegender Weise nicht ein Anstieg des nominalen BIP gemeint, welcher bereits allein aufgrund steigender Preise zustande käme. Vielmehr geht es um das Wachstum des realen BIP, also der Menge (Volumen) der produzierten Endverbrauchsgüter abzgl. importierter Vorleistungen. Folglich muss das nominale BIP in eine Mengen- und eine Preiskomponente zerlegt werden. Aussagen über das reale Wachstum erhält man, indem man den Einfluss der Preiskomponente auf die Entwicklung des nominalen BIP ausschaltet. Wachstumsrate. Der gängige Indikator für Wirtschaftswachstum ist die jährliche prozentuale Veränderung des realen BIP. Das reale BIP ist das um Preisänderungen bereinigte nominale BIP. Berechnung des Wirtschaftswachstums 15.2 Das reale BIP ergibt sich durch die Division des nominalen BIP durch das gesamtwirtschaftliche Preisniveau. Die Schwierigkeit besteht jedoch daraus, das gesamtwirtschaftliche Preisniveau zu bestimmen. Die Bereinigung der nominalen Entwicklung des BIP um die Preiskomponente ist in der Praxis weder trivial, noch gibt es einen methodischen Königsweg. Das liegt daran, dass sich Preis- und Güterstrukturen ändern. Die Ausschaltung des Effekts sich ändernder Preise erfolgt durch die Bildung eines Mengenindex, bei dem die sich verändernden Mengen zu konstanten Güterpreisen bewertet werden. Somit muss eine Zeitperiode bestimmt werden, deren Preisstruktur verwendet wird. Dies kann ein Jahr aus der Vergangenheit sein oder das Jahr, dessen Wachstum ermittelt wird (sog. Berichtsjahr). Diese zwei Verfahren sind nach E TIENNE L ASPEYRES (1834-1913) bzw. H ERMANN P AASCHE (1851-1925) benannt. Das reale BIP wird in Deutschland mittels eines Laspeyres-Mengenindexes berechnet. Bis 2004 geschah dies auf Festpreisbasis, d.h. es wurden die Preise eines bestimmten Basisjahres verwendet (→ Beispiel 6 u. 7). 2005 ging das S TATISTISCHE B UNDESAMT zu einem Laspeyres-Mengenindex auf Vorjahrespreisbasis über. <?page no="101"?> 102 Leitbild und Ziele Der Laspeyres-Mengenindex auf Festpreisbasis gibt das Verhältnis des nominalen BIP des Berichtsjahres t zum nominalen BIP des Basisjahres 0 an, das sich ergeben hätte, wenn die Preise (p i ) aller i Endprodukte gegenüber dem Basisjahr unverändert geblieben wären. Hierzu werden die jeweiligen Produktionsmengen (q i ) beider Jahre mit den Preisen (p i 0 ) des Basisjahres multipliziert und anschließend addiert. Laspeyres-Mengenindex (Festpreis): LMI ∑ ⋅ ∑ ⋅ Der Laspeyres-Mengenindex auf Vorjahresbasis verwendet demgegenüber das Vorjahr als „Basis“, so dass q i t-1 bzw. p i t-1 an die Stelle der Mengen und Preise eines festen Basisjahres treten. Laspeyres-Mengenindex (Vorjahrespreis): LMI ∑ ⋅ ∑ ⋅ Der Paasche-Mengenindex gibt demgegenüber das Verhältnis zwischen dem BIP des Basisjahres und dem aktuellen nominalen BIP an, das sich ergeben hätte, wenn die jeweiligen Preise des laufenden Berichtsjahres bereits im Basisjahr bzw. Vorjahr geherrscht hätten. Paasche-Mengenindex: PMI ∑ ⋅ ∑ ⋅ bzw. PMI ∑ ⋅ ∑ ⋅ Alternativ können Mittelwerte gebildet werden. Ein Beispiel hierfür ist der Fisher- Index, der das geometrische Mittel aus LMI und PMI bildet. Das vereinfachte Beispiel der Volkswirtschaft von „Hochland“ (→ Beispiel 6) zeigt zum einen grundsätzlich, wie sich das nominale BIP vom realen BIP unterscheidet. Zum anderen wird exemplarisch aufgezeigt, welchen Einfluss die Wahl des Mengenindex auf die resultierende Wachstumsrate ausüben kann. In der Realität sind die Unterschiede zwischen den Ergebnissen allerdings nicht so groß wie in dem → Beispiel 7, in dem zur besseren Veranschaulichung relativ drastische Strukturänderungen enthalten sind.  Beispiel 6: Hochlands Wertschöpfungsstruktur und BIP Hochland ist eine winzige Volkswirtschaft ohne außenwirtschaftliche Beziehungen. Es werden lediglich fünf einheitliche Endprodukte X i (Kleiderpakete, Maschinen, Fahrräder, Obstkörbe und Energiedienstleistungen) hergestellt. Zur Berechnun g des nominalen BIP werden die jeweils hergestellten Mengen q i mit den jeweiligen Preisen p i multipliziert und anschließend addiert. → Tab. 15.1 gibt Auskunft über die in den Jahren 2010, 2011 und 2012 produzierten Mengen und die jeweiligen Preise. <?page no="102"?> Zielerreichungsindikatoren 103 Produkt Menge Preis in € Produktionswert in € Nom. BIP in € (x i ) (q i ) (p i ) (q i ⋅ p i ) 2010 X 1 : Kleider 8.000 50 400.000 X 2 : Maschine 1.025 2.000 2.050.000 X 3 : Fahrrad 2.000 500 1.000.000 X 4 : Obstkorb 110.000 5 550.000 X 5 : Energie-DL 40.000 2,5 100.000 4.100.000 2011 X 1 : Kleider 10.500 60 630.000 X 2 : Maschine 1.100 2.100 2.310.000 X 3 : Fahrrad 1.900 490 931.000 X 4 : Obstkorb 100.000 5,29 529.000 X 5 : Energie-DL 40.000 2,75 110.000 4.510.000 2012 X 1 : Kleider 12.000 66 792.000 X 2 : Maschine 1.120 2.200 2.464.000 X 3 : Fahrrad 1.800 475 855.000 X 4 : Obstkorb 110.000 5,50 605.000 X 5 : Energie-DL 50.000 3,00 150.000 4.866.000 Tab. 15.1: Preise und Mengen in der Beispielvolkswirtschaft Hochland: 2010-2012   Beispiel 7: Hochlands Wirtschaftswachstum Das nominale BIP ist im Jahr 2011 gegenüber 2010 um 410.000 Euro und somit um 10 % gestiegen. Damit ist jedoch nichts über das reale Wachstum gesagt. In dem Beispiel mag man es noch vergleichsweise aussagefähig mit 2.500 Kleiderpakete (31,25 %), 75 Maschinen (7,3 %), minus 100 Fahrräder (-5 %) und minus 10.000 Obstkörbe (-9,1 %) ausdrücken können. In der Praxis mit vielen Tausend Endprodukten ist hingegen eine zusammenfassende Kennzahl notwendig. Berechnungen mithilfe der Verfahren nach LASPEYRES LMI auf Festpreisbasis: Das BIP des Jahres 2010 (Basisjahr) beträgt 4.100.000 EUR. Der LMI F 2010 ist eins. (Er wird in der VGR meist gleich 100 gesetzt.) Das BIP des Jahres 2011 in Preisen des Basisjahres beträgt 4.275.000 EUR (= 10.500 ⋅ 50 + 1.100 ⋅ 2.000 + 1.900 ⋅ 500 + 100.000 ⋅ 5 + 40.000 ⋅ 2,5). Der LMI F 2011 ergibt sich aus der Division von 4.275.000 EUR durch 4.100.000 EUR. Er liegt bei ca. 1,043 (bzw. 104,3). <?page no="103"?> 104 Leitbild und Ziele Das BIP des Jahres 2012 in Preisen des Basisjahres (2010) beträgt 4.415.000 EUR. Der LMI F 2012 ergibt sich aus der Division von 4.415.00 EUR durch 4.100.000 EUR und beträgt ca. 1,077 (bzw. 107,7). Die jährlichen Wachstumsraten lassen sich beim Laspeyres-Verfahren anhand des prozentualen Anstiegs des Index von Jahr zu Jahr berechnen: Ergo betrug das Wachstum 2011 etwa 4,3 % (von 100 auf 104,3) und 2012 ca. 3,3 % (von 104,27 auf 107,7). Insgesamt ist das BIP von 2010 bis 2012 um etwa 7,7 % gestiegen (Anstieg von 100 auf 107,7). LMI auf Vorjahrespreisbasis: Das BIP 2011 in Preisen des Vorjahres beträgt 4.275.000 EUR. Der LMI V 2011 ergibt sich aus der Division dieses Werts (4.275.000 EUR) durch das nominale BIP des Vorjahres (4.100.000 EUR). Er beträgt ca. 1,043. Das reale Wachstum des Jahres 2011 liegt also bei ca. 4,3 %. Das BIP 2012 in Preisen des Vorjahres (2011) beträgt 4.673.400 EUR. Der LMI V 2012 ergibt sich aus der Division dieses Werts (4.673.400 EUR) durch das nominale BIP des Vorjahres (4.510.000 EUR). Der Index beträgt ca. 1,036. Das reale Wachstum des Jahres 2012 liegt also bei ca. 3,6 %. (Hinweis: Der LMI V der Vorperiode ist bei der Vorjahrespreismethode stets gleich 1.) Berechnungen mithilfe des Verfahrens nach PAASCHE PMI auf Festpreisbasis: Der PMI F 2010 ist gleich 1 (bzw. 100), weil Berichts- und Basisjahr identisch sind. Das nominale BIP des Berichtsjahres 2011 beträgt 4.510.000 EUR. Das BIP 2010 beträgt zu Preisen des Berichtsjahres 4.304.400 EUR (= 8.000 ⋅ 60 + 1.025 ⋅ 2.100 + 2.000 ⋅ 490 + 110.000 ⋅ 5,29 + 40.000 ⋅ 2,75). Der PMI F 2011 ergibt sich aus der Division von 4.510.000 EUR durch 4.304.400 EUR und liegt bei ca. 1,048 (bzw. 104,8). Das Wachstum des Jahres 2011 beträgt also ca. 4,8 %. Das nominale BIP des Berichtsjahres 2012 beträgt 4.866.000 EUR. Das BIP des Basisjahres (2010) weist zu Preisen des Berichtsjahres 2012 einen Wert von 4.458.000 EUR auf. Der PMI F 2012 ist ca. 1,092 (bzw. 109,2). Das BIP ist von 2010 bis 2012 um insgesamt 9,2 % gewachsen. <?page no="104"?> Zielerreichungsindikatoren 105 Die jährlichen Wachstumsraten lassen sich beim Paasche-Index nicht anhand des prozentualen Anstiegs des Index von Jahr zu Jahr messen, weil sich die Gewichte (die Einzelpreise) im Nenner von Berichtsperiode zu Berichtsperiode ändern. Vielmehr muss das Wachstum im Jahr 2012 mithilfe des erneut zu berechnenden Paasche-Mengenindex mit dem neuen Basisjahr 2011 ermittelt werden. Im Nenner stehen somit die Mengen des Jahres 2011 zu Preisen des Jahres 2012 (= 4.685.500 EUR). Im Zähler steht das nominale BIP 2012 (4.866.000 EUR). Der PMI F 2012 ist ca. 103,9. Das Jahreswachstum 2012 beträgt entsprechend ca. 3,9 %. Der PMI auf Vorjahrespreisbasis entspricht bei der Berechnung der jährlichen Wachstumsrate dem PMI auf Festpreisbasis. Vergleich Es zeigen sich deutliche Differenzen zwischen den ermittelten Wachstumsraten. Zum Beispiel liegen die Ergebnisse für das Wirtschaftswachstum des Jahres 2012 je nach gewähltem Index bei 3,3 % oder 3,6 % oder 3,9 %. Im Zuge internationaler Bemühungen zur Harmonisierung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) wurden die Verfahren zur Preisbereinigung des nominalen BIP zwar weltweit angeglichen, aber es gibt nach wie vor Unterschiede in den nationalen Methoden. Anders als in der EU wird in den USA und Kanada seit 1996 der nach I RVING F ISHER (1867-1947) benannte Fisher-Index verwendet. Infolge der europäischen Harmonisierung wird in Deutschland der Laspeyres- Mengenindex auf Vorjahrespreisbasis verwendet. Musste man zur Ermittlung der jährlichen Wachstumsrate beim Festpreisverfahren die zwei Mengenindexe dividieren, entfällt dieser Schritt beim Vorjahrespreisverfahren, da der Mengenindex des Vorjahres ex definitione stets eins (bzw. 100) beträgt. Dieser Wechsel von der Festpreisbasis zur Vorjahrespreisbasis hat den Vorteil, dass sich mehrjährige Preisstrukturänderungen weniger verzerrend auswirken und neue Produkte schneller berücksichtigt werden können. Ein Nachteil gegenüber dem Festpreisindex tritt zutage, wenn zwei Indexwerte verglichen werden sollen, zwischen denen mehrere Perioden liegen. Dies lässt sich anhand der Zahlen des → Beispiel 6 illustrieren. Der Festpreisindex nach L ASPEYRES beträgt 1 für das Jahr 2010 und 1,077 für das Jahr 2012 (→ Beispiel 7). Dann liegt die Aussagefähigkeit des Werts von 1,077 auf der Hand: Wenn es zutrifft, dass die Preisstruktur in 2010 und 2012 die Gleiche ist, dann ist das BIP während des Zeitraums um „exakt“ 7,7 % gestiegen. Ein (unverketteter) Index auf Vorjahrespreisbasis hat hingegen keinerlei Aussagegehalt. Angenommen, der Laspeyres-Mengenindex auf Vorjahrespreisbasis sei 100 für das Jahr 2010 (sog. Ausgangsjahr). Der Index beträgt 103,6 für das Jahr 2012. Dieser sagt zwar aus, dass das BIP im Jahr 2012 um „exakt“ 3,6 % gegenüber 2011 gestiegen ist, wenn es zutrifft, dass die Preisstruktur sich nicht geändert hat. Über die Entwicklung seit 2010 erfährt man hingegen nichts. Um diese Schwäche zu mindern, wird ein verketteter Mengenindex verwendet. Einen verketteten Mengenindex (KMI) erhält man, indem man den Index für das Ausgangsjahr (z.B. 2010) gleich 1 <?page no="105"?> 106 Leitbild und Ziele (bzw. 100) setzt und mit den Indexwerten der nachfolgenden Jahre multipliziert (z.B. KLMI 2010, 2012 = 1⋅LMI 2011 ⋅LMI 2012 = 1⋅1,043⋅1,036 = 108,81). Was der resultierende Anstieg von 100 (z.B. um 8,8 %) ökonomisch genau aussagt, ist indes weitaus weniger ersichtlich als bei dem Festpreisindex. Entwicklung des Produktionspotenzials 15.3 Zusätzlich zum tatsächlichen Wachstum des realen BIP wird die Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials als Wachstumsindikator betrachtet. Der Begriff Produktionspotenzial wird allerdings unterschiedlich definiert. Teils wird die größtmögliche Wertschöpfung verstanden, die mit den verfügbaren Produktionsfaktoren erzielt werden könnte. Anders formuliert: Das Produktionspotenzial wird mit dem BIP gleichgesetzt, das sich bei maximaler Auslastung der Produktionsfaktoren ergäbe. Meistens wird unter dem Produktionspotenzial jedoch das BIP bei Vollauslastung der Produktionsfaktoren verstanden. Mit Vollauslastung ist wiederum nicht die maximale, sondern eine „normale“ Auslastung gemeint. Daher spricht man auch von Normalauslastung. Dieses Verständnis des Begriffs des Produktionspotenzials ist in der Praxis mittlerweile die gängige Definition. Unter Produktionspotenzial wird das reale BIP verstanden, das bei normaler Auslastung bzw. Nutzung der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Humankapital, Stand der Technik) entstünde. Das Produktionspotenzial im Sinne einer Normalauslastung lässt sich zum einen als Trend des realen BIP berechnen. Hierbei wird im Wesentlichen mithilfe statistischer Filterung versucht, saisonale und konjunkturelle Schwankungen des gesamtwirtschaftlichen Auslastungsgrads zu eliminieren (→ Kap. 16.5). Das Potenzial kann zum anderen auf produktions- und vollbeschäftigungstheoretischer Basis ermittelt werden. Es wird eine Produktionsfunktion modelliert, welche den Zusammenhang zwischen den Inputs und dem gesamtwirtschaftlichen Output (BIP) in Form einer mathematischen Gleichung möglichst treffend, aber zugleich möglichst einfach abbildet (→ Kap. 16.6) Die einbezogenen Inputs sind Arbeit, Kapital und technisches Wissen sowie ggfs. weitere Produktionsfaktoren (z.B. Energie). Die Einflüsse der Produktionsfaktoren auf die Bruttowertschöpfung werden mithilfe vergangener Daten ökonometrisch geschätzt. Auf dieser Basis wird berechnet, wie hoch der Output wäre, wenn alle verfügbaren Produktionsfaktoren normal ausgelastet wären. Das Potenzialwachstum ergibt sich dann aus dem prozentualen Anstieg des Produktionspotenzials.  Beispiel 8: Beispiel: Produktionspotenzial von Aland Die Annahme, dass das BIP (Y) von der eingesetzten Arbeit (L), dem Kapital (K) und dem Stand des technischen Wissens (T) abhängt, lässt sich formulieren als Produktionsfunktion: Y Y L, K, T <?page no="106"?> Zielerreichungsindikatoren 107 Diese sei spezifiziert als: Y T ⋅ L ⋅ K Ökonometrische Schätzungen für die Volkswirtschaft von Aland hätten ergeben, dass die partielle Produktionselastizität* des Faktors Arbeit gleich 0,5 (= ) und die des Faktors Kapital ebenfalls gleich 0,5 (= ) wären. Y T ⋅ L ⁄ ⋅ K ⁄ [L 1/ 2 und K 1/ 2 sind nichts anderes als √ L und √ K.] * Produktionselastizität. Steigt T um 1 %, steigt das Produktionspotenzial um 1 %. Vereinfachend gilt außerdem: Für den Fall, dass der Arbeitseinsatz oder der Kapitaleinsatz um 1 % steigt, steigt das Produktionspotenzial um ca. 0,5 %. In der → Tab. 15.2 ist Alands Ausstattung mit Produktionsfaktoren (L max , K max , T) und das auf Basis der Produktionsfunktion ermittelte Produktionspotenzial im Sinne normaler Auslastung (Y*) abzulesen. Dabei wurde ein konstanter Normalauslastungsgrad von 90 % für Arbeit und von 80 % für Kapital sowie von 100 % für das technische Wissen angenommen. Würde es gelingen, den - wie auch immer definierten - Normalauslastungsgrad z.B. der existierenden Arbeitskräfte zu erhöhen, wäre w y * in den Jahren mit steigender Normalauslastung größer als die hier berechnete Wachstumsrate. Solch eine Produktionsfunktion mit den konstanten Exponenten  und , die zwischen 0 und 1 liegen, ist eine sog. Cobb-Douglas-Produktionsfunktion. Der spezielle Fall, dass sich  und  zu 1 addieren, ist der am häufigsten unterstellte Fall. Anders als in dem Beispiel weisen empirische Schätzungen darauf hin, dass  größer als  sein muss. Die Gleichsetzung beider Parameter mit 0,5 ist hingegen in vielen Lehrbüchern üblich, um das Rechnen zu vereinfachen. Jahr T L max K max L* K* Y* w T w L * w K * w Y * 2013 100 11.111 3.125 10.000 2.500 500.000 2014 101 11.334 3.781 10.201 3.025 561.055 1 % 2,01 % 21 % 12,2 % Beitrag der einzelnen Faktoren zum Potenzialwachstum 2014 1 % 1,005 % 10,5 % 2015 102 11.788 4.500 10.609 3.600 630.360 0,99 % 4,0 % 19 % 12,4 % Beitrag der einzelnen Faktoren zum Potenzialwachstum 2015 0,99 % 2 % 9,5 % L: Bestand an Arbeitskräften (Arbeitskräftepotenzial) K: Kapitalstock T: Stand des technischen Wissens L*: normal ausgelastetes Arbeitskräftepotenzial K*: normal ausgelasteter Kapitalstock Y*: Produktionspotenzial im Sinne einer Normalauslastung w x : Wachstumsrate der Variable x (hier: L*, K*, Y* und T) Tab. 15.2: Beispiel für eine Berechnung des Produktionspotenzials <?page no="107"?> 108 Leitbild und Ziele Entwicklung des materiellen Wohlstands 15.4 Einkommensgrößen 15.4.1 Die zentrale Begründung für ein möglichst hohes preisbereinigtes BIP ist die Steigerung des materiellen Wohlstands einer Gesellschaft. Jedoch kann aus dem realen BIP nicht zwingend auf das hierfür entscheidendere reale Einkommen der Gesellschaft geschlossen werden. Vielmehr kann ein deutlicher Unterschied zwischen BIP und Einkommen bestehen. Ursache kann eine ungleichgewichtige Primäreinkommensbilanz gegenüber dem Ausland sein, weil z.B. das im inländischen Produktionsprozess generierte Faktoreinkommen zu einem beachtlichen Teil ins Ausland fließt oder, alternativ, weil die einheimischen Haushalte einen nennenswerten Teil ihres Faktoreinkommens aus dem Ausland beziehen. In solchen Fällen ist das Bruttonationaleinkommen oder das Volkseinkommen aussagefähiger als das BIP. Da es bei dem Begriff des Wirtschaftswachstums indes um dauerhafte Veränderungsraten geht, ist es weniger bedeutsam, ob das BIP, das BNE oder das Volkseinkommen als Basisgröße gewählt werden. Langfristig wachsen die Größen meistens in etwa gleich schnell. Zur Erinnerung (→ Kap. 3.2.2) Bruttonationaleinkommen (BNE) = BIP + Primäreinkommen aus d. Ausland - Primäreinkommen an d. Ausland Nettoprimäreinkommen Volkseinkommen = BNE - Abschreibungen - indirekte Nettosteuern Alternativ zum Einkommen wird der Konsum als Indikator materiellen Wohlstands verwendet. Dafür ist die goldene Regel der Kapitalakkumulation der neoklassischen Wachstumstheorie ein Beispiel. Die goldene Regel beschreibt die „optimale“ Sparquote, bei welcher der Konsum unter den gegebenen Bedingungen maximal ist (→ Kap. 18.2). Der Konsum pro Kopf wird jedoch nicht nur in der makroökonomischen Theorie als Wohlfahrtsmaß herangezogen. (Unter Wohlfahrt ist in etwa der „gesamtwirtschaftliche oder gesellschaftliche Nutzen“ zu verstehen.). Auch jenseits der VWL-Theorie wird dem Konsum eine hohe Bedeutung beigemessen. So wird z.B. in der Armutsforschung die individuelle Armut nicht nur am Einkommen und materiellen Vermögen der Haushalte festgemacht, sondern der Konsum bzw. die Fähigkeit zum Konsum wird bei der Definition und Messung wirtschaftlicher Armut zunehmend in den Vordergrund gestellt. Pro-Kopf-Wachstum 15.4.2 Bei Entscheidungen über das angestrebte Wachstumsziel - also das für eine Gesellschaft und Volkswirtschaft angemessene und zugleich realisierbare Wirtschaftswachs- <?page no="108"?> Zielerreichungsindikatoren 109 tum - sind demografische Entwicklungen zu berücksichtigen. Dazu zählen das Bevölker un gswa ch stum un d d ie E nt wick lu ng des Ar b ei tsk rä fte poten zi al s:  Wirtschaftswachstum allein reicht nicht aus, um von einer Verbesserung der materiellen Versorgungsmöglichkeiten für die Bevölkerung auszugehen. Wächst die Bevölkerung z.B. schneller als das BIP (das BNE), verschlechtert sich pro Kopf das BIP (das BNE) und somit sinkt - unter sonst gleichen Bedingungen (ceteris paribus) - der materielle Lebensstandard.  Steigt die Zahl der Arbeitskräfte (bzw. Arbeitsangebot) stärker als die Produktion, nimmt ceteris paribus (insb. bei unveränderter Produktivität je Erwerbstätigem) die Zahl der Arbeitslosen (bzw. die Arbeitslosigkeit) zu. Das Ziel der Vollbeschäftigung lässt bei steigendem Arbeitskräftepotenzial folglich ein höheres BIP-Wachstum angemessen erscheinen als bei konstantem Arbeitsangebot.  Ein wachsendes Arbeitskräftepotenzial bedeutet zugleich, dass sich die Ausstattung der Volkswirtschaft mit dem Produktionsfaktor Arbeit verbessert. Somit ist ein höheres Wirtschaftswachstum grundsätzlich auch realisierbar. Die Ausführungen machen deutlich, warum neben den Wachstumsraten des realen BIP auch die Wachstumsraten von Verhältnisgrößen als Zielerreichungsindikatoren herangezogen werden. Dazu zählen das BIP pro Kopf und das BIP pro Arbeitseinheit (z.B. pro Erwerbstätigem oder pro Arbeitsstunde).  Multiple-Choice-Aufgabe 6: Verständnisüberprüfung: Wachstumsindikatoren Kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an. Eine Volkswirtschaft wies im Jahr 2010 ein BIP von 1.000 Mrd. EUR auf. Im Jahr 2011 betrugt das BIP 1.050 Mrd. EUR. Das Preisniveau betrug 2010 genau 2 EUR und im Jahr 2011 betrug es 2,10 EUR.  Das reale BIP stieg um 5 %.  Das nominale BIP stieg um 5 %.  Das reale BIP blieb unverändert. Im Basisjahr 2010 werden 100 Einheiten des Gutes x 1 und 200 Einheiten des Gutes x 2 produziert. Die Preise betragen 2 EUR für x 1 und 4 EUR für x 2 . Im Jahr 2012 sind es 120 Einheiten von x 1 und 210 Einheiten von x 2 . Die Preise sind 3 EUR und 5 EUR. Auf Festpreisbasis gilt dann:  Der Laspeyres-Mengenindex für 2012 beträgt 1,08 (bzw. 108).  Der Laspeyres-Mengenindex für 2012 beträgt 1,10 (bzw. 110).  Der Paasche-Mengenindex beträgt für 2012 beträgt 1,15 (bzw. 115). Die Produktion (Y) beträgt 600 Mrd. EUR. Das technische Wissen (T) sei 2. Der Arbeitseinsatz (A) beträgt 900. Wenn die Produktionselastizitäten von Arbeit (α) und Kapital (β) jeweils 0,5 betragen, dann entspricht der Kapitaleinsatz (K) <?page no="109"?> 110 Leitbild und Ziele  400 Einheiten  100 Einheiten  1000 Einheiten. Wenn sich nun sowohl der Arbeitseinsatz als auch der Kapitaleinsatz um 1 % erhöhen, dann steigt die Produktion c.p. um etwa  0,5 %  1 %  2 %. Das reale BIP einer anderen Volkswirtschaft stieg innerhalb von 10 Jahren von 800 Mrd. auf 880 Mrd. Einheiten. Die Bevölkerung stieg parallel von 4 Mio. auf 4,8 Mio. Menschen. Das Bruttonationaleinkommen stieg real von 200 Mrd. auf 340 Mrd.  Das Pro-Kopf-BIP ist gestiegen.  Das BNE pro Kopf ist gleich geblieben.  Das BNE pro Kopf ist gestiegen. 16 Bestimmung des Wachstumsziels Beiträge der neoklassischen Wachstumstheorie 16.1 Die Lehre der Nationalökonomie beschäftigt sich im Wesentlichen erst seit der Industrialisierung systematisch mit der Erklärung des Wirtschaftswachstums. Die noch heute angewendeten Standardtheorien wirtschaftlichen Wachstums fußen überwiegend auf den neoklassischen Wachstumsmodellen, die Mitte des 20. Jahrhunderts Eingang in die Wirtschaftswissenschaften fanden. Die Welt der Neoklassik ist primär dadurch gekennzeichnet, dass auf allen Märkten vollständige Konkurrenz herrscht und dass sich die Wirtschaftssubjekte rational und optimierend verhalten. Vollständige Konkurrenz stellt eine besondere Marktstruktur dar, die einigen Lesern aus der mikroökonomischen Theorie bekannt sein dürfte. Diese Marktstruktur kann zwar niemals in Gänze erreicht werden, entspricht aber nach dem neoklassischen Verständnis dem Idealtypus, welchem sich selbst überlassene Märkte in der Regel nahekommen. In der neoklassischen Makroökonomik wird sie vereinfachend auf die Gesamtwirtschaft übertragen. Zwei ganz zentrale Annahmen der Marktstruktur der vollständigen Konkurrenz sind:  Marktform des Polypols (unendlich viele bzw. sehr viele kleine Anbieter) und des Polypsons (unendlich viele bzw. sehr viele kleine Nachfrager), auch als Nachfragepolypol bezeichnet, <?page no="110"?> Bestimmung des Wachstumsziels 111  und die völlige Flexibilität der Preise von Gütern und von Produktionsfaktoren (z.B. Löhne). Zu den übrigen Annahmen der vollständigen Konkurrenz zählen:  Produktbzw. Faktorhomogenität, d.h. es gibt keine (wesentlichen) Unterschiede zwischen den Produkten auf einem Markt (z.B. Markt für Zucker) oder zwischen den Produktionsfaktoren (z.B. Arbeit),  keine subjektiven Präferenzen, d.h. Anbieter und Nachfrager orientieren sich an objektiven Kriterien wie z.B. der Höhe des Preises (und nicht etwa daran, ob ihnen der Geschäftspartner sympathisch ist oder nicht),  vollständige Markttransparenz, d.h. alle Marktteilnehmer haben totale Übersicht über den Markt (z.B. die Verfügbarkeit, den Preis, die Qualität der Produkte oder der Produktionsfaktoren betreffend),  unendlich bzw. sehr hohe Anpassungsgeschwindigkeiten, d.h. die nachgefragten und angebotenen Menge sowie die Preise passen sich (unendlich) schnell an Änderungen an,  keine Raumüberwindungskosten oder andere Kosten des Zustandekommens von Tauschgeschäften (sog. Transaktionskosten) und  steigende Grenzkosten der Produktion sowie abnehmende Grenznutzen des Konsums. Das Konstrukt der vollständigen Konkurrenz wird alternativ als vollkommene Konkurrenz, vollkommener oder vollständiger Wettbewerb bezeichnet. In diesem Lehrbuch wird von der Bezeichnung als „vollkommen“ jedoch Abstand genommen, da diese Marktstruktur aus wettbewerbstheoretischer und -politischer Perspektive alles andere als vollkommen ist. Dies ist allerdings ein anderes Thema, auf das an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann (→ Kap. 18.1.4). Unter Wirtschaftssubjekten werden ganz allgemein die wirtschaftlich handelnden Akteure zusammengefasst. Dabei wird in der Makroökonomie meist zwischen privaten Haushalten, Unternehmen und Staat unterschieden. Der Staat (z.B. Fiskus und Zentralbank) erscheint in den grundlegenden Modellen als exogenes Wirtschaftssubjekt und entsprechend werden seine Aktivitäten als von außen einwirkende - exogene - Größen in den Modellen erachtet. Zwar gibt es ökonomische Theorien, die das Verhalten von politischen Entscheidungsträgern, Parteien, Lobbyisten sowie öffentlich Bediensteten und damit staatliches Verhalten zu erklären versuchen (z.B. Theorie der Neuen Politischen Ökonomie, des public choice und die Bürokratietheorie). Dies ist aber nicht eigentlicher Gegenstand der Makroökonomie. Ebenso wenig wird in den makroökonomischen Standardmodellen versucht, das Verhalten der Akteure innerhalb eines Haushalts oder innerhalb eines Unternehmens zu erklären. Rationales Optimierungsverhalten der privaten Haushalte und der Unternehmen bedeutet:  Optimierungsverhalten: Die Wirtschaftssubjekte haben eine Zielfunktion. Die Haushalte zielen auf die Maximierung ihres Nutzens (Nutzenfunktion), der in den meisten neoklassischen Modellen von der Höhe des Konsums (einschl. des Konsums von „Freizeit“) abhängt. Die Unternehmen haben in der Regel eine Maximierung ihres Gewinns zum Ziel. <?page no="111"?> 112 Leitbild und Ziele  Rationalverhalten: Die Wirtschaftssubjekte handeln in völligem Einklang mit ihrer Zielfunktion. Die neoklassische Welt ist nicht zuletzt aufgrund der Annahme der vollständigen Konkurrenz auf allen Güter- und Faktormärkten durch Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren geprägt. Davon gehen auch die traditionellen Wachstumsmodelle aus. Das bekannteste Modell aus den Anfängen der neoklassischen Wachstumstheorie stammt von R OBERT M. S OLOW , der für seine wachstumstheoretischen Beiträge den Nobelpreis (1987) (→ Wissensbox 36) erhielt. Das Solow-Modell und die übrigen neoklassischen Wachstumsmodelle zeigen, dass sich Volkswirtschaften unter den gemachten Annahmen mittelbis langfristig in einem Zustand des Wachstumsgleichgewichts befinden. Dieser Zustand wird als steady state, „Wachstumsgleichgewicht“ oder auch als „ausgewogenes Wachstum“ bezeichnet. Diese wachstumstheoretischen Modelle befassen sich zuvorderst mit den Ursachen wirtschaftlichen Wachstums. Damit liefert die neoklassische Wachstumstheorie der Politik nicht nur Anhaltspunkte dafür, wie Wirtschaftswachstum erzielt werden kann, sondern auch, welch ein Wachstum unter gegebenen Bedingungen realisierbar ist. Hieraus und mithilfe der Theorie des Wachstumsgleichgewichts können Aussagen über die Höhe eines angemessenen Wachstums getroffen werden. Dabei ist stets im Kopf zu behalten, dass die folgenden Ausführungen (→ Kap. 16.1.1 - 16.1.3 ) auf einem gleichgewichtstheoretischen Modell beruhen, konkret dem bahnbrechenden Solow-Modell von 1956. Das bedeutet, dass davon ausgegangen wird, dass sich die gesamtwirtschaftlichen Märkte (Güter-, Faktor-, Geld-, Finanz- und Devisenmarkt) spä teste ns m itte lfr istig im G leichgewich t b efin den ( → K ap. 46 .1) . M it a n d er en W o r ten wird bei dieser langfristig ausgerichteten wachstumstheoretischen Perspektive unterstellt, dass Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht gegeben sind. Im Wesentlichen geht es um Aussagen über die Höhe der Wachstumsrate des Produktionspotenzials, also das Wachstum des BIP, das bei Vollauslastung der Produktionsfaktoren erzielt wird (→ Kap. 16.5f.). Steady State 16.1.1 Konstante Zahl der Arbeitskräfte Eine für die Frage nach angemessenem und realisierbarem Wachstum wesentliche Erkenntnis der Wachstumstheorie ist, dass sich dauerhaftes Wachstum bei konstanter Zahl von Arbeitskräften ohne permanenten technischen Fortschritt nicht erzielen lässt. Das bedeutet, dass es durch Investitionen in Realkapital (Maschinen und Produktionsgebäude im weitesten Sinne) nicht gelingt, die Wertschöpfung fortwährend zu steigern. Vielmehr gibt es einen steady state, bei dem die Produktion stagniert, soweit technischer Fortschritt ausbleibt. Dieser steady state ist nichts anderes als ein „gleichgewichtiges Nullwachstum“, das keinerlei endogenen Anlass zu Verhaltensänderungen hervorruft. Dafür ist ursächlich, dass ein Zuwachs an Kapitalausstattung pro Arbeitskraft (Kapitalintensität) zwar zu Beginn des Prozesses, wenn die Kapitalintensität niedrig ist, zu einem nennenswerten Produktionszuwachs pro Arbeitskraft führt. Aber mit jeder Steigerung der Kapitalintensität verringert sich dieser Effekt. Der zusätzliche Ertrag (Grenzertrag), den eine weitere Einheit Kapital pro Beschäftigtem generiert, nimmt also ab. Dies wird als abnehmender Grenzertrag des Kapitals bezeichnet. Alternative <?page no="112"?> Bestimmung des Wachstumsziels 113 Bezeichnungen sind Grenzproduktivität oder Grenzprodukt des Kapitals. Ab einer gewissen K api tal au sstattun g lä sst sich d as Pr odu ktio nser ge bn is der Ar beitskr aft ka um noch durch zusätzliches Kapital steigern. Zugleich bedeutet eine steigende Kapitalausstattung, dass es immer höherer Investitionen bedarf, um das verschlissene Kapital zu ersetzen (Abschreibungen). Da sich indes der durch den wachsenden Kapitalstock hervorgerufene Produktionsanstieg pro zusätzlicher Kapitaleinheit verringert, reichen die produzierten Investitionsgüter ab einem Zeitpunkt nicht mehr aus, um für einen hinreichenden Ersatz der verschlissenen Kapitalgüter zu sorgen. Aus der Zusammenschau der zwei Effekte - abnehmender Grenzertrag des Kapitals sowie steigende Abschreibungen - ergibt sich, dass ab einer gewissen Kapitalintensität (Verhältnis von Kapitalstock zu Arbeitsvolumen) kein Wirtschaftswachstum mehr durch Kapitalakkumulation möglich ist. Der maximal erreichbare Kapitalstock hängt nicht zuletzt vom Konsum- und Sparverhalten der Gesellschaft ab. Je geringer der Anteil der Produktion ist, der konsumiert wird, desto höher ist die Sparneigung in der Volkswirtschaft und somit der Anteil der Güter, die für Ersatz- und Kapazitätserweiterungsinvestitionen zur Verfügung stehen. Dann ist die Kapitalintensität, bei der der steady state einsetzt, höher und entsprechend größer ist auch die Produktion. Daraus folgt: Steigt die Sparneigung (Sparquote), kann vorübergehend höheres Wirtschaftswachstum erzielt und somit langfristig ein steady state auf höherem Niveau erreicht werden. Sparen, Produktion und Konsum. Ein höheres Produktionsniveau, das durch einen Anstieg der Sparquote erreicht wird, bedeutet nicht zwingend, dass damit auch der Konsum gestiegen ist. (→ Kap. 18.2) Steigende Zahl von Arbeitskräften Es sei angenommen, dass sich die Volkswirtschaft im steady state befindet und nicht mehr wächst. Wenn nun die Zahl der Arbeitskräfte steigt, sinkt zunächst c.p. die Kapitalintensität und das BIP steigt solange an, bis erneut die Kapitalintensität erreicht ist, bei der keine Kapazitätserweiterungen mehr möglich sind. Der Kapitalstock stagniert und die Volkswirtschaft ist wieder im steady state des Nullwachstums angelangt. Während dieses Prozesses hat sich das BIP um den gleichen Prozentsatz wie die Zahl der Arbeitskräfte verändert. Wächst die Zahl der Arbeitskräfte mit einer konstanten Rate, wächst auch das BIP langfristig mit der gleichen Rate. Im steady state stagniert dann nicht die absolute Produktion, sondern die Produktion pro Beschäftigten.   Beispiel 9: Wirtschaftswachstum in Beland Gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion: Y T ⋅ L ⁄ ⋅ K ⁄ [Zur Erinnerung: die allg. Cobb-Douglas-Produktionsfkt.: Y T ⋅ L ⋅ K ] Es gibt keinen technischen Fortschritt: T ist konstant und sei 1. Die Zahl der Arbeitskräfte bei Vollauslastung sei L=100. Somit lautet die Funktion: <?page no="113"?> 114 Leitbild und Ziele Y 10 ⋅ K ⁄ Die Abschreibungsrate sei q = 0,1. Das heißt, 10 % des Kapitalstock „zerfällt“ jedes Jahr, etwa durch Abnutzung, Wettereinflüsse, Unfälle etc. Die Sparquote beträgt 20 % (s = 0,2). Das bedeutet, dass 80 % der produzierten Güter konsumiert werden. 20 % der Güter stehen mit anderen Worten für Investitionen zur Verfügung. Damit ein Anstieg des Kapitalstocks (Kapitalakkumulation) erfolgt, muss das Sparen (d.h. 20 % des BIP) die Abschreibungen (10 % des Kapitalstocks) übersteigen. Ist das Sparen (0,2 ⋅ Y) kleiner als die Abschreibungen (0,1 ⋅ K), reichen die verfügbaren Investitionsgüter nicht aus, den Kapitalbestand aufrechtzuerhalten. Der maximale Kapitalstock ist mithin erreicht, wenn Sparen und Abschreibungen übereinstimmen. Der maximale Kapitalstock Belands liegt bei 400 und die dazu gehörige Produktion bei 200. Würde nun (hypothetisch) der Kapitalstock um 1 Gütereinheit steigen, wüchse die Produktion auf knapp 200,25 Gütereinheiten. Das Sparen und somit die verfügbaren Investitionsgüter stiegen somit auf knapp 40,05 Einheiten. Zur Aufrechterhaltung eines Kapitalstocks von 401, von dem jährlich 10 % verschleißen, wären indes Investitionen von jährlich 40,1 notwendig. Folglich kann der Kapitalstock die 400 c.p. nicht übersteigen. Gleichung zur Berechnung des max. Kapitalstocks: 0,2 ⋅ 1 ⋅ 100 ⁄ ⋅ K ⁄ 0,1 ⋅ K  20 K ⁄ √ K  Aufgabe 7: Erklären Sie! Nehmen Sie an, dass die Produktion (Y) im Jahr 2010 genau 100 Gütereinheiten beträgt und das geplante Sparen (0,2 ⋅ Y) stets gleich den geplanten Investitionen ist (→ Kap. 44.3.1). Zugleich herrscht stets Vollauslastung der Produktionsfaktoren. a) Berechnen Sie das BIP, Kapitalstock und Wirtschaftswachstum für die Jahre 2011 und 2012. b) Angenommen, der steady state ist erreicht (d.h. K = 400 und Y = 200). Die Sparquote steigt nun dauerhaft auf 0,4. Berechnen Sie das neue Produktionsniveau im steady state. Steady state und technischer Fortschritt Anders sieht es aus, wenn es permanent gelingt, die Grenzproduktivität des Kapitals und der Arbeit durch technischen Fortschritt zu steigern. Dann wächst das BIP im steady state mit der Rate des technischen Fortschritts. Nimmt die Zahl der Arbeitskräfte zu und existiert technischer Fortschritt, wirken beide Faktoren wachstumserzeugend. Allgemein gilt, dass die Produktion pro Beschäftigten (genauer: pro Arbeitseinheit, z.B. je Arbeitsstd.) im steady state mit der Rate des technischen Fortschritts wächst. <?page no="114"?> Bestimmung des Wachstumsziels 115 Falls die Beschäftigung (bzw. das Arbeitsvolumen) um bspw. 1 % p.a. und der technische Fo r tsch r it t um 1,5 % p. a . wa ch sen , betr ä gt da s W irtsch a ftswa chstu m c a . 2,5 % p.a., während das Wachstum pro Beschäftigtem 1,5 % p.a. beträgt. Dabei ist der Begriff des technischen Fortschritts für die wirtschaftspolitische Praxis relativ weit zu definieren: Er beschränkt sich nicht auf die Einführung technischer Neuerungen (Innovation) und ihre Ausbreitung (Imitation und Diffusion) in der Volkswirtschaft, sondern umfasst eine Fülle weiterer effizienzsteigernder „Fortschritte“ wie z.B. eine Steigerung des Humankapitals durch eine verbesserte Ausbildung der Arbeitskräfte. Wachstum pro Kopf In der Theorie werden Bevölkerungs- und Arbeitskräftewachstum oftmals vereinfachend gleichgesetzt. Langfristig entsprechen sich dann Produktionswachstum pro Arbeitskraft und Wachstum je Kopf. Das heißt, dass die Pro-Kopf-Produktion im steady state (ohne technischen Fortschritt) stagniert. Schrumpft die Bevölkerung und damit die Erwerbsbevölkerung, sinkt zum einen die Produktion, weil weniger Arbeit eingesetzt wird. Zum anderen steigt die Pro-Kopf-Produktion vorübergehend an, was daran liegt, dass die Kapitalintensität pro Arbeitskraft zunächst gestiegen ist. Da diese Kapitalintensität jedoch nicht aufrechterhalten werden kann, sinkt das Pro-Kopf- Wachstum langfristig wieder auf Null. Wächst hingegen die Bevölkerung und entsprechend auch die Erwerbsbevölkerung, nimmt die Produktion zum einen zunächst zu, weil mehr Arbeit eingesetzt wird. Die Pro-Kopf-Produktion schrumpft hingegen infolge der niedrigeren Kapitalintensität. Im Laufe der steigenden Kapitalausstattung wächst die Pro-Kopf-Produktion so lange, bis wieder die maximale Kapitalintensität und das steady state Pro-Kopf-Wachstum von Null (bzw. in Höhe des technischen Fortschritts) erreicht sind. Verändert sich indes der Anteil der verfügbaren Arbeitskräfte an der Bevölkerung (Partizipationsrate), gilt im Allgemeinen: Je höher die Partizipationsrate, umso höher ist c.p. das Produktionsniveau pro Kopf im steady state. Ihr einmaliger Anstieg verursacht vorübergehend einen Wachstumsschub der Pro-Kopf-Produktion. Verändern sich zugleich die Partizipationsrate und die Bevölkerungszahl, kann die Nettoänderung der Erwerbsbevölkerung herangezogen werden. Je höher der Nettoanstieg (bzw. Rückgang) ausfällt, umso höher (bzw. niedriger) ist das Pro-Kopf- Produktionsniveau im steady state unter sonst gleichen Bedingungen. Implikationen der neoklassischen Wachstumstheorie 16.1.2 Aus den skizzierten wachstumstheoretischen Überlegungen lassen sich verschiedene Aussagen ableiten, die verdeutlichen, dass eine realistische Definition des Zielwerts, der als angemessenes Wirtschaftswachstum gilt, vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand und vom (Erwerbs-)Bevölkerungswachstum eines Landes abhängt. Die folgenden Aussagen gelten unter der Annahme der Vollauslastung und sonst gleicher Bedingungen (ceteris paribus), womit zunächst auch eine konstante Einwohnerzahl gemeint ist. Somit muss nicht zwischen der Produktion pro Beschäftigtem und der Pro-Kopf-Produktion unterschieden werden. <?page no="115"?> 116 Leitbild und Ziele  Je schlechter die Volkswirtschaft mit Kapital ausgestattet ist, desto niedriger ist das BIP (pro Kopf).  Je schlechter die Kapitalausstattung und umso weiter die Volkswirtschaft vom steady state entfernt ist, desto höhere Wachstumsraten können vorübergehend durch Kapitalakkumulation realisiert werden. Mit steigender Kapitalausstattung nimmt der materielle Lebensstandard zu, und die realisierbaren Wachstumsraten sinken.  Je geringer die Ausstattung mit technischem Wissen im Vergleich zu den technisch am weitesten entwickelten Volkswirtschaften ist, umso größer ist das Wachstumspotenzial durch die Übernahme, Imitation und Diffusion bekannter Technologien. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Anpassungswachstum, also ein Wachstum durch das Anpassen der Produktion an das höhere Effizienzniveau anderer Volkswirtschaften. Teils kann dies durch Humankapitalsteigerungen und institutionelle Reformen erreicht werden, teils aber geht es Hand in Hand mit der Kapitalausstattung, so dass in der Praxis nicht immer klar zwischen kapitalgetriebenem Wachstum und Anpassungswachstum unterschieden werden kann.  Ab einem gewissen Zeitpunkt stagniert jedes gesamtwirtschaftliche Wachstum und die Volkswirtschaft verharrt im steady state. Dieser Zustand tritt ein, wenn der nicht konsumierte Teil der Produktion - sprich: das Sparen - gerade ausreicht, um das verschlissene Kapital zu ersetzen. Die Kapitalintensität kann nicht weiter ansteigen und das Wachstum (pro Kopf) entspricht der Rate des technischen Fortschritts.  Je höher die Sparquote ist, umso höher ist das Produktionsniveau im steady state. Ein Anstieg der Sparquote forciert das Wirtschaftswachstum lediglich vorübergehend.  Wenn die Partizipationsquote zunimmt, steigt die Wachstumsrate (pro Kopf) vorübergehend an und der (neue) steady state setzt bei einem höheren Produktionsniveau ein. Die Produktion pro Arbeitskraft sinkt hingegen vorübergehend, um im steady state wieder den Ausgangswert anzunehmen. Wenn die Annahme konstanter Einwohnerzahl fallengelassen wird und zugleich kein technischer Fortschritt existiert, kommen weitere Aussagen hinzu:  Wächst die Zahl der Erwerbsbevölkerung mit der gleichen Rate wie die gesamte Bevölkerung, ändert sich im steady state die Produktion pro Kopf nicht.  Wächst die Erwerbsbevölkerung schneller als die gesamte Bevölkerung, werden anfangs positive Wachstumsraten pro Kopf erzielt, die im Zeitablauf jedoch sinken. Die Argumentation ist die gleiche wie im Falle einer steigenden Partizipationsquote bei konstanter Bevölkerung. Es ist klar, dass die Erwerbsquote nicht permanent steigen kann, weswegen schließlich wieder ein langfristiges steady state-Wachstum pro Kopf von Null realisiert wird.  Wächst die Bevölkerung hingegen schneller als die Erwerbsbevölkerung, gleicht dies im Ergebnis einen Rückgang der Partizipationsquote aus. Die Pro-Kopf-Produktion schrumpft vorübergehend, bis der steady state erreicht ist.  Bevölkerungswachstum hat sowohl negative als auch positive Wirkungen auf das Produktionsniveau pro Kopf, die nur im Einzelfall konkretisiert werden können. Langfristig ändert es nichts an der Wachstumsrate pro Kopf, die im steady state gleich Null bzw. gleich der Rate des technischen Fortschritts ist. Jedoch verändert Bevölkerungswachstum während des Anpassungsprozesses vorübergehend die Wachstums- <?page no="116"?> Bestimmung des Wachstumsziels 117 rate der Produktion pro Kopf. Ob dies positiv oder negativ beeinflusst wird, hängt we se n tlich v on d e r E nt wi c k lun g der P ar ti z ipa ti on sq uo te ab. → Abb. 16.1 illustriert, wie sich ein Anstieg der Sparneigung oder der Partizipationsrate zum Zeitpunkt t auf das Wirtschaftswachstum (Steigung der blauen Kurve) auswirkt. Das steady state Wachstum (Steigung der gestrichelten Geraden) wird nur vorübergehend verlassen. Der vorübergehende Wachstumsanstieg (Steigung der blauen Kurve) flacht zunehmend ab. Letztlich bleibt nur ein Niveaueffekt (Parallelverschiebung des gestrichelten Trends.) Die Wachstumsrate ist wieder die „alte“. Quelle: in Anlehnung an B LANCHARD und I LLING , 2014. Abb. 16.1: Wachstumspfad Entwicklungsstand und Wachstum 16.1.3 16.1.3.1 Wachstumsziel in Niedrigeinkommensländern Wirtschaftlich sehr arme Entwicklungsländer weisen ebenso wie Länder nach erheblichen wirtschaftlichen Strukturbrüchen (z.B. Nachkriegsökonomien) in aller Regel eine sehr niedrige Kapitalausstattung pro Kopf auf. Je schlechter aber eine Volkswirtschaft mit Kapital in Relation zu Arbeit ausgestattet ist, umso niedriger sind das BIP pro Kopf und der materielle Lebensstandard. Je niedriger wiederum der materielle Lebensstandard, umso höheres Wirtschaftswachstum ist erforderlich, um die Basis für eine - wie auch immer definierte - akzeptable Lebensqualität herzustellen. In etlichen ärmeren Entwicklungsländern ist außerdem das Bevölkerungswachstum überdurchschnittlich hoch. Dies erfordert höheres BIP-Wachstum als in demografisch stagnierenden Ökonomien. Die „gute Nachricht“ ist, dass in Niedrigeinkommensländern grundsätzlich höhere Wachstumsraten pro Kopf realisiert werden können als in wirtschaftlich weit entwickelten Ländern, denn die meisten dieser ärmeren Entwicklungsländer sind gekennzeichnet durch Jahre reales BIP t <?page no="117"?> 118 Leitbild und Ziele  eine sehr niedrige Kapitalintensität,  eine wachsende Zahl von Arbeitskräften,  und ein großes Potenzial für Produktivitätssteigerungen, vor allem durch die Verbreitung von Technologien und Wissen/ Know-how, die in wirtschaftlich weiter entwickelten Ländern bereits länger verbreitet und erprobt sind. Die „schlechte Nachricht“ ist, dass in Ländern mit sehr niedrigem Pro-Kopf- Einkommen ein sehr großer Teil der Produktion/ des Einkommens für konsumtive Zwecke verwendet wird. Für den Aufbau von Real- und Humankapital bleibt mit anderen Worten wenig übrig. Die Sparquote ist vergleichsweise niedrig. Ob und wie diese (Human-)Kapitallücke z.B. durch Auslandsdirektinvestitionen, Verschuldung oder Entwicklungszusammenarbeit geschlossen werden kann, zählt zu den zentralen Fragestellungen der entwicklungsökonomischen Theorie und Politik. Die ökonomische Entwicklungstheorie richtet ihr Hauptaugenmerk auf wirtschaftlich wenig entwickelte Länder, wohingegen die Wachstumstheorie, außer auf ganz grundlegende Zusammenhänge, primär auf Wachstum in wirtschaftlich weit entwickelten Volkswirtschaften (sog. „Industrieländer“) abstellt.  Wissensbox 11: Länderklassifikation anhand des Pro-Kopf-Einkommens Die W ELTBANK unterteilt Volkswirtschaften u.a. nach dem Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf. Das BNE wird zuvor um Wechselkurseffekte und Inflationsdifferenzen bereinigt, um die internationale Vergleichbarkeit zu erhöhen. Im Zeitraum 2015/ 16 bezogen sich die Grenzen auf das Jahreseinkommen 2014:  max. 1.045 KKP-USD [31 Niedrigeinkommensländer (LIC)]  über 1.045 bis 12.736 KKP-USD [104 Länder mittleren Einkommens (MIC), darunter 51 Länder mit einem lower middle income (LMIC) unter 4.125 USD sowie 53 upper-middle-income countries (UMIC)]  mind. 12.736 KKP-USD [80 Hocheinkommensländer (HIC)] Es gibt keine einheitlichen Kriterien für die Unterscheidung in Entwicklungs- und Industrieländer (developing and developed countries). Ein pragmatischer Ansatz ist es, LIC und LMIC zu den sich entwickelnden Volkswirtschaften sowie alle UMIC und HIC zu den entwickelten Volkswirtschaften zu zählen. Allerdings ist diese Einteilung im Einzelfall oft unbefriedigend. Darüber hinaus gibt es eine verwirrend große Zahl weiterer Klassifizierungsmethoden und Unterkategorien. Diese wurden u.a. von der OECD (→ Wissensbox 12), dem I NTERNATIONALEN W ÄHRUNGSFONDS (IWF), anderen UN-Organisationen und privaten Institutionen, wie z.B. von der Zeitschrift T HE E CONOMIST , entwickelt. Eine häufig verwendete Kategorie ist die der „am wenigsten entwickelten Länder“ (least developed countries), zu denen die V ER- EINTEN N ATIONEN (UN) aktuell 47 Länder (2017) zählen. Quellen: D ENZER und W EICHELT , 2014; R ASCHEN , 2013; W ELTBANK , 2016a; V EREINTE N ATIONEN , 2017. <?page no="118"?> Bestimmung des Wachstumsziels 119 16.1.3.2 Wachstumsziel in Hocheinkommensländern Während alle Niedrigeinkommensländer zugleich Entwicklungsländer sind, ist eine Einordnung bei den Hocheinkommensländern nicht pauschal möglich. Ein Teil von ihnen weist einen weit fortgeschrittenen Grad wirtschaftlicher Entwicklung auf: Diese Länder werden - trotz eines Dienstleistungsanteils am BIP von mittlerweile rund drei Viertel - vereinfachend als Industrieländer bezeichnet. Der I NTERNATIONALE W ÄH- RUNGSFONDS (IWF) spricht in dem Zusammenhang auch von „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“ (advanced economies). Hierin sind alle Länder enthalten, die vor dem Zusammenbruch des Ostblocks (frühere Sowjetunion und ihr politisch und wirtschaftlich nahestehende Staaten) als „westliche Industrieländer“ bezeichnet wurden. Hinzu kommen u.a. Israel, Südkorea, Singapur und verschiedene osteuropäische Länder. Dann gibt es eine Reihe von Hocheinkommensländern, deren wirtschaftlich hoher Wohlstand auf dem Reichtum nach stark nachgefragten und relativ knappen fossilen Ressourcen (Erdöl und -gas) beruht. Sie bilden ebenso wie viele Mini- und Inselstaaten mit hohem Pro-Kopf-Einkommen - z.B. Liechtenstein und einige Karibikinseln - entwicklungs- und wachstumspolitische Spezialfälle. Die reichen Industrieländer sind im Vergleich zu den Niedrigeinkommensländern gegenteilig charakterisiert:  hohe Kapitalintensität,  hoher Anteil produktiv beschäftigter Arbeitskräfte,  aktueller Stand der Technik,  hohes Bildungsniveau,  geringes oder negatives natürliches Bevölkerungswachstum (Bevölkerungsentwicklung ohne Zu-/ Abwanderung) sowie  höhere Sparquoten. Damit besteht in reichen Ländern im Allgemeinen ein geringeres Wachstumspotenzial durch Kapitalakkumulation als in ärmeren Ländern. Der Großteil des Wirtschaftswachstums muss in den „Industrieländern“ durch originären technischen Fortschritt und durch ansteigende Partizipationsraten (z.B. von Frauen) bzw. Einwanderung erzielt werden. Dies gilt umso mehr, als in der großen Mehrheit der reichen Industrieländer keine dauerhafte Neigung zu höheren Sparquoten zu beobachten ist. Die traditionelle Wachstumstheorie führt folglich zu der Erkenntnis, dass das Pro- Kopf-Wachstum und damit auch das Wachstum des BIP in den reichen Industrieländern deutlich niedriger sein müssen als in wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern. Dies gilt besonders dann, wenn es den ärmeren Ländern gelingt, die Kapitallücke zu verringern. Die neoklassische Theorie geht davon aus, dass die Lücke zunächst vor allem durch Kapitalimporte aus wirtschaftlich weiterentwickelten Regionen geschlossen wird. Diese flössen bevorzugt in die ärmeren Länder, da hier c.p. die Grenzproduktivität des Kapitals und damit auch die Renditen höher als in den Industrieländern sind. <?page no="119"?> 120 Leitbild und Ziele Quelle: S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2017a, S. 10. Abb. 16.2: Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik Deutschland (Veränderung des realen BIP gegenüber Vorjahr in %)  Aufgabe 8: Überlegen Sie! → Abb. 16.2 stellt das Wachstum des realen BIP in Deutschlands seit der Nachkriegszeit dar. a) Wie hat sich das durchschnittliche Wachstum p.a. im Laufe der Jahrzehnte entwickelt? b) Inwieweit lässt sich die Entwicklung mithilfe der neoklassischen Wachstumstheorie erklären? c) Gibt es außer der Ausstattung mit Arbeit und Kapital (verfügbare Arbeitskräfte und Kapitalstock), Produktivitätsentwicklungen und technischem Fortschritt weitere Faktoren, die Ihrer Meinung nach zur Erklärung der Durchschnittswerte beitragen? 8,2 4,4 -5,6 4,1 3,0 0,7 0,3 1,6 1,7 1,9 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Durchschnitt 1950-1960 Durchschnitt 1960-1970 2,9 2,6 1,6 0,9 <?page no="120"?> Bestimmung des Wachstumsziels 121 Beiträge der „neuen“ neoklassischen Wachstumstheorie 16.2 Die (nicht mehr ganz) neue Wachstumstheorie entwickelte sich in den 1980er-Jahren und relativiert die soeben beschriebene Erkenntnis. Ihr wesentliches Merkmal ist, dass sie technischen Fortschritt nicht nur als Ursache von Wirtschaftswachstum ansieht, sondern vielmehr auch als ein Ergebnis des Wachstums- und Kapitalbildungsprozesses. In der Sprache wirtschaftstheoretischer Modelle wird dies als „Endogenisierung des technischen Fortschritts“ bezeichnet. Damit wird der wesentliche Unterschied zur traditionellen neoklassischen Wachstumstheorie betont, in welcher der technische Fortschritt - also eine Erhöhung der totalen Faktorproduktivität - eine exogene Größe ist. Technischer Fortschritt fällt in der traditionellen Neoklassik „wie Manna vom Himmel“. Damit aber war die traditionelle neoklassische Wachstumstheorie nicht in der Lage zu erklären, warum wirtschaftlich reiche Volkswirtschaften nunmehr seit vielen Jahrzehnten dauerhaft schneller wachsen als ihre Bevölkerung. Außerdem trat eine Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen zwischen den wirtschaftlich reicheren und ärmeren Entwicklungsländern (sog. Konvergenzthese) nicht in dem Maße ein, wie es das Solow-Modell vermuten lässt. Diese Defizite der neoklassischen Theorie konnten durch die Endogenisierung technischen Fortschritts behoben werden. Technischer Fortschritt entsteht in den Modellen endogenen Wachstums überwiegend durch Forschungs- und Entwicklungsausgaben (F&E), Humankapitalinvestitionen der Haushalte oder durch learning by doing, seltener auch durch Skaleneffekte. Diese Fortschrittstreiber sind in Ländern mit hoher Kapitalintensität und hohem Pro-Kopf-Einkommen größer als in wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern. Letztlich gelingt es der neuen Wachstumstheorie, von der traditionellen Annahme der kontinuierlich sinkenden Grenzproduktivität des Kapitals (bzw. der Arbeit) Abstand zu nehmen, ohne die übrigen Annahmen der Neoklassik fallen zu lassen. Durch die Integration der genannten fortschrittstreibenden Aktivitäten in das neoklassische Modell lassen sich unentwegte Erhöhungen der Faktorproduktivität erklären. Damit lässt sich begründen, warum die Pro-Kopf-Produktion sogar in reichen Volkswirtschaften mit extrem hoher Kapitalintensität weiterhin und ggfs. stärker als andernorts wächst. Die Modelle der neuen Wachstumstheorie gehen indes nach wie vor von Vollbeschäftigung, rational handelnden Unternehmen und Haushalten sowie in der Regel von effizienten Märkten aus. Zusammenfassend lassen die Erkenntnisse der traditionellen Neoklassik vermuten, dass das Potenzial für hohe Wachstumsraten in ärmeren Entwicklungsländern am höchsten und in reichen Industrieländern am niedrigsten ist. Dies deckt sich indes nicht mit den empirischen Befunden. Unter anderem hemmen Kapitalarmut und unzureichende Kapitalimporte zur Schließung der Kapitallücke, ein niedriger Bildungsstand und schwache Institutionen - z.B. mit der Folge großer Rechtsunsicherheit und Korruption - die Entfaltung hohen Wachstums in den ärmsten Ländern. Außerdem stellt die neue neoklassische Wachstumstheorie eine wichtige Annahme der neoklassischen Konvergenztheorie in Frage, nämlich dass das Grenzprodukt des (Real- und Human-) Kapitals beständig abnimmt. Vielmehr betont die neue Theorie die Bedeutung eines hohen Pro-Kopf-Einkommens, einer hohen Kapitalintensität und großer Absatzmärkte für die Entstehung technischen Fortschritts. <?page no="121"?> 122 Leitbild und Ziele Das Wirtschaftswachstum dürfte mithin in Ländern mit mittlerer Kapitalintensität, be fri edigen d ausg ebi ldeten Ar b eitskr äf te n und funkti on ier end en In stitutio nen a m höchsten sein, da diese grundsätzlich in der Lage sind, das theoretisch hergeleitete Wachstumspotenzial plus Anpassungswachstum zu realisieren. Die genannten Charakteristika und ein mittleres Pro-Kopf-Einkommen sind typisch für Schwellenländer. Die meisten Schwellenländer gehören zu der großen und wirtschaftlich sehr heterogenen Gruppe der Länder mit mittlerem Einkommen, welche außerdem (Noch-)Entwicklungsländer sowie einige erdölexportierende Länder umfasst. Es existiert zwar keine allgemein anerkannte Definition von Schwellenland (Raschen 2013), aber dennoch haben viele eine ungefähre Vorstellung davon, welche Ökonomien dazu zählen oder nicht. Zu den Schwellenländern zählen verschiedene Volkswirtschaften des ehemaligen Ostblocks, lateinamerikanische und vor allem südostasiatische Volkswirtschaften (DAE: Dynamic Asian Economies). Die Türkei als ein Land höheren mittleren Einkommens wird in der Regel ebenfalls zu den Schwellenländern gezählt. Bei einigen Hocheinkommensländern ist es wiederum hingegen Ansichtssache, ob man sie zu den Schwellen- oder Industrieländern zählt. Dies ist vor allem der Fall bei verschiedenen Volkswirtschaften, die einen Systemwechsel von der Planhin zur Marktwirtschaft vollzogen haben oder noch vollziehen (sog. Transformationsökonomien). In → Abb. 16.3 sind die Pro-Kopf-Wachstumsraten der drei Ländergruppen - nach BNE pro Kopf gruppiert - für einen rund 30-jährigen Zeitraum dargestellt. Die Gruppe mit mittlerem Einkommen weist seit Beginn der 1990er-Jahre mit wenigen Ausnahmejahren das höchste Wachstum pro Kopf auf. Die Gruppe mit niedrigem Einkommen weist besonders starke Wachstumsausschläge auf und erst seit etwa einem Jahrzehnt wächst das BIP pro Kopf dort durchgehend schneller als in den Hocheinkommensländern. In → Tab. 16.1 ist das durchschnittliche Wachstum - errechnet als geometrisches Mittel der jährlichen Raten - über den gesamten Zeitraum, die Zeit vor 2007 (Beginn der Finanzkrise) und jeweils für 8-Jahreszeiträume eingetragen. Das Pro- Kopf-BIP ist in den Ländern mittleren Einkommens in der Tat am stärksten gewachsen. <?page no="122"?> Bestimmung des Wachstumsziels 123 Jahr HIC MIC LIC Wachstum des BIP (in %) 1983-2014 2,5 4,8 3,6 1983-2006 1,2 4,7 2,9 1983-1990 3,7 3,7 1,7 1991-1998 2,3 4,2 1,7 1999-2006 2,8 5,6 4,3 2007-2014 1,2 5,8 6,2 Wachstum des BIP pro Kopf (in %) 1983-2014 1,8 3,2 0,8 1983-2006 2,2 3,0 0,1 1983-1990 2,9 1,7 - 0,5 1991-1998 1,6 2,5 - 1,1 1999-2006 2,2 4,2 1,6 2007-2014 0,5 4,6 3,3 Quelle: W ELTBANK , 2017 (eigene Berechnungen und Darstellung). Tab. 16.1: Durchschnittliche Wachstumsraten (geometrisches Mittel) in verschiedenen Ländergruppen, 1983-2014 Abb. 16.3: Wachstum des Pro-Kopf-BIP in Ländern verschiedener Einkommensniveaus, 1983-2014 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 8 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 MIC HIC LIC <?page no="123"?> 124 Leitbild und Ziele Überschlagsrechnung für Deutschland 16.3  Was meinen Sie? Angenommen, eine Volkswirtschaft sei über 10 Jahre wie folgt gekennzeichnet:  Das BIP pro Kopf betrüge 125 % des Durchschnitts der OECD-Länder.  Die Kapitalintensität - gemessen als Kapitalstock geteilt durch die Zahl der Erwerbstätigen - läge bei 120 % des OECD-Durchschnitts und wächst mit 2,5 % p.a.  Die Sparquote wäre leicht überdurchschnittlich.  Die Rate des technischen Fortschritts wäre 1,1 % p.a.  Das BIP je Erwerbstätigem wächst mit einer Rate von 1,3 % Auf der Basis Ihrer Kenntnisse über die (neuen) neoklassischen Wachstumstheorien: Befindet sich die Volkswirtschaft Ihrer Meinung nach im steady state? Wie hoch schätzen Sie die zukünftige langfristige Wachstumsrate ein? Die obigen „erfundenen“ Daten ähneln denen der deutschen Volkswirtschaft vor etwa 10 Jahren. Deutschland ist im internationalen Vergleich durch ein hohes BIP pro Kopf, eine hohe Kapitalintensität und ein hohes technisches Niveau gekennzeichnet. → Tab. 16.2 gibt genauer Auskunft über die genannten Größen für Deutschland in den Jahren 1995 bis 2006. Damit ist ein Zeitraum vor der Finanzkrise und mit einigen Jahren Abstand zur deutsch-deutschen Vereinigung dargestellt. Außerdem sind zum Vergleich die Daten für die USA, der OECD-Durchschnitt und - soweit verfügbar - für China angegeben. Bei der Interpretation der → Tab. 16.2 ist zu berücksichtigen, dass die Berechnungen und Schätzungen mit einigen Unsicherheiten verbunden sind. Dies gilt besonders für die Ermittlung des Kapitalstocks und der Kapitalintensität. Internationale Vergleiche der absoluten Zahlen zum Kapitalstock und zu den geleisteten Arbeitsstunden sind mangels international einheitlicher Definitionen und Erfassungsmethoden höchst problematisch. Die relativen Veränderungen dieser Größen können hingegen für Ländervergleiche herangezogen werden. Wie passt der Befund der → Tab. 16.2 zu den Thesen des steady states gemäß der traditionellen neoklassischen Wachstumstheorie?  Passt: Das Wirtschaftswachstum pro Arbeitseinheit (z.B. Std.) lag in den Industrieländern deutlich unter der Wachstumsrate der Kapitalintensität. Dies harmoniert mit der Annahme der abnehmenden Kapitalproduktivität.  Passt: Technischer Fortschritt war eindeutig die dominierende Wachstumsdeterminante in Deutschland. Ähnliches gilt für den OECD-Durchschnitt.  Passt: Chinas Kapitalausstattung war sehr viel schlechter, das Wachstum war deutlich höher und im Wesentlichen durch die Akkumulation von Kapital getrieben. Die Rate des technischen Fortschritts war höher als in den Industrieländern.  Passt weniger: Die Kapitalintensität wuchs in den USA trotz besserer Kapitalausstattung und niedrigerer Sparquote schneller als in Deutschland oder als im OECD- <?page no="124"?> Bestimmung des Wachstumsziels 125 Durchschnitt. (Dies kann teils durch Auslandsdirektinvestitionen, die in den USA get äti gt wu rde n, em pi ri sc h e rk l ärt w er de n, a ll er di ng s p a sse n au ch d ie se ni ch t so r e ch t zu den Annahmen neoklassischer Wachstumsmodelle.)  Passt weniger: Die Kapitalakkumulation trägt in den USA in spürbarem Maße zum Wachstum der Produktion je Erwerbstätigem bei.  Pa ss t wen ig er : Chinas BIP p ro Ko pf b etr ug w en ig er a ls 5 % d es O E C D- Durchschnitts, aber die Sparquote (in % des BIP) ist mehr als doppelt so hoch. Zusammenfassend deuten die Daten daraufhin, dass sich die deutsche Volkswirtschaft mehr oder weniger im steady state befand. Das Produktionswachstum je Arbeitseinheit (z.B. Std.) divergiert nur um 0,6 % von der Rate des technischen Fortschritts von 1,1 %. Das Arbeitsvolumen ist in etwa konstant. Dass die Kapitalintensität noch ansteigt und zum Wachstum pro Arbeitsstunde beiträgt, kann mit der neuen neoklassischen Wachstumstheorie erklärt werden. Diese relativiert die Annahme, dass das Grenzprodukt des Kapitals notwendigerweise kontinuierlich sinkt. Langfristig wäre c.p. ein Wachstum der Produktion pro Arbeitsstunde zwischen 1,2 und 1,6 % zu erwarten. Die Daten für China deuten hingegen darauf hin, dass seine Volkswirtschaft noch weit vom steady state entfernt ist. Das Produktionswachstum je Erwerbstätigem ist nahezu drei Mal so hoch wie die Rate des technischen Fortschritts. Die Rate der Kapitalakkumulation war extrem hoch und erklärt den Großteil des Wachstums der Produktion je Erwerbstätigem. Langfristig wäre demnach c.p. ein sinkendes Wachstum der Produktion je Beschäftigtem zu erwarten. Dies scheint sich in jüngster Zeit (2012-2016) auch anzudeuten. Jedoch gilt es, einen längeren Zeitraum abzuwarten, da die beobachtete Wachstumsabflachung nicht zwingend ein Trend sein muss. Die Daten für die USA legen nahe, dass sich ihre Volkswirtschaft zumindest in der Nähe des Wachstumspfads des steady state befand. Das Arbeitsvolumen steigt, was permanente Anpassungsprozesse weg und wieder hin zum steady state erklären könnte. Der Anstieg der Kapitalintensität und ihr Beitrag zum Produktionswachstum pro Arbeitsstunde sind für ein Industrieland jedoch überdurchschnittlich groß. Langfristig wäre c.p. eher ein etwas geringeres Wachstum der Produktion je Arbeitseinheit zu erwarten, das tendenziell unter 2 % liegt. <?page no="125"?> 126 Leitbild und Ziele Mittelwerte 1995-2006 Deutschland USA OECD* China BIP pro Kopf (2011 KKP-USD) 36.200 44.900 32.000. 1.400 Kapitalstock (2005 KKP-USD) pro Erwerbstätigen 193 Tsd. 223 Tsd. 180 Tsd.* 19 Tsd. Sparen/ BIP 22,6 % 19,3 % 22,2 % 41,7 % Rate d. techn. Fortschritts (Veränderung der Totalen Faktorproduktivität p.a.) 1,1 % 1,3 % 1,5 %* 2,6 % Bevö lk erun gs wa ch stum p.a . 0, 1 % 1, 1 % 0, 7 % 0, 7 % Wachstum des BIP p.a. 1,5 % 3,3 % 2,7 % 8,7 % Wachstumsrate der Kapitalintensität p.a. (Kapitalstock/ Arbeitsstunden bzw. pro Erwerbstätigem**) 2,8 % 3,4 % 2,3 % 8,9 % Wachstumsrate des Kapitalstocks p.a. 2,6 % 4,4 % 3,2 %* 9,9 % Änderungsrate des Arbeitsvolumens (in Std.) -0,2 % 1 % 0,9 % --- Wachstumsrate des BIP pro Arbeitseinheit 1,7 % 2,3 % 1,9 % 7,7 % Wachstumsrate der Zahl der Erwerbstätigen 0,3 % 1,2 % 1,2 % 1,0 % Änderungsrate der geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen p.a. -0,5 % -0,2 % -0,3 % --- Partizipationsrate (Anteil der Erwerbspersonen an allen Personen über 14 Jahre) 58,2 % 65,7 % 59,9 % 72,8 % Quellen: Weltbank, OECD und Feenstra (Penn World Tables), eigene Berechnungen. * Durchschnitt der Länder, für die Daten über den Kapitalstock vorliegen. ** Für China liegen keine Angaben über die geleisteten Arbeitsstunden vor. Tab. 16.2: Wachstumsdeterminanten 1995-2006 Zusammenfassend deutet → Tab. 16.2 darauf hin, dass Deutschlands langfristige Wachstumsrate des BIP bei konstantem Arbeitsvolumen und sonst gleichen Bedingungen bei 1,3-1,4 % liegt. Diese Aussage ist jedoch nur tragfähig, wenn der durchschnittliche Beschäftigungsgrad von Arbeit und Kapital während der betrachteten Zeitperiode in etwa der Vollauslastung entsprach, da dies eine zentrale Annahme der neoklassischen Theorie ist. (Das Ziel der Vollbeschäftigung ist Gegenstand der → Kap. 7-11.) <?page no="126"?> Bestimmung des Wachstumsziels 127   Wissensbox 12: W W a a s s i i s s t t d d i i e e O O E E C C D D ( ( O O R R G G A A N N I I S S A A T T I I O O N N F F O O R R E E C C O O N N O O M M I I C C C C O O - - O O P P E E R R A A T T I I O O N N A A N N D D D D E E V V E E L L O O P P M M E E N N T T ) ) ? ? Die O RGANISATION FÜR WIRTSCHAFTLICHE Z USAMMENARBEIT UND E NTWICKLUNG ist die Nachfolgerin einer Organisation namens OEEC, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um den Wiederaufbau in Europa u.a. durch die Verwaltung von US-amerikanischen Transferzahlungen zu fördern und konzeptionell zu begleiten. Zu den Zielen der 1961 etablierten OECD zählt die Förderung einer Politik, die beiträgt zur Erreichung  einer optimalen Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung sowie eines steigenden Lebensstandards in den Mitgliedstaaten,  der Entwicklung der Weltwirtschaft,  und eines gesunden Wirtschaftswachstums in Entwicklungsländern. Die OECD ist ein Forum für internationale Zusammenarbeit und setzt internationale Standards (z.B. zur Steuerpolitik und Korruptionsbekämpfung). Außerdem sammelt und analysiert sie wirtschaftliche, gesellschaftliche und Umweltdaten. Sie erstellt Studien zu gesellschaftlichen Fragen (z.B. die internationale Schulleistungsstudie PISA) und spricht Politikempfehlungen aus (z.B. zur Gestaltung der Rentensysteme). Neben dem Hauptsitz in Paris unterhält die OECD Länderbüros, z.B. in Berlin. Der OECD gehören 35 Staaten an (Stand v. Oktober 2017):  22 der 28 EU-Staaten,  neun weitere „typische“ Industrieländer (u.a. Australien, Japan, Südkorea und die USA) sowie  Chile, Israel, Mexiko und die Türkei. Die OECD steht nicht jedem beitrittswilligen Land offen, sondern ihre Mitglieder entscheiden, ob Beitrittsverhandlungen geführt werden, und wer aufgenommen wird. Üblicherweise kommen nur Länder in Betracht, die durch eine pluralistische Demokratie, eine marktwirtschaftliche Ordnung und einen gewissen materiellen Lebensstandard gekennzeichnet sind.  http: / / www.oecd.org/ berlin/ dieoecd/ und  http: / / www.oecd.org/ <?page no="127"?> 128 Leitbild und Ziele Einschränkungen 16.4 Die Wachstumsrate des steady state ist für die wirtschaftspolitische Bestimmung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zwar hilfreich, in der Praxis ist aber einschränkend festzuhalten, dass der steady state prinzipiell erst sehr langfristig einsetzt. Das bedeutet, dass er außerhalb des Zeitfensters liegt, das für politische Entscheidungsträger im Vordergrund steht. Außerdem kommt es infolge von Änderungen verschiedener Determinanten immer wieder zu Abweichungen vom steady state und zu divergierenden Wachstumspfaden. Solche Veränderungen können teils vom Staat beeinflusst werden, u.a. durch Maßnahmen, welche Rückwirkungen haben auf  die Partizipationsrate: z.B. Kinderbetreuungsangebote, Schul- und Ausbildungszeiten, Änderungen des Arbeitsrechts, der Arbeitszeitgesetze und des Renteneintrittsalters,  das Bevölkerungswachstum: z.B. zuwanderungspolitische Maßnahmen,  die Sparneigung: z.B. steuerpolitische Maßnahmen,  und die Rate des technischen Fortschritts: z.B. Innovationsförderung und Bildungspolitik. Damit hängt sowohl der Wachstumspfad während des Anpassungsprozesses hin zum neuen steady state als auch die Wachstumsrate im steady state u.a. von der Politik und dem politischen Wachstumsziel ab.   Aufgabe 9: Recherchieren Sie! Welche Größen, deren Anstieg im Prinzip zu (vorübergehend) höheren Wachstumsraten betragen, sind in Deutschland eher niedrig und ließen sich grundsätzlich erhöhen? Alles in allem liefert die traditionelle und neue neoklassische Wachstumstheorie Hinweise dafür, welche langfristigen Wachstumsraten für ein Land unter den gegebenen Bedingungen machbar sind. Ferner liefert sie Hinweise, wie sich Änderungen der Bedingungen - z.B. des Arbeitsvolumens - auswirken. Damit steckt sie den Rahmen ab, innerhalb dessen sich das stetige Wirtschaftswachstum im langfristigen Gleichgewicht bewegen kann.   Multiple-Choice-Aufgabe 7: Wachstumstheorie Kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an. Eine neoklassische Volkswirtschaft befindet sich auf dem Wachstumspfad des steady state. Die erwerbsfähige Bevölkerung wächst bei konstanter Partizipationsquote um 0,5 % pro Jahr. Es gibt keinen technischen Fortschritt. <?page no="128"?> Bestimmung des Wachstumsziels 129  Die Produktion ist konstant.  Die Produktion wächst mit 0,5 % p.a.  Die Produktion pro Erwerbstätigen ist konstant.  Die Produktion pro Erwerbstätigen wächst mit 0,5 % p.a. Aufgrund eines Wertewandels sinkt in dieser neoklassischen Volkswirtschaft c.p. die Neigung zum Konsum dauerhaft. Daraufhin verlässt die Volkswirtschaft für einige Zeit den Pfad des ausgewogenen Wachstums.  Die jährliche Wachstumsrate sinkt vorübergehend.  Die jährliche Wachstumsrate steigt vorübergehend.  Die Wachstumsrate ist im neuen steady state genauso hoch wie im alten steady state. Welche Aussagen passen zu den Annahmen der traditionellen neoklassischen Wachstumsmodelle mit zwei Produktionsfaktoren?  Die Mikrodruckerei ist ein 1-Personen-Betrieb. Mit einer Druckmaschine kann der Betrieb 100 Bücher pro Tag drucken. Mit zwei bzw. drei Druckmaschinen sind es 195 bzw. 280 Bücher pro Tag.  Wenn die Kapitalausstattung je Arbeitskraft sinkt, steigt c.p. die Arbeitsproduktivität.  Im steady state wachsen der Arbeitseinsatz und der Kapitaleinsatz mit der gleichen Rate. Wachstumstrend: Statistische Berechnung 16.5 Im vorangegangenen Kapitel wurde das langfristige Wachstum des BIP als Mittelwert der jährlichen Wachstumsraten während eines konjunkturell relativ normalen Zeitraums von 12 Jahren berechnet (→ Tab. 16.3). Dabei handelt es sich um eine grobe Überschlagsrechnung. In der Praxis wird vom Prinzip her ähnlich vorgegangen, allerdings sind die statistischen Verfahren anspruchsvoller. Das gängigste Verfahren bilden statistische Filter, mit denen die tatsächliche Entwicklung des BIP durch die Bildung gleitender Durchschnitte in eine zyklische Komponente (konjunkturelle und ggfs. saisonale Schwankungen) und eine langfristige Komponente (Trend) zerlegt wird. Der Begriff des Filters rührt daher, dass zyklische Schwankungen „herausgefiltert“ werden. Zu den Schwächen dieser Verfahren zählt, dass es vorkommen kann, dass sich der Trend durch das Hinzufügen von wenigen Zeitperioden sichtbar ändert. Ein weiteres Problem ist, dass das Ergebnis bei vielen Filtern von mehr oder wenig willkürlich gesetzten Parametern abhängt. Außerdem bestehen verschiedene Möglichkeiten, wie mit Randwerten und ungewöhnlichen Extremwerten umgegangen werden kann. <?page no="129"?> 130 Leitbild und Ziele Ein anderes Verfahren geht peak to peak vor. Das bedeutet, dass jeweils von einem zum nä chsten ko nj un ktur ellen H och d ie dur ch sch nittli che Wa chstum sr a te ber echn et un d als Trend des Produktionspotenzials gedeutet wird. Eine Herausforderung dieses Verfahrens liegt darin, die peaks zu identifizieren.  Beispiel 10: Berechnung gleitender Durchschnitte Im einfachsten Fall wird der jeweilige Trendwert durch die Bildung des einfachen arithmetischen Mittels berechnet. Zur Bestimmung wird die Summe aus dem beobachteten Wert sowie k Vorperioden- und k Nachperiodenwerten dividiert durch (2k + 1). Man spricht dann vom gleitenden Durchschnitt n-ter Ordnung mit n = 2k + 1. → Tab. 16.3 und Abb. 16.4 geben die beobachteten Werte und die Trendwerte für eine 10-periodige Zeitreihe (t = 1 bis 10) und einem k von 1 (n = 3) wieder. t Wert X t X t-1 +X t + X t+1 Trendwerte ⋅ 1 10 --- --- 2 26 65 21,7 3 29 104 34,7 4 49 133 44,3 5 55 202 67,3 6 98 262 87,3 7 109 406 135,3 8 199 528 176,0 9 220 649 216,3 10 230 --- --- Tab. 16.3: Gleitende Durchschnitte <?page no="130"?> Bestimmung des Wachstumsziels 131 Abb. 16.4: Gleitende Durchschnitte (Abb. zu Tab. 16.3) Kurzum: Statistische Verfahren zur Ermittlung des Potenzialwachstums haben den Vorteil, dass sie relativ geringen Aufwand erfordern. Sie haben jedoch auch Nachteile, insbesondere:  Die Ergebnisse spiegeln allenfalls dann die Entwicklung des Produktionspotenzials - also das BIP bei Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren - wider, wenn während des Zeitraums die Produktionsfaktoren im Mittel tatsächlich voll ausgelastet waren.  Die mehr oder weniger subjektive Wahl des Schätzverfahrens, der Parameter und des Zeitraums können trotz identischer BIP-Daten zu sehr unterschiedlichen Trendwerten führen. → Abb. 16.5 zeigt den Wachstumstrend für Deutschland, der mit einem einfachen Hodrick-Prescott-Filter ermittelt wurde (HP-Trend, → Wissensbox 13). Das reale BIP des Jahres 2010 wurde gleich 100 gesetzt und die übrigen Werte auf dieser Basis berechnet. Die rote Linie stellt den Trend für 1991-2013 dar. Die blaue Linie zeigt den HP-Trend für den oben betrachteten Zeitraum (1995-2006). Legt man nun den Trend der längeren Zeitreihe (rote Linie) zugrunde, dann ist das BIP zwischen 1995 und 2006 um durchschnittlich ca. 1,35 % pro Jahr gewachsen, also um weniger als die 1,5 %, die sich ergeben, wenn das Mittel nur mit Daten der Jahre 1995-2006 (blaue Linie) berechnet wird. 0 50 100 150 200 250 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 beobachtet Trend <?page no="131"?> 132 Leitbild und Ziele Abb. 16.5: HP-Trend des BIP in Deutschland: 1991-2013 (2010 = 100)   Wissensbox 13: Was verbirgt sich hinter dem Hodrick-Prescott-Filter? Vereinfachend verbirgt sich dahinter der Wunsch, aus einer längeren Zeitreihe einer kurzfristig schwankenden Variablen (z.B. das reale BIP) eine Gesetzmäßigkeit für die mittel- oder langfristige Entwicklung der Variable zu erkennen. Dies wird als Trend bezeichnet. Damit wird zum einen angestrebt, die mittelbis langfristige Entwicklung der Variable leichter erklären zu können. Zum anderen erhofft man sich daraus, zuverlässige Prognosen für die Zukunft oder wenigstens für ein paar zukünftige Zeitperioden abgeben zu können. Möchte man solch einen Trend berechnen, dann wünscht man sich im Wesentlichen zwei Dinge: [1] Erstens soll die tatsächliche Entwicklung durch den berechneten Trend so gut wie möglich abgebildet werden. Sprich: Die Summe der Abweichungen des Trendwerts vom tatsächlichen Wert sollte möglichst gering sein. [2] Zweitens soll der Trend aber nicht zu stark schwanken, da er dann an Aussage- und Prognosefähigkeit verliert. Sprich: Der aus geglätteten Durchschnittswerten berechnete Trend soll vom Ideal einer erkennbaren Funktion nicht zu weit entfernt sein. Der geschätzte Wert für jedes Jahr (t) soll also in einer klaren Beziehung zum geschätzten Wert jedes darauffolgenden Jahres n (t+1) stehen. Der Trend soll mit anderen Worten möglichst glatt verlaufen. Das Dilemma ist jedoch, dass sich bei einer schwankenden Größe die beiden Wünsche (1) und (2) widersprechen: Je besser der eine Anspruch, umso schlechter wird der andere Anspruch erfüllt. Das Hodrick-Prescott-Verfahren versucht, dieses Dilemma durch eine Minimierungsaufgabe in den Griff zu bekommen: 75 80 85 90 95 100 105 110 1991 1994 1997 2000 2003 2006 2009 2012 1991-2013 (o. Finanzkrise) 1991-2013 1995-2006 <?page no="132"?> Bestimmung des Wachstumsziels 133 Zu minimieren gilt es die Summe aus den Abweichungen der beobachteten Werte von den Trendwerten (1) und der Abweichungen der Trendwerte von ihrem jeweils vorlaufenden und nachfolgenden Trendwert (2). Damit sich positive und negative Abweichungen nicht rechnerisch ausgleichen, was zu einer minimalen Summe trotz erheblicher Ausschläge führen könnte, werden die Abweichungen ins Quadrat gesetzt, so dass jede Abweichung als positiver Wert in die Minimierungsgleichung eingeht. Formal betrachtet, wird zur Ermittlung des BIP (Y) folgender Term minimiert: Y y λ y y y y Dabei werden n Jahre betrachtet mit Y t als beobachtetem Wert im Jahr t und mit als geschätztem Trend-BIP.  ist der sogenannte Glättungsfaktor. Je größer  gewählt wird, umso glatter wird der geschätzte Trend. Wäre  gleich Null, entsprechen sich tatsächlicher Verlauf und Trend. Ginge  gegen unendlich, wäre der Trend eine waagerechte Gerade. In → Abb. 16.5 wurde der für Jahresdaten gebräuchliche Wert von =100 gewählt. Die (willkürliche) Wahl des Glättungsfaktors  ist einer der am HP-Filter geäußerten Kritikpunkte. Ein zweiter Kritikpunkt ist, dass die Werte umso weniger geglättet werden, je näher sie am Rand der Zeitperiode liegen. Randwerte müssen auf andere (mehr oder weniger willkürliche) Weise geschätzt werden oder mit abnehmendem Gewicht in den Trend eingehen. In → Abb. 16.5 sind die Endwerte für den einen Trend (rote Linie) schlichtweg gestrichen worden, während die Randwerte für den kurzzeitigeren Trend (blaue Linie) durch Fortschreibung geschätzt wurden. Eine anwendungsorientierte Darstellung verschiedener Filterverfahren findet sich in Samfort (2005). Potenzialwachstum: Ökonom(etr)ische Schätzung 16.6 Ökonomische Methoden zur Schätzungen des Produktionspotenzials und seines Wachstums (Potenzialwachstum) basieren auf einer gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion. Die Ermittlung des Produktionspotenzials ist mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden. Dazu zählt zunächst die Spezifizierung der Produktionsfunktion. Es wird in aller Regel eine Produktionsfunktion des in → Beispiel 8 (→ Kap. 15.3) vorgestellten Cobb-Douglas-Typs mit drei Faktoren (Arbeit L, Kapital K, technisches Wissen T) verwendet. Y T ⋅ L ⋅ K  und  sind konstant mit 0 < ,  < 1 Außerdem muss der Bestand an Produktionsfaktoren ermittelt werden. Das Arbeitskräftepotenzial (→ Kap. 9.2) wird z.B. auf der Basis der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter geschätzt, wobei diese je nachdem meist als die Gruppe der Personen zwi- <?page no="133"?> 134 Leitbild und Ziele schen 15 und 74 oder der Personen zwischen 15 und 65(-7) definiert ist. Dann muss ges chä tz t wer den , wi e h och d er A nte il de r hierin e nthal te ne n Per so ne n i st , di e dem Arbeitsmarkt tatsächlich zu Verfügung stehen. Von der Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte muss als nächstes auf die verfügbaren Arbeitseinheiten (z.B. Arbeitsstd.) geschlossen werden. Dabei reicht es nicht, die Personenzahl mit der Höchst- oder Regelarbeitszeit zu multiplizieren. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass viele Menschen nur Teilzeit arbeiten können oder möchten. Die Schätzung des Kapitalstocks ist ebenfalls nicht einfach. Nur zwei Abgrenzungsprobleme von vielen bestehen darin, ob und wie immaterielle Vermögenswerte (Patente etc.) als Kapital gezählt werden oder unter welchen Voraussetzungen Wohnimmobilien zum Kapitalstock einer Volkswirtschaft zählen (→ Kap. 2.2). Schließlich handelt es sich beim dritten Produktionsfaktor, dem Stand des technischen Wissens (technischer Fortschritt), um eine nicht unmittelbar beobachtbare Größe, so dass bei seiner Ermittlung weitere Schwierigkeiten hinzutreten. Will man das Produktionspotenzial im Sinne einer Normalauslastung der Produktionsfaktoren berechnen, sind außerdem Auslastungsgrade festzulegen, die als normal gelten. Hierzu werden sowohl Mittelwerte aus der Vergangenheit herangezogen als auch wirtschaftstheoretische Zusammenhänge in Gleichungen überführt, um den normalen Beschäftigungsgrad ökonometrisch zu schätzen. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept des inflationsneutralen Auslastungsgrads: Als normale Auslastung gilt diejenige, bei welcher die Produktionsfaktoren weder so stark ausgelastet sind, dass es zu Inflationssteigerungen kommt, noch, dass sie so schwach ausgelastet sind, dass es zu Disinflation oder gar Deflationstendenzen kommt (→ Kap. 20.7.3). Üblicherweise wird nur der private Sektor für die Spezifizierung und Schätzung der Produktionsfunktion herangezogen. Die Bruttowertschöpfung des Staates (Staatskonsum) wird auf das private Produktionspotenzial addiert, um zum gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzial zu gelangen. Solche ökonomischen Schätzungen des Potenzialwachstums werden u.a. von den großen Wirtschaftsforschungsinstituten, der B UNDESBANK und dem S ACHVERSTÄNDI- GENRAT ZUR B EGUTACHTUNG DER GESAMTWIRTSCHAFTLICHEN E NTWICKLUNG erstellt. Sie lagen für den oben betrachteten Zeitraum (1995-2006) zwischen 1,1 % und 1,5 %. Das geschätzte Potenzialwachstum für den aktuellen Zeitraum (2010-2020) liegt zwischen 0,9 und 1,3 %, wobei hierin die Wirkungen des starken Anstiegs der Zuwanderung in jüngerer Zeit (2014-2016) nicht berücksichtigt sind. <?page no="134"?> Bestimmung des Wachstumsziels 135 Quelle: SVR, 2015, S. 115. Abb. 16.6: Beispiel einer ökonometrischen Schätzung des (zukünftigen) Potenzialwachstums  Wissensbox 14: Was ist der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR)? Der SVR ist ein Gremium der Politikberatung. Er wird auch als Rat der „fünf Weisen“ oder als „Wirtschaftsweisen“ bezeichnet. Der Rat wurde durch Gesetz im Jahre 1963 eingerichtet mit dem Ziel einer periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der B UNDESREPUBLIK D EUTSCHLAND und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit. Er ist in seinem Beratungsauftrag unabhängig und hat folgende Aufgaben:  Darstellung der wirtschaftlichen Lage und deren absehbarer Entwicklung,  Untersuchung, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht gewährleistet werden kann,  unter Einbeziehung der Bildung und der Verteilung von Einkommen und Vermögen,  Aufzeigen der Ursachen von aktuellen und potenziellen Spannungen zwischen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und dem gesamtwirtschaftlichen Angebot,  Aufzeigen von Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung, jedoch ohne Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen. Der Rat veröffentlicht jedes Jahr ein Jahresgutachten und in unregelmäßigen Abständen zusätzlich Sondergutachten und Expertisen. Quelle: SVR, 2017. -0,5 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Arbeitsvolumen Kapitalstock TFP Potenzialwachstum <?page no="135"?> 136 Leitbild und Ziele Internationaler Vergleich 16.7 In der Praxis kann die Annäherung an den Zielwert für ein angemessenes Wirtschaftswachstum auch über den internationalen Vergleich von Wachstumsraten erfolgen. Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt darin, dass keine - möglicherweise angreifbaren - Modellannahmen getroffen werden müssen. Hierbei ist es sinnvoll, nur Länder mit ähnlichem wirtschaftlichem Entwicklungsstand wie Deutschland heranzuziehen. Das bedeutet, dass das BIP pro Kopf, die Kapitalintensität sowie der Stand der Bildung und der Technik nicht zu stark von den entsprechenden deutschen Kennzahlen abweichen sollten. → Abb. 16.7 veranschaulicht die Entwicklung des Pro-Kopf-BIP seit 1990 in Deutschland, den USA und 15 anderen OECD-Staaten. Dabei wurden nur Länder berücksichtigt, deren BIP pro Kopf zu Beginn (1990) deutlich über 20 Tsd. KKP- USD 2010 lag. In dieser Gruppe ist die Schweiz das Land mit dem höchsten Wert (ca. 44 Tsd.). Neuseeland und Spanien hatten den niedrigsten Wert (ca. 23 Tsd.). Deutschlands BIP betrug ca. 31 Tsd. KKP-USD 2010 pro Kopf.   Aufgabe 10: Recherchieren und überlegen Sie! Die Gruppe der reichen Industrieländer, die in → Abb. 16.7 und → Tab. 16.4 als Vergleichsmaßstab für Deutschlands Wachstumsziel herangezogen werden, umfasst nahezu alle OECD-Staaten mit einem Pro-Kopf-BIP von mind. 23 Tsd. KKP-USD 2010 im Jahr 1990. Zwei Länder, Luxemburg und Norwegen, sind jedoch nicht enthalten. a) Welche Gründe sprechen dafür, Luxemburg nicht in die Vergleichsgruppe aufzunehmen? Anders gefragt: Inwieweit stellt das Land einen wirtschafts- und wachstumspolitischen Sonderfall dar? b) Welche Gründe sprechen dafür, Norwegen nicht in die Vergleichsgruppe aufzunehmen? → Abb. 16.7 lässt erkennen, dass Deutschlands BIP-Wachstum pro Kopf in dem betrachteten Zeitraum fast immer unter dem der USA und meistens unter dem Durchschnitt anderer vergleichbarer Länder lag. Die starken Schwankungen machen es jedoch schwierig, das langfristige Wachstum des Pro-Kopf-BIP zu erkennen. Die durchschnittlichen Wachstumsraten sind in → Tab. 16.4 eingetragen. Der Zyklus 2007-2010, in welchem das BIP im Zuge der internationalen Finanzkrise extrem einbrach, wurde indes nicht in die Berechnungen einbezogen. Die Zahlen bestätigen, dass Deutschlands Volkswirtschaft - das BIP - unterdurchschnittlich wuchs. Das BIP pro Kopf entwickelte sich hingegen leicht überdurchschnittlich. → Tab. 16.4 legt alles in allem nahe, dass zumindest ein Pro-Kopf-Wachstum von 1,5 % p.a. machbar sein sollte, soweit sich nicht dauerhaft die Bevölkerungszahl etwa durch Migration ändert. <?page no="136"?> Bestimmung des Wachstumsziels 137 Quelle: OECD, 2016a (eigene Berechnungen). Abb. 16.7: Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum in reichen Industrieländern 1990-2014 (in %) Deutschland USA OECD (15) Maximum Minimum BIP pro Kopf 1,6 % 1,8 % 1,5 % 1,9 % (1) 0,8 % (2) BIP 1,8 % 2,8 % 2,2 % 3,2 % (3) 1,0 % (4) (1) Großbritannien und Australien, (2) Schweiz u. Italien, (3) Australien, (4) Italien Quelle: OECD, 2016a (eigene Berechnungen). Tab. 16.4: Durchschnittliche Wachstumsraten (in %) in reichen Industrieländern, 1990-2014 (ohne 2007-2010)   Multiple-Choice-Aufgabe 8: Verständnisüberprüfung: Trend und Potenzialwachstum Kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an. Folgende Zeitreihe mit 9 Perioden sei gegeben: 5, 10, 20, 15, 25, 40, 35, 50, 55. Die gleitenden Durchschnitte 5. Ordnung lauten dann  7,5 - 15 - 17,5 - 20 - 32,5 - 37,5  5 - 20 - 25 - 35 - 55  15 - 22 - 27 - 33 - 41 -6 -4 -2 0 2 4 6 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Deutschland USA OECD (15) <?page no="137"?> 138 Leitbild und Ziele Im Jahr 1980 betrug das Arbeitskräftepotenzial 4.000 Einheiten, der Kapitalstock 12.500 Einheiten und der Stand technischen Wissens betrug 3. Im Jahr 2010 betrug das Arbeitskräftepotenzial 8.000 Einheiten und der Kapitalstock steigt auf 50.000 Einheiten. Der Stand des technischen Wissens verdoppelte sich von 1980-2010. Die Normalauslastung von Arbeit liegt stets bei 90 % und die von Kapital bei 80 %. Die Produktionselastizitäten von Arbeit und Kapital (α und β) betragen stets jeweils 0,5. Die Schätzer gehen von einer Cobb-Douglas- Produktionsfunktion aus.  Das Produktionspotenzial im Jahr 1980 betrug 18.000 Einheiten  Das Produktionspotenzial im Jahr 2010 betrug 54.000 Einheiten.  In dem Zeitraum wuchs das Produktionspotenzial um ca. 300 %.  Das Produktionspotenzial verdreifachte sich in dem Zeitraum ungefähr. 17 Fazit zur Bestimmung angemessenen Wirtschaftswachstums In den vorangehenden Kapiteln sind verschiedene Vorgehensweisen skizziert worden, auf deren Basis sich langfristig realisierbare Wachstumsraten identifizieren lassen. Für die deutsche Volkswirtschaft gelangt man zu einem potenziell erreichbaren Wachstumskorridor für das reale BIP von 1-1,5 % pro Jahr. Näher an 2 % käme die deutsche Volkswirtschaft für einige Zeit, wenn ceteris paribus folgende Größen anstiegen:  die Partizipationsrate, z.B. der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung im Alter ab 15 Jahre,  die durchschnittliche Arbeitszeit der Erwerbstätigen,  die Auslastung des Arbeitskräftepotenzials, z.B. durch einen Rückgang der durchschnittlichen Arbeitslosenquote,  das Qualifikationsniveau,  F&E-Output und Diffusionsgeschwindigkeit von Innovationen,  die Sparquote oder  die Bevölkerung (wodurch das Wachstum pro Kopf aber zumindest vorübergehend parallel sinken würde). All dies sind Größen, welche die Politik grundsätzlich beeinflussen kann. Welche Wachstumsraten innerhalb (oder auch unterhalb) des machbaren Korridors tatsächlich als gesamtwirtschaftlich angemessen bzw. als gesellschaftlich erwünscht erachtet werden, ist hingegen eine ganz andere Frage. Dabei spielen außer demografischen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen verschiedenste andere Aspekte bis hin zu religiös-kulturellen Einstellungen eine Rolle. <?page no="138"?> Extratouren zur Wachstumstheorie 139  Was meinen Sie? Welchen Überlegungen (ökonomische und nichtökonomische Aspekte) messen Sie bei der Wahl Ihres „Wunschwerts“ für das durchschnittliche Wirtschaftswachstum der kommenden zwei Jahrzehnte besondere Bedeutung bei?   Aufgabe 11: Überlegen, erklären und recherchieren Sie! a) Diskutieren Sie die Konvention, dass nur gegen Entgelt produzierte Güter in das BIP eingehen und dass diese überwiegend zu Marktpreisen bewertet werden. b) Das reale Mengenwachstum lässt sich mittels des Mengenindex nach L AS- PEYRES , P AASCHE und F ISHER berechnen. Erläutern Sie die grundsätzlichen Vorgehensweise bzw. Unterscheide zwischen den Indexen verbal. c) Erklären Sie die Begriffe des Produktionspotenzials und des Potenzialwachstums. Welche zwei grundsätzlichen Möglichkeiten gibt es, um das Potenzialwachstum zu berechnen? d) Erstellen Sie für die letzten drei vergangenen Jahre eine Tabelle mit dem nominalen BIP und den realen Wachstumsraten für Brasilien, Deutschland, Indien, die USA und die Volksrepublik China. Achten Sie dabei auf die korrekte Angabe der Einheiten und Quellen. e) Informieren Sie sich über den Index menschlicher Entwicklung (Human Development Index) und den Happy Planet Index. Welche Indikatoren gehen jeweils in die Indexe ein? Welchen der zwei Indexe erachten Sie als geeigneter zur Wohlfahrtsmessung? Begründen Sie Ihre Antwort mithilfe von drei Argumenten. 18 Extratouren zur Wachstumstheorie Extratour zum technischen Fortschritt 18.1 Phasen des technischen Fortschritts 18.1.1 Es ist ein verbreitetes Missverständnis, technischen Fortschritt im engen Sinne mit Erfindungen (Inventionen) oder mit in den Markt eingeführten Neuerungen (Innovationen) gleichzusetzen. Für technischen Fortschritt bedarf es mehr, nämlich der Akzeptanz und der erfolgreichen Erprobung der Innovation in der Praxis (Adaption) und ihrer Verbreitung (Diffusion) über die Volkswirtschaft. So kann es sein, dass eine Volkswirtschaft mit sehr intelligenten Erfindern und höchst kreativen Unternehmern kaum wächst, während eine Volkswirtschaft ohne solche Menschen, aber mit pragmatisch handelnden Unternehmern und relativ gut ausgebildeten Arbeitskräften sehr schnell wächst, weil diesen die Anpassung an neue Technologien und deren Diffusion <?page no="139"?> 140 Leitbild und Ziele gut gelingt. Die Diffusion von Innovationen erfolgt im Wesentlichen durch Kopieren (I m it atio n) - s ei es m it od er o hn e Lizenz . Nur wenn eine effizienzsteigernde Neuerung die gesamtwirtschaftliche totale Faktorproduktivität spürbar erhöht, kann aus makroökonomischer Sicht von technischem Fortschritt gesprochen werden. Gleiches gilt für das Wissen: Ohne eine Diffusion neu generierten Wissens findet schwerlich technischer Fortschritt statt. Während der einzelnen Phasen des Prozesses technischen Fortschritts werden zugleich neue Impulse für Innovationen und eine Mehrung des technischen Fortschritts gegeben. Z.B. kommt es sowohl in der Adaptionsals auch in der Imitationsphase zu weiteren Verbesserungen. Ein anschauliches Beispiel hierfür lieferte die japanische Wirtschaft in den 1960/ 70er Jahren. Im Zuge des Anpassungswachstums an den Stand der Technik der USA, Deutschlands und anderer Industrieländer (Imitationsphase) begann die japanische Industrie mehr und mehr zusätzliche Verbesserungen einzuführen. Dies machte den japanischen Stand der Technik - u.a. in der Elektronik- und Automobilindustrie - in den 1980/ 90er Jahren zu einem der am weitesten fortgeschrittenen. Phasen des technischen Fortschritts: Invention  Innovation  Adaption  Imitation  Diffusion Technisches Wissen als Sammelvariable 18.1.2 Das, was bei der Modellierung und empirischen Schätzungen gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktionen als technischer Fortschritt (Erhöhung des Stands der Technik bzw. des Stand des technischen Wissens) bezeichnet wird, ist ein Sammelbegriff (sog. Sammelvariable). Diese Sammelvariable wird auch als totale Faktorproduktivität (TFP) oder als Multifaktorproduktivität (MFP) bezeichnet. Sie ist die verbleibende Größe (sog. Residualgröße), die einen Anstieg des BIP erklären soll, wenn alle ausdrücklich berücksichtigten Produktionsfaktoren (meist Arbeit und Kapital) konstant blieben. Hinter der TFP verbergen sich zunächst qualitative Verbesserungen des Kapitalstocks. Es kann sich außerdem auch um die Entwicklung und Verbreitung effizienzsteigernder Organisations- oder Managementverfahren handeln. Die Innovations- und Imitationsfreudigkeit der Wirtschaft und der Gesellschaft sowie ihre Anpassungsfähigkeit an neue Produktions- und Organisationsmethoden beeinflussen somit auch die TFP. Soweit Humankapital nicht als eigenständige Variable in der Produktionsfunktion enthalten ist, sind auch ertragssteigernde „Verbesserungen“ des Produktionsfaktors Arbeit in der Residualgröße des technischen Fortschritts enthalten. Diese können z.B. von gesundheitsfördernden Maßnahmen oder einem verbesserten (Aus-)Bildungsstand der Arbeitskräfte herrühren. In der Praxis haben darüber hinaus auch staatliche Institutionen und besonders der Grad der Rechts- und Vertragssicherheit Einfluss auf die TFP. Das gesamtwirtschaftliche Effizienzniveau und damit die totale Faktorproduktivität hängen ferner von der durchschnittlichen Wettbewerbsintensität in einer Volkswirtschaft ab. Somit beeinflussen z.B. auch das Wettbewerbsrecht und die Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen die TFP. <?page no="140"?> Extratouren zur Wachstumstheorie 141 Kurzum: Die Variable „technisches Wissen“ (Stand der Technik etc.) ist eine Sammelva ria bl e für a ll e G rö ßen, die im w eitesten S in n e a l s Pr od ukt io ns fa kto re n bezeic hnet werden können (→ Kap. 2.2.2), aber nicht als eigenständige unabhängige Variablen in der Produktionsfunktion bzw. der dazugehörigen Schätzgleichung enthalten sind. Messung des technischen Fortschritts 18.1.3 Die Sammelvariable des technischen Fortschritts bzw. der totalen Faktorproduktivität (TFP) ist keine beobachtbare Größe. Die Rate des technischen Fortschritts ergibt sich vielmehr als der Teil des Wirtschaftswachstums, der sich nicht durch den quantitativen Anstieg der (übrigen) verfügbaren Produktionsfaktoren erklären lässt. Um die TFP empirisch zu schätzen, muss eine mathematische Funktion spezifiziert werden, welche den Zusammenhang zwischen Produktionsmenge und der Menge der eingesetzten Produktionsfaktoren möglichst treffend abbildet. Meist sind die unabhängigen Variablen Arbeit und Kapital. Gelegentlich werden andere Faktoren (Energie, Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte etc.) einbezogen.  Beispiel 11: Messung des technischen Fortschritts Jahrelange Erfahrungen und begleitende ökonomische Schätzungen haben für Makroland ergeben, dass ein Anstieg des Inputs des Produktionsfaktors Arbeit (L) um 1 % c.p. eine Zunahme der Produktion (Y) von etwa 0,8 % verursacht. Zugleich wurde festgestellt, dass Y um etwa 0,2 % stieg, wenn c.p. der Kapitalstock (K) um 1 % wuchs. Daraus folgert Herr Makroson, dass sich die gesamtwirtschaftliche Produktion durch die Gleichung Y=A 0,8 ⋅ K 0,2 abbilden lässt. Als er aber die Entwicklung der Produktions- und Faktormengen in den Jahren 2012-2015 betrachtet, stellt er fest, dass sich die Produktion trotz eines konstanten Faktoreinsatzes von Jahr zu Jahr erhöht hat. Herr Makroson schließt daraus, dass es neben Kapital und Arbeit noch weiterer Variablen bedarf, um Wirtschaftswachstum zu erklären. Jedoch sucht er nicht nach weiteren erklärenden Variablen. Stattdessen führt er eine Sammelvariable T ein, modifiziert seine Produktionsgleichung und berechnet Schätzwerte für T: Y T ⋅ L , ⋅ K , T erklärt das Wachstum, das nicht durch Änderungen des Arbeits- und Kapitaleinsatzes erklärbar ist, also den „Rest“. Sie wird daher auch als Rest- oder Residualvariable bezeichnet. Sie verkörpert genau das, was als TFP (totale Faktorproduktivität) oder alternativ als technisches Wissen bezeichnet wird. Im Beispiel beträgt die Rate des technischen Fortschritts 10 %. <?page no="141"?> 142 Leitbild und Ziele Jahr L K Y Y = L 0,8 ⋅ K 0,2 nicht erklärbare Produktion T 2012 133 243 165 150 15 1,1 2013 133 243 181,5 150 31,5 1,21 2014 133 243 199,5 150 49,5 1,33 2015 133 243 219 150 69 1,46 Tab. 18.1: Beispiel zum technischen Fortschritt als Residualgröße Endogenisierung technischen Fortschritts 18.1.4 Neue neoklassische Wachstumstheorie Wie oben (→ Kap. 16.2) beschrieben, entwickelte sich in den 1980/ 90er Jahren die sog. neue Wachstumstheorie. Hierunter werden in der Regel neoklassische Wachstumsmodelle verstanden, in denen der technische Fortschritt nicht mehr - wie im Solow-Modell - von außen auf den Wachstumsprozess einwirkt, sondern innerhalb des Modells entsteht. Die zuvor exogene Größe des technischen Fortschritts wird zur endogenen Variable. Der Fortschritt entsteht in neoklassischen Modellen vor allem durch  F&E- oder Humankapitalinvestitionen als Folge des rationalen Optimierungsverhaltens der Wirtschaftssubjekte. (Die grundlegenden Überlegungen werden unten näher erläutert.) Von den F&E- und (Aus-)Bildungsausgaben profitieren nicht nur die investierenden Wirtschaftssubjekte, sondern auch Dritte, die dafür nicht bezahlen müssen. Diese positiven „überschwappenden“ Wirkungen werden als externer Nutzen, positive externe Effekte oder als spillovers bezeichnet. Andere Varianten der Endogenisierung stützen sich (zusätzlich) auf steigende Skalenerträge (Größenvorteile durch sinkende Grenzkosten) u.a. durch:  Erfahrungszuwächse beim Umgang mit Kapital (learning by doing): je höher die Kapitalintensität in einer Volkswirtschaft ist, umso größer sind die learning by doing-Effekte und die Rate des technischen Fortschritts.  Learning by doing-Effekte im (Aus-)Bildungsbereich: Je besser ausgebildet die Menschen bereits sind, umso leichter fällt ihnen das Lernen. Das heißt, dass die Kosten des Aufbaus von Humankapital mit zunehmendem Ausbildungsniveau sinken (abnehmende Grenzkosten).  Learning by doing-Effekte im F&E-Bereich.  Verbessertes Angebot öffentlicher Güter (Transportwege, innere Sicherheit etc.): Die gesamtwirtschaftliche Produktivität steigt. Zu den bekanntesten frühen neoklassischen Modellen endogenen Wachstums zählt ein Modell von R OMER (1990). Andere vielbeachtete Modelle aus dieser Zeit stammen von L UCAS (1988), G ROSSMAN und H ELPMAN (1991) sowie B ARRO (1990). <?page no="142"?> Extratouren zur Wachstumstheorie 143 Im Folgenden wird beispielhaft erklärt, wie es durch das Optimierungsverhalten privater H aush a lte (bz w. der en M itgl ied er ) z u pr od ukti vitä tssteiger n den H uma n ka pi tali nv es titionen kommt. Das dargestellte Verhaltensmuster lässt sich auch auf F&E- Investitionen der Unternehmen übertragen: Es sei unterstellt, dass private Haushalte das Ziel der Maximierung des eigenen Nutzens verfolgen, welcher vom Konsum (von Gütern und Freizeit) abhängt. Sie wägen dann z.B. ab, ob und wie viel ihres Einkommens sie jeweils für den sofortigen Konsum, für Bildungsausgaben und für Sparen verwenden möchten. Bildungsausgaben sind mit einem Anstieg des zukünftigen Einkommens und damit der zukünftigen Konsummöglichkeiten verbunden. Sparen ermöglicht infolge einer positiven Realverzinsung ebenfalls einen höheren Konsum in der Zukunft. (Die Annahme des positiven Realzinses bedeutet, dass die Nominalzinsen höher als der Anstieg des Preisniveaus sind, → Kap. 20.7.6.) Der Haushalt wird sich in dem Maße für Bildungsausgaben entscheiden, wie diese in dem berücksichtigten Zeitraum den höchsten Nutzen gegenüber den alternativen Einkommensverwendungen versprechen. Der berücksichtigte Zeitraum kann z.B. die Jahre bis zum Erreichen der durchschnittlichen Lebenserwartung sein; er kann aber auch darüber hinausgehen, wenn der Nutzen nachfolgender Generationen (Kinder, Enkel etc.) in das Optimierungskalkül einbezogen wird. Eine ähnliche Entscheidungssituation liegt vor, wenn sich ein Haushalt entscheidet, wie viel seiner Zeit er für Bildung (Erhöhung der zukünftigen Einkommens- und somit Konsummöglichkeiten) und Erwerbstätigkeit (unmittelbare Einkommenserzielung) oder für Freizeit aufwendet. Die übliche Annahme ist, dass der Nutzen einer Konsumeinheit umso geringer bewertet wird, je weiter entfernt der Zeitpunkt des Konsums liegt. Daraus folgt: Angenommen, eine Bildungsausgabe bedeutet den Verzicht auf X Einkommenseinheiten im laufenden Jahr. Je später sich der Ertrag dieser Bildungsausgabe (mit den Kosten X) „auszahlt“, umso größer muss der zukünftige Zusatzkonsum sein, damit sich der Haushalt für die Bildungsausgabe entscheidet. So würde kein Haushalt im laufenden Jahr auf ein Einkommen im Wert von 2.000 Gütereinheiten (verwendbar für Konsum und Sparen) verzichten, wenn er für diesen Verzicht in 20 Jahren nur 2.100 Gütereinheiten bekäme, also nur mit 100 zusätzlichen Einheiten (Realverzinsung von insgesamt 5 % bzw. von ca. 0,24 % p.a.) belohnt würde. Erhielte er diese Belohnung jedoch bereits nach zwei Jahren (Realverzinsung von ca. 2,5 % p.a.), würde sich der Haushalt wahrscheinlich für die Bildungsausgabe entscheiden. Dies gilt allerdings mit der Einschränkung, dass das verbleibende Einkommen für den Lebensunterhalt ausreicht. Daraus folgt wiederum: Je ärmer ein Haushalt, desto geringer die Neigung zu Bildungsausgaben. Zurück zur Makroökonomie: Je niedriger das BIP pro Kopf in einem Land ist, umso weniger Humankapitalinvestitionen werden getätigt und umso niedriger ist c.p. die (Grenz-)Produktivität des Kapitals und der Arbeit bzw. die Rate des technischen Fortschritts. Das Konzept endogenen Fortschritts und endogener Wissensmehrung ist indes nicht neu im wortwörtlichen Sinne. Neu war in den 1980/ 90er-Jahren vielmehr die entsprechende (mathematische) Erweiterung neoklassischer Wachstumsmodelle. <?page no="143"?> 144 Leitbild und Ziele Weitere Theorien endogenen Fortschritts Zu den Theorien bzw. ökonomischen Schulen, die schon deutlich früher den technischen Fortschritt als Ergebnis von endogenen Prozessen erachteten, zählen die Wettbewerbstheorie und die evolutorische Ökonomik bzw. deren Vorläufer. In der modernen Wettbewerbstheorie, deren Wurzeln zum Großteil in die 1940er- Jahre datieren, ist eine der zentralen Fragestellungen, unter welchen Bedingungen die Fortschrittsfunktion und andere Funktionen des Wettbewerbs am besten zur Entfaltung kommen. Hier ist zwar nicht der Raum, ins Detail zu gehen, aber verschiedene wettbewerbstheoretische Leitbilder treffen hierzu unterschiedliche Aussagen. Zwei Beispiele sind die H ARVARD S CHOOL und die C HICAGO S CHOOL . Die H ARVARD S CHOOL postuliert, dass die Marktstruktur das Marktverhalten und dieses wiederum das Marktergebnis und somit die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs bestimmt (Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma). So kommt ein deutscher Vertreter der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs (K ANTZENBACH , 1966) zu dem Ergebnis, dass z.B. das weite Oligopol (viele, aber nicht sehr viele Anbieter) bei mittlerer Produkthomogenität (Ähnlichkeit) und mittlerer Markttransparenz die optimale, d.h. anstrebenswerte Marktstruktur sei. Die C HICAGO -S CHOOL erachtet hingegen die existierende Marktstruktur als die prinzipiell beste, denn wenn sie nicht die effizienteste wäre, bliebe sie nicht bestehen. (Zur Wettbewerbstheorie: M OSER , 2008; K ERBER und S CHWALBE 2015). Wie auch immer: Das neoklassische Ideal der vollständigen Konkurrenz (→ Kap. 16.1), von dem in der neuen neoklassischen Wachstumstheorie nur partiell durch steigende Skalenerträge und externe positive Effekte abgewichen wird, gilt in der Wettbewerbstheorie nicht nur als unrealistisch, sondern als überholt und unerwünscht. Die evolutorische Ökonomik befasst sich ex definitione mit dem wirtschaftlichen Wandel und damit naheliegender Weise auch mit Innovationen und technischem Fortschritt. Sie entwickelte sich in etwa zeitgleich mit der neuen neoklassischen Wachstumstheorie, aber sie geht zu einem guten Teil auf eine ältere Denkrichtung zurück, nämlich die frühe Österreichische Schule der Nationalökonomie. Diese auch als Wiener Schule bezeichnete Richtung der Volkswirtschaftslehre präsentierte bereits vor mehr als 100 Jahren einen Gegenentwurf zu der (auch) damals vorherrschenden neoklassischen Vorstellung von gleichgewichtigen Märkten mit vollständiger Konkurrenz und gut informierten, optimierenden Wirtschaftssubjekten. Zu den frühen Vertretern zählt u.a. J OSEPH S CHUMPETER (1883-1950) (S CHUMPETER . 1926, 1939, 1942), der noch heute vielfach im Kontext innovationsökonomischer Abhandlungen zitiert wird. Vertreter der Österreichischen Schule heben die große Unsicherheit hervor, unter denen wirtschaftliches Handeln stattfindet. Den Wirtschaftssubjekten - so die Annahme - fehlt zunächst vor allem das Wissen, um ihre Entscheidungen einem Optimierungskalkül zu unterwerfen. Dies liegt vor allem daran, dass die Zukunft und die Folgen des eigenen Handelns in Anbetracht der Vielzahl von Akteuren und der Komplexität von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt noch nicht einmal annährend vorhersehbar ist. Daher handeln die Haushalte und Unternehmen nicht nutzenbzw. gewinnmaximierend. Viele Wirtschaftsakteure versuchen dies erst gar nicht. Sie sind eher bestrebt, beim Vorliegen von Entscheidungssituationen eine Verhaltensweise zu wählen, die ihnen bei aller Unsicherheit als sinnvoll erscheint. Für ein Unternehmen kann sinnvoll z.B. bedeuten, dass es versucht, die Gefahr des Verlustes zu minimieren. Für andere Unternehmen kann wiederum ein anderes Verhalten sinnvoll erscheinen, <?page no="144"?> Extratouren zur Wachstumstheorie 145 z.B. das Verhalten an dem Bestreben auszurichten, den Gewinn zu steigern. Risikofr eudi ge W irtsch a ftssub jekte wa gen evtl. H an dlu ngen , die a n d er en W ir tsch aftss ub je kten unter den gleichen Bedingungen als „irrational“ erscheinen würden. Das wirtschaftliche Geschehen ist ein mehr oder weniger systematischer Prozess des Ausprobierens, des Versuchens und des Irrtums (trial and error), des Scheiterns und Gelingens. Der Wettbewerb wird als ein offener Prozess mit wechselnden Marktstrukturen erachtet. Das Marktgeschehen ist mitnichten - wie in der Neoklassik unterstellt - ein deterministischer Prozess. Für S CHUMPETER sind es vor allem risiko- und erfindungsfreudige Unternehmer, die Innovationen anstoßen. Nachgefragte Innovationen führen anfangs zu einer Monopolstellung, die durch um die originäre Innovation „herumerfindende“ Unternehmen an Bedeutung verliert, durch imitierende Unternehmen aufgeweicht oder durch andere dynamische innovative Unternehmen zerstört wird. S CHUMPETER spricht in diesem Zusammenhang vom „Prozess schöpferischer Zerstörung“, der Altes durch Neues ersetzt. Das Verständnis des Wettbewerbs als offenem Prozess und als Entdeckungsverfahren im Sinne des trial and error ist auch charakteristisch für die evolutorische Ökonomik. Die Bezeichnung ist in Anlehnung an den biologischen Evolutionsprozess zu verstehen, in dem sich manche Lebensformen (eine Zeit lang) behaupten und viele nicht. Ergebnisse können zwar oftmals im Nachhinein (ex post) erklärt, aber im Vorhinein (ex ante) höchst selten treffend vorhergesagt werden. Dies gilt auch für den technischen Fortschritt und besonders für Inventionen und Innovationen. Manche Erfindungen und Ideen entstehen geradezu zufällig. Vielleicht setzen sich Erfindungen relativ schnell, erst sehr spät oder möglicherweise auch gar nicht durch. Manche Ideen münden z.B. nur deshalb in technischen Fortschritt, weil zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort ein Unternehmen existiert, dessen Entscheidungsträger - rückblickend gesehen - den „richtigen Riecher“ hatten. Ähnliches gilt für F&E-Ausgaben. Manche F&E-Investitionen sind erfolgreich, andere bringen keine Innovationen hervor oder führen zwar zu Innovationen, die aber kaum nachgefragt werden und nicht diffundieren. Vertreter der evolutorischen Ökonomik sind daher sehr skeptisch gegenüber der Modellierung des technischen Fortschritts/ Wissens in der neuen neoklassischen Wachstumstheorie. Dies gilt z.B. auch für die Annahme, dass jede investive Bildungsausgabe zu einem zukünftig höheren Einkommen führt, was den Haushalten zudem bekannt ist und über deren Tätigung sie aufgrund nutzenmaximierenden Verhaltens rational entscheiden. Als ebenso unrealistisch wird die Annahme der neuen neoklassischen Wachstumstheorie angesehen, dass jede Forschungsinvestition zu technischem Fortschritt führt und die Unternehmen mit diesem Wissen ein optimales F&E-Budget bestimmen und realisieren (H ERRMANN -P ILLATH , 2002; K ERBER , 2004; W AGNER , 2012). Extratour: Optimale Sparquote 18.2 Die optimale Sparquote ist ein Konzept der neoklassischen Wachstumstheorie. Sie ist diejenige Sparquote, bei welcher der materielle Lebensstandard langfristig am höchsten ist. Zur Vereinfachung werden im Folgenden eine konstante Bevölkerung und ein konstantes Arbeitsvolumen (z.B. Stunden pro Jahr) und die Abwesenheit technischen <?page no="145"?> 146 Leitbild und Ziele Fortschritts angenommen. Die Volkswirtschaft befindet sich im steady state, das Pro- Kop f-Wachstum ist g leic h Null. Dann gilt: Wenn die Sparquote steigt, dann wächst c.p. der Teil des BIP, der nicht konsumiert wird. Folglich steigt der Teil des BIP, der für die Verwendung als Investitionsgut übrig bleibt. Daraufhin wachsen der Kapitalstock und die Kapitalintensität, und zwar solange die Investitionen die Abschreibungen übersteigen. Damit steigen auch das BIP und das Einkommen. Dies bewirkt c.p. einen einkommensbedingten Anstieg des Konsums (→ Kap. 44.2 ). Parallel ist durch die gestiegene Sparquote der Teil des BIP, der für Konsumzwecke übrig bleibt, gesunken. Sollte die Sparquote unrealistischer Weise sogar 1 erreichen, wäre der Kapitalstock und somit die Produktion zwar maximal, aber der Konsum betrüge 0. Daraus lässt sich folgern, dass der Wohlstandseffekt - gemessen anhand des Konsums pro Kopf im steady state - mit steigender Sparquote sowohl zunehmen als auch abnehmen kann. Die goldene Regel der Kapitalakkumulation definiert die Sparquote als optimal, bei welcher der Anstieg des Konsums durch den positiven Einkommenseffekt gerade noch hoch genug ist, um den sinkenden Anteil des Konsums am Einkommen zu kompensieren. Ohne dies hier zu beweisen: In dem Modell mit einer Cobb-Douglas- Produktionsfunktion entspricht die optimale Sparquote der partiellen Produktionselastizität des Produktionsfaktors Kapital.  Beispiel 12: Beispiel (Aland) Es sind eine Einwohnerzahl von 200 und ein Arbeitsvolumen von 100 gegeben. Die Sparquote beträgt 20 % und die Abschreibungsrate beträgt 10 %. Die Produktionsfunktion lautet Y T ⋅ L ⁄ ⋅ K ⁄ mit T = 1 Das steady state-Produktionsniveau liegt bei einem Produktionsniveau von 200 Gütereinheiten. Davon werden 20 % (40 Einheiten) zur Aufrechterhaltung des Kapitalbestands (von 400 Einheiten) verwendet. Es bleibt ein gesamtwirtschaftlicher Konsum von 160 Einheiten. → Tab. 18.2 gibt die Ergebnisse für steigende Sparquoten wieder. Langfristig betrachtet wäre eine Sparquote von 50 % geeignet, um den Konsum pro Kopf zu maximieren. <?page no="146"?> Extratouren zur Wachstumstheorie 147 Sparquote s Steady state Produktion Y* Kapitalstock K Sparen S Konsum C Konsum pro Kopf 0,2 200 400 40 160 0,8 0,3 300 900 90 210 1,05 0,4 400 1600 160 240 1,2 0,5 500 2500 250 250 1,25 0,6 600 3600 360 240 1,2 0,7 700 4900 490 210 1,05 Tab. 18.2: Beispiel zur Ermittlung der optimalen Sparquote Implikationen für die Praxis der Wirtschaftspolitik Maßnahmen zur Förderung des Sparens tragen nicht immer zu einer Erhöhung des langfristigen materiellen Wohlstands in der Gesellschaft bei. Allerdings sind die Sparquoten in reichen Industrieländern niedriger als die Produktionselastizität des Kapitals, die auf Werte zwischen 0,3 und 0,5 geschätzt wird. In Deutschland beträgt das langfristige Verhältnis des Sparens zum BIP weniger als 0,25. Das legt auf den ersten Blick nahe, dass der Staat gut beraten wäre, geeignete Maßnahmen zur Erhöhung der Sparquote zu ergreifen. Dies ist jedoch auf den zweiten Blick keineswegs eindeutig. Denn ein Anstieg der Sparquote erfordert den kurzbis mittelfristigen Konsumverzicht. Folglich ist abzuwägen, ob der zukünftige Gewinn an Einkommen, sprich an Konsummöglichkeiten, den vorübergehenden Verzicht auf Konsum aufwiegt. <?page no="148"?> D Preisniveaustabilität 19 Begriff und Abgrenzung Preisniveaustabilität bezieht sich auf die Stabilität des durchschnittlichen Preisniveaus in einer Volkswirtschaft. Es ist hingegen nicht gemeint, dass die Preise der einzelnen Güter stabil sein sollen. Dies macht der Begriff der Preisniveaustabilität hinreichend deutlich. Der ebenso gebräuchliche Begriff der Preisstabilität (price stability) weist hingegen nicht explizit darauf hin. Er wird u.a. von der E UROPÄISCHEN Z ENTRALBANK verwendet. Kurzum: In der Makroökonomie werden „Preisstabilität“ und „Preisniveaustabilität“ im Allgemeinen als Synonyme erachtet. Alternativ wird auch der Begriff der „Geldwertstabilität“ verwendet. Hingegen ist bei der Währungsstabilität zwischen „innerer Währungsstabilität“ (= Preisniveaustabilität) und „äußerer Währungsstabilität“ zu unterscheiden. Letztere meint einen stabilen Außenwert der Währung, also vereinfacht den Wechselkurs (→ Wissensbox 28). Mikroökonomischer Preismechanismus 19.1 Eine Marktwirtschaft ist eine sich wandelnde Volkswirtschaft. Diese besteht aus einer schier unendlich großen Zahl von Partialmärkten für z.B. verschiedene Güter. Die Wünsche der nachfragenden Wirtschaftsakteure und das Angebot der Unternehmen ändern sich permanent. Die Bedürfnisse und Präferenzen der Nachfrager ändern sich im Zeitverlauf ebenso wie die Preise der Produktionsfaktoren (z.B. Löhne) und Vorleistungen (z.B. Rohstoffpreise). Sich ändernde Knappheiten werden in Marktwirtschaften in Preissignale übersetzt. Je begehrter ein Gut, bzw. je knapper die Inputs, umso teurer wird das Gut im Verhältnis zu anderen Gütern. Änderungen der relativen Preise sind mitnichten unerwünscht, sondern der Preismechanismus erfüllt elementare Funktionen. Steigt z.B. die Nachfrage nach einem Gut, so erfüllt der steigende Preis die Funktion, die Produzenten zu einer Steigerung der angebotenen Menge anzuregen. Steigende Preise animieren zugleich zur Substitution des teurer werdenden Produkts durch andere Produkte, die einen ähnlichen Gebrauchswert aufweisen. Die Substitution kann sowohl auf Konsumentenseite als auch auf Produzentenseite stattfinden. Der Bedarf nach Substituten ist außerdem ein Motor für Innovationen. Der Preismechanismus erfüllt eine Reihe von Funktionen, die von der geschilderten Signal- und Motivationsfunktion bis hin zur Belohnungs- und Bestrafungsfunktion reichen. Der Mechanismus flexibler Preise trägt nicht nur wesentlich zum Ausgleich der Pläne der Nachfrager und der Anbieter von einzelnen Produkten bei, sondern sich ändernde Preise spielen auch für den Prozess technischen Fortschritts eine Rolle. Unternehmen werden z.B. zu kostensenkenden Innovationen und Preissenkungen angetrieben, um sich Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten zu verschaffen. Der Anreiz zur Entwicklung neuer Konsum- und Investitionsgüter basiert nicht zuletzt auf der Erwartung, als Produktinnovator eine Monopolstellung mit entsprechend großer Preissetzungsmacht zu gewinnen. Für die Verbreitung (Diffusion) erfolgreicher Inno- <?page no="149"?> 150 Leitbild und Ziele vationen, welche letztlich den gesamtwirtschaftlichen technischen Fortschritt herbeiführ en, si nd w ieder um sinken de Preise fö rd er li ch . D iese sind i m Zuge der Zer stör un g der Monopolstellung durch Imitation und Substitution grundsätzlich auch zu erwarten. Sprich: Märkte für neue Produkte und Verfahren durchlaufen verschiedene Phasen, in denen ihr Preis sinkt bzw. aus wettbewerbspolitischer Sicht sinken sollte. Dieses Marktphasenmodell ähnelt dem betriebswirtschaftlichen Konzept des Produktlebenszyklus, mit dem einige Leser vertraut sein dürften. In Anbetracht der zentralen wettbewerblichen Funktionen flexibler Preise kann mit dem Ziel der Preisniveaustabilität also keinesfalls Preisstarrheit gemeint sein. Davon abgesehen ist Preisstarrheit - verstanden als weitgehend konstante Einzelpreise - in einer Marktwirtschaft gar nicht umsetzbar. So scheitern auch sogar die meisten Versuche des Staates, Festpreise nur auf einzelnen Märkten zu etablieren, an den Nebenwirkungen. Diese können illegale Parallelmärkte („Schwarzmärkte“) oder Überproduktionen, die zu dem Festpreis nicht abgesetzt werden können, sein. Diese Nebenwirkungen ziehen weitere staatliche Maßnahmen nach sich, die wiederum unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen usw. usf. In diesen Fällen spricht man von Interventionsspiralen. Gesamtwirtschaftliche Preisstabilität 19.2 Preisniveaustabilität bezieht sich also keinesfalls auf die Preisentwicklung auf allen einzelnen Produktmärkten, sondern auf die Stabilität des Durchschnitts der Einzelpreise. Damit ist in der Praxis nicht die Starrheit des Preisniveaus, sondern dessen stabile Entwicklung gemeint. In der Wirtschaftspolitik versteht man unter Preisniveaustabilität nicht eine Inflationsrate von Null, sondern zunächst vor allem eine stabile Inflationsrate. Die Inflationsrate ist die prozentuale Änderungsrate des Preisniveaus im Zeitverlauf. Es zeigt sich erneut ein zentraler Unterschied zwischen der mikroökonomischen und der makroökomischen Perspektive. Während möglichst flexible Preise auf mikroökonomischer Ebene für eine Marktwirtschaft charakteristisch und für ihre Funktionsfähigkeit unabdingbar sind, sind Schwankungen des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus offensichtlich unerwünscht. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. 20 Begründungen für Preisstabilität Verlust der Geldfunktionen 20.1 Sehr hohe Inflationsraten mindern die Funktionsfähigkeit des Geldes und können vor allem bei schnell steigender Inflation dazu führen, dass Geld seine Funktionen gar nicht mehr erfüllen kann. Transaktionsfunktion (Tauschmittelfunktion). Geld dient zuvorderst als Zahlungsmittel, ohne das eine hochgradig arbeitsteilige Volkswirtschaft nicht funktioniert. Wenn das Geld täglich deutlich an Kaufkraft verliert, wird es immer weniger als Zah- <?page no="150"?> Begründungen für Preisstabilität 151 lungsmittel akzeptiert. Im Extrem kehren die Menschen zum Naturaltausch zurück, der mit sehr hohen Informations- und Transaktionskosten und Ineffizienzen verbunden ist. Benötigt z.B. eine Möbelschreinerin eine Säge, muss sie einen Kunden für ein Möbel finden, der ihr dafür eine Säge gibt, deren Tauschwert dem Möbel in etwa entspricht. Oder sie muss das Möbel in andere Güter (und diese evtl. wieder) umtauschen, von denen sie hofft, dass ein Sägenanbieter ihr dafür eine Säge verkauft. Wertaufbewahrungsfunktion. Wenn das Geld stark und zudem beschleunigt an realem Wert verliert, ziehen die Menschen es vor, Fremdwährung zu halten oder in Sachwerte (z.B. Edelmetalle) zu flüchten anstatt zu sparen und Geldvermögen aufzubauen. Als Folge stehen den einheimischen Unternehmen weniger Investitionsmittel zur Verfügung. Recheneinheitsfunktion. Bei einem stark steigenden Preisniveau ist es für die Nachfrager aufwendig, die Entwicklung der relativen Preise einzuschätzen. Steigt z.B. der Preis für ein Gut, das ein Konsument nachfragen wollte, muss er umgehend prüfen, ob und in welchem Maße die Güter, die für eine alternative Einkommensverwendung in Frage kommen, ebenfalls gestiegen sind. Die jeweiligen Preisänderungen muss er dann gegenrechnen, um eine möglichst nutzvolle Verwendung seines Konsumbudgets zu erreichen. Bei hoher beschleunigender Inflation (akzelerierender Inflation) steigen die Menschen meist auf eine Umrechnung der Preise in Fremdwährung oder Naturalwährung um. Z.B. etablierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der andauernden Entwertung der Reichsmark vorübergehend die sog. Zigarettenwährung. Ein totaler Verlust der Geldfunktionen der einheimischen Währung tritt relativ selten ein, nämlich in aller Regel nur in Phasen andauernder galoppierender Inflation, die in eine Hyperinflation münden. Wann Hyperinflation vorliegt, lässt sich am besten am Verhalten der Wirtschaftssubjekte (s.o.) festmachen sowie an der Gestaltung der Vereinbarungen über wirtschaftliche Leistungen. Symptomatisch ist, dass die Preise in Verträgen durch entsprechende Klauseln an die Inflationsentwicklung angepasst und Zielkäufe mit extrem hohen Preisaufschlägen verbunden sind. Vereinfachend spricht man auch von Hyperinflation, wenn die monatliche Preissteigerung mindestens 50 % beträgt. Dies entspricht einer umgerechneten Inflationsrate von knapp 1300 % pro Jahr. Allerdings bringt Inflation auch dann schon Kosten mit sich, wenn das Geld seine Funktionen grundsätzlich beibehält. Dazu zählen sog. Schuhsohlenkosten. <?page no="151"?> 152 Leitbild und Ziele   Multiple-Choice-Aufgabe 9: Verständnisüberprüfung: Geldfunktionen Ordnen Sie den beschriebenen Sachverhalten jeweils die dominierenden Geldfunktionen zu. Das Sparschwein von V. ist halb voll.  Transaktion/ Zahlungsmittel  Wertaufbewahrung  Recheneinheit Die verdienenden Mitglieder der Familie S. verteilen das gesamte verfügbare Einkommen von 2.800 EUR nach Abzug der Fixkosten nach einem Schlüssel von 40 % - 30 % - 18 % - 6 % - 6 %.  Transaktion/ Zahlungsmittel  Wertaufbewahrung  Recheneinheit K. besitzt Gebrauchsgüter im Wert von insgesamt 58.000 EUR.  Transaktion/ Zahlungsmittel  Wertaufbewahrung  Recheneinheit Das Gehalt von P. wird am ersten Werktag jeden Monats überwiesen.  Transaktion/ Zahlungsmittel  Wertaufbewahrung  Recheneinheit Das Girokonto von L. weist stets einen Stand von mindestens 2.000 EUR mehr auf, als L. an Konsumausgaben tätigt.  Transaktion/ Zahlungsmittel  Wertaufbewahrung  Recheneinheit Z. kauft mit Kreditkarte Glühbirnen für 26 EUR.  Transaktion/ Zahlungsmittel  Wertaufbewahrung  Recheneinheit <?page no="152"?> Begründungen für Preisstabilität 153 Schuhsohleneffekt und Menükosten 20.2 Inflation verursacht Kosten der Geldhaltung (Kassenhaltung). Mit Kassenhaltung ist gemeint, dass die Wirtschaftssubjekte einen Teil ihres Vermögens in Form von Zahlungsmitteln (Geld) halten bzw. halten möchten. Diese können die Form von Bargeld, Sichteinlagen (Girokonto) und elektronischem Geld oder ähnlich liquide Mittel annehmen. Je höher die tatsächliche und erwartete Inflation ist, umso mehr verliert das in Geld gehaltene Vermögen an Wert. Die Folge ist, dass die Wirtschaftssubjekte möglichst wenig Geld halten möchten. Das wiederum bedeutet, dass sie wesentlich mehr Zeit und andere Ressourcen darauf verwenden, ihre übrigen Vermögensanlagen (z.B. Aktien, Edelmetalle, Immobilien) in Kasse zu wandeln. Dies sind Transaktionskosten, die umso seltener anfallen, je wertbeständiger das Geld ist. Unter Transaktionskosten sind Kosten zu verstehen, die im Kauf-/ Verkaufspreis nicht unmittelbar enthalten sind, sondern darüber hinaus entstehen. Dazu zählen u.a. die Kosten der Information und Entscheidung sowie sämtliche Kosten der Vertragsanbahnung und zur Sicherstellung der Vertragseinhaltung. Diese Kosten der (erwarteten) Inflation werden auch als Schuhsohlenkosten (shoe leather cost) bezeichnet. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass je höher die Inflation ist, umso häufiger gehen die Wirtschaftssubjekte zur Bank etc., um Anlagevermögen zu Geld zu machen. Dabei nutzen sich - bildlich gesprochen - die Sohlen ihrer Schuhe ab. Tatsächlich bestehen die Kosten aber vor allem aus dem Zeitaufwand, der mit dem Umtausch in Geld und der Suche nach der besten Alternative zur Kassenhaltung verbunden ist. In Zeiten extrem hoher Inflation würden solche Kosten möglicherweise täglich entstehen, d.h. es wird relativ viel Zeit beansprucht, die bei niedriger Inflation wohlstandssteigernd genutzt hätte werden können (z.B. für die Produktion oder als Freizeit). Inflation verursacht darüber hinaus sog. Menükosten (auch: Speisekarteneffekt), die den Anbietern entstehen, wenn sie (inflationsbedingte) Preisänderungen bekanntgeben. Dies kann z.B. der Druck neuer Speisekarten im Gastgewerbe sein oder die Herstellung und der Versand neuer Kataloge, Preislisten usw. Jedoch sind diese Kosten durch den druckertechnologischen Fortschritt und das Internet heutzutage wesentlich weniger bedeutsam als noch vor 30 Jahren. Hinzu kommt, dass sich die Einzelpreise auch bei Nullinflation ändern, also die meisten Anbieter ohnehin regelmäßig neue Preislisten etc. anfertigen. Ist die Inflationsrate sehr hoch, sind die Anbieter indes gezwungen, ihre Preislisten u.Ä. häufiger zu aktualisieren, wodurch die genannten Menükosten entstehen. Alles in allem sind die Schuhsohlen- und Menükosten umso höher, je höher die Inflationsrate ist. Sie halten sich bei den heutigen Technologien indes im Rahmen, solange die Inflationsrate nicht sehr hoch ist. Der Kostenunterschied zwischen einer Inflationsrate von 2 und 4 % dürfte - gesamtwirtschaftlich betrachtet - marginal sein. Allerdings können selbst moderate Anstiege des Preisniveaus durchaus unerwünschte ökonomische und soziale Wirkungen in nennenswertem Umfang hervorrufen, wenn <?page no="153"?> 154 Leitbild und Ziele nämlich die Inflationsrate instabil und ihre Höhe nicht vorhersagbar ist. Die Gründe f ür e in e sta b ile In fla tio nsr ate sin d Geg ensta n d der f olge nde n Ka pi tel. Planungssicherheit 20.3 Eine stabile Entwicklung des Preisniveaus und damit des zukünftigen Tauschwerts des Geldvermögens gilt als eine Voraussetzung für stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Wenn sich das gesamtwirtschaftliche Preisniveau erratisch, also stark schwankend und damit völlig unvorhersehbar entwickelt, scheuen private Haushalte das Sparen. Sie können dann schlechter einschätzen, ob und in welchem Maße sich der Konsumverzicht auszahlen wird. Ein instabiles Preisniveau hemmt das Sparen und begrenzt somit den Spielraum für Investitionen. Besonders negativ wirkt sich die Erwartung nichtkalkulierbarer Inflationssteigerungen aus. Wirtschaftssubjekte werden dann kurzfristige Geldanlagen bevorzugen oder in Sachanlagen (z.B. Kauf von Edelmetallen) flüchten. Sie werden kaum mehr zu längerfristigen Sparanlagen bereit sein bzw. diese ins preisstabilere Ausland verlegen (Kapitalflucht) oder einen sehr hohen Zinsaufschlag als Kompensation für das Inflationsrisiko verlangen. Die Bereitschaft der Haushalte zu langfristigen Anlagen im Inland und relativ niedrige Zinsen sind besonders wichtig für die Investitionstätigkeit des Unternehmenssektors. Aber selbst ohne eine Verschlechterung der Kreditaufnahmebedingungen wirken sich instabile Preisniveauentwicklungen negativ auf den Unternehmenssektor aus, da sie die Einschätzung zukünftiger Auszahlungen und Einzahlungen erschwert. Die ohnehin bestehende Unsicherheit wird durch eine sehr instabile Preisniveauentwicklung besonders bei zeitlich auseinanderfallenden Ein- und Auszahlungen erhöht. Schließlich beeinflussen Inflationsentwicklungen auch den Wechselkurs, d.h. den Außenwert einer Währung, und somit die aus außenwirtschaftlichen Beziehungen resultierende Planungsunsicherheit für Unternehmen (→ Kap. 29). Schutz von Gläubigern und Schuldnern 20.4 Gläubiger sind Inflationsverlierer, weil der an sie geleistete Schuldendienst (Zins- und Tilgungszahlungen) an realem Wert verliert. Schuldner sind demgegenüber Inflationsgewinner. Das bedeutet, dass eine Inflationsentwicklung, die nicht vertraglich antizipiert wird, zu einer Umverteilung von den Gläubigern hin zu den Schuldnern führt. Diese Umverteilungswirkung ist aus Sicht der Gläubiger zum einen ungerecht(fertigt). Zum anderen mindert sie die Bereitschaft zur Kreditvergabe und hemmt somit die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Dies wurde im vorhergehenden Absatz am Beispiel des Sparens illustriert. Sparer sind nichts anderes als Gläubiger, welche das konkrete Kreditgeschäft den Banken oder anderen Finanzinstitutionen (Investmentfonds oder Versicherungsunternehmen) überlassen. Das Gegenteil von Inflation wird als Deflation bezeichnet (→ Kap. 20.7.3). Vordergründig sind die Gläubiger Deflationsgewinner, während die Schuldner zu den Deflationsverlierern zählen. Der reale Wert ihres Schuldendiensts steigt durch ein sinkendes Preisniveau, was aus Schuldnersicht ungerecht(fertigt) erscheint. Wenn die Deflation <?page no="154"?> Begründungen für Preisstabilität 155 außerdem dazu führt, dass die Schuldner den Schuldendienst nicht mehr leisten können, nehmen Insolvenzen zu. Dadurch leiden mittelbar auch Gläubiger unter Deflation. Zusammenfassend vermindert ein instabiles Preisniveau - genauer eine instabile Preissteigerungsrate - sowohl die Bereitschaft zur Vergabe als auch zur Aufnahme von Krediten, und es führt zu ungerechtfertigten Umverteilungseffekten zwischen Schuldnern und Gläubigern. Darüber hinaus treten weitere willkürliche Verteilungswirkungen auf. Vermeidung willkürlicher Umverteilungswirkungen 20.5 Der Staat wird oftmals als Inflationsgewinner bezeichnet. Das liegt zum einen an dem relativ hohen Schuldenstand der öffentlichen Haushalte, zum anderen liegt es an der progressiven Gestaltung des Einkommensteuertarifs (→ Beispiel 13) in vielen Industrieländern. Je höher das nominale Einkommen der privaten Haushalte ist, umso höher ist der Anteil des Einkommens, der an den Staat abgeführt werden muss. Damit steigt c.p. die Steuerquote, welche das Verhältnis der Steuereinnahmen zum BIP in Prozent angibt. Dieser Effekt wird als kalte Progression bezeichnet. Sie ist u.a. deshalb besonders problematisch, weil die hervorgerufene Umverteilung von den Privaten hin zum Staat ohne ausdrücklichen demokratisch legitimierten Beschluss der Legislative - etwa des Parlaments - erfolgt.   Beispiel 13: Die progressive Einkommensteuer in Deutschland Für Ledige galt im Jahr 2017 (für Ehepaare und eingetragene Lebensgemeinschaften verdoppeln sich die Beträge): Ab einem zu versteuernden Einkommen von 8.472 EUR (sog. Grundfreibetrag) ist Einkommensteuer (ESt) zu zahlen. Anfangs wird jeder Euro, der über den Grundfreibetrag hinausgeht mit 14 % (sog. Grenzsteuersatz) besteuert. Der Grenzsteuersatz steigt mit zunehmenden Einkommen, bis er bei 53.666 EUR den Spitzensatz von 42 % erreicht. Mit 45 % wird jeder Euro ab einem Einkommen von 250.731 EUR belastet. <?page no="155"?> 156 Leitbild und Ziele zu versteuerndes Einkommen Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz Steuerzahlung 30.000 € 31,53 % 18,45 % 5.536 € 40.000 € 36,10 % 22,30 % 8.918 € 50.000 € 40,68 % 25,51 % 12.757 € 60.000 € 42,00 % 28,23 % 16.938 € 250.0 00 € 42,00 % 38,70 % 96.738 € 300.000 € 45,00 % 39,74 % 119.216 €   Hinweis Zusätzlich zur ESt sind 5,5 % des Steuerbetrags als Solidaritätszuschlag zu zahlen. Einkünfte aus Kapitalvermögen unterliegen einem gesonderten Steuertarif (25 %). Inflation kann jedoch auch bei einem konstanten Steuersatz zu einer Umverteilung zugunsten des Staates führen. Dies ist der Fall bei zinsbringenden Geldvermögenstiteln. Diese reale Umverteilung ergibt sich wie folgt: Inflation bewirkt einen realen Wertverlust von Geldforderungen, z.B. eines Wertpapiers. Angenommen, eine Anlegerin kaufte im Jahr 2010 für 1.000 EUR ein Wertpapier mit einem Nennwert von 1.000 EUR und noch 5-jähriger Restlaufzeit. Die Inflation beträgt in den verbleibenden fünf Jahren durchschnittlich 1,93 % p.a., wodurch der reale Wert des Papiers (die Kaufkraft der 1.000 EUR) um insg. 10 % sinkt. Allerdings sollte die Anlegerin davon ausgehen können, dass die reale Verzinsung mittelfristig inflationsunabhängig ist, dass sich also der reale Nennwertverlust durch die reale Verzinsung ausgleicht. Dafür ursächlich ist, dass die Inflation und Inflationserwartungen in die Nominalzinsen voll eingepreist werden (sog. Fisher-Gleichung, → Beispiel 14). Daher kann die o.g. Anlegerin davon ausgehen, dass ein inflationsbedingter Wertverlust des Wertpapiers durch höhere Nominalzinsen kompensiert wird. Nun aber kommt die Besteuerung der Zinseinnahmen hinzu. Der Anteil der Realverzinsung, der bei der Wertpapierinhaberin verbleibt, ist umso geringer, je höher die Inflation ist. Dies liegt daran, dass die o.g. Anlegerin den realen Wertverlust des Wertpapiers stets zu 100 % trägt, während der Staat den gleichen Anteil der Zinseinnahmen beansprucht und zwar inflationsunabhängig. <?page no="156"?> Begründungen für Preisstabilität 157   Beispiel 14: Inflationsabhängige Realrendite durch Besteuerung Frau H. kauft ein neu emittiertes Wertpapier zu einem Kurs von 1.000 EUR. Das Wertpapier hat eine 1-jährige Laufzeit und wird nominal mit 3 % (i) verzinst. Die jährlichen Zinseinnahmen (Z) belaufen sich somit auf 30 EUR. Bei einem Steuersatz von 25 % muss Frau H. davon 7,50 EUR (T) an den Staat abführen. Das verfügbare Einkommen der Wertpapierbesitzerin ist somit nominal um 22,50 EUR gestiegen. Angenommen, die Inflationsrate (π) beträgt 1 % p.a. Der reale Zins beträgt dann 2 % (i π), also 20. Zugleich hat das Wertpapier durch die Inflation an realem Wert verloren und zwar um 10 (K = π ⋅ 1000). Folglich bleibt Frau H. vor Steuer ein realer Einkommensgewinn von per saldo 10 EUR (G). Nach Steuer (7,50) ist der reale Gewinn (G v ) allerdings auf 2,50 geschrumpft. Die reale Rendite ist also 0,25 % p.a. Bei steigender Inflation ändert sich auch bei gleichbleibendem Realzins das Bild: π = 2 % i = 4 % K= 20 Z = 40 T = 10 G v =40 - 20 - 20 - 10 = -10 Die reale Rendite ist mit -1 % negativ. π = 3 % i = 5 % K = 30 Z = 50 EUR T = 12,50 EUR G V = 50 - 20 - 30 - 12,50= -12,5 Die reale Rendite beträgt -1,25 %. Überdies zählen zu den Inflationsverlierern auch die Empfänger von Transferleistungen (z.B. Renten und BAföG), wenn die Höhe der Transfers z.B. nicht rückwirkend an die Inflation angepasst wird. Letztlich gibt es eine ganze Reihe übriger Gewinner und Verlierer. Im Prinzip steigt das nominale Einkommen in einer Volkswirtschaft zwar in etwa proportional zum gesamtwirtschaftlichen Preisniveau, aber das verfügbare nominale Einkommen der einzelnen Haushalte wird in aller Regel über- oder unterproportional zum Preisniveau steigen. Wächst es unterproportional, verliert der Haushalt c.p. durch Inflation. Um solche Verlustrisiken zu reduzieren, drängen Empfänger von fortlaufenden oder zukünftigen Zahlungen (z.B. Vermieter oder Bauunternehmen) oft auf Inflationsausgleichsklauseln in den Verträgen mit Geschäftspartnern. Inflationsursachen 20.6 Das Phänomen der Inflation kann seinen Ursprung grundsätzlich auf der Nachfrageseite oder auf der Angebotsseite haben. Die Nachfrageinflation wird auch als demand pull -Inflation oder seltener auch als Nachfragesoginflation bezeichnet. Damit ist gemeint, dass eine steigende Nachfrage für Güter oder für Arbeitskräfte zu Inflation führt. Der Zusammenhang kann unmittelbarer Natur sein, wenn eine gestiegene Güternachfrage die Produzenten zu Preiserhöhungen animiert. Mittelbare Inflationswirkungen liegen z.B. vor, wenn die Arbeitsnachfrage steigt und es deshalb zu <?page no="157"?> 158 Leitbild und Ziele höheren Löhnen kommt, welche zu Stückkostensteigerungen und diese wiederum zu Pr ei s er h ö hung en f ü hr en. Der demand pull-Inflation steht die cost push -Inflation gegenüber. Von dieser häufig auch als Kostendruckinflation bezeichneten Inflation spricht man, wenn Preissteigerungen nicht nachfrageinduziert sind, sondern auf angebotsseitig verursachte Preissteigerungen zurückzuführen sind. Ein Beispiel sind Preissteigerungen, die von Unternehmen(skartellen) allein aufgrund ihrer Marktmacht durchgesetzt werden (sog. Marktmachtinflation). Ein weiteres Beispiel sind arbeitsnachfrageunabhängige Lohnsteigerungen, die von Gewerkschaften, die Arbeitsangebotskartelle darstellen, durchgesetzt werden (sog. Verteilungskampfinflation). Ein drittes Beispiel bilden Preissteigerungen importierter Vorleistungen, die von der inländischen Nachfrage unabhängig sind, z.B. fossile Energieträger (insb. Erdöl und Erdgas). Begründungen für eine Inflationsrate größer Null 20.7 Überblick 20.7.1 Im Wesentlichen werden vier Argumente dafür angeführt, dass die Politik eine positive Inflationsrate anstreben sollte:  Schmiermittelfunktion (→ Kap. 20.7.2),  Sicherheitsabstand zur Deflation (→ Kap. 20.7.3), insb. in Zusammenhang mit der  Tendenz der gemessenen Inflationsrate zur Überschätzung des Preisniveauanstiegs wegen der Nichtberücksichtigung von Produktverbesserungen (→ Kap. 20.7.4 u. 21.2.3) und dem substitution bias (→ Kap. 20.7.5),  Problem der Nullzinsgrenze (→ Kap. 20.7.6). Erleichterung von Anpassungsprozessen 20.7.2 Di e Meh r heit der Ök onomen fa vor isie rt e ine gewisse Inflation g egenüber Nu ll in fl ation. Zu den Gründen zählt, dass ein Anstieg des Preisniveaus Anpassungsprozesse auf den Gütermärkten und besonders auf dem Arbeitsmarkt erleichtern kann. Diese Eigenschaft einer positiven gesamtwirtschaftlichen Preisentwicklung wird als Schmiermittelfunktion der Inflation bezeichnet. Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass der oben geschilderte mikroökonomische Preismechanismus dazu führt, dass die Preise einzelner Güter steigen. Würde ein Ziel der Nullinflation umgesetzt, hieße dies, dass zum Ausgleich teurer werdender Güter parallel andere Güter billiger werden müssen. Da auf etlichen Märkten steigende und teils sehr stark steigende Preise im Zuge des Wachstumsprozesses und des Strukturwandels auftreten, müssten entsprechend auch viele Preise in erheblichem Maße sinken, damit der gesamtwirtschaftliche „Durchschnittspreis“ konstant bleibt. Dies wirft in der Praxis einige Probleme auf, welche primär auf nach unten starre Nominallöhne zurückzuführen sind. Für den stark vereinfachten Fall eines proportionalen Kostenverlaufs ohne Fixkosten (produktionsmengenunabhängige Stückkosten) erklärt sich dies wie folgt. <?page no="158"?> Begründungen für Preisstabilität 159 Sinken auf einem Markt für ein Gut die Preise, sinken c.p. die Stückgewinne der Branche. Gegebenenfalls kommt es sogar zu Verlusten. Um dem entgegenzuwirken, werden die Unternehmen versuchen, die Produktionskosten zu senken. Eine Möglichkeit sind Produktivitätssteigerungen, die aber meist nicht kurzfristig gelingen bzw. unzureichend sind. Die Arbeitskosten und damit die Löhne bieten sich als weiterer Hebel an, da sie im Unterschied zu vielen Inputpreisen von den Unternehmen grundsätzlich beeinflussbar sind. Außerdem liegt ihr Anteil am Umsatz in Deutschland über alle Branchen hinweg bei schätzungsweise knapp 30 %, in etlichen Dienstleistungsbranchen deutlich darüber und im verarbeitenden Sektor nahe 20 % (S TATISTISCHES B UN- DESAMT , 2016d). Lohnsenkungen lassen sich aber kaum durchsetzen, besonders nicht in tarifgebundenen Unternehmen, d.h. in denen der Lohn zwischen Arbeitgeber (-verband) und Arbeitnehmervertretung (Gewerkschaft) ausgehandelt wird. Senkungen unter den gesetzlichen Mindestlohn - dieser lag in Deutschland 2017 bei 8,84 EUR - wären zudem illegal. Aber selbst Unternehmen, die nicht tarifgebunden sind bzw. deutlich über Tarif bzw. Mindestlohn zahlen, werden davor zurückschrecken, die Löhne der Belegschaft zu senken, da dies die Motivation senken und den Betriebsfrieden gefährden kann. Sind aber nominale Lohnsenkungen in den Unternehmen trotz sinkender Preise nicht möglich bzw. nicht zielführend, kommt es angesichts unmittelbar sinkender Gewinne bzw. Verluste relativ rasch zu Entlassungen und im schlimmsten Fall zur Einstellung der Produktion. Ein anderer Ablauf ist hingegen möglich, wenn keine Inflationsrate von Null, sondern das Ziel einer positiven Inflationsrate realisiert wird. Dann bedarf es zum Ausgleich steigender Preise auf einem Teil der Märkte keiner oder zumindest geringerer Preissenkungen als auf anderen Märkten. Entsprechend sinken die Stückgewinne c.p. nicht oder um weniger als im ersten Szenario. Folglich entsteht kein oder zumindest ein geringerer Lohnsenkungsdruck. Statt Lohnsenkungen genügt nun der Verzicht auf Lohnerhöhungen bzw. dass die Erhöhungen moderat sind. Dies ist faktisch eher durchsetzbar als eine Senkung der Geldlöhne. Entsprechend wird die Produktion und Beschäftigung in den betroffenen Branchen weniger oder zumindest langsamer zurückgehen, womit Zeit gewonnen wird, um z.B. die Produktivität zu steigern bzw. sich an den Strukturwandel anzupassen. Es ist jedoch anzumerken, dass Nominallohnsteigerungen, die niedriger als die Inflationsrate sind, bedeuten, dass die Reallöhne in den betroffenen Branchen sinken. Das heißt, dass die Kaufkraft der in diesen Branchen Beschäftigten sinkt. Real betrachtet stehen diese Arbeitnehmer also nicht besser da, als wenn sie bei Nullinflation Lohnsenkungen erfahren hätten. In rechtlicher und betriebspsychologischer Sicht besteht allerdings durchaus ein Unterscheid, was die Durchsetzbarkeit anbelangt. Deflationsvermeidung 20.7.3 Deflation bedeutet wortwörtlich, dass das gesamtwirtschaftliche Preisniveau sinkt und die Inflationsrate negativ ist. Das Geld (z.B. ein 10-Euro-Schein) verliert anders als bei Inflation nicht an Wert, sondern gewinnt an Wert. Mit anderen Worten kann man mit einem 10-Euro-Schein im Laufe des Deflationsprozesses mehr Gütereinheiten bezahlen als zuvor. Aus einzelwirtschaftlicher Käufersicht mag Deflation durchaus angenehm sein, hingegen ist sie gesamtwirtschaftlich betrachtet negativ zu bewerten. Deflation kann sich sogar als äußerst schädlich für die Volkswirtschaft erweisen. <?page no="159"?> 160 Leitbild und Ziele 20.7.3.1 Attentismus bei Deflation Zu den Gefahren der Deflation zählt der Attentismus, worunter das Warten der Wirtschaftssubjekte auf sinkende Preise gemeint ist. In Erwartung sinkender Preise verschieben die Wirtschaftssubjekte den Kauf von Konsum- oder Investitionsgütern in die Zukunft. Soweit nur wenige Märkte (z.B. für einige Elektrogeräte) betroffen sind, hat dies kaum makroökonomische Wirkungen. Findet dieses Verhalten jedoch in gesamtwirtschaftlich spürbarem Maße statt, führt es zu einem nennenswerten Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage. Das wiederum bedeutet, dass der in der Rezession/ Depression ohnehin schwächelnde Unternehmenssektor die produzierten Güter in noch geringerem Maße absetzen kann. Darauf werden die Preise gesenkt und die Produktion verringert. Ein Absenken der Produktion ist c.p. gleichbedeutend mit einem Rückgang des realen Einkommens der Volkswirtschaft, woraufhin die einkommensabhängige Güternachfrage erneut sinkt. Soweit die Wirtschaftssubjekte annehmen, dass die Preise weiter sinken werden, verschärft sich der Attentismus mit den soeben geschilderten Folgen einschließlich weiter sinkender Preise. Damit werden zum einen die abwartenden Nachfrager belohnt und zum anderen wird sich der Kreis der Abwartenden vergrößern. Folgen sind erneut sinkende Preise und Einkommen usw. usf. Dieser Prozess wird als Deflationsspirale bezeichnet.  Aufgabe 12: Überlegen Sie! Im Jahr 2003 litt Japan unter einer lang andauernden Rezession mit Deflation. Einige Ökonomen befürchteten eine ähnliche Situation in Deutschland. Ein USamerikanischer Volkswirt schlug vor, bei drohender oder eingetretener Deflation den Umsatzsteuersatz spürbar zu senken (bspw. von 19 auf 7 Prozent) und gleichzeitig anzukündigen, dass die Umsatzsteuer nach 9 Monaten definitiv auf 20 Prozent erhöht wird. a) Erklären Sie Schritt für Schritt, wie der oben skizzierte Vorschlag zur Bekämpfung der Deflation beitragen und zu einer Gesundung der Volkswirtschaft beitragen könnte. b) Erläutern Sie einen Umstand, der dazu führen kann, dass der Vorschlag letztlich doch keine Abhilfe schafft. Es ist für Regierungen schwierig, dem Attentismus mit den üblichen Maßnahmen der Fiskalpolitik zu begegnen. Fiskalpolitik bezeichnet die gesamtwirtschaftlich orientierte Ein- und Ausgabenpolitik des Staates. In der Rezession kann die Regierung (z.B. des Bundes und der Länder) grundsätzlich versuchen, die Güternachfrage zu fördern, damit die Produktion und somit die Einkommen nicht weiter sinken. Eine Möglichkeit sind Steuersenkungen sowie Erhöhungen der Transfers an die Haushalte. Diese erhöhen zwar die verfügbaren Einkommen, aber sie halten nicht vom Attentismus ab. Somit liegt es bei Deflation nahe, dass der Staat die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage primär durch eine Erhöhung der eigenen Güternachfrage und Beschäftigung anzukurbeln versucht. Wenn der Nachfrageimpuls hoch genug ist, führt der Anstieg der staatlichen Nachfrage nach Vorleistungen (z.B. für den Infrastrukturausbau) dazu, dass die Preise nicht mehr fallen, sondern idealerweise steigen und die Produktion ebenfalls. Daraufhin ist mit einem Anstieg auch der privaten Güternach- <?page no="160"?> Begründungen für Preisstabilität 161 frage zu rechnen, woraufhin wieder die Produktion steigt usw. usf. bis die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital wieder normal ausgelastet sind. Zu den Nachteilen dieser Politik gehört, dass die Finanzierung des anfänglichen Nachfrageschubs zu 100 % vom Staat getragen wird, wodurch die Staatsverschuldung stärker steigt als in den Fällen, in welchen der Staat den Privaten Nachfrageanreize setzt. Außerdem ist es aus ordnungspolitischer Sicht in einer Marktwirtschaft problematisch, wenn der Staat durch den Anstieg seiner eigenen Nachfrage in zunehmend größerem Maße bestimmt, welche Güter mit den vorhandenen Produktionsfaktoren produziert werden. Dieser ordnungspolitische Einwand gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn die staatliche Güternachfrage nach dem Ende der Deflation nicht wieder deutlich zurückgefahren wird. Daher gibt es gute Gründe, dass der Gefahr einer Deflationsspirale bevorzugt nicht (nur) durch die direkte Erhöhung der vom Staat nachgefragten Güter beseitigt werden sollte. Eine Alternative besteht darin, Nachfrageanreize für Private zu setzen, die so gestaltet sind, dass sie dem Attentismus ausdrücklich entgegenwirken. Dafür kommen nachfragegebundene und zeitlich befristete Transfers, Subventionen oder Steuererleichterungen in Frage. Die Höhe des zeitlich befristeten Anreizes muss dabei hoch genug sein, um den Nachfragern zu signalisieren, dass der Kauf von Gütern nie wieder so günstig sein wird wie innerhalb des „Aktionszeitraums“. Sprich: Der zeitlich befristete staatlich erzeugte Preisvorteil muss höher sein als der Vorteil, der durch das Verschieben des Kaufs in die Zukunft erwartet wird.   Beispiel 15: Abwrackprämie für PKW Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-2009 führten mehr als 10 Länder eine Prämie beim Kauf eines Neuwagens ein, soweit der Käufer sein altes Fahrzeug verschrottete. Diese in Deutschland offiziell als „Umweltprämie“ benannte Einmalzahlung sollte die Nachfrage nach PKW deutlich erhöhen und die angeschlagene Automobilindustrie schützen. Die im Januar 2009 beschlossene deutsche Abwrackprämie betrug 2500 EUR beim Kauf eines Neu- oder Jahreswagen. Die zeitliche Befristung der Prämie ergab sich aus der Deckelung des Fördervolumens auf letztlich 5 Mrd. EUR. Die Prämienvergabe folgte dem Windhundverfahren (first come, first serve). Bis Herbst 2009 wurden die Mittel aufgebraucht und knapp 2 Mio. PKW-Neukäufe gefördert. 20.7.3.2 Steigendes Konkursrisiko bei Deflation Ein weiteres rezessionsverschärfendes Problem der Deflation ist der Anstieg des realen Werts von Schuldendienstzahlungen. Diese Folge der Geldaufwertung erhöht die Gefahr von in Depression und Rezession ohnehin vermehrt auftretenden Insolvenzen bis hin zu Unternehmenskonkursen, da allein deflationsbedingt die Geldeinnahmen vieler Unternehmen gesunken sind. Hinzu kommt, dass die schwache Bereitschaft zur Kreditaufnahme zusätzlich sinkt, weil die potenziellen Kreditnehmer fürchten, dass sie bei weiter sinkenden Preisen die Schulden nicht bedienen können. Folge von alledem ist ein verstärkter Rückgang von Produktion, Einkommen und Beschäftigung. <?page no="161"?> 162 Leitbild und Ziele Zusammenfassend: Deflation verschlimmert Rezession bzw. Depression, da sie Att entis mus h er v or rufen ka nn und Kon ku rse befö rde rt . Attentismus erschwert außerdem das fiskalpolitische Gegensteuern. 20.7.3.3 Deflationsgefahr in der Praxis Theoretisch gesprochen ist unter Deflation ein Absinken des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus zu verstehen. In der Praxis kann Deflation - im Sinne von der beschriebenen Deflationsproblematik - auch bei einer positiven Inflationsrate auftreten. Das hängt damit zusammen, dass das gesamtwirtschaftliche Preisniveau ein Durchschnittspreis ist. Wenn z.B. viele Güter billiger werden und einige Güter sehr viel teurer werden, kann es aufgrund der vielen billiger werdenden Produkte zu gesamtwirtschaftlich spürbarem Attentismus und überdurchschnittlichen vielen Konkursen kommen, auch wenn das Preisniveau aufgrund der relativ wenigen, aber sehr stark steigenden Güterpreise insgesamt nicht sinkt. Außerdem gibt es etliche Güter, bei denen kein nennenswerter Attentismus auftreten kann. Dazu zählen Medikamente und viele Gesundheitsdienstleistungen, Nahrungsmittel, Transport- und Energiedienstleistungen (Wärme, Strom usw.). Werden derartige Produkte teurer, aber für Attentismus anfällige Güterarten (Gebrauchsgüter, z.B. Elektronikartikel und Kfz) werden spürbar billiger, dann kann die Volkswirtschaft trotz einer insgesamt positiven Inflationsrate durchaus in eine Deflationsspirale rutschen. Zusätzlich hängt das Risiko der Deflationsproblematik eng damit zusammen, wie sich die Preise importierter Güter und die Preise von im Inland produzierten Gütern ändern. Sinken z.B. die Preise der meisten einheimischen Gebrauchsgüter, während die Preise importierter Güter steigen, kann die Inflationsrate positiv sein, aber die einheimische Wirtschaft durchaus unter einem Attentismus der Nachfrager leiden. Dies gilt besonders, wenn es sich bei den Importgütern um solche handelt, die sich durch einheimische Güter nicht zügig substituieren lassen. Eine Deflation - genauer: die Deflationsproblematik - kann also auch dann auftreten, wenn das durchschnittliche Preisniveau steigt. Daraus folgt als weitere Begründung für eine angestrebte Inflationsrate von größer Null, dass ein gewisser Sicherheitsabstand zur Deflation gehalten wird.   Aufgabe 13: Überlegen Sie! Angenommen, die Inflationsrate sei negativ und beträgt -0,3 %. Dennoch herrscht keinerlei Deflationsproblematik. Schildern Sie unter Heranziehung von Beispielgütern, warum dies der Fall sein könnte. Probleme bei der Messung der Inflationsrate 20.7.4 Schließlich sprechen Messprobleme dafür, eine Inflationsrate anzustreben, die spürbar über 0 % liegt. So kann die bloße Betrachtung der Entwicklung der Preise von Gütern die Inflationsrate überzeichnen, wenn sich parallel zu einem Preisanstieg die Qualität (z.B. Ausstattung, Funktionalität, Design) verbessert. Die Preisstatistik versucht zwar <?page no="162"?> Begründungen für Preisstabilität 163 solche Verbesserungen durch hedonische Verfahren (→ Kap. 21.2.3) zu berücksichtigen, aber die herrschende Meinung ist, dass die amtlichen Inflationsstatistiken diese qualitativen Effekte nur zum Teil erfassen. Hinzu kommt, dass die gezahlten Preise im Durchschnitt mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Preisen liegen, die von den statistischen Ämtern erhoben werden. Das liegt daran, dass Nachfrager gezielt „Sonderangebote“ kaufen sowie Coupons oder andere - teils individuell ausgehandelte - Rabatte nutzen. Substitution Bias 20.7.5 Die Zusammensetzung der Konsumausgaben der Haushalte und somit des repräsentativen „Warenkorbs“ (→ Kap. 21.2.1) erfolgt nicht jährlich, sondern in Deutschland 5jährlich und andernorts noch seltener, weil laufende repräsentative Befragungen zu kostenaufwendig sind. Wenn sich nun substituierbare Produkte, die ein relativ hohes Gewicht an den Ausgaben besitzen, deutlich verteuern, bewirkt dies einen spürbaren Preisanstieg des repräsentativen „Warenkorbs“ des Basisjahres. Da die Haushalte die teurer gewordenen Produkte aber teilweise durch Substitutionsprodukte ersetzen, die relativ günstiger geworden sind, hat sich der tatsächliche „Warenkorb“ um weniger verteuert als ausgewiesen. Soweit die Preise der ersetzten Konsumgüter in den Folgejahren weiterhin deutlich stärker steigen als die Preise der Substitutionsgüter, setzt sich die Überschätzung der Inflationsrate solange fort, bis der repräsentative Korb neu ermittelt wird. Diesen inflationsverzerrenden Effekt bezeichnet man als substitution bias. Problem der Nullzinsgrenze 20.7.6 Der Begriff der Nullzinsgrenze (zero lower bound) bezeichnet in der Makroökonomie den Umstand, dass nominale Zinssätze nicht unter Null sinken können. Dafür ist die Existenz von Bargeld ursächlich: Sobald der nominale Zinssatz für Spareinlagen, Anleihen etc. unter Null sinkt, würden die Sparer auf Bargeld als Anlageform umsteigen: Der 100-EUR-Schein aus dem Safe ist z.B. nach einem Jahr noch immer ein 100- EUR-Schein. Eine Spareinlage von 100 EUR ist bei einem negativem Zins hingegen weniger als 100 EUR wert, z.B. bei einer Verzinsung von minus 4 % nur noch 96 EUR. (Genau genommen müssten die Kosten der Bargeldbeschaffung und -lagerung mitberücksichtigt werden. Dann kann der Zins leicht negativ sein.) Die Praxis ist durch eine Vielzahl von Zinssätzen gekennzeichnet, die je nach Laufzeit, Risiko, Kreditzweck, Kreditnehmer und -geber usw. divergieren. Wenn im Folgenden von „dem Zinssatz“ gesprochen wird, so steht dieser für das Konstrukt eines gesamtwirtschaftlichen Durchschnittszinses. Die Nullzinsgrenze ist in konjunkturschwachen Zeiten für die Geldpolitik insoweit problematisch, da ihr Erreichen bedeutet, dass sich die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage nicht durch weitere Zinssenkungen anregen lässt, um zur Überwindung der Konjunkturschwäche beizutragen. (Zu dem Begriff und den Instrumenten der Geldpolitik → Kap. 22.3.1 und zu den Wirkungen → Kap. 44.6.1 u. 47.3.) Je höher wiederum die mittelbis langfristige Inflationsrate ist, umso geringer ist das Risiko, dass eine Volkswirtschaft die Nullzinsgrenze erreicht. Das liegt an dem Zusammenhang zwischen Real- und Nominalzins. Der reale Zinssatz ist der Nominalzins abzüglich der Inflationsrate. Also gilt, dass er sinkt, wenn der Nominalzins sinkt <?page no="163"?> 164 Leitbild und Ziele oder die Inflationsrate steigt. Da der Realzins die reale Entlohnung des Kreditgebers für se in Sparen d ur ch d en K re ditn eh m er da rst el lt, ist er eine zentra le Ein flussgröß e der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage. Je niedriger der Realzins ist, desto höher sind c.p. die Anreize, Güter nachzufragen, denn:  Je höher der Realzins ist, desto attraktiver ist es für die Haushalte, zu sparen. Je mehr aber gespart wird, umso weniger wird konsumiert. Sinkt der Realzins, dann ist entsprechend ein Anstieg der Konsumgüternachfrage zu erwarten.  Ein sinkender Realzins verbessert die Rendite von Realinvestitionen im Vergleich zu Finanzinvestitionen. Das liegt daran, dass die Finanzierungskosten sinken (wenn der Nominalzins sinkt) bzw. die erzielten Geldeinnahmen steigen (wenn die Inflationsrate steigt). Folglich ist auch mit einem Anstieg der Investitionsgüternachfrage zu rechnen, wenn der Realzins sinkt. Die Marktteilnehmer kennen den tatsächlichen Realzins jedoch nicht zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Konsum- und Investitionspläne aufstellen. Denn anders als der Nominalzins ist die Inflationsrate erst im Nachhinein („ex post“) bekannt. Folglich kann zum Zeitpunkt der Konsumbzw. Investitionsplanung nur ein voraussichtlicher Realzins in die Entscheidung einfließen. Dieser im Vorhinein („ex ante“) angesetzte Realzins entspricht dem Nominalzins abzüglich der erwarteten Inflationsrate. Dieser Zusammenhang wird als Fisher-Gleichung (→ Wissensbox 39) bezeichnet und verdeutlicht: Je höher die erwartete Inflationsrate ist, umso größer ist der Abstand des Nominalzinses zur Nullzinsgrenze. Damit erweitert sich der geldpolitische Spielraum, d.h. die Zentralbank kann den Realzins umso weiter ins Negative drücken, je höher die Inflationserwartungen sind. Beispiel: Beträgt die erwartete Inflationsrate 5 %, dann kann die Zentralbank den Realzins auf theoretisch bis minus 5 % drücken. Betrüge die erwartete Preissteigerungsrate hingegen 0 %, kann auch der Realzins nicht unter 0 % fallen. Geht man nun davon aus, dass die Inflationserwartungen dem mittelbis langfristigen Inflationsziel der Zentralbank in etwa entsprechen, dann spricht das Problem der Nullzinsgrenze für sich betrachtet nicht nur für eine Inflationsrate (Inflationsziel) über Null, sondern für eine relativ hohe Inflationsrate. Dagegen sprechen jedoch die oben angeführten Kosten von Inflation. Hinzu kommt, dass die Nullzinsgrenze als Argument für eine relativ hohe Inflationsrate unter Makroökonomen höchst umstritten ist. Ein Teil lehnt eine geldpolitische Nachfragesteuerung ohnehin ab (→ Kap. 22.3.6). Ein weiterer Teil hält andere Methoden zur Umgehung der Nullzinsgrenze für denkbar und für besser: Die Vorschläge reichen von einer direkten Ausdehnung der (Bar-)Geldmenge durch die Zentralbank, damit die Wirtschaftssubjekte mehr Geld ausgeben (d.h. mehr Güter nachfragen) bis hin zur Abschaffung des Bargelds, damit negative Nominalzinsen möglich werden. <?page no="164"?> Zielerreichungsindikatoren 165 21 Zielerreichungsindikatoren Grundlegendes 21.1 Die Inflationsrate gibt an, um wie viel Prozent das gesamtwirtschaftliche Preisniveau innerhalb einer Zeitperiode gestiegen oder ggfs. gesunken ist. Das Preisniveau kann als der in Geldeinheiten ausgedrückte Wert eines gesamtwirtschaftlich repräsentativen Güterbündels aufgefasst werden. Meistens wird dieses Güterbündel etwas vereinfachend als Warenkorb bezeichnet, obwohl sich in dem Güterkorb außer Waren auch stets Dienstleistungen befinden. Zeitliche Veränderungen des Geldwerts des Warenkorbs entstehen sowohl durch Änderungen der Preise der im Korb enthaltenen Güter (Preiskomponente) als auch durch Änderungen der Zusammensetzung des Korbs (Mengenkomponente). Will man die Preisänderungsrate ermitteln, muss die Änderung der Mengenkomponente ausgeschaltet werden. Dazu bedient man sich in der Regel eines Preisindex. Die relative Änderung dieses gesamtwirtschaftlichen Preisindex ist dann die Inflationsrate. Inflationsrate (in%) = ⋅ 100  ⋅ 100 Die Inflationsrate wird meistens als Änderung des Preisindex gegenüber dem Index des Vorjahresmonats (x 0 ) gemessen. „Die Inflation lag im August 2016 bei 0,4 %“ bedeutet z.B., dass der Preisindex im August 2016 um 0,4 % gegenüber August 2015 gestiegen ist. Kurzfristigere Inflationsindikatoren, wie z.B. die Preisänderungsrate gegenüber dem Vormonat, sind hingegen weniger geeignet. Denn diese enthalten außer den hier interessierenden Preisänderungen auch saisonal bedingte Preisschwankungen. Die Berechnung eines Preisindex, der das gesamtwirtschaftliche Preisniveau abbildet, erfordert eine Entscheidung, welche Produkte in die Ermittlung eingehen sollen. Mit anderen Worten, es gilt das Güterbündel (den Warenkorb) zu bestimmen, um dessen Preisentwicklung es geht. Im Folgenden werden drei Preisindexe vorgestellt, die auf unterschiedliche Güterbündel abstellen, und zur Bestimmung der Inflationsrate herangezogen werden:  Verbraucherpreisindex (VPI). Hier wird die Konsumstruktur eines repräsentativen privaten Haushalts als Warenkorb zugrunde gelegt. Der VPI ist in der Praxis der wichtigste Inflationsindikator.  Kerninflationsrate. Hier wird der gleiche Warenkorb wie beim VPI verwendet, allerdings ohne Energie und Nahrungsmittel.  BIP-Deflator. Hier geht die gesamte Bruttowertschöpfung der Volkswirtschaft in den Korb ein. Das bedeutet, dass neben den Preisen von Konsum- und Investitionsgütern auch die Preise der Exportgüter und des sog. Staatskonsums (der Bevölkerung unentgeltlich zur Verfügung gestellte Leistungen) berücksichtigt werden. <?page no="165"?> 166 Leitbild und Ziele Verbraucherpreisindex (VPI) 21.2 Die Inflationsrate, die in den Medien und in der Politik im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, wird auf der Basis des Verbraucherpreisindex (VPI) berechnet. Sie dient u.a. in Lohnverhandlungen und beim Abschluss anderer Verträge über wiederkehrende Zahlungen als Orientierung für einen zu vereinbarenden Inflationsausgleich. Die Inflationsrate wird meist als Änderung des VPI eines Monats gegenüber dem Index des Vorjahresmonats gemessen, um saisonale Preisschwankungen (z.B. von Agrargütern, Tourismus- und Baudienstleistungen) auszuschalten.   Beispiel 16: Pressemitteilung Nr. 045 des Statistischen Bundesamts (destatis) vom 12.02.2016 Saisonbedingter Preisrückgang gegenüber Vormonat WIESBADEN - Die Verbraucherpreise in Deutschland lagen im Januar 2016 um 0,5 % höher als im Januar 2015. Die Inflationsrate − gemessen am Verbraucherpreisindex - hat sich damit zum Jahresbeginn leicht erhöht. Im Dezember 2015 hatte sie bei + 0,3 % gelegen. Im Vergleich zum Dezember 2015 sank der Verbraucherpreisindex im Januar 2016 deutlich um 0,8 %. Güterstruktur und Wägungsschema 21.2.1 Der dem VPI zugrundeliegende Warenkorb spiegelt den Konsum eines „repräsentativen Haushalts“ wider. Anstelle von Verbraucherpreisindex wird gelegentlich auch von Konsumentenpreisindex gesprochen. Vereinzelt wird auch der ein wenig altmodisch anmutende Begriff des „Preisindex für die Lebenshaltung“ verwendet. Dieser Begriff ist vor allem üblich, wenn nicht die Konsumausgaben aller privaten Haushalte, sondern Teilmengen wie z.B. die Ausgaben eines repräsentativen „4-Personen-Haushalt mit mittlerem Einkommen“ gemeint sind. Solche Preisindexe für spezielle Haushaltstypen werden allerdings vom Statistischen Bundesamt seit ca. 15 Jahren nicht mehr berechnet. Das Gleiche gilt mittlerweile für den nach Ost- und Westdeutschland differenzierten VPI, da sich die Entwicklung in den „alten“ und „neuen“ Bundesländern weitgehend angeglichen hat. In Deutschland ist das S TATISTISCHE B UNDESAMT in Zusammenarbeit mit den Statistischen Landesämtern zuständig für die Ermittlung des VPI. Zu diesem Zweck ist zunächst zu klären, welche Güterarten Berücksichtigung finden. Als nächstes sind die durchschnittlichen Einzelpreise für diese Güterarten zu ermitteln. Schließlich gilt es, die Gewichtung festzulegen, mit welcher die jeweiligen Preise in den Verbraucherpreisindex eingehen. Diejenigen Waren und Dienstleistungen, die in den repräsentativen Warenkorb eingehen können, werden primär im Rahmen einer repräsentativen Stichprobe von Einzelhandelsgeschäften und Dienstleistern ausgesucht. Hinzu kommen Zusatzerhebungen und Daten aus Sekundärstatistiken. Die in den Korb eingehenden Waren und Dienstleistungen werden in ca. 600 Güterarten und 12 Güterabteilungen gegliedert. Die laufende Preiserfassung erfolgt deutschlandweit in Geschäften, bei Dienstleistungsbetrie- <?page no="166"?> Zielerreichungsindikatoren 167 ben und Vermietern, über das Internet und durch die Auswertung von Versandkatalogen s ow ie d ur ch Zus atz er heb un gen . Die Preise für die einzelnen Güter gehen mit einem bestimmten Gewicht in den VPI ein. Das Gewicht entspricht dem Anteil der Ausgaben für das jeweilige Gut an den gesamten Konsumausgaben eines repräsentativen Haushalts in einem Basisjahr. Die Gesamtheit der Gewichte bildet das Wägungsschema. Abb. 21.1: Wägungsschema des VPI (Kuchendiagramm von destatis): Basisjahr 2010 in % Das Wägungsschema, also die Konsumstruktur des repräsentativen Haushalts, wird im Wesentlichen auf der Grundlage von Haushaltsbefragungen im Rahmen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (→ Wissensbox 15) gewonnen. Deren Ergebnisse werden dann mithilfe weiterer Daten auf Plausibilität geprüft und ggfs. justiert. Das Kuchendiagramm in → Abb. 21.1 zeigt das komprimierte Wägungsschema für sieben Konsumgüterkategorien aus dem Basisjahr 2010. Der ermittelte repräsentative Warenkorb wird alle fünf Jahre neu ermittelt. Die resultierenden Anpassungen des Korbs sind indes erfahrungsgemäß gering, da sich die durchschnittliche Konsumstruktur der privaten Haushalte normalerweise nur langsam verändert. 7% 4% 1% 11% 4% 3% 13% 5% Bildungswesen Freizeit, Unterhaltung und Kultur Verbrauchsausgaben privater Haushalte Wohnung, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe 32% 4% 4% 10% Bekleidung und Schuhe alkoholische Getränke und Tabakwaren Nahrungsmittel und al ko ho l fr ei e Ge tr än ke andere Waren und Di ens tl ei stu nge n Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen Nachrichtenübermittlung Verkehr Gesundheitspflege Möbel, Leuchten, Geräte u.a. Haushaltszubehör <?page no="167"?> 168 Leitbild und Ziele  Wissensbox 15: Was ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) Im Rahmen der EVS der statistischen Ämter werden ein Jahr lang rund 60.000 private Haushalte, die in Art und Anzahl ungefähr einen repräsentativen Querschnitt aller deutschen Haushalte bilden, über ihre Lebensverhältnisse befragt. Es werden u.a. der Besitz an Gebrauchsgütern, die Wohnsituation und die Vermögenssituation erfragt. Ein zentraler Bestandteil ist das Haushaltsbuch, in das jeder teilnehmende Haushalt über 3 Monate hinweg sämtliche Einnahmen und Ausgaben einträgt. Die EVS findet alle 5 Jahre statt. In den übrigen Jahren werden ähnliche Daten auf der Basis einer wesentlich kleineren Stichprobe von ca. 8.000 Haushalten erhoben (sog . La ufe nde Wirtsc hafts rechnun ge n). Die Teilnahme ist freiwillig. Interessierte können sich auf den Internetseiten des zuständigen Statistischen Landesamts informieren. Dieses zahlt auch Teilnahmeprämien. Im Jahr 2018 sind dies je nach Bundesland zwischen 70 und 100 EUR. Hinzu kommen Gewinnspiele für die Teilnehmer als zusätzliche Anreize. Es sei darauf hingewiesen, dass der repräsentative Haushalt selbstverständlich ein Konstrukt ist, der sich aus der Zusammenschau aller befragten Haushalte herauskristallisiert. Möglicherweise gibt es also landesweit keinen einzigen Haushalt, dessen Konsumausgaben die Struktur des repräsentativen Warenkorbs exakt widerspiegeln. Der fiktive Haushalt gilt insoweit als repräsentativ, als dass eine Quotenbefragung durchgeführt wurde. Quotenbefragung heißt hier, dass an der Stichprobe in etwa so viel Prozent der Befragten ein bestimmtes Merkmal aufweisen, wie es für alle privaten Haushalte in Deutschland der Fall sein dürfte. Die Merkmale beziehen sich u.a. auf das Geschlecht der Haupteinkommensbezieher und die berufliche Stellung (z.B. Angestellte, Arbeiter, Nichterwerbstätige), den Familienstand (z.B. Singles, Paare, Kinderzahl, Alleinerziehende) und die Einkommenshöhe. Zu bedenken ist jedoch, dass das Ergebnis dennoch nicht repräsentativ sein muss. So ist die Teilnahme an der Befragung freiwillig und hierzu sind möglicherweise nur bestimmte Typen von Konsumenten bereit. Hinzu kommt, dass die einbezogenen Haushalte ihr Konsumverhalten evtl. unbewusst oder bewusst ändern, wenn sie Buch über ihre Ausgaben führen. Außerdem kann - wie bei jeder Befragung - nicht ausgeschlossen werden, dass die Befragten nicht 100 % korrekt Auskunft geben. Z.B. könnten sie die konsumierten Mengen des einen oder anderen Gutes verschweigen, wenn sie diese als „peinlich“ erachten.  Wissensbox 16: Persönlicher Inflationsrechner Wer sich für die ungefähre Teuerungsrate seines eigenen - nichtrepräsentativen - Warenkorbs interessiert, findet auf der Homepage des Statistischen Bundesamts einen sog. „persönlichen Inflationsrechner“. <?page no="168"?> Zielerreichungsindikatoren 169 Dieser erlaubt es, die Anteile verschiedener Güterarten an den gesamten Konsumausgaben auf das persönliche Maß zu stellen und die persönliche Inflationsrate zu ermitteln. Z.B. beträgt der Anteil der Ausgaben für Tabakwaren beim repräsentativen Haushalt 2,1 %. Verstellt man diesen Anteil auf 7 %, dann wird als persönliche Inflationsrate für März 2016 ein Inflationswert von 0,5 % anstatt der durchschnittlichen 0,3 % angegeben.  https: / / www.destatis.de/ DE/ Service/ InteraktiveAnwendungen/ Inflationsrechner Berechnungsmethode 21.2.2 Änderungen des Verbraucherpreisindex können im Prinzip mithilfe der zwei statistischen Verfahren (L ASPEYRES und P AASCHE ) berechnet werden, die aus → Kap. 15.2 bekannt sind. Für die Ermittlung der Veränderung der Preiskomponente gilt wie auch bei der Berechnung der Mengenkomponente des BIP: Je stärker sich die Güter- und Preisstruktur zwischen den zwei betrachteten Zeitperioden geändert hat, umso stärker weichen die jeweils berechneten Preisindexe (bzw. Mengenindexe) voneinander ab. Beim Laspeyres-Preisindex (LPI) wird der gewichtete Durchschnittspreis des Warenkorbs der Basisperiode betrachtet. Das heißt, die Preise der jeweiligen Güter gehen fortan gemäß dem Wägungsschema in den VPI ein, das für das Basisjahr ermittelt wurde. Beim Paasche-Preisindex (PPI) wird hingegen die Ausgabenstruktur des Warenkorbs des Berichtsjahres als Wägungsschema verwendet, d.h. man tut so, als wären die Verbrauchsmengen der jeweiligen Güter stets die des aktuellen Berichtsjahrs gewesen. Der Laspeyres-Preisindex (LPI) gibt das Verhältnis des Preisniveaus des Berichtsjahres t zum Basisjahres 0 an, das sich ergäben hätte, wenn der Warenkorb im Berichtsjahr der gleiche wie im Basisjahr wäre. Hierzu werden die jeweiligen Preise (p i ) beider Jahre mit den Mengen (q i 0 ) des Basisjahres multipliziert und anschließend addiert. Laspeyres-Preisindex: LPI ∑q ⋅ p ∑q ⋅ p ⋅ 100 Der Paasche-Preisindex gibt demgegenüber das Verhältnis des Preisniveaus an, das sich ergäben hätte, wenn der Warenkorb des Berichtsjahrs auch der des Basisjahres wäre. Paasche-Preisindex: PPI ∑q ⋅ p ∑q ⋅ p ⋅ 100 Der Fisher-Preisindex ist das geometrische Mittel aus dem LPI und PPI. <?page no="169"?> 170 Leitbild und Ziele Der VPI wird in den EU-Staaten und andernorts nach dem Laspeyres-Verfahren bere ch net . Dies b iet et s ich an, we il die E rmittl ung des Wägu ngssc hema auf der Basis v on Haushaltsbefragungen recht aufwendig ist (→ Wissensbox 15) und daher der Warenkorb nicht kontinuierlich, sondern wie auch in Deutschland nur in mehrjährigem Abstand durchgeführt wird.  Beispiel 17: Neulands Verbraucherpreisindex (Laspeyres-PI) Die Tabelle stellt den Warenkorb (Spalte 2) und die nominalen Konsumausgaben (Sp. 4) eines repräsentativen neuländischen Haushalts im Jahr 2010 (Basisjahr) dar. In Spalte 3 sind die Einzelpreise im Jahr 2010 festgehalten. Die Gewichte der Einzelpreise im VPI finden sich in Spalte 5. Mithilfe dieses Wägungsschemas und der Preisentwicklung in den Berichtsjahren 2011 und 2012 (Sp. 6 u. 7) lassen sich der jeweilige Verbraucherpreisindex und die Inflationsentwicklung berechnen. Produkt (x i 0 ) Menge 2 01 0 (q i 0 ) Preis 20 10 in € (p i 0 ) Konsumausgab en in € (q i ·p i ) Wägungsschema (q i ·p i )/ (∑q·p) Preis 2011 in € (pit) Preis 2012 in € Overall 7 50 350 0,35 (35 %) 60 65 Moped 0,1 500 50 0,05 (5 %) 490 500 Obstkorb 100 5 500 0,5 (50 %) 5,29 3 Energiedienstleistung 40 2,5 100 0,1 (10 %) 2,75 2 Der Preisindex für das Berichtsjahr (t) 2010 beträgt 100, da die Summe im Zähler und im Nenner (45,25 EUR) übereinstimmen, weil 2010 zugleich das Basisjahr (0) ist. LPI 2010 = (∑q i 0 ·p i t / ∑q i 0 ·p i 0 )·100 = (45,25/ 45,25) )·100 = 100 Für die Berichtsjahre 2011 und 2012 ergibt sich im Zähler eine Summe von 48,42 EUR bzw. von 49,45 EUR. Die Preisindexe 2011 und 2010 betragen somit: LPI 2011 = (48,42/ 45,25) · 100 = 107,0 LPI 2012 = (49,45/ 45,25) · 100 = 109,3 Inflationsrate 2012 = LPI 2012 - LPI 2011 / LPI 2011 = 2,3/ 107 = 0,0215 Der VPI ist zwischen 2010 und 2011 um 7 % gestiegen. Zwischen 2010 und 2012 betrug der Anstieg 9,3 %. Die jährliche Inflationsrate lag 2011 bei 7 % und 2012 bei ca. 2,15 %. Die von den Medien verbreitete und in der Öffentlichkeit sowie der Tagespolitik wahrgenommene Inflationsrate bezieht sich anders als in dem Beispiel Hochlands höchst selten auf den Durchschnitt zweier Kalenderjahre. Meist ist dort die Änderungsrate des Monatsdurchschnitts gegenüber dem durchschnittlichen Verbraucher- <?page no="170"?> Zielerreichungsindikatoren 171 preisindex des Vorjahresmonats angegeben. Zu dieser Rate gelangt man, wenn man die mo na tlichen Preisin dex e auf der B asis des re pr äsenta tiven W ar enkor b s de s Basi sja h r es (t=0) berechnet. Angenommen, im Januar 2014 betrug der VPI 1,10 und im Januar 2015 betrug er 1,21. Dann würde im Februar 2015 veröffentlicht, dass die Inflationsrate im Januar bei 10 % liegt.  Beispiel 18: Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) Der HVPI ist ein Preisindex, der EU-weit einheitlich berechnet wird, Ländervergleiche erlaubt und sich länderübergreifend aggregieren lässt. Z.B. orientiert sich die EZB an der Entwicklung eines HVPI für den gesamten Euroraum. Der dem deutschen HVPI zugrundeliegende Güterkorb ist dem des VPI recht ähnlich (ohne selbst genutztes Wohneigentum und Glücksspiele). Aufgrund methodischer Unterschiede bei der Berechnung und Aktualisierung der Gewichte weichen die zwei Inflationsraten meistens voneinander ab. In der Regel beträgt der Unterschied nur 0,1 oder 0,2 %. Jedoch kamen auch schon Abweichungen von 0,5 % oder mehr vor. Quelle: S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2017. Hedonische Preise 21.2.3 Ein Unterschied zu dem Rechenbeispiel (Beispiel 17) ergibt sich in der Praxis der VGR daraus, dass das Statistische Bundesamt Qualitätsverbesserungen zu berücksichtigen versucht. Wenn nämlich ein Produkt deutlich verbessert wird, dann wäre es irreführend, wenn ein Preisanstieg eins zu eins in den VPI übernommen würde. Wenn z.B. ein Kühlschrank mit einem Fassungsvermögen von 140 Litern aus dem Jahr 2010 ca. 120 kWh an Strom pro Jahr benötigt, aber der „gleiche“ Kühlschrank aus dem Jahr 2014 nur 60 kWh benötigt, dann vollbringt der verbesserte Kühlschrank die gleiche Leistung für deutlich geringere Stromkosten (ca. 17 statt 34 EUR p.a.). Ein anderes anschauliches und daher in vielen Lehrbüchern zitiertes Beispiel sind Computer. Die Leistungsfähigkeit von Rechnern - etwa die Taktfrequenzen (gemessen in Gigahertz) oder die Zahl der Prozessorkerne - steigt in Zeitabständen, die deutlich kleiner als die Abstände zwischen den Aktualisierungen des Wägungsschemas sind. Wenn aber der deutlich leistungsstärkere Rechner um 10 % teurer als das ältere Modell ist, kann genau genommen nicht von einer 10 %-igen Preissteigerung des älteren Modells gesprochen werden. Zur Berücksichtigung qualitativer Verbesserungen wird bei der Ermittlung der Preissteigerungsrate auf hedonische Verfahren zurückgegriffen. Diese versuchen, den Preis für einzelne Produkte um Qualitätseffekte zu bereinigen. Ein Beispiel für nur eines von mehreren Verfahren der hedonischen Preisbereinigung findet sich in Beispiel 19. Es erklärt sich geradezu von selbst, dass es keinen Königsweg zur Herausrechnung qualitativ bedingter Preissteigerungen gibt. Dies liegt in der Natur des Problems. Würde man jedoch keinerlei hedonische Verfahren anwenden, wäre der ermittelte VPI im Zeitablauf vermutlich noch ungenauer. Kritiker der hedonischen Methoden <?page no="171"?> 172 Leitbild und Ziele weisen jedoch darauf hin, dass nur Qualitätsverbesserungen, nicht aber Qualitätsverschlech terung en b er üc ks ichtigt werd en .  Beispiel 19: Beispiel für eine Methode der Qualitätsbereinigung Was tun, wenn „[…] sich Produkte häufig ändern und die Güter des Warenkorbes in ihrer anfänglichen Form am Markt nicht mehr erhältlich sind - wenn also für die ursprünglichen Güter keine Preise mehr beobachtet werden können. In solchen Fällen wird in der amtlichen Statistik eine Qualitätsbereinigung vorgenommen. Diese zielt in der Regel darauf ab, den Geldwert der veränderten Güterqualität bei der Preismessung zu berücksichtigen. Ein typisches Beispiel ist die Klimaanlage beim Pkw: Wenn ab einem bestimmten Zeitraum in einem Pkw- Modell die Klimaanlage zur serienmäßigen Ausstattung gehört - also im Preis inbegriffen ist -, dann versucht man, den Wert eines solchen zusätzlichen Ausstattungsmerkmals zu bestimmen. Ein Teil dieses Wertes wird dann vom Verkaufspreis des Pkw abgezogen, um den Vergleich zum Vormonat herstellen zu können, in dem die Klimaanlage noch nicht zur Serienausstattung gehörte.“ Quelle: L INZ und E CKERT , 2002, S. 859. Ein weiteres Problem ergibt sich bei der Berechnung des Preisindex daraus, dass es Produkte gibt, die innerhalb kürzester Zeit Eingang in die Konsumgewohnheiten finden. Diese sind unter Umständen im repräsentativen Warenkorb gar nicht enthalten. Ein Beispiel hierfür sind E-Zigaretten, die erst 2013 in das „Systematische Verzeichnis der Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte“ aufgenommen wurden, was die Voraussetzung für eine Berücksichtigung im HVPI ist. Da der Warenkorb in Deutschland alle fünf Jahre aktualisiert wird, hält sich dieses Problem allerdings in engen Grenzen. Kerninflationsrate 21.3 Unter der Kerninflationsrate wird in der wissenschaftlichen Literatur häufig die Inflationsrate nach Eliminierung sehr kurzfristiger Preisschwankungen und ohne Berücksichtigung administrativer Preise verstanden. Administrative Preise sind staatlich stark regulierte oder politisch festgelegte Preise. Sie sind somit nicht primär durch den Angebot-Nachfrage-Mechanismus bestimmt. Beispiele für administrative Preise sind Passgebühren und die Versicherungsbeiträge der gesetzlichen Sozialversicherungen. Solche Preise gehen ohnehin nicht in den VPI ein, da im zugrundeliegenden Warenkorb im Wesentlichen nur Ausgaben enthalten sind, die auf freiwillige Kaufentscheidungen zurückgehen. Zu den administrativen Preisen zählen jedoch auch solche wie die Tarife im öffentlichen Personennahverkehr oder die Preise für Karten des Staatstheaters, die ebenfalls nur sehr bedingt dem Marktmechanismus unterliegen. Sie sind jedoch im VPI enthalten. Die beschriebene Kerninflationsrate hat gegenüber der gängigen - am gesamten VPI bemessenen - Inflationsrate verschiedene Vorteile: <?page no="172"?> Zielerreichungsindikatoren 173 [1] Kurzfristige, temporäre Einzelpreisschwankungen können bei nennenswertem Ge wicht des je weil igen G ü ter pr eises am Pr eisin dex z u ein er kur zf r istig ve rgl eich sweise stark schwankenden Inflationsrate führen. Würde die Wirtschaftspolitik darauf unentwegt reagieren, müsste sie unentwegt ad hoc, d.h. spontan, handeln, wodurch sie weniger vorhersehbar würde. Dies wäre nicht nur aufwendig, sondern würde letztlich die Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik reduzieren und damit die Planungssicherheit in der Volkswirtschaft senken, welcher eine Stabilisierung des Preisniveaus eigentlich dienen soll. [2] Vorübergehende kurzfristige Preisschwankungen sind teils witterungsbedingt. Ein prominentes Beispiel sind Nahrungsmittelpreise, die angebotsbedingt - durch Rekord- oder Missernten - nach unten bzw. nach oben stark ausschlagen. Aber auch die Preise anderer Güter können von der Witterung abhängen. Dies ist z.B. der Fall bei den Preisen für Surf- oder Skiunterricht, Eiscreme oder Heizlüfter, Heizöl und -gas. Die Preise für Öl, Gas und andere Rohstoffe können auch stark schwanken, weil sie weniger von den inländischen Angebots- und Nachfragebedingungen geprägt sind, sondern von Weltmarktbedingungen einschließlich spekulativer Einflüsse und politischen Entwicklungen abhängen. All diesen exogen bedingten Preisschwankungen Herr werden zu wollen, wäre zum einen wirtschaftspolitisch äußerst ehrgeizig. Zum anderen würde es der Volkswirtschaft einige wenig dienliche Anpassungsbürden auferlegen, wenn erzwungen würde, dass exogen hervorgerufene Preissteigerungen (oder -minderungen) durch endogene Preissenkungen (bzw. -steigerungen) bei weniger schwankungsanfälligen Produkten ausgeglichen würden. [3] Das Ziel der Preisniveaustabilität umfasst, dass keine Deflationsproblematik auftritt. Damit sind die negativen Wirkungen sinkender Preise auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und Produktion gemeint. Ein Problem flächendeckend sinkender Preise ist der sog. Attentismus (→ Kap. 20.7.3). Das Phänomen des Attentismus tritt jedoch naturgemäß bei den meisten der ohnehin stark schwankenden Güterpreise - etwa Energie und Nahrungsmittel - kaum auf. Die Nachfrage nach Energie (z.B. für Transport, Heizen und Strom) wird nur geringfügig in die Zukunft verschoben, wenn die Energiepreise sinken. Gleiches gilt für Lebensmittel, da sich die erforderliche tägliche Kalorienaufnahme kaum in die Zukunft verschieben lässt. Ähnliches gilt für administrative oder staatlich reglementierte Preise, die im Wesentlichen konjunkturabhängig sind. Das beschriebene Konzept der Kerninflation ist in analytischer Hinsicht vergleichsweise differenziert und ihre Ermittlung ist recht komplex. In der wirtschafts- und speziell der geldpolitischen Praxis hat sich eine demgegenüber einfache Definition der Kerninflationsrate durchgesetzt. Als Kerninflationsrate wird in der Praxis meistens die prozentuale Veränderung des Verbraucherpreisindex abzüglich Energie und Nahrungsmittel verstanden. BIP-Deflator 21.4 Der BIP-Deflator unterscheidet sich vom Verbraucherpreisindex (VPI) sowohl inhaltlich als auch methodisch. Der „Warenkorb“ besteht nicht aus den Konsumgütermengen eines repräsentativen Haushalts, sondern entspricht dem gesamten BIP einer <?page no="173"?> 174 Leitbild und Ziele Volkswirtschaft. Neben den Konsumgütern gehen auch Investitions- und Exportgüter sowi e der S taa tskon sum mit e in und impo r tier te Vo rl eistun gen werden a bg ezo gen. In methodischer Hinsicht ist der BIP-Deflator ein impliziter Preisindex. Ein impliziter Preisindex ist eine mittelbar gewonnene Größe, die aus der Division der nominalen Größe (jeweilige Mengen mal jeweilige Preise) durch einen zuvor berechneten Mengenindex hervorgeht. In → Kap. 15.2 wurde im Zusammenhang dem Wirtschaftswachstum geschildert, dass es zu dessen Berechnung der Zerlegung des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in eine Mengen- und eine Preiskomponente bedarf. Der BIP-Deflator ist nichts anderes als die Preiskomponente. In den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) wird somit der BIP-Deflator aus dem nominalen und dem realen BIP gewonnen. BIP‐Deflator = ⋅ 100 Z.B. betrug das nominale BIP in den Jahren 2013 und 2014 in Deutschland 2.820 Mrd. EUR und 2.915 Mrd. Das preisbereinigte BIP betrug jeweils 2.693 Mrd. EUR und 2.736 Mrd. EUR. Daraus ergibt sich für 2013 ein BIP-Deflator von ca. 104,7 und für 2014 ein Deflator von 106,5. Die Inflationsrate entspricht dann der prozentualen Veränderung des BIP-Deflators: Inflationsrate (BIP) in Prozent = , , , ⋅ 100 1,72 % Je nachdem, welches Verfahren zur Ermittlung der Mengenkomponente, also des preisbereinigten BIP verwendet wird, variiert der berechnete Deflator und entsprechend auch die Inflationsrate. Die in der Rechnung verwendeten Angaben für das preisbereinigte BIP entstammen den deutschen VGR und sind gemäß den Richtlinien der EU vom S TATISTISCHEN B UNDESAMT mithilfe eines verketteten Laspeyres- Mengenindex auf Vorjahrespreisbasis errechnet worden (→ Kap.15.2). Der BIP-Deflator gibt Auskunft über die Entwicklung des Durchschnittspreises der in einer Volkswirtschaft hergestellten Endprodukte. Damit unterscheidet er sich inhaltlich von dem VPI, der nur einen Teil der Güter - nämlich die im Inland in nennenswertem Maße verbrauchten Konsumgüter - berücksichtigt. Daher spricht vieles dafür, den Deflator in der empirischen Wirtschaftsforschung zu bevorzugen, wenn die monetäre Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft betrachtet wird und weniger das Verhalten privater Haushalte im Mittelpunkt steht. Allerdings hat der BIP-Deflator zwei Eigenschaften, die ihn als Inflationsmesser auch weniger geeignet erscheinen lassen. Zum einen enthält er den sog. Staatskonsum, also die produzierten Güter, die der Staat unentgeltlich zur Verfügung stellt. Die hierfür angesetzten Preise sind im Wesentlichen Kostenpreise und spiegeln preistreibende Effekte durch eine steigende gesamtwirtschaftliche Nachfrage (Nachfrageinflation) unzureichend wider. Zum anderen werden importgetriebene Preisänderungen durch den BIP-Deflator nicht zufriedenstellend abgebildet, da der BIP-Deflator grundsätzlich nur die Preisänderungen der im Inland stattgefundenen Bruttowertschöpfung darzustellen versucht. Das BIP ergibt sich bekanntlich dadurch, dass der Importwert von <?page no="174"?> Zielerreichungsindikatoren 175 dem zu Marktpreisen bewerteten Produktionswert (=BIP) abgezogen wird (→ Kap. 3.2 .1 ). D as h at z ur F olg e, da ss der B IP-D efla to r s in kt, w en n d i e Im p o r tp re ise c .p. steigen und steigt, wenn die Importpreise c.p. sinken. In der Praxis sind die Preise vieler inländischer Güter jedoch nicht unabhängig von den Preisen importierter Vorleistungen und konkurrierender Importendprodukte. Daher hängt die Reaktion des Deflators davon ab, ob die Importpreise oder die Preise für inländische Endprodukte stärker steigen bzw. sinken. Fazit zu den Indikatoren der Preisniveaustabilität 21.5 Orientierung an den Verbraucherpreisen 21.5.1 Alle drei vorgestellten Inflationsraten haben Vor- und Nachteile. Diese hängen nicht zuletzt mit dem Blickwinkel zusammen, unter dem das Ziel der Preisniveaustabilität betrachtet wird. Die Wirtschaftspolitik und die im besonderen Maße zuständige Geldpolitik orientieren sich in der Regel an der prozentualen Veränderungsrate des Verbraucherpreisindex. Dafür spricht, dass der VPI die Kostensituation der Haushalte relativ gut widerspiegelt, wenn auch nicht umfassend (es fehlen z.B. Zwangsabgaben und Zinszahlungen). Da der Mensch in seiner vordersten ökonomischen Rolle privater Haushalt bzw. Haushaltsmitglied ist, gilt die anhand der VPI-Änderung gemessene Inflationsrate als bedeutsamere Einflussgröße für das Gefühl wirtschaftlicher (Un-)Sicherheit und das private Konsum- und Sparverhalten als z.B. der umfassendere BIP-Deflator. Außerdem wird argumentiert, dass der Endzweck des Wirtschaftens letztlich der (materielle) Wohlstand der Menschen ist, der in den Wirtschaftswissenschaften oft mit dem Konsum pro Kopf gleichgesetzt wird. Somit liegt es nahe, die Kaufkraft des Geldes an den Konsumentenpreisen zu messen. Zur Einschätzung der Preisniveaustabilität und vor allem der konjunkturellen Lage ist es sinnvoll, zusätzlich zum VPI das Verhalten des BIP-Deflators zu berücksichtigen. Außerdem empfiehlt es sich, die Preisentwicklung verschiedener Güterkategorien für eine Diagnose der gesamtwirtschaftlichen Lage einzubeziehen. Zumindest sollte geprüft werden, inwieweit eine Preisniveauinstabilität auf Energie- und Nahrungsmittelpreise zurückzuführen ist. Es sollte mit anderen Worten auch die Kerninflationsrate betrachtet werden. Dies gilt insbesondere, wenn es darum geht, das Risiko einer Deflation und speziell des Attentismus einzuschätzen. Je nachdem können noch weitere gesamtwirtschaftliche Preisindexe von makroökonomischem Interesse sein. Die amtliche Statistik hält Informationen über eine Fülle von Preisindexen bereit. Dazu zählen u.a.  Erzeuger-/ Produzentenpreisindexe für gewerbliche Produkte (nochmals unterteilt z.B. in Investitionsgüter und Vorleistungen, Ge- und Verbrauchsgüter) und für Dienstleistungen (nochmals unterteilt nach Branchen),  Groß- und Einzelhandelspreisindexe (nochmals unterteilt),  Erzeugerpreisindexe für Land- und Forstwirtschaft,  Baupreis- und Immobilienpreisindexe,  Import- und Exportpreisindexe. <?page no="175"?> 176 Leitbild und Ziele Dabei ist zu beachten, dass die Logik der Bezeichnung eine andere als beim VPI ist, denn z .B. mit dem Er zeugerp reisind ex ist e in I ndex f ü r di e P re ise gemein t, den d er Erzeuger erhält (und nicht die, die er bezahlt).  Multiple-Choice-Aufgabe 10: Verständnisüberprüfung: Preisindexe Kreuzen Sie die drei zutreffenden Antworten an.  Der VPI enthält keine importierten Güter.  Das Statistische Bundesamt berechnet den Verbraucherpreisindex mit Hilfe des L ASPEYERES -Verfahrens.  Die EZB strebt eine Kerninflationsrate nahe, aber unter 2 % an.  Ein negativer Produzentenpreisindex impliziert, dass die Unternehmensgewinne in der Volkswirtschaft sinken.  Wenn die Inlandswährung aufwertet, sinkt c.p. der VPI.  Wenn die Inlandswährung abwertet, steigt c.p. der BIP-Deflator. Entwicklung der Inflationsindikatoren im Vergleich 21.5.2 Die → Abb. 21.2 gibt einen Überblick über die jährliche Entwicklung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), der Kerninflationsrate (HVPI ohne Energie/ Nahrungsmittel) und des BIP-Deflators in Deutschland. In den 20 Jahren ist der HVPI um ca. 33 % (ohne Energie/ Nahrungsmittel um ca. 24 %) und der BIP-Deflator um ca. 23 % gestiegen. Die Abbildungen machen deutlich, dass sich die Veränderungsraten in aller Regel unterscheiden, was wenig überrascht. Allerdings entwickelten sich die jährlichen Änderungsraten von HVPI und Deflator gelegentlich auch in verschiedene Richtungen und dies über mehr als eine Periode hinweg. Dabei fällt auf, dass dies auf Phasen beschränkt ist, in denen die Verbraucherpreisinflation sank (sog. Disinflation). Die Jahre 2012-2015 sind hierfür ein Beispiel: Der Anstieg der durchschnittlichen Verbraucherpreise sank kontinuierlich und betrug 2015 wenig mehr als 0,1 %, während der BIP- Deflator zunehmend stärker stieg (außer 2014) und 2015 über 2 % betrug. Dieser Befund erklärt sich zum Teil durch die parallelen Preissenkungen für importierte Energieträger. Das zeigt sich auch daran, dass sich der BIP-Deflator und die Kerninflation fast ausnahmslos gleichgerichtet entwickelten; die wenigen Abweichungen (2004 u. 2013) blieben auf ein Jahr beschränkt. Der Vergleich der Daten für die letzten 20 Jahre bekräftigt den oben gezogenen Schluss, dass es vor allem zur Einschätzung eines Deflationsrisikos sinnvoll ist, neben dem VPI auch andere Inflationsindikatoren zu berücksichtigen. <?page no="176"?> Zielerreichungsindikatoren 177 Quelle: OECD, 2016a (eigene Berechnungen ). Abb. 21.2: Vergleichende Darstellung unterschiedlicher Inflationsraten (Jahresdurchschnitt in %) in Deutschland: 1996-2015 -0,5 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 HVPI BIP-Deflator -0,5 0 0,5 1 1,5 2 2,5 BIP-Deflator HVPI ohne Nahrungsmittel/ Energie 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 HVPI ohne Nahrungsmittel/ Energie HVPI <?page no="177"?> 178 Leitbild und Ziele  Aufgabe 14: Überlegen Sie! Wie hoch schätzen Sie auf der Basis der → Abb. 21.2 die Gefahr des Attentismus als Ausgangspunkt für eine Deflationsspirale in Deutschland in den Jahren 2013- 2015 ein? Begründen Sie Ihre Antwort und gehen Sie auch darauf ein, welche zusätzlichen Daten hilfreich wären, um eine fundierte Einschätzung des Risikos einer Deflationsspirale abgeben zu können. 22 Bestimmung des Inflationsziels Fristigkeit und Korridor 22.1 Das Ziel der Preisniveaustabilität läuft auf eine positive und zugleich stabile Inflationsrate hinaus. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die Geldpolitik alles daran setzen soll, jegliche Schwankungen der Inflationsrate zu verhindern. Eine Geldpolitik, die auf kurzfristige Preisschwankungen reagiert, wäre nämlich ebenso mit erheblichen Nachteilen verbunden wie eine Geldpolitik, die alles daran setzt, ein Punktziel zu erreichen. Würde die Zentralbank eine auch kurzfristig stabile Inflationsrate durchsetzen wollen, wäre sie gezwungen, auf jede nennenswerte Abweichung mit Maßnahmen zu reagieren. Damit käme zum einen Unruhe in die Märkte. Zum anderen wirken geldpolitische Maßnahmen nur mit Zeitverzögerungen auf das Preisniveau. Es kommt vor, dass Maßnahmen zur kurzfristigen Inflationsstabilisierung die Volatilität (Stärke und Häufigkeit der Schwankungen) der Inflationsrate sogar erhöhen. Es sei z.B. angenommen, dass die Inflationsrate aufgrund eines vorübergehenden Preisverfalls elementarer Rohstoffe kurzfristig unter die Zielmarke sinkt. Würde die Zentralbank nun eine expansive geldpolitische Maßnahme zur Erhöhung der Inflationsrate implementieren, kann es sein, dass diese erst dann greift, wenn sich die Rohstoffpreise wieder erholt haben. Im Ergebnis wäre dann die ergriffene geldpolitische Maßnahme die Ursache für das in Folge auftretende Überschreiten des Inflationsziels. Dies alles spricht dafür, keine kurz-, sondern eine mittelfristige Inflationsstabilität anzustreben. Dabei ist es angezeigt, auch mittelfristig keine präzise Erreichung einer konkreten Inflationsrate erreichen zu wollen, sondern eine gewisse Schwankungsbreite zu tolerieren. Dies kann die Form eines expliziten Zielkorridors - einem Inflationsband (inflation band) - annehmen, wie es z.B. die Zentralbanken von Neuseeland und Südafrika mit 1-3 % bzw. 3-6 % angeben. Dies kann auch implizit dadurch erfolgen, dass die Zentralbank deutlich macht, dass sie bei leichten mittelfristigen Zielabweichungen keinen Handlungsbedarf sieht. Durch diese Flexibilität lässt sich die Häufigkeit geldpolitischer Änderungen und damit Unruhe auf den gesamtwirtschaftlichen Märkten verringern. Zudem spricht gegen ein starres Punktziel, dass die Geldpolitik in der Praxis ohnehin nicht in der Lage ist, das Preisniveau exakt zu steuern. Ein - wenngleich sehr umstrittenes - weiteres Argument für ein relativ breites explizites oder implizites Inflationsband lautet, dass die Zentralbank damit mehr Spielraum für konjunkturpolitische Maßnahmen hat. Dieses Argument wird auch angeführt, um <?page no="178"?> Bestimmung des Inflationsziels 179 für eine längere Fristigkeit des Inflationsziels zu plädieren. Wenn es Aufgabe der Zentralbank ist, „nur“ für langfristige Inflationsstabilität zu sorgen, kann sie Maßnahmen zur Ankurbelung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage auch dann ergreifen, wenn dies mit einem mittelfristigen Anstieg der Inflationsrate über den Zielwert hinaus erkauft wird (→ Kap. 31.1)  Wissensbox 17 Die E UROPÄISCHE Z ENTRALBANK (EZB) toleriert kurzfristige und in geringerem Umfang auch mittelfristige Abweichungen von ihrem 2-%-Ziel. Sie zielt darauf „mittelfristig eine Preissteigerungsrate von unter, aber nahe 2 % beizubehalten.“ (EZB, 2003, S. 10). Zu niedrige und zu hohe Inflation 22.2 Es klang bereits an, dass in der Makroökonomie kein Konsens darüber besteht, bei welcher konkreten Inflationsrate (bzw. Inflationsband) das beste Maß an Preisniveaustabilität herrscht. Es ist jedoch möglich, sich den in Frage kommenden Zielwerten anzunähern, indem jene Inflationsraten identifiziert werden, die unbestritten nicht mit dem Ziel der Preisniveaustabilität kompatibel sind:  Untergrenze: Unter welchem Wert ist die Inflationsrate eindeutig zu niedrig? Anders ausgedrückt: Wie viel sollte der Abstand zur Nullinflation mindestens betragen?  Obergrenze: Ab welchem Wert ist die Inflationsrate so hoch, dass die Nachteile der Inflation (z.B. Planungsunsicherheit, Umverteilungswirkungen) ihre Vorteile (z.B. Schmiermittelfunktion, ausreichender Sicherheitsabstand zur Deflation) eindeutig übersteigen? Untergrenze 22.2.1 Es liegt aus den geschilderten Gründen (→ Kap. 20.7) nahe, dass eine Kerninflationsrate unter 1 % letztlich kein sinnvolles stabilitätspolitisches Ziel darstellt. Das gilt im Allgemeinen auch für die allgemeine Inflationsrate, also den 12-Monats-Anstieg des VPI. Dass dies zumindest in der wirtschaftspolitischen Praxis einhellig so gesehen wird, zeigt sich auch daran, dass es keinen Staat bzw. fast keine Zentralbank gibt, die eine Inflationsrate unter 1 % anstrebt (→ Beispiel 20).   Beispiel 20: Warum Inflationsraten nahe 0 % zielkonform sein könn(t)en Die S CHWEIZERISCHE N ATIONALBANK (SNB) setzt eine Inflationsrate von „unter 2 %“ mit Preisniveaustabilität gleich. Damit ist die Schweiz mittlerweile das einzige Land, in dem zumindest formal betrachtet, eine Inflationsrate nahe Null implizit als Preisniveaustabilität erachtet wird. <?page no="179"?> 180 Leitbild und Ziele Dies mag auf den ersten Blick der Aussage widersprechen, dass „kein Staat eine Inflationsrate unter 1 % anstrebt.“ Bei näherer Betrachtung der Ausführungen der SNB wird indes deutlich, dass auch sie eine mittelbis langfristige Preissteigerungsrate von knapp 2 % anstrebt. Vor allem aber will sie den impliziten Zielkorridor von 0 bis 2 % kontextabhängig verstanden wissen: Eine sehr niedrige oder sogar negative Inflationsrate wird letztlich dann hingenommen, wenn sie primär durch exogene Faktoren bedingt ist und als vorübergehend erscheint. Ist eine negative Inflation etwa durch temporär sinkende Energie- und Importpreise bedingt, und ist das Wirtschaftswachstum zugleich angemessen, dann sieht die SNB eher keinen Handlungsbedarf. Dies war z.B. in der zweiten Jahreshälfte 2015 der Fall. Die Äußerungen der D EUTSCHEN B UNDESBANK und ihres Präsidenten in den Jahren 2015 u. 2016 vermitteln einen ähnlichen Eindruck, wenn sie bei sehr niedrigen und teilweise negativen Inflationsraten im Euroraum keinen besonderen geldpolitischen Handlungsbedarf sahen. Hierfür wären vor allem niedrige Energiepreise ursächlich und auch die Entwicklung der Konjunkturindikatoren gäbe keinen Hinweis auf eine Deflationsproblematik. Demgegenüber reagierte die EZB auf die Inflationsentwicklung mit weiteren expansiven Maßnahmen zur Bekämpfung der ihrer Meinung nach drohenden Deflation. Der EZB-Präsident M ARIO D RAGHI betonte wiederholt, dass „1 % nicht nahe 2 %“ ist. Obergrenze 22.2.2 Auf die zweite Frage nach dem Wert für die mittelfristige Inflationsrate, ab der definitiv nicht (mehr) von Preisniveaustabilität gesprochen werden kann, gibt es keine einfache Antwort. Die Entwicklungen in den heutigen OECD-Staaten während der letzten 50 Jahre lassen zwar den Schluss zu, dass zweistellige Inflationsraten fast immer mit wirtschaftlichen Verwerfungen verbunden sind. Ob allerdings z.B. 6 % noch akzeptabel sind, bedarf der Differenzierung. So spielt etwa die Dynamik der Volkswirtschaft eine wichtige Rolle. Im Prinzip gilt, dass in stark wachsenden und sich strukturell schnell verändernden Volkswirtschaften eine höhere Inflationsrate als in wirtschaftlich bereits sehr weit entwickelten Volkswirtschaften hilfreich und akzeptabel ist. Das liegt u.a. daran, dass schnell wachsende Volkswirtschaften durch eine gleichzeitig stark steigende Güternachfrage gekennzeichnet sind und der Schmiermittelfunktion von Inflation (→ Kap. 20.7.2) eine besondere Bedeutung zukommt. Jedoch spielt zugleich die Produktivitätsentwicklung eine Rolle. Verzeichnet eine Volkswirtschaft hohe Produktivitätsfortschritte, verliert die Schmiermittelfunktion der Inflation auch in schnell wachsenden Volkswirtschaften an Bedeutung. Die notwendige Inflation ist dann entsprechend niedriger. Das rührt daher, dass der Anpassungsprozess an sich ändernde Preisrelationen reibungsloser verläuft, wenn die Lohnstückkosten produktivitätsbedingt sinken und damit der Bedarf an Lohnsenkungen oder -zurückhaltung in schrumpfenden bzw. langsamer wachsenden Branchen geringer ist. Des Weiteren ist für die noch akzeptable Inflationsrate relevant, wie hoch die Inflationsrate in den Ländern ist, mit der eine Volkswirtschaft ökonomisch verflochten ist. Denn zum einen ist die negative Inflationswirkung in Form von einem Ausweichen auf <?page no="180"?> Bestimmung des Inflationsziels 181 ausländische Währungen (Kapitalflucht) desto größer, je höher die Inflationsdifferenz zum Ausland ist. Zum anderen droht ein destabilisierender Abwertungstrend der inländischen Währung (→ Kap. 27.3), wenn das nationale Preisniveau relativ schnell steigt und sich damit immer weiter von den Preisniveaus der Handelspartnerländer wegbewegt.  Beispiel 21: Wandel der Inflationsziele Chinas Die Anfänge der Transformation der chinesischen Zentralverwaltungswirtschaft gehen in die 1980er-Jahre zurück. Die schrittweise Freigabe der bis dato staatlich festgelegten Preise und die ungezügelte Kreditvergabepolitik der staatlichen Banken führten bei einer durchschnittlichen Wachstumsrate des BIP über 10 % ab Mitte der 1980er Jahre zu relativ hohen Inflationsraten von bis zu 18 % in den Jahren 1988/ 89 und von 24 % im Jahr 1994. Nachdem die Preisliberalisierung gegen Mitte der 1990er Jahre im Wesentlichen abgeschlossen war und die Kreditvergabe u.a. durch eine Reform des Bankensektors eingehegt wurde, senkte Chinas Regierung ihr zweistelliges Inflationsziel auf 5 % für das Jahr 1998. Inzwischen strebt die Zentralbank (P EOPLE ’ S B ANK OF C HINA , PBC) seit nunmehr rund 15 Jahren eine Inflationsrate von - je nach gesamtwirtschaftlicher Lage und geldpolitischer Strategie - um die 3 % oder 4 % an. Tatsächlich lag die Inflationsrate seither fast immer unter 3 %. Mehrfach lag sie sogar deutlich darunter, und zwar auch schon vor dem Wachstumseinbruch ab 2012. Solch eine niedrige Inflation ist bei einem Durchschnittswachstum von nahe 10 % (1998-2011) selten. Die relativ reibungslose Koexistenz von niedriger Inflation und hohem Wirtschaftswachstum kann zum Großteil auf die erhebliche Produktivitätsentwicklung der chinesischen Volkswirtschaft (einschließlich der Umstrukturierung und auch Schließung staatlicher Unternehmen) und eine deutliche Intensivierung des Preiswettbewerbs (mitbedingt durch eine außenwirtschaftliche Öffnung) zurückgeführt werden. Datenquelle: IMF, 2017. Alles in allem hängt die maximal akzeptable Inflationsrate von einer Fülle von Faktoren ab. Dies gilt auch für die Schwankungshöhe, die als noch hinnehmbar bezeichnet werden kann. Außer den erwähnten Aspekten, wird auch die Inflationsmentalität der Bevölkerung als Einflussfaktor genannt. Diese wird u.a. von dem Sicherheitsbedürfnis und der damit zusammenhängenden langfristigen Sparneigung der Bevölkerung beeinflusst. Es spielen auch die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Menschen, mit Unsicherheiten umzugehen, eine Rolle: So sind die Kosten hoher und schwankender Inflation in Volkswirtschaften mit einem gut funktionierenden System von Instrumenten zur Absicherung von Inflationsrisiken geringer als in den übrigen Ländern. Des Weiteren ist die Inflationsmentalität der Bevölkerung auch von historischen Erfahrungen geprägt. Z.B. wird die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg, die 1923 in den Zusammenbruch der deutschen Volkswirtschaft mündete, noch heute als ein Grund dafür genannt, dass die Deutschen als sehr inflationsavers gelten. Die Inflationsraten <?page no="181"?> 182 Leitbild und Ziele der jüngeren Vergangenheit haben aber höchstwahrscheinlich größeren Einfluss auf da s vo n d er B evö lk er un g ak z ep tie rte I nfl at io n sn iv ea u. → A bb. 22 .1 m acht d eu tl ich , dass die Inflationsrate in den Industrieländern im Laufe der vergangenen 30 Jahren deutlich gesunken ist. Dadurch dürfte auch das Inflationsniveau gesunken sein, das die meisten Menschen in Industrieländern als „noch in Ordnung“ einstufen. Quelle: OECD, 2016a. Abb. 22.1: Jährliche Inflationsraten in der OECD (auf Basis des VPI in %): 1983-2015 Die langfristige Tendenz hin zu niedrigeren Inflationsraten ist übrigens noch offensichtlicher in Entwicklungs- und Schwellenländern (→ Tab. 22.1). Waren Durchschnittsraten von über 10 % in den 1980/ 90er Jahren durchaus die Regel, so sind sie mittlerweile die absolute Ausnahme. 1983 1987 1991 1995 1999 2004 2008 2012 2015 Entwicklungs- und Schwellenländer (EL u.SL) 29,4 39,4 43,9 38,9 13,1 5,9 9,2 5,8 4,7 Asiatische EL u. SL 8,6 10,4 9,7 12,1 3,3 4,2 7,6 4,6 2,7 ASEAN-5* 9,9 15,7 12,4 8,0 10,5 4,7 9,1 3,8 3,3 Europäische EL u. SL 17,1 20,2 87,7 50,9 32,3 6,9 8,0 5,9 2,9 Lateinamerikanische EL u. SL 95,0 139,5 145,7 41,5 9,6 6,1 6,4 4,6 5,5 *Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand Quelle: IWF, 2016. Tab. 22.1: Jährliche Inflationsraten (auf Basis des VPI in %) in Entwicklungs- und Schwellenländern -0,5 0,5 1,5 2,5 3,5 4,5 5,5 6,5 7,5 8,5 9,5 10,5 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Deutschland OECD USA Frankreich <?page no="182"?> Bestimmung des Inflationsziels 183 Kurz und vereinfacht: In langsam wachsenden und wirtschaftlich weit entwickelten V olk swi rt sc ha ft en w ie D eut sch la nd e rs ch ei nt d er ze it e in e mi tte lf r is ti ge I n fl ati on srate unter 1 und über 4 % als inkompatibel mit dem Ziel der Preisniveaustabilität.   Hinweis Die Mehrheit der deutschen Ökonomen würde vehement widersprechen, dass eine Inflationsrate über 3 % in wirtschaftlich weit entwickelten Ländern anstrebenswert sein könnte.  Was meinen Sie? Welche Inflationsrate oder welches Inflationsband erachten Sie für den Euroraum als optimal? Würde sich Ihre Antwort ändern, wenn Sie allein Deutschland betrachten und es noch die Deutsche Mark gäbe? Beiträge grundlegender Geld- und Inflationstheorien zur 22.3 Zielwertbestimmung Geldpolitik: Begriff, Aufgaben und Instrumente 22.3.1 Für das grundsätzliche Verständnis der unterschiedlichen Theorien einer optimalen Inflationsrate ist es hilfreich, über ein gewisses geldpolitisches Basiswissen zu verfügen. Detaillierte Kenntnisse über die Praxis der Geldpolitik sind hierfür allerdings nicht notwendig. Daher sind die folgenden Erklärungen stark vereinfacht und gehen nur rudimentär auf die - in der Praxis vielfältigen - Instrumente der Geldpolitik ein. Unter Geldpolitik ist die Versorgung der Volkswirtschaft mit Geld zu verstehen. 22.3.1.1 Geldmenge Der Geldbestand in einer Volkswirtschaft wird als Geldmenge bezeichnet und umfasst alle für Transaktionen allgemein akzeptierten Zahlungsmittel, die sich in Händen inländischer Nichtbanken befinden. Die Geldmenge setzt sich aus Bargeld - als gesetzlichem Zahlungsmittel - und Buchgeld zusammen. <?page no="183"?> 184 Leitbild und Ziele  Wissensbox 18: Was ist das gesetzliche Zahlungsmittel? Der Staat hat die hoheitliche Aufgabe, den Zahlungsverkehr sicherzustellen. Dazu zählt, festzulegen, welches Geld als Zahlungsmittel nicht abgelehnt werden darf, sondern für das seitens des Gläubigers Annahmezwang besteht. Dieses Geld wird als gesetzliches Zahlungsmittel bezeichnet. Bargeld ist in fast allen Ländern der Welt das einzige gesetzliche Zahlungsmittel. Das gilt auch für den Euroraum. Das heißt, dass sich niemand weigern darf, Bargeld zur Bezahlung seiner Geldforderungen zu akzeptieren. Hingegen muss z.B. ein Betrieb nicht akzeptieren, wenn ein Kunde per Überweisung oder Kreditkarte bezahlen möchte. Es ist zwischen der unbeschränkten und beschränkten Annahmepflicht zu unterscheiden. Bei Münzen besteht generell nur eine beschränkte Annahmepflicht. In Deutschland ist diese z.B. auf 50 Münzen pro Transaktion und 200 EUR beschränkt. Für Notengeld (Geldscheine) gilt hingegen die unbeschränkte Annahmepflicht. Ausnahmen vom Annahmezwang sind grundsätzlich statthaft, wenn sie begründet und verhältnismäßig sind. Vor allem aber muss der potenzielle Vertragspartner hiervon vor Geschäftsabschluss hinreichend informiert werden. Beispiele sind Läden und Tankstellen, die aus Sicherheitsgründen keine 200- und 500- Euro-Scheine akzeptieren und darauf im Schaufenster bzw. an der Zapfsäule deutlich hinweisen. In jüngerer Zeit verweigern in Deutschland auch immer mehr Einzelhandelsläden die Annahme von Kupfergeld, um den Organisationsaufwand und die Schlangen an den Kassen zu verringern. (Übrigens haben die Niederlande und Finnland schon vor Jahren die Annahmepflicht für 1- und 2-Cent- Münzen abgeschafft, mit der Folge, dass diese kaum noch im Umlauf sind. Italien plant, diese nicht mehr zu prägen.) Unter Buchgeld, auch als Giralgeld bezeichnet, versteht man Einlagen bei Geschäftsbanken, die zu Zahlungszwecken verwendet werden können. Dazu zählen zweifellos Sichteinlagen. Diese sind täglich fällige Einlagen, also Guthaben auf den Giro- und Tagesgeldkonten, mit denen direkt gezahlt (z.B. per Überweisung) werden kann und die sich außerdem sehr rasch in Bargeld tauschen lassen. Die Summe aus Bargeld und Sichteinlagen wird als Geldmenge M1 bezeichnet (M steht für money). Daneben finden zwei weitere Geldmengenaggregate Anwendung (M2 und M3), welche zum Buchgeld nicht nur Sichteinlagen zählen, sondern auch solche Geldanlagen zählen, die ohne viel Aufwand zeitnah in Sichteinlagen gewandelt werden können (→ Abb. 22.2). Ein Beispiel hierfür sind Spareinlagen mit kurzer Laufzeit. <?page no="184"?> Bestimmung des Inflationsziels 185 Quelle: EZB, 2017. Abb. 22.2: Geldmenge im Euro-Währungsgebiet (31. August 2017) 22.3.1.2 Aufgaben der Zentralbank Die Geldpolitik ist Aufgabe des Staates. Träger der Geldpolitik sind die Zentralbanken (synonym: Notenbank, Zentralnotenbank). Die Zentralbanken sind in den „Industrieländern“ autonom, d.h. sie agieren weitestgehend unabhängig von Regierung und Parlament. Die Zentralbank hat das Monopol auf die Bereitstellung von Bargeld. Außerdem stellt sie den Geschäftsbanken Liquidität in Form von Sichteinlagen auf deren Konten bei der Zentralbank zur Verfügung. Vereinfacht gesprochen kann dies durch den Kauf von Wertpapieren (sowie Devisen oder Gold) oder durch die Gewährung eines durch Wertpapiere abgesicherten „Kredits“ (genauer: durch ein Wertpapierpensionsgeschäft) erfolgen. Der Geschäftsbankensektor kann seine Sichteinlagen bei der Zentralbank dafür verwenden, privaten oder staatlichen Nichtbanken Kredite einzuräumen, wodurch z.B. deren Sichteinlagen zunehmen und somit die Geldmenge wächst. Die Geschäftsbanken können ihr Sichtguthaben bei der Zentralbank in Bargeld umtauschen. Zentralbanksichtguthaben sind somit ebenso risikolose Einlagen wie Bargeld. Die Summe des verfügbaren Bargelds und der Zentralbankguthaben werden auch als Zentralbankgeld, Geldbasis, monetäre Basis oder M0 bezeichnet. 22.3.1.3 Beeinflussung der Geldmenge Die Zentralbank kann die Geldmenge zum einen über die Höhe des zur Verfügung gestellten Zentralbankgeldes beeinflussen. Zum anderen kann sie auf das gesamtwirtschaftliche Kreditvolumen und somit auf die Geldmenge einwirken, indem sie die Zinssätze festlegt, zu welchen sie den Geschäftsbanken Liquidität bereitstellt (Refinanzierungssätze) oder mit welchen sie nicht abgerufene Sichteinlagen verzinst (Einlagensätze). Diese Zinssätze beeinflussen direkt die Marktzinssätze, die sich wiederum auf die Kreditvergabe auswirken. Die Refinanzierungs- und Einlagenzinssätze werden in aller Regel parallel erhöht oder gesenkt. Daher genügt es, von nun an nur Änderungen eines Zinssatzes und zwar des Leitzinses zu betrachten. Die verschiedenen Zentralbanken definieren ihren Leitzins unterschiedlich. Der Leitzins der EZB ist ihr Hauptrefinanzierungssatz. Er entspricht dem Mindestsatz, den die EZB bei ihrem wichtigsten Instrument zur Refinanzierung der Geschäftsbanken (Hauptrefinanzierungsinstrument) verlangt, wenn sich Geschäftsbanken Zentralbankgeld borgen. In der Regel gilt ceteris paribus (→ Kapitel 44.4, 44.6.1 und 47.3): M3 11.754 Mrd. M2 11.087 Mrd. M1 7.634 Mrd.  Bargeld 1.099 Mrd.  Sichteinlagen 6.535 Mrd.  Spareinlagen 2.206 Mrd.  Termineinlagen 1.246 Mrd.  Repogeschäfte 73 Mrd.  Geldmarktfondsanteile 520 Mrd.  Bankschuldverschreibungen 75 Mrd. <?page no="185"?> 186 Leitbild und Ziele  Eine Erhöhung des Zentralbankgeldes führt zu einem Anstieg der Geldmenge (expansive Geldpolitik).  Eine Erhöhung des Leitzinses führt zu einem Rückgang der Geldmenge (kontraktive Geldpolitik).  Entsprechend wirkt eine Senkung des Zentralbankgeldes kontraktiv auf die Geldmenge und eine Senkung des Leitzinses wirkt expansiv. Die Geldmenge darf nicht mit dem Strom an Zahlungen verwechselt werden, die innerhalb eines Zeitraums den Besitzer wechseln. Die Geldmenge ist eine Bestandsgröße: Wenn Geld aus Vereinfachungsgründen auf M1, also auf Bargeld und täglich fällige Einlagen reduziert wird, dann stellt die Geldmenge den Bestand an Bar- und Sichteinlagen in der Volkswirtschaft zu einem Zeitpunkt dar. Innerhalb eines Zeitraums sind hingegen Stromgrößen relevant. Je nachdem, wie häufig der Bestand an Geld den Besitzer wechselt („umgeschlagen wird“), desto geringer ist die für die Zahlung gesamtwirtschaftlicher Vorgänge erforderliche Geldmenge. Je niedriger die Umschlagshäufigkeit des Geldes (auch: Umlaufgeschwindigkeit) ist, desto größer ist die für Zahlungen erforderliche Geldmenge.  Beispiel 22: Geldströme und Umschlagshäufigkeit des Geldes Vereinfachende Annahmen: Es gibt kein Ausland, d.h. die Volkswirtschaft ist geschlossen. Ferner gibt es keine indirekten Steuern (Verbrauchsteuern wie z.B. die Mehrwertsteuer). Der Staat verfügt über keinerlei Unternehmensbeteiligungen. Das nominale BIP beträgt 12 Mrd. EUR pro Jahr und entspricht annahmegemäß (kein Ausland! ) dem BNE. Ausgangspunkt sind die produzierenden Sektoren. Intrasektorale Zahlungsströme werden nicht berücksichtigt. Angenommen, Unternehmen und Staat entlohnen jeweils am Ersten jeden Monats alle Produktionsfaktoren (Löhne, Zinsen, Gewinne etc.): Dann benötigen sie hierfür 1 Mrd. EUR. Die Einkommensbezieher bezahlen mit dem Geld ihren monatlichen Konsum (z.B. 0,6 Mrd. EUR), ihre Steuern (z.B. 0,3 Mrd. EUR) und sparen den Rest (0,1 Mrd. EUR). Dieser Rest an „Geld“ wird grundsätzlich anderen Sektoren (Unternehmen u. Staat) zur Verfügung gestellt - meist über den Weg von Geschäftsbanken und anderen Finanzintermediären. Durch Konsum, Steuern und Sparen fließt den produzierenden Sektoren (Unternehmen und Staat) im Laufe des Monats somit 1 Mrd. EUR zu. Diese 1 Mrd. wird zum Ersten des Folgemonats wieder als Einkommenszahlung an die Haushalte weitergegeben. Kurzum: Die monatlichen Einkommenszahlungen von 1 Mrd. EUR fließen zwischen den Haushalten und den produzierenden Sektoren hin und her. Daraus folgt: Zahlungsströme in Höhe von 12 Mrd. pro Jahr erfordern eine Geldmenge von 1 Mrd. EUR, die 12 Mal umgeschlagen wird. Würden die Faktorentgelte halbmonatlich getätigt und sich die Haushalte darauf einstellen, wäre eine halbe Mrd. EUR als volkswirtschaftlicher Gelbestand ausreichend. Die Umschlagshäufigkeit wäre dann 24. <?page no="186"?> Bestimmung des Inflationsziels 187 Seit Beginn der Industrialisierung vor rund 200 Jahren haben sich die Zahlungsgewo h n h eiten g e ä nde rt. W ar z unä chs t di e täg lich e Ba r z ah lu n g der L oh ne in ko mmen verbreitet (Stichwort: Tagelöhner), änderte sich dies über den Wochenlohn hin zur 14-tägigen Überweisung bis zur heute üblichen monatlichen Überweisung. Ähnliches gilt für Wohnungsmieten. Langfristig ist die Umschlagshäufigkeit des Geldes somit gesunken. Das heißt, dass zur Zahlung eines bestimmten nominalen Jahreseinkommens heutzutage mehr Geld als vor 100 oder 50 Jahren benötigt wird. 22.3.1.4 Quantitätsgleichung des Geldes Aus der Summe der Zahlungsströme für den Kauf einer bestimmten Gütermenge (Gütertransaktionsvolumen) kann unmittelbar der Preis einer Gütereinheit berechnet werden. Werden in einem Jahr z.B. Zahlungsströme von 12 Mrd. EUR zur Bezahlung von 6 Mrd. Gütereinheiten bezahlt, dann beträgt der durchschnittliche Preis einer Gütereinheit genau 2 EUR. Die Zahlungsströme sind das Produkt aus Geld und seiner Umschlagshäufigkeit (s. Beispiel 22). Betrachtet man die gesamte Volkswirtschaft und damit das BIP als das relevante Transaktionsvolumen, dann ergibt sich aus dem Beschriebenen die Quantitätsgleichung des Geldes: Geldmenge · Umschlagshäufigkeit = reales BIP · Preisniveau Bleibt die Geldmenge konstant und verdoppelt sich das reale BIP bei konstanter Umschlagshäufigkeit des Geldes, dann muss sich das Preisniveau des BIP - der BIP-Deflator - halbiert haben. Steigt hingegen die Geldmenge um 10 % und das reale BIP ist konstant, dann muss der BIP-Deflator ebenfalls um 10 % gestiegen sein. Kurzum: Wenn die Umschlagshäufigkeit und das BIP konstant sind, dann entspricht die anhand des BIP- Deflators (→ Kap. 21.1) gemessene Inflationsrate der Wachstumsrate der Geldmenge. Neoklassische Geldtheorie 22.3.2 Die neoklassische ökonomische Theorie besagt im Wesentlichen, dass freie Märkte mit konkurrierenden Anbietern und Nachfragern über den Preismechanismus zu einer optimalen Güterallokation führen. Aufgrund der Annahmen völlig flexibler Güter- und Faktorpreise und unendlich schneller Anpassung der Güter- und Faktormengen an Marktänderungen herrscht auf allen Märkten stets Gleichgewicht. Die gesamtwirtschaftliche Produktion entspricht der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, das Geldangebot (Geldmenge) stimmt mit der Geldnachfrage überein und das Faktorangebot ist gleich der Faktornachfrage. <?page no="187"?> 188 Leitbild und Ziele  Wissensbox 19: Das S AY sche Theorem Ein berühmter Satz der Neoklassik ist nach J EAN -B APTISTE S AY (1767-1832) benannt: „Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage.“ Das S AY sche Theorem besagt, dass jedes BIP (gesamtwirtschaftliches Güterangebot) zu einer gleich hohen Güternachfrage führt, also stets abgesetzt wird. Dies lässt sich für eine geschlossene Volkswirtschaft ohne Staat an einem Zahlenbeispiel erklären: Die Produktion beträgt 12 Mrd. Gütereinheiten. Das im Produktionsprozess generierte Einkommen der Haushalte beträgt vereinfacht ebenfalls 12 Mrd. Gütereinheiten. Die nutzenmaximierenden Haushalte überlegen nun, welchen Teil des Einkommens sie sofort für Konsumgüter verwenden möchten (Konsumgüternachfrage), woraus sich ergibt, dass sie den verbleibenden Teil für zukünftigen Konsum sparen möchten. Die geplante Aufteilung hängt vom Realzins ab: Je höher der reale Zins ist, umso größer ist die „Belohnung“ (in Gütereinheiten gemessen), wenn auf den sofortigen Konsum zugunsten des Sparens verzichtet wird. Der Realzins bildet sich durch das Kreditangebot des Haushaltssektors (Sparen) und die Kreditnachfrage (für Investitionen) des Unternehmenssektors. Diese treffen auf dem Kapitalmarkt aufeinander und werden durch den Realzins in Einklang gebracht. Angenommen, auf dem Kapitalmarkt bildet sich ein Gleichgewicht bei eine Kreditmenge, die 4 Mrd. Gütereinheiten wert ist. Dann möchte der Unternehmenssektor 4 Mrd. Gütereinheiten für Investitionsgüter nachfragen und der Haushaltssektor möchte einen Einkommensteil im Wert von 4 Mrd. Gütereinheiten sparen. Es bleibt also eine Konsumnachfrage von 8 Mrd. Gütereinheiten. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage setzt sich aus der Investitionsnachfrage (4 Mrd.) und der Konsumnachfrage (8 Mrd.) zusammen und entspricht dem Güterangebot von 12 Mrd. (s.o.). Letztlich wird somit jedes gesamtwirtschaftliche Angebot auch nachgefragt. Dafür sorgt der Zinsmechanismus auf dem Kapitalmarkt, der Kreditangebot (Sparpläne) und Kreditnachfrage (Investitionspläne) stets in Einklang bringt. Je höher die Gleichgewichtsmenge auf dem Kreditmarkt, umso größer ist c.p. die Investitions- und umso geringer ist die Konsumgüternachfrage. Die neoklassische Geldtheorie geht von der Neutralität des Geldes aus. Das bedeutet, dass Geld keinen Einfluss auf reale Größen hat. Die Menge der entlohnten Produktionsfaktoren und der mit diesen Faktoren hergestellten Güter werden allein durch realwirtschaftliche Größen bestimmt. Die Wirtschaftssubjekte richten ihr Handeln an realen Größen (z.B. Reallohn, Realeinkommen) aus, d.h. sie unterliegen keiner Geldillusion. Geld ist lediglich ein Zahlungsmittel, dass das (nominale! ) Preisniveau bestimmt. Diese Trennung von realwirtschaftlichem und monetärem Sektor wird auch als Dichotomie des Geldes bezeichnet (→ Kap. 47.4). Daraus ergibt sich, dass das reale BIP von der Geldmenge und dem Preisniveau unabhängig ist. Das BIP wird vielmehr auf den Faktormärkten bestimmt, auf denen der Marktmechanismus das Faktorangebot und die Faktornachfrage in Einklang bringt (→ Kap. 45.1). Da in Abwesenheit von Geldillusion sowohl das Faktorangebot als <?page no="188"?> Bestimmung des Inflationsziels 189 auch die Faktornachfrage nur von der realen Faktorentlohnung (z.B. Reallohn) abhängen, sind auch die gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtsmengen von Geld letztlich unbeeinflusst. Weil sich in der neoklassischen Welt stets Marktgleichgewichte einstellen, entspricht der tatsächliche Faktoreinsatz stets den Gleichgewichtsmengen auf den Faktormärkten. Der somit geldunabhängige Faktoreinsatz bestimmt gemeinsam mit der totalen Faktorproduktivität (→ Kap. 18.1.2) das reale BIP. Folglich bestimmen nur realwirtschaftliche Größen das BIP. Die Geldmenge (multipliziert mit der Umschlagshäufigkeit) bestimmt damit das Preisniveau. Da die Umschlagshäufigkeit sich allenfalls im Laufe von Jahrzehnten ändert und somit zeitlich recht stabil ist, bedeutet das: Wenn die Geldmenge um x % steigt, dann steigt das Preisniveau ebenfalls um x %. Dies ist der Kern der Quantitätstheorie des Geldes. Die Quantitätstheorie des Geldes unterscheidet sich ganz wesentlich von der Quantitätsgleichung. Die Quantitätsgleichung stellt eine rechnerische Identität dar: Wenn das BIP konstant wäre, dann entspräche der Preisniveauanstieg dem Produkt aus Geldmenge und Umschlagshäufigkeit. Die Quantitätstheorie hingegen besagt: Eine Änderung der Geldmenge um x % hat c.p. keinen Einfluss auf das reale BIP, sondern führt zu x % Inflation. Vereinfachend führt etwa eine Erhöhung der Geldmenge dazu, dass die Wirtschaftssubjekte mehr Geld in der Kasse halten als sie geplant haben. Sie versuchen, das „zu viele“ Geld loszuwerden und es für Güter auszugeben: Da die gesamtwirtschaftliche Produktion jedoch unverändert bleibt, steigt lediglich das Preisniveau. Am Ende des (unendlich schnellen) Anpassungsprozesses fragen die Wirtschaftssubjekte wieder genauso viele Güter wie zuvor nach, nur dass diese nun teurer geworden sind. Der Anstieg der Einzelpreise kann wie folgt erklärt werden: Die Unternehmen versuchen, die Produktion auszudehnen, um die gestiegene Nachfrage zu befriedigen. Zur Abwerbung der hierfür benötigten Produktionsfaktoren müssen sie höhere Faktorlöhne anbieten. Dadurch steigen c.p. die Stückkosten und folglich die Preise.   Beispiel 23: Geldmengenerhöhung in einem einfachen neoklassischen Modell Das reale BIP (Güterangebot) beträgt 12 Mrd. Gütereinheiten p.a. und die Güternachfrage beträgt ebenfalls 12 Mrd. Einheiten (Gütermarktgleichgewicht). Die Umschlagshäufigkeit des Geldes beträgt 12. Das Geldangebot liegt bei 2 Mrd. EUR und die Geldnachfrage auch (Geldmarktgleichgewicht). Das Preisniveau beträgt folglich 2 EUR. Das heißt, die Wirtschaftssubjekte möchten genau so viel Geld in der Kasse halten, dass sie 1 Mrd. Gütereinheiten bezahlen können. Das nominale Einkommen (zur Vereinfachung mit dem nominalen BIP gleichgesetzt) beträgt 24 Mrd. EUR. <?page no="189"?> 190 Leitbild und Ziele Nun erhöht die Zentralbank die Geldmenge um 50 % auf 3 Mrd. EUR. Die Wirtschaftssubjekte haben folglich 1 Mrd. EUR mehr in der Kasse als sie für die geplanten Transaktionen (Bezahlung von 1 Mrd. Gütereinheiten) benötigen. Was tun sie mit dem überschüssigen Geld? Sie steigern ihre Güternachfrage, woraufhin das Preisniveau bis auf 3 EUR steigt. Bei diesem Preisniveau harmoniert die gestiegene Geldmenge wieder mit den Transaktionsplänen der Wirtschaftssubjekte: Für die Bezahlung der ursprünglich geplanten 1 Mrd. Gütereinheiten benötigen sie nun 3 Mrd. EUR. Parallel ist das Nominaleinkommen auf 36 Mrd. EUR gestiegen. Die neoklassische These über das BIP fußt auf den Annahmen der sog. vollständigen Konkurrenz einschließlich völlig flexibler Märkte und unendlich hoher Anpassungsgeschwindigkeiten (→ Kap. 16.1.1). Die Annahmen sind in dieser Absolutheit in der Realität jedoch nie gegeben, sondern makroökonomische Anpassungsprozesse benötigen relativ viel Zeit. Träfe die neoklassische Theorie auf sehr kurze Sicht zu, würden sich Marktwirtschaften stets auf Vollbeschäftigungsniveau bewegen. Das BIP müsste mit anderen Worten dem Produktionspotenzial entsprechen (→ Kap. 15.3). In der Praxis gibt es bekanntlich Konjunkturschwankungen, d.h. das BIP weicht vom Pfad des Produktionspotenzials nach unten und nach oben ab (→ Kap. 4.1). Mit den Konjunkturschwankungen sinkt und steigt auch die Inflationsrate. Daraus lässt sich schließen, dass die neoklassische Quantitätstheorie in der kurzen Frist nicht zutrifft.  Aufgabe 15: Erklären Sie! a) Erklären Sie das S AY sche Theorem in eigenen Worten. b) Erklären Sie, warum die Konsumgüternachfrage im neoklassischen Modell c.p. sinkt, wenn das Zinsniveau steigt. c) Quantitätstheorie des Geldes: Ausgehend von einem Gleichgewicht steigt das reale Einkommen durch technischen Fortschritt um 2,5 %. Gleichzeitig wird die Geldmenge um 4,5 % erhöht. Wie hoch ist die Inflationsrate? Begründen Sie Ihre Antwort. Nachfrageorientierte Geldtheorie 22.3.3 Einer der einflussreichsten Kritiker der neoklassischen Geld- und Beschäftigungstheorie ist J OHN M AYNARD K EYNES (1893-1946). Die keynesianische und auf ihr aufbauende Schulen distanzieren sich von der Annahme, dass die Märkte umgehend bzw. sehr zügig in ein Gleichgewicht zurückkehren. Vielmehr kann es zu länger andauernden oder sogar permanenten Ungleichgewichten kommen. Als Ursachen werden neben der erforderlichen Anpassungszeit insbesondere Preis- und Lohninflexibilitäten, monopolisierte Märkte, Geldillusion, Informationsdefizite, Mengenrationierung sowie Unsicherheit genannt. Ergänzend wird „irrationales Verhalten“ angeführt. Damit ist gemeint, dass Wirtschaftssubjekte ihr Handeln nicht (immer) so ausrichten, wie es zur Maximierung des eigenen Nutzens sinnvoll erscheint. <?page no="190"?> Bestimmung des Inflationsziels 191 K EYNES widersprach dem S AY schen Theorem. Die Höhe der Produktion/ des Einkommen beeinflusse zwar die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage, aber zugleich beeinflusse die Güternachfrage auch die Produktion und das Einkommen. Geldpolitische und andere Maßnahmen, die die Güternachfrage ankurbeln, können folglich die Güterproduktion beeinflussen. Man spricht in der Makroökonomie beim Keynesianismus und seiner Fortentwicklung auch von nachfrageorientierten Theorien. Laut der keynesianischen Geldtheorie haben monetäre Änderungen kurzbis mittelfristige Auswirkungen auf die realwirtschaftliche Sphäre. Anders ausgedrückt: Geld ist nicht neutral, zumindest nicht auf kurzbis mittelfristige Sicht. Die Wirkungsweise geldpolitischer Maßnahmen auf die reale Wirtschaft wird als monetärer Transmissionsmechanismus bezeichnet. Es sind verschiedene Transmissionskanäle denkbar, von denen verschiedene im Folgenden am Beispiel einer expansiven Geldpolitik bei Unterbeschäftigung erklärt werden. Unterbeschäftigung bedeutet hier, dass es unausgelastete Kapazitäten gibt, und es ausreichend viele geeignete Arbeitslose gibt, die zum herrschenden Geldlohn eingestellt werden können:  Die Zentralbank senkt den Leitzins. Da Geschäftsbanken nun günstiger an Zentralbankgeld kommen, steigern sie ihr Kreditangebot und senken die Kreditzinsen. Dies reduziert die Finanzierungskosten von Investitionen, woraufhin die Investitionsgüternachfrage steigt. Dies animiert die Unternehmen (hier: die Investitionsgüterindustrie) zur Erhöhung ihrer Produktion, woraufhin das Einkommen der Haushalte und wiederum deren Konsumgüternachfrage steigt. Das bewegt die Unternehmen erneut zu Produktionssteigerungen usw. usf. (Parallel zur Kreditvergabe steigt der Bestand an Buchgeld, d.h. die Geldmenge stiegt.)  Zinssenkungen wirken sich negativ auf die Sparpläne der Haushalte aus, d.h. sie sparen einen geringeren Teil ihres Einkommens, so dass c.p. die Konsumgüternachfrage steigt. Es folgen Produktions- und weitere Nachfragesteigerungen usw. usf.  Zinssenkungen führen zu einer Umstrukturierung des Vermögensportfolios der Wirtschaftssubjekte. Die nun niedriger verzinsten Wertpapiere verlieren an Attraktivität gegenüber anderen Anlagen wie z.B. Aktien, die nun verstärkt nachgefragt werden mit der Folge steigender Aktienkurse, welche die Unternehmen zu verstärkten Investitionen motivieren. Außerdem werden ggfs. mehr Vermögensgüter zulasten der Wertpapiere in das Portfolio aufgenommen, so dass die Güternachfrage steigt. Die Produktion passt sich der gestiegenen Nachfrage an usw. usf.  Zinssenkungen führen zu einem Rückgang der Finanzströme aus dem Ausland und einer Zunahme der Finanzströme ins Ausland. Auf dem Devisenmarkt wird daher weniger inländische Währung nachgefragt bzw. mehr Inlandswährung angeboten. Dadurch sinkt der Außenwert der Währung (Wechselkurs). Durch diese Abwertung werden inländische Güter aus Sicht der Nachfrager im Ausland günstiger. Die Nachfrage nach inländischen Exportgütern steigt, die inländische Produktion passt sich an usw. usf.  Die Zentralbank kauft festverzinsliche Wertpapiere (Anleihen) von den Geschäftsbanken, d.h. sie erhöht das Zentralbankgeld. Durch die zusätzliche Nachfrage der Zentralbank steigt c.p. der Wertpapierkurs. Die Rendite des Wertpapiers sinkt. Finanzanlagen verlieren somit an Attraktivität gegenüber Sachinvestitionen, so dass die Güternachfrage steigt. Die Unternehmen steigern daraufhin ihre Produktion usw. usf. <?page no="191"?> 192 Leitbild und Ziele  Die Zentralbank stellt mehr Liquidität bereit, etwa durch Wertpapierpensionsgeschäfte oder Devisenkäufe. Die Geldmenge steigt c.p. Die Wirtschaftssubjekte verwenden das überschüssige Geld, um Wertpapiere nachzufragen. Der resultierende Anstieg des Kurses bzw. Rückgang der Rendite von Wertpapieren regt Realinvestitionen an usw. usf.  Wissensbox 20: Hinweis zur Darstellung des Transmissionsmechanismus So einfach, wie hier dargestellt, ist es in der Realität (und bei K EYNES ) nicht. Vor allem sollte einem bewusst sein, dass mit dem Produktionsanstieg in der Regel auch dann Inflationssteigerungen einhergehen, wenn eine Unterbeschäftigung der Pro duktionsfakt or en v or liegt . Ein Gr un d von viele n kann se in, dass mit zunehmender Beschäftigung und sinkender Arbeitslosigkeit die Position der Arbeitskräfte gestärkt wird, woraufhin sie leichter Lohnerhöhungen durchsetzen können, wodurch die Stückkosten und in Folge die Preise steigen. Von F RIEDMAN s optimaler Inflationsrate zum Inflationsziel 22.3.4 M ILTON F RIEDMAN (1912-2006, Nobelpreisträger 1976) gilt als Vater der makroökonomischen Schule des Monetarismus (→ Kap. 22.3.6). F RIEDMAN kam zu dem Ergebnis, dass die optimale Inflationsrate im neoklassischen Modell der vollständigen Konkurrenz negativ sein müsste (F RIEDMAN , 1956). Um diese Schlussfolgerung zu verstehen, muss man sich nochmals das neoklassische Modell vergegenwärtigen: Der Marktmechanismus sorgt durch das Konkurrieren rational handelnder Wirtschaftssubjekte für ein Optimum. Der Geldmarkt kann jedoch vom Optimum abweichen, weil er durch ein Angebotsmonopol seitens der Zentralbank geprägt ist. Folglich gilt es, die Geldversorgung derart zu gestalten, dass auch sie volkswirtschaftlich optimal ist. Und genau dies ist bei einer negativen Inflationsrate der Fall. Unter „optimal“ ist zu verstehen, dass die Kosten der Geldhaltung (Kassenhaltung) für die Wirtschaftssubjekte minimal sind. Die Kosten der Kassenhaltung entsprechen in F RIEDMAN s Modell den Zinseinnahmen, die den Wirtschaftssubjekten entgehen, wenn sie Geld anstatt anderer Anlagen (Anleihen etc.) halten. Es handelt sich also um Opportunitätskosten (→ Kap. 20.2). Sie entsprechen vereinfacht - wenn es für die Geldhaltung keine Zinsen gibt - dem Nominalzins (weitestgehend) risikofreier Anlageformen. Diese Kosten sind bei einem Nominalzins von Null minimal. Der Nominalzins kann indes bei einem positiven Realzins (= Nominalzins abzgl. erwarteter Inflationsrate) nur dann Null sein, wenn die erwartete Inflation negativ ist. Beträgt der Nominalzins 2 %, bedarf es also einer erwarteten Inflationsrate von minus 2 %. (Die F RIEDMAN sche Argumentation bezieht die Kosten der Geldproduktion in die Analyse ein, worauf hier verzichtet wird.) <?page no="192"?> Bestimmung des Inflationsziels 193   Wissensbox 21: Warum gilt ein positiver Realzins als so wichtig? Positive Realzinsen bedeuten, dass die Kreditgeber - also die Sparer - für den Verzicht auf gegenwärtigen Konsum (z.B. 100 Güter) mit höheren zukünftigen Konsummöglichkeiten belohnt werden (z.B. 102 Güter bei einem Realzins von 2 %). Würde die Kreditvergabe keinen realen Einkommensgewinn in der Zukunft versprechen, würde im neoklassischen Modell nicht gespart, was aus wachstumspolitischen Gründen sehr unerwünscht wäre (→ Kap. 16.1.1). Die F RIEDMAN sche Deflationsregel ist vielfach kritisiert worden. F RIEDMAN selbst wollte sie nicht als Empfehlung für die Wirtschaftspolitik verstanden wissen. Zum einen bezeichnete er ein negatives Inflationsziel als nicht praktikabel. Zum anderen kannte er z.B. durchaus die mit Deflation in der Praxis verbundenen Gefahren (→ Kap. 20.7.3). F RIEDMAN s Regel basiert auf einem bewusst sehr einfach gehaltenen Modell und ist kein Plädoyer für ein negatives Inflationsziel. Stattdessen ist sie als plakativer Kontrapunkt zur damals recht laxen Einstellung gegenüber hohen Inflationsraten zu verstehen. Hierfür machte F RIEDMAN vor allem die nachfrageorientierte Geld- und Ausgabenpolitik verantwortlich, die sich auf K EYNES berief. F RIEDMAN verstand sich zwar als Antikeynesianer, aber damit hing er keineswegs der neoklassischen These der Neutralität des Geldes an. Vielmehr entwickelte er mit der monetaristischen Theorie eine eigene Geldtheorie. (→ Kap. 22.3.6) Es liegen mittlerweile viele Modelle zur Ermittlung der optimalen Inflationsrate vor, die auf F RIEDMAN s Ansatz zur Bestimmung der optimalen Inflationsrate aufbauen, aber in Bezug auf eine oder mehrere Annahmen abweichen. Drei Beispiele für geänderte Annahmen sind:  Die Kassenhaltung jenseits der Bargeldhaltung - etwa das Guthaben auf dem Girokonto - bringt Einnahmen. Diese Zinsen waren zu der Zeit, als F RIEDMAN die Regel aufstellte, gesamtwirtschaftlich vernachlässigbar. In den folgenden Dekaden waren indes (bis vor wenigen Jahren) positive Habenzinsen auf z.B. Giro-, Kreditkarten- und Tagesgeldkonten von 1 % und mehr die Regel. Und wenn ein Teil der Kassenhaltung Zinseinnahmen bringt, sind die gesamten Kosten der Kassenhaltung per Saldo geringer als der Nominalzins auf risikoarme Anleihen u. Ä. Somit ist die „optimale Inflationsrate“ größer als der Negativwert des Nominalzinses, z.B. minus 1 % statt minus 2 %.  Finanzpolitische Reaktionen des Staates und deren Wohlfahrtswirkungen werden integriert. Der Staat profitiert bekanntlich von Inflation (→ Kap. 20.5). Umgekehrt ist er Deflationsverlierer. Ist die Inflationsrate negativ, reagiert der Staat mit Steuererhöhungen, um die Verluste auszugleichen. Die Steuererhöhungen führen wiederum zu Marktverzerrungen und volkswirtschaftlichen Verlusten. Dieser Wohlfahrtsverlust wird als Zusatzlast oder excess burden von Steuern bezeichnet. Dieser geht als Kosten in die Modelle ein. Die Optimierungsaufgabe lautet dann, dass die Summe aus Kassenhaltungskosten und der Zusatzlast zu minimieren sind. Optimal ist die Inflationsrate, bei welcher ihr weiteres Absinken zu einer Zunahme der steuerpolitisch bedingten Zusatzlast führen würde, die den Rückgang der Kassenhaltungskos- <?page no="193"?> 194 Leitbild und Ziele ten übersteigt. Die optimale Inflationsrate ist folglich - bei konstantem Realzins - gr ö ße r al s d i e F RIEDMAN sche Rate. Z.B. beträgt sie nicht minus 2 %, sondern 0 %.  Güter- und Faktorpreise (insb. Löhne) sind nach unten nicht völlig flexibel. Teils wird eine schwerfällige, zeitlich verzögerte Reaktion der Preise (sticky prices or wages) angenommen. Teils wird von nach unten völlig starren Löhnen ausgegangen. Ursächlich kann Verschiedenes sein, z.B. unvollkommene Information, Mindestpreise bzw. -löhne oder marktbeherrschende Anbieter. Unflexible Faktor- oder Güterpreise verursachen gesellschaftliche Anpassungsprobleme (und somit volkswirtschaftliche Kosten), die durch eine positive moderate Inflation gesenkt werden können (→ Kap. 20.7.2). Die F RIEDMAN sche Optimierungsrechnung wird folglich erweitert: Sinkt die Inflationsrate unter das für die Schmiermittelfunktion erforderliche Niveau, wird den sinkenden Kassenhaltungskosten die Zunahme der volkswirtschaftlichen Anpassungskosten gegenübergestellt. Die optimale Inflationsrate ist dann - bei konstantem Realzins - nicht nur größer als es die ursprüngliche F RIEDMAN -Regel vorschlägt, sondern positiv. Statt bei minus 2 %, liegt sie z.B. bei plus 1,5 %. Andere Zusatzannahmen sind die Existenz von Schuhsohlen- und Menükosten (→ Kap. 20.2). Im Ergebnis führen nahezu alle der realitätsnäheren Modelle zu einer nicht negativen optimalen Inflationsrate. Die optimale Inflationsrate lässt sich zwar modelltheoretisch berechnen, aber in der Praxis ist eine exakte Quantifizierung nicht möglich. Vielmehr muss die Wirtschaftspolitik eine qualitative Analyse der Nachteile und Vorteile von Inflation vornehmen und darauf aufbauend die „optimale“ Zielinflationsrate ableiten. Der Begriff „optimal“ ist in der Praxis streng genommen also in Anführungszeichen zu setzen. Dabei gilt es die Risiken einer Deflation zu berücksichtigen. Außerdem müssen die - in der Modellwelt nicht vorhandenen - Probleme der adäquaten Inflationsmessung (→ Kap. 20.7.4f.) Beachtung finden. Schätzungen für verschiedene Industrieländer gehen davon aus, dass der gängige Inflationsindikator (Änderungsrate des VPI auf Basis eines verketteten L ASPEYRES -Index) die tatsächliche Teuerungsrate um bis zu einem Prozentpunkt überzeichnet. Dies lässt eine „optimale“ Inflationsrate von bis zu 2 % plausibel erscheinen. Die gängige Politik der Zentralbanken der Industrieländer, Preisniveaustabilität mit 1-2 % Inflation gleichzusetzen, kann insoweit als Anpassung von der F RIED MAN -Regel an die Praxis aufgefasst werden. Optimale Inflationsrate und Null-Zins-Grenze 22.3.5 Aus keynesianischen Theorien (→ Kap. 22.3.3) lässt sich grundsätzlich keine optimale Inflationsrate ableiten. Dennoch lassen nachfragetheoretische Modelle auf eine Art kontextabhängigen optimalen Inflationskorridor schließen. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass durch expansive Makropolitik die Beschäftigung erhöht werden kann und dies auch dann getan werden soll, wenn dadurch die Inflationsrate spürbar über 2 % ansteigt. In jüngerer Zeit wird indes auch von Ökonomen, die nicht primär nachfrageorientiert argumentieren, für eine optimale Inflationsrate von deutlich über 2 % plädiert. Dabei wird vor allem der Abstand zur Nullzinsgrenze (→ Kap. 20.7.6) als Hauptargument für eine optimale Inflationsrate von ca. 4 % angeführt. <?page no="194"?> Bestimmung des Inflationsziels 195 Grundüberlegung ist, dass die Kosten bei einer (erwarteten) Inflation von 4 % kaum höher sind als bei 2 %. Dies gilt definitiv für die Menü- und Schuhsohlenkosten, die heutzutage ohnehin gering sind. Zwar sinkt die Planungsunsicherheit, wenn sich das Inflationsziel in einem von der konjunkturellen Lage abhängigem Inflationsband von etwa 1-4 % bewegt, aber gegen solch moderate Inflationsrisiken können sich Gläubiger ohne allzu hohe Kosten absichern. Zur Absicherung dienen z.B. Preisgleitklauseln. Alternativ steht Gläubigern und Schuldnern die Möglichkeit offen, einen variablen Nominalzins zu vereinbaren, der je nach Konjunkturlage und Geldpolitik schwankt. Die Absicherungskosten seien bei einem Zielkorridor von ca. 1-4 % zwar höher als bei einem Korridor von 1-2 %. Aber der gesellschaftliche Nutzen, der sich aus einer Erweiterung des geldpolitischen Spielraums ergibt, würde dies aufwiegen.  Hinweis zur Absicherung gegen Inflationswirkungen Eine ganze Reihe unerwünschter Umverteilungswirkungen der Inflation lassen sich nur schwer absichern. Dies betrifft z.B. die Umverteilung zugunsten des Staates („kalte Progression“, → Kap. 20.5). Auch die Bezieher von Sekundäreinkommen können anders als Primäreinkommensbezieher (z.B. Arbeitnehmer) einen Inflationsausgleich oftmals nicht oder nur mit starken zeitlichen Verzögerungen durchsetzen. Zwei Weiterentwicklungen der (neo-)klassischen Geldtheorie 22.3.6 22.3.6.1 Monetarismus Im monetaristischen Modell ist die Geldmenge die entscheidende Größe. Sie beeinflusst kurzfristig das Verhalten der Wirtschaftssubjekte, aber mittelbis langfristig bestimmt sie einzig das Preisniveau. Der private Wirtschaftssektor ist insoweit stabil, als die Märkte nach Störungen mittelbis langfristig ins Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung zurückkehren. Die Geldnachfrage ist mittelfristig stabil und wächst proportional zum Nominaleinkommen. Die monetaristische Geldtheorie rät von einer Ad-hoc- Geldpolitik (sog. diskretionäre Politik) zur Beeinflussung gesamtwirtschaftlicher Vorgänge ab, weil ihre Effekte auf die Wirtschaft aufgrund zeitlicher Verzögerungen (sog. lags, → Kap. 51) und wegen Dosierungsproblemen mehr Schaden als Nutzen hervorrufen können. Stattdessen plädiert der Monetarismus für ein konstantes Wachstum der Geldmenge in Höhe des langfristigen nominalen Wachstums. Dieses setzt sich aus dem langfristigen Wachstumstrend des BIP (Potenzialwachstum) und einer angemessenen Inflationsrate zusammen. Das Inflationsziel sollte aufgrund der Nachteile von Inflation möglichst niedrig, aber aufgrund von Deflationsgefahren über Null liegen. Beispiel: Betragen das Potenzialwachstum 2,5 % p.a. und das langfristige Inflationsziel 2 %, dann soll die Zentralbank für einen Anstieg der Geldmenge um jährlich 4,5 % sorgen. Solch eine Strategie trägt dazu bei, dass die gesamtwirtschaftlichen Märkte nach Störungen zügiger zum Gleichgewicht zurückkehren. Liegt das Wachstum unter dem Potenzialwachstum (Rezession oder Depression), dann ist die Geldnachfrage niedriger als die Geldmenge und die Wirtschaftssubjekte geben das überschüssige Geld aus, wodurch die Wirtschaft ange- <?page no="195"?> 196 Leitbild und Ziele kurbelt wird. Im Boom hingegen kommt es über die Einschränkung der Ausgaben zu einem s tab ilis ieren den R ü ckgan g der Nach fr a ge. Zu den Umsetzungsproblemen der monetaristischen Geldmengenregel zählt, dass sich die Geldmenge nicht genau steuern lässt, da die Zentralbank den Geschäftsbankensektor (im Zusammenspiel mit potenziellen Kreditnachfragern) nicht zur Schöpfung von einer bestimmten Menge an Buchgeld zwingen kann. Außerdem ist der empirische Zusammenhang zwischen den Geldmengenaggregaten und Preisniveau mittelfristig schwächer als der Monetarismus vermuten lässt. Das liegt u.a. daran, dass sich die Geldmenge gerade in Anbetracht der rapiden Zunahme von Geld- und Finanzinnovationen weder klar abgrenzen, noch hinreichend genau messen lässt. Dies erklärt, warum die meisten Zentralbanken mittlerweile nicht die Geldmenge, sondern die gut steuerbaren Kurzfristzinsen als Zwischenziel (interest targeting) verwenden oder sich unmittelbar an der Inflationsrate orientieren (direct inflation targeting).  Wissensbox 22: Zinsorientierte Geldpolitik: Die Taylor-Regel J OHN B. T AYLOR (*1946) entwickelte in den 1990er-Jahren eine Leitzinsregel, die eine Alternative zur monetaristischen Geldmengenregel darstellt (T AYLOR , 1993). Ferner ging es T AYLOR darum, die Geldpolitik der US-amerikanischen Zentralbank nachzuzeichnen und zu zeigen, dass eine diskretionär erscheinende Geldpolitik durchaus einem regelhaften Muster folgen könne (T AYLOR , 1998). Die Taylor-Regel lautet, dass die Zentralbank den nominalen Leitzins i Leit so variiert, dass er dem nominalen Gleichgewichtszins (realer Gleichgewichtszins r* plus Inflationsrate π) plus der mit g gewichteten Outputlücke y (Abweichung des BIP Y vom Produktionspotenzial Y* in Prozent, also ((Y - Y*/ Y*) · 100) plus der mit h gewichteten Abweichung der Inflation π vom Inflationsziel π* entspricht. Die Gewichte g und h sind jeweils umso größer, je mehr Beachtung die Zentralbank dem jeweiligen Ziel (BIP- und Beschäftigungssteuerung Y* bzw. Inflationsziel π*) beimisst i π r ∗ g ⋅ y h ⋅ π π ∗ Im gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht entspricht die Inflationsrate π dem Inflationsziel π* (z.B. 2 %) und das BIP entspricht dem Produktionspotenzial (Normalauslastung wird mit 100 % normiert). Der reale Leitzins r* (i Leit - π) entspricht also dem realen Gleichgewichtszins (z.B. 2 %). Der nominale Leitzins ist dann z.B. 4 %. Angenommen, g und h betragen jeweils 0,5 (T AYLOR , 1993, S. 202), dann folgt daraus: Wenn die Konjunktur überhitzt und das BIP das Produktionspotenzial um 3 % übersteigt, dann gilt es, den Leitzins um 1,5 Prozentpunkte zu erhöhen (kontraktive Geldpolitik). Oder, wenn z.B. die Inflationsrate unter dem angestrebten Zielwert liegt, ist der Leitzins zu senken (expansive Geldpolitik). <?page no="196"?> Bestimmung des Inflationsziels 197  Hinweis In einigen Lehrbüchern wird anstelle der Output-Lücke (y - y*) die Abweichung der Arbeitslosenquote u von der natürlichen Arbeitslosenquote u n in die Taylor- Gleichung eingesetzt, so z.B. B LANCHARD und I LLING , 2014, S. 782. 22.3.6.2 Neue klassische Makroökonomik In der Welt der neuen klassischen Makroökonomik (NKM) sind die gesamtwirtschaftlichen Märkte grundsätzlich im Gleichgewicht, da Ungleichgewichte sofort durch den Preis- und Lohnmechanismus beseitigt werden, soweit der Mechanismus vom Staat oder den Tarifpartnern nicht behindert wird. Es herrscht Vollbeschäftigung, worunter die neue klassische Makroökonomik (NKM) versteht, dass die Arbeitslosenquote der natürlichen Quote (NAIRU, → Kap. 10.1.2 u. → Kap. 11.2.4) entspricht. Die neoklassische Quantitätstheorie greift kurzfristig: Steigt die Geldmenge um 10 %, steigt unmittelbar das Preisniveau um 10 %. Kurzfristige Ungleichgewichte können allenfalls dann auftreten, wenn die Wirtschaftssubjekte falsch oder unvollständig informiert waren (→ Kap. 46). Im Mittelpunkt der NKM steht außer der Annahme zügiger Markträumung die Theorie rationaler Erwartungen: Sie besagt, dass die Wirtschaftssubjekte über die Wirkungen von Änderungen vollständig informiert sind und ihr Verhalten unmittelbar bei Erhalt der Informationen an das erwartete Ergebnis anpassen. Für die Geldpolitik bedeutet dies, dass die Haushalte und Unternehmen wissen, dass ein Absenken der nominalen Zinsen letztlich keinen realwirtschaftlichen Einfluss hat, sondern (mittelfristig) nur zu Inflation führt. Da sie dies wissen, sehen sie keinerlei Anlass, ihre Güternachfrage aufgrund des gesunkenen Nominalzinses zu ändern. Arbeitnehmer und Unternehmen werden vielmehr den erwarteten Inflationsanstieg antizipieren und unmittelbar höhere Faktorlöhne und Güterpreise durchsetzen. In der Welt der NKM kommt es indes dann zu kurzfristigen Ungleichgewichten, wenn sich die Wirtschaftssubjekte mangels Informationen vorübergehend fehlanpassen. Dies passiert z.B., wenn die Geld- und Wirtschaftspolitik sehr erratisch und unvorhersehbar agiert oder wenn es zu anderen plötzlichen Schocks kommt. In der Essenz läuft die NKM ebenso wie der Monetarismus auf eine Verstetigung der Geldpolitik hinaus, um Planungssicherheit zu erzeugen und Ungleichgewichte durch Fehlanpassungen der Wirtschaftssubjekte zu reduzieren. Inflation hat keine Vorteile für die Volkswirtschaft: Weder ist sie auf freien Märkten als Schmiermittel erforderlich, noch lassen sich durch sie positive Beschäftigungseffekte erkaufen. Daher spricht aus Sicht der NKM grundsätzlich nichts gegen eine Inflationsrate von Null. Zwar wird ein gewisser Nutzen von Inflation darin gesehen, dass sie die unfreiwillige Arbeitslosigkeit in Folge überhöhter tariflicher oder gesetzlicher Mindestlöhne reduzieren kann. Denn durch den Preisanstieg sinkt c.p. der reale Mindestlohn, soweit der nominale Mindestlohn nicht an die Inflation angepasst wird. Die geeignetere Maßnahme wäre allerdings, Mindestlöhne und andere Mindestpreise abzuschaffen. <?page no="197"?> 198 Leitbild und Ziele   Hinweis In Teil III findet sich ein ideengeschichtlicher Überblick über die verschiedenen makroökonomischen Schulen (→ Abb. 42.1)   Aufgabe 16: Überlegen Sie! Was könnte Keynes mit folgendem Zitat gemeint haben: „In the long run we are all dead.“ (Keynes, 1924, S. 80) 23 Fazit zur Bestimmung von Preisniveaustabilität Zusammenfassung 23.1 Für wirtschaftlich weit entwickelte Länder lässt sich sagen: In der Praxis liegt unbestritten Preisniveaustabilität vor, wenn die Veränderungsrate des Verbraucherpreisindex gegenüber dem Vorjahresmonat mittelfristig zwischen 1 und 2 % liegt. Die Diskussion hat jedoch gezeigt, dass zur Einschätzung des Zielerreichungsgrads, je nach wirtschaftlicher Situation, weitere Indikatoren herangezogen werden müssen. Beispielsweise kann im Einzelfall eine zu niedrige Inflationsrate, die auf dem VPI basiert, auf eine Deflationsproblematik hinweisen, die möglicherweise gar nicht besteht, weil die Kerninflationsrate im grünen Bereich liegt. Eine andere Frage ist, ob ein derart stabiles Preisniveau auch angestrebt werden sollte. Oder ob nicht konjunktur- und beschäftigungspolitische Gründe dafür sprechen, langfristig eine höhere Inflationsrate von ca. 4 % anzustreben oder mittelfristig ein Inflationsband von möglicherweise 1-5 % zu tolerieren. Hierzu gehen die Meinungen - je nach geldtheoretischer Ausrichtung - auseinander. Eine wesentliche Rolle spielt, inwieweit den Marktkräften zugetraut wird, die Wirtschaft nach Störungen von sich aus einigermaßen zügig ins gesamtwirtschaftliche Vollbeschäftigungsgleichgewicht zu bringen. Eine eher hohe Inflationsrate und ein breites Inflationsband werden diejenigen befürworten, die der Auffassung sind, dass die Märkte dazu tendieren, nicht oder nur unter Durchlaufen zäher und schmerzhafter Anpassungsprozesse zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zu finden. Für ein eher niedriges Inflationsziel sprechen sich diejenigen aus, die auf die schnellen Selbstheilungskräfte der gesamtwirtschaftlichen Märkte setzen oder starke Zweifel an der Zielgenauigkeit geldpolitischer Maßnahmen hegen. Grundsätzlich spielt es für die Festlegung der „optimalen“ Inflationsrate eine entscheidende Rolle, wie hoch man den Nutzen einer z.B. 4-prozentigen Inflation gegenüber den Kosten einschätzt. Je schwieriger und langwieriger die marktendogenen Anpassungsprozesse sind, umso höher wird man den Nutzen geldpolitischer Maßnahmen zur Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und Produktion einstufen. Da die Kosten (und Nutzen) in der Praxis objektiv nicht zuverlässig quantifizierbar sind, läuft die Abwägung eher intuitiv oder interessengeleitet ab. Die einen stufen kurzbis mit- <?page no="198"?> Fazit zur Bestimmung von Preisniveaustabilität 199 telfristige Beschäftigungserfolge als hoch genug ein, um die mittelbis langfristigen K osten ge stie gener Inflation z u ko m pensi eren. Die and eren h in ge ge n ha lte n W achstumseinbußen durch steigende Inflation und die übrigen Nachteile von Inflation für so gravierend, dass sie nicht durch eine monetäre Beschleunigung von - ohnehin eintretenden - Anpassungsprozessen hin zum mittelfristigen Gleichgewicht gerechtfertigt werden könnten. Politökonomische Überlegungen 23.2 Da Regierungs- und Parlamentsmitglieder stärker an kurzbis mittelfristigen Erfolgen interessiert sind, vor allem wenn sie ihre Wiederwahl anstreben, neigen sie dazu, höhere Inflationsraten zu befürworten. Und dies kann auch dann der Fall sein, wenn die Entscheidungsträger der Auffassung sind, dass die Beschäftigungserfolge nur vorübergehend eintreten. In etlichen Demokratien wurden die Zentralbanken im letzten Jahrhundert in die politische und finanzielle Unabhängigkeit entlassen, damit sie nicht diesen kurzfristig orientierten Interessen unterliegen.   Aufgabe 17: Überlegen Sie! Wie erklären Sie sich, dass die Zentralbankunabhängigkeit in den meisten Fällen von den Entscheidungsträgern der Exekutive und Legislative beschlossen wurde? Und dies, obwohl diese Entscheidungsträger mit der Geldpolitik ein mächtiges Instrument aus der Hand gaben und nach Auffassung der Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) primär ihre Wiederwahl und die Ausdehnung ihres Macht- und Wirkungsbereichs im Blick haben würden. Arbeiten Sie mindestens zwei plausible Erklärungen heraus! Zur Erinnerung: Die NPÖ oder Public Choice-Theorie versucht, das Verhalten von politischen Akteuren durch ökonomische Ansätze - wie z.B. den Ansatz der individuellen Nutzenmaximierung - zu erklären. Geldpolitische Ziele in der Praxis 23.3 Die Satzung der EZB wurde im Laufe der 1990er-Jahre ausgehandelt. Preisstabilität ist im Art. 2 als vorrangiges Ziel der EZB festgeschrieben. Beschäftigungspolitisch motivierte Maßnahmen sind ihr nur dann erlaubt, wenn diese die Preisstabilität nicht gefährden. Dies ist bei vielen älteren Zentralbanken anders, z.B. bei der 1913 gegründeten US-amerikanischen Zentralbank (K ULESSA , 2014). Die US F ED ist laut dem Federal Reserve Act von 1977, (sec. 2A) zu einer Geldpolitik angehalten, die ein Wachstum der Geldmenge herbeiführt, das dem langfristigen Wachstumspotenzial der amerikanischen Volkswirtschaft gerecht wird und drei Ziele befördert:  maximale Beschäftigung,  stabiles Preisniveau und <?page no="199"?> 200 Leitbild und Ziele  moderate Langfristzinsen. Die US-F ED sieht sich primär der Preisniveaustabilität und der Vollbeschäftigung verpflichtet. Sie definiert Preisniveaustabilität ähnlich wie die EZB als eine Inflationsrate von ungefähr 2 %. Anders als im Falle der EZB erlaubt es ihre Satzung, eine Inflationsrate darüber hinaus implizit zu tolerieren, wenn es das Beschäftigungsziel erfordert. Daher überrascht es wenig, dass die durchschnittliche Inflationsrate in den USA fast durchgängig höher war als im Euroraum (→ Abb. 23.1).  Aufgabe 18: Überlegen Sie! Welche Geldtheorien könnten bei der Festlegung der Statuten der US F ED eine dominierende Rolle gespielt haben und welche bei der EZB? Begründen Sie Ihre Antwort. Quelle: EUROSTAT, 2017. Abb. 23.1: Inflationsraten im Vergleich (in %) -1,0 -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Euroraum USA <?page no="200"?> Extratouren zur Inflationsrate 201 24 Extratouren zur Inflationsrate Extratour zu den Preisindexen nach L ASPEYERES und 24.1 P AASCHE Preisindexe können ebenso wie Mengenindexe mit verschiedenen Methoden berechnet werden, z.B. die Verfahren nach L ASPEYRES , P AASCHE oder F ISHER . In → Kap. 15.2 wurde an einem Beispiel für das fiktive Hochland (→ Beispiel 7) gezeigt, dass die verschiedenen Mengenindexe zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Das gleiche Bild ergibt sich für die Inflationsrate (→ Beispiel 24).  Beispiel 24: Hochlands Preisniveau des BIP Wählt man nach L ASPEYRES die Mengenstruktur des Jahres 2010 (Basisjahr) als Ausgangspunkt, gelangt man zu einem „Warenkorb“ mit:  8.000 Overalls + 1.025 Maschinen + 2.000 Mopeds + 110.000 Obstkörbe + 40.000 Transportdienstleistungen. Im Jahr 2010 kostete dieser Warenkorb 4.100.000 EUR.  Der gleiche Warenkorb würde im Jahr 2011 (Berichtsjahr) kosten: (8.000 · 60 + 1.025 · 2.100 + 2.000 · 490 + 110.000 · 5,29 + 40.000 · 2,2) EUR = 4.304.400 EUR. Das Preisniveau ist um 204.400 EUR gewachsen, d.h. die Inflationsrate liegt bei knapp 5 %.  Der Laspeyres-PI beträgt 4.304.400/ 4.100.00 und somit ca. 1,0499. Wählt man nach P AASCHE den „Warenkorb“ des Jahres 2011 (Berichtsjahr) als Ausgangspunkt, hat dieser zum Inhalt:  10.500 Overalls + 1.100 Maschinen + 1.900 Mopeds + 100.000 Obstkörbe + 40.000 Transportdienstleistungen. Im Jahr 2011 kostet dieser Warenkorb 4.510.000 EU R.  Der gleiche Warenkorb hätte im Jahr 2010 gekostet: (10.500 · 50 + 1.100 · 2.000 + 1.900 · 500 + 100.000 · 5 + 40.000 · 2,5) EUR = 4.275.000 EUR. Der Preis des Korbs ist somit im Jahr 2011 um 25.100 EUR höher. Das entspricht einer Inflationsrate von ungefähr 5,5 %.  Der P-Preisindex beträgt ca. 1,055. Der Vergleich zeigt eine Differenz der jeweils ermittelten Inflationsrate von ca. 0,51 Prozentpunkten.  Der Fisher-PI beträgt: (1,0499 · 1,055) 1/ 2  1,0525 <?page no="201"?> 202 Leitbild und Ziele Extratour zur gefühlten Inflation 24.2 Das Konzept der gefühlten Inflation oder auch wahrgenommenen Inflation (perceived inflation) ist eng mit dem deutsch-schweizerischen Wirtschaftsstatistiker W OLF- GANG B RACHINGER (1951-2011) verbunden, der u.a. einen Index der wahrgenommenen Inflation entwickelte (B RACHINGER , 2005). Hintergrund war die Einführung des Euro-Bargelds im Jahr 2001, auf die in Deutschland schnell die Redewendung „Euro ist Teuro“ folgte. Gleichwohl die Inflationsrate, gemessen an der Veränderung der Konsumentenpreise (also des Verbraucherpreisindex), tendenziell zurückgegangen war, empfanden viele Menschen die nachfolgende Preisentwicklung als übermäßig inflationär. Diese Wahrnehmung setzt sich bemerkenswerterweise bei einigen bis heute fort. Dass sich die gefühlte und die tatsächliche Steigerung der Konsumentenpreise eklatant voneinander unterscheiden können, wird auf mehrere Ursachen zurückgeführt:  Die Preise häufig getätigter Käufe prägen sich stärker ein. Steigen also etwa die Preise der Güter des täglichen Bedarfs, wird dies deutlich stärker wahrgenommen als die Entwicklung der Preise von Gebrauchsgütern, die selten gekauft werden. Das bedeutet, dass z.B. Brot-, Getränke- und Zeitungspreise für das gefühlte Inflationsempfinden wichtiger sind als z.B. die Preise von Kühlschränken, Fahrrädern, Pkw oder Baudienstleistungen.  Soweit langlebige Gebrauchsgüter in das Inflationsgefühl eingehen, wird häufig nicht der Preis des Vorjahres zum Vergleich herangezogen. Stattdessen orientieren sich viele Verbraucher an dem Preis, den das Gut gekostet hatte, als es das letzte Mal gekauft wurde (z.B. 20 % teurer als vor acht Jahren).  Bar- oder Kartenzahlungen werden stärker wahrgenommen als Zahlungen über die Bank, insb. wenn sie per Dauerauftrag oder Lastschriftverfahren erfolgen.  Qualitätsänderungen bleiben beim Preisvergleich oft unberücksichtigt.  Das menschliche „Preisgedächtnis“ geht weit in die Vergangenheit zurück, während die offizielle Inflationsrate meist nur 12-Monats-Zeiträume erfasst. („Früher kostete alles nur die Hälfte.“)  Der persönliche „Warenkorb“ unterscheidet sich vom sog. „repräsentativen Warenkorb“. Dieser ist ein Durchschnittskorb, der möglicherweise noch nicht einmal der Konsumstruktur auch nur eines einzigen Haushalts gerecht wird.  Preissteigerungen sind Anlass für Verärgerung, während Preisrückgänge in der Wahrnehmung leichter untergehen. <?page no="202"?> Extratouren zur Inflationsrate 203 Obwohl das Inflationsempfinden der einzelnen Haushalte ihre subjektive Geldwertentwicklung und ihre persönliche Wahrnehmung von Planungssicherheit beeinflusst, eignet sich das Konzept gerade aufgrund seiner Subjektivität und seiner starken Abhängigkeit vom jeweiligen Individuum nicht als primärer Indikator für Preisniveaustabilität. Zum einen ist die gefühlte Inflation schwer messbar. Zum anderen ist die Preisentwicklung von Waren und Dienstleistungen, die vom einzelnen Haushalt nur alle paar Jahre nachgefragt werden, durchaus für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung relevant, so dass man sie nicht außen vor lassen sollte. Im Jahr 2015 summierte sich in Deutschland der private Konsum langlebiger Waren laut S TATISTISCHEM B UN- DESAMT auf ca. 180 Mrd. EUR. Addiert man solche Dienstleistungen hinzu, die üblicherweise in mehrjährigen Abständen nachgefragt werden, kommt man zu einem Betrag, der deutlich über 200 Mrd. EUR liegt (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2016e, S. 17, 23 und 25). Das sind mehr als 7 % des BIP. <?page no="204"?> E Außenwirtschaftliches Gleichgewicht 25 Begriff Der Sachverhalt, der sich hinter dem Begriff des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts verbirgt, ist weit schwieriger zu fassen als die übrigen Ziele gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Dies gilt insbesondere für die wirtschaftspolitische Praxis. Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, das Ziel zu definieren:  Abwesenheit destabilisierender außenwirtschaftlicher Vorgänge,  Zahlungsbilanzgleichgewicht,  gleichgewichtiger Wechselkurs. Der Ansatz, unter außenwirtschaftlichem Gleichgewicht die Abwesenheit von außenwirtschaftlichen destabilisierenden Einflüssen auf die übrigen Ziele des Magischen Vierecks zu verstehen, misst außenwirtschaftlichem Gleichgewicht keinen eigenen Stellenwert als Ziel an sich zu. Vielmehr wird außenwirtschaftliches Gleichgewicht über die Wirkungen auf den Beschäftigungsstand, die Preisniveaustabilität und das Wirtschaftswachstum definiert. Zum einen lässt sich dieser Ansatz damit rechtfertigen, dass das interne Gleichgewicht für das Wohlergehen der Bevölkerung unmittelbar von Bedeutung und damit auch greifbarer ist. Sind z.B. die ALQ oder die Inflation hoch, wird dies von den Menschen unmittelbar als nachteilig erachtet. Ähnliches gilt für das Wirtschaftswachstum. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht rückt hingegen nur dann ins Zentrum des Interesses der Bevölkerung und der politischen Entscheidungsträger, wenn es in einem so starken Maße verletzt ist, dass es sich negativ auf die Erreichung der übrigen Ziele des Magischen Vierecks auswirkt. Zum anderen lässt sich die Wahl dieses Ansatzes damit begründen, dass (auch) alle anderen Konzepte außenwirtschaftlichen Gleichgewichts (Zahlungsbilanz- und Wechselkurskonzepte) Schwächen aufweisen. Der Nachteil der mittelbaren Definition außenwirtschaftlichen Gleichgewichts liegt allerdings darin, dass sie keinen expliziten Zielerreichungsindikator bereithält. Demgegenüber bergen die Ansätze, Gleichgewicht mit einem Zahlungsbilanzgleichgewicht (→ Kap. 26) oder einem gleichgewichtigen Wechselkurs (→ Kap. 27) gleichzusetzen, nicht nur Begründungen für außenwirtschaftliches Gleichgewicht, sondern geben zugleich Zielerreichungsindikatoren an die Hand. <?page no="205"?> 206 Leitbild und Ziele 26 Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen Grundlagen der Zahlungsbilanz 26.1 Die Zahlungsbilanz ist eine systematische Zusammenfassung der wirtschaftlichen Transaktionen zwischen Inländern und Ausländern (→ Abb. 26.1). Der Inländer- und Ausländerbegriff wird ökonomisch definiert und ist von der Staatsbürgerschaft zu unterscheiden. In der Theorie sind diejenigen Inländer, deren Zentrum des wirtschaftlichen Interesses im Inland liegt. Stark verkürzt gilt: In der Praxis der VGR ist ein Wirtschaftssubjekt dann inländisch, wenn sein Wohnbzw. Hauptsitz für mind. ein Jahr im Inland liegt (genauer: IMF, 2009, S. 70ff.). Ökonomische Ausländer werden in der VGR auch als Gebietsfremde bezeichnet. Im Englischen wird von residents und nonresidents gesprochen. Quelle: B UNDESBANK , 2016a. Abb. 26.1: Die Zahlungsbilanz „In der Zahlungsbilanz werden die wirtschaftlichen Transaktionen einer Volkswirtschaft mit der übrigen Welt für eine bestimmte Periode systematisch zusammengefasst. Sie ist daher keine Bilanz im Sinne einer zeitpunktbezogenen Vermögensaufstellung, sondern eine Stromrechnung. Auch werden nicht nur Transaktionen, die mit einer grenzüberschreitenden Zahlung verbunden sind, erfasst, sondern darüber hinaus auch Geschäfte, die zu keiner oder keiner unmittelbaren Zahlung führen.“ (D EUTSCHE B UNDESBANK , 2016a)  Beispiel 25: Zahlungsbilanztransaktionen ohne Zahlungsströme Tauschhandel (barter trade). Waren oder Dienstleistungen werden direkt - ohne den Einsatz von Zahlungsmitteln - getätigt. Das inländische Unternehmen A sendet einen PKW im Wert von 40.000 EUR an das Unternehmen B im Ausland und erhält von diesem Autoreifen als Gegenleistung. In der Zahlungsbilanz - konkret der Handelsbilanz - erscheint eine Exporteinnahme von 40.000 EUR und eine Importausgabe von 40.000 EUR. Leistungsbilanz Vermögensänderungsbilanz Kapitalbilanz Restposten Warenhandel nicht produzierte Sachvermögen Direktinvestitionen Dienstleistungen Vermögensübertragungen Wertpapieranlagen Primäreinkommen Finanzderivate Sekundäreinkommen übriger Kapitalverkehr Währungsreserven <?page no="206"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 207 Vermögensmitnahme beim Umzug ins Ausland. Die Inländerin C ist Eigentümerin einer Villa im Wert von 2 Mio. EUR in Dresden. Nun zieht sie nach Norwegen. Dieser Vorgang erscheint in der Zahlungsbilanz als „Zahlungen“ zwischen der „Inländerin“ C und der „Ausländerin“ C: Zum einen wird ein Geschenk der Inländerin an die Ausländerin in Höhe von 2 Mio. EUR in der Vermögensänderungsbilanz als „Ausgabe“ gebucht. Zum anderen wird in der Kapitalbilanz so gebucht, als hätte die Ausländerin die Villa erworben und eine „Einnahme“ der Inländerin von 2 Mio. EUR stattgefunden. Die Zahlungsbilanz ist im Unterschied zu einer Vermögensbilanz keine Bestandsbilanz. Sie gibt vielmehr Auskunft über Ströme innerhalb eines Zeitraums. Die linke Seite der als T-Konto darstellbaren Zahlungsbilanz (Creditseite) zeichnet prinzipiell Zahlungseingänge (z.B. durch Warenexporte) auf und die Debetseite zeichnet Zahlungsausgänge (z.B. für Warenimporte) auf (→ Abb. 26.2). Abb. 26.2: Die Zahlungsbilanz als T-Konto Die Zahlungsbilanzstatistik ist Bestandteil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR). Die Zahlungsbilanz des Euroraums wird von der EZB erstellt. Für die deutsche Zahlungsbilanz ist die B UNDESBANK zuständig, wobei das S TATISTISCHE B UNDESAMT die Daten über den Warenhandel beisteuert. Die Zahlungsbilanz wird monatlich veröffentlicht. Außer der monatlichen Zahlungsbilanz werden Quartals- und Jahresbilanzen erstellt. Die Erhebung der meisten Daten basiert auf dem außenwirtschaftlichen Meldewesen, welches die Wirtschaftssubjekte gesetzlich verpflichtet, Warenhandelsbewegungen dem S TATISTISCHEN B UNDESAMT und finanzielle Transaktionen mit dem Ausland der B UNDESBANK online zu melden. Hinzu kommen Auskünfte der Zollbehörden, Haushaltsbefragungen, Bestandserhebungen bei Banken und anderen Unternehmen etc. Zahlungsbilanz Warenexport Warenimport Handelsbilanz Außenbeitrag Leistungsbilan z Dienstleistungsexporte Dienstleistungsimporte Dienstleistungsbilanz Primäreinkommen vom Ausland Primäreinkommen ans Ausland Sekundäreinkommen vom Ausland Sekundäreinkommen ans Ausland Verkauf nicht produzierter Sachvermögen Import nicht produzierter Sachvermögen Vermögensänderungsbilanz Vermögensübertragungen vom Ausland Vermögensübertragungen ans Ausland Δ Verbindlichkeiten Δ Forderungen Kapitalbilanz Δ Währungsreserven (der Zentralbank) Devisenbilanz <?page no="207"?> 208 Leitbild und Ziele Die Außenwirtschaftstransaktionen werden je nach ihrem Charakter in verschiedenen Teilbilan zen gebucht. Die Teilbila nzen l ass en sich b el ieb ig t i ef un te rte il en u nd reic he n hin bis zu den Einfuhren und Ausfuhren einzelner Produktgruppen. Z.B. unterteilt das „Internationale Verzeichnis für den Warenhandel“ (SITC: Standard International Trade Classification der V EREINTEN N ATIONEN ) die gehandelten Waren in knapp 3.000 Untergruppen. Die gesamtwirtschaftlich bedeutsamsten Teilbilanzen sind in → Abb. 26.1 dargestellt. Die meisten dort genannten Kategorien sind weitgehend selbsterklärend. Ausnahmen bilden unter Umständen der Restposten, die Vermögensänderungsbilanz und die Devisenbilanz (→ Kap. 26.6). Der Restposten der Zahlungsbilanz enthält den Saldo der statistisch nicht aufgliederbaren Transaktionen. Da es zu jeder Zahlungsbilanztransaktion eine Gegentransaktion in gleicher Höhe gibt, müssten sich Einnahmen und Ausgaben eigentlich entsprechen. Dies ist an sich ein Grundsatz der doppelten Buchführung: Keine Buchung ohne Gegenbuchung! Da es der B UNDESBANK jedoch nicht gelingt, alle Transaktionen korrekt zu erfassen, saldieren sich die Buchungen zunächst nicht zu null. Gründe können falsch oder nicht gemeldete Transaktionen sein. In der deutschen Zahlungsbilanz für das Jahr 2015 fehlten z.B. Angaben über Transaktionen in Höhe von plus 31 Mrd. EUR (→ Tab. 26.1). Das bedeutet, dass die der B UNDESBANK bekannten Zuflüsse aus dem Ausland größer als die bekannten Abflüsse an das Ausland waren. Eine Ursache könnten z.B. Importausgaben aus Schmuggelware sein. Alternativ könnten auch nichtdeklarierte Kapitalabflüsse (etwa die Bildung von Schwarzgeldkonten im Ausland) ein Grund sein. Es gibt allerdings auch eine ganze Reihe legaler Aktivitäten, die den Zahlungsbilanzstatistikern teils verborgen bleiben, wie etwa das Shopping im Ausland mit Bargeld. Nettozuflüsse Nettoabflüsse Warenhandel 272 Mrd. € DL-Handel 22 Mrd. € Primäreinkommen 52 Mrd. € Sekundäreinkommen 40,0 Mrd. € Vermögensänderungen 1 Mrd. € Kapitalbilanz 231 Mrd. € Zwischensumme 325 Mrd. € 294 Mrd. € Restposten 31 Mrd. € Quelle: B UNDESBANK , 2017a, S. 75 (Abweichung durch Runden). Tab. 26.1: Deutsche Zahlungsbilanz 2016 Die Vermögensänderungsbilanz enthält zum einen Vermögensübertragungen im engeren Sinne. Das sind quasi Geschenke vom und an den Rest der Welt, weswegen gelegentlich auch von der Schenkungsbilanz gesprochen wird. Darunter fallen alle <?page no="208"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 209 einmaligen Transaktionen, denen keine erkennbaren Gegenleistungen gegenüberstehen, wie z.B. Er bschaften un d Schuld ener la sse. Die V erm ögen sä nder ungsb ila n z enthält zum anderen die entgeltliche Übertragung immaterieller nicht produzierter Sachvermögensgüter. Das sind Käufe und Verkäufe von z.B. Markenrechten, Funkfrequenzen und handelbaren Schadstoffemissionsrechten. Transfersummen für Sportler werden auch dort gebucht. Der Kauf/ Verkauf von immateriellen produzierten Sachvermögen wie z.B. Patenten und Urheberrechten wird hingegen (seit 2015) in der Dienstleistungsbilanz gebucht (D EUTSCHE B UNDESBANK , 2014).  Wissensbox 23: Methodenhandbuch zur Zahlungsbilanz und zum Auslandsvermögensstatus Der I NTERNATIONALE W ÄHRUNGSFONDS revidiert in unregelmäßigen Abständen das Balance of Payments and International Investment Position Manual. Die letzte Revision stammt von 2009 (BMP 6). Auf gut 350 Seiten kann hier, bzw. im 600-seitigen Pendant der EU, nachgelesen werden, wie die einzelnen Bilanzen zu erstellen sind und welche Art von Transaktionen in welcher Unterbilanz zu buchen ist. Allein der 30-seitige Index des BMP 6 zeigt, wie wenig trivial diese Aufgabe ist. Die englischen Bezeichnungen für die wichtigsten Teile der Zahlungsbilanz sind:  Current account (Leistunsgbilanz)  Capital account (Vermögensänderungsbilanz)  Financial account (Kapitalbilanz).  Hinweis Der amtliche Begriff capital account (Vermögensänderungsbilanz) sorgt gelegentlich für Verwirrung und zwar auch deshalb, weil in vielen englischsprachigen Publikationen (einschließlich z.B. W IKIPEDIA ) mit capital account dann doch die Kapitalbilanz und nicht die Vermögensänderungsbilanz gemeint ist. In der Regel spielt die Vermögensänderungsbilanz für die makroökonomische Entwicklung keine nennenswerte Rolle. Das liegt daran, dass die Höhe der dort gebuchten Transaktionen bzw. ihr Saldo in Relation zum BIP sehr niedrig ist. In einzelnen Fällen machen sich Transaktionen in der Vermögensänderungsbilanz jedoch bemerkbar, dies gilt z.B. bei nennenswerten Schuldenerlassen. Ein anderes Beispiel ist der Kauf deutscher Mobilfunklizenzen (UMTS-Lizenzen) im Jahr 2000 durch ausländische Unternehmen (u.a. Vodafone) für immerhin 16 Mrd. EUR (ca. 0,4 % des damaligen deutschen BIP). Die Sekundäreinkommensbilanz ist für die außenwirtschaftliche Lage von wirtschaftlich weit entwickelten Ländern ebenfalls kaum relevant. Dies ist in manchen Entwicklungsländern anders, wenn laufende Entwicklungshilfezahlungen oder Rücküberweisungen von Emigranten einen signifikanten Teil des Einkommens ausmachen. Ein Extrembeispiel ist Nepal mit einem Bruttonationaleinkommen (BNE) von ca. 20 Mrd. USD (2014) und einem Sekundäreinkommen aus dem Ausland von ca. 6,5 Mrd. USD (W ELTBANK , 2016b). <?page no="209"?> 210 Leitbild und Ziele Wenn in einer Teilbilanz die Zahlungseingänge die Zahlungsausgänge übersteigen, sp ri ch t m an v on ein em Bil a n z über schu ss, ein em pos it i ve n Bi lanzs aldo , e in er p o siti ven oder einer aktiven Bilanz. Im umgekehrten Falle wird von einem Defizit, einem negativen Saldo, einer negativen oder passiven Bilanz gesprochen. Die Begriffe sind Synonyme. Eine Verbesserung der Bilanz bedeutet, dass ein Überschuss gestiegen oder ein Defizit gesunken ist. Eine Bilanzverschlechterung ist folglich eine Erhöhung eines Defizits oder ein Rückgang eines Überschusses.  Wissensbox 24: Genauer hingeschaut: Vorzeichenkonvention des Kapitalbilanzsaldos Hinsichtlich der Kapitalbilanz besteht die Besonderheit, dass in der Zahlungsbilanzstatistik nicht dann von einem positiven Kapitalbilanzsaldo gesprochen wird, wenn die Kapitalimporte („Zahlungseingänge“) größer als die Kapitalexporte („Zahlungsausgänge“) sind. Vielmehr ist es seit 2015 in der gesamten EU und somit auch in Deutschland die Konvention, dass ein positiver Kapitalbilanzsaldo eine Zunahme des Nettoauslandsvermögens ausweist. Das Nettoauslandsvermögen (auch: Nettoauslandsposition) ergibt sich aus dem Auslandsvermögen abzüglich den Auslandsverbindlichkeiten. Das Auslandsvermögen der Inländer umfasst Zweigniederlassungen und Unternehmensbeteiligungen im Ausland, ausländische Schuldverschreibungen und andere Forderungen an Gebietsfremde (z.B. Bankkredite) sowie Devisenbestände. Die Auslandsverbindlichkeiten sind die entsprechenden inländischen Vermögenswerte, die sich in ausländischen Händen befinden.  Beispiele Ein Inländer überträgt Aktien eines ausländischen Unternehmens im Wert von 100 EUR an einen Gebietsfremden  das Auslandsvermögen nimmt ab, auf der rechten Seite der Kapitalbilanz würden minus 100 EUR gebucht. Eine inländische Bank vergibt einen Kredit über 150 EUR an einen Gebietsfremden  das Auslandsvermögen nimmt zu, auf der rechten Seite der Kapitalbilanz würden plus 150 EUR gebucht. Ein Gebietsfremder kauft inländische Staatsanleihen im Wert von 70 EUR  die Auslandsverbindlichkeiten steigen, auf der linken Seite der Kapitalbilanz würden plus 70 EUR gebucht. Wenn dies die einzigen Buchungen in der betrachteten Periode wären, würde sich die linke Seite (Credit) auf 70 EUR und die rechte Seite (Debet) auf 50 EUR summieren. Dies kommt zwar einem Einnahmenüberschuss von 20 EUR gleich, es wird aber als negativer Saldo der Kapitalbilanz bezeichnet, weil sich das Nettoauslandsvermögen um 20 EUR verschlechtert hat. In der Statistik wird entsprechend eine Kapitalbilanz von -20 EUR ausgewiesen. <?page no="210"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 211 Teilbilanzen als Gleichgewichtsindikatoren 26.2 „Außenwirtschaftliches Gleichgewicht liegt vor, wenn die vom Ausland empfangenen Zahlungseingänge den im gleichen Zeitraum ins Ausland geflossenen Zahlungsausgängen entsprechen.“ Quelle: D UDEN , 2016. Das Zitat ist auf den ersten Blick missverständlich, denn die Ausgeglichenheit der Zahlungsbilanz ist rein saldenmechanisch ex post stets gegeben: Zu jeder Buchung gibt es eine Gegenbuchung. Folglich muss unter einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz etwas anderes zu verstehen sein als ein statistischer Zahlungsbilanzsaldo von Null (Einnahmen gleich Ausgaben). In der Regel ist damit gemeint, dass eine bestimmte Teilbilanz ausgeglichen sein soll, z.B.  der Außenbeitrag,  die Leistungsbilanz,  die Devisenbilanz oder  die Grundbilanz. Konzept des Außenbeitrags 26.3 Außenwirtschaftliches Gleichgewicht ist - anders als Arbeitslosigkeit, Inflation oder Wirtschaftswachstum - ein Begriff, der in der öffentlichen Diskussion kaum vorkommt. Und viele der Menschen, die mit dem Begriff etwas verbinden, setzen außenwirtschaftliches Gleichgewicht mit einem ausgeglichenen Außenbeitrag gleich. Der Außenbeitrag setzt sich aus zwei Teilbilanzen zusammen (→ Abb. 26.2). Das eine ist die Handelsbilanz, in welcher der Wert des Warenexports (Einnahmen) dem Wert des Warenimports (Ausgaben) gegenübergestellt wird. Das andere ist die Dienstleistungsbilanz, welche exportierte und importierte Dienstleistungen erfasst. Die Außenbeitragsquote ist der Außenbeitrag dividiert durch das BIP.  Was meinen Sie? G RUNDGESETZ und S TAB G halten die Regierung dazu an, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wenn das viergliedrige gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht inklusive außenwirtschaftlichem Gleichgewicht ernsthaft verletzt ist. Sollte die Regierung entsprechend eingreifen, wenn: <?page no="211"?> 212 Leitbild und Ziele  die Exporteinnahmen und Importausgaben deutlich divergieren,  die Exporteinnahmen deutlich höher als die Importeinnahmen sind,  die Exporteinnahmen deutlich niedriger als die Importausgaben sind? Versuchen Sie, Ihre Antwort zu begründen. Implikationen eines negativen Außenbeitrags 26.3.1 Ein negativer Außenbeitrag bedeutet, dass insgesamt mehr Güter konsumiert und investiert als produziert werden. Das wird zwar oft als bedenklich erachtet, aber im Grunde deutet es zunächst auf etwas Positives hin: Die Haushalte können mehr konsumieren, der Staat mehr Leistungen zur Verfügung stellen oder die Unternehmen mehr investieren als die inländische Wirtschaft hergibt. Der gegenwärtige materielle Wohlstand oder die wachstumsförderlichen Investitionen sind also höher als sonst möglich.  Aufgabe 19: Erklären Sie! Jahr 2013: Der realisierte private Konsum betrug 60 Mio. Einheiten und die getätigten Investitionen betrugen 20 Mio. Einheiten. Der Staat „konsumierte“ 30 Mio. Einheiten. Es wurden 20 Mio. Einheiten importiert. Der Außenbeitrag lag bei minus 10 Mio. Einheiten. a) Berechnen Sie das BIP, die Außenbeitragsquote sowie den gesamtwirtschaftlichen Verbrauch der Inländer und die Differenz zwischen Verbrauch und Bruttowertschöpfung. b) Angenommen, dass pro Beschäftigtem durchschnittlich 100 Gütereinheiten p.a. erstellt wurden (Arbeitsproduktivität von 100). Wie hoch war dann die Zahl der Beschäftigten? c) Überlegen Sie, unter welchen Voraussetzungen eine Verbesserung des Außenbeitrags - bei konstanter Arbeitsproduktivität - zu einem Anstieg der Beschäftigung führt. <?page no="212"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 213  Multiple-Choice-Aufgabe 11: Außenbeitrag Angenommen, im Jahr 2014 wären die Importe (→ Aufgabe 19) auf 10 Mio. gesunken. Wie hoch ist dann der Außenbeitrag? Welche der folgenden Aussagen über 2014 im Vergleich zu 2013 treffen dann zu?  Wenn die Produktion unverändert blieb, muss der Endverbrauch der Inländer c.p. gesunken sein.  Wenn der Endverbrauch der Inländer unverändert blieb, muss die Beschäftigung c.p. gestiegen sein. Angenommen, im Jahr 2014 wären die Exporte um 20 Mio. gestiegen. Wie hoch war der Außenbeitrag? Welche der folgenden Aussagen über 2014 im Vergleich zu 2013 t ref fen dann zu?  Wenn die Produktion unverändert blieb, muss der Endverbrauch der Inländer c.p. gesunken sein.  Wenn der Endverbrauch der Inländer unverändert blieb, muss die Beschäftigung c.p. gestiegen sein. Allerdings muss ein Außenbeitragsdefizit finanziert werden. Wenn die Importausgaben auf Dauer deutlich höher sind als die Exporteinnahmen, können destabilisierende Finanzierungs- und Verschuldungsprobleme auftreten. Dabei ist weniger die absolute Höhe des Defizits entscheidend, denn für eine sehr große Volkswirtschaft mit einem BIP von bspw. 4.000 Mrd. EUR ist ein Defizit von 50 Mrd. EUR einfacher zu stemmen als für eine kleine Volkswirtschaft mit einem BIP von z.B. 400 Mrd. EUR. Die Außenbeitragsquote ist daher aussagefähiger als der Betrag des Defizits. Selbst mit einer negativen Außenbeitragsquote von 4 % oder mehr sind jedoch nicht zwingend Finanzierungsprobleme verbunden. Ein Importüberschuss ist dann unproblematisch, wenn er nachhaltig finanziert wird. Dazu zählt eine Finanzierung durch Einkommenszahlungen aus dem Ausland, da diese als relativ dauerhaft zu erachten sind. Das gilt besonders für Primäreinkommensströme, also Erwerbs- und Vermögenseinkünfte. Sekundäreinkommensströme sind in der Regel ebenfalls stabil, z.B. Rentenzahlungen aus dem Ausland.   Beispiel 26: Bermudas Außenbeitrag 2015 Handelsbilanzsaldo: (19 - 935) Mio. BMD = -916 Mio. BMD* Dienstleistungsbilanzsaldo: (1302 - 997) Mio. BMD = 305 Mio. BMD Außenbeitrag: (-916 + 305) Mio. BMD= -611 Mio. BMD Im gleichen Jahr betrug das BIP ca. 5,9 Mrd. BMD. Somit betrug die Außenbeitragsquote ca. minus 10 %. In früheren Jahren lag die Quote auf ähnlich hohem Niveau. <?page no="213"?> 214 Leitbild und Ziele Die Bermudas haben keine Finanzierungsprobleme, denn: Primäreinkommenssaldo: (1859 - 296) Mio. BMD = 1563 Mio. BMD Sekundäreinkommenssaldo: (131 - 266) Mio. BMD = -135 Mio. BMD Einkommenssaldo mit dem Ausland: 1428 Mio. BMD Die Bermudas sind nicht verschuldet: Das Nettoauslandsvermögen (Forderungen an das Ausland abzüglich Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland) betrug Ende 2015 ca. 4,7 Mrd. BMD. (* 1 Bermuda-Dollar ≙ 1 USD) Quelle: G OVERNMENT OF B ERMUDA , 2016, S. 3f. Implikationen eines positiven Außenbeitrags 26.3.2 Ein Außenbeitragsüberschuss bedeutet, dass die Exporteinnahmen höher als die Importausgaben sind. Im Inland werden mehr Güter produziert als verbraucht. Blieben unter sonst gleichen Bedingungen mehr Güter im Inland, wäre die gegenwärtige Güterversorgung der inländischen Bevölkerung besser. Das mag zunächst gegen einen Exportüberschuss sprechen. Er kann jedoch den Präferenzen der Menschen entsprechen, wenn diese z.B. der Verwendung eines Exporteinnahmenüberschusses einen höheren Nutzen als dem Güterverbrauch beimessen. Darüber hinaus kann es sein, dass die Inländer gar nicht über das Einkommen verfügen, um sich Importe in gleicher Höhe wie die Exporte leisten zu können. Dies kann an hohen Primäreinkommensströmen ans Ausland liegen, wodurch das Bruttonationaleinkommen (BNE) wesentlich niedriger als das BIP ist. Es kann aber auch an relativ hohen Sekundäreinkommensströmen ans Ausland liegen. Zwischenfazit: Der Außenbeitrag ist kein geeigneter Indikator für außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Vor allem empfiehlt es sich, zusätzlich zum Außenbeitrag zumindest die Einkommensbeziehungen zum Ausland zu betrachten. Konzept der Leistungsbilanz 26.4 Das Konzept der Leistungsbilanz setzt eine ausgeglichene Leistungsbilanz mit einem Zahlungsbilanzgleichgewicht gleich. Liegt ein Leistungsbilanzdefizit vor, wird von einem Zahlungsbilanzdefizit bzw. einer passiven/ negativen Zahlungsbilanz gesprochen. Liegt ein Leistungsbilanzüberschuss vor, wird entsprechend von einem Zahlungsbilanzüberschuss etc. gesprochen. Der Leistungsbilanzsaldo entspricht der Summe der Salden des Außenbeitrags, der Primär- und der Sekundäreinkommensbilanz (→ Abb. 26.2). Die Leistungsbilanzquote ist der Leistungsbilanzsaldo geteilt durch das BIP. (Diese lag z.B. für die Bermudas im Jahr 2015 (→ Beispiel 26) trotz des negativen Außenbeitrags bei ca. plus 14 %.) Im Folgenden wird die Vermögensänderungsbilanz eingeschlossen und somit die nunmehr erweiterte Leistungsbilanz betrachtet. Dies ist - z.B. in vielen Lehrbüchern - sowohl üblich als auch vertretbar, weil der Vermögensänderungssaldo bei den allerwenigsten Ländern ins Gewicht fällt. <?page no="214"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 215 Implikationen einer negativen Leistungsbilanz 26.4.1 Ein nennenswertes Defizit in der Leistungsbilanz bedeutet, dass eine Volkswirtschaft über ihre Einkommensverhältnisse lebt. Sprich: Die inländischen Wirtschaftssubjekte geben für ihren Endverbrauch mehr aus, als sie im In- und Ausland erwirtschaftet haben und können die Mehrausgaben auch nicht durch Übertragungen (Sekundäreinkommen und Vermögenstransfers) decken. Sehr grobe Faustregel: Ein Leistungsbilanzdefizit von drei oder mehr Prozent des BIP über mindestens drei Jahre hinweg ist ein Indiz für außenwirtschaftliches Ungleichgewicht. Die Finanzierung eines Leistungsbilanzdefizits, das nicht durch Vermögensübertragungen kompensiert wird, muss durch Nettozuflüsse in der Kapitalbilanz erfolgt sein. In der Kapitalbilanz erscheinen internationale Direktinvestitionen, internationale Käufe und Verkäufe von Anleihen, Aktien, Finanzderivaten, Buch- und Bargeld sowie Bankkredite usw. Dies sind Transaktionen, bei denen Forderungen/ Vermögenswerte (assets) von Gebietsfremden (Ausländer) an Ansässige (Inländer) oder umgekehrt von Inan Ausländer übergehen.  Inländische Vermögenswerte im Besitz von Ausländern können vereinfacht als Verbindlichkeiten des Inlands gegenüber der übrigen Welt erachtet werden.  Ausländische Vermögenswerte im Besitz von Inländern können als Forderungen des Inlands gegenüber der übrigen Welt erachtet werden.  Der Wert der „Auslandsforderungen“ abzüglich des Werts der „Auslandsverbindlichkeiten“ wird als Nettovermögensposition gegenüber dem Ausland (kurz: Nettoauslandsposition) bezeichnet.  In der Zahlungsbilanzstatistik werden in der Kapitalbilanz und ihren Unterbilanzen nur Änderungen des jeweiligen Nettoauslandsvermögens ausgewiesen: Wird für die Kapitalbilanz ein negativer Wert ausgewiesen, bedeutet dies, dass sich das Nettoauslandsvermögen verringert (→ Wissensbox 24). Eine Ursache kann z.B. sein, dass Inländer im Ausland c.p. mehr Kredite aufgenommen als sie getilgt haben. Ein Nettozufluss in der Kapitalbilanz - also eine negative Kapitalbilanz (→ Wissensbox 24) - entspricht per Definition einem Defizit in der erweiterten Leistungsbilanz, da die Zahlungsbilanz saldenmechanisch stets ausgeglichen ist. Das Defizit gibt den Wert an, um den die Auslandsverbindlichkeiten einer Volkswirtschaft in dem betrachteten Zeitraum netto gestiegen sind bzw. die Forderungen gegenüber dem Ausland netto gesunken sind. Ein Leistungsbilanzdefizit zieht somit ex definitione eine Verschlechterung der Nettoauslandsposition nach sich. Dies ist für sich betrachtet gesamtwirtschaftlich weder schlecht noch gut. Wenn die Inländer z.B. über ein hohes Nettoauslandsvermögen verfügen und Auslandsvermögen partiell auflösen, um mehr Realinvestitionen im Inland zu tätigen, dann kann sich dies durchaus positiv auf die Volkswirtschaft auswirken. Und selbst wenn die Einnahmen ausschließlich für den Konsum importierter Gütern verwendet würden, ist das nicht per se negativ zu bewerten, denn aus dem gestiegenen Konsum ziehen die Haushalte einen Nutzen. Es wird indes kritisch, wenn ein nennenswertes Leistungsbilanzdefizit über viele Jahre hinweg fortdauert. Ab einem gewissen Zeitpunkt übersteigen die „Verbindlich- <?page no="215"?> 216 Leitbild und Ziele keiten“ des Inlands dessen „Forderungen“ an das Ausland. Die Nettoauslandsposition wir d n eg ativ. Die Finanzierung einer negativen Leistungsbilanz kann grundsätzlich durch Direktinvestitionen oder andere internationale Finanztransaktionen zustande kommen. Je nachdem, wie solide oder unsolide das Leistungsbilanzdefizit finanziert wird, kann es mit unterschiedlich hoher Wahrscheinlichkeit zu gesamtwirtschaftlichen Problemen führen. Eine Finanzierung des Defizits der erweiterten Leistungsbilanz durch Auslandsdirektinvestitionen (ADI) (→ Wissensbox 25) gilt gegenüber den übrigen Finanzierungsquellen als relativ solide. Das liegt an mehrerlei:  ADI sind langfristig ausgerichtet. Damit ist das Risiko, dass die Mittel kurzfristig wieder abgezogen werden, sehr viel geringer als bei kurzfristigen Portfolio- Investitionen.  ADI sind anders als Kredite und Anleihen nicht mit Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen verbunden.  ADI sind teils mit einer Steigerung der Exporte der Volkswirtschaft verbunden, wodurch ADI auf mittlere Sicht dazu beitragen können, den Außenbeitrag und c.p. auch die Leistungsbilanz zu verbessern.  ADI tragen zum Aufbau des Kapitalstocks im Inland bei, wodurch das Produktionspotenzial und langfristig das Einkommen steigt. Dies gilt weniger für Unternehmensfusionen und -übernahmen (mergers & acquisitions, M&A), sondern eher für die Errichtung von Neuanlagen (greenfield investments).  Wissensbox 25: Wie grenzt man Auslandsdirektinvestitionen (ADI) ab? Direktinvestitionen sind Unternehmensbeteiligungen, die mit dem Ziel getätigt werden, sich langfristig zu engagieren und auf die Unternehmensführung spürbaren Einfluss zu nehmen. Sie werden somit begrifflich von den kurzfristigen Portfolioinvestitionen abgegrenzt, die primär auf eine ständige Re-optimierung eines Anlageportfolios zielen. Vereinfacht gilt für die Statistik, dass Neuanlagen oder der Erwerb von Unternehmensbeteiligungen ab 10 % als ADI oder internationale Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) erfasst werden. Re-investierte Gewinne und Kredite innerhalb eines transnationalen Unternehmens zählen ebenfalls zu den ADI. Als transnationale Unternehmen (TNU) gelten Unternehmen, die Tochterunternehmen oder Unternehmensbeteiligungen (≥ 10 %) im Ausland besitzen.  Die weltweiten ADI werden für das Jahr 2015 auf 1.760 Mrd. USD geschätzt (UNCTAD, 2016, S. 2).  Die ADI deutscher Unternehmen betrugen 98 Mrd. EUR und die ADI in Deutschland summierten sich auf 41,5 Mrd. EUR (D EUTSCHE B UNDES- BANK , 2016b, S. 53f.). Wie aber ist es einzuschätzen, wenn ein Leistungsbilanzdefizit durch Kredite und Anleihen finanziert wird? Hierbei ist zu bedenken, dass diese mit Zahlungsverpflichtun- <?page no="216"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 217 gen (Tilgung und Zinsen) verbunden sind. Daraus folgt, dass ein dauerhaftes Leistun gsb il an zd ef izi t n ur d an n a uf di esem W eg fin an zie rt wer den k ann, wenn vo m Ausland stetig erneut Kredite gewährt bzw. inländische Anleihen gekauft werden. Gelingt dies nicht, ist eine Zahlungsbilanzkrise vorprogrammiert. Eine Zahlungsbilanzkrise ist das krasse Gegenteil von außenwirtschaftlichem Gleichgewicht. Eine Zahlungsbilanzkrise bedeutet, dass die Volkswirtschaft nicht mehr über ausreichende Mittel verfügt, um ihren Ausgabenverpflichtungen gegenüber dem Ausland gerecht zu werden. Die Folgen der Zahlungsunfähigkeit sind u.a.:  Das Vertrauen in die Volkswirtschaft wird weitgehend zerstört, woraufhin Inländern kaum noch Kredite vom Ausland gewährt werden und Investitionen in das Land rapide sinken.  Importe können nicht mehr finanziert werden. Dies führt zu Versorgungsengpässen bei den privaten Haushalten und den Unternehmen. Die Lage der Bevölkerung und der Wirtschaft verschlechtert sich zusätzlich, weil die staatliche Leistungserstellung zurückgefahren werden muss. Kurzum: Ein länger andauerndes Leistungsbilanzdefizit ist nicht per se ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht. Wenn es jedoch nicht nachhaltig finanziert wird, führt es über kurz oder lang zu einer Zahlungsbilanzkrise mit schwerwiegenden Folgen. Einen ersten Anhaltspunkt, ob langfristige Leistungsbilanzdefizite finanzierbar sind, gibt die Höhe und das Vorzeichen der Nettoauslandsposition. Es gibt keinen allgemein anerkannten Wert dafür, ab welchem Defizit ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht vorliegt. Als sehr grobe Faustregel gilt, dass eine negative Nettoauslandsposition von mehr als 30 % des BIP ein Hinweis ist. Die EU sieht bspw. eine ungleichgewichtige Situation gegeben, wenn die Nettoauslandsposition negativ und mehr als 35 % des BIP beträgt. Zusätzlich aber kommt es auf die Struktur der Vermögensposition an. So ist es ein Unterschied, ob sie vor allem deshalb negativ ist, weil Gebietsfremde sehr viele Direktinvestitionen im Inland tätigen und ganz allgemein viele Unternehmensanteile erwerben, oder ob vor allem die Verschuldung gegenüber dem Ausland sehr hoch ist. Zwischenfazit: Die Leistungsbilanz ist ein brauchbarer Indikator für außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Ein Leistungsbilanzdefizit von dauerhaft über 3 % des BIP weist auf ein potenziell destabilisierendes Finanzierungsproblem hin. Im Einzelfall ist die Art der Finanzierung dafür entscheidend, ob ein bedrohliches außenwirtschaftliches Ungleichgewicht vorliegt. Implikationen einer positiven Leistungsbilanz 26.4.2 Ein deutlicher Leistungsbilanzüberschuss impliziert, dass eine Volkswirtschaft unter ihren Einkommensverhältnissen lebt. Das heißt, die inländische Bevölkerung könnte mehr konsumieren, der Staat mehr Leistungen unentgeltlich bereitstellen oder die Unternehmen mehr im Inland investieren, als es der Fall ist. Dies kann durchaus im langfristigen Interesse der Menschen sein, d.h. den Präferenzen der Haushalte entsprechen: Denn ein Überschuss der erweiterten Leistungsbilanz bedeutet bekanntlich, dass die Nettokapitalabflüsse größer Null sind, womit eine Nettozunahme der Forderungen gegenüber dem Ausland vorliegt. Diese ist Ausdruck eines Vermögensanstiegs der <?page no="217"?> 218 Leitbild und Ziele Inländer gegenüber dem Ausland. Damit ist - soweit die Forderungen erfüllt werden - ein l ä nge rfri st ig h ö he res E in kom men ( dur ch Zi n sei n n a hm en , Gewi nn e au s dem A us land etc.) der Inländer verbunden. Allerdings birgt eine positive Leistungsbilanz durchaus Risiken für die Volkswirtschaft, denn jedem Leistungsbilanzüberschuss des Inlands entspricht rein rechnerisch ein Leistungsbilanzdefizit der übrigen Welt gegenüber dem Überschussland. Und wenn dieses Leistungsbilanzdefizit zu spürbaren Finanzierungsproblemen in anderen Ländern bis hin zur Zahlungsbilanzkrise führt, dann ist das Inland von der Krise in aller Regel ebenfalls betroffen. Die Exporte in das Defizitland brechen ein, Forderungen an das Krisenland verlieren an Wert und müssen gegebenenfalls abgeschrieben werden. Dies schädigt nicht allein die Exporteure und Gläubiger des Überschusslands, sondern kann eine internationale Schuldenkrise auslösen. Im schlimmsten Falle drohen Bankenzusammenbrüche. Das Risiko, dass ein Leistungsbilanzüberschuss zu Kettenreaktionen im Ausland führt, die über kurz oder lang auch dem originären Überschussland ökonomisch schaden, hängt außer von der Dauer des Überschusses von vielen anderen Faktoren ab. Ein wesentlicher Faktor ist, gegenüber welchen Ländern ein bilateraler Überschuss besteht: Sind dies Länder, die ohnehin seit Längerem ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufweisen, dann ist ein Destabilisierungspotenzial vorhanden. Wenn der Handelspartner, gegenüber dem ein bilateraler Leistungsbilanzüberschuss besteht, hingegen seinerseits per saldo einen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber der übrigen Welt aufweist, dann gibt das Defizit gegenüber dem betrachteten Land keinen besonderen Anlass zur Sorge. Ein zusätzlicher Faktor ist die wirtschaftliche Größe des Überschusslandes im Vergleich zu den Ländern, die bilaterale Defizite in der Leistungsbilanz aufweisen. Wenn z.B. das wirtschaftlich „sehr kleine“ Luxemburg mit einem BIP von 50 Mrd. EUR (2015) in den Jahren 2004-06 einen Leistungsbilanzüberschuss von über 10 % seines BIP erreichte, dann handelte es sich hierbei letztlich „nur“ um wenige Mrd. EUR. Die Wahrscheinlichkeit, dass Luxemburgs Leistungsbilanzüberschuss bei den Handelspartnern eine (Zahlungsbilanz-)Krise auslöst, geht gegen Null. Ist das Überschussland hingegen ein wirtschaftlich sehr großes Land, kann bereits ein moderater Überschuss in der Leistungsbilanz implizieren, dass Handelspartnerländer Zahlungsbilanzprobleme bekommen können. Während z.B. Irlands Leistungsbilanzüberschuss von 12 % des BIP (2015) „nur“ knapp 30 Mrd. beträgt, verbergen sich hinter Chinas Leistungsbilanzüberschuss von „nur“ 3 % des BIP (2015) umgerechnet 330 Mrd. USD (→ Tab. 26.2). <?page no="218"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 219 Land Saldo (USD) Saldo/ BIP VR China +330,6 Mrd. +3,0 Deutschland +285,1 Mrd. +8,5 % Japan +135,6 Mrd. +3,3 % Südkorea +105,9 Mrd. +7,7 % Schweiz +75,9 Mrd. +11,4 % USA - 436 Mrd. - 2,6 % Großbritannien - 153,1 Mrd. - 5,4 % Brasilien - 58,9 Mrd. - 3,3 % Australien - 58,4 Mrd. - 4,4 % Kanada - 49,2 Mrd. - 3,2 % Quelle: W ELTBANK , 2016c. Tab. 26.2: Leistungsbilanzsalden und -quoten ausgewählter Länder im Jahr 2015 * ohne Frankreich (±1 % im gesamten Zeitraum) Quelle: OECD, 2016b. Abb. 26.3: Leistungsbilanzquoten großer Volkswirtschaften*: 2000-2015 -6,0 -4,0 -2,0 0,0 2,0 4,0 6,0 8,0 10,0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Deutschland China Japan UK USA <?page no="219"?> 220 Leitbild und Ziele   Beispiel 27: Eine Kehrseite des deutschen Leistungsbilanzüberschusses Deutschlands Leistungsbilanz verbesserte sich zwischen 2002 und 2007 von 2 % des BIP auf 6,7 %. Zugleich verbesserte sich die bilaterale Leistungsbilanz gegenüber dem Rest der Eurozone von 15 Mrd. EUR auf 94 Mrd. EUR. Dieser bilaterale Überschuss lag auch während des Höhepunkts der Finanz- und Wirtschaftskrise (2008-2010) noch über 80 Mrd. EUR. Drei der EURO-Länder, gegenüber denen Deutschland einen bilateralen Überschuss hatte, wiesen erhebliche und wachsende Defizite ihrer gesamten Leistungsbilanz auf: Griechenland, Portugal und Spanien (→ Abb. 26.4). Im Nachgang der Finanzkrise stand diesen Ländern die Zahlungsunfähigkeit bevor, was die gesamte EU in eine zweite, noch stärkere Finanzkrise zu manövrieren drohte. Zeitweise schien sogar die Fortexistenz der Europäischen Währungsunion in Frage gestellt. Als Hauptursache der sog. „Euro-Krise“ gilt die hohe Verschuldung der drei Länder, die 2007 in Griechenland mehr als 230 % sowie in Spanien und Portugal mehr als 320 % des BIP erreichte. Während in Griechenland insbesondere die Staatsverschuldung ins Gewicht fiel, waren es in Spanien und Portugal die rasant steigenden privaten Schulden. Ein Teil der Schulden erklärt sich aus den hohen Leistungsbilanzdefiziten, die sich in sechs Jahren über die drei Länder hinweg auf etwa 580 Mrd. EUR addierten, davon ca. 150 Mrd. EUR gegenüber Deutschland (→ Abb. 26.5). Entsprechend wuchsen die Nettoauslandsschulden: In Spanien stiegen sie von 30 % auf 72 % des BIP, in Portugal von 43 % auf 65 % und in Griechenland von 48 % auf 66 %. Schließlich trugen Rettungsmaßnahmen (Umschuldungen, Kredite, Garantien etc.) der EU und des IWF dazu bei, eine Zahlungsunfähigkeit der drei Länder zu vermeiden. Bis 2016 wurden den drei Ländern Zusagen von ca. 540 Mrd. gemacht und ca. 360 Mrd. EUR ausgezahlt, wovon auf Deutschland rund ein Viertel entfällt. Theoretisch könnte sich die Summe noch verdreifachen. Quelle: E UROSTAT , 2016. Abb. 26.4: Leistungsbilanzdefizit von Griechenland, Portugal und Spanien 2002 bis 2011 (Defizit in % des BIP) 0 2 4 6 8 10 12 14 16 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Griechenland Spanien Portugal <?page no="220"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 221 Quelle: E UROSTAT , 2016 und D EUTSCHE B UNDESBANK , 2017b (eigene Berechnungen). Abb. 26.5: Leistungsbilanzdefizit von Griechenland, Portugal und Spanien, 2002-2011 (in Mrd. €) EU-Scoreboard für makroökonomische Ungleichgewichte 26.5 Die EU hat 2011/ 12 im Zuge der Finanz- und der ihr folgenden Euroschuldenkrise ein Verfahren zur Vermeidung bzw. Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte eingeführt, die sog. MIP (Macroeconomic Imbalance Procedure). Mithilfe eines Indikatoren-Scoreboards und jeweiligen Grenzwerten wird regelmäßig geprüft, ob in den einzelnen EU-Ländern ein nennenswertes makroökonomisches Ungleichgewicht herrscht. Das Indikatorenset und die Grenzwerte werden in unregelmäßigen Abständen überarbeitet. Das Scoreboard dient zum einen als Frühwarnsystem, zum anderen werden bei großen Ungleichgewichten tiefergehende Länderanalysen durchgeführt. Je nach Schwere des Ungleichgewichts werden Empfehlungen ausgesprochen oder das betroffene Land wird verpflichtet, sog. „Aktionspläne für Korrekturmaßnahmen“ (corrective actions) vorzulegen und durchzuführen. Bei deren Nichterfüllung können als letztes Mittel Strafen einschließlich Bußgelder verhängt werden. Das System basiert jedoch darauf, dass Bußgeldbescheide letztlich gar nicht zur Anwendung kommen, sondern die einzelnen Staaten die gesamtwirtschaftliche Situation zuvor in einer Weise beeinflussen, dass sich den Schwellenwerten genähert und sie letztlich wieder eingehalten werden. Das EU-Scoreboard enthält mehrere außenwirtschaftliche Indikatoren. Werden die jeweiligen Schwellenwerte überschritten, wird dies als Hinweis auf ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht (external imbalance) gewertet werden. Vier der Schwellenwerte beziehen sich direkt oder indirekt auf die Leistungsbilanz:  der Drei-Jahresdurchschnitt eines Leistungsbilanzdefizit soll 4 % des BIP nicht überschreiten,  der Drei-Jahresdurchschnitt eines Leistungsbilanzüberschusses soll 6 % des BIP nicht überschreiten [Deutschland verfehlt diesen Wert seit 2013], 0 20 40 60 80 100 120 140 160 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Summe der LB-Defizite davon mit Deutschland <?page no="221"?> 222 Leitbild und Ziele  eine negative Nettoauslandsposition soll 35 % des BIP nicht überschreiten und  der Anteil am weltweiten Export soll binnen 5 Jahren nicht um mehr als 6 % zurückgehen.  Wissensbox 26: Übrige Schwellenwerte des makroökonomischen Scoreboards der EU  Veränderungen des realen effektiven Wechselkurses von max. plus/ minus 5 % binnen 3 Jahren für Euroländer und von max. plus/ minus 11 % für die übrigen EU-Staaten.  Anstieg der nominalen Stückkosten binnen drei Jahren von max. 9 % in Euroländern und von max. 12 % in den übrigen EU-Staaten,  Schuldenstand des privaten Sektors von max. 133 % des BIP (→ Kap. 38.2)  private Kreditaufnahme von max. 14 % des BIP  jährliche Veränderung der Verbindlichkeiten des Finanzsektors von max. 16,5 %  staatlicher Schuldenstand von max. 60 % des BIP (→ Kap. 38.2)  jährlicher Preisanstieg von Wohnimmobilien von max. 6 % über dem Preisanstieg aller Konsumgüter  eine 3-Jahres-Erwerbslosenquote von max. 10 % (→ Kap. 9.1.2)  Anstieg der Langzeitarbeitslosenquote binnen 3 Jahren von max. 0,5 Prozentpunkten (→ Kap. 9.6)  Rückgang der Erwerbsquote binnen 3 Jahren von max. 0,2 Prozentpunkten (→ Kap. 9)  An st ieg d er J ug en d er we rbslo se nquote binn en 3 Jahr en vo n max . 2 Pr oz en tpunkten. Mehr - auch zu den Daten einzelner Länder - unter  https: / / www.euro-area-statistics.org/ macroeconomic-scoreboard Konzept der Devisenbilanz 26.6 Die Devisenbilanz gibt Auskunft über die Veränderungen der Gold- und Währungsreserven der Zentralbank. Sie ist eine Teilbilanz der Kapitalbilanz und wird im amtlichen Sprachgebrauch als Bilanz der Währungsreserven (→ Abb. 26.2) bezeichnet. Sie umfasst neben Veränderungen des Bestands an Währungsreserven auch Änderungen des Goldbestands, was auf dessen historische Funktion als Zahlungsmittel zurückgeführt werden kann. Sinken die Währungsreserven, bedeutet dies, dass die Zentralbank z.B. Fremdwährung oder Gold verkauft hat. Dann liegt ein Devisenbilanzdefizit vor. Ein Devisenbilanzdefizit impliziert, dass die Zentralbank Währungsreserven verwendete, um das Einnahmendefizit der inländischen Wirtschaftssubjekte gegenüber dem Ausland zu finanzieren. <?page no="222"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 223 Die Währungsreserven dienen im Allgemeinen der Krisenvorsorge und als Stabilisier un gsm echa n is m us, wenn e s etwa in fol ge ex oge ne r Sc hoc ks z u Z ah lu ngss chwi er igk eiten gegenüber dem Ausland kommt. Ein Beispiel könnte z.B. eine Naturkatastrophe im Inland sein, in deren Folge Produktionskapazitäten zerstört werden, so dass die Exporte einbrechen oder die Importe zur Deckung des einheimischen Güterbedarfs stark steigen. Die Möglichkeit, in solchen Fällen eingreifen zu können, ist vor allem für die Beruhigung der Märkte wichtig. Würde so ein Defizit in der Zahlungsbilanz nicht durch die Zentralbank gedeckt, wäre das Risiko hoch, dass die Währung des Landes abrupt stark abwertet, woraufhin das Vertrauen der Anleger schwindet und kurzfristiges Kapital abgezogen würde. Daraufhin würde die Währung weiter abwerten, die Anleger noch mehr aus der Währung flüchten, und es könnte zu einer Abwärtsspirale in Form einer Wechselkurskrise kommen. Im schlimmsten Fall würde die inländische Währung nahezu wertlos, sodass Importe nicht mehr finanziert und der Auslandsschuldendienst nicht mehr geleistet werden kann (Zahlungsbilanzkrise). Solange die Akteure wissen, dass im Fall des Falles die Zentralbank die eigene Währung stützen kann, indem sie die eigene Währung auf dem Devisenmarkt kauft, ist die Gefahr solch einer Abwärtsspirale indes gering.  Wissensbox 27: Wechselkurssystem und Währungsreserven Der Wechselkurs ist die Bezeichnung für den Außenwert einer Währung (Mengenwechselkurs), d.h. der Menge an Fremdwährungseinheiten, die für eine Einheit der nationalen Währung bezahlt werden muss (z.B. 1,10 USD/ EUR). Laut dem IWF (IWF, 2014, S. 5ff.) haben rund 70 seiner Mitglieder ein System flexibler Wechselkurse (floating exchange rates). Knapp 30 davon überlassen den Außenwert der eigenen Währung nahezu völlig den Marktkräften (free floating). Dazu zählen der Euro, der US-Dollar und das britische Pfund. Demgegenüber haben über 100 IMF-Mitgliedstaaten einen mehr oder weniger festen Wechselkurs (exchange rate peg), d.h. der Außenwert der Währung wird gegenüber anderen Währungen (z.B. dem US-Dollar, dem Euro oder einem Währungskorb) festgelegt. Dazu zählen auch Systeme des sog. crawling peg, in welchen primär die kurzfristige Wechselkursentwicklung in engen Grenzen gehalten wird, jedoch mittelfristig Markttendenzen ganz oder teils Rechnung getragen wird. Ein Beispiel für Letzteres ist China. Beim Management fester oder halbfester Wechselkurse kommt den Währungsreserven eine zentrale Rolle zu, denn der Verkauf von Währungsreserven ist eine Möglichkeit, den Wechselkurs zu beeinflussen. Wenn der Außenwert der Währung abzusinken droht (Abwertung), tritt die Zentralbank auf den Devisenmarkt und kauft die nationale Währung auf, wofür sie Währungsreserven verwendet. Durch den damit generierten Anstieg der Nachfrage nach der Inlandswährung steigt deren Kurs auf dem Devisenmarkt. <?page no="223"?> 224 Leitbild und Ziele Umgekehrt erhöht die Zentralbank das Angebot der eigenen Währung und kauft Fremdwährung auf dem Devisenmarkt, wenn die eigene Währung aufzuwerten droht. Diese Devisenmarktinterventionen implizieren, dass der Bestand an Währungsreserven steigt, wenn die Zentralbank eine Aufwertung der eigenen Währung verhindert. Die Währungsreserven sinken, wenn eine Abwertung verhindert werden soll. Für Länder mit festem Wechselkurs sind ausreichend hohe Währungsreserven besonders wichtig, da andernfalls der Eindruck entstehen kann, dass die Zentralbank unfähig wird, den Wechselkurs fix zu halten. Dann nämlich droht, dass Marktakteure das Vertrauen in die Wechselkursstabilität verlieren. Zumindest wird mit einem deutlichen Realignment des Wechselkurses (Veränderung des Fixkurses) nach unten gerechnet, was Spekulationsattacken gegen die Währung in Gang setzt und die Gefahr einer Krise verschärft.  Hinweis Der Preiswechselkurs gibt den Preis für eine Fremdwährungseinheit in nationalen Währungseinheiten an (z.B. 0,91 EUR/ USD). → Wissensbox 28 Devisenbilanzdefizite erscheinen wirtschaftspolitisch wenig problematisch, wenn der Bestand an Währungsreserven groß genug bleibt, um die Funktion der Währungsreserven zur Krisenprävention aufrechtzuerhalten. Daraus folgt, dass Devisenbilanzdefizite wenig Anlass zur Sorge geben, wenn  sie nicht von Dauer sind (es sei denn, das Defizit ist extrem hoch) und  sie mittelfristig wieder durch positive Devisenbilanzsalden ausgeglichen werden,  bzw. wenn der Bestand an Währungsreserven sehr hoch ist. Entsprechend wird in der Praxis weniger die absolute Höhe des Devisenbilanzdefizits als Indikator für ein Ungleichgewicht verwendet, sondern der aktuelle und voraussichtliche Bestand der Währungsreserven. Der kritische Wert ist von der Größe der Volkswirtschaft, dem Grad ihrer außenwirtschaftlichen Verflechtung, ihrem Zugang zum internationalen Kreditmarkt, der Höhe und Fristigkeit der Auslandsschulden und dem Importwert abhängig. Z.B. empfiehlt der IWF, dass die Währungsreserven ausreichen sollten, um die gesamten Importausgaben für mind. drei Monate zu decken. Wenn der Zugang zu den internationalen Kreditmärkten wie bei vielen Industrie- und auch etlichen Schwellenländern gut ist, reicht auch eine kleinere Importreichweite der Währungsreserven zur Krisenvorsorge aus. Außer den nationalen Währungsreserven ist auch die Höhe der Mittel anderer Institutionen ausschlaggebend, auf die bei Bedarf zurückgegriffen werden kann, z.B. auf die des Eurosystems. Dass die nationalen Reserven von Luxemburg und anderen Euroländern nicht einmal zur Finanzierung eines Monatsimports genügen (→ Tab. 26.3), ist u.a. wegen der Währungsreserven des gesamten Eurosystems von rund 710 Mrd. EUR (Ende 2016) wenig problematisch. Die 670 Mrd. EUR würden ausreichen, um die Importe der gesamten Eurozone für ca. 3,5 Monate zu finanzieren. <?page no="224"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 225 Der IWF und die W ELTBANK veröffentlichen Daten über die Reichweite der Währungsreserve n für rd. 140 Lä nder. → T ab. 26 .3 g ib t ein en Ü berbl ick übe r di e Lä n der mit den höchsten und niedrigsten Reichweiten sowie für Deutschland. 2014 2015 Saudi-Arabien 33,14 29,68 Algerien 28,20 25,92 China 18,81 17,63 Libanon 17,23 17,49 Japan 14,23 16,91 Peru 12,78 14,00 Schweiz 12,64 15,93 Deutschland 1,37 1,43 Slowenien 0,34 0,32 Slowakei 0,33 0,41 Malta 0,26 0,27 Estland 0,22 0,27 Sudan 0,19 0,17 Irland 0,06 0,07 Luxemburg 0,03 0,03 Quelle: W ELTBANK , 2016b. Tab. 26.3: Importreichweite der Währungsreserven (Monate) ausgewählter Länder Sollten die Währungsreserven nicht ausreichen, um ein vorübergehendes Zahlungsbilanzdefizit zu finanzieren, können Zentralbanken auf Kredite des I NTERNATIONA- LEN W ÄHRUNGSFONDS (IWF) zur Überbrückung von Zahlungsbilanzdefiziten zurückgreifen. Die Kredite haben in aller Regel eine Laufzeit von 1 bis 3 Jahren, werden ohne Auflagen vergeben und sind in der Höhe begrenzt. Darüber hinaus gibt es längerfristige Kredite, die dem Abbau struktureller Zahlungsbilanzungleichgewichte dienen und die mit wirtschaftspolitischen Auflagen verbunden sind, insb. die Fiskal-, Geld- und Außenwirtschaftspolitik betreffend. Ein Devisenbilanzüberschuss bedeutet, dass die Währungsreserven der Zentralbank im betrachteten Zeitraum zugenommen haben. Der zusammengefasste Saldo aller übrigen Zahlungsbilanztransaktionen ist positiv, wohinter sich häufig ein Einnahmenüberschuss der Leistungsbilanz verbirgt. Es können allerdings auch hohe Kapitalzuflüsse ursächlich sein. Eine positive Devisenbilanz ist für sich genommen kein stabilitätspolitisches Problem. Wenn es allerdings sehr hoch ist und über Jahre hinweg an- <?page no="225"?> 226 Leitbild und Ziele dauert, impliziert dies, dass die Zentralbank einen wachsenden Berg an Forderungen gegenüber d em A usland a nh ä uft. Da mit geht das Risik o ste igender V er l us te e inh er, wenn die Forderungen an Wert verlieren oder gar ausfallen. Die Länder mit den absolut höchsten Währungsreserven sind China und Japan, deren Reserven einen Wert von ca. 3.400 Mrd. bzw. 1.200 Mrd. US-Dollar (2015) aufweisen. Es folgen Saudi-Arabien (ca. 630 Mrd. USD) und die Schweiz (ca. 600 Mrd. USD) (W ELTBANK , 2016b). Diese Staaten zählen zu den sechs größten Nettoauslandsgläubigern der Welt, neben Deutschland und Norwegen. Eine Schwäche der Devisenbilanz als Indikator für außenwirtschaftliches Gleichgewicht ist der hohe Aggregationsgrad. Alle übrigen Transaktionen (Leistungsbilanz- und Vermögensänderungstransaktionen sowie Kapitalflüsse) werden aggregiert: Nur wenn diese insgesamt ein hohes Defizit aufweisen, signalisiert die dann deutlich negative Devisenbilanz ein Ungleichgewicht. So kann es aber sein, dass die Devisenbilanz auch dann ausgeglichen ist, wenn bereits erhebliche Finanzierungsprobleme gegenüber dem Ausland bestehen. Das Konzept der Devisenbilanz wird auch dafür kritisiert, dass es einzig auf die Währungsreserven der Zentralbanken abstellt, aber andere Reserven nicht umfasst. Diese könnten auch zur Deckung von externen Einnahmenlücken verwendet werden. Daher wird gelegentlich vorgeschlagen, statt der Devisenbilanz die sog. Liquiditätsbilanz gegenüber dem Ausland zu betrachten, welche die Veränderungen der gesamten Währungsreserven enthält. Der Nachteil dieses Vorschlags ist, dass nicht zwingend vorausgesetzt werden kann, dass die privaten Währungsreserven auch tatsächlich immer mobilisiert werden können, um bei Bedarf eine Einnahmenlücke zu finanzieren. Außerdem ist die verlässliche Erfassung privater Währungsreserven nur eingeschränkt möglich. Zwischenfazit Ein ausgeglichener Devisenbilanzsaldo ist kein Indiz für außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Ein über mehrere Jahre hinweg negative Devisenbilanz deutet hingegen stark auf ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht hin. Sinken zusätzlich die Währungsreserven auf ein (zu) niedriges Niveau, ist eine Währungs- und Zahlungsbilanzkrise wahrscheinlich. Konzept der Grundbilanz 26.7 Im Kern laufen die Teilbilanzkonzepte zur Bestimmung außenwirtschaftlichen Gleichgewichts auf die alles entscheidende Frage der Finanzierung von Ausgabenüberschüssen im internationalen Handel bzw. in der (erweiterten) Leistungsbilanz hinaus. Dabei wird in aller Regel übersehen, dass auch Einnahmenüberschüsse im Einzelfall die wirtschaftliche Stabilität gefährden können. Davon abgesehen ist keines der vorgestellten Konzepte des Zahlungsbilanzdefizits vollauf befriedigend, da die (Nicht-)Nachhaltigkeit der Finanzierung nicht oder nur unvollständig berücksichtigt wird. Das Konzept der Grundbilanz misst der Art der Finanzierung demgegenüber ein stärkeres Gewicht bei. Die Grundbilanz umfasst neben den Transaktionen der Leistungs- und Vermögensänderungsbilanz die langfris- <?page no="226"?> Zahlungsbilanzgleichgewicht: Indikatoren und Begründungen 227 tigen Finanztransaktionen, also vor allem Direktinvestitionen und langfristige Kredite/ A nl eihen . Ei ne nega tive G ru nd b ila nz b e deu tet, das s der f or ma le Za hlu ngsb ila nz ausgleich durch kurzfristige Kredite und andere kurzfristige Kapitalzuflüsse hergestellt wurde. Der Gedanke des Gleichgewichtskonzepts der Grundbilanz ist, dass kurzfristige Kapitalströme volatil sind und jederzeit wieder abfließen können und somit ein hohes Destabilisierungspotenzial bergen. Langfristig orientierte Kapitalflüsse seien hingegen eine verlässlichere Finanzierungsquelle, da sie nachhaltiger und nichtspekulativ sind.  Hinweis Nach gängiger Konvention gilt Kapitalverkehr als langfristig, wenn die Anlagedauer mindestens ein Jahr beträgt. Das Konzept der Grundbilanz stößt in der Praxis jedoch an Grenzen: Der internationale Handel mit langfristigen Wertpapieren zählt prinzipiell zum langfristigen Kapitalverkehr, ist aber dennoch sehr volatil. Außerdem ist die Fristigkeit von Krediten bzw. Schuldverschreibungen für die Nachhaltigkeit der Finanzierung viel weniger entscheidend als die Fähigkeit zur Bedienung des Schuldendiensts. Ob etwa ein 5-Jahreskredit aufgenommen wurde oder über 5 Jahre hinweg jedes Jahr aufs Neue ein 1-Jahreskredit aufgenommen wird, ist für die außenwirtschaftliche Stabilität nachrangig. Weder ist jede kurzfristige Kapitalbewegung spekulativ, noch ist jede langfristige Anlageform nichtspekulativ. Das zugrundeliegende Motiv kann der Zahlungsbilanzstatistik indes nicht entnommen werden. Konzept der autonomen Zahlungsbilanz 26.8 Als autonome Zahlungsbilanzbewegungen gelten alle Transaktionen, die von den privaten und öffentlichen Wirtschaftssubjekten aus sich heraus und nicht zur Beeinflussung der Zahlungsbilanz getätigt werden. Im Gegensatz dazu stehen die induzierten Außenwirtschaftstransaktionen (auch: Anpassungstransaktionen), die vom Staat bzw. von der Zentralbank zur Beeinflussung der Zahlungsbilanz getätigt werden. Ein Beispiel für eine induzierte Transaktion ist die staatliche Aufnahme eines Kredit beim I NTERNATIONALEN W ÄHRUNGSFONDS (IWF), um die Zahlungsbilanz zu stabilisieren. Entsprechen sich die autonomen Credit- und Debettransaktionen, herrscht außenwirtschaftliches Gleichgewicht in dem Sinne, dass die geplanten außenwirtschaftlichen Ausgaben und Einnahmen übereinstimmen. Das Konzept der autonomen Zahlungsbilanz ist theoretisch befriedigender als die ex post-Betrachtung von Teilbilanzen, da es dem ex ante-Charakter des Marktgleichgewichts entspricht, das dann vorliegt, wenn die Pläne der Wirtschaftssubjekte in Erfüllung gehen. Das Konzept ist für die Wirtschaftspolitik jedoch wenig geeignet, da es in der Praxis nicht möglich ist, autonome und induzierte Außenwirtschaftstransaktionen sauber voneinander zu trennen. Denn dies würde erfordern, die Motive zu kennen, die sich hinter einzelnen Transaktionen verbergen. Nimmt der Staat z.B. einen Kredit im Ausland auf, ist oft nicht eindeutig erkennbar, ob dies zur Finanzierung eines Haushaltsde- <?page no="227"?> 228 Leitbild und Ziele fizits (autonome Transaktion) oder eines Zahlungsbilanzdefizits (induzierte Transaktio n ) er fo lg t. O de r wen n d ie Z en tr a lb a n k de n Leit zins er h ö h t, ka n n di es z .B . der A nregung der Konjunktur dienen, aber es kann auch dadurch motiviert sein, dass die Zentralbank Kapitalzuflüsse aus dem Ausland anziehen möchte, um die Zahlungsbilanz zu stabilisieren. Im zweiten Fall wären dies induzierte Kapitalimporte. 27 Wechselkursentwicklung als Gleichgewichtsindikator Vorbemerkungen 27.1 Die Verwendung des Wechselkurses als Indikator für außenwirtschaftliches Gleichgewicht stellt im Wesentlichen auf eine Gleichsetzung von außenwirtschaftlichem mit Devisenmarktgleichgewicht ab. Der Devisenmarkt ist der analytische Ort, an dem sich Devisennachfrage und -angebot treffen. Der Preis am Devisenmarkt ist der Wechselkurs. Ein stabiler Wechselkurs signalisiert, dass sich Nachfrage und Angebot am Devisenmarkt in etwa entsprechen. Der Wechselkurs ist als Indikator für außenwirtschaftliches Gleichgewicht in der Theorie plausibel. Aber in der Praxis ist er dann nicht anwendbar, wenn die betrachtete Volkswirtschaft keine nationale Währung hat, sondern Teil eines großen Währungsraums ist (z.B. Deutschland als Mitglied der Eurozone seit 1999). Denn dann kann der Wechselkurs ex definitione keine Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedern der Währungsunion anzeigen. Die Aussagekraft der Wechselkursentwicklung ist außerdem sehr eingeschränkt in Ländern mit einem System fester oder halbfester Wechselkurse (→ Wissensbox 28).  Wissensbox 28: Grundbegriffe rund um den Wechselkurs Wechselkurs und Devisenkurs sind Synonyme. Fremd-, Auslandswährung oder Devise sind Bezeichnungen für ausländisches Geld. Der Devisenmarkt ist der Markt, auf dem Inlands- und Auslandswährung gegeneinander getauscht werden. Der Preiswechselkurs (auch: Preisnotierung, direkte Notierung) gibt den Preis der Fremdwährung (direkte Notierung) in Einheiten der Inlandswährung an. Am 31. März 2016 kostete 1 USD z.B. 0,8785 EUR. Der Mengenwechselkurs (auch: Mengennotierung, indirekte Notierung) gibt an, wie viele Fremdwährungseinheiten für eine inländische Währungseinheit bezahlt werden. Am 31. März 2016 kostete 1 EUR z.B. 1,1385 USD. Im Euroraum wird diese Art der Wechselkursnotierung verwendet. <?page no="228"?> Wechselkursentwicklung als Gleichgewichtsindikator 229 Der Briefkurs (ask) ist aus Sicht der Banken der Verkaufspreis eines Vermögenswertes (z.B. eines Wertpapiers). Ist der Vermögenswert eine Einheit einer Fremdwährung, ist dies der Preis, den Kunden pro Fremdwährungseinheit an die Bank bezahlen. Da im Euroraum der Wechselkurs jedoch indirekt notiert ist (Mengenwechselkurs) und somit der Euro den von der Bank verkauften Vermögenswert darstellt, gilt im Devisenhandel des Euroraums die Besonderheit: Der Briefkurs gibt an, wie viel Fremdwährungseinheiten die Bank für jeden Euro verlangt, wenn Kunden ihre Devisen in Euro tauschen. Der Geldkurs (bid) ist aus Bankensicht der Ankaufspreis, den sie Kunden bieten, wenn diese einen Vermögenswert an sie verkaufen. Aufgrund der Mengennotierun g des E uros gibt der Geldkurs im De vi se nhandel de s Euroraums a n, wi e vi el Fremdwährungseinheiten die Kunden pro Euro erhalten, wenn sie Devisen von der Bank kaufen. Der Forex Spread ist die Differenz zwischen Brief- und Geldkurs. Forex ist die Kurzform von foreign exchange und spread bedeutet Spanne. Der Forex Spread ist die Gewinnspanne des Devisenhändlers (z.B. der Bank) und wird in Pips gemessen. Ein Pip ist 0,0001. Der amtliche Mittelkurs ist der arithmetische Durchschnitt aus Brief- und Geldkurs. Der amtliche Mittelkurs des Euros wird von der EZB täglich ermittelt und mitgeteilt (Euro foreign exchange reference rate). Der Kassakurs ist der Wechselkurs, der bei einem Devisentauschgeschäft zu zahlen ist, bei dem der Tausch von Inlandsin Auslandswährung sofort stattfindet. In der Praxis bedeutet dies eine Realisierung des Tauschs binnen zwei Bankarbeitstagen. Der Terminkurs ist der Wechselkurs, der heute für einen Tausch von Währungen vereinbart wird, der in der Zukunft liegt. Für Standardgeschäfte (z.B. EUR für USD oder GBP) existieren jederzeit bekannte Devisenterminkurse, da der Terminmarkt groß und liquide genug ist. Bei exotischen Termindevisengeschäften (z.B. EUR für Kongo-Franc) sind solche Terminkurse hingegen oft nicht vorab bekannt, sondern die Nachfrage muss sich ihr Angebot erst „suchen“. Der bilaterale Wechselkurs drückt das Tauschverhältnis der Inlandswährung gegenüber einer ausländischen Währung aus, z.B. US-Dollar pro Euro. Der effektive Wechselkurs (EWK) drückt das durchschnittliche Tauschverhältnis der Inlandswährung gegenüber den Währungen der wichtigsten Handelspartner aus. Er wird als gewichtetes geometrisches Mittel der bilateralen Wechselkurse berechnet - die Gewichte spiegeln den jeweiligen Anteil der Handelspartner an den Exporten und Importen des Inlands wider (sog. Handelsgewichte). Die EZB veröffentlicht sowohl die Handelsgewichte als auch den effektiven Wechselkurs des Euro u.a. für die 12, 18 und 38 wichtigsten Handelspartnerwährungen (EWK-12, EWK-18 bzw. EWK-38). Ein einfaches Rechenbeispiel findet sich weiter unten (→ Beispiel 28). Abwertung einer Währung besagt, dass der Außenwert einer Währung sinkt. <?page no="229"?> 230 Leitbild und Ziele Aufwertung einer Währung bedeutet, dass der Außenwert einer Währung steigt. Es ist zwischen Abbzw. Aufwertungen des effektiven Wechselkurses und gegenüber einzelnen Währungen zu unterscheiden. Die Wechselkursentwicklung kann auch dann seine Funktion als Gleichgewichtsindikator nicht voll entfalten, wenn der Außenwert einer Währung nicht ungehindert den freien Marktkräften (free floating exchange rates) überlassen wird, sondern durch staatliche Devisenmarktinterventionen oder andere staatliche Maßnahmen gezielt beeinflusst wird. Solche Wechselkurssysteme werden als managed floating bezeichnet. Und selbst unter den offiziellen free floaters finden sich einige Währungen, die durch staatliche Maßnahmen derart oft gezielt beeinflusst werden, dass sie inoffiziell als sog. dirty floaters bezeichnet werden (auch: verdecktes managed floating).  Beispiel 28: Berechnung des effektiven Wechselkurses Kalands effektiver Wechselkurs (EWK-3) lässt sich mithilfe folgender Daten ermitteln: Handelspartner Handelsgewicht Bilateraler WK Emmland 0,4 2 Em/ K Peland 0,15 4 P/ K Teeland 0,45 3 T/ K EWK-3 = 2 0,4 · 4 0,15 · 3 0,45 = 2,6633 Mithin ist die Wechselkursentwicklung als Indikator für die außenwirtschaftliche Lage im Wesentlichen nur dann gut geeignet, wenn es um Volkswirtschaften mit a) einer eigenen Währung und b) einem sehr flexiblen Wechselkurs geht. Dies sind laut dem IWF weniger als 30 Volkswirtschaften (→ Wissensbox 27), darunter die Eurozone als ein Wirtschaftsraum. Andere free floaters sind der US-Dollar und das britische Pfund. Zu beachten ist indes, dass der effektive Wechselkurs (→ Wissensbox 28) selbst dieser Währungen nicht nur durch Marktkräfte bestimmt wird, weil in den effektiven Wechselkurs auch Festkurswährungen eingehen.  Multiple-Choice-Aufgabe 12: Verständnisüberprüfung zu Wechselkursen Kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an.  Der Geldkurs einer mengennotierten Währung beträgt 1,02 Fremdwährungseinheiten. Der amtliche Mittelkurs beträgt 1,04 Einheiten. Dann liegt der Briefkurs bei 1,06 Einheiten. <?page no="230"?> Wechselkursentwicklung als Gleichgewichtsindikator 231  Gestern betrug der bilaterale Mittelkurs eines US-Dollar 0,9078 EUR/ USD. Heute betrug der bilaterale Mittelkurs eines Euros 1,002 USD/ EUR. Folglich hat der US-Dollar abgewertet.  Im F alle e ine s W ech se l ku rs es , d er v ö ll ig d en M arktkräft en ü be rl asse n is t, wird eine Währung ceteris paribus aufwerten, wenn die Importnachfrage des Währungsraums steigt.  Der Preiswechselkurs wird bei völlig flexiblem Wechselkurs ceteris paribus steigen, wenn Auslandsdirektinvestitionen in den Währungsraum zunehmen. Wechselkurs und Devisenmarktgleichgewicht 27.2 Devisenangebot und Devisennachfrage 27.2.1 Der Zusammenhang zwischen außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wechselkursentwicklung wird im Folgenden am Beispiel des Euros (EUR) dargestellt. Werden Euro am Devisenmarkt nachgefragt, entspricht dies einem Angebot an Fremdwährung (Devisen) gleichen Werts. Umgekehrt entsprechen sich Euro-Angebot und Devisennachfrage. Euro-Nachfrage entsteht in Folge solcher ökonomischen Vorgänge, die in der Zahlungsbilanz des Euroraums als eine Zunahme der Zahlungseingänge gebucht werden, z.B. Exporte, eine Zunahme der inländischen Vermögenswerte in ausländischer Hand („Auslandsverbindlichkeiten“) oder eine Abnahme der ausländischen Vermögenswerte in inländischer Hand („Forderungen“ gegenüber dem Ausland). Verkürzt gilt: Exporte, Primär- und Sekundäreinkommensströme aus dem Rest der Welt sowie Kapitalimporte führen prinzipiell zur Euro-Nachfrage auf dem Devisenmarkt. Das Euro-Angebot (Devisennachfrage) entsteht durch Importe des Euroraums, Primäreinkommenszahlungen an Gebietsfremde etc. Eine Abwertung des Euro erfolgt, wenn die Euro-Nachfrage geringer als das Euro- Angebot ist. Das heißt: die Zahlungseingänge (Exporte, Kapitalimporte etc.) sind unzureichend, um die Zahlungsausgänge (Importe, Kapitalexporte etc.) in Gänze zu finanzieren. Eine Aufwertung signalisiert entsprechend, dass die Euro-Nachfrage größer als das Euro-Angebot ist. Das heißt: die Zahlungseingänge übersteigen die Zahlungsausgänge. Wechselkursvolatilität 27.2.2 Devisen werden an Börsen gehandelt und unterliegen naheliegender Weise ständigen, kurzfristigen Schwankungen, d.h. die Wechselkurse sind ähnlich wie Aktien- und Wertpapierkurse volatil. Die Preise für die meisten Güter, die nicht an Börsen gehandelt werden, sind dagegen wenig volatil. Beispiele hierfür sind die Preise für Eiscreme, Gummibärchen, Mineralwasser, Schuhe und Kfz. Ein Grund für die hohe Wechselkursvolatilität sind spekulative internationale Kapitalströme. Spekulation basiert auf Erwartungen. Erwarten die Marktakteure, dass eine Währung aufwertet, werden sie diese Währung kaufen, um Kursgewinne zu realisieren. Erwarten sie eine Abwertung, werden sie die Währung verkaufen. Das führt dazu, dass <?page no="231"?> 232 Leitbild und Ziele sogar Gerüchte über z.B. eine Zinssenkung der EZB zu einer Abwertung führen könne n, d ie wiede ru m dann korr igiert wird, w enn sich das Ge rücht als falsch erweist. Ein anderer Grund für kurzfristige Wechselkursbewegungen ist dem Umstand geschuldet, dass selbst bei mittelfristiger Gleichheit von Devisennachfrage und Devisenangebot (im Sinne einer ausgeglichenen autonomen 1-Jahres-Zahlungsbilanz) die außenwirtschaftlichen Transaktionen, die zu Euro-Nachfrage und zu Euro-Angebot führen, zeitlich auseinanderfallen. Dann ist der Wechselkurs zwar mittelfristig betrachtet konstant, aber schwankt von Tag zu Tag und ggfs. von Monat zu Monat. Außerdem finden permanente Anpassungsprozesse auf in- und ausländischen Märkten statt, welche durch ein Auf und Ab des Wechselkurses begleitet werden. So sind Wechselkursschwankungen im 4-Wochen-Zeitraum bis ca. plus/ minus 2 % völlig normal und kein Hinweis auf eine instabile Währung. In → Abb. 27.1 ist die tägliche Entwicklung des effektiven Wechselkurses (→ Wissensbox 28) des Euros gegenüber den Währungen der wichtigsten 19 Handelspartner (EWK-19) im Vergleich zum Monatsdurchschnitt (blau) dargestellt. Der EWK-19 vom 1. Januar 1999 wurde auf 100 normiert. Der EWK-19 betrug z.B. am 1.10.2016 ca. 95,3. Das bedeutet, dass der Euro gegenüber den betrachteten 19 Währungen am 1.10.2016 etwa 4,7 % weniger wert war als zum Zeitpunkt seiner Einführung. Tägliche Schwankungen von um 1 % sind durchaus die Regel. Quelle: E UROSTAT , 2016b. Abb. 27.1: Effektiver Wechselkurs: Tages- und Monatskurse des Jahres 2016 (EWK-19, 1.1.1999 = 100) Abwertungen oder Aufwertungen sind also nicht per se ein Indiz für ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht, zu dessen Behebung wirtschaftspolitische Maßnahmen gerechtfertigt sind. Für eine Einschätzung der Lage müssen vielmehr weitere Aspekte berücksichtigt werden. Dazu zählen die Dauer und das Ausmaß der Wechselkursbewegung. → Abb. 27.1 gibt u.a. die monatlichen Wechselkursschwankungen wieder (blaue Punkte). Die monatlichen Schwankungen übersteigen selten 2 %, d.h. tägliche Schwankungen gleichen sich großteils aus. Zugleich macht die Entwicklung der durchschnittli- 92 92,5 93 93,5 94 94,5 95 95,5 96 96,5 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Tageskurs Monatskurs <?page no="232"?> Wechselkursentwicklung als Gleichgewichtsindikator 233 chen Quartalskurse (→ Abb. 27.2: graue Kurve) deutlich, dass vereinzelt mittelfristige A b- und A ufw ertu ng en v on b is zu 8 % sta tt fa nd en . Da h in ter ve rb er ge n si ch f un da me ntale Änderungen wie z.B., dass die EZB den Leitzins im Sommer 2014 auf Null senkte. Quelle: E UROSTAT , 2016b. Abb. 27.2: Effektiver Wechselkurs: Monats- und Quartalkurse des Euros 1999-2016 (EWK-19, 1.1.1999 = 100) Dauer der Wechselkursänderung 27.2.3 Auch wenn eine Währung um ein paar Prozentpunkte innerhalb eines überschaubaren Zeitraums abbzw. aufwertet, ist dies nicht zwingend eine ernsthafte Verletzung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. Vielmehr ist dies - soweit der Außenwert sich binnen einiger Monate stabilisiert - meist der Ausdruck eines erfolgreichen Anpassungsprozesses hin zu einem Gleichgewicht, nachdem das Devisenmarktgleichgewicht gestört wurde. Solche Störungen können realwirtschaftlicher Natur (z.B. ein Anstieg der Importnachfrage in Folge steigender Einkommen) sein oder monetärer Art (z.B. ein Anstieg der Inlandszinsen mit der Folge eines zunehmenden Finanzzuflusses aus dem Ausland). Die Störungen können außenwirtschaftlich bedingt sein (z.B. hohes Wirtschaftswachstum im Ausland, woraufhin die euroländischen Exporte steigen) oder durch binnenwirtschaftliche Prozesse angestoßen werden (z.B. Leitzinssenkung durch die EZB, woraufhin vermehrt Portfolioinvestitionen aus dem Euroraum ins Ausland fließen). Zieht die Störung einen Euro-Nachfrageüberschuss auf dem Devisenmarkt nach sich, wertet der Euro auf. Umgekehrt führt eine Störung, die einen Euro- Angebotsüberschuss zur Folge hat, zu einer Abwertung des Euros. Wechselkursänderungen induzieren Anpassungsprozesse, die im Falle einer Abwertung idealtypisch wie folgt aussehen können: Euroländische Exportgüter werden aus Sicht der Gebietsfremden günstiger, woraufhin sie vermehrt euroländische Güter nachfragen. Somit steigen die euroländischen Exporte. Zugleich werden ausländische Güter für die Euroländer teurer, woraufhin die Importnachfrage sinkt und teils durch die Nachfrage nach inländischen Gütern ersetzt wird. Daher steigt über kurz oder lang wieder die Euro-Nachfrage auf dem Devisenmarkt und der Euro wertet wieder solange auf, bis ein neues Devisenmarktgleichgewicht erreicht ist. Ergänzend kann es nach der originären Euro-Abwertung auch zum verstärkten Kauf von Euro durch Finanzinvestoren kommen, die den Anpassungsprozess vorwegnehmen und daher in Euro inves- 80 85 90 95 100 105 110 115 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 20 07 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Monatskurs Quartalskurs <?page no="233"?> 234 Leitbild und Ziele tieren. Sind die Anpassungen des Außenhandels bzw. der internationalen Finanzström e a bg es ch lo ss en , h er rscht D ev ise n m ark tglei ch gew ic ht u nd damit Wec hse lkurs st abilität. Parallel zu den Bewegungen auf dem Devisenmarkt kommt es zu Produktions- und Inflationsschwankungen. Z.B. wirkt eine Euro-Abwertung expansiv auf die ausländische und inländische Nachfrage nach euroländischen Gütern (s.o.), was die Produktion/ Beschäftigung anregt und inflationstreibend wirkt. Zugleich erhöht eine Abwertung unmittelbar die Inflation, weil importierte Güter teurer werden. Der Inflationsanstieg beeinflusst wiederum die binnenwirtschaftliche Lage: Im Normalfall ist mittelfristig damit zu rechnen, dass die Produktion wieder zurückgeht (→ Kap. 45ff.). Wenn der Wechselkurs auf mittlere Sicht nicht wieder zur Ruhe kommt, sondern auf längere Zeit abwertet (oder aufwertet), lässt sich auf ein ernsthaftes außenwirtschaftliches Ungleichgewicht schließen. Denn dies bedeutet, dass der Devisenmarkt nicht zurück zu einem Gleichgewicht findet. Die Wirkungen eines länger andauernden Auseinanderklaffens von Devisennachfrage und -angebot auf den Wechselkurs und damit auf die binnenwirtschaftliche Stabilität sind zugleich die Begründung für das Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. Anhaltende Wechselkursbewegungen, die über die normale Wechselkursvolatilität hinausgehen, führen c.p. zu Verletzungen der übrigen Ziele „des Magischen Vierecks der Wirtschaftspolitik“ oder verschärfen diese. Ausmaß der Wechselkursbewegung 27.2.4 Starke Wechselkursänderungen innerhalb eines kurzen Zeitraums - etwa binnen weniger Wochen - sind ebenfalls ein Indiz für ein außenwirtschaftliches Ungleichgewicht. Sie weisen auf ein großes Auseinanderklaffen von Zahlungseingängen und Zahlungsausgängen zwischen In- und Ausland hin. Je höher der Verflechtungsgrad eines Landes mit der Weltwirtschaft ist, umso stärker ist der Unternehmenssektor und damit letztlich auch die Bevölkerung von Wechselkursänderungen betroffen und umso größer ist der destabilisierende Effekt von ungewöhnlich starken Wechselkursbewegungen auf die Volkswirtschaft. Unternehmen können sich zwar gegen Wechselkursrisiken absichern, aber zum einen verursacht dies Kosten und zum anderen lässt sich nicht jedes Wechselkursrisiko absichern (→ Kap. 29). Stabilitätsprobleme des Wechselkurses 27.3 Es ist festzuhalten, dass sich ein instabiler Wechselkurs negativ auf das Beschäftigungsziel, die Preisniveaustabilität und letztlich auch wachstumsmindernd auswirkt. Zugleich sind es oft interne Ungleichgewichte, die zu instabilen Wechselkursen führen, z.B. ausgelöst durch einen Inflationsanstieg, starke Zinsbewegungen, Wachstumseinbrüche, Überschuldung etc. Eine Besonderheit des Devisenmarkts liegt jedoch darin, dass er grundsätzlich anfällig für anormales Marktverhalten der Nachfrager und Anbieter ist. Während die Reaktion auf eine Preissteigerung normalerweise darin besteht, dass die Nachfrage (nach einem Gut) sinkt bzw. das Angebot steigt, verhält es sich bei anormaler Nachfrage umgekehrt: Steigt der Preis (z.B. der Devisenkurs), steigt die Nachfrage bzw. das Angebot geht zurück. Die Folge anormalen Marktverhaltens kann sein, dass der Markt <?page no="234"?> Wechselkursentwicklung als Gleichgewichtsindikator 235 nach einer Störung nicht (zügig) in ein Gleichgewicht zurückkehrt. Man spricht dann vo n e inem in stabil en Marktgleic hgewi cht. Ein Grund für anormales Verhalten auf dem Devisenmarkt ist die Spekulation, d.h. Marktakteure kaufen oder verkaufen eine Währung, weil sie eine Aufwertung bzw. Abwertung erwarten. Auf diesem Wege können Spekulationsblasen (bubbles) entstehen. Darunter versteht man, dass sich der Kurs einer Währung mittelfristig immer weiter vom „richtigen“ Wechselkurs entfernt, schließlich einbricht und kurzfristig ggfs. weit unter den „richtigen“ Wert gerät, weil die Marktakteure aus der Währung flüchten. Der Begriff des „richtigen“ oder auch „wahren“ Werts einer Währung wird in der Praxis häufig mit dem langfristigen Wechselkurs gleichgesetzt. In der Theorie ist der „richtige“ Wechselkurs derjenige, der auf fundamentalen Wirtschaftsdaten (insbesondere Inflations- und Zinsniveau sowie Wirtschaftswachstum) beruht. Der „richtige“ Kurs ist dann derjenige, der sich (auch) ohne spekulative Finanzströme einspielen würde. Es existieren verschiedene Theorien darüber, welche Fundamentaldaten (fundamentals) den „wahren“ bzw. langfristigen Wechselkurs letztlich bestimmen. Abb. 27.3: Idealtypischer Verlauf einer Wechselkursblase Eine der ältesten und bekanntesten Theorien ist die Kaufkraftparitätentheorie. Ihr zufolge sorgt der Wechselkursmechanismus für einen Ausgleich der Preise zwischen unterschiedlichen Währungsräumen. Sobald ein Gut im Ausland billiger als im Inland ist, fragen die Inländer dieses Gut solange aus dem Ausland nach, bis der Preis - in Inlandswährung berechnet - im Aus- und Inland identisch ist. Die Nachfrage nach ausländischen Gütern geht mit einer Nachfrage nach der ausländischen Währung einher, die solange aufwertet (und die Inlandswährung abwertet), bis die Einheitlichkeit der Preise hergestellt ist. In der Praxis spielt diese absolute Kaufkraftparitätentheorie hingegen kaum eine Rolle, weil z.B. nicht alle Güter, deren Preise in die Inflationsrate eingehen, handelbar sind. So wird ein Anstieg der Warmmieten (die ca. ein Drittel des VPI ausmachen) oder der Preise für Handwerksdienstleistungen im Euroraum kaum zu einer nennenswerten Zunahme nach ausländischen Mietwohnungen/ Handwerksdienstleistungen und damit auch kaum zu einem Anstieg der Devisennachfrage führen. Außerdem spre- Preis der Inlandswährung (Preiswechselkurs) langfristig „richtiger“ Wechselkurs Zeit <?page no="235"?> 236 Leitbild und Ziele chen Transportkosten und Handelsbeschränkungen gegen einen Ausgleich der absoluten Pr eise . Daher ist es realistischer, die relative Kaufkraftparitätentheorie zur Definition des „wahren“ bzw. langfristigen Wechselkurses heranzuziehen: Wenn die inländische Inflationsrate um x % höher als die des Auslands ist, wertet die Inlandswährung um x % gegenüber der Auslandswährung ab. Dieser Überlegung liegt die Annahme zugrunde, dass international handelbare Waren und Dienstleistungen bei Inflation in etwa den gleichen Preisanstieg erfahren wie alle im Inland hergestellten Güter. Ursächlich für spekulative Blasen sind kurzfristige Erwartungen. So können Aufwertungen die Erwartung auf weitere Aufwertungen schüren, so dass die Währung vermehrt von Spekulanten nachgefragt wird, um beim späteren Verkauf Wechselkursgewinne zu realisieren. Durch die vermehrte Nachfrage steigt der Außenwert weiter an und es werden weitere Nachfrager angelockt, die den Kurs weiter nach oben treiben. Ab einem gewissen Zeitpunkt halten Devisenmarktakteure die Währung indes für derart überbewertet, dass sie mit einer Abwertung rechnen. Nun wird die Währung vermehrt angeboten und weniger nachgefragt, woraufhin der Kurs sinkt. Die Abwertung lässt die Spekulanten ein Platzen der Blase befürchten, woraufhin sie aus der Währung gehen, der Kurs entsprechend weiter sinkt und spätestens jetzt eine Flucht aus der Währung eintritt mit der Folge einer rapiden Abwertung. Im Extrem kommt es zur einer Währungs- und Zahlungsbilanzkrise. Das Platzen einer Wechselkursblase (→ Abb. 27.3) kann verschiedene Auslöser haben: Manchmal genügt es, wenn ein Finanzinvestor, der als erfolgreicher Devisenspekulant gilt, mit dem Verkauf der Währung beginnt und andere ihm folgen (Herdentheorie). Oder ein Akteur verkauft eine so beträchtliche Menge an inländischer Währung, dass der Wechselkurs spürbar sinkt, was von anderen als Signal für das Platzen der Blase gewertet wird. Ebenso kann es sein, dass sich die Vermögenswerte, in welche investiert wurde, als zunehmend unsolide erweisen, z.B. wenn Unternehmen insolvent werden, deren Anleihen gekauft wurden, oder wenn Aktien und Immobilien erheblich an Wert verlieren. Blasen auf dem Devisenmarkt zwingen zu fortwährenden Anpassungsprozessen, die mit volkswirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Kosten verbunden sind. Diese Kosten sind jedoch gesamtwirtschaftlich betrachtet eine Verschwendung von Ressourcen, da ihr Auslöser nicht strukturell und realwirtschaftlich bedingt ist. Die Anpassungen, die während des Aufbaus der Wechselkursblase getätigt werden, müssen während des Abbaus der Blase bzw. des Absturzes des Währung rückgängig gemacht werden. Die Ineffizienz solcher Anpassungsprozesse wird besonders deutlich, wenn man den Einfluss des Wechselkurses auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen betrachtet: Wertet die Inlandswährung über Monate hinweg spürbar auf, leidet der Absatz exportierender Unternehmen. Parallel erleben einheimische Branchen, die mit importierten Gütern konkurrieren, einen Absatzrückgang, da Importe aus inländischer Sicht günstiger werden. Produktionsrückgänge und Umstrukturierungen bis hin zur Schließung sind die Folge. Ab dem Moment, an dem die Wechselkursblase platzt, erweisen sich diese Anpassungen als „falsch“. Es beginnen Anpassungsprozesse hin in die gegenteilige Richtung, die sich beim Aufbau der nächsten Blase wieder als „falsch“ erweisen usw. usf. <?page no="236"?> Wechselkursentwicklung als Gleichgewichtsindikator 237 Die Ursache für ein anormales Verhalten der Nachfrage bzw. des Angebots auf dem Devisenmar kt müssen n icht zwingend Wechselkurserwartungen (Spekulation) sein. Z.B. kann es nach einer Abwertung auch dann zu einer Zunahme des Angebots an inländischer Währung kommen, wenn sich kurzfristig kaum Substitute für die teurer gewordenen Importgüter finden, so dass für den Import der ähnlich hohen Gütermenge nun mehr Inlandswährung angeboten wird (sprich: mehr Auslandswährung nachgefragt wird), was eine weitere Abwertung nach sich zieht. Die Kenntnis dieses sog. J-Kurven-Effekts ist wiederum ein Grund dafür, dass Spekulanten nach einer Abwertung auf weitere Abwertungen setzen, was den Abwärtstrend einer Währung weiter forciert.  Aufgabe 20: Überlegen Sie! Erläutern Sie jeweils zwei Argumente, die für bzw. gegen ein Regime fixer Wechselkurse sprechen. EU-Schwellenwerte für die Wechselkursentwicklung 27.4 Das EU-Scoreboard makroökonomischer Ungleichgewichte (→ Kap. 26.5) stellt nicht auf den nominalen effektiven Wechselkurs ab, sondern auf den realen effektiven Wechselkurs. Der reale Wechselkurs ist der um Preisniveauunterschiede bereinigte Wechselkurs. Die Grenzwerte lauten:  im Falle von Euro-Ländern sollen Veränderungen des realen effektiven Wechselkurses nicht mehr als plus/ minus 5 % binnen 3 Jahren betragen;  bei den übrigen EU-Mitgliedern soll die Veränderung nicht mehr als plus/ minus 11 % binnen 3 Jahren betragen.   Beispiel 29: Realer Wechselkurs Es sei angenommen, dass der bilaterale Wechselkurs des Euro 3 USD/ EUR beträgt. Das Preisniveau (P Inland ) in Deutschland sei 4 EUR und das Preisniveau der USA (P Ausland ) sei 6 USD. Vereinfacht gilt dann für identische Güterkörbe: Für 4 EUR erhält man in Deutschland eine „Gütereinheit“. Tauscht man die 4 EUR in 12 USD um, kann man damit 2 „Gütereinheiten“ in den USA kaufen. Folglich ist der Euro real doppelt so viel wert wie der US-Dollar. Der reale Wechselkurs ist 2. Realer WK = Nominaler WK ⋅ P Inland / P Ausland Der reale Wechselkurs gibt zum einen Auskunft über die Kaufkraft einer Währung: Je höher der reale Wechselkurs, umso mehr amerikanische Güter können sich Nachfrager für 1 EUR leisten. Zum anderen wird der reale Wechselkurs als Indikator für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit eines Landes verwendet: Je höher der reale Mengenwechselkurs, umso unattraktiver sind z.B. deutsche gegenüber US-amerikanischen Gütern in preislicher Hinsicht. <?page no="237"?> 238 Leitbild und Ziele Die empirische Aussagekraft des realen Wechselkurses als Indikator für die Wettbewer bsf ä h ig kei t ein er V olks wi rt sch a ft stö ßt i ndes an methodisch e Gren zen, we il  die Wahl des Preisindex, der als Hilfsgröße für das Preisniveau verwendet wird, das Ergebnis (den berechneten realen WK) beeinflusst,  sich die in zwei Ländern ermittelten Preisindexe nicht auf identische Güterkörbe beziehen und  die meisten Preisindexe auch die Preise international nicht handelbarer Güter einschließen. Der Scoreboard-Indikator des realen effektiven Wechselkurses der EU-Kommission bezieht sich derzeit (2016) auf 41 Handelspartner (REWK-41) und verwendet zur Bereinigung von Preiseinflüssen den HVPI (EU) bzw. VPI (14 Nicht-EU-Staaten). Damit wird nur ein Teil der Güterpreise erfasst. Z.B. fehlen Investitionsgüterpreise. Außerdem fließen die Preise international nicht handelbarer Güter (z.B. Mieten) ein und es werden wenig beeinflussbare Preise (z.B. Erdöl und -gas) einbezogen. Dies schmälert die Aussagekraft und Eignung des von der EU verwendeten Indikators internationaler Wettbewerbsfähigkeit.   Multiple-Choice-Aufgabe 13: Verständnisüberprüfung zum effektiven Wechselkurs Aus welchem Grund bildet der REWK-41 der EU die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschland nicht präzise ab?  Weil die chinesische Währung (Yuan, auch: Renminbi) kein völlig flexibler Wechselkurs ist,  weil der REWK-41 auf Basis des (H)VPI ermittelt wird,  weil der REWK-41 eine Preisbereinigung vorsieht, die neben international handelbaren auch international nicht handelbare Güter umfasst,  weil Deutschlands Maschinenbauexporte mehr als 10 % des deutschen Warenexports und mehr als 70 % des gesamten Absatzes der Maschinenbauindustrie ausmachen. (Hinweis: Die Prozentangaben sind zutreffend.) <?page no="238"?> Fazit zur Bestimmung außenwirtschaftlichen Gleichgewichts 239 28 Fazit zur Bestimmung außenwirtschaftlichen Gleichgewichts Das Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts kann erstens mithilfe der Zahlungsbilanz und ihrer Teilbilanzen begründet und definiert werden. Bei diesem Vorgehen kommt der Leistungsbilanz eine herausragende Bedeutung zu: Eine negative Leistungsbilanz bedeutet, dass eine Volkswirtschaft „über ihre Verhältnisse lebt“. Eine positive Leistungsbilanz bedeutet entsprechend, dass die Volkswirtschaft „unter ihren Verhältnissen lebt“. Beide Zustände können, wenn der Leistungsbilanzsaldo erheblich ist und über Jahre hinweg andauert, als ungleichgewichtig angesehen werden. Der dazugehörige Zielerreichungsindikator ist die mittelfristige Leistungsbilanzquote, also der durchschnittliche Quotient aus Leistungsbilanzsaldo und BIP über mehrere Jahre hinweg. Allerdings gelten anhaltend hohe Leistungsbilanzdefizite als weitaus problematischer als Überschüsse, da sich bei Defiziten die Frage der Finanzierung stellt. Anhaltende Defizite werden häufig über Anleihen/ Kredite finanziert und gehen entsprechend mit einem wachsenden Berg an Auslandsschulden einher. Im besten Fall münden die hohen Auslandsschulden „nur“ in einen steigenden Ressourcenabfluss (Tilgungs- und Zinszahlungen), im schlimmsten Fall kommt es zu Zahlungsschwierigkeiten, die in eine Zahlungsbilanz- und ggfs. Währungskrise münden können. Dauerhaft hohe Leistungsbilanzüberschüsse können im Einzelfall ebenfalls destabilisierend wirken: Dies ist der Fall, wenn es zu Krisen in den Handelspartnerländer kommt, die ein spiegelbildliches Leistungsbilanzdefizit aufweisen. Diese Krisen können nämlich auf das Überschussland überschwappen. Der Vorteil zahlungsbilanzbasierter Konzepte außenwirtschaftlichen Gleichgewichts ist die Verfügbarkeit von messbaren Zielerreichungsindikatoren und damit von wirtschaftspolitischen Orientierungsgrößen - mit Ausnahme des Konzepts der autonomen Zahlungsbilanz. Der Nachteil ist, dass weder ein Defizit, noch ein Überschuss in der betrachteten Teilbilanz per se ein ernsthaftes Ungleichgewicht darstellt, zu dessen Behebung staatliche Eingriffe gerechtfertigt sind. Zweitens lässt sich außenwirtschaftliches Gleichgewicht als Devisenmarktgleichgewicht interpretieren. Dieser Ansatz entspricht in der Theorie dem Konzept der ausgeglichenen autonomen Zahlungsbilanz. Die Stärke dieses Ansatz liegt darin, dass er marktwirtschaftlichen Prinzipien gerecht wird und insoweit für die Länder besonders geeignet erscheint, die eine marktwirtschaftliche Ordnung aufweisen oder anstreben. Allerdings zählt zu seinen Schwächen, dass sich autonome und induzierte Zahlungsbilanztransaktionen empirisch kaum auseinanderdividieren lassen. Grundsätzlich könnte alternativ die Wechselkursentwicklung als Indikator für ein (Un-) Gleichgewicht auf dem Devisenmarkt verwendet werden. Jedoch ist die Wechselkursentwicklung nur bei den wenigen Ländern aussagefähig, die ein System völlig flexibler Wechselkurse aufweisen. Aber selbst für diese rund 30 Währungen gilt, dass ihr effektiver Außenwert (→ Wissensbox 28) kein reiner Marktkurs ist, da er von nicht flexiblen Wechselkursen anderer Länder beeinflusst wird. Hinzu kommen Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Preismechanismus auf dem Devisenmarkt, da dieser anfällig für anormales Nachfragebzw. Angebotsverhalten ist. <?page no="239"?> 240 Leitbild und Ziele Außenwirtschaftliches Gleichgewicht kann schließlich als Zustand erachtet werden, bei w elchem v on de r au ße nw irt sc haf tli che n Sp h ä re k eine de stab ilisier enden E ffekte au f die Volkswirtschaft ausgehen. Damit wird das Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts im Wesentlichen anhand seiner Wirkungen auf die Beschäftigung, die Preisniveaustabilität und das Wirtschaftswachstum begründet. Dieser Ansatz ist der am wenigsten dogmatische und insoweit der umfassendste, als er die verschiedenen Konzepte einer gleichgewichtigen Zahlungsbilanz und den Ansatz des Devisenmarktgleichgewichts umschließt, ohne sich darauf zu beschränken. Zu den wirtschaftspolitischen Implikationen zählt z.B., dass ein Leistungsbilanzdefizit zwar Handlungsbedarf hervorrufen kann, aber dass dies nicht zwingend ist. Ähnlich verhält es sich mit Devisenmarktbewegungen, die destabilisieren, aber auch stabilisieren können: Wertet die Inlandswährung z.B. spürbar auf, wirkt dies im Boom einer konjunkturellen Überhitzung entgegen, weil sich importpreisbedingt die Inflation verringert und die ausländische Nachfrage nach inländischen Gütern gedämpft wird. Diese Betrachtung dessen, was außenwirtschaftliches Gleichgewicht darstellt oder nicht, hat allerdings auch Nachteile. Dazu zählt, dass es keinen Zielerreichungsindikator gibt, der eine Verletzung eines derart indirekt definierten außenwirtschaftlichen Gleichgewichts verlässlich anzeigt. Damit fehlt es an einer klaren Orientierungs- und Kontrollgröße für die Wirtschaftspolitik, wodurch Entscheidungen erschwert werden. Außerdem steigt die Wahrscheinlichkeit falscher oder rein interessengeleiteter Entscheidungen, wodurch die Vorhersehbarkeit der Politik sinkt. Das reduziert die Planungssicherheit für die wirtschaftlichen Akteure, was sich letztlich negativ auf das Wachstumspotenzial auswirkt. Die Schwellenwerte des EU-Scoreboards wirken solchem Politikversagen zwar einerseits entgegen, aber andererseits kommen fallspezifische Überlegungen und Effekte bei einer Politik, die nur von Indikatoren geleitet wird, zu kurz. Daher sieht das makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren (MIP) der EU auch vor, dass im Falle problematischer Indikatorwerte eine tiefergehende Länderanalyse durchgeführt wird. 29 Extratour zu den Wechselkursrisiken für Unternehmen Wechselkursschwankungen bergen für den Unternehmenssektor verschiedene Risiken, die in der Summe gesamtwirtschaftliche Wirkungen zeigen und Kosten verursachen, die den materiellen Wohlstand schmälern. Drei Arten von Wechselkursrisiken sind:  Cashflow-Risiko. Wenn der Euro gegenüber dem US-Dollar abwertet, erhöht sich c.p. der Euro-Wert der Zahlungsströme, die z.B. in US-Dollar zu leisten sind. Soweit die USD-Auszahlungen eines Unternehmens die USD-Einzahlungen in der betrachteten Periode übersteigen, mindert sich der gesamte in EUR ermittelte Cashflow (Einminus Auszahlungen). Umgekehrt senkt eine Aufwertung den in Euro berechneten Wert von Zahlungsströmen, die in US-Dollar getätigt werden. Folglich steigt der Cashflow, wenn die USD-Auszahlungen die USD-Einzahlungen überschreiten. Abwertungen belasten somit importierende Unternehmen oder solche, die einen Schuldendienst in Fremdwährung leisten. Aufwertungen belasten hingegen z.B. exportierende Unternehmen, da deren Cashflow (in Euro bewertet) sinkt, während der Cashflow importierender Unternehmen durch die Aufwertung der Inlandswährung zunimmt. <?page no="240"?> Extratour zu den Wechselkursrisiken für Unternehmen 241  Translationsrisiko (account risk). Verfügt ein Unternehmen über ausländische Vermögenswerte (z.B. eine Immobilie im Ausland oder eine Forderung gegenüber ausländischen Kunden), verschlechtert eine Aufwertung des Euros deren Wert, und in der Unternehmensbilanz muss eine Wertkorrektur vorgenommen werden. Umgekehrt verbessert eine Abwertung die Vermögensbilanz dieser Unternehmen. Haben Unternehmen hingegen mehr Verbindlichkeiten als Forderungen gegenüber dem Ausland, verschlechtert eine Abwertung deren Bilanz. Verkürzt: In US-Dollar eingegangene Schulden verlieren bei einer Aufwertung des Euros gegenüber dem US- Dollar an Wert (positiv für das Unternehmen) und in USD notierte Forderungen verlieren an Wert (negativ für das Unternehmen). Umgekehrt verhält es sich bei einer Abwertung.  Wettbewerbsrisiko (economic risk). Wertet der Euro auf, sinkt die Wettbewerbsfähigkeit inländischer Unternehmen. Dies gilt sowohl auf dem Weltmarkt, da inländische Güter aus Sicht der Ausländer teurer werden, als auch im Inland, da ausländische Güter aus Sicht der Inländer billiger werden. Umgekehrt steigert eine Abwertung die Wettbewerbsfähigkeit inländischer Güter. Während das Translationsrisiko und das Cashflow-Risiko nur international tätige Unternehmen betrifft, kann das Wettbewerbsrisiko auch solche Unternehmen treffen, die keinerlei Handels- oder Kreditbeziehungen zum Ausland pflegen. Unternehmen können sich auf verschiedene Arten gegen die Wechselkursrisiken absichern. Zu den Strategien zählen (→ Beispiel 30):  Ausschließlich Zahlungen in eigener Währung vereinbaren (Fakturierung in Inlandswährung), um das Cashflow-Risiko zu vermeiden;  USD-Einzahlungen und USD-Auszahlungen sowohl in der Höhe als auch zeitlich ausgleichen, um das Cashflow-Risiko auszuschalten;  Devisentermin- und Optionsgeschäfte zur Absicherung (sog. Hedging von Währungsrisiken) des Wechselkurses zu tätigen, um eine größere Planungssicherheit bzgl. des Cashflows herzustellen;  Forderungen in einer Fremdwährung gleich hohe Verbindlichkeiten in derselben Fremdwährung gegenüberstellen, um das Translationsrisiko auszuschalten;  Produktionsverlagerungen in Länder mit der gleichen Währung wie die Kunden, damit die Erlöse und ein größerer Teil der Produktionskosten in der gleichen Währung anfallen, wodurch die Wechselkursrisiken für den Cashflow und die Wettbewerbsfähigkeit gemindert werden. Das mit importierten Vorleistungen (z.B. Rohstoffen) anfallende Wechselkursrisiko kann gegebenenfalls durch Auslandsdirektinvestitionen in der jeweiligen Rohstoff erzeugenden Branche (z.B. Bergbau oder Landwirtschaft) gehandhabt werden. Die Absicherungsstrategien sind mit zusätzlichen Kosten verbunden, die vor allem bei kleineren und mittleren Unternehmen stark ins Gewicht fallen und gescheut werden. Die mit dem Cashflow-Risiko und der Wettbewerbsfähigkeit verbundene Planungsunsicherheit lässt sich ohnehin nur für einen begrenzten Zeitraum durch Hedging oder Fakturierung in Inlandswährung verhindern. Außerdem können etliche Unternehmen eine Fakturierung in eigener Währung häufig nicht oder nur mit Preisnachteilen durchsetzen. Die radikale Strategie der Standortverlagerung hin zum Kunden bzw. zur Rohstoffquelle ist oftmals erst gar nicht realisierbar bzw. viel zu aufwendig. <?page no="241"?> 242 Leitbild und Ziele Alles in allem sind die Wechselkursrisiken ein Grund dafür, dass etliche Unternehmen au f Aus la nd sges chä fte ver zi ch t en , a uch w enn e s betr ie bsw irt sc haft li ch viel vers pr echend erscheint. Zu den anderen Gründen zählen rechtliche und politische Risiken oder fehlende Informationen über ausländische Märkte.  Beispiel 30: Management des Cashflow-Risikos Das euroländische Unternehmen K vereinbart am 1.5.2016 die Lieferung von 1 Mio. Kuckucksuhren an eine US-amerikanische Einzelhandelskette W zum 23.11.2016. Das Geschäft wird in US-Dollar fakturiert: W sagt zu, die Rechnung über 50 Mio. USD am 1.11.2016 zu bezahlen. Am 1.5.2016 beträgt der Wechselkurs 1 USD/ EUR. K rechnet mit Produktionskosten von insgesamt 48 Mio. EUR. Normalerweise bezieht er alle Vorleistungen aus dem Euroraum und bezahlt diese 7 Tage nach Lieferung. Das Geschäft mit W kann für K je nach Stand des Wechselkurses am 1.11.2016 einen Gewinn oder Verlust herbeiführen. Fall Wechselkurs am 1.11.2016 Erlös in € Gewinn/ Verlust (-) in € A 1,0000 $/ € 50,0 Mio. 2,0 Mio. B 1,1000 $/ € 45,5 Mio. - 2,5 Mio. C 1,0417 $/ € 48,0 Mio. 0 Mio. D 0,9000 $/ € 55,6 Mio. 7,6 Mio. EUR-Fakturierung. K willigt nur in das Geschäft ein, wenn W in Euro bezahlt und verlangt 50 Mio. EUR zum 1.11.16. Nachteile: Geschäft kommt nicht zustande, W verlangt Preisnachlass, K verzichtet auf die Chance eines Wechselkursgewinns durch Abwertung D. [Ähnlich ist die Strategie zu beurteilen, dass K verlangt, dass W sofort bezahlt.] Ausgleich der USD-Zahlungsströme. K nimmt einen USD-Kredit in Höhe von 50 Mio. USD auf und vereinbart dessen Tilgung zum 1.11.16. Nachteile: Kreditanbahnungskosten und Zinszahlungen/ Disagio, keine Chance auf Wechselkursgewinn durch Abwertung (s. D). Ausgleich der USD-Zahlungsströme. K bezieht Vorleistungen „ausnahmsweise“ aus dem US-Dollar-Raum und vereinbart Zahlung zum 1.11.16. Nachteile: Vorleistungen sind teurer oder qualitativ schlechter als üblicherweise, evtl. zusätzliche Lagerungskosten, keine Chance auf Wechselkursgewinn (s. D). Devisentermingeschäft. Am 1.5.2016 verkauft K 50 Mio. 6-Monats- Termindollar gegen Euro. Das bedeutet, dass er am 1. Mai zusagt, dass er zum derzeitigen 6-Monats-Terminkurs in 6 Monaten (1.11.16) Euros für 50 Mio. USD kaufen wird. Nachteile: keine Chance auf Wechselkursgewinn, Absicherungskosten. <?page no="242"?> Extratour zu den Wechselkursrisiken für Unternehmen 243 Devisenoptionsgeschäft. K kauft die Option, am 1.11.16 zum derzeitigen Wechselkurs Eur os für 50 Mio. USD ka uf en z u k ö nn en . D ie Ch an ce a uf ei n en Wechselkursgewinn bleibt erhalten. Nachteil: höhere Absicherungskosten als bei Devisentermingeschäft. <?page no="244"?> F Zielbeziehungen 30 Arten von Zielbeziehungen Grundsätzlich kann die Beziehung zwischen zwei Zielen danach klassifiziert werden, ob sie gleichzeitig erreicht werden können oder nicht. Des Weiteren lassen sich Zielbeziehungen danach untergliedern, ob sich ein höherer Erreichungsgrad des einen Ziels auf die Erreichung des anderen Ziels positiv, negativ oder gar nicht auswirkt:  Antinomisch. Ziel A und Ziel B schließen sich gegenseitig aus.  Indifferent (auch: neutral). Ziel A und Ziel B beeinflussen sich nicht.  Komplementär (auch: harmonisch). Ziel A und Ziel B verstärken sich gegenseitig.  Konkurrierend (auch: konfliktär). Verbessert sich der Erreichungsgrad des Ziels A, verschlechtert sich die Erreichung des Ziels B. Im Sprachgebrauch werden sowohl Zielbeziehungen als auch Ziele als indifferent, komplementär usw. bezeichnet. Im Folgenden bezieht sich die Klassifizierung auf die Beziehungen und nicht auf die Ziele an sich, weil dies eine differenziertere Analyse ermöglicht. Oftmals stehen Ziele nämlich z.B. nicht per se in einer konfliktären oder komplementären Beziehung zueinander. Bei der Zielbeziehungsanalyse ist vielmehr zu beachten, dass  sich die Zielbeziehung je nach der konkreten Ausgangssituation unterscheiden kann,  sich die Zielbeziehung im Zeitablauf verändern kann, d.h. zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zielbeziehungen unterschieden werden muss und  dass die Zielbeziehung auch davon abhängen kann, welche Ursache der Verbesserung der Erreichung des einen Ziels zugrunde liegt. In den folgenden zwei Kapiteln werden die Beziehungen zwischen den vier Zielen, die gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht darstellen, beleuchtet. Hierbei wird der Zielbeziehung zwischen Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität in einem Extrakapitel (→ Kap. 37) besonderer Raum gewidmet.   Multiple-Choice-Aufgabe 14: Verständnisüberprüfung Zielbeziehungen am Beispiel eines Unternehmens [1] Bekanntheitsgrad einer Marke steigern [2] Stückkosten um 15 % senken [3] Betriebsklima deutlich verbessern [4] Unternehmensreputation steigern [5] Lagerhaltungskosten um 10 % senken [6] Produktqualität spürbar verbessern <?page no="245"?> 246 Leitbild und Ziele [7] Energieeffizienz um 10 % steigern [8] Standort schließen Welche Arten von Zielbeziehungen herrschen zwischen a) Ziel [1] und Ziel [5] b) Ziel [6] und Ziel [4] c) Ziel [8] und Ziel [3] d) Ziel [7] und Ziel [4] e) Ziel [2] und Ziel [6] 31 Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität Kurzbis mittelfristig: Inflationswirkungen einer steigen- 31.1 den Beschäftigung In kurzer Frist herrscht zwischen den Zielen eines hohen Beschäftigungsstands und der Inflationsstabilität eine konkurrierende Beziehung. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Je niedriger die Arbeitslosigkeit ist, umso höher sind die Löhne und die jährlichen Lohnzuwächse sowie die Lohnzusatzleistungen. Somit steigen die Produktionskosten und c.p. die Preise in einer Volkswirtschaft. Dieser Zusammenhang wurde bereits in Zusammenhang mit der inflationsstabilen Arbeitslosenquote (NAIRU) erläutert (→ Kapitel 10.1.2, 11.2.4). Der Lohnanstieg lässt sich folgendermaßen begründen:  Mit wachsender Arbeitskräfteknappheit steigt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer bei Lohnverhandlungen und entsprechend setzen sie höhere Löhne bzw. Lohnzuwächse durch.  Je knapper Arbeitskräfte sind, umso stärker konkurrieren Arbeitgeber um Arbeitskräfte und umso höhere Löhne werden sie bereit sein zu zahlen. Arbeitssuchenden werden daher vergleichsweise hohe Löhne angeboten. Beschäftigte können durch einen Wechsel des Arbeitgebers - oder in Bleibeverhandlungen mit dem derzeitigen Arbeitgeber - relativ leicht ebenfalls Lohnzuwächse erwirken.  Steigt daraufhin die Inflation, kommt es in den nächsten Lohnverhandlungen zu steigenden Lohnzuwächsen, da die Arbeitskräfte einen entsprechenden Inflationsausgleich durchsetzen. Ein hoher Auslastungsgrad des Kapitals entfaltet ebenfalls einen inflationssteigernden Effekt, der insbesondere im sekundären Sektor - der verarbeitenden Industrie - auftritt:  Ab einem gewissen Auslastungsgrad steigen die Grenz- und Stückkosten an, wenn die Nutzungsintensität (etwa die Drehzahl) von Maschinen erhöht wird. Ursächlich <?page no="246"?> Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität 247 für die steigenden Grenzkosten sind ein überproportional wachsender Bedarf an Hilfsstoffen (etwa Energie) oder Kapitalverschleiß.  Bei Überauslastung planen die Unternehmen in der Regel Kapazitätserweiterungsinvestitionen. Außerdem beschleunigt der steigende Maschinenverschleiß die Notwendigkeit von Ersatzinvestitionen. Es steigt mit anderen Worten die Nachfrage nach Investitionsgütern. Geschieht dies in gesamtwirtschaftlich relevantem Ausmaß, steigen nachfragebedingt die Preise für Maschinen etc. Dies impliziert zugleich einen Anstieg der Anschaffungskosten für Unternehmen und somit letztlich der Stückkosten. Je höher der Beschäftigungs-/ Auslastungsgrad ist, umso höher ist das reale BIP und in aller Regel auch das Einkommen der Inländer:  Ein höheres Einkommen mündet ebenso wie der wachsende Investitionsgüterbedarf und der oftmals einsetzende Optimismus in eine steigende Güternachfrage, woraufhin der Unternehmenssektor die Preise erhöht. Die Inflation steigt. Langfristig: Beschäftigungswirkungen eines instabilen 31.2 Preisniveaus Die Begründungen für Preisniveaustabilität (→ Kap. 20) sind zugleich die negativen Wirkungen eines instabilen Preisniveaus. Dazu zählen Planungsunsicherheit und Nachteile für Gläubiger und Schuldner, also z.B. auch für Unternehmen, deren Investitionen in hohem Maße fremdfinanziert sind. Betrachtet man beispielhaft die deutschen Unternehmen des realwirtschaftlichen Bereichs (d.h. ohne Banken und andere finanzielle Unternehmen) im Jahr 2012, liegt die Fremdmittelquote bei ca. 70 % für umsatzgroße und bei ca. 76 % für kleine und mittelständische Unternehmen (B ENDEL et al., 2016, S. 41). Planungsunsicherheit wirkt indes nicht „nur“ wachstums- und damit langfristig beschäftigungshemmend. Darüber hinaus mindert sie auch kurzbis mittelfristig die Bereitschaft, (mehr) Arbeitskräfte zu beschäftigen, und zwar vor allem dann, wenn rechtliche Vorschriften die Kündigung von Beschäftigten erschweren (z.B. Kündigungsschutz). Planungssicherheit fördert entsprechend die Bereitschaft, Arbeitskräfte einzustellen. Diese und andere Gründe erklären die langfristig harmonische Zielbeziehung zwischen hohem Beschäftigungsstand und Preisniveaustabilität. (Modifizierte) Phillipskurve 31.3 Der grafische Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Inflationsrate (ursprünglich zwischen Arbeitslosenquote und Lohnzuwachsrate) wird als Phillipskurve bezeichnet. Der Name geht auf A LBAN W. P HILLIPS (1914-75) zurück. Mit seinem 1958 erschienenen Aufsatz (P HILLIPS , 1958, S. 283-299) wollte er einen empirischen Beitrag zu der damals heftig diskutierten Frage leisten, ob Inflation zuvorderst nachfrage- oder angebotsgetrieben sei. Der Ökonometriker P HILLIPS konstatierte einen deutlichen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Lohnzuwachsrate, den er grafisch darstellte. Dieses Muster <?page no="247"?> 248 Leitbild und Ziele wurde wenige Jahre später auf den Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und In fla tio n sr a te üb er tr a gen ( S AMUELSON und S OLOW , 1960, S. 187ff.) und zunächst als modifizierte Phillipskurve bezeichnet, wobei das Adjektiv in der Folgezeit häufig weggelassen wurde. In → Abb. 31.1 ist der Verlauf der Kurve idealtypisch dargestellt. Abb. 31.1: Die (modifizierte) Phillipskurve Die Phillipskurve gab Anlass zu erheblichen Diskussionen, nicht zuletzt weil sie von weiten Teilen der Wirtschaftspolitik als Auswahlmenü verstanden wurde. Im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion kam u.a. das Bild der mittelfristig senkrechten Phillipskurve auf. Kurzfristig mögen Arbeitslosigkeit und Inflation korrelieren, aber mittelfristig kehre die Arbeitslosenquote stets auf das „natürliche“ Niveau zurück (→ Kap. 10.1.2, → Kap. 45.1 u. 46.1.1).  Beispiel 31: Politikerzitate zur Phillipskurve 1972 sagte H ELMUT S CHMIDT , damaliger Wirtschafts- und Finanzminister, sinngemäß: „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“ (zitiert nach o.V., DIE ZEIT, 1996). Wenig später vervierfachte sich der Ölpreis (1973/ 74). Dies stürzte erdölimportierende Länder in eine wirtschaftliche Krise. Die sog. erste Ölpreiskrise (Ölpreisschock) führte nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland zu einer schweren Rezession einschließlich Inflation (Stagflation). (Ähnliches wiederholte sich 1979/ 80 - die sog. zweite Ölkrise.) -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Inflationsrate (p.a.) Arbeitslosenquote (in %) <?page no="248"?> Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität 249 1976 meinte J AMES C ALLAGHAN , damaliger britischer Premierminister: „Ich sage Ihnen in alle r Of fe nheit, da s s die se O ption nicht mehr geg eben i st un d dass sie - f alls es si e überhaupt jemals gab - nichts anderes bewirkte, als der Wirtschaft Inflation zu injizieren [...] Höhere Inflation und in ihrem Gefolge höhere Arbeitslosigkeit. Das ist die Geschichte der letzten zwanzig Jahre.“ (zitiert nach I SSING , 2010). Die Zielbeziehung zwischen dem Beschäftigungsgrad und der Inflationsrate zählt noch heute zu den Kernfragen der Makroökonomie. An der Diskussion der Phillipskurve lässt sich zudem die Entwicklung der herrschenden makroökonomischen Lehren gut nachzeichnen. Leser, die sich hierfür interessieren, seien auf die Extratour zur Diskussion der Phillipskurve (Kap. 37) hingewiesen. Dort wird näher auf die Phillipskurve, ihren Hintergrund und ihre wirtschaftspolitischen Implikationen eingegangen. Außerdem wird an ihrem Beispiel die Wandlung des ökonomischen Mainstreams skizziert. Leser erhalten einen Einblick in die Theorie rationaler Erwartungen, die neue klassische Makroökonomik, den Neukeynesianismus sowie die „alte“ und neue neoklassische Synthese. Am Rande wird auch das Problem der Scheinkorrelation erklärt. Inflation und Arbeitslosigkeit in Deutschland 31.4 Die Beobachtungswerte zwischen Erwerbslosenquote und Lohnzuwächsen in Deutschland (→ Abb. 31.2) während der letzten 20 Jahre zeigen kein klares Bild. Auf die Einzeichnung einer Regressionskurve wurde daher verzichtet. Es ließe sich allenfalls sagen, dass ab einer ALQ von etwa 8 % die Lohnzuwächse mit steigender Arbeitslosigkeit sinken. Jedoch sind für solch eine Aussage die 10 Beobachtungspunkte letztlich zu wenig. Aus dem Befund folgt allerdings nicht zwingend, dass der von P HILLIPS hergestellte Zusammenhang für Deutschland in dem Zeitraum nicht existierte. Z.B. könnte die Inflation auf die Beschäftigung bzw. die Beschäftigung auf die Inflation erst mit einiger Verzögerung reagieren. Vor allem aber können andere Einflüsse bekanntlich nicht nur Scheinzusammenhänge erzeugen (→ Wissensbox 32), sondern auch grundsätzlich gegebene Zusammenhänge überdecken. Solche strukturellen Einflüsse gab es zwischen 1997 und 2015 mehrere:  In dem dargestellten Zeitraum fanden sozial- und arbeitsmarktpolitische Reformen (sog. Agenda 2010) statt, die sich auf die Erwerbslosenquote (→ Kap. 9.1.2) und den Durchschnittlohn auswirkten.  Die Zahl der Beschäftigten, die in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, nahm merklich ab. Tarifbindung bedeutet, dass Gewerkschaften einen branchen- oder unternehmensspezifischen Mindestlohn mit der Arbeitgeberseite aushandeln. Ihr Anteil an allen abhängig Beschäftigten sank laut Schätzungen des S TATISTISCHEN B UNDESAMTES (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2016f) zwischen 1996 und 2014 von ca. 65 % auf 45 %.  Die Finanzkrise schwappte aus den USA im Herbst 2008 auf Deutschland über und verursachte 2009 einen Einbruch des realen BIP um 5,6 %. Dass unter diesen Be- <?page no="249"?> 250 Leitbild und Ziele dingungen z.B. die Löhne im Jahr 2010 bei einer Erwerbslosenquote von 7,1 % nur um 0, 5 % sti eg en , m ag n ic ht ü be rr as ch en ( → b la u ma rk ie r te r W er t in d e r Ab b. 3 1. 2 ). Schließlich hatte die Regierung die ALQ zwar durch eine Ausdehnung des Kurzarbeitergelds und milliardenschwerer Konjunkturprogramme vor einem Anstieg weitgehend bewahrt; die Lohnforderungen blieben dennoch aufgrund der Wirtschaftskrise moderat. Hinzu kam, dass die Gehälter im öffentlichen Dienst angesichts der prekären Wirtschafts- und Haushaltslage kaum anstiegen und teils sogar eingefroren wurden. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2017. Abb. 31.2: Arbeitslosigkeit und Lohnzuwächse in Deutschland, 1997-2015 32 Vollbeschäftigung und angemessenes Wirtschaftswachstum Die Zielbeziehung zwischen hohem Beschäftigungsstand und stetigem angemessenen Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum ist komplementär. Zum einen ist Vollbeschäftigung ohne Wirtschaftswachstum in einer Marktwirtschaft nicht realisierbar. Zum anderen gibt es plausible Argumente dafür, dass sich Vollbeschäftigung ihrerseits positiv auf den Wachstumstrend auswirkt. Wachstumswirkungen auf die Beschäftigung 32.1 Wettbewerblich organisierte Volkswirtschaften sind durch einen mehr oder weniger permanenten Anstieg der Produktivität gekennzeichnet, der zu einem erheblichen Teil durch den Konkurrenzdruck zwischen den Unternehmen herbeigeführt wird. Steigt z.B. die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität um 1 %, sinkt c.p. der Arbeitsein- 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Bruttostundenverdienst, jährliche Änderung (%) Erwerbslosenquote (%) <?page no="250"?> Wirtschaftswachstum und Preisniveaustabilität 251 satz, der für die Produktion des bisherigen BIP erforderlich ist, um 1 %. Um diesen Rückgang zu kompensieren, ist entsprechend ein Anstieg des realen BIP um 1 % notwendig. Beschäftigungswirkungen auf das Wachstum 32.2 Je niedriger die Erwerbslosenquote ist, umso mehr Humankapital bleibt nicht nur erhalten (→ Kap. 8), sondern wird auch über learning by doing-Effekte aufgebaut (→ Kap. 16.2). Je größer das Humankapital und umso besser das Kapital ausgelastet ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit von Innovationen und deren erfolgreicher Diffusion, sprich des technischen Fortschritts. Dieser steigert wiederum das Wirtschaftswachstum. Darüber hinaus können stärkere Beschäftigungsschwankungen - also Konjunkturschwankungen - zu Unterinvestitionen in der Rezession/ Depression und zu Überinvestitionen während der Boomphase/ Hochkonjunktur führen. Beide - ausbleibende wie ineffiziente Investitionen - schmälern das Wachstumspotenzial und damit das langfristige Wirtschaftswachstum. 33 Wirtschaftswachstum und Preisniveaustabilität Die Zielbeziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Preisniveaustabilität ist kontextabhängig und ebenso wie im Falle des Beschäftigungs-Inflations-Zusammenhangs spielt die betrachtete Frist eine Rolle. Kurzbis mittelfristige Inflationswirkungen von Wirt- 33.1 schaftswachstum In der kurzen bis mittleren Frist besteht prinzipiell eine konkurrierende Zielbeziehung. Wirtschaftswachstum geht c.p. mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit einher, welche zu steigenden Lohnzuwächsen und Inflation führt. Der Wachstums-Inflations-Zusammenhang ist weniger eindeutig, wenn man die Ceteris-paribus-Annahme fallen lässt oder die Wachstumsursache in die Überlegung einbezieht. Wenn das Wirtschaftswachstum beispielsweise auf einer Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials oder auf einem produktivitätssteigernden technischen Fortschritt basiert, herrscht eine neutrale Zielbeziehung. Soweit das Wirtschaftswachstum auf eine expansive Entwicklung der Güternachfrage zurückzuführen ist, wirkt es inflationstreibend. Es liegt also Zielkonkurrenz vor. <?page no="251"?> 252 Leitbild und Ziele Langfristige Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum 33.2 und Preisniveaustabilität Das Ziel des angemessenen und stetigen Wirtschaftswachstums stellt auf die längere Sicht ab. Die kurzfristigen Inflationswirkungen sind somit streng genommen gar nicht Gegenstand der Analyse der Beziehungen zwischen (langfristigem) Wirtschaftswachstum und Preisniveaustabilität. Die langfristige Zielbeziehung ist komplementär. Eine stabile Inflationsrate zählt zu den Voraussetzungen für dauerhaftes Wirtschaftswachstum. Zu den Gründen zählt, dass Inflationsstabilität für Planungssicherheit, Gläubiger- und Schuldnerschutz sorgt sowie die Funktionsfähigkeit des Preismechanismus fördert (→ Kap. 20). 34 Zielbeziehungen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts Zielcharakter 34.1 Es bereitet bekanntlich einige Probleme, das außenwirtschaftliche Ziel des Magischen Vierecks zu definieren. Das liegt u.a. daran, dass außenwirtschaftliches Gleichgewicht weniger ein eigenständiges Ziel darstellt, sondern sich vielmehr überwiegend über seine Bedeutung für die übrigen drei Ziele des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts begründen lässt (→ Kap. 25). Außenwirtschaftliche Stabilität herrscht mit anderen Worten dann, wenn die übrigen Ziele nicht spürbar durch außenwirtschaftliche Einflüsse beeinträchtigt werden. Bei diesem Verständnis von außenwirtschaftlichem Gleichgewicht ist die Beziehung zu den anderen Zielen jeweils ex definitione komplementär. Außerdem gibt es keinen umfänglich zufriedenstellenden Indikator zur Messung des Zielerreichungsgrads. Von den diskutierten Indikatoren ist die Leistungsbilanzquote der Gebräuchlichste (→ Kap. 26.4). In Volkswirtschaften mit eigener Währung und einem System flexibler Wechselkurse ist die Stabilität des Außenwerts der Währung - der effektive Wechselkurs - ebenfalls ein vergleichsweise geeigneter Indikator (→ Kap. 27). Im Folgenden wird am Beispiel Deutschlands gezeigt, wie außerordentlich kontextabhängig die Beziehungen zwischen außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und den übrigen Zielen sind. Da der Wechselkursindikator für Deutschland als Mitglied des Euroraums nicht in Betracht kommt, wird einzig auf die Zielbeziehungen einer ausgeglichenen Leistungsbilanz eingegangen. Unter externem Gleichgewicht wird vereinfachend eine moderate Leistungsbilanzquote verstanden, also z.B. ein Leistungsbilanzsaldo zwischen -4 und +6 % des BIP (s. EU-Scoreboard, → Kap. 26.5). <?page no="252"?> Zielbeziehungen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts 253  Hinweis Die Leistungsbilanzquote ist als Gleichgewichtsindikator umstritten (→ Kap. 26.4.) Externes versus internes Gleichgewicht 34.2 Ausgangssituation 34.2.1 Deutschlands Leistungsbilanzquote liegt seit dem Jahr 2004 über 3 % (→ Abb. 26.3). Im Jahr 2016 betrug der Überschuss ca. 8,2 % des BIP. Ursächlich sind sehr hohe Nettoexporte von 252 Mrd. EUR und zu einem geringeren Teil der Aktivsaldo der Vermögenseinkommensbilanz von 53 Mrd. EUR (D EUTSCHE B UNDESBANK , 2017a, S. 17ff.). Die Kommission der E UROPÄISCHEN U NION wertete dies vor dem Hintergrund des EU-Schwellenwerts von 6 % (→ Kap. 26.5) erneut als Ungleichgewicht, das es zu beseitigen gelte. Wie würde sich ein Rückgang der Leistungsbilanzquote auf 6 % oder gar 3 % auf die übrigen Ziele des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auswirken? Maßgeblich für die Antwort sind u.a. die Geschwindigkeit des Rückgangs und die Ursachen/ Maßnahmen, die den Rückgang hervorrufen. So macht es einen Unterschied, ob und welche Importe zunehmen, ob die Exporte abnehmen und inwieweit die Veränderungen auf Preis- oder Mengeneffekten beruhen. Schließlich ist der Zielerreichungsgrad von Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität und mittelbis langfristigem Wirtschaftswachstum entscheidend für die jeweiligen Zielbeziehungen. Die übrigen Ziele werden hier als erreicht angenommen, auch wenn dies für Deutschland für die Jahre 2014-16 nur eingeschränkt zutraf.  Hinweis: Leistungsbilanzgleichgewicht In anderen Volkswirtschaften ist eine Leistungsbilanzverbesserung erforderlich, um Leistungsbilanzgleichgewicht herzustellen. In diesen Ländern sind die Wirkungen einer Leistungsbilanzverschlechterung natürlich andere als in Deutschland. Auch die Zielbeziehung zwischen Leistungsbilanzausgleich und den übrigen makroökonomischen Zielen ist je nach Ausgangssituation teils eine andere. Leistungsbilanzgleichgewicht und Vollbeschäftigung 34.2.2 Kurz- und mittelfristige Betrachtung Die Beschäftigungswirkungen einer Leistungsbilanzverschlechterung können negativ sein. Somit kann eine antinomische Zielbeziehung vorliegen, wie folgende Beispiele zeigen.  Ein Rückgang der Exportmenge mindert den Beschäftigungsgrad, wenn er nicht durch eine Zunahme des Binnenverbrauchs von einheimischen Gütern verursacht oder kompensiert wird. <?page no="253"?> 254 Leitbild und Ziele  Ein Anstieg der Importmenge mindert den Beschäftigungsgrad, wenn er mit einem Rückgang des Verbrauchs einheimischer Güter einhergeht. Die Beziehung kann neutral sein.  Ein Rückgang der Exportpreise wirkt sich kurzfristig nicht auf die Beschäftigung aus.  Ein Anstieg der Importe hat kurzfristig keine Beschäftigungswirkungen, wenn dadurch keine einheimischen Güter substituiert werden. Die Zielbeziehung kann komplementär sein.  Steigende Vorleistungsimporte sind Ausdruck einer gestiegenen Produktion im Inland.  Sinkende Exportmengen sind Ausdruck einer gestiegenen Binnennachfrage nach einheimischen Gütern. Ein Beschäftigungsanstieg wirkt in der Regel leistungsbilanzverschlechternd, da er einen Importzuwachs nach sich zieht. Das heißt, dass im derzeitigen Falle Deutschlands diesbezüglich ebenfalls eine komplementäre Zielbeziehung zwischen Vollbeschäftigung und ausgeglichener Leistungsbilanz bestünde.  Steigt das Volkseinkommen, geht die Güternachfrage üblicherweise nach oben, wovon auch die Nachfrage nach Importgütern profitiert, so dass der Importwert steigt.  Für einen Anstieg der Produktion bedarf es importierter Vorleistungen und Investitionsgüter, d.h. Produktions- und Importanstieg gehen meist Hand in Hand. Außerdem sind mittelfristig indirekte Wirkungen eines Beschäftigungsanstiegs auf die Leistungsbilanz zu erwarten, woraus sich für das Beispiel Deutschlands ebenfalls eine komplementäre Zielbeziehung ergibt.  Infolge des Beschäftigungs- und Einkommensanstieg kommt es zu Inflationssteigerungen, wodurch sich einheimische Güter gegenüber Importgütern verteuern. Kurzfristig reagieren die Exporte oftmals preisunelastisch, so dass der Preiseffekt den negativen Exportmengeneffekt übersteigen mag. Sobald die Exportnachfrager einheimische Güter jedoch in nennenswertem Umfang substituiert haben, sinkt der Exportwert. Zugleich sinken die relativen Preise für Importgüter, woraufhin der Importwert ansteigt. Langfristige Betrachtung Auf mittlere bis längere Sicht müssen die makroökonomischen Wirkungen eines Leistungsbilanzausgleichs auf die Handelspartner berücksichtigt werden. Dazu zählt, dass ein Rückgang des deutschen Leistungsbilanzüberschusses das bilaterale Leistungsbilanzdefizit anderer Länder reduziert, woraufhin diese möglicherweise stärker wachsen oder ihre Handelspolitik verändern. Ausgeglichene Leistungsbilanz und Preisniveaustabilität 34.2.3 Eine Verschlechterung der Leistungsbilanz hat für sich betrachtet keine nennenswerten Wirkungen auf die Inflationsrate. Bezieht man die Ursache der Verschlechterung <?page no="254"?> Zielbeziehungen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts 255 mit ein, kann sie dennoch mit inflationssteigernden oder -senkenden Effekten einhergehen.  Ist eine Erhöhung der Importpreise für die Leistungsbilanzverschlechterung ursächlich, steigert dies unmittelbar den Verbraucherpreisindex, wenn importierte Konsumgüter betroffen sind. Verteuern sich importierte Vorleistungen (z.B. fossile Energieträger), ist importierte Kostendruckinflation die Folge.  Ist ein exogener Rückgang der Exportnachfrage ursächlich, sinkt der exportnachfragebedingte Inflationsdruck. Wird die überschüssige Exportproduktion auf dem Binnenmarkt angeboten, sinkt zunächst die Inflationsrate. Ein Inflationsanstieg würde den deutschen Leistungsbilanzüberschuss mittelfristig reduzieren und ein Inflationsrückgang würde den Überschuss erhöhen. Dies gilt indes natürlich nur, wenn die Inflationsrate in den Handelspartnerländern um weniger steigt bzw. zurückgeht, da sich nur dann die entsprechenden Export- und Importmengeneffekte einstellen (→ Kap. 27.2.3).  Aufgabe 21: Überlegen Sie! Angenommen, Sie treffen eine andere gesamtwirtschaftliche Situation an als geschildert. Überlegen Sie, welche Auswirkungen ein Ausgleich der Leistungsbilanz (hier: exportbedingte Verschlechterung bzw. importbedingte Verbesserung) auf die Ziele der Vollbeschäftigung und der Preisniveaustabilität in den folgenden Fällen haben kann. Argumentieren Sie zuerst für den allgemeinen Fall und diskutieren dann - nach einiger Recherche - den Fall des konkreten Beispiels. a) Die Leistungsbilanz ist deutlich positiv. Das Preisniveau ist stark schwankend (tendenziell steigend) und es herrscht Unterbeschäftigung (ähnlich Russland in den Jahren 2011-16). b) Die Leistungsbilanz ist deutlich positiv. Es herrscht ein befriedigend hoher Beschäftigungsstand und die ohnehin relativ niedrige Inflationsrate sinkt (ähnlich der Schweiz in den Jahren 2011-16). c) Die Leistungsbilanz ist deutlich negativ. Es herrscht Unterbeschäftigung und weitgehende Preisniveaustabilität (ähnlich Griechenland in den Jahren 2002-08). Langfristige Wechselkursanpassungen 34.2.4 In den → Kap. 34.2.1ff. wurden Wechselkurseffekte ausgeklammert, da beispielhaft die deutsche Volkswirtschaft und ihr Leistungsbilanzdefizit gegenüber Euroländern im Mittelpunkt der Überlegungen stand. Betrachtet man hingegen eine Volkswirtschaft mit eigener Währung und flexiblem Wechselkurs, die einen erheblichen Leistungsbilanzüberschuss aufweist, ändern sich die langfristigen Zielbeziehungen. Mit einer Leistungsbilanzverschlechterung ist bei sonst gleichbleibenden Auslandstransaktionen ein Rückgang der Nachfrage nach Inlandswährung (z.B. zwecks Bezahlung von Exporten) auf dem Devisenmarkt oder eine Zunahme des Angebots (z.B. zwecks Bezahlung von Importen) verbunden. Der entstehende Angebotsüberhang führt zu einer Abwertung der inländischen Währung. Eine Abwertung der eigenen Währung bedeutet, dass sich importierte Güter verteuern, d.h. die Inflationsrate steigt. <?page no="255"?> 256 Leitbild und Ziele Zugleich ist dieser Verteuerungseffekt mit einem Rückgang der Importmengen verb un den . W eil i nländis ch e G üter a us S ich t des A usla nd s dur ch d ie A b wer tun g gün stige r werden, steigen zusätzlich die Exportmengen. Somit wird die originäre Leistungsbilanzverschlechterung langfristig abgemildert. 35 Entzauberung des Magischen Vierecks? Zwischen den vier Zielen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts herrschen keine eindeutigen stabilen Beziehungen. Je nach Definition, Kontext und je nach betrachteter Frist können die Beziehungen konfliktär (konkurrierend), harmonisch (komplementär) oder neutral (unabhängig) sein. Auf längere Sicht kann von einer weitgehenden Harmonie gesprochen werden, soweit man nicht sehr ehrgeizige Zielwerte definiert. Ein solcher wäre z.B., wenn man nur eine Erwerbslosenquote bis drei Prozent als Vollbeschäftigung erachten würde; dann ließe sich eine deutliche simultane Verletzung des Preisniveaustabilitätsziels nicht vermeiden. Ebenso verhielte es sich, wenn Preisniveaustabilität als eine sehr niedrige und extrem stabile Inflationsrate von z.B. 1,0 % plus/ minus 0,1 Prozentpunkte definiert würde. Somit grenzt es grundsätzlich nicht an Zauberei wenn alle Ziele des Magischen Vierecks gleichzeitig erfüllt sind. Gleichwohl herrscht in der Praxis nur selten kurzbis mittelfristig ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Das liegt indes weniger an unüberbrückbaren Zielkonkurrenzen, sondern daran, dass Volkswirtschaften permanent gesamtwirtschaftlich relevanten Störungen ausgesetzt sind. Diese verursachen Verhaltensänderungen, die sich auf die Indikatoren gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts niederschlagen und zu Konjunkturschwankungen bis hin zu lang andauernden Beschäftigungs-, Inflations- und Wachstumsproblemen führen können. 36 Extratour zu den Ursprüngen der Phillipskurve Historische Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Löhnen 36.1 Der Zusammenhang zwischen Inflation und Beschäftigung zählt zu den Dauerbrennern der makroökonomischen Diskussion. Bereits 1926 veröffentlichte der berühmte Ökonom I RVING F ISHER (1867-1947) die Ergebnisse einer empirischen Schätzung über den statistischen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation (F IS- HER , 1926). Die fraglos bekannteste der frühen empirischen Arbeiten zum Inflations-Beschäftigungs- Zusammenhang stammt von A LBAN W. P HILLIPS (1914-75) (P HILLIPS , 1958). P HILLIPS konstatierte für den Zeitraum 1861-1957 eine negative Korrelation zwischen der Arbeitslosenquote (ALQ) und der Lohnentwicklung in Großbritannien (→ Abb. 36.1). P HILLIPS deutete den empirischen Befund als Beleg dafür, dass die Arbeitgeber umso höhere Lohnsteigerungen zahlen müssen, je größer die Arbeitsnachfrage im Vergleich zum Arbeitsangebot ist. Je niedriger die ALQ ist, umso knapper ist der Produktionsfaktor Arbeit und umso stärker konkurrieren die Arbeitgeber um ihn. Daher müssen <?page no="256"?> Extratour zu den Ursprüngen der Phillipskurve 257 sie bei sinkender ALQ höhere Lohnzuwächse bieten, um Arbeitskräfte abzuwerben, zu ha lten ode r zur Arbei tsauf na hm e zu beweg en . Da r aus f ol gt : Steigt die ALQ , geh en d ie Lohnzuwächse zurück. Ab einer gewissen ALQ kann es sogar zu einem absoluten Rückgang der Löhne kommen. Dies war in dem untersuchten Zeitraum ab einer ALQ von ca. 7 % stets der Fall (s. die Punktwolke in Abb. 36.1). Legt man die eingezeichnete Regressionskurve zugrunde, liegt der Wert bei etwa 5,5 % Arbeitslosigkeit. Quelle: P HILLIPS , 1958, S. 285. Abb. 36.1: Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Lohnentwicklung Das Nachfrage-Angebots-Verhältnis auf dem Arbeitsmarkt verändert sich kurzfristig im Wesentlichen aufgrund von Änderungen der Arbeitsnachfrage, welche kurzfristig wiederum von der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage und der Produktivität abhängt. Unter der Annahme eines jährlichen Anstiegs der Arbeitsproduktivität von 2 % impliziert die Kurve (→ Abb. 36.1), dass die Lohnkosten pro Stück bei einer ALQ von etwa 2,5 % unverändert bleiben, weil dann die Lohnzuwächse von ca. 2 % p.a. durch den Produktivitätsanstieg kompensiert werden. Daraus folgerte P HILLIPS für das damalige Großbritannien, dass sich Nullinflation - ein damals durchaus übliches Ziel - einstellt, wenn die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage auf einem Niveau gehalten werde, das die ALQ bei ca. 2,5 % belasse (P HILLIPS , 1958, S. 299). In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde heftig darüber diskutiert, ob Inflation zuvorderst nachfrage- oder angebotsgetrieben sei. Das Anliegen des Ökonometrikers P HILLIPS war es, einen empirischen Beitrag zu dieser Diskussion zu liefern. Vereinfacht kam er zu dem Ergebnis, dass seine statistische Auswertung der ALQ und Lohnentwicklung die Theorie der demand pull-Inflation (→ Kap. 20.6) im Wesentlichen bestätige. Nur in den Zeiträumen, in denen die Importpreise sehr stark stiegen, wären die Löhne deutlich über das nachfrageinduzierte Maß gestiegen. Dies führt Phillips größtenteils auf die importpreisbedingte Steigerung der Lebenshaltungskosten zurück, für welche die Arbeitskräfte auf Kompensation pochten. -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Lohnentwicklung (in %, p.a.) Arbeitslosenquote (in %) + + + + + + <?page no="257"?> 258 Leitbild und Ziele Der von Phillips aufgrund konkreter Beobachtungswerte konstatierte und durch einen d em a nd p ull -Fa kto r e rkl ä rt e Z usa mmen ha n g m ag zutr ef fend g ewesen sein o der a uc h nicht. Denn aus den Beobachtungswerten zweier Größen (wie z.B. Lohnzuwächse und Arbeitslosenquote) lässt sich nicht zwingend auf einen Zusammenhang zwischen den zwei Variablen schließen. Z.B. können andere - nicht betrachtete - Einflüsse (Variablen) für eine dann nur scheinbare Korrelation ursächlich sein. Aus dem Grund sind Korrelations- und Regressionsschätzungen mit nur einer erklärenden Variablen (Einfachkorrelation bzw. -regression) bisweilen unbefriedigend.  Beispiel 32: Beispiel für eine Scheinkorrelation: Von Störchen und Babys Einem Aberglauben zufolge werden Neugeborene vom Storch gebracht. Aufgeklärte Leser werden dem vermutlich widersprechen. Gleichwohl gibt es eine Reihe von statistischen Studien, die eben diesen Zusammenhang zu belegen suchen. Eine der Studien schaffte es sogar in die knapp 150 Jahre alte und äußerst renommierte wissenschaftliche Zeitschrift N ATURE (S IES , 1988, S. 495). S IES präsentierte für Westdeutschland zwei Zeitreihen (1965-80), nämlich die Zahl der brütenden Storchpaare und die Zahl der Neugeborenen. Die Entwicklung der beiden Zeitreihen verläuft auf geradezu verblüffende Weise parallel - zumindest bis 1977. Neuere Studien kommen, wenn auch teils mit methodischen Kniffen, zu ähnlichen Ergebnissen (H ÖFER et al. 2004). P AUL A. S AMUELSON (1915-2009) und R OBERT M. S OLOW (*1924) griffen die Veröffentlichung von P HILLIPS (1958) wenige Jahre später auf (S AMUELSON und S OLOW , 1960). Sie stellten die Arbeitslosenquoten den Lohnänderungsraten für die USA von 1900 bis 1960 gegenüber und schlossen im Wesentlichen ebenfalls auf eine negative Beziehung zwischen den zwei Variablen (S AMUELSON und S OLOW , 1960, S. 187ff.). Für den Zeitraum der letzten 25 Jahre stellten sie die Arbeitslosenquote außerdem direkt der Inflationsrate gegenüber. Die Beobachtungswerte lassen ebenfalls auf eine A new parameter for sex education SIR―There is concern in West Germany over the falling birth rate. The accompanying graph 1,2 might suggest a solution that every child knows makes sense. 1965 1970 1975 1980 Year Pairs of brooding storks ○ Millions of newborn babies ● 2.000 1.500 1.000 1.0 0,75 0,5 <?page no="258"?> Extratour zu den Ursprüngen der Phillipskurve 259 negative Korrelation schließen. Dies erachteten S AMUELSON / S OLOW jedoch - anders als P HILLIPS - nicht als empirische Bestätigung der Inflationstheorie des demand pull. Die ökonomischen Zusammenhänge der Inflationsentstehung sind letztlich zu komplex und die Rahmenbedingungen langfristig zu veränderlich, um aus der Korrelation von ALQ und Inflationsrate auf die Validität der einen oder anderen Theorie (demand pull oder cost push) zu schließen. Die Autoren stellten den von ihnen grob abgeschätzten Zusammenhang als stilisierte Kurve dar (→ Abb. 36.2) und bezeichneten diese als modifizierte Phillipskurve (S AMUELSON und S OLOW , 1960, S. 192). Diese Kurve zeige „the menu of choice between different degrees of unemployment and price stability as roughly estimated from last twenty-five years of American data […]“ (S AMUELSON und S OLOW , 1960, S. 192). Dieses Zitat suggeriert, dass sich die Politik aus einer „Speisekarte“ (menu) eine Kombination aus Inflationsrate und Arbeitslosenquote (ALQ) auswählen kann. Die Wahlmöglichkeit ruft einen Entscheidungskonflikt hervor, der verkürzt lautet: Niedrige Arbeitslosigkeit, aber im Gegenzug eine hohe Inflation? Oder eine niedrige Inflation, dafür aber eine hohe Arbeitslosigkeit? Quelle: S AMUELSON und S OLOW , 1960, S. 192. Abb. 36.2: Stilisierter Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation für die USA, ca. 1935-1959 Nachfragepolitische Implikationen 36.2 Bis in die 1970er-Jahre war es die vorherrschende wirtschaftspolitische Auffassung, dass ein trade off zwischen Beschäftigung und Inflation besteht. Ungeachtet der von S AMUELSON / S OLOW (1960) und anderen Ökonomen gemachten Differenzierungen und Einschränkungen wurde die Phillipskurve als nachfragepolitische „Speisekarte“ interpretiert: Wird der gesamtwirtschaftliche Nachfragedruck eher hoch gehalten, ist -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Inflationsrate (p.a.) Arbeitslosenquote (in %) <?page no="259"?> 260 Leitbild und Ziele die Inflationsrate zwar hoch, aber die ALQ ist niedrig. Herrscht eine ausgesprochene Pr ä fe re nz für eine n iedrige I nflat io nsrate, mü sse der N ac hfr aged ruck eh er n ied ri g gehalten werden, was jedoch eine höhere ALQ mit sich bringt. Daraus ergeben sich erhebliche Implikationen vor allem für die Geldpolitik (→ Kap. 22.3). Das betrifft zunächst eine elementare Frage monetärer Ordnungspolitik. Welche Ziele soll eine Zentralbank (zuvorderst) verfolgen?  Eine niedrige Inflation (wie etwa die EZB), auch wenn diese angesichts der Phillipskurve mit Vollbeschäftigung unvereinbar erscheint,  Vollbeschäftigung, auch wenn diese mit einer hohen Inflationsrate erkauft werden muss,  oder sowohl Preisniveaustabilität als auch eine hohe Beschäftigung als gleichberechtigte Ziele, womit Kompromisse gefordert sind? Die Aussage der Phillipskurve berührt darüber hinaus auch die Fiskalpolitik, z.B. hinsichtlich der Erfolgsaussichten und (Neben-)Wirkungen von Maßnahmen zur Ankurbelung der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage. Dies können staatliche Ausgabenerhöhungen oder Steuersenkungen sein. Ziel solch einer expansiven Fiskalpolitik ist die Steigerung der Produktion und Beschäftigung (→ Kap. 44.6.1). Sinkt durch expansive fiskalpolitische Maßnahmen die ALQ, steigt die Inflationsrate. Die Fiskalpolitik muss diesen trade off berücksichtigen. Dazu zählt auch, dass das Verhalten der Zentralbank mitbedacht wird: Wird dem Inflationsanstieg nämlich mit einer kontraktiven Geldpolitik begegnet, steigen die Zinsen, woraufhin weniger Konsumgüter und Investitionsgüter nachgefragt werden, so dass die Produktion wieder zurückgeht und die ALQ tendenziell wieder steigt (→ Kap. 44.6.1). Schlussfolgerungen für andere wirtschafts- 36.3 politische Bereiche Die Phillipskurve mündet auf den ersten Blick in ein Dilemma für die Wirtschaftspolitik. Die konfliktäre Beziehung zwischen Preisniveaustabilität und hohem Beschäftigungsstand ist indes nicht die einzige Quintessenz aus dem o.g. Artikel von S AMUEL- SON / S OLOW (1960). Die Autoren merkten vielmehr an, dass sich die Betrachtung auf die kurze Frist beschränke. Vor allem aber wiesen sie bereits damals mit Nachdruck darauf hin, dass die Lage der Phillipskurve veränderbar ist. Dies ließe sich zum einen daran erkennen, dass die Stärke des Zusammenhangs zwischen ALQ und Lohnzuwächsen von Land zu Land divergiert. Als Folge sei z.B. Nullinflation in Großbritannien bereits bei einer ALQ von ca. 5 % und in den USA erst bei einer ALQ von ca. 7 % zu erreichen. Also liegt es nahe, dass strukturelle Unterschiede zwischen den Ländern den Verlauf der Kurve beeinflussen. <?page no="260"?> Extratour zu den Ursprüngen der Phillipskurve 261  Aufgabe 22: Überlegen Sie! S AMUELSON / S OLOW erachten die Förderung beruflicher Mobilität (z.B. durch Umzugshilfen) als eine Möglichkeit, um die Lohnzuwächse bei gegebener ALQ zu reduzieren. a) Erklären Sie, inwieweit mobilitätsfördernde Maßnahmen für Arbeitnehmer den durchschnittlichen Lohnzuwachs in einer Volkswirtschaft bei gegebener ALQ verringern können. Bauen Sie Ihre Argumentation auf den Überlegungen von Phillips zur Ursache von Lohnzuwächsen auf. b) In welche Richtung verschiebt sich die Phillipskurve, wenn die Maßnahmen erfolgreich sind? Zum anderen hatte sich die Stärke des Beschäftigung-Lohn-Zusammenhangs in der beobachteten Zeitspanne (1900-1960) in den USA mehrfach verändert und sich damit auch die Phillipskurve verschoben. S AMUELSON / S OLOW vermuten z.B., dass soziale und arbeitsrechtliche Reformen des sog. New Deal (1933-1938) zu einer Verschiebung der Phillipskurve nach rechts geführt haben. Die Einführung sozialer Sicherungssysteme dürfte den Druck auf die Arbeitskräfte vermindert haben, eine Arbeit zu sehr niedrigen Löhnen anzunehmen. Daher mussten Unternehmen selbst bei unveränderter ALQ attraktivere Löhne bieten. Die gesetzliche Anerkennung von Gewerkschaften einschließlich des Rechts der Arbeitnehmer auf kollektive Lohnverhandlungen dürfte ebenfalls zu höheren Lohnzuwächsen geführt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in den USA wiederum zu einer Schwächung der Gewerkschaften und zwar u.a. durch das Wachstum der gewerkschaftlich wenig organisierten privaten Dienstleistungsbranche. Als Folge verschob sich die Phillipskurve wieder nach links. Die Wettbewerbsintensität auf den Gütermärkten ist ein weiterer Einflussfaktor, da der Preis- und Kostendruck auf wettbewerblichen Märkten höher als auf vermachteten Märkten ist. Reformen der Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die einer Unternehmenskonzentration oder Kartellen entgegenwirkt, können daher ebenfalls zu einer Verschiebung der Phillipskurve nach links beitragen. Damit wird deutlich: Der trade off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit ist nicht „naturgegeben“, sondern strukturelle Veränderungen, z.B. in der Arbeits-, Sozial- und Wettbewerbspolitik, können dazu beitragen, dass sich die Kosten einer niedrigen ALQ (= hohe Inflationsrate) verringern. Sprich: Der Staat kann einen dauerhaften Rückgang der ALQ also auch ohne Inflationsanstieg herbeiführen. Ebenso können aber äußere ungünstige Veränderungen dazu führen, dass die Inflationsrate trotz gleichbleibender oder steigender ALQ steigt. Ein Beispiel bilden die Ölpreisschocks in den 1970er-Jahren: Die Folgen eines rapiden Ölpreisanstiegs beförderte sowohl die Inflation als auch die Arbeitslosigkeit. Der simultane Anstieg von Inflation und Arbeitslosigkeit (Stagflation) in den 1970er-Jahren führte dazu, dass die Phillipskurve - im Sinne eines Auswahlmenüs zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation - von den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern fundamental in Frage gestellt wurde (→ Wissensbox 32). In den nachfolgenden Jahrzehnten verlor die Phillipskurve erheblich an Popularität. <?page no="261"?> 262 Leitbild und Ziele Die vorherrschenden Meinungen (sog. Mainstream) in den Wirtschaftswissenschaften si nd se it he r, da ss d e r du rch di e Ph i ll ipsk ur ve d ar gest el lt e t r a de o ff -Z usa m men ha n g  mittlerweile obsolet ist,  dass es sich von Beginn an um einen Trugschluss handelte oder  dass der hergestellte Zusammenhang allenfalls kurzfristiger Art ist. M ILTON F RIEDMAN (1912-2006) und E DWARD P HELPS (*1933) sind zwei Nobelpreisträger (1976 bzw. 2006), die schon in den 1960er-Jahren unabhängig voneinander die letztgenannte Ansicht vertraten. Die Erzeugung eines hohen Nachfragedrucks durch die Geldpolitik (F RIEDMAN , 1968) oder Fiskalpolitik (P HELPS , 1967) würde nur kurzfristig die Beschäftigung erhöhen. Mittelfristig führe er einzig zu einer Akzeleration der Inflationsrate und zu zukünftigen Wohlstandseinbußen. Wenn die ALQ auf mittlere Sicht unabhängig von der Inflationsrate ist, wird die Phillipskurve zu einer Senkrechten (mittelfristig senkrechte Phillipskurve). 37 Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve Inflationserwartungen und expansive Geldpolitik 37.1 Die vereinfachte Interpretation der Phillipskurve unterstellt, dass die Zuwachsrate der Geldlöhne bei unveränderten strukturellen Bedingungen und unveränderter Arbeitsproduktivität von der Höhe der Arbeitslosigkeit abhängt. Allerdings spielt die Inflationsrate ebenfalls eine zentrale Rolle bei den Lohnverhandlungen. Bei gegebenem Nominallohn sinkt bei einer positiven Inflationsrate die Kaufkraft des Lohnes (Reallohn). Je höher die Inflationsrate ist, umso weniger Güter können mit dem jeweiligen Nominallohn gekauft werden. Daher werden Arbeitnehmer bei den Lohnverhandlungen auf einen Inflationsausgleich pochen. In der Regel werden Löhne nicht jeden Tag aufs Neue ausgehandelt, sondern das Verhandlungsergebnis gilt für einen längeren Zeitraum. Z.B. sind Lohn- und Gehaltstarifverträge zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in Deutschland meist für ein bis zwei Jahre gültig. Da also über das zukünftige Lohnniveau verhandelt wird, hängt der ausgehandelte Inflationsausgleich letztlich von der erwarteten Inflationsrate ab. Wie sich Inflationserwartungen auf die Zielbeziehung zwischen Preisniveaustabilität und Vollbeschäftigung auswirken, lässt sich am Beispiel expansiver Geldpolitik darstellen. Dabei wird vereinfachend unterstellt, dass die Arbeitsproduktivität konstant ist. Ferner wird unterstellt, dass der produzierende Sektor auftretende Kostensteigerungen - gesamtwirtschaftlich gesehen - vollständig an die Nachfrager weitergibt. Steigen die Stückkosten z.B. um 10 %, steigt das Preisniveau ebenfalls um 10 %. Zu Beginn herrschen eine bestimmte Inflationsrate (z.B. 1,5 % p.a.) und eine bestimmte ALQ (z.B. 6 %). Nun sei angenommen, dass die Arbeitslosigkeit von der Politik als zu hoch erachtet wird. Daher kurbelt die Zentralbank die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage durch expansive Maßnahmen an, woraufhin die Unternehmen mehr Arbeitskräfte nachfragen, um ihre Produktion erhöhen zu können. Dadurch sinkt die <?page no="262"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 263 ALQ (z.B. auf 5 %) und die Lohnsowie Kostenzuwächse steigen, woraufhin auch die Inflat io nsrate zunimmt (z.B . von 1,5 % a uf 2 % p .a .). D er A nstie g der Inflat io nsrate führt dazu, dass es eines höheren Lohnzuwachses bedarf, um den inflationsbedingten Kaufkraftverlust auszugleichen. Folglich steigt die Lohnzuwachsrate nochmals an, dieses Mal nicht aufgrund der gesunkenen ALQ, sondern als Folge der gestiegenen (erwarteten) Inflation. Dieser Lohnzuwachs mündet wieder in einen Anstieg der Inflation und somit auch der erwarteten Inflation. Die Folge sind steigende Lohnzuwachsraten, eine steigende Inflationsrate usw. usf. Im Ergebnis ist der „Preis“ für die gesunkene Arbeitslosigkeit eine sich beschleunigende Inflation. Dieser Sachverhalt lässt sich grafisch dadurch darstellen, dass sich die Phillipskurve mehrfach nach oben verschiebt (→ Abb. 37.1). Rein theoretisch kann die Inflationsrate durch die Wiederholung des geschilderten Prozesses bei unveränderter ALQ ins Unendliche streben. Praktisch ist dies jedoch nicht denkbar: Zum einen führt Hyperinflation zu schweren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen (→ Kap. 20), einschließlich steigender Arbeitslosigkeit, woraufhin der Lohn- und Inflationsdruck c.p. sinken würde. Zum anderen müsste die Inflationsbeschleunigung von der Zentralbank alimentiert werden, was sehr unwahrscheinlich ist, vor allem bei einer regierungsunabhängigen Zentralbank. Vielmehr wird eine unabhängige Zentralbank das Geldmengenwachstum bremsen, woraufhin die Güternachfrage und die Produktion gedrosselt werden. Somit sinkt die Beschäftigung, d.h. die Arbeitslosigkeit steigt wieder an. Die ALQ wird mittelfristig auf das Niveau ansteigen, bei dem sich die Inflationsrate wieder stabilisiert. Denn dann erwarten die Wirtschaftssubjekte keine Inflationssteigerungen mehr, es bedarf somit keines steigenden Lohnzuwachses als Ausgleich für eine steigende Inflationsrate. Daraus folgt (bei vollständiger Überwälzbarkeit von Kostensteigerungen auf die Nachfrager):  Eine ALQ, bei der die Lohnerhöhungen so hoch sind, dass die Stückkosten stärker steigen als das Preisniveau in der Vorperiode, führt zu einer steigenden Inflation und schürt die Erwartung auf eine weiter steigende Inflationsrate.  Solch eine ALQ lässt sich vorübergehend nur aufrechterhalten, wenn im Gegenzug eine immer schneller steigende Inflationsrate in Kauf genommen und geldpolitisch alimentiert wird.  Infolge der akzelerierenden Inflation kann solch eine ALQ nicht von Dauer sein, da Hyperinflation zu Produktionsrückgängen und anderen Verwerfungen führt bzw. weil sie von einer unabhängigen Zentralbank wohl kaum alimentiert würde. Die Inflationsrate stabilisiert sich, sobald sich die erwartete Inflationsrate tatsächlich auch einstellt. In diesem Fall stimmen erwartete Reallöhne und -gewinne mit den tatsächlichen überein und es kommt nicht mehr zu zusätzlichen Lohnsteigerungen und zur Kompensation nicht antizipierter Inflation. <?page no="263"?> 264 Leitbild und Ziele Abb. 37.1: Senkrechte Phillipskurve Natürliche Arbeitslosenquote 37.2 In → Kap. 10.1.2 wurde bereits auf die inflationsstabile ALQ (NAIRU) hingewiesen, welche von F RIEDMAN (1968, S. 8) ursprünglich als „natürliche Arbeitslosenquote“ in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht wurde. Er wählte den Begriff in Anlehnung an das wesentlich ältere Konzept des „natürlichen Zinssatzes“. Die natürliche ALQ ist diejenige, bei der die Stückkosten mit der gleichen Rate wie das Preisniveau der Vorperiode steigen. Die gesamtwirtschaftlichen Stückkosten und damit das Preisniveau verändern sich auf mittlere Sicht in etwa mit der gleichen Rate wie die Lohnstückkosten (→ Wissensbox 29). Wenn vereinfachend von einer konstanten Arbeitsproduktivität ausgegangen wird, bestimmt die Lohnzuwachsrate somit die Entwicklung der Stückkosten. Die Lohnzuwachsrate setzt sich wiederum aus dem Inflationsausgleich und der arbeitsmarktbedingten Lohnsteigerung zusammen. Die Inflationsrate wird wiederum von der Entwicklung der (Lohn-)Stückkosten bestimmt. Daraus folgt: Die Inflationsrate ist nur dann stabil, wenn die arbeitsmarktbedingte Lohnsteigerung gleich Null ist. Dies setzt eine bestimmte ALQ voraus, bei welcher Arbeitskräfte weder sehr reichlich, noch ausgesprochen knapp sind. Diese Quote ist dann die natürliche Arbeitslosenquote. Die Volkswirtschaft tendiert mittelbis längerfristig zur natürlichen ALQ. Die mittelbis längerfristige Phillipskurve ist entsprechend eine Senkrechte, die durch die natürliche ALQ verläuft (→ Abb. 37.1: die blaue Gerade). Wird realistischerweise ein Anstieg der Arbeitsproduktivität unterstellt, dann bleibt die Inflationsrate stabil, wenn der arbeitsmarktbedingte Lohnanstieg dem Produktivitätsanstieg entspricht. In dem Falle sind nämlich die (Lohn-)Stückkosten konstant. Für einen durchschnittlichen Produktivitätszuwachs von 2 % p.a. wäre dies z.B. bei der originären Schätzung von Phillips (→ Abb. 36.1) bei einer ALQ von ca. 2,5 % der Fall. -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Inflationsrate (p.a.) Arbeitslosenquote (in %) <?page no="264"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 265  Wissensbox 29: Gesamtwirtschaftliche Stückkosten, Lohnstückkosten und Preisniveau Die Behauptung, dass sich das Preisniveau mittelfristig mit der gleichen Änderungsrate wie die Stückkosten entwickelt, setzt voraus:  Gesamtwirtschaftliche Stückkostensteigerungen werden vollständig auf die Nachfrager überwälzt. Diese Annahme mag manche Leser überraschen, da sie auf den ersten Blick den mikroökonomischen Erkenntnissen widerspricht. Bei mikroökonomischer Betrachtung ist bei den meisten Gütern nur eine partielle Überwälzbarkeit gegeben. Das liegt vor allem daran, dass die Nachfrager nach Preissteigerungen auf Substitutionsgüter ausweichen und dieser Nachfragerückgang den Preis wieder nach unten drückt. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive spielt dieser Substitutionseffekt (ebenso wie der Einkommenseffekt, → Kap. 18.2) hingegen keine Rolle. Anders erklärt: Wenn die Stückkosten und Preise für alle Güter steigen, aber die Preisverhältnisse (die relativen Preise) gleich bleiben, finden gar keine Substitutionsprozesse statt. (Auf die Substitution durch Importgüter wird hier vereinfachend nicht eingegangen.)  Die prozentuale Gewinnmarge (in Form eines Aufschlags auf die Stückkosten) ist im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt mittelfristig konstant. Rationale Erwartungen 37.3 Theorie rationaler Erwartungen und Lucas-Kritik 37.3.1 Die Theorie rationaler Erwartungen reüssierte in den 1980er-Jahren und zählt zu den dominierenden makroökonomischen Ansätzen. Vereinfacht besagt diese Theorie, dass die Wirtschaftssubjekte die Wirkungen von Störungen (z.B. wirtschaftspolitischen Veränderungen) kennen und antizipieren. Erwartungen werden demnach nicht auf der Basis vergangener und aktueller Beobachtungswerte gebildet (sog. adaptive Erwartungen), sondern es wird das Ergebnis vorweggenommen. Wenn z.B. eine expansive Geldpolitik die Inflationsrate mittelfristig um x % erhöht, dann steigt die erwartete Inflationsrate nicht wie oben beschrieben Schritt für Schritt an, sondern die erwartete Inflationsrate steigt unmittelbar um x %. Die Theorie rationaler Erwartungen wird häufig mit der Frage konfrontiert, woher die Wirtschaftssubjekte das Ergebnis wirtschaftspolitischer Änderungen kennen sollten. Eine Antwort lautet, dass sie aus vergangenen Erfahrungen gelernt haben. Wenn die Entscheidungsträger in Unternehmen z.B. mehrfach beobachtet haben, dass die ALQ im Zuge einer expansiven Geldpolitik nur vorübergehend sinkt und die Inflationsrate mittelfristig um x % gestiegen ist, werden sie bei der nächsten Expansion ihr Handeln entsprechend anpassen, d.h. erst gar nicht die Arbeitsnachfrage steigern, sondern die Preise um zusätzlich x % erhöhen. Als Ausgleich für den (erwarteten) Inflationsanstieg steigen die Löhne ebenfalls in einem Schritt um x %. Die Phillipskurve mag also in der Vergangenheit kurzfristig fallend verlaufen sein, aber aufgrund der Lerneffekte wird auch die kurzfristige Phillipskurve zur Senkrechten. Kurzum: Dass eine wirtschaftspo- <?page no="265"?> 266 Leitbild und Ziele litische Maßnahme in der Vergangenheit bestimmte Verhaltensweisen auslöste - z.B. einen vor über gehend en Rückgang der A LQ - be deutet n icht, dass die g leiche wirtschaftspolitische Maßnahme zu einem späteren Zeitpunkt zu den gleichen Prozessen führt (→ Wissensbox 30).  Wissensbox 30: Die Lucas-Kritik Die Theorie rationaler Erwartungen wird hauptsächlich auf den Ökonomen R O- BERT E. L UCAS (*1937) zurückgeführt, der u.a. dafür den Nobelpreis (1995) erhielt. L UCAS studierte u.a. bei M ILTON F RIEDMAN an der Universität in Chicago, an die er in den 1970er-Jahren als Professor zurückkehrte. L UCAS (1976) kritisierte die Orientierung der damaligen Geld- und übrigen Wirtschaftspolitik an ökonometrischen Modellen: Zunächst wird ein gesamtwirtschaftliches Modell mit sehr vielen Verhaltensgleichungen formuliert. Dann werden die Beobachtungswerte eines längeren Zeitraums verwendet (Zeitreihenanalyse), um die Stärke der Zusammenhänge zwischen den in den Gleichungen enthaltenen wirtschaftlichen Größen (Variablen) zu schätzen. Schließlich werden geschätzte Funktionsparameter als gegeben (exogen) erachtet und verwendet, um die Wirkungen einer wirtschaftspolitischen Veränderung zu prognostizieren. L UCAS erachtete dieses Vorgehen als einen gravierenden Fehler, denn die Wirtschaftssubjekte würden aus Erfahrungen lernen und ihre Entscheidungen und ihr Verhalten an wirtschaftspolitische Veränderungen bzw. an erwartete Veränderungen anpassen, sodass die Werte der Funktionsparameter, die auf vergangenen Zeitreihen beruhen, nicht mehr zutreffen. Mit anderen Worten: Die Funktionswerte sind keine exogenen, sondern endogene Größen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen, welche entscheidungsrelevante Größen (Zeitreihen) verändern, verändern das Verhalten der Wirtschaftssubjekte, wodurch sich wiederum die Funktionswerte und die Struktur des Modells ändern (sog. Lucas-Kritik). „Given that the structure of an econometric model consists of optimal decision rules of economic agents, and that optimal decision rules vary systematically with changes in the structure of series relevant to the decision maker, it follows that any change in policy will systematically alter the structure of econometric models.“ (L UCAS , 1976, S. 41) Eine andere Antwort lautet, dass die Wirtschaftssubjekte bestens über die Verhaltensweisen, die mikro- und makroökonomischen Wirkungskanäle und Zusammenhänge Bescheid wissen. Daher können sie das Ergebnis verschiedener Vorgänge vorhersagen und richten ihr Verhalten daran aus. Abweichungen vom erwarteten Ergebnis gelten als zufällig. Ein Schwachpunkt dieser Erklärung ist allerdings, dass selbst unter Fachleuten keine Einigkeit über das Verhalten der Wirtschaftssubjekte, die gesamtwirtschaftlichen Wirkungskanäle und Zusammenhänge herrscht. Vielmehr gibt es konkurrierende makroökonomische Modelle und Schulen. Die Annahme, es gäbe das „wahre“ gesamtwirtschaftliche Modell, an das alle Wirtschaftsakteure „glauben“ und dessen Ergebnisse das gesamtwirtschaftliche Verhalten ex ante bestimmen, erscheint praxisfern. <?page no="266"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 267 Beispiel aus der Welt der „Neuen Klassischen Makro- 37.3.2 ökonomik (NKM)“ Ausgangspunkt ist das aus der klassischen Theorie abgeleitete monetaristische Gleichgewichtsmodell. Angenommen, es herrscht die natürliche ALQ, d.h. die Inflationsrate ist stabil (z.B. 1,5 % p.a.). Nun kurbelt die Zentralbank durch eine expansive Geldpolitik die Güternachfrage an. Im Falle adaptiver Erwartungen, die z.B. im keynesianischen und monetaristischen Modell unterstellt werden, steigen daraufhin die Beschäftigung, die Lohnstückkosten und die Inflationsrate. Die gestiegene Inflationsrate schürt Erwartungen auf eine steigende Inflationsrate, wodurch die Lohn- und Inflationszuwächse weiter zunehmen. Soweit das Geldmengenwachstum nicht weiter erhöht wird, geht die Beschäftigung so lange zurück, bis die Lohnzuwächse nicht mehr ansteigen und sich die Inflationsrate stabilisiert (z.B. auf 3,5 % p.a.). Sobald die Inflationsrate stabil bleibt, erwarten die Wirtschaftssubjekte keinen weiteren Inflationsanstieg und entsprechend werden auch keine inflationssteigernden Lohnzuwachsraten ausgehandelt. Im Falle rationaler Erwartungen wissen die an den Lohnverhandlungen Beteiligten, dass das erhöhte Geldmengenwachstum mittelfristig in einen Anstieg der Inflationsrate um x % (z.B. 2 % p.a.) münden und die ALQ auf ihr natürliches Niveau „zurückkehren“ wird. Dieses Wissen führt dazu, dass die Zuwachsraten der Preise und der Löhne unmittelbar um die gesamten x % (z.B. 2 %) erhöht werden, ohne dass sich der Reallohn und die Beschäftigung überhaupt geändert haben.  Wissensbox 31: NKM und überraschende Änderungen des Preisniveaus Voraussetzung für die kurzfristig senkrechte Phillipskurve ist in dem einfachen Modell der Neuen Klassischen Makroökonomik natürlich auch, dass die Wirtschaftssubjekte Kenntnis über die (hier: geldpolitische) Störung haben. Handelt die Geldpolitik „verdeckt“ und überraschend, können die Unternehmen unter Umständen die Preis- und Mengensignale fehlinterpretieren. Ein nachfragebedingter Anstieg der Preise für die eigenen Produkte mag dann als Veränderung der relativen Preise gedeutet werden. Möglicherweise steigen die Einzelpreise auch schneller als die Löhne, so dass der Reallohn sinkt. Der fehlinterpretierte Nachfrage- und Preisanstieg und der sinkende Reallohn führen dann zu einem Rückgang der ALQ. Dieser Rückgang wird jedoch sofort revidiert, sobald der Irrtum erkannt wird. Die Neue Klassische Makroökonomik (NKM) geht von stabilen und gleichgewichtigen gesamtwirtschaftlichen Märkten aus. Sie unterstellt effiziente Märkte als Regelfall, auch die Finanzmärkte betreffend. Die NKM negiert unflexible Preise und Löhne ebenso wie unfreiwillige Arbeitslosigkeit bzw. erachtet sie als staatlich verursacht. Wirtschaftspolitische Eingriffe werden wegen ihrer Unwirksamkeit und schädlicher Nebenwirkungen weitestgehend abgelehnt. Die Anfänge der NKM können auf die 1970er-Jahre (u.a. S ARGENT und W ALLACE , 1975; L UCAS , 1972) datiert werden. Sie diente als Argument gegen eine staatliche Nach- <?page no="267"?> 268 Leitbild und Ziele fragepolitik und lieferte Impulse für die Deregulierung von Güter-, Faktor- und Finanzmärkt en d er 1 980/ 90 er J ah re . Se it E nde d er 1 99 0e r-J ah re h at d ie N K M je d oc h an w irtschaftspolitischer Bedeutung verloren. Das liegt u.a. daran, dass die NKM zwar halbwegs mit Daten im Zuge der Ölpreisschocks vereinbar war und somit besser als die „keynesianische“ Phillipskurve dastand, aber ansonsten ließ sie sich mit empirischen Beobachtungen nicht in Einklang bringen. Die NKM ist auch nicht in der Lage, konjunkturelle Schwankungen zu erklären, die zur Realität aller wirtschaftlich entwickelten Marktwirtschaften gehören. Dies gilt entgegen den Hoffnungen der 1990er-Jahre und unabhängig von der Geld- und Fiskalpolitik oder dem Regulierungsgrad der Volkswirtschaft. Neoklassisch orientierte Makroökonomen haben sich nicht zuletzt deshalb verstärkt den Ursachen der Konjunkturschwankungen zugewendet. Die jüngeren Entwicklungen der neoklassischen Makroökonomie werden teils auch als Neue Klassische Makroökonomie (NKM) bezeichnet. In diesem Lehrbuch werden sie in Abgrenzung der früheren NKM stattdessen mit dem Begriff der neuen NKM belegt.   Wissensbox 32: Was sind DGSE-Modelle? DSGE steht für dynamic stochastic general equilibrium. Dynamische stochastische Modelle des allgemeinen Gleichgewichts basieren auf der Annahme rational handelnder Wirtschaftssubjekte (→ Kap. 42.2) und sind im Wesentlichen mikroökonomisch fundiert. Charakteristisch für alle DSGE-Modelle ist, dass das jeweilige Set von Annahmen zu dem Ergebnis führt, dass die Märkte zwar von selbst ins gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht führen, dass aber unentwegt stochastische Störungen („Schocks“) auf die Volkswirtschaft einwirken, die sich entsprechend in einem permanenten Anpassungsprozess hin zum allgemeinen Gleichgewicht befindet. Solch ein Modell wird in Teil III vorgestellt. DSGE-Modelle sind sowohl in der Lehre als auch in der Forschung und Politikberatungen vorherrschend und dementsprechend einflussreich. Sie sind typisch für die neukeynesianische Synthese aus Neoklassik und Teilen der Keynes’schen Lehre. Sowohl der Neukeynesianismus als auch die aus der neuen klassischen Makroökonomik (NKM) hervorgegangene Theorie der Real Business Cycles (→ Kap. 37.3.3) stützen sich auf DSGE-Modelle. Theorie der Real Business Cycles 37.3.3 Ein wesentlicher Zweig der neuen NKM ist die dynamische Theorie der Real Business Cycles (RBC). Zu den bekanntesten Begründern der Theorie realer Konjunkturzyklen zählen E DWARD C. P RESCOTT (*1940) und F INN E. K YDLAND (*1943), die im Jahr 2004 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Die Modelle realer Konjunkturzyklen unterstellen rationale Erwartungen und halten grundsätzlich an neoklassischen Annahmen fest, also u.a. die angebotsseitige Bestimmung von Beschäftigung und Produktion, optimierende Wirtschaftssubjekte sowie vollständige Markträumung. Allerdings können anders als im einfachen neoklassischen Modell rationale Verhaltensänderungen zu Abweichungen vom gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtspfad führen. Jedoch sind die Schwankungen entgegen keynesianischen Überlegungen nicht nachfragebedingt. <?page no="268"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 269 Die Auslöser solcher Konjunkturschwankungen sind vor allem reale Störungen der An gebo tsseite wie z.B. V erän derun gen der to ta len F ak to rpr odu k tivi tät ( „ Tec hno logieschocks“) und Schwankungen des Arbeitsangebots. Als Ursache dafür, dass reale Störungen Konjunkturschwankungen hervorrufen, wird z.B. der stochastische Charakter des Gleichgewichtspfads angeführt. Zufällige Schwankungen lassen eine gewisse Unsicherheit entstehen. Beobachtungsfehler führen zu Verhaltensänderungen, die vorübergehend vom Gleichgewicht wegführen können. Mithin kann es passieren, dass trotz rationalen Verhaltens derart agiert wird, dass selbst im neoklassischen Modell vorübergehend vom Gleichgewicht abgewichen wird. Es öffnet sich quasi eine „Spalte“ (wedge) zwischen zwei Größen, die im neoklassischen Modell üblicherweise einander entsprechen, weil das Optimierungsverhalten der Wirtschaftssubjekte für eine Gleichheit der zwei Größen und damit für Gleichgewicht sorgt. Ein Beispiel hierfür ist die Übereinstimmung von Reallohn und Grenzprodukt der Arbeit (→ Kap. 45.1) bzw. von der Grenzrate der Substitution (GRS) zwischen Konsum und Freizeit und Reallohn. (Zur Erklärung → Wissensbox 33). Stimmen diese Größen nicht überein, sondern besteht z.B. ein wage wedge („Lohnspalte“), lassen sich Konjunkturschwankungen durch ein entsprechend modifiziertes neoklassisches Modell erklären.  Wissensbox 33: Freizeit-Arbeits-Optimierung der privaten Haushalte Der Nutzen (das „Wohlbefinden“) der Haushalte hängt von dem Konsum von Gütern und der verfügbaren Freizeit ab. Je mehr Stunden/ Woche eine Arbeitskraft arbeitet, umso höher sind c.p. ihr Einkommen und ihre aktuellen und zukünftigen Konsummöglichkeiten. Zugleich bedeutet eine Stunde Mehrarbeit den Verzicht auf eine Stunde Freizeit pro Woche. Eine zusätzliche Arbeitsstunde generiert also sowohl einen Nutzenzuwachs (Grenznutzen der Arbeit) als auch eine Abnahme (Grenzleid der Arbeit). Da der Grenznutzen mit zunehmender Arbeitszeit abnimmt und das Grenzleid zunimmt, ist die Arbeit-Freizeit-Struktur optimal, wenn sich Grenznutzen und Grenzleid entsprechen. (Würde dann noch mehr gearbeitet, würde der Nutzen aus mehr Konsum um weniger steigen als das Leid durch weniger Freizeit, und der Gesamtnutzen somit sinken.) Der Reallohn pro Stunde gibt die Menge an Gütern an, die sich eine Arbeitskraft leisten kann, wenn sie eine Stunde arbeitet. Mit steigendem Reallohn steigt diese Gütermenge und damit auch der durch sie generierte Nutzen. Dies veranlasst die optimierenden Haushalte, ihre Arbeit-Freizeit-Struktur so zu verändern, dass Grenznutzen und Grenzleid wieder übereinstimmen. Sie werden folglich mehr Arbeit anbieten, d.h. weniger Freizeit nachfragen. Wenn der Reallohn hingegen sinkt, steigt die Freizeitnachfrage, d.h. das Arbeitsangebot sinkt. Die Grenzrate der Substitution (GRS) zwischen Konsum und Freizeit gibt nun an, um wie viel Einheiten der Konsum ausgedehnt werden müsste, um den Nutzenverlust durch die Abnahme der Freizeit um eine Stunde zu kompensieren. Infolge des Optimierungsverhaltens der Haushalte gilt, dass die GRS gleich dem Reallohn ist. <?page no="269"?> 270 Leitbild und Ziele In der RBC-Theorie kommt der Annahme intertemporalen Substitutionsverhaltens bes on der e Bedeu tung z u. W enn H aus halt e a ns tr eb en , i hr en G es amtnutzen über mehrere Zeitperioden hinweg zu maximieren, werden sie ihr Arbeit-Freizeit-Verhalten für den gesamten Zeitraum optimieren. Damit hängt ihr Arbeitsangebotsverhalten in einer Periode nicht allein vom aktuellen Reallohn ab. Vielmehr entscheiden zusätzlich der vergangene und zukünftig erwartete Reallohn sowie der Zinssatz über die Höhe des Arbeitsangebots. Bei der Erklärung sei vereinfachend angenommen, dass es um einen begrenzten Zeitraum von einem Jahr ginge. Dann wird eine Erwerbsperson entscheiden, wie viel Arbeitsstunden sie in den 52 Wochen jeweils anbietet. Sagen wir, sie entscheidet sich angesichts eines Reallohns von 10 für konstant 50 Std./ Woche. Nun steigt der Reallohn im 2. Quartal infolge einer unerwarteten Störung auf 12 und es wird erwartet, dass er im 3. Quartal wieder sinkt. Dann ist es rational, das Arbeitsangebot im 2. Quartal auf z.B. 60 Std. pro Woche zu erhöhen und im 3. Quartal unter die 50 Std. zu senken, z.B. auf 35 Std. Betrachtet man das 3. Quartal isoliert, scheinen GRS und Reallohn zu divergieren. Ein unerwarteter Anstieg des Zinssatzes im 2. Quartal hat den gleichen Effekt. Erhöht die Erwerbsperson sofort ihr Arbeitsangebot, profitiert sie besonders vom gestiegenen Zins. Denn der höhere Zins bringt einen umso höheren Einkommenszuwachs während des einen Jahres, je früher er genutzt und je mehr gespart wird. Je höher das Einkommen wiederum ist, umso mehr kann gespart werden. Das zusätzliche Arbeitsleid durch die Arbeitsangebotserhöhung im 2. Quartal wird von der Arbeitskraft dadurch kompensiert, dass sie im 3. oder 4. Quartal mehr Freizeit genießt, d.h. weniger Arbeit anbietet. Dies geschieht unabhängig vom aktuellen Reallohn. Aus den gleichen Überlegungen heraus reagieren die Arbeitskräfte auf Änderungen der erwarteten zukünftigen Reallohns oder Zinssatzes. Erwarten sie z.B. einen höheren Reallohn, werden sie ihr aktuelles Arbeitsangebot zugunsten eines höheren zukünftigen Arbeitsangebots reduzieren. Und da in diesen Modellen alle Haushalte in der beschriebenen Art reagieren, verändern unerwartete Störungen ebenso wie Erwartungsänderungen das Angebotsverhalten auf dem Arbeitsmarkt. Ändert sich auf dem neoklassischen Arbeitsmarkt (→ Kap. 45.1) das Arbeitsangebotsverhalten (die Angebotskurve in → Abb. 45.1), ändern sich c.p. Beschäftigung und Reallohn. Im beschriebenen Beispiel steigen zunächst die Beschäftigung und der Reallohn über das ursprüngliche Gleichgewichtsniveau (10) hinaus und fallen im 3. Quartal darunter. Sprich: Es kommt zu „konjunkturellen“ Schwankungen der Produktion und der Reallöhne. Die schwankende Arbeitslosigkeit ist in RBC-Modellen freiwillig. Störungen, die den Reallohn oder Reallohnerwartungen und die Beschäftigung vorübergehend verändern, können zuvorderst Technologieschocks sein. So ist der technische Fortschritt kein konstanter und gänzlich vorhersehbarer Prozess, sondern kurzfristig gibt es sowohl Produktivitätsschübe als auch Produktivitätsrückschritte. Während der Schübe steigen die Produktion und der Reallohn, woraufhin z.B. infolge der intertemporalen Substitution auch das Arbeitsangebot und die Beschäftigung steigen. Produktivitätsrückschritte führen zu entsprechenden Bewegungen mit umgekehrten Vorzeichen. Unerwartete exogene Preisänderungen wie z.B. Ölpreisschocks (→ Wissensbox 31) wirken ähnlich. Vorübergehende Änderungen des Reallohns bzw. der Lohnerwartungen können auch politisch bedingt sein. Dies können Änderungen des Nominallohnniveaus durch Min- <?page no="270"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 271 destlohnregelungen oder eine Stärkung/ Schwächung von Gewerkschaften sein. Unvo llstän dig e In for ma ti on üb er B ewegun gen d es Lo h n o d er Pr ei sn iv ea u s un d B eo b a ch tungsfehler sowie deren Korrektur rufen ebenfalls Schwankungen hervor. Ein Beispiel hierfür liefert die weiter unten verwendete worker misperception-Theorie (→ Kap. 46.1.2). Da unerwartete Änderungen des Zinssatzes oder der Zinserwartungen auch Arbeitsangebotsschwankungen erklären können, zählen z.B. unerwartete Zinsschritte der Zentralbank ebenfalls zu den möglichen Ursachen für reale Konjunkturzyklen. Eine weitere Ursache ist ein Anstieg der staatlichen Güternachfrage, zumal expansive Fiskalpolitik die Höhe des Zinssatzes beeinflussen kann. Die Vertreter der neuen NKM lehnen die These einer fallenden Phillipskurve ab, weil sie einen kausalen Zusammenhang zwischen ALQ und Inflationsrate ablehnen - und zwar unabhängig davon, welche Frist betrachtet wird. Die häufig beobachtete Korrelation von steigender Inflationsrate und Beschäftigung im Laufe des Konjunkturzyklus wird auf die Keile (wedges) und intertemporales Substitutionsverhalten zurückgeführt, die nach realen - durchaus auch zufälligen - Störungen auftreten. Verschiedene Annahmen der RBC-Theorie werden von Kritikern als empirisch nicht haltbar erachtet. Dazu gehören Produktivitätsrückschritte ebenso wie die Annahme intertemporalen Substitutionsverhaltens der Arbeitskräfte, insbesondere dass sie ihr Arbeitsangebot an den zukünftig erwarteten Reallöhnen ausrichten. Es widerspräche zudem der Realität, dass Arbeitnehmer völlig frei und flexibel über die von ihnen geleistete Arbeitszeit entscheiden können. Beispiel aus der Welt des „Neukeynesianismus“ 37.3.4 Ausgangspunkt des Neukeynesianismus ist ebenfalls ein Gleichgewichtsmodell, in dem die Wirtschaftssubjekte rational handeln. Jedoch herrscht in diesem mikroökonomisch fundierten Modell keine vollständige Konkurrenz (→ Kap. 16.1): Die dominierende Marktform ist vielmehr das Oligopol, d.h. es gibt einige größere Anbieter. Außerdem existieren Transaktionskosten (z.B. Kosten der Information und der Anpassung) oder weitere „Marktunvollkommenheiten“, die neben vertraglichen Bindungen zu einer kurzfristigen Trägheit des Lohn- und Preisniveaus (sticky wages bzw. sticky prices) führen. Preisträgheit kann man sich so vorstellen, dass bei steigendem Nachfragedruck zunächst nur ein Teil der Preise von einem Teil der Unternehmen erhöht wird, in einer späteren Phase von einem weiteren Teil usw. usf. (sog. gestaffelte Preissetzung). Ähnliches gilt für die Löhne, wobei im Folgenden davon ausgegangen wird, dass die durchschnittliche Lohnrigidität größer ist als die Preisrigidität. Wenn die Güternachfrage nun infolge einer expansiven Geldpolitik steigt, reagieren einige Unternehmen relativ rasch mit Preissteigerungen. Andere tun dies nicht, weil sie z.B. vertraglich gebunden sind oder ihnen die mit Preisänderungen verbundenen Transaktionskosten zu hoch erscheinen. Die Inflationsrate steigt daher relativ wenig. Die preiserhöhenden Unternehmen, deren Zulieferer ihre Preise nicht erhöht haben, erleben einen Rückgang der realen Grenzkosten, der zu einer gewinnsteigernden Produktionssteigerung anregt. Da die Löhne außerdem langsamer als die Preise reagieren (können), steigt das Lohniveau weniger als das Preisniveau, sprich das Reallohniveau <?page no="271"?> 272 Leitbild und Ziele sinkt. Sinkende Reallöhne motivieren gewinnmaximierende Unternehmen dazu, mehr Arbe it skr äfte e in zustell en (→ K ap. 45. 1) . Di e ALQ s in kt. Es folgt ein allmählicher Anstieg der inflationsbedingten Lohnzuwächse und der Inflationsrate. Wenn die Löhne stärker als die Preise steigen, nimmt der Reallohn wieder zu (und die Gewinne nehmen wieder ab). Er wird so lange steigen, bis er bei einer nun höheren Inflationsrate (z.B. x % p.a.) zum ursprünglichen Reallohniveau zurückgekehrt ist. Wird zur Vereinfachung davon ausgegangen, dass alle übrigen Produktionsfaktoren (→ Kap. 2) unverändert bleiben, dann entspricht das neue Arbeitsmarktgleichgewicht dem alten Gleichgewicht mit der ursprünglichen ALQ. Allerdings verläuft der Prozess relativ langsam ab. Für einen gewissen Zeitraum, dessen Länge von der Art und dem Grad der „Marktunvollkommenheiten“ abhängt, ist die ALQ niedriger als zuvor. Unterstellt man zusätzlich rationale Erwartungen, was für neukeynesianische Modelle die Regel ist, mündet das Modell anders als das NKM-Modell jedoch nicht in eine kurzfristig senkrechte Phillipskurve, da Preise und Löhne zu rigide sind, um umgehend um x % steigen zu können. Anders als im monetaristischen Modell ist die mittelfristige Phillipskurve ebenfalls nicht zwingend senkrecht. Dafür ursächlich ist, dass die einzelnen Unternehmen ihre Preiserhöhungen nicht allein von der erwartenden Inflationsrate abhängig machen, sondern auch von den realen Grenzkosten. Solange die realen Grenzkosten nicht flächendeckend auf das ursprüngliches Niveau angestiegen sind, werden Unternehmen die Preise um weniger als die erwartete Inflationsrate (x %) erhöhen. Der Zustand des ursprünglichen realen Grenzkostenniveaus erfordert indes, dass alle Preise (und Löhne) gleichzeitig mit der erwarteten Inflationsrate steigen, d.h. dass es keine gestaffelte Preis- oder Lohnsetzung gibt. Wenn es diese jedoch gibt, dann verläuft die mittelbis längerfristige Phillipskurve fallend. Je höher die Inflationsrate ist bzw. je schneller sie steigt, umso steiler ist die Kurve, weil die Preise und Löhne flexibler werden. Das liegt daran, dass es trotz gewisser Vertrags- und anderer Preisanpassungskosten immer teurer wird, auf häufige Preis- und Lohnanpassungen bzw. auf sehr kurze Vertragslaufzeiten zu verzichten. Hinzu kommt, dass die Wirtschaftssubjekte zunehmend auf inflationsindexbasierte Preis- und Lohnvereinbarungen umsteigen werden. Die Beziehung zwischen ALQ und Inflationsrate wird mit anderen Worten mit zunehmender Inflation immer geringer. Der Neukeynesianismus zählt spätestens seit der Jahrhundertwende zum Mainstream der modernen Makroökonomie, was u.a. daran liegt, dass sich makroökonomische Entwicklungen im Nachhinein recht gut mit neukeynesianischen Modellen erklären lassen. Kritiker weisen indes darauf hin, dass dies auf eine gewisse Beliebigkeit bei den Modellannahmen zurückzuführen sei. Es gäbe so viele neukeynesianische Modelle, dass sich immer ein Modell finden oder neu entwickeln ließe, bei dem etwaige Marktunvollkommenheiten und Anpassungsverzögerungen genau derart modelliert würden, dass sie nachträglich zu den empirischen Fakten passen. Das eine Modell erklärt zurückliegende Entwicklungen z.B. mit kostenbedingten Rigiditäten und der Heterogenität der Produktionsfaktoren einschließlich Mismatch-Arbeitslosigkeit und segregierten Arbeitsmärkten. Ein anderes Modell erklärt die gleiche oder eine abweichende Entwicklung z.B. mit vertraglich hervorgerufenen Rigiditäten und externen Effekten usw. Hinzu kommt, dass viele Modelle mittlerweile mathematisch und ökonomisch recht kompliziert sind. Die große Vielfalt und Komplexität machen es schwierig, allgemein- <?page no="272"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 273 gültige Prognosen über die Wirkungen von wirtschaftspolitischen Veränderungen oder ande ren St örunge n zu m ac he n. Übrigens hat die neukeynesianische Theorie mit dem Keynesianismus, Post- oder dem fast namensgleichen Neokeynesianismus nur wenig gemein. Sie ist im Wesentlichen eine um „keynesianische“ Marktunvollkommenheiten und Rigiditäten erweiterte Synthese aus  mikroökonomisch fundierter Gleichgewichtstheorie nach Muster der Neoklassik und der RBC-Theorie (im Gegensatz zu keynesianischen und postkeynesianischen Ungleichgewichtsmodellen oder neokeynesianischen Modellen, in denen Ungleichgewichte auf Güter- und Arbeitsmarkt sich gegenseitig verstärken, die Preise ihre Marktanpassungsfunktion verlieren und die Volkswirtschaft einen dauerhaften „quasi-gleichgewichtigen“ Ungleichgewichtszustand driftet) und  der Theorie rationaler Erwartungen (im Gegensatz zu adaptiven Erwartungen, großen Unsicherheiten oder nichtrationalen Verhaltensweisen in postkeynesianischen Modellen). Der neue Keynesianismus (New Keynesian Economics) wird auch als neue neoklassische Synthese oder neukeynesisanische Synthese bezeichnet. Ein wesentlicher Unterschied zwischen keynesianischen und neukeynesianischen Ansätzen besteht darin, dass bei erstgenanntem das Güterangebot von der gesamtwirtschaftliche Güternachfrage abhängt. Neukeynesianer gehen eher davon aus, dass die Angebotsseite ausschlaggebend für die Beschäftigung ist. „Alte“ neoklassische Synthese 37.3.5 Die nunmehr „alte“ neoklassische Synthese bezeichnet demgegenüber das Zusammenführen neoklassischer und keynesianisch geprägter Marktmodelle. Typischerweise wird dabei ein neoklassischer Arbeitsmarkt (→ Kap. 45.1) unterstellt, der gelegentlich durch nach unten unzureichend flexible (Real-)Löhne erweitert wird, womit sich anhaltende Unterbeschäftigung erklären lässt. Der Geld- und der gesamtwirtschaftliche Gütermarkt sind hingegen durch Überlegungen geprägt, die gemeinhin als keynesianisch gelten (IS-LM-Modell, → Kap. 44.6). Geldmarktbedingte Zinssteigerungen führen zu einem Rückgang der Güternachfrage und ziehen einen Rückgang der Produktion nach sich. Eine sinkende Produktion impliziert ein sinkendes Einkommen, wodurch die Konsumnachfrage sinkt usw. Zinssenkungen führen wiederum auf den gleichen Kanälen zu Nachfrage- und Einkommenserhöhungen, die weitere Nachfragerhöhungen nach sich ziehen (sog. Multiplikatoreffekt, → Kap. 44.2). In dieser „Welt“ ist die geld- und fiskalpolitische Nachfragesteuerung erfolgreich, weil die Nachfrage die Produktion bestimmt. Somit ist bei kluger Politik Vollbeschäftigung möglich. Kurzfristig ist auch Überbeschäftigung möglich. Dann herrscht jedoch ein kurzfristiger Nachfrageüberschuss nach Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt, wodurch die Reallöhne über das mittelfristige Gleichgewichtsniveau hinaus steigen (→ Kap. 47.5). Das führt über kurz oder lang zu einem Anstieg des Preisniveaus, steigender Geldnachfrage und steigenden Zinsen. Die Güternachfrage und Produktion gehen wieder zurück, die ALQ steigt. Es war übrigens der Nobelpreisträger des Jahres 1970, P AUL A. S AMUELSON , der den Begriff der Synthese aus Neoklassik und Keynesianismus prägte. Die frühe Kritikerin neoklassischer Annahmen J OAN R OBINSON (1903-1983) bezeichnete die von S A- <?page no="273"?> 274 Leitbild und Ziele MUELSON und anderen entwickelte Schule 1962 allerdings als Bastardkeynesianismus. Di e Ö ko no mi n un d er st sp ä t ber ufene Pro fe sso r in i st u .a . für i hr e Ex e ge se der W er ke von K EY NES bekannt, dessen Theorien sie außerdem maßgeblich weiterentwickelte. Sie gilt als prägende Vertreterin des Postkeynesianismus, der eine Zusammenführung der keynes’schen Erkenntnisse mit der Neoklassik grundsätzlich ablehnt. Die Annahme ist vielmehr, dass die Volkswirtschaft in der Regel weder von selbst in ein Gleichgewicht findet, noch dass die Märkte effizient sind. Zu den Gründen zählen erhebliche Informationsdefizite und Unsicherheit, Lohnstarrheit sowie bisweilen das irrationale Verhalten besonders auf den Finanzmärkten. Der nur eingeschränkt abgrenzbare Neokeynesianismus sieht außerdem preisbzw. inflationsunabhängige Beschränkungen der Nachfrage- und Angebotsmengen als Ursache. Viele Lehrbücher verbinden die „alte“ neoklassische Synthese mittlerweile mit dem F RIEDMAN schen Konzept der natürlichen ALQ bei adaptiven Inflationserwartungen. Das führt dazu, dass die ALQ zwar auf mittlere Sicht immer wieder auf ihr natürliches Niveau zurückkehrt. Aber die Geld- und Fiskalpolitik sind in der Lage, die ALQ kurzfristig zu beeinflussen. Das entsprechende Modell ist das sog. AS-AD-Modell (→ Kap. 47), das seit geraumer Zeit als Standardmodell in der Hochschullehre gilt. Interessierte Leser finden die Darstellung eines entsprechenden Modells im Teil III dieses Buches. Kontraktive Geldpolitik und Phillipskurve 37.4 In den vorangehenden Kapiteln wurde der Verlauf der Phillipskurve, welcher die Zielbeziehung zwischen hohem Beschäftigungsstand und Preisniveaustabilität abzubilden versucht, überwiegend anhand der Wirkungen einer expansiven Geldpolitik (Zinssenkung oder Anstieg des Geldmengenwachstums) erklärt. Die dargestellten Wirkungsketten gelten mit umgekehrten Vorzeichen auch für eine kontraktive Geldpolitik. Das heißt, dass kontraktive Geldpolitik zu einem Rückgang der Inflationsrate führt, sog. Disinflation. Dies wird im Folgenden skizziert. Fallende Phillipskurve (keynesianisch) Kontraktive Geldpolitik bewirkt einen Rückgang der Güternachfrage. Es sinkt die Arbeitsnachfrage (die ALQ steigt), die Lohnzuwächse sinken und es sinkt die Inflationsrate. Mittelfristig senkrechte Phillipskurve (monetaristisch) Kontraktive Geldpolitik bewirkt zunächst einen Anstieg der ALQ aufgrund sinkender Güternachfrage, woraufhin die Lohnzuwächse und damit auch die Inflationsrate sinken. Daraufhin erwarteten die Wirtschaftsakteure eine niedrigere Inflationsrate, woraufhin die inflationsbedingten Lohn- und Preiszuwächse sinken. Sinkende Inflation regt die Güternachfrage und folgend die Beschäftigung an. Daraus erwachsen zwei simultane Lohneffekte: Die sinkenden Inflationserwartungen drücken die Löhne einerseits nach unten, während sie andererseits durch die sinkende Arbeitslosigkeit nach oben tendieren. Solange der dämpfende Effekt größer als der erhöhende Effekt ist, <?page no="274"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 275 findet Disinflation statt. Der Prozess ist beendet, wenn der Nettoeffekt gleich Null ist. Da n n b lei bt da s Lo hn ni veau unver ä n der t, un d die In fla ti o n sr ate ist sta bi l. E s he rr sch t wieder die inflationsstabile ALQ, sprich die natürliche ALQ. Kurzfristig senkrechte Phillipskurve durch rationale Erwartungen (Neue Klassische Makroökonomik und neue NKM) Da die Wirtschaftsakteure den Ausgang einer geldpolitischen Kontraktion umgehend antizipieren, werden die Lohnzuwachsraten auf das korrekt erwartete Inflationsniveau reduziert und der Preisniveauanstieg sinkt im gleichen Maße. Der Nachfrageeffekt kontraktiver Geldpolitik wird somit sehr schnell - theoretisch sofort - durch Disinflation neutralisiert. Nachfrage und Beschäftigung sind unverändert. Lediglich eine unerwartete geldpolitische Kontraktion und überraschende Preisänderungen ziehen für kurze Zeit Beschäftigungseffekte nach sich. Fallende Phillipskurve durch Marktunvollkommenheiten (neukeynesianisch) Die geldpolitische Kontraktion bewirkt via Disinflationserwartungen einen Rückgang des Preiszuwachses nur bei dem Teil der Unternehmen, die relativ schnell auf die monetäre Kontraktion reagieren (können). Für diese Unternehmen steigen die realen Grenzkosten an, wenn die Vorleistungspreise weniger stark gesunken sind oder wenn die Preise schneller als die Löhne gesunken sind (steigender Reallohn). Die Beschäftigung sinkt und die ALQ steigt. Wenn die gestaffelte Preis- und Lohnsetzung dazu führt, dass die Reallöhne längerfristig über dem ursprünglichen Niveau bleiben, dann wird dauerhaft eine höhere ALQ realisiert. Andernfalls kehrt die ALQ langfristig auf ihr Anfangsniveau bei nun niedrigerer Inflationsrate zurück. Fiskalpolitik und Phillipskurve 37.5 Im Wesentlichen sind die jeweiligen Effekte fiskalpolitischer Maßnahmen auf die ALQ und die Inflationsrate die gleichen wie bei der Geldpolitik. Stark verkürzt führt eine expansive Fiskalpolitik zu einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, woraufhin im einfachen keynesianischen Modell die Beschäftigung steigt (→ Kap. 44.6.1). Der Beschäftigungsanstieg führt zu steigenden Lohnzuwächsen und somit einer höheren Inflationsrate. Dies korrespondiert mit einem fallenden Verlauf der Phillipskurve: Die ALQ sinkt und die Inflationsrate steigt. Im monetaristischen Modell ist wegen Verdrängungseffekten (sog. cowding out, → Wissensbox 40) fraglich, ob eine expansive Fiskalpolitik tatsächlich zu einem nennenswerten Beschäftigungszuwachs beiträgt. Dies sei hier aber dennoch angenommen, um zu verallgemeinernden Aussagen über den Monetarismus hinaus zu gelangen. Erwarten die Wirtschaftssubjekte nun nach dem Inflationsanstieg eine höhere Inflationsrate, kommt es zu weiteren Lohn- und Inflationssteigerungen. Die Güternachfrage beginnt im Zuge steigender Inflation fortwährend zu sinken, die ALQ beginnt zu steigen. Daraufhin sinken arbeitsmarktbedingt die Löhne, während sie inflationsbedingt ansteigen. Solange der Nettoeffekt positiv ist, also der inflationserwartungsbedingte Lohnzuwachs größer als der arbeitsmarktbedingte Lohnzuwachs ist, wird die Inflati- <?page no="275"?> 276 Leitbild und Ziele onsrate und die erwartete Inflationsrate steigen. Der Prozess ist beendet, wenn die AL Q so h och ist, da ss der a rbe i ts m ar ktbe di ngte Rückga ng des Lo hn zu wachs es m it dem inflationsbedingten Anstieg des Lohnzuwachses übereinstimmt. Inflationsrate und Arbeitslosenquote sind nunmehr stabil. Kurzum: Die ALQ hat wieder ihr natürliches Niveau erreicht. Unter den Annahmen der NKM wissen die Wirtschaftssubjekte über das hier vereinfachend als „monetaristisch“ deklarierte Endergebnis expansiver Fiskalpolitik Bescheid. Sie antizipieren das Ergebnis umgehend durch entsprechende Lohn- und Preissteigerungen. Expansive Fiskalpolitik bewirkt somit einen sofortigen Inflationsrückgang, ohne dass sich die ALQ ändert. Die neue NKM macht demgegenüber auf reale Effekte expansiver Fiskalpolitik aufmerksam, die das intertemporale Arbeitsangebotsverhalten beeinflussen und einen Konjunkturzyklus auslösen können. In neukeynesianischen Modellen ist langfristig grundsätzlich ein ähnliches Ergebnis expansiver Fiskalpolitik wie im monetaristischen Modell zu erwarten. Allerdings dauern die Prozesse deutlich länger, soweit die Inflationsrate nicht sehr hoch ist. Und wenn die Annahme der gestaffelten Preissetzung beibehalten wird und zudem die Löhne rigider als die Preise sind, dann bleibt der Reallohn bzw. die realen Grenzkosten über einen sehr langen Zeitraum unter dem ursprünglichen Niveau. Die ALQ findet ggfs. nicht (oder erst sehr spät) auf ihr ursprüngliches Niveau zurück. Es bleibt dem Leser überlassen, die entsprechenden Überlegungen im Falle kontraktiver Fiskalpolitik anzustellen. Treten hierbei Schwierigkeiten auf, ist das Vorblättern zu den → Kap. 44.3ff. in Teil III hilfreich. Wirtschaftspolitische Implikationen der Phillipskurven- 37.6 Diskussion Zentrale Erkenntnisse 37.7 Erwartungen sind elementar. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis für die Wirtschaftspolitik liegt darin, dass die Wirkungen geld- und fiskalpolitischer Maßnahmen von den Erwartungen der Marktteilnehmer beeinflusst werden. So hängt die Zielbeziehung zwischen hohem Beschäftigungsstand und Preisniveaustabilität in entscheidendem Maße vor allem von den Inflationserwartungen ab. Ändert sich die erwartete Inflationsrate, neigen die Wirtschaftssubjekten zu strukturellen Verhaltensänderungen. Eine Begründung liefert die Lucas- Kritik (→ Wissensbox 30). Die Neue Klassische Makroökonomik (NKM) impliziert in ihrer ursprünglichen einfachen Version, dass allenfalls völlig überraschende geld- oder fiskalpolitische Veränderung vorübergehend realwirtschaftliche Auswirkungen hat. In allen anderen Fällen ist jede geld- oder fiskalpolitische Maßnahme beschäftigungsunwirksam und führt lediglich zu einer umgehenden Anpassung der Inflationsrate. Da die einfache NKM- <?page no="276"?> Extratour: Makroökonomische Schulen am Beispiel der Phillipskurve 277 Welt heutzutage nach mehrheitlicher Auffassung als unrealistisch gilt, wird sie in der pr ak tisch en W ir tscha ftsp o li tik w eitge h en d au sgeb len d et. Anpassungsprozesse dauern. Die Diskussion spiegelt außerdem die wichtige „alte“ Erkenntnis wider, dass die Anpassungsgeschwindigkeiten der Preise, Löhne und Mengen nicht nur für die Wirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen bedeutsam sind. Vielmehr sind sie ganz zentral für die Frage, ob eine aktive Konjunkturpolitik notwendig erscheint. Wenn die Märkte nach realen Störungen zügig von selbst in ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht finden, sprechen die Nachteile geld- oder fiskalpolitischer Änderungen gegen eine aktive Politik. Anders ist dies hingegen, wenn die Märkte die Volkswirtschaft nur sehr schleppend (oder gar nicht) ins gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht bringen und die begleitenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen erheblich sind. Mix makroökonomischer Theorien 37.8 Sowohl der monetaristische Ansatz als auch die „alte“ neoklassische Synthese spielen in der Praxis der Wirtschaftspolitik noch immer eine nennenswerte Rolle. Eine nicht zu unterschätzende Ursache ist sicherlich, dass etliche wirtschaftspolitische Entscheidungsträger zu einer Zeit makroökonomisch geprägt wurden, als die moderne neoklassische Makroökonomie (RBC-Theorie) und der Neukeynesianismus noch nicht den Mainstream bildeten. Außerdem sind die Statuten der Zentralbanken von den Theorien beeinflusst, die zu Zeiten ihrer Verfassung dominierten. Beispielsweise sind in den Statuten der in den 1990er Jahren konzipierten EZB zuvorderst monetaristische und NKM-Elemente erkennbar. Die 1977 verankerte Zielsetzung der US F ED (→ Kap. 23.3) ist von der „alten“ neoklassischen Synthese und ein wenig vom Monetarismus geprägt. Hingegen hat die B ANK OF E NGLAND diese Schulen insoweit hinter sich gelassen, als dass die Reformen 1998/ 2004 ihren Auftrag in weitgehenden Einklang mit neueren Gleichgewichtstheorien brachte: Die Bank von England ist allein dafür verantwortlich, durch ihre Zinspolitik dafür zu sorgen, dass das direkte Inflationsziel von 2 % (inflation targeting) eingehalten wird. Teils mag die Langlebigkeit der „alten“ neoklassischen Synthese und des Monetarismus auch darin begründet sein, dass sie zumindest in Europa nach wie vor Grundbestandteil des VWL-Studiums sind. Und sie sind meistens die einzigen makroökonomischen Theorien, mit denen Studierende anderer Hauptfächer sowie die Schüler an weiterführenden und Berufsschulen Bekanntschaft machen. Schließlich spielt auch eine Rolle, dass viele Überlegungen dieser Schulen in den Neukeynesianismus (neue neoklassische Synthese) und die RBC-Theorie (moderne neoklassische Makroökonomie) eingegangen sind. Ungeachtet der vereinzelt sehr harschen wissenschaftlichen Konkurrenz zwischen dem Neukeynesianismus und der modernen NKM sind die wirtschaftspolitischen Empfehlungen dieser beiden Schulen in weiten Teilen gleich. <?page no="277"?> 278 Leitbild und Ziele Konvergenz wirtschaftspolitischer Empfehlungen 37.9 Die stabilitätspolitischen Empfehlungen der vorherrschenden makroökonomischen Theorien lassen sich in Bezug auf die Phillipskurven-Diskussion wie folgt zusammenfassen:  Zu den wichtigsten Aufgaben der Geld- und Fiskalpolitik zählt die Stabilisierung der Erwartungen.  Daher bedarf es insbesondere einer vorhersehbaren und glaubwürdigen Wirtschaftspolitik, d.h. sie muss transparent und ihre Ziele müssen von Dauer sein.  Alle relevanten Maßnahmen sind konsequent auf die Erreichung der Ziele auszurichten. Dies ist wichtig für die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftspolitik: Zum einen ist dann die Wahrscheinlichkeit eines zufriedenstellenden Zielerreichungsgrads hoch; zum anderen trägt es zur Planungssicherheit für die Wirtschaftssubjekte bei, wenn sie keine stabilisierungspolitischen „Überraschungen“ einkalkulieren müssen.  Für die Geldpolitik folgt daraus eine Politik der direkten Inflationssteuerung („Inflation Targeting“). Diese funktioniert in der Regel am besten mit zinspolitischen Instrumenten (Leitzins, Einlagen- und Refinanzierungssatz). Differenzen zwischen den vorherrschenden Lehren existieren im Hinblick auf das „richtige“ Inflationsziel bzw. den Inflationskorridor sowie die Fähigkeit des Staates, konjunkturelle Schwankungen durch Maßnahmen zu dämpfen, die über die Stabilisierung der Erwartungen hinausgehen.   Hinweis Im Teil III findet sich ein ideengeschichtlicher Überblick über die verschiedenen makroökonomischen Schulen (→ Abb. 42.1). <?page no="278"?> G Modifikationen des Begriffs des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und Alternativen 38 Magisches Fünfeck der Stabilitätspolitik Begriff der tragfähigen Staatsfinanzen 38.1 Bisweilen werden tragfähige (oder: nachhaltige) Staatsfinanzen als fünfter Bestandteil gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts genannt. Ganz allgemein ist darunter eine Haushaltspolitik der öffentlichen Hand gemeint, welche keine finanziellen Risiken für die Zukunft birgt, Handlungsspielräume nicht verbaut und nicht zulasten künftiger Generationen geht. In der Praxis schlägt sich dies entweder in der Forderung nach einem mittelfristig nahezu ausgeglichenen Staatshaushalt nieder - wie es etwa die sog. Schuldenbremse im Grundgesetz und der EU-Fiskalvertrag vorsehen. Oder es wird eine Begrenzung des Schuldenstands definiert - wie es u.a. im M AASTRICHT -V ERTRAG und beim makroökonomischen Scoreboard der EU (→ Kap. 26.5) mit einer Staatsschuldenquote von max. 60 % (Schuldenstand/ BIP) der Fall ist.   Wissensbox 34: Was ist die Schuldenbremse? Grundgesetz Art. 109, Abs. 3 enthält: „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. […] [F]ür den Haushalt des Bundes Artikel 115 […] [ist] Satz 1 entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. … für die Haushalte der Länder […] [ist] Satz 1 nur dann entsprochen, wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden.“ Ausnahmen gelten bei Naturkatastrophen oder in außergewöhnlichen - auch wirtschaftlichen - und mithin krisenhaften Ausnahmesituationen, wobei dann aber Tilgungspläne aufzustellen sind. Mit anderen Worten: Das strukturelle Haushaltsdefizit des Bundes darf 0,35 % des BIP (strukturelle Defizitquote des Bundes) nicht überschreiten. Die Haushalte der Länder müssen eine Quote von Null aufweisen. Die Regelung greift seit 2016 (Bund) bzw. ab 2020 (Länder). Die Schuldenbremse wurde im Sommer 2009 vom Bundestag und vom Bundesrat mit der jeweilig notwendigen Zweidrittelmehrheit verabschiedet. Sie ist vor dem Hintergrund der internationalen Finanzkrise zu sehen, die 2009 auch Deutschland erfasste und zu deren Bewältigung sich der Staat erheblich verschuldete. Mit der Schuldenbremse wollten die Bundes- und Landesregierungen den Menschen und Unternehmen u.a. signalisieren, dass Befürchtungen unbegründet seien, dass sich der deutsche Staat langfristig überschulde. <?page no="279"?> 280 Leitbild und Ziele Quelle: B UNDESMINISTERIUM DER F INANZEN , 2017. Deutschlands Defizitquote Der EU-F ISKALPAKT von 2011 strebt ebenfalls an, dass die EU-Länder mittelfristig einen ausgeglichenen strukturellen Haushalt vorweisen, wobei der strengste Grenzwert für die strukturelle Defizitquote bei 1 % liegt. Der Staatshaushalt setzt sich auf der einen Seite aus sämtlichen Einnahmen der öffentlichen Hand und auf der anderen Seite aus deren Ausgaben zusammen. Nach der Abgrenzung der VGR werden außer dem Bund, den Ländern und Gemeinden auch die gesetzlichen Sozialversicherungen zum Staat gezählt. Im Jahr 2016 summierte sich der Haushalt auf Einnahmen von ca. 1.350 Mrd., d.h. die Staatseinnahmenquote (Einnahmen/ BIP) lag bei ca. 43 %. Die in Deutschland bedeutsamsten Einnahmen waren im Jahr 2016 die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. Die Staatsausgaben waren ca. 25 Mrd. EUR niedriger als die Einnahmen, so dass ein Haushaltsüberschuss von 0,8 % des BIP entstanden ist. Die größten Ausgabenposten sind Transfers an private Haushalte sowie Ausgaben für unentgeltlich bereitgestellte Güter (z.B. Infrastruktur, Verteidigungs- und Bildungsdienstleistungen). Deutschland weist seit 2014 einen positiven Staatshaushalt auf. Zuvor griff Deutschland ebenso wie viele andere Industrieländer auf Kredite zurück, um die Einnahmenlücke zu decken (→ Abb. 38.1). Entsprechend stieg der Schuldenstand. Solange die Zunahme der Schulden unter der Zunahme des nominalen BIP liegt, geht trotz Neuverschuldung die Schuldenquote zurück. Anders ausgedrückt: Die Schuldenquote (Schuldenstand/ BIP) steigt, wenn die Staatsdefizitquote - sprich: die Nettoneuverschuldung in Prozent des BIP - die nominale Wachstumsrate der Volkswirtschaft übersteigt. 1,13 1,23 1,22 1,98 1,68 1,65 1,1 0,72 0,51 1,89 0,85 0,34 0,14 -0,27 -0,15 0,1 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Schuldenbremse 0,35% des BIP ab 2016 <?page no="280"?> Magisches Fünfeck der Stabilitätspolitik 281  Aufgabe 23: Überlegen Sie! Am 1. Januar 1999 wurde der Euro eingeführt. Die durchschnittliche Schuldenquote bzw. die Defizitquote der damals elf Euroländer betrugen knapp 70 % bzw. 1,5 %. Acht Jahre zuvor hatten die Schuldenquote der damals zwölf EG- Mitgliedstaaten bei ca. 61 % und die Defizitquote bei knapp 5 % gelegen. Im M AASTRICHT -Vertrag der EU von 1992 ist festgelegt, dass die Erfüllung bestimmter Kriterien einem Eintritt in den Euroraum vorausgehen sollte. Dazu zählen Höchstwerte für die Staatschulden von 60 % und das Budgetdefizit von 3 % des BIP. Formulieren Sie eine Idee, wie der Wert für das M AASTRICHT -Kriterium der Defizitquote zustande gekommen sein könnte. Entwicklung zentraler Schuldenindikatoren 38.2 → Abb. 38.1 lässt erkennen, dass die Schuldenquote in der EU zwischen 2001 und 2014 mit nur leichten Unterbrechungen gestiegen ist und, dass Deutschland diese Entwicklung bis 2011 teilte. Folglich überstieg die Defizitquote des Staates das nominale Wirtschaftswachstum fast permanent. Der deutsche Haushaltsüberschuss der letzten Jahre bei spürbar wachsender Wirtschaft hat entsprechend einen deutlichen Rückgang der Staatschuldenquote herbeigeführt. Quelle: E UROSTAT , 2017. Abb. 38.1: Defizitquoten 1995-2016 -10 -9 -8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 in % des BIP Deutschland Euroraum (18) EU (28) <?page no="281"?> 282 Leitbild und Ziele Quelle: E UROSTAT , 2017. Abb. 38.2: Schuldenquote ausgewählter Volkswirtschaften 1995-2016 Unter dem strukturellen Haushalt (→ Wissensbox 34) ist das um konjunkturelle Einflüsse und Einmalfaktoren bereinigte Budget zu verstehen. Einmalfaktoren sind die fiskalischen Folgen von singulären Ereignissen (Naturkatastrophen etc.). Die Ermittlung des strukturellen Budgetsaldos kann auf zwei Wegen erfolgen (EZB, 2014c):  Disaggregiertes Verfahren: Zunächst werden die aktuellen konjunkturell bedingten Einnahmen und Ausgaben berechnet, die allein dadurch entstanden sind, dass die konjunkturelle Lage besonders schlecht oder übermäßig „gut“ ist. Anschließend werden diese Größen von den tatsächlichen Gesamteinnahmen und -ausgaben jeweils subtrahiert bzw. addiert. Der strukturelle Haushaltssaldo ist die Differenz zwischen bereinigten Einnahmen und bereinigten Ausgaben.  Aggregiertes Verfahren: Alternativ werden die Einnahmen und Ausgaben für den Fall geschätzt, dass sich die Volkswirtschaft c.p. - bei z.B. gleichen Steuertarifen und Transfersätzen - auf dem langfristig gleichgewichtigen Wachstumspfad (Potenzialwachstum, → Kap. 14) befände. Dabei werden staatliche Zinszahlungen oft ausgeklammert (sog. Primärsaldo), um die Einflüsse einer konjunkturgetriebenen Geldpolitik zu neutralisieren. Der Leser kann sich denken, dass keine der beiden Ermittlungsmethoden trivial ist und das erste Verfahren extrem aufwendig ist. Außerdem besteht bei dem ersten Verfahren ein großer Ermessensspielraum bei der Festlegung, welche Ausgaben oder Einnahmen konjunkturell bedingte Mehrausgaben bzw. Mindereinnahmen darstellen. Dies mag zu „kreativer Buchführung“ einladen (F RANKFURTER A LLGEMEINE Z EITUNG , 2003). Begründungen 38.3 Höchstwerte für die Schulden- und Defizitquoten des Staates werden im Wesentlichen damit begründet, dass die Schuldendienstlast des Staates auf ein tragfähiges Maß be- 50,0 55,0 60,0 65,0 70,0 75,0 80,0 85,0 90,0 95,0 Deutschland Euroraum(18) EU (28) <?page no="282"?> Magisches Fünfeck der Stabilitätspolitik 283 grenzt bleiben sollte. Tragfähig bedeutet, dass der Staat seine Aufgaben erfüllen kann und sich die finanzielle Belastung der Bevölkerung gleichzeitig im Rahmen hält.  Die Schuldendienstfähigkeit muss erhalten bleiben, d.h. der Schuldenberg darf kein Niveau erreichen, bei dem die Zahlungsfähigkeit des Staates ins Wanken gerät.  Die Abgabenlast der Menschen und Unternehmen sollte nicht so hoch werden, dass die ökonomische Leistungsbereitschaft derart sinkt, dass das Wirtschaftswachstum leidet.  Auch sollte die Belastung nicht derart erdrückend wirken, dass Abgabenhinterziehung „gesellschaftsfähig“ wird, da dies mit verschiedensten Nachteilen verbunden ist, einschließlich Staats- und Politikverdrossenheit.  Die (zukünftige) Abgabenlast sollte nicht so hoch sein, dass sie den sozialen Frieden gefährdet, da sie als sehr ungerecht erachtet wird bzw. zu sozialen Problemen oder Verwerfungen führt.  Die (zukünftigen) Schuldendienstverpflichtungen sollten nicht auf ein Niveau klettern, so dass zu wenig Ausgabenspielraum für die Wachstums- und Wirtschaftspolitik sowie die Sozial- und Gesellschaftspolitik bleibt. Die Funktionsfähigkeit des Staates ist vielmehr dauerhaft aufrechtzuerhalten. Kritik am Ziel eines ausgeglichenen Haushalts 38.4 Die o.g. Kriterien rechtfertigen eine mittel- und langfristige Begrenzung der Staatschuldenquote. Sie erfordern entgegen indes keinen ausgeglichenen Staatshaushalt im Sinne einer Gleichheit von Einnahmen und Ausgaben oder gar einen Haushaltsüberschuss. Beides kann nämlich negative Wirkungen auf die Volkswirtschaft hervorrufen, was in abgeschwächter Form auch für das Ziel eines strukturellen Haushaltsdefizits von (nahe) Null gilt. Beispiele möglicher negativer Wirkungen sind:  Wenn der Staat bei drohendem Defizit die Einnahmenseite bemüht und die Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen erhöht, wirkt dies kurzbis mittelfristig kontraktiv auf die Volkswirtschaft. Dies wäre jedoch während einer nachlassenden oder schlechten Konjunkturlage grundsätzlich rezessionsverschärfend und könnte durch konjunkturelle Einflüsse zu einer Verschlechterung des öffentlichen Haushalts führen. Gleiches gilt für eine Ausgabenkürzung.  Wenn einer drohenden Nettoneuverschuldung durch eine steigende Staatseinnahmenquote (Einnahmen/ BIP) begegnet wird, schmälert dies zunehmend die Motivation der Wirtschaftssubjekte, auf dem (legalen) Markt Leistungen zu erbringen, da sie sich an der Leistungsentlohnung nicht angemessen beteiligt fühlen (s.o.). Die Folge sind längerfristige Wachstumseinbußen bzw. eine Erosion der Einnahmenbasis, welche weitere Abgabenerhöhungen nach sich ziehen - soweit die Ausgabenseite unangetastet bleibt.  Soweit die Einnahmenquote aus den genannten Gründen nicht steigen soll, bleibt zur Haushaltskonsolidierung eine Reduzierung der Staatsausgaben. Soweit davon wachstumsfördernde oder -stabilisierende Aktivitäten betroffen sind, senkt diese Strategie das längerfristige Wachstumspotenzial. Als offenkundiges Beispiel gilt eine unzureichende oder marode Infrastruktur. <?page no="283"?> 284 Leitbild und Ziele Daher wird oft vorgeschlagen, eine als erforderlich erachtete Haushaltskonsolidierung wen i ger d ur ch e ine Erh öhung der Abgabe nsätze , Erweit erung der Abgabenbeme ssungsgrundlage oder eine allgemeine Ausgabenkürzung zu erreichen, sondern vielmehr durch eine selektive Ausgabenkürzung herbeizuführen. Der Anteil des Staatskonsums mit investiver Wirkung solle von Kürzungen ausgenommen werden. Im Allgemeinen werden Infrastruktur- und Bildungsausgaben sowie die Forschung(sförderung) hierzu gezählt. Was sich hier in der Theorie einfach anhört, ist es in der Praxis nicht. Denn welche Ausgabenaktivitäten wachstumsfördernd (investiv) und welche es nicht sind, lässt sich bei genauem Hinsehen nur durch eine aufwendige Einzelfallbetrachtung befriedigend klären. Sind die Erweiterung oder der Erhalt und Betrieb von Infrastruktur in Form von z.B. Schwimmbädern und Kindertagesstätten teilweise investiv - und wenn ja, zu welchem Teil? Wie verhält es sich mit repräsentativen öffentlichen Gebäuden („Prunkbauten“) oder dem Denkmalschutz? Sind bezuschusste Staatsopern konsumtiv, weil sie einem kleinen Teil der Bevölkerung einen verbilligten Opernbesuch ermöglichen? Oder haben sie investiven Charakter, weil z.B. das „Kulturland“ Deutschland Touristen anzieht oder internationale Wirtschaftsbeziehungen fördert? Wie sieht es mit der Sportinfrastruktur aus? Und ist jede Straße und jede Brücke gesamtwirtschaftlich wirklich sinnvoll? Mit den öffentlichen Personal- und Sozialausgaben verhält es sich auch nicht viel einfacher. Ein Rückgang der staatlichen Beschäftigtenzahl kann zwar einerseits den oft zitierten „schlanken Staat“ befördern, aber andererseits kann er auch einen Bürokratiestau erzeugen, die Dauer oder Qualität von Gerichtsverfahren verlängern bzw. mindern und die innere/ äußere Sicherheit verschlechtern. Nullrunden im öffentlichen Dienst können durchaus wachstumsmindernd wirken, wenn sie etwa die Motivation/ Loyalität der Beschäftigten mindern oder es durch die relativ sinkende Attraktivität des Staatsdienstes zu einem Rückgang des Qualitätsniveaus der Bewerber kommt. Schließlich sind auch Sozialausgaben nicht zwingend konsumtiv: Gesundheitsausgaben dienen u.a. dem Erhalt oder Aufbau des Arbeitskräftepotenzials, das ALG I (Arbeitslosengeld I) dient u.a. einer effizienteren Allokation des Produktionsfaktors Arbeit und die Sozialhilfe (einschl. ALG II) soll ebenso wie BAFöG nicht zuletzt den Kindern einkommensschwacher Familien zu mehr Startchancengerechtigkeit verhelfen, womit die Ausstattung der Volkswirtschaft mit Humankapital zunähme. Das Konzept der Haushaltskonsolidierung über die Ausgabenseite unter Ausklammerung investiver Staatsaktivitäten krankt außerdem in der Praxis daran, dass sich die Kürzung von Infrastrukturausgaben politisch wesentlich leichter durchsetzen lässt als etwa die Kürzungen von Sozialleistungen, Subventionen und öffentlichen Personalkosten. Das liegt u.a. daran, dass sich Einsparungen im Infrastrukturbereich oftmals nicht kurzfristig bemerkbar machten, sondern Straßen, Brücken, Gebäude etc. erst dann marode werden, wenn andere Entscheidungsträger um ihre Wiederwahl bangen müssen. <?page no="284"?> Weitere Vielecke (Polygone) der Wirtschaftspolitik 285 39 Weitere Vielecke (Polygone) der Wirtschaftspolitik Magisches Sechseck 39.1 Das heute häufig verwendete Bild des Magischen Sechsecks der Wirtschaftspolitik (→ Abb. 39.1) erweitert das viergliedrige Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts um den Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit wird dabei oftmals mit Verteilungsgerechtigkeit gleichgesetzt, d.h. Einkommen und Vermögen sollen gerecht zwischen den privaten Haushalten verteilt sein. Das ist grundsätzlich positiv zu bewerten, da die Erweiterung verdeutlicht, dass die Konjunktur- und Wachstumspolitik nicht freischwebend im gesellschaftlichen Raum agiert. Makroökonomische Stabilität ist nicht alles, sondern z.B. existieren soziale und ökologische Schranken, welche der Staat zu beachten hat, wenn er das Oberziel der Wirtschaftspolitik - den Wohlstand/ die Wohlfahrt der Menschen zu steigern - anstrebt. Zugleich sprengt das Sechseck, das zum Siebeneck wird, wenn die Staatsfinanzen explizit aufgenommen werden, dieses Lehrbuch über Grundlagen der Makroökonomie. Ausgewählte Zusammenhänge zwischen gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht und sozialer Gerechtigkeit werden daher nur kurz angesprochen. Quelle: in Anlehnung an F REDEBEUL -K REIN et al., 2014, S. 37. Abb. 39.1: Magisches Sechseck der Wirtschaftspolitik Umweltschutz Vollbeschäftigung Verteilungsgerechtigkeit Preisniveaustabilität Wachstum außenwirtschaftliches Gleichgewicht <?page no="285"?> 286 Leitbild und Ziele Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und soziale Ge- 39.2 rechtigkeit Die Erreichung der Ziele Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie angemessenes, stetiges Wirtschaftswachstum leistet einen Beitrag zur sozialen Sicherung und Gerechtigkeit. Marktleistungsgerechtigkeit 39.2.1  Eine niedrige Arbeitslosenquote bedeutet, dass Haushalte, die von ihrem Arbeitseinkommen abhängig sind, mit großer Wahrscheinlichkeit ein Markteinkommen („Primäreinkommen“) erzielen.  Ein hoher Auslastungsgrad des Kapitals sichert das Primäreinkommen von Haushalten, die überwiegend Kapitaleinkünfte beziehen.  Wirtschaftswachstum ermöglicht eine Steigerung der materiellen Versorgung (soweit das im Zuge des Produktionsprozesses geschaffene Einkommen im Inland bleibt) und steigert das Volkseinkommen. Bedarfsgerechtigkeit 39.2.2  Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum vergrößern c.p. die staatliche Ausgabenbasis für soziale Transfers und steuerliche Umverteilungsmaßnahmen, wodurch eine Sekundärverteilung herbeigeführt werden kann, die bedarfsgerechter ist als die Primärverteilung über den Markt. Allerdings vernachlässigen die Ziele des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts die Ausgangsverteilung des Einkommens und des Vermögens. Bei ungleicher Ausgangsverteilung sind entsprechend auch die Startchancen ungleich verteilt, womit die Gefahr besteht, dass sich bei einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung die Kluft zwischen den Einkommensgruppen vergrößert. Hinzu kommt eine Ungleichverteilung von gesellschaftlicher bzw. politischer Macht, die ebenfalls ungerechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse hervorrufen und verstärken kann (E NQUE- TE , 2013, S. 175ff.). So ist die frühere entwicklungsökonomische Hypothese, dass Wirtschaftswachstum quasi automatisch zu den Einkommensschwachen durchsickert (Trickle-down -Hypothese), empirisch nur sehr eingeschränkt belegbar. Z.B. hat Armut im Wesentlichen nur in den (Entwicklungs-)Ländern spürbar abgenommen, in denen eine erfolgreiche Wachstumspolitik von erheblichen bildungspolitischen Anstrengungen und sozialen Reformen begleitet wurde. Der Beitrag der Preisniveaustabilität zu sozialer Gerechtigkeit wurde bereits in → Kap. 20 dargestellt. Übrigens finden sich diese Erkenntnisse bereits in der wirtschaftspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft (K ULESSA , 2016), die ihre Wurzeln im wirtschaftlichen Neoliberalismus der 1930er-Jahre hat und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde: Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und Geldwertstabilität sind demnach notwendige Voraussetzungen für die Bewältigung der Sozialen Frage und für einen „Wohlstand für alle“ (E RHARD , 1957), aber nicht hinreichend. Vielmehr ist der Staat gefordert, die Einkommensverteilung durch unmittelbare Maßnahmen (z.B. Sozi- <?page no="286"?> Magisches Viereck einer sozial-ökologischen Wirtschaftspolitik 287 alleistungen, progressiven Einkommensteuertarif) oder mittelbare Maßnahmen (z.B. in den Bereichen öffentliche Güter, Bildung, Gesundheit) zu ändern. Ziel dessen ist eine bedarfsgerechtere Verteilung bzw. Chancengerechtigkeit. Außerdem sieht die Soziale Marktwirtschaft den Staat in der Pflicht, einer Verteilung nach Marktmacht das Prinzip der marktleistungsgerechten Verteilung entgegenzusetzen. Das impliziert eine aktive Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen. 40 Magisches Viereck einer sozialökologischen Wirtschaftspolitik Grafische Darstellung 40.1 Quelle: in Anlehnung an D ULLIEN und VAN T REECK , 2013, S. 15. Abb. 40.1: Nachhaltigkeitsvieleck  Aufgabe 24: Überlegen Sie! Das BIP pro Kopf als Wohlfahrtsindikator Wohlfahrt wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Im Folgenden wird darunter der Wohlstand, d.h. das Wohlergehen der Bevölkerung verstanden, der sich aus der Gesamtheit der gedeckten individuellen Bedürfnisse ergibt. Angenommen, das BIP pro Kopf liegt seit Jahren in Aland um 30 % höher als in Beland. Im Jahr 2016 betrug das in US-Dollar umgerechnete Pro-Kopf-BIP in Aland 33.000 USD und in Beland 30.000 USD. Die Person X behauptet: „Daher ist die Wohlfahrt der Bevölkerung in Aland höher als in Beland.“ Vollbeschäftigung Preisniveaustabilität außenwirtschaftliches Gleichgewicht Wachstum ökologische Nachhaltigkeit Zukunftsfähigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen soziale Nachhaltigkeit materieller Wohlstand und ökonomische Nachhaltigkeit <?page no="287"?> 288 Leitbild und Ziele a) Erläutern Sie drei Argumente, warum X Recht haben könnte. (Blättern Sie ggfs. zu → Kap. 14 zurück.) b) Erläutern Sie am konkreten Beispiel sieben Argumente, warum X Unrecht haben könnte. Begriff der nachhaltigen Entwicklung 40.2  Wissensbox 35: Nachhaltigkeitszitate „Dauerhafte [Nachhaltige] Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ (H AUFF , 1987/ B RUNDTLAND -R EPORT , 1987, Kap. 2,1). „[N]achhaltige Entwicklung [ist] ein Prozess, in dem die Nutzung von Ressourcen, die Investitionen, der technologische und institutionelle Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrößern, menschlichen Bedürfnisse und Bestrebungen gerecht zu werden.“ (B RUNDTLAND -R EPORT , 1987, II.15, eigene Übersetzung) Die heutige Verwendung des - vermutlich aus der Forstwirtschaft entnommenen - Begriffs der Nachhaltigkeit ist wesentlich von dem Konzept des sustainable development geprägt. Dieses fand mit dem Bericht der W ELTKOMMISSION FÜR U MWELT UND E NTWICKLUNG (B RUNDTLAND -R EPORT 1987) und der folgenden UN-K ONFERENZ FÜR U MWELT UND E NTWICKLUNG (Rio 1992) weltweit Eingang in die Politik. In Rio hatten damals über 170 Länder der Agenda 21 zugestimmt, welche die Umsetzung des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung vorsieht. Die deutsche Bundesregierung berief z.B. knapp zehn Jahre nach Rio 1992 den R AT FÜR N ACHHALTIGE E NTWICKLUNG (RNE), beschloss eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie (B UNDESREGIERUNG , 2002), veröffentlicht alle vier Jahre einen Fortschrittsbericht und erweitert schrittweise das Maßnahmenprogramm. Das S TATISTISCHE B UNDESAMT erstellt überdies seit zehn Jahren einen Indikatorenbericht über „nachhaltige Entwicklung in Deutschland“ (S TA- TISTISCHES B UNDESAMT , 2017d). In Bezug auf den Begriff der Nachhaltigkeit hat sich relativ schnell das Drei-Säulen- Modell entwickelt, das zwischen ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit unterscheidet. Das Oberziel einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik muss es demnach sein, allen drei Säulen gerecht zu werden, sprich einen nachhaltigen Wohlstand innerhalb ökologischer Leitplanken anzustreben. Die Mikroökonomie befasst sich seit etwa einem Jahrhundert standardmäßig mit den Umwelteffekten wirtschaftlicher Aktivitäten, wozu das bahnbrechende Werk von A RTHUR C ECIL P IGOU (1877-1959) über externe Effekte einen wesentlichen, noch heute angewandten Beitrag leistete (P IGOU 1912 u. 1920). Z.B. gibt es kaum ein mikroökonomisches Lehrbuch, in das die Pigou-Steuer zur Eindämmung von Umweltbelastungen bzw. zur „Internalisierung externer Kosten“ keinen Eingang gefunden hat. <?page no="288"?> Magisches Viereck einer sozial-ökologischen Wirtschaftspolitik 289 Anders verhält es sich mit Lehrbüchern zur Makroökonomie. Die makroökonomische Theorie griff Systemfragen der Nachhaltigkeit im Wesentlichen erst im Anschluss an den eingangs erwähnten B RUNDTLAND -B ERICHT auf. Sie arbeitet u.a. an Blaupausen für Nachhaltigkeitsökonomien, etwa im Rahmen der Postwachstumsökonomie (D IEFENBA CHER et al., 1997; P AECH , 2012), der Glücksökonomie (J ENSEN und S CHEUB , 2014; W ORLD H APPINESS R EPORT , 2015) und der green economy (UNEP, 2011). Sie sind Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion darüber, was nachhaltige Entwicklung konkret bedeutet, welche Unterziele aufzustellen sind und wie nachhaltige Entwicklung gemessen und wie sie auf ordnungs- und ablaufpolitischen Wege erreicht werden könne. Die traditionelle Definition des Magischen Vierecks der Wirtschaftspolitik ist demgegenüber lediglich eine Umschreibung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, das ggfs. einen Teil wirtschaftlicher Nachhaltigkeit ausmacht. Um hingegen zu einem Magischen Vieleck der nachhaltigen Wirtschaftspolitik zu gelangen, müssten neben makroökonomischen auch mikro-, struktur- und regionalökonomische Ziele hinzugenommen werden. Abb. 40.2: Zauberscheibenmodell (D IEFENBACHER et al., 1997, S. 72) möglichst niedrige Luftverschmutzung geringe Abfallmengen Erhaltung der Ökosysteme und der Artenvielfalt Erhaltung des Bestandes an erneuerbaren Ressourcen Verbesserung des Umweltschutzes geringe Entnahme von nicht erneuerbaren Ressourcen gleichmäßige Verteilung der Arbeit angemessener privater Verbrauch möglichst hoher regionaler Selbstversorgungsgrad gesunde Struktur der öffentlichen Haushalte Preisniveaustabilität ausgeglichene Wirtschaftsstruktur hohes Niveau von Kultur und Ausbildung gleichmäßige Einkommens- und Vermögensverteilung ausgewogene Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur sozial- und umweltverträgliche Mobilität hohes Gesundheitsniveau hohes Sicherheitsniveau Umwelt Wirtschaft Gesellschaft/ Soziales <?page no="289"?> 290 Leitbild und Ziele Die Vielschichtigkeit des Begriffs der nachhaltigen Entwicklung wird sehr deutlich an h an d des sog. Zaub ersch eib enm ode ll s v on D IEFENBACHER et al. (1997), welches die Nachhaltigkeitssäulen (Kreise) in Teilziele (Scheiben) untergliedert (→ Abb. 40.2). Das Zauberscheibenmodell ist der Postwachstumsökonomie zuzuordnen, welche davon ausgeht, dass Wachstum (in den wirtschaftlich weit entwickelten Ländern) mit ökologischer Nachhaltigkeit unvereinbar ist:  Das Ziel des Wirtschaftswachstums taucht hier nicht auf.  Statt Vollbeschäftigung wird eine gleichmäßige Verteilung der Arbeit angestrebt.  Außenwirtschaftliches Gleichgewicht wird durch einen hohen regionalen Versorgungsgrad ersetzt.  Aufgabe 25: Überlegen Sie! Entwickeln Sie eine plausible Erklärung dafür, was der Makroökonom K EYNES , dem das folgende Zitat zugewiesen wird, damit gemeint haben könnte: „Der Tag ist nicht weit, an dem das ökonomische Problem in die hinteren Ränge verbannt werden wird, dort, wohin es gehört. Dann werden Herz und Kopf sich wieder mit unseren wirklichen Problemen befassen können - den Fragen nach dem Leben und den menschlichen Beziehungen, nach der Schöpfung, nach unserem Verhalten und nach der Religion.“ (T HE A RTS C OUNCIL OF G REAT B RITAIN , 1946, S. 1)  Hinweis Im Jahr 1930 „warnt“ Keynes, dass dieser Zustand allerfrühestens binnen 100 Jahren erreicht wird. (K EYNES , 1930, S.7) <?page no="290"?> Teil III: Einfaches makroökonomisches Totalmodell 41 Einleitung Studierende der Wirtschaftswissenschaften wissen, dass die Theorie der Volkswirtschaftslehre bevorzugt mit mathematischen, sog. formalen Modellen arbeitet. In Teil II dieses Lehrbuchs, der sich überwiegend mit dem makroökonomischen Gleichgewicht aus der wirtschaftspolitischen Sicht bzw. der Theorie der Wirtschaftspolitik befasst, wurde weitgehend auf die formale Theorie verzichtet. Ein Lehrbuch zur Makroökonomie wäre indes nicht vollständig, wenn es nicht auch einen Einblick in das formaltheoretische Instrumentarium gäbe. Daher wird im folgenden Teil III des Buchs ein gesamtwirtschaftliches Totalmodell „gebastelt“. Totalmodell bedeutet, dass alle Märkte und nicht nur ein Markt betrachtet werden. Eine partialanalytische Herangehensweise, wie sie etwa in der mikroökonomischen Theorie üblich ist, wird nämlich der Interdependenz gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge nicht gerecht. Formaltheoretische Modelle können in Form von Gleichungssystemen oder mithilfe grafischer Darstellungen der Modellgleichungen (Kurven) abgebildet werden. In diesem Lehrbuch findet die Analyse überwiegend in grafischer Form statt. Letztlich wichtiger als die Wahl der formalen Darstellung ist es aber, den Kurvenverlauf bzw. die Gleichungen ökonomisch, also inhaltlich, erklären zu können. Gleiches gilt für die Ursachen und Wirkungen von Änderungen der Kurven bzw. Gleichungen. Das Totalmodell ist möglichst einfach gehalten, da es hier um das grundsätzliche Verständnis von Modellen geht. Außerdem ist selbst ein einfaches gesamtwirtschaftliches Modell in der Lage, Antworten auf die Frage zu geben, was unter gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht verstanden werden kann. Schließlich lässt bereits das einfache Modell verschiedene Schlüsse über die Ursachen konjunktureller Schwankungen und die Wirkungen der Fiskal- und Geldpolitik auf die Volkswirtschaft zu - sowohl in der Theorie als auch für die Praxis. In der formalen Theorie herrscht gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht dann, wenn alle gesamtwirtschaftlichen Märkte im Gleichgewicht sind. Zu den im Folgenden gemachten Vereinfachungen zählt, dass nur ein Produktionsfaktor (Arbeit) und eine geschlossene Volkswirtschaft (keine außenwirtschaftlichen Beziehungen) betrachtet werden. Außerdem finden keine wachstumstheoretischen Analysen statt. Anders ausgedrückt: Im Mittelpunkt der modelltheoretischen Analyse stehen die Ziele Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität. <?page no="291"?> 292 Einfaches makroökonomisches Totalmodell 42 Über die Modellbildung in der Ökonomie Abstraktion und Isolation 42.1 Ein Modell ist ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit, das einer strukturierten Analyse zugänglich ist. Modelle sind hilfreich, weil die ökomische und gesellschaftliche Realität zu komplex ist, um sie umfassend darstellen zu können. Um Zusammenhänge strukturiert analysieren zu können, werden zwei Schritte von der Realität hin zum Modell vollzogen:  Abstraktion und  Isolation. Abstraktion 42.1.1 Unter Abstraktion ist die Auswahl der betrachteten Bestimmungs- und Einflussgrößen (Variablen) zu verstehen, d.h. es wird von allen anderen Einflussgrößen abstrahiert. Ein Beispiel ist die Güternachfrage aller privaten Haushalte in einer Volkswirtschaft (Konsumgüternachfrage). Sie wird sicherlich von einer schier unendlichen Zahl von Variablen beeinflusst (darunter die Durchschnittswerte von Sparzins, verfügbarem Einkommen, Einkommenserwartungen, Inflationserwartungen und Arbeit-Freizeit- Verhältnis sowie gesellschaftliche Wertestruktur, Zukunftsangst oder -optimismus, demografische Faktoren, soziales Sicherungssystem etc.). In ein Modell wird indes nur ein Teil der Einflussfaktoren integriert, und zwar meistens die, die als besonders wichtig erachtet werden. Andere Variablen werden konstant gesetzt (sog. exogene Variablen) oder weggelassen. Isolation 42.1.2 Unter Isolation ist die Beschränkung auf einen Ausschnitt der realiter anzutreffenden Wirkungszusammenhänge zu verstehen. Das bedeutet, es werden etliche indirekt wirkende Einflussgrößen ignoriert und ein Teil der komplexen interdependenten Wirkungsketten zwischen den betrachteten Größen ausgeblendet, so dass die Realität auf in sich abgegrenzte und überschaubare Teilzusammenhänge verkleinert wird. Mechanisierung und Aggregation 42.2 Mechanisierung und Aggregation sind weitere Merkmale der ökonomischen Modellbildung, sei es zur Modellierung eines Marktes für nur ein Gut (Mikroökonomie) oder für die gesamte Volkswirtschaft (Makroökonomie). Es wird ein mechanistisches Verhalten des einzelnen Wirtschaftssubjekts unterstellt, in der Regel ist es das Verhalten des rational handelnden homo oeconomicus. Der homo oeconomicus ist dadurch charakterisiert, dass er ein oder mehr Ziele verfolgt und stets so plant und sich verhält, dass er seinen Zielerreichungsgrad maximiert. Dennoch kann es aufgrund unvollständiger Information oder Unsicherheit trotz rationalen Handelns zu unvorteilhaften Ergebnissen kommen. Die Annahme des rationalen und rational handelnden homo oeconomicus <?page no="292"?> Über die Modellbildung in der Ökonomie 293 impliziert Verhaltensänderungen, sobald seine Pläne nicht aufgehen und deshalb die Zie le rreic hu ng u nte r de n gegeb enen B edi ng un gen n ich t m ax ima l is t. Zielmodellierung. In der traditionellen Mikroökonomie werden meist Nutzenmaximierung auf Seiten der privaten Haushalte und Gewinnmaximierung auf Seiten der privaten Unternehmen unterstellt. Schließlich werden die mechanistischen Verhaltensweisen aller einzelwirtschaftlichen homines oeconomici addiert (aggregiert), um z.B. in der Mikroökonomie die Eiscremenachfrage und das Eiscremeangebot oder z.B. in der Makroökonomie die Geldnachfrage und das Geldangebot darzustellen, damit man zu einem vereinfachten Abbild des Eiscrememarkts bzw. Geldmarktes gelangen kann. Mechanisierung und Aggregation bedeuten nicht, dass ökonomische Modellbauer überzeugt sind, dass alle Menschen immer rational und regelorientiert agieren, sondern die Modellierer sehen darin eine zulässige Vereinfachung, um Märkte überhaupt einer strukturierten Analyse zugänglich zu machen. Der homo oeconomicus ist schließlich seinerseits ein Modell, also ein Set von vereinfachten Annahmen mit folglich ebenso vereinfachten Ergebnissen. Selbst bei einfachen Modellen lassen sich jedoch durchaus verschiedene (scheinbar) irrationale Verhaltensweisen integrieren, etwa Empathie und Ethik, Suchtverhalten und Täuschung sowie Gier und Herdentrieb (K ANDUL und U HL , 2016, S. 146ff.; A KERLOF und S HILLER 2009 u. 2016). Normative Elemente der positiven Modelltheorie 42.3 Abstraktion, Isolation und Mechanisierung sind subjektiv und damit normbehaftet. Dazu zählt streng genommen bereits die Entscheidung eines Wirtschaftswissenschaftlers, ein Modell zu einem bestimmten Thema zu „basteln“. Hinzu kommt die Selektion der betrachteten Einflussvariablen und Wirkungsketten. Obwohl sich die Wirtschaftstheorie zu den positiven Wissenschaften im Sinne von deskriptiv und erklärend zählt, hat sie somit stets auch normative, bewertende Grundlagen. Nichtsdestotrotz ist die Wirtschaftstheorie viel mehr positive Theorie als die Theorie der Wirtschaftspolitik, die Gegenstand von Teil II dieses Lehrbuchs war. Dort ging es um die Bestimmung von Zielen, also eindeutig um normative Theorie. Selbstverständlich sollen die Variablen und Wirkungszusammenhänge, die vom Modellbauer als die Bedeutsamsten identifiziert werden, dies dann auch tatsächlich sein. Das heißt, das Modell sollte empirisch getestet und mit anderen Modellen gegengetestet werden. Das Problem hierbei bilden allerdings die zum einen sehr komplexe gesamtwirtschaftliche und -gesellschaftliche Realität sowie die Singulariät der jeweiligen empirischen Situation. Die Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft, deren Modelle sich nicht mehrfach unter gleichen Bedingungen testen lassen. Ökonomische Modelle gelten so lange als anwendbar, soweit sie nicht empirisch falsifiziert sind. Jedoch ist die empirische Falsifizierung eines plausiblen makroökonomischen Modells leichter gesagt als getan. <?page no="293"?> 294 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Marktgleichgewichtsmodelle 42.4 Das hier vorgestellte Totalmodell gehört der Familie der Marktgleichgewichtsmodelle an, welche die vorherrschende Modellfamilie in der makroökonomischen Lehre darstellt. Kern ist die Annahme, dass grundsätzlich immer wieder ins gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zurückgekehrt wird, dass aber mehr oder weniger zufällige Störungen (sog. „Schocks“) zu vorübergehenden Ungleichgewichten führen. Dies ist z.B. typisch für Modelle der „alten“ und der neuen neoklassischen Synthese sowie der neuen neoklassischen Theorie der realen Konjunkturzyklen (RBC, real business cycles)(→ Wissensbox 32). Modelle des Postkeynesianismus und Neokeynesianismus sind hingegen Ungleichgewichtsmodelle, in denen es passieren kann, dass keine Anpassungsprozesse hin zum allgemeinen, also gesamtwirtschaftlichen, Gleichgewicht stattfinden. Vielmehr können sich Ungleichgewichte auf dem einen und dem anderen gesamtwirtschaftlichen Markt, insb. Arbeits- und Gütermarkt, verfestigen oder sogar gegenseitig verschärfen. Ursächlich sind Mengenrationierungen bzw. erhebliche Anpassungshemmnisse. Urheber sind u.a. R OBERT C LOWER (1926-2011), A XEL L EIJONHUFVUD (*1933) und E DMOND M ALINVAUD (1923-2015). Während die stabilisierungspolitische Aufgabe des Staates in Gleichgewichtsmodellen allenfalls aus der Beschleunigung oder Erleichterung der Anpassungsprozesse zum Gleichgewicht besteht, führen Ungleichgewichtsmodelle zu der Empfehlung, die Märkte zu flankieren und zu steuern, damit sie sich nicht zu weit vom gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht entfernen bzw. den Weg zum Gleichgewicht finden. Schließlich entwickelt sich mit der evolutorischen Makroökonomik (W AGNER , 2016) eine Schule, die dem Konzept des Gleichgewichts als anzustrebendem Idealzustand eher wenig Beachtung schenkt. Wirtschaftliches Handeln wird hier nicht durch rationales Verhalten, sondern durch ein permanentes Versuchen und Irren (Prozess des trial and error) erklärt. Dies gilt ganz besonders für den Unternehmenssektor, dessen Verhalten ebenso wenig wie das Entstehen und die Wirkungen von Innovationen prognostizierbar ist. Zu den Annahmen zählt, dass Wirtschaftssubjekte unter extrem großer Unsicherheit handeln und dass sie schon allein deshalb erst gar nicht versuchen, streng regelbasiert zu handeln. Scheinbar „irrationales“ Verhalten kann folglich vernünftig sein. Bewegungen zum Gleichgewicht sind ebenso wenig vorhersehbar wie Bewegungen weg vom Gleichgewicht. Die evolutorische Ökonomik nimmt u.a. Bezug auf die naturwissenschaftliche Chaostheorie, deren nichtlineare Beziehungen sie aufgreift und mit denen sie stabilisierungspolitische Implikationen nichtlinearen Verhaltens zu ergründen versucht. Neuere unabhängige Forschungsrichtungen sind etwa die Postwachstumsökonomie und die Glücksökonomie (→ Kap. 40). Hier gilt es noch abzuwarten, welche konsistenten Modelle aus ihnen erwachsen werden. <?page no="294"?> Über die Modellbildung in der Ökonomie 295 Abb. 42.1: Makroökonomische Schulen des 20. Jahrhunderts Makroökonomische Schulen des 20. Jahrhunderts Vorläufer: Knut Wicksell (1851-1921), Irving Fisher (1867-1947) John Maynard Keynes (1883-1946) Österreichische Schule Joseph Alois Schumpeter (1883-1950) August Friedrich von Hayek (1899-1992) Klassik und Neoklassik (vor 1900) Milton Friedman (1912-2006) Monetarismus Keynesianismus Neoklassische Synthese Postkeynesianismus Neukeynesianismus Neue neoklassische Synthese (Neokeynesianische Synthese) Evolutorische Makroökonomie Neue klassische Makroökonomie (NKM) (Neue Neoklassik) Theorie der Real Business Cycles (RBC) <?page no="295"?> 296 Einfaches makroökonomisches Totalmodell  Wissensbox 36: Was ist der „Wirtschaftsnobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften? Der Alfred-Nobel-Gedächtnis-Preis für Wirtschaftswissenschaften wurde 1968 von der Schwedischen Zentralbank („Schwedische Reichsbank“) ins Leben gerufen. Er wird jährlich an Forscher für bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften vergeben. Der Preis ist seit 2012 mit 8 Mio. Schwedischen Kronen (2016: 10 SEK  1 EUR) dotiert. Er wurde bisher nur einmal (1994) an einen deutschen Staatsbürger vergeben, den Mathematiker R EINHARD S ELTEN (1930-2016). Bis 2016 wurden 79 Personen geehrt, darunter 2009 als einzige Frau die US-amerikanische Politologin E LINOR O STROM (1933-2012). Die verkürzt als Wirtschaftsnobelpreis bezeichnete Ehrung geht anders als die übrigen Nobelpreise (Chemie, Medizin/ Physiologie, Physik sowie Literatur und Friedensbemühungen) nicht auf den schwedischen Erfinder des Dynamits zurück. Der Chemiker und Unternehmer A LFRED N OBEL (1833-1896) hatte sich zeitlebens zunehmend für den Frieden engagiert, was u.a. auf den „erfolgreichen“ militärischen Einsatz einer seiner entwickelten Stoffe zurückgeführt wird. In seinem Testament (1895) verfügte er, dass fast sein ganzes Vermögen für einen Fonds verwendet wird, aus dessen Zinsen denjenigen Preise zuteilwerden, „die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben.“   Was meinen Sie? Inwieweit „verdienen“ die Wirtschaftswissenschaften Ihres Erachtens einen Preis, wenn Sie das Kriterium dieses Zitats von N OBEL zum Maßstab nehmen? 43 Einführung in „unser“ Modell Das hier hergeleitete Totalmodell wird im Folgenden auch als „unser Modell“ bezeichnet. Damit soll signalisiert werden, dass es unterschiedliche Standardgleichgewichtsmodelle gibt, die Eingang in die Lehrbuchliteratur gefunden haben und zu gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Endergebnissen führen. Die Unterschiede liegen primär in der Modellierung einzelner Teilmärkte und der Art, wie die Ergebnisse hergeleitet werden. Während z.B. manche makroökonomischen Lehrbücher den Erwartungen eine ganz zentrale Rolle zur Erklärung von Anpassungsprozessen zuweisen, spielen Erwartungen in unserem Modell eine Nebenrolle. Ähnliches gilt für Verhandlungsprozesse und machttheoretische Ansätze, die in unserem Modell außen vor gelassen werden. Andere Unterschiede betreffen z.B. die Motive der Geldnachfrage und das geldpolitische Instrumentarium. <?page no="296"?> Einführung in „unser“ Modell 297 Betrachteter Zeithorizont und zentrale Annahmen 43.1 In der Makroökonomie betrachtet man Volkswirtschaften hinsichtlich dreier Zeithorizonte: der kurzen, mittleren und langen Frist. Diese analytische Aufteilung erlaubt es, die Volkswirtschaft in verschiedenen Phasen zu betrachten, so dass der Einfluss externer Faktoren, aber auch unterschiedliche Charakteristika, getrennt voneinander untersucht werden können. Denn bestimmte Ereignisse haben kurzfristig andere Auswirkungen als dies mittel- oder langfristig der Fall ist. Die lange Frist umfasst dabei die wachstumstheoretischen Überlegungen, d.h. es werden solche Faktoren untersucht, die langfristig für Wachstum, also eine Steigerung der Produktionsmöglichkeiten, sprich des Produktionspotenzials (→ Kap. 15.3), sorgen können. Der langfristige Ansatz wird in diesem Lehrbuch nicht in das Totalmodell einbezogen, d.h. es werden die mittlere und kurze Frist betrachtet. Für die lange Frist sei auf die Überlegungen zu den Wachstumstheorien in → Kap. 16.1f. und → Kap. 18 hingewiesen. Annahme der konstanten Faktorausstattung 43.1.1 Eine der zentralen Annahmen der kurzen und mittleren Frist besteht darin, dass sich die Produktionsfaktoren im Betrachtungszeitraum weder quantitativ noch qualitativ ändern. Das bedeutet eine konstante Ausstattung der Volkswirtschaft mit Produktionsfaktoren. Die Annahme eines konstanten Kapitalstocks ist zwar insoweit unbefriedigend, als im Modell Investitionsgüter nachgefragt und produziert werden. Da getätigte Realinvestitionen den Kapitalstock eigentlich erhöhen, soweit sie über Ersatzinvestitionen hinausgehen, mag es plausibler erscheinen, wenn zumindest auf mittlere Sicht von einem variablen Kapitalstock ausgegangen würde. Der Leser wird jedoch gebeten, über diese Unschärfe bei der Fristeneinteilung hinwegzusehen. Sie vereinfacht unser Modell deutlich, ohne dass die wirtschaftspolitische Relevanz der Ergebnisse leidet. Eine weitere Annahme ist, dass stets kostenminimal produziert wird. Somit kann vom Beschäftigungsgrad unmittelbar auf die Höhe der Produktion geschlossen werden. Annahme nur eines Produktionsfaktors (Arbeit) 43.1.2 Zur weiteren Vereinfachung wird in unserem Totalmodell lediglich die Beschäftigung des Produktionsfaktors Arbeit betrachtet. Alle anderen Produktionsfaktoren bzw. deren Auslastung sind somit nicht explizit in die Analyse eingebunden. Die Höhe der gesamtwirtschaftlichen Produktion spiegelt folglich nur die Höhe der Beschäftigung der verfügbaren Arbeitskräfte wider und abstrahiert von den übrigen Produktionsfaktoren (→ Kap. 2 und 12). Annahme der geschlossenen Volkswirtschaft 43.1.3 Unser Modell geht vereinfachend von einer geschlossenen Volkswirtschaft aus, d.h. es existiert kein Ausland bzw. die betrachtete Volkswirtschaft unterhält keine außenwirtschaftlichen Beziehungen. Diese Prämisse (Annahme) vereinfacht und verkürzt die Modellanalyse erheblich, weswegen hier auf eine formaltheoretische Abhandlung offener Volkswirtschaften verzichtet wird. Ausführungen zu den Implikationen außenwirt- <?page no="297"?> 298 Einfaches makroökonomisches Totalmodell schaftlicher Beziehungen für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht sind in Teil II (→ Kap. 25ff. u. → Kap. 34.2) zu finden. Mittlere Frist 43.1.4 In der mittleren Frist wird unterstellt, dass das Produktionspotenzial konstant ist. In der Theorie der mittleren Frist ergibt sich ein bestimmtes Produktionsniveau, zu welchem die Volkswirtschaft mittelfristig stets zurückkehrt. Darunter versteht man den Output, der sich aufgrund des mittelfristigen Gleichgewichts auf den Faktormärkten (hier: auf dem Arbeitsmarkt) ergibt. Wie in → Kap. 9 beschrieben, setzt sich die Angebotsseite des Arbeitsmarkts hauptsächlich aus den Erwerbstätigen und den Arbeitslosen, also den Erwerbspersonen, zusammen. Wie gezeigt, gibt es immer ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit, das nicht zu vermeiden und somit stets vorhanden ist. Genauso ergeben sich eine als „normal“ erachtete Arbeitslosigkeit und entsprechend eine „normale“ Höhe der Erwerbstätigkeit (Normalauslastung). Wie diese Beschäftigung zustande kommt, wird in Kapitel 45 zur mittleren Frist ausführlich dargestellt. Ausgehend von diesem normalen Erwerbstätigenniveau schließt man auf das Produktionspotenzial der Volkswirtschaft. Abweichungen von diesem Outputniveau werden als Produktionslücke oder Output-Lücke (output gap) bezeichnet. Die Lücke kann negativ sein oder positiv. Eine negative Output-Lücke impliziert eine Unterauslastung der Produktionsfaktoren und ist kennzeichnend für eine Rezession/ Depression, eine positive Lücke signalisiert eine Überauslastung der Arbeitskräfte bzw. Kapazitäten und ist Charakteristikum von Boom/ Hochkonjunktur. Eine Lücke von Null, die in unserem mittelfristigen Modell vorliegt, ist in der Praxis höchst selten gegeben. Vielmehr befindet sich die Volkswirtschaft in einem permanenten Anpassungsprozess, der in unserem Totalmodell als der Übergang von kurzer zu mittlerer Frist (Interimsfrist) bezeichnet wird und (fast) immer in Richtung gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht tendiert. Kurze Frist 43.1.5 Die kurze Frist kennzeichnet die Untersuchung kurzfristiger Marktgegebenheiten und vor allem die kurzfristigen Reaktionen der Volkswirtschaft auf positive oder negative Störungen (Schocks). Wird die Höhe des Produktionspotenzials im Modell der mittleren Frist allein von den Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt bestimmt, so wird die Produktion in der kurzen Frist von der Güternachfrage bestimmt. Jedwede Nachfrageänderung mündet in einer Anpassung der Produktion. Es gilt quasi in Umkehrung zum S AY schen Theorem (→ Wissensbox 19), dass „sich jede Nachfrage ihr Angebot schafft“. Annahme des konstanten Preisniveaus Zur Vereinfachung wird im kurzfristigen Modell von einem fixen Preisniveau ausgegangen. Manch ein Leser mag sich fragen, wie kurz denn eine Frist sein muss, damit das Preisniveau gleich bleibt oder warum hier eine Inflationsrate von Null unterstellt wird, obwohl dies gar nicht Ziel der Geldpolitik ist (→ Teil II, Kap. 20.7). Hinzu kommt die „Merkwürdigkeit“, dass die kurze Frist zwar lang genug ist, dass sich die Produktion jeder Nachfrageänderung anpassen kann, aber zu kurz, dass sich Preise ändern können. Eine Erklärung ist, dass streng genommen die Inflationsrate als kurzfristig stabil unterstellt wird und dass die Inflationsrate mit Verzögerung auf Produktions- und Beschäftigungsänderungen reagiert. Die Betrachtung des Preisniveaus anstelle <?page no="298"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 299 der Inflationsrate dient der Vereinfachung. Die unterstellte verzögerte Beschäftigungs- Inflations-Wirkung wurde in Teil II bereits erörtert (→ Kap. 31.1). Konjunktur- und beschäftigungstheoretische Modelle verzichten häufig auf eine Dynamisierung der Preise und Mengen, da es die Darstellung des Modells erschwert ohne einen nennenswerten Mehrwert zu generieren. Sprich: Wenn die Erkenntnisse aus dem Modell auf die Praxis übertragen werden, sollte das Preisniveau aus dem Modell mit der Änderungsrate des Preisniveaus (Inflationsrate) in der Realität gleichgesetzt werden. Beispiel: Steigt c.p. das Preisniveau im Modell in Folge einer Geldmengenexpansion, so sollte man dies in die Praxis „übersetzen“ mit: Wenn das Wachstum der Geldmenge steigt, steigt c.p. die Inflationsrate. 44 Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell Wie den Ausführungen zum Wirtschaftskreislauf und zu den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (→ Kap. 3) entnommen werden kann, setzt sich die Nachfrage einer Volkswirtschaft nach Waren und Dienstleistungen aus der Nachfrage der privaten Haushalte, der Unternehmen, des Staates und des Auslands zusammen. Diesen vier Marktakteuren liegen unterschiedliche Motivationen und Voraussetzungen zugrunde, die die jeweilige Nachfrage beeinflussen. Somit ergibt sich auf dem Gütermarkt eine Fülle an Einflussfaktoren. Jedoch sind die Akteure auch über den Geld- und Finanzmarkt verknüpft, indem sie dort Geld nachfragen bzw. Wertpapiere kaufen oder verkaufen. Der Geldmarkt involviert weitere Akteure, z.B. Geschäftsbanken und die Zentralbank. Ein wesentliches Merkmal der kurzen Frist stellt die Annahme fixer Preise dar. Die Ausführungen sind somit losgelöst von möglichen Preisänderungen und werden dadurch weder beeinflusst, noch üben Nachfrage- oder Produktionsänderungen einen kurzfristigen Einfluss auf das Preisniveau aus. Marktgleichgewicht bedeutet, dass geplante Nachfrage und Angebot übereinstimmen. Das Entscheidende ist, dass die Pläne der Wirtschaftssubjekte in Erfüllung gehen und es somit c.p. keinen Anlass zu Verhaltensänderungen gibt. Der Markt ist in Balance, d.h. in einer Art Ruhelage. Soweit keine Störungen von außen auf den Markt (bzw. auf das Modell) einwirken, hält dieser Zustand an (steady state). Gütermarkt 44.1 Die Vielzahl an Interaktionsmöglichkeiten erschwert auf den ersten Blick eine nachvollziehbare Betrachtung aller Märkte und Akteure. Die Wirkungsrichtung einzelner Indikatoren lässt sich jedoch relativ einfach herleiten, ohne den gesamtwirtschaftlichen Gütermarkt zu sehr spezifizieren zu müssen. Im Folgenden wird angenommen, die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage D (demand) der privaten Wirtschaftssubjekte D priv sei abhängig von der Produktion bzw. dem Realeinkommen Y (yield), einem Nominalzins i (interest rate) sowie von den Erwartungen E und anderen Einflussgrößen. Die Erwartungen E und die anderen Variablen (z.B. Steuern und Transfers) werden zu einer Sammelvariable V zusammengefasst. <?page no="299"?> 300 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Zu der privaten Güternachfrage kommt der Staatskonsum hinzu, der im Folgenden als staatliche Güternachfrage bezeichnet wird. Es sei indes daran erinnert, dass unter Staatskonsum die unentgeltliche Bereitstellung staatlich produzierter Güter zu verstehen ist, sodass genau genommen auch (geplante) Ausgaben für die Beschäftigung von Arbeitskräften im öffentlichen Dienst dazu zählen. Daher wird andernorts von Staatsausgaben statt von staatlicher Güternachfrage gesprochen. Die staatliche Güternachfrage G (government) wird als exogene Größe erachtet. Die Nachfragefunktion lautet dann: D D i, Y, V G   Wissensbox 37: Realeinkommen und Produktion stimmen in unserem Modell stets überein Zu den Modellannahmen zählt, dass es  keine Abschreibungen,  keine indirekten Steuern und Produktsubventionen (z.B. MwSt und spezielle Verbrauchsteuern)  kein Ausland und somit keine internationalen Einkommensströme gibt. Daraus folgt, dass das Volkseinkommen gleich dem BIP ist (→ Kap. 3.2.2f). Einkommen und Produktion sind somit identisch, weswegen für beide das Kürzel Y verwendet wird. Einfluss der Variablen auf die Güternachfrage:  Nominalzins i: Der Nominalzins fungiert auf dem Gütermarkt als exogene Variable, da er sich nicht auf dem Gütermarkt, sondern auf dem Geld- und Finanzmarkt bildet. Auf „unserem“ Gütermarkt reagieren einzig die privaten Nachfrager auf Zinsbewegungen. (Die Staatsnachfrage ist autonom, d.h. exogen gegeben.) Ein sinkender Nominalzins führt bei konstantem Preisniveau zu einem Anstieg der Güternachfrage (→ Kap. 22.3.3). Sinkt der Zinssatz, dann werden Kredite billiger und kreditfinanzierte Investitionen gewinnen an Attraktivität. Außerdem werden Finanzinvestitionen gegenüber Realinvestitionen relativ unattraktiv, d.h. die Opportunitätskosten von Realinvestitionen sinken. Somit steigt die Investitionsgüternachfrage mit sinkendem Zins. Ein niedrigerer Zinssatz bedeutet bei kontantem Preisniveau zudem, dass sich Sparen c.p. weniger lohnt, so dass ggfs. auch die Konsumgüternachfrage steigt. (Für ein steigendes Zinsniveau gilt jeweils der umgekehrte Fall): i ↓ ⇨ D ↑  Realeinkommen Y: Je höher das Einkommen der privaten Haushalten ist, umso höher ist ihre Nachfrage, sprich die Konsumgüternachfrage: Y ↑ ⇨ D ↑  Staatliche Güternachfrage G: Verändert sich G, ändert sich die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage zunächst um den gleichen Betrag (c.p.): G ↑ ⇨ D ↑ <?page no="300"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 301  Sammelvariable V: Die Sammelvariable V umfasst alle übrigen Größen, welche die Nachfrage beeinflussen. Das sind zum einen Erwartungen (E), die Einfluss auf die Güternachfrage haben. Auf was sich die Erwartung genau stützen - etwa auf Preise, Zinsen, Krisen, Aufschwünge, Staatsschulden, Zölle usw. - muss nicht genauer spezifiziert werden, da deren Auswirkung auf die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage der entscheidende Aspekt ist. Wird erwartet, dass sich die wirtschaftliche Situation verbessert (E↑), geht man von einem Anstieg der Nachfrage aus; rechnet man mit einer Verschlechterung der Wirtschaftslage (E↓), wird dies nachfragemindernd sein. Verkürzt gilt demnach: E ↑ ⇨ V ↑ ⇨ D ↑. Ebenso wird mit anderen Teilvariablen von V umgegangen. Z.B. führt eine Erhöhung der direkten Steuern zu einem Rückgang der Sammelvariable: Steuern↑ ⇨ V ↓ ⇨ D ↓  Aufgabe 26: Überlegen Sie! Überlegen Sie sich bzgl. der Erwartungen (E), welchen Einfluss unterschiedliche Entwicklungen der genannten Variablen (Preise, Zinsen, Staatsschulden, Zölle) auf E und die Güternachfrage haben können. Finden Sie dann selbstständig weitere geeignete Beispiele für Teilvariablen der Sammelvariable V und wie deren Änderungen die Güternachfrage D beeinflussen. Abb. 44.1: Nachfragefunktion Die grafische Darstellung der Nachfragefunktion erfolgt in einem Y-D-Diagramm. Wie bereits festgestellt wurde, erhöht sich die Nachfrage mit steigendem Einkommen, weswegen D als eine steigende Funktion gezeichnet werden kann. Der dargestellte lineare Zusammenhang wird aus vereinfachenden Gründen angenommen, auch wenn ein nicht linearer Verlauf (und somit die Zeichnung einer Kurve) eher der Realität entsprechen würde. Die Steigung (d) ist mit anderen Worten konstant. Es sei angenommen, dass sie zwischen 0 und 1 liegt. Das heißt, dass ein Einkommensanstieg D Y Nachfrage D 45° (D=Y) Y* D* <?page no="301"?> 302 Einfaches makroökonomisches Totalmodell einen Nachfrageanstieg nach sich zieht, der geringer als die vorangegangene Einkommenserhöhung ist. Die Verhaltensgleichung lautet entsprechend: D = D a + d · Y D a : einkommensunabhängige (autonome) Güternachfrage einschließlich Staat d: konstante Nachfrageneigung, 0 < d < 1 Die abgebildete 45°-Linie (Steigung = 1) repräsentiert die Gleichgewichte des Gütermarktes, da dort die Nachfrage D immer genau der Produktion Y entspräche. Der Schnittpunkt der Nachfragekurve mit der 45°-Linie stellt somit das gesamtwirtschaftliche Gütermarktgleichgewicht dar (Nachfrage = Produktion). Für gegebene Werte von i, V und G ergibt sich ein einziges Gleichgewicht. Abb. 44.2: Nachfrageänderungen Einkommenserhöhungen oder -rückgänge führen zu einer Bewegung auf der Nachfragekurve nach rechts bzw. nach links. Positive Einflüsse der anderen Einflussvariablen (z.B. i↓, E↑, G↑) erhöhen c.p. die Nachfrage und verschieben die Nachfragekurve parallel nach oben. Negative Einflüsse (z.B. i↑, E↓, G↓) senken c.p. die Nachfrage und verschieben die Nachfragekurve parallel nach unten. Multiplikatoreffekt einer Nachfrageerhöhung 44.2 Definition und argumentative Herleitung 44.2.1 Unter einem Multiplikatoreffekt versteht man einen sich selbst verstärkenden Effekt. Angenommen, der gesamtwirtschaftliche Gütermarkt befindet sich im Gleichgewicht und nun würde der Staat seine Güternachfrage um ΔG erhöhen. Es entsteht ein Nachfrageüberschuss. Darauf reagieren die Unternehmen annahmegemäß mit einer Ausdehnung der kurzfristig völlig flexiblen Produktion in genau der Höhe des Nachfrageüberschusses, also der originären Staatsnachfrageerhöhung. Da sich in unserem Modell Produktion und Einkommen entsprechen (→ Wissensbox 37), kommt dieser Produk- Y D D 45° (D=Y) D a Y 0 D 1 Y 1 Y D D 45° (D=Y) D a Y 0 D 1 Y 1 D` D` <?page no="302"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 303 tionsanstieg einem Einkommensanstieg gleich. Dieser Einkommensanstieg sorgt in einem zweiten Schritt dafür, dass sich die einkommensabhängige Konsumgüternachfrage der privaten Haushalte erhöht. Der Konsumanstieg ist jedoch kleiner als der vorherige Einkommensanstieg, weil die Haushalte einen Teil des zusätzlichen Einkommens fürs Sparen verwenden. Da nun die Konsumnachfrage gestiegen ist, passt sich die Produktion abermals an den Nachfrageüberhang an, der allerdings kleiner als zuvor ist. Dieser Einkommensanstieg führt wieder zu einer Produktionsanpassung usw. usf. bis der Gütermarkt in immer kleiner werdenden Schritten wieder zu einem Gleichgewicht findet. Die Nachfragesteigerung durch den Staat hat aufgrund dieser Wirkungsschleife eine viel höhere Auswirkung auf die Volkwirtschaft als die ursprüngliche Erhöhung der staatlichen Nachfrageerhöhung. Diesen sich selbst verstärkenden Effekt nennt man den Multiplikatoreffekt einer einkommensunabhängigen Erhöhung der Nachfrage. Grafische Herleitung 44.2.2 Auch grafisch lässt sich dieser Effekt erkennen. Betrachtet wird erneut das Beispiel einer Staatsnachfrageerhöhung. Die parallele Verschiebung der D-Kurve erfolgt c.p. in der Höhe der Staatsnachfrageerhöhung. Der entsprechende Wert kann an der D-Achse abgelesen werden (D 1 minus D a ). Das Gleichgewicht auf dem Gütermarkt, und somit der Punkt auf der 45°-Linie, hat sich jedoch um einen höheren Wert als die reine Staatsnachfrageerhöhung verschoben (D 3 minus D 2 ). Der Grund dafür liegt in dem beschriebenen Umstand, dass die durch die Staatskonsumerhöhung gestiegene Produktion einem Einkommensanstieg gleichkommt und somit eine weiter steigende Nachfrage und Produktion mit sich bringt: den Multiplikatoreffekt. Abb. 44.3: Multiplikatoreffekt Y D D 45° (D=Y) D a Y 0 D 1 Y 1 D` D 2 D 3 G↑ D↑ Y↑ D↑ Y↑ D↑ Y↑ <?page no="303"?> 304 Einfaches makroökonomisches Totalmodell  Wissensbox 38: Zahlenbeispiel für den Multiplikatoreffekt Der Gütermarkt ist im Gleichgewicht. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrageneigung (d) beträgt 80 %, d.h. ein Anstieg des Einkommens um x führt zu einem Anstieg der Nachfrage um 0,8 ⋅ x. Angenommen, es steigt die staatliche Güternachfrage um ΔG = 100, d.h. es herrscht ein Güternachfrageüberhang von 100. Daraufhin ändern sich die Produktion (=Einkommen) und dann jeweils die einkommensabhängige Konsumnachfrage (C) schrittweise wie folgt: Δ 1 Y = 100 ⇨ Δ 1 C = 80 ⇨ Δ 2 Y = 80 ⇨ Δ 2 C = 64 ⇨ Δ 3 Y = 64 ⇨ Δ 3 C = 51,2 ⇨ Δ 4 Y = 51,2 ⇨ Δ 4 C = 40,96 ⇨ Δ 5 Y = 40,96 ⇨ Δ 5 C = 32,8 ⇨ Δ 6 Y = 32,8 ⇨ Δ 6 C = 26,2 ⇨ Δ 7 Y = 26,2 ⇨ Δ 7 C = 21 ⇨ Δ 8 Y = 21 ⇨ Δ 8 C = 16,8 ⇨ Δ 9 Y = 16,8 ⇨ Δ 10 C = 13,4 ⇨ Δ 10 Y = 13,4 ⇨ Δ 11 C = 10,7 ⇨ … Nach 10 Anpassungsperioden ist der Nachfrageüberhang auf 10,7 Gütereinheiten geschrumpft und das Einkommen/ die Produktion um insgesamt ca. 446 gestiegen. Nach 20 Perioden beträgt das Ungleichgewicht übrigens nur noch 1,4 Einheiten und das Einkommen ist um 494 gestiegen. Nach 25 Perioden ist das neue Gleichgewicht bei einer Produktion von fast 500 praktisch erreicht. Sprich: Von Gleichgewicht zu Gleichgewicht hat die Produktion um das 5-fache der ursprünglichen Nachfrageerhöhung ΔG zugelegt. Der Multiplikator beträgt 5, nämlich 1/ 0,2 oder allgemein 1/ (1 - d).  Aufgabe 27: Überlegen Sie! a) Erklären Sie ökonomisch (also nicht mathematisch), warum der Multiplikatoreffekt umso größer ist, je größer die Nachfrageneigung ist. a) Wie würde sich der Multiplikatoreffekt auf den Gütermarkt auswirken, wenn die gesamtwirtschaftliche Sparneigung (1 - d) bei Null läge? IS-Kurve 44.3 Herleitung 44.3.1 Die Gleichgewichte des Gütermarkts bei unterschiedlichem Zinssatz lassen sich mithilfe der sogenannten IS-Kurve darstellen. Sie ist der geometrische Ort aller Zins- Einkommens-Kombinationen, bei denen Gütermarktgleichgewicht herrscht. Die Abkürzung IS steht dabei für „Investition = Sparen“, was nichts anderes als eine Gleichgewichtsbedingung für den Gütermarkt darstellt. Aus der Gleichheit von geplanter Güternachfrage und geplantem Güterangebot lässt sich nämlich eine Übereinstimmung von geplanter Investitionsgüternachfrage und Sparen herleiten: Das geplante Sparen ist der Teil des Einkommens, der weder für den privaten, noch für den Staatskonsum vorgesehen ist. Das Einkommen (das BIP) kann wiederum in einer geschlos- <?page no="304"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 305 senen Volkswirtschaft für Konsum, Staatskonsum und Investitionen verwendet werden (→ Kap. 3.2.1). Aus beiden Zusammenhängen folgt: Nur wenn sich Investitions- und Sparpläne entsprechen, wird genau die Produktion auch nachgefragt.  Aufgabe 28: Überlegen Sie! a) Welche Art von Gütermarktungleichgewicht liegt vor, wenn das geplante Sparen größer als die Investitionsgüternachfrage ist? b) Angenommen, es kommt zu ungeplanten Lagerinvestitionen. Was bedeutet dies für das Verhältnis von Güterangebot und Güternachfrage? Was bedeutet es für das Verhältnis von geplantem Sparen und geplanter Investition? Bei der obigen Darstellung des Gütermarktgleichgewichts und des Multiplikatoreffekts wurde von einem festen Zinssatz ausgegangen. Im Folgenden wird das Gleichgewichtseinkommen bei einem variablen Zinssatz betrachtet. Wie es zu Zinsbewegungen kommt, wird allerdings erst an späterer Stelle im Kontext des Geldmarkts (→ Kap. 44.4) zu sehen sein. An dieser Stelle ist zunächst von Interesse, welchen Einfluss der Zinssatz auf den Gütermarkt und insbesondere auf die Investitionsgüternachfrage hat: Je kleiner der Zinssatz ist, desto geringer sind die Finanzierungskosten und umso höher wird die Investitionsgüternachfrage sein. Reagieren die Investitionen dabei besonders stark auf eine Zinsänderung, spricht man von einer hohen Zinselastizität der Investitionen; reagieren sie schwach, spricht man von einer geringen Zinselastizität. Die Konsumnachfrage steigt ebenfalls mit sinkendem Zinssatz. Eine Zinsänderung verändert die Güternachfrage und wird durch eine Verschiebung der Nachfragekurve dargestellt (z.B. i ↑ ⇨ D a ↓). Abb. 44.4: Herleitung der IS-Kurve Y D, Y D 0 45° (D=Y) Y 0 Y 1 D 1 i i 0 i 1 IS (weil i) A B A B <?page no="305"?> 306 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Der erste Quadrant (also der rechte) stellt abermals ein Y-D-Diagramm dar, inklusive der 45°-Linie als Repräsentant der Gütermarktgleichgewichte (D=Y), der Nachfragekurve D 0 und einer durch eine Zinssenkung veränderte Nachfragekurve D 1 . Im zweiten Quadranten (also im linken) ist ein i-Y-Diagramm zu sehen, das den veränderlichen Zins und die daraus entstehende Gleichgewichtsproduktion zeigt. Bei einem Zinssatz i 0 ergab sich die Nachfragegerade D 0 , die in Punkt A der Produktion Y 0 entspricht. Eine Zinssenkung hin zu i 1 hat zur Folge, dass die Investitionsnachfrage steigt, womit die gesamte Güternachfrage c.p. steigt und die Produktion via Multiplikatoreffekt um ein Mehrfaches der Investitionserhöhung zunimmt. Es ergibt sich ein neues Gleichgewicht Y 1 auf dem Gütermarkt (Punkt B).  Aufgabe 29: Erklären Sie! W ie wirkt sich eine Zinserhöhung auf die Grafik und das Gleichgewichtseinkommen (→ Abb. 44.4) aus? Die gleichgewichtigen Zins-Produktions-Kombinationen lassen sich nun in den zweiten Quadranten übertragen, indem jedem Zins - unter sonst gleichen Bedingungen - das entsprechende, neue gleichgewichtige Produktionsniveau zugewiesen wird. Es ergeben sich lauter Zins-Einkommens-Kombinationen, bei denen der Gütermarkt im Gleichgewicht ist (zur Erinnerung: Produktion Y und Einkommen Y werden synonym verwendet). Aus all diesen gleichgewichtigen Zins-Einkommens-Kombinationen ergibt sich die IS-Kurve: Sie spiegelt wider, dass das gleichgewichtige Einkommen nach einer Zinserhöhung sinkt und nach einer Zinssenkung steigt. Die IS-Kurve lässt sich auch im gewohnten Y-i-Diagramm darstellen (→ Abb. 44.5). Abb. 44.5: IS-Kurve i Y IS-Kurve <?page no="306"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 307 Verschiebungen 44.3.2 Die Herleitung der IS-Kurve erfolgte unter sonst gleichen Bedingungen, d.h. dass alle weiteren Faktoren, die die Nachfrage beeinflussen, unverändert bleiben. Nun wird hergeleitet, welche Auswirkungen diese Faktoren bei einem konstanten Zins haben. Ändert sich zu einem konstanten Zinssatz i z.B. die Sammelvariable V, so ist der Einfluss auf D und Y bereits bekannt: V ↑ ⇨ D ↑ ⇨ Y ↑ bzw. V ↓ ⇨ D ↓ ⇨ Y ↓. Nun kann man für jeden beliebigen - analytisch konstant gehaltenen - Zinssatz die Überlegung wiederholen: Unter den Annahmen, dass die Störung (z.B. V↑ oder G↓) die Güternachfrage verändert und der Gütermarkt bei jedem denkbaren Zinssatz nach der Störung in ein Gleichgewicht findet, ist die jeweils neue Gleichgewichtsproduktion höher oder niedriger als zuvor. Die IS-Kurve verschiebt sich nach rechts (D↑) oder nach links (D↓) und zwar um den Multiplikatoreffekt. Abb. 44.6: Verschiebung der IS-Kurve Bei dem hier unterstellten IS-Verlauf gilt für jeden beliebigen Zinssatz:  Ein positiver Nachfrageschock führt in der kurzen Frist zu einem steigenden Einkommen (Verschiebung der IS-Kurve nach rechts).  Ein negativer Nachfrageschock führt in der kurzen Frist zu einem sinkenden Einkommen (Verschiebung der IS-Kurve nach links). Geldmarkt 44.4 Geldangebot und Geldnachfrage 44.4.1 In unserem Modell stellt Bargeld das einzige Zahlungsmittel dar. Damit ist unter dem Geldmarkt der Markt für Bargeld zu verstehen, auf dem Geldnachfrager und Geldani Y IS 0 IS 1 IS 2 D D <?page no="307"?> 308 Einfaches makroökonomisches Totalmodell bieter interagieren. Geldnachfrager sind alle Wirtschaftssubjekte mit Ausnahme der Geschäftsbanken und der Zentralbank. Geldanbieter ist die Zentralbank, die als einzige Bargeld in Umlauf bringen darf. Das Geldangebot gilt in der kurzen Frist fix und ist wie alle anderen Variablen unabhängig vom Preisniveau P. Das bedeutet, dass die Zentralbank zu jedwedem Preisniveau P eine bestimmte Geldmenge M s (money supply) anbietet. Daraus ergibt sich das reale Geldangebot M s / P. Aber wie kann die Zentralbank die Geldmenge überhaupt beeinflussen? In unserem Modell gibt es dafür nur eine Möglichkeit:  Die Zentralbank wird auf dem Wertpapiermarkt aktiv (Offenmarktgeschäfte) und kauft/ verkauft Wertpapiere bzw. Anleihen. Der Kauf von Wertpapieren dient der Ausweitung des Geldangebots, da die Zentralbank die Offenmarktgeschäfte mit neu geschaffenem Bargeld bezahlt. Der Verkauf von Wertpapieren zieht hingegen Geld vom Markt. Unter einer expansiven Geldpolitik versteht man die Ausweitung des Geldangebots. Kontraktive Geldpolitik bezeichnet die Reduzierung des Geldangebots.   Wissensbox 39: Zur vereinfachenden Verwendung des Nominalzinses i Es wurde nun schon oft von Zinsen gesprochen: Zinsen für Kredite, Leitzinsen, Zinsen/ Renditen auf Wertpapiere/ Anleihen. In der Realität gibt es eine Vielzahl von Zinssätzen (Zinsstruktur), die sich stark in Bezug auf den zugrundeliegenden Titel, deren Laufzeit und Fälligkeit unterscheiden, unterschiedlich stark schwanken und von einer weiteren Fülle an Faktoren abhängen. Um diesen Umstand zu vereinfachen, repräsentiert der hier verwendete Nominalzinssatz i alle diese Zinsen bzw. deren Änderungen. Es wird also stark vereinfachend von einem durchschnittlichen Zinsniveau i ausgegangen. Auch wird davon ausgegangen, dass nur der aktuelle Zinssatz eine Rolle spielt. Somit werden Zinsänderungserwartungen außen vor gelassen bzw. sie haben lediglich Einfluss auf die Sammelvariable V. Gelegentlich wird kritisiert, dass in manchen Totalmodellen - wie auch in unserem - nur der effektive Nominalzins und nicht der Realzins betrachtet wird. Denn schließlich richten sich die Wirtschaftssubjekte bei ihren sonstigen Plänen in dem Modell auch nach realen und nicht nach nominalen Größen (etwa dem Realeinkommen). Unter dem Realzins r versteht man den inflationsbereinigten Zins. Dieser wird mithilfe der sog. Fisher-Gleichung ermittelt, wobei π das Kürzel für die Inflationsrate bzw. die erwartete Inflationsrate ist. r = i - π Fisher-Gleichung Die Kritik ist indes vernachlässigbar, solange von der kurzen Frist mit konstantem Preisniveau (bzw. konstanter Inflationsrate) ausgegangen wird. Die Geldnachfrage M d (money demand) bzw. die reale Geldnachfrage M d / P ergibt sich aus den Motiven der Geldhaltung. Grundsätzlich sind dies drei: <?page no="308"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 309  Transaktionsmotiv.Wirtschaftssubjekte fragen Bargeld nach, um realwirtschaftliche Transaktionen zu tätigen, also um z.B. Güter und Produktionsfaktoren zu bezahlen. Dabei bedienen sich die Wirtschaftssubjekte der Zahlungsmittelfunktion des Geldes (→ Kap. 20.1). Mit steigendem Realeinkommen gehen vermehrte Transaktionen und eine erhöhte Nachfrage nach Geld einher. Mit steigendem Preisniveau steigt der für Transaktionen erforderliche Geldbetrag im gleichen Verhältnis. Wenn aber die nominale Geldnachfrage (M d ) proportional zum Preisanstieg (P) ansteigt, bleibt die reale Geldnachfrage (M d / P) unverändert. Zusammengefasst: Y↑ ⇨(M d / P)↑.  Vorsichtsmotiv. Da die einzelnen Wirtschaftssubjekte den zukünftigen Zeitpunkt aller Einnahmen und Ausgaben nicht exakt kennen, halten sie sicherheitshalber meh r Kas se als u nt er v ol lk omm en er V or au ss i ch t f ü r Transaktio nen no tw en dig w ä re . Dabei bedienen sich die Wirtschaftssubjekte sowohl der Wertaufbewahrungsals auch der Zahlungsmittelfunktion des Geldes (→ Kap. 20.1). Hierzu kann auch eine gewisse „Bequemlichkeit“ gezählt werden, d.h. die Wirtschaftssubjekte scheuen die Mühe, sich allzu häufig Geld verschaffen zu müssen, um fällige Zahlungen zu tätigen (Schuhsohleneffekte, → Kap. 20.2). Je höher allerdings der Zinssatz ist, umso teurer ist es, Vorsichtskasse zu halten. Mit anderen Worten: Je höher der Zinssatz ist, desto höher sind die Opportunitätskosten der Geldhaltung und umso geringer ist entsprechend die reale Geldnachfrage: i↑⇨ (M d / P)↓  Spekulationsmotiv. Wirtschaftssubjekte nutzen die Wertaufbewahrungsfunktion von Geld ferner, um Kasse für Spekulationszwecke zu halten. Das Geld ermöglicht ihnen, in einem günstigen Moment Finanzanlagen (hier: festverzinsliche Wertpapiere) nachzufragen. Als günstig stufen sie ein, wenn der Wertpapierkurs unter dem von ihnen als „normal erachteten“ Kurs („Normalkurs“) liegt, weil dann die effektive Verzinsung mehr als „normal“ ist (Effektivzins, → Beispiel 33). Daraus folgt, dass ein Wirtschaftssubjekt lieber Spekulationskasse hält (d.h. Geld nachfragt) anstatt Finanzanlagen, wenn der Wertpapierkurs über dem von ihm erwarteten Normalkurs liegt. Da die einzelnen Wirtschaftssubjekte annahmegemäß verschiedene Kurserwartungen hegen, steigt die Geldnachfrage bei steigendem Wertpapierkurs (sinkendem Zinssatz i) und sinkt bei steigendem Kurs: i↑⇨ (M d / P)↓. Zur Vereinfachung wird in unserem Geldmarktmodell vom Spekulationsmotiv abgesehen. Denn es genügt die Integration des Vorsichtsprinzips, um die Zinsabhängigkeit der Geldnachfrage zu modellieren. Aus den Kassenhaltungsmotiven folgt: M Y ⋅ P ⋅ k i bzw. M P Y ⋅ k i <?page no="309"?> 310 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 44.7: Geldmarkt Die reale Geldnachfrage M d / P ist also abhängig vom Einkommen Y und vom zinsabhängigen Kassenhaltungskoeffizient, der auch als Liquiditätsfunktion oder Liquiditätspräferenz bezeichnet wird. Je höher c.p. der Zins ist, umso attraktiver sind Wertpapiere/ Anleihen und umso unattraktiver ist die Bargeldhaltung, womit die Nachfrage nach Liquidität zurückgeht. i ↑ ⇨ k(i) ↓ ⇨ M d / P ↓ Die obige Illustration der Geldnachfrage und des Geldangebots fasst die bisherigen Erkenntnisse noch einmal zusammen: das reale Geldangebot ist - bei gegebenem Preisniveau - fix und unabhängig von der Höhe des Zinssatzes; die reale Geldnachfrage ist für ein gegebenes Einkommen Y fallend und negativ abhängig vom Zinssatz i. Kommt es bei einem gegebenen Zinssatz zu Einkommensänderungen, dann verschiebt sich die Geldnachfragekurve. Steigt das Einkommen (linke → Abb. 44.8), dann herrscht bei dem bisherigen Gleichgewichtsgewichtszins i 0 nun ein Nachfrageüberhang. Der Zinssatz ist mit anderen Worten zu niedrig für ein Geldmarktgleichgewicht. Er müsste i 1 betragen, um Geldangebot und -nachfrage in Einklang zu bringen. Auf der rechten Seite der → Abb. 44.8 ist der Fall für einen Einkommensrückgang dargestellt: Der Zins müsste auf i 1 absinken, damit wieder Geldmarktgleichgewicht herrscht. M/ P i M d / P M s / P <?page no="310"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 311 Abb. 44.8: Verschiebung der Geldnachfragekurve Wie aber kommt es in dem Modell zu einem neuen Gleichgewichtszins? Zur Beantwortung dieser Frage wird zunächst der Wertpapiermarkt betrachtet und der Begriff des Effektivzinses erklärt. Wertpapiermarkt 44.4.2 Wie bereits beschrieben, gewinnen Wertpapiere/ Anleihen an Attraktivität, wenn für sie hohe effektive Zinsen gezahlt werden. Je höher also der Zins ist, desto mehr Wertpapiere und umso weniger Bargeld werden nachgefragt. Das Angebot verhält sich genau umgekehrt: Je mehr Zinsen einem Anleger effektiv gezahlt werden müssen, desto weniger Wertpapiere/ Anleihen werden angeboten. Abb. 44.9: Markt für Wertpapiere/ Anleihen M/ P i M d / P (Y 0 ) M d` / P (Y 1 > Y 0 ) M s / P i 1 i 0 M s / P M/ P i M d` / P (Y 1 < Y 0 ) M d / P (Y 0 ) M s / P i 0 i 1 M s / P Y Y Anzahl Wertpapiere/ Anleihen i WP-Nachfrage WP-Angebot <?page no="311"?> 312 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Bei einem Zinssatz über dem Gleichgewichtszinssatz übersteigt die Wertpapiernachfrage das Wertpapierangebot. Die Wirtschaftssubjekte konkurrieren mit ihrer Nachfrage um ein niedrigeres Angebot. Die Anbieter nehmen von der erhöhten Nachfrage Kenntnis und werden ihre Wertpapiere/ Anleihen zu höheren Preisen anbieten bzw. die Kurse werden steigen, da sich gleichzeitig die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager erhöht, um in den Besitz eines Wertpapiers gelangen zu können. Die Folge sind höhere Kurse. Es sollte jedoch beachtet werden, dass der Erstbesitzer einer Anleihe dieses Wertpapier zu einem bestimmten Nennwert mit einer festen Verzinsung gekauft hat. Bietet er seine Anleihe nun zum Verkauf an und trifft er dabei auf eine hohe Nachfrage, so wird er einen Preis erzielen können, der über dem Einkaufspreis (Nennwert) liegt. Der neue Besitzer zahlt einen höheren Preis (Kurswert) als den Nennwert und erhält ebenfalls den festgeschriebenen Zins. Schlussendlich erhält er aber einen geringeren effektiven Zins als den Festzins.  Beispiel 33: Beispiel Effektivzins Person X kauft eine neu emittierte Anleihe mit unendlicher Laufzeit (sog. consols) zu einem Nennwert von 100 EUR und einem festgeschriebenen Zinssatz von 3 % p.a. Das heißt, jährlich erhält er Zinsen von 3 EUR. Nach einem Jahr bemerkt X einen Kursanstieg des Wertpapiers auf 120 EUR und verkauft sein Wertpapier. Der Käufer erhält nun 3 EUR Zinsen jährlich für den angelegten Betrag von 120 EUR, d.h. die effektive Verzinsung liegt bei 2,5 %. Der effektive Zins berechnet sich somit als i Nennwert x Festzins Kurswert ⋅ 100 % Anpassungen auf dem Geldmarkt 44.4.3 Führt man diese Erkenntnisse über den Wertpapiermarkt mit denen des Geldmarktes zusammen, lässt sich der Prozess hin zu einem neuen Gleichgewichtszins wie folgt erläutern. Zur Vereinfachung werden in unserem Modell nur eine Form von Finanzanlagen unterstellt, nämlich festverzinsliche Wertpapiere mit unendlicher Laufzeit. Diese werden als consols (consolidated annuities) oder consol bonds bezeichnet. <?page no="312"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 313 Abb. 44.10: Verschiebung der Geldangebotskurve In der Ausgangssituation sei der Geldmarkt im Gleichgewicht zu einem Gleichgewichtszins i 0 , die angebotene Geldmenge M 0 / P entspricht der nachgefragten Geldmenge M 0 / P (Punkt A). Im Falle expansiver Geldpolitik, einer Ausweitung der Geldmenge, erhöht sich nun das Geldangebot von M 0 auf M 1 und die Geldangebotskurve verschiebt sich nach rechts (M 1 / P). Zu dem auf dem Markt geltenden Zins i 0 ist nun ein Ungleichgewicht auf dem Markt zu vermerken (Punkt B), da das Geldangebot (M 1 / P) die Geldnachfrage (M 0 / P) übersteigt. Die Situation ist mithin die gleiche wie bei einem Einkommensrückgang, nämlich ein Geldangebotsüberhang. Der neue Gleichgewichtszins wäre der Zinssatz i 1 , da dort reales Geldangebot und reale Geldnachfrage übereinstimmen (M s / P = M d / P). Das heißt, der Zinssatz müsste von i 0 auf i 1 sinken, damit wieder Geldmarktgleichgewicht herrscht. Wie aber sinkt der Zinssatz? Wie bereits erläutert wurde, steuert die Zentralbank das Geldangebot in dem Modell mittels Offenmarktgeschäften. Um die Geldmenge zu erhöhen, fragt sie Wertpapiere nach und bietet „frisch gedrucktes“ Geld an. Durch die gestiegene Wertpapiernachfrage steigen die Wertpapierkurse und gleichzeitig sinken die Zinsen (die Ausführungen zum Effektivzins und → Beispiel 33), woraufhin die Geldnachfrage steigt. Die Geldnachfrage steigt, weil durch den sinkenden Zins auch die Opportunitätskosten der Geldhaltung gesunken sind, und sich daher ein Umschichten von relativ unattraktiv gewordenen Wertpapieren auf Bargeld anbietet. Das neue Geldmarktgleichgewicht ist erreicht, wenn die Wirtschaftssubjekte bereit sind, die gesamte zusätzliche Geldmenge auch nachzufragen. Dies ist in Punkt C in → Abb. 44.10 gegeben. M/ P i M d / P M s / P M s` / P i 1 i 0 M 0 / P M 1 / P A B C <?page no="313"?> 314 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 44.11: Änderung der Geldnachfrage Ausgehend von derselben Ausgangssituation, ergibt sich Folgendes im Falle einer Erhöhung des Einkommens Y. In Punkt A entspricht wiederum das Geldangebot der Geldnachfrage (M s / P = M d / P = M 0 / P). Erzielen die privaten Haushalte nun ein höheres Einkommen Y, so erhöht sich zum geltenden Marktzins i 0 die Geldnachfrage von M 0 auf M 1 . Es entsteht ein Geldnachfrageüberschuss, da zu i 0 nun M d / P > M s / P ist. Das nominale Geldangebot ist fix und wird sich nicht verändern, solange die Zentralbank keinen Handlungsbedarf sieht, wovon hier ausgegangen wird. Dennoch wird sich der Markt von diesem Ungleichgewicht wieder zu einem Gleichgewicht mit einem neuen Gleichgewichtszins entwickeln. Dadurch, dass die Wirtschaftssubjekte nun mehr Bargeld nachfragen, als angeboten wird, müssen sie überlegen, wie sie ihre Geldnachfrage befriedigen können. Im vorliegenden Modell kann dies nur durch eine Umschichtung von Wertpapieren auf Bargeld geschehen. Um mehr Bargeld zu erhalten, versuchen die Wirtschaftssubjekte, ihre Wertpapiere zu verkaufen. Dadurch entsteht ein Wertpapierangebotsüberhang. Die Folge sind sinkende Wertpapierpreise und damit einhergehend steigende Marktzinsen. Die sinkenden Kurse veranlassen die Haushalte, weniger Vorsichtskasse und mehr Wertpapiere halten zu wollen, weil sich durch den parallelen Zinsanstieg das Halten von Geld verteuert hat (Anstieg der Opportunitätskosten der Kassenhaltung). Im neuen Geldmarktgleichgewicht liegt der Zinssatz bei i 1 . M/ P i M d / P (Y 0 ) M d` / P (Y 1 > Y 0 ) M s / P i 1 i 0 A B C M 0 / P <?page no="314"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 315  Aufgabe 30: Überlegen Sie! a) Es wurde beschrieben, welche Auswirkungen eine expansive Geldpolitik und ein steigendes Volkseinkommen auf den Geld- und Wertpapiermarkt haben. Erörtern Sie nun selbst, welche jeweiligen Effekt eine kontraktive Geldpolitik oder ein sinkendes Volkseinkommen haben. b) Wenn Sie mal davon absehen, dass in der kurzen Frist das Preisniveau P eigentlich fix ist: Wie verhält sich der hier konstruierte Geldmarkt bei Preisniveauänderungen? b1) Wird die reale Geldnachfrage bei einem steigenden Preisniveau P steigen oder sinken? Und das reale Geldangebot? b2) Wie werden die Wirtschaftssubjekte auf diese Änderung reagieren? Stellen Sie diesbezüglich ebenfalls einen Zusammenhang mit dem Wertpapiermarkt her. LM-Kurve 44.5 Herleitung 44.5.1 Die Gleichgewichte des Geldmarkts lassen sich mithilfe der sogenannten LM-Kurve darstellen. Die LM-Kurve ist der geometrische Ort aller Zins-Einkommens-Kombinationen, bei denen Geldmarktgleichgewicht herrscht. Die Abkürzung LM steht für Liquidity = Money und stellt die Gleichgewichtsbedingung des Geldmarkts dar, also Geldnachfrage = Geldangebot. Bei der Herleitung der IS-Kurve war es von Interesse, welchen Einfluss der Nominalzins i, der auf dem Geldmarkt gebildet wird, auf den Gütermarkt hat. Hier interessiert nun der Einfluss des Realeinkommens Y, welches auf dem Gütermarkt bestimmt wird, auf den Geldmarkt. Es konnte bereits gezeigt werden, dass ein höheres Einkommen die Geldnachfrage erhöht und die Geldnachfragekurve nach oben verschiebt (Y ↑ ⇨ M d ↑ und Y ↓ ⇨ M d ↓). Es ergibt sich jeweils ein neues Gleichgewicht auf dem Geldmarkt. Die jeweiligen, neuen Gleichgewichte können in einem Y-i-Diagramm dargestellt werden. Der erste Quadrant stellt den Geldmarkt in einem M/ P-i-Diagramm dar, inklusive der Nachfragekurve M d / P und der Angebotskurve M s / P. Daneben sind zwei weitere Geldnachfragekurven M d1 / P und M d2 / P abgebildet, die durch Einkommensänderungen entstanden sind. Der Schnittpunkt von M d / P und M s / P beschreibt die Ausgangssituation, in der bei einem Einkommen Y 0 das Gleichgewicht auf dem Geldmarkt (M s / P = M d / P) zum Zinssatz i 0 zustande kam. Eine Erhöhung des Einkommens auf Y 1 sorgt c.p. für eine Erhöhung der Geldnachfrage und führt zu einer Verschiebung der Geldnachfragekurve nach oben (M d1 / P) und zu einem neuen, höheren Gleichgewichtszins i 1 . Genau wie die Kombination aus Y und i zu Beginn lässt sich auch diese neue Kombination von Y 1 und i 1 in einem eigenen Diagramm abzeichnen; zu sehen im zweiten Quadranten in einem Y-i-Diagramm. Ausgehend von M d / P wird eine Einkommenssenkung auf Y 2 betrachtet. Sie impliziert c.p. eine sinkende Geldnachfrage und eine Verschiebung der Geldnachfragekurve nach unten (M d2 / P). Es ergibt sich ein neuer, niedrigerer Gleichgewichtszins i 2 . Auch diese Zins-Einkommens-Kombination <?page no="315"?> 316 Einfaches makroökonomisches Totalmodell (i 2 -Y 2 ) wird im zweiten Quadranten abgetragen. Es ergeben sich lauter Zins- Einkommens-Kombinationen, bei denen der Geldmarkt im Gleichgewicht ist. Aus diesen Kombinationen ergibt sich eine Kurve: die LM-Kurve, die bei steigenden Einkommen auch steigende Zinsen und bei sinkenden Einkommen ebenfalls sinkende Zinsen widerspiegelt. Abb. 44.12: Herleitung der LM-Kurve Diese LM-Kurve lässt sich auch im gewohnten i-Y-Diagramm darstellen (→ Abb. 44.13): Abb. 44.13: LM-Kurve M/ P i M d / P (Y 0 ) M d1 / P (Y 1 > Y 0 ) M s / P M s / P M d2 / P (Y 2 < Y 0 ) Y Y 0 Y 1 Y 2 i 1 i 0 i 2 LM Y i LM-Kurve Y 0 i 0 i 2 Y 2 i 1 Y 1 <?page no="316"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 317 Verschiebungen 44.5.2 Die Herleitung der LM-Kurve erfolgte unter sonst gleichen Bedingungen, d.h. alle weiteren Einflussfaktoren werden konstant gehalten. Es wurde bereits gezeigt, dass Einkommensänderungen keine Verschiebung der LM-Kurve verursachen, sondern lediglich ein Entlanggleiten auf der Kurve; das Preisniveau wird konstant gehalten. Nun wird untersucht, inwiefern sich Änderungen des Geldangebots auf die LM-Kurve und damit auch auf die Gleichgewichtskombinationen am Geldmarkt auswirken. Die wichtigsten Erkenntnisse konnten bereits in der Einführung in den Geldmarkt gezeigt werden: eine Ausweitung des Geldangebots (Rechtsverschiebung der Geldangebotskurve) führt c.p. zu einem Absinken des Marktzinses, eine Reduktion des Geldangebots (Linksverschiebung der Geldangebotskurve) führt zu einem Rückgang. Abb. 44.14: Verschiebung der LM-Kurve In der → Abb. 44.14 ist die zuvor verwendete Grafik zur Herleitung der LM-Kurve zu sehen. In dieser werden nun die schon bekannten Auswirkungen der Geldmengenänderungen integriert. M s / P verschiebt sich im Falle expansiver Geldpolitik nach rechts auf M s1 / P und im Falle kontraktiver Geldpolitik nach links auf M s2 / P. Dies geschieht unter sonst gleichen Bedingungen, also zu konstanten Preisen und Einkommen. Zu dem betrachteten Einkommen Y 0 ergeben sich neue Nominalzinssätze, bei denen der Geldmarkt im Gleichgewicht ist: i 2 nach expansiver bzw. i 1 nach kontraktiver Geldpolitik. Entsprechend verschiebt sich die LM-Kurve. M/ P i M d / P (Y 0 ) M s / P M s / P Y Y 0 LM M s1 / P M s2 / P LM 1 LM 2 i 1 i 0 i 2 <?page no="317"?> 318 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 44.15: Verschiebung der LM-Kurve Bei dem hier unterstellten LM-Verlauf zeigt sich, dass für jedes beliebige Einkommen gilt:  Expansive Geldpolitik führt in der kurzen Frist zu sinkenden Zinsen (Verschiebung der LM-Kurve nach rechts).  Kontraktive Geldpolitik führt in der kurzen Frist zu steigenden Zinsen (Verschiebung der LM-Kurve nach links).  Aufgabe 31: Überlegen Sie! Wenn Sie mal davon absehen, dass in der kurzen Frist das Preisniveau P eigentlich fix ist: Wie verhält sich die LM-Kurve bei Preisniveauänderungen? IS-LM-Modell 44.6 Die IS- und LM-Kurve lassen sich gemeinsam in einem Diagramm analysieren. Beide Kurven wurden in einem Y-i-Diagramm dargestellt; die IS-Kurve wurde auf Basis unterschiedlicher Zinsen hergeleitet und die LM-Kurve für verschiedene Einkommen. Zur Erinnerung:  IS-Kurve: Bei der Herleitung wurde der Einfluss des Zinses auf das Einkommen/ die Produktion untersucht.  LM-Kurve: Bei der Herleitung wurde der Einfluss des Einkommens/ der Produktion auf den Zinssatz betrachtet. Y i LM LM 1 LM 2 M s / P M s / P <?page no="318"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 319 Da der Gütermarkt via Einkommensänderungen mit dem Geldmarkt interagiert sowie Zinsänderungen des Geldmarkts Auswirkungen auf den Gütermarkt und das Einkommen haben, ergibt sich ein Zusammenspiel der beiden Märkte, das sich im Rahmen des IS-LM-Modell darstellen lässt. Dafür werden beide Kurven in einer Grafik zusammengefügt. Abb. 44.16: IS-LM-Modell Die IS-Kurve stellt alle Zins-Einkommens-Kombinationen dar, bei denen der Gütermarkt im Gleichgewicht ist. Die LM-Kurve stellt alle Zins-Einkommens-Kombinationen dar, bei denen der Geldmarkt im Gleichgewicht ist. Durch die Verknüpfung der Märkte ergibt sich so eine bestimmte Zins-Einkommens- Kombination, bei der beide Märkte auf kurze Frist gleichzeitig im Gleichgewicht sind und kein Grund für die Marktteilnehmer besteht, ihr Verhalten zu ändern. Dieses simultane Gleichgewicht auf Güter- und Geldmarkt (einschl. Finanzmarkt) ist im Schnittpunkt von IS und LM gegeben. Bei allen anderen Zins-Einkommens- Kombinationen ist mindestens der Gütermarkt oder Geld- und Finanzmarkt im Ungleichgewicht (→ Kap. 44.6.2). Politikmaßnahmen 44.6.1 Im Folgenden wird auf die kurzfristigen Auswirkungen von Fiskal- und Geldpolitik eingegangen. Dabei wird weiterhin zwischen einer expansiven und einer kontraktiven Politik unterschieden. Diese Trennung ist bereits vom Geldmarkt bekannt, bei dem eine Zentralbank durch die Steuerung des Geldangebots geldpolitisch aktiv werden konnte. Unter Fiskalpolitik versteht man die gesamtwirtschaftlich orientierte Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates. Unter fiskalpolitischen Maßnahmen wird Y i LM IS <?page no="319"?> 320 Einfaches makroökonomisches Totalmodell zumeist eine direkte Änderung der Staatsnachfrage (G) oder indirekte Nachfrageänderungen durch eine Änderung der direkten Steuern oder Transfers verstanden. Steuern und Transfers sind in dem Modell Teilvariablen der Sammelvariable V. D D i, Y, V G Spricht man von einer expansiven Fiskalpolitik, so meint man damit eine nachfragesteigernde Politik (G↑ oder V), z.B. eine Erhöhung der Staatsnachfrage oder eine Senkung der Steuerlast. Kontraktive Fiskalpolitik ist nachfragemindernd (G oder V), z.B. eine Senkung der Staatsnachfrage oder eine Senkung der Transfers an die privaten Haushalte (Sekundäreinkommen → Kap. 1.3). Es gilt zu beachten, dass die folgenden Ausführungen auf der Argumentation und Herleitung des Güter-, Geld- und Wertpapiermarkts beruhen. Die bisherigen Kenntnisse finden nun Anwendung, werden aber weniger detailliert dargestellt, als dies in den Einführungskapiteln der Fall war. 44.6.1.1 Expansive Fiskalpolitik Die Folgen von positiven Nachfrageschocks unter sonst gleichbleibenden Bedingungen sind bereits bekannt (→ Kap. 44.3.2) und lassen sich auf expansive Fiskalpolitik übertragen: Die Nachfrage auf dem Gütermarkt steigt und führt über den Multiplikatoreffekt zu einem Produktions- und Einkommensanstieg. Die Nachfragekurve D (→ Abb. 44.2) verschiebt sich nach oben, es ergibt sich ein neues Gütermarktgleichgewicht und die IS- Kurve verschiebt sich nach rechts. Nun müssen aber mögliche Effekte auf den Geldmarkt in die Analyse einbezogen werden. Als Resultat der Nachfrageerhöhung des Gütermarkts steigt die Produktion/ das Einkommen. Das Einkommen Y führt zu einer Zunahme der realen Geldnachfrage (M d / P = Y ⋅ k(i)). Die gestiegene Geldnachfrage schlägt sich in einer Verschiebung der Geldnachfragekurve M d (→Abb. 44.12) nach oben nieder und führt unter Berücksichtigung des Wertpapiermarkts zu einem höheren Zins: Die Volkswirtschaft bewegt sich entlang der LM-Kurve von A nach B (→ Abb. 44.17). Abb. 44.17: Expansive Fiskalpolitik (kurze Frist) Y i LM IS IS` Y 0 Y 1 i 1 i 0 A B <?page no="320"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 321 Die Grafik 44.17 zeigt die bisherigen Erkenntnisse und Zusammenhänge. Die IS- Kurve verschiebt sich nach rechts, die LM-Kurve verschiebt sich nicht. Die expansive Fiskalpolitik führt zu einer höheren Gleichgewichtsproduktion und zu einem höheren Zins. Der Nettoeffekt der expansiven Fiskalpolitik ist kleiner als der Multiplikatoreffekt. An dieser Stelle wird im Detail gezeigt, welche Wirkungskette zu dem neuen simultanen Gleichgewicht (Punkt B) führt: Wenn die Staatsnachfrage steigt, steigt die Güternachfrage und die Produktion/ das Einkommen, dann wieder die Güternachfrage usw. Die Höhe dieses Multiplikatoreffekts kann in Abb. 44.19 (→ Wissensbox 40) abgelesen werden (Y 0 zu Y 2 ). Außerdem steigen durch den Einkommenszuwachs die Geldnachfrage und schließlich der Zinssatz. Dieser Zinsanstieg hat wiederum Einfluss auf den Gütermarkt, nämlich dadurch, dass Sparen attraktiver wird, der steigende Zins Kredite verteuert und Realinvestitionen an Attraktivität gegenüber Finanzanlagen verlieren. Daher sinkt die Güternachfrage. Daraus folgt eine sinkende Produktion und eine sinkende Nachfrage usw. Die anfängliche Produktionssteigerung wird somit gedämpft, weil es durch die Erhöhung der staatlichen Güternachfrage zu einem Zinsanstieg kommt, durch den private Güternachfrage verdrängt wird. Die dadurch wieder sinkenden Einkommen verringern nun die zunächst gestiegene Geldnachfrage, weswegen der Zins auch wieder ein wenig sinkt. Der sinkende Zins wirkt sich nun positiv auf die Güternachfrage aus, was eine steigende Nachfrage und eine sich anpassende Produktion zur Folge hat. Daraufhin nimmt die Geldnachfrage wieder zu und die Schleife setzt sich in immer kleiner werden Schritten fort (→ Abb. 44.18). Der Prozess ist beendet, wenn die Marktteilnehmer keinen weiteren Verhaltensänderungsbedarf mehr sehen: Es herrscht mit anderen Worten simultanes Gleichgewicht. Abb. 44.18: Expansive Fiskalpolitik (detaillierte Darstellung) Es versteht sich von selbst, dass dieser schematische Ablauf in der Praxis nicht derart geordnet abläuft, wie es hier dargestellt wird, zumal der Geld- und der Finanz- Y i LM IS IS` A B A B <?page no="321"?> 322 Einfaches makroökonomisches Totalmodell markt viel schneller als der Gütermarkt reagieren. Die Zerlegung des Prozesses in Einzelschritte ist vielmehr ein analytisches Hilfsmittel, um parallel ablaufende Effekte strukturiert darstellen zu können.  Wissensbox 40: Crowding-out-Effekt Es wurde gezeigt, dass die expansive Fiskalpolitik zwar eine steigende Produktion erzeugt, der Produktionsanstieg aber letztlich geringer ist als zunächst angenommen, weil durch den Zinsanstieg private Güternachfrage verdrängt wird. Diesen Verdrängungseffekt nennt man den Crowding-out-Effekt. Abb. 44.19: Crowding-out-Effekt 44.6.1.2 Kontraktive Fiskalpolitik Auch die Folgen eines negativen Nachfrageschocks unter sonst gleichbleibenden Bedingungen wurden schon dargestellt. Für eine kontraktive Fiskalpolitik wie z.B. eine Staatsnachfragesenkung oder Steuererhöhung gilt entsprechend: Die Nachfrage auf dem Gütermarkt sinkt und führt unter Berücksichtigung des Multiplikatoreffekts zu einem Produktions- und Einkommensrückgang. Die Nachfragekurve verschiebt sich nach unten, es ergibt sich ein neues Gütermarktgleichgewicht und die IS-Kurve verschiebt sich nach links. Als Resultat des Nachfragerückgangs auf dem Gütermarkt erhält man eine niedrigere Produktion bzw. ein niedrigeres Einkommen als in der Ausgangssituation. Da das Einkommen Y einen Einfluss auf die Geldnachfrage (M d / P = Y ⋅ k(i)) hat, sinkt die Geldnachfrage. Dies verschiebt die Geldnachfragekurve (→ Abb. 44.12) nach rechts und führt (unter Berücksichtigung des Wertpapiermarkts) zu einem niedrigeren Zins; allerdings verschiebt sich die LM-Kurve nicht, sondern es findet eine Bewegung auf der Kurve statt. Y i LM IS IS` Y 0 Y 1 i 1 i 0 A C B Y 2 crowding out <?page no="322"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 323 Abb. 44.20: Kontraktive Fiskalpolitik (kurze Frist) → Abb. 44.20 zeigt den Unterschied zwischen dem alten simultanen Gleichgewicht (Punkt A) und der neuen gleichgewichtigen Zins-Einkommens-Kombination (Punkt B). Die Kontraktive Fiskalpolitik führt sowohl zu einer geringeren Gleichgewichtsproduktion als auch zu einem niedrigeren Gleichgewichtszins. Ergänzend sei angemerkt, dass jede exogene Nachfrageänderung, die auf dem Gütermarkt über die Sammelvariable V zustande kommt, selbstverständlich auf die gleiche Weise wie fiskalpolitische Maßnahmen analysiert werden kann. Die Folgen solcher Störungen sind mit denen der Fiskalpolitik gleichzusetzen. Ist ein Nachfrageschub zu verzeichnen, so wird dieser dazu führen, dass sowohl der Zins als auch die Produktion (= Einkommen) im neuen simultanen Geld- und Gütermarktgleichgewicht höher als zuvor sind. Sinkt die exogene Güternachfrage, zieht dies eine Schrumpfung der Produktion und einen sinkenden Zins nach sich. 44.6.1.3 Expansive Geldpolitik Unter expansiver Geldpolitik versteht man die Ausweitung des Geldmengenangebots M s durch die Zentralbank. Im Kapitel zum Geldmarkt und zur LM-Kurve wurde schon über die Folgen auf dem Geldmarkt gesprochen (→ Abb. 44.14). Nun wird die Analyse durch die Betrachtung des Gütermarkts erweitert. Die Zinssenkung resultiert in einem Anstieg der Güternachfrage und daraufhin der Produktion/ des Einkommens (i ↓ ⇨ D ↑ ⇨ Y ↑). Y i LM IS IS` Y 1 Y 0 i 1 i 0 A B <?page no="323"?> 324 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 44.21: Expansive Geldpolitik (kurze Frist) Im neuen Gleichgewicht ist der Zins gesunken und die Produktion gestiegen. Die LM- Kurve hat sich nach rechts verschoben; die IS-Kurve verschiebt sich nicht, da die Änderungen auf einer Zinsänderung beruhen und aus der Herleitung der IS-Kurve bekannt ist, dass in solchen Fällen die neue Gleichgewichtskombination aus Einkommen und Zins durch ein Entlanggleiten auf der IS-Kurve erreicht wird. 44.6.1.4 Kontraktive Geldpolitik Die Wirkungen einer kontraktiven Geldpolitik auf das simultane Gleichgewicht können in analoger Weise herausgearbeitet werden. Abb. 44.22: Kontraktive Geldpolitik (kurze Frist) Y i LM IS LM` Y 0 Y 1 i 1 i 0 A B Y i LM IS LM` Y 0 Y 1 i 1 i 0 A B <?page no="324"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 325 Die Verringerung der Geldmenge führt zu einem neuen, höheren Gleichgewichtszins. Dieser Zinsanstieg bewirkt, dass die Konsum- und Investitionsnachfrage sinkt und sich die Produktion (sprich: auch das Einkommen) an die gesunkene Güternachfrage anpasst. Das gesunkene Einkommen führt wiederum zu einem Geldnachfragedefizit, welches einen Zinsrückgang hervorruft. Dieser hat wiederum Rückwirkungen auf den Gütermarkt, wodurch das Einkommen steigt. Die Geldnachfrage steigt wieder, der Zinssatz fällt usw. Am Ende des Prozesses der wiederholten Interaktion von Geld- und Gütermarkt ist der Zinssatz höher als zuvor. Die Gleichgewichtsproduktion (das Gleichgewichtseinkommen) ist niedriger als zuvor. Ob eine exogene Änderung der Güternachfrage oder der Geldmenge im kurzfristigen IS-LM-Modell letztlich zu einem Anstieg oder Rückgang des Gleichgewichtszinssatzes und des Gleichgewichtseinkommen führt, kann i.d.R. an der ersten Reaktion der jeweiligen Variable abgelesen werden. Mit anderen Worten: Die erste Reaktion (Anstieg oder Rückgang) dominiert, auch wenn sie durch die Interaktion der zwei Märkte abgemildert wird.   Aufgabe 32: Erklären Sie! Versuchen Sie, die jeweils kontraktive/ expansive Geld- und Fiskalpolitik so detailliert wie möglich darzustellen und nachzuvollziehen. Nehmen Sie Bezug auf Ihre Kenntnisse aus den einführenden und herleitenden Kapiteln der kurzen Frist und überlegen Sie für jede Politikmaßnahme a) welcher Markt zuerst betroffen ist, b) welche Auswirkungen die Änderung auf diesen Markt haben könnte (z.B. anhand der Formel und einer Grafik), c) welche Wirkungskette in Gang gesetzt wird, d) wie und warum genau ein neues Gleichgewicht auf diesem Markt erreicht wird, e) ob es Änderungen bei der IS- oder LM-Kurve gibt, f) welche Folgen dieses neue Gleichgewicht für andere Märkte hat, g) wie die Fragen b) bis e) nun für diese Märkte/ diesen Markt zu beantworten sind, h) welchen Effekt die Politikmaßnahme letztlich (nach Abschluss aller Anpassungsprozesse) auf Produktion/ Einkommen und Zinssatz hat.  Wissensbox 41: Instabilität des simultanen Gleichgewichts: Das Beispiel einer sehr zinselastischen Investitionsgüternachfrage Eine Nachfrageerhöhung muss nicht zwangsläufig zu einem neuen Gleichgewicht führen. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn eine Einkommenserhöhung einen Zinsanstieg verursacht, der sich sehr stark (negativ) auf die Investitionsnachfrage auswirkt. <?page no="325"?> 326 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Ist die Investitionsnachfrage also sehr elastisch, so kann es sein, dass der Einbr uch der In vestit ion en und som it auch der Ein br uch der P ro duktion/ Einkommen so stark ausfallen, dass dieser die ursprüngliche Einkommenserhöhung übertrifft. Durch den Crowding-out-Effekt wird deutlich, dass die Produktion wieder ein Stück weit eingedämmt wird, weil private Güternachfrage vom Markt „verdrängt“ werden. Es wurde bislang implizit angenommen, dass dieser Verdrängungseffekt geringer ausfällt, als der anfängliche Wachstumseffekt der Produktion. Reagiert die Güternachfrage allerdings stärker auf die Zinsänderung als die Nachfrageänderung zu Beginn ausfiel, dann wird kein neues Gleichgewicht erreicht. Abb. 44.23: Hohe Zinselastizität der Investitionsnachfrage Ungleichgewichte 44.6.2 Die IS-Kurve stellt Gütermarktgleichgewicht und die LM-Kurve stellt Geld- und Finanzmarktgleichgewicht dar. Bisher wurde erörtert, wie es aufgrund externer Einflüsse zu neuen Gleichgewichten kommen kann. Nun wird erörtert, wie Ungleichgewichte zu charakterisieren sind. Dafür werden die Punkte A und B in der folgenden Abbildung (→ Abb. 44.24) betrachtet. Y i LM IS IS` A 1.) ΔY (durch D) 2.) ΔY (durch i => I) <?page no="326"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 327 Abb. 44.24: Ungleichgewichte im IS-LM-Modell  Punkt A: Punkt A liegt weder auf der ISnoch auf der LM-Kurve, d.h., dass die zu Punkt A gehörende Zins-Einkommens-Kombination (also der vorherrschende Zins und die vorherrschende Produktion) auf keinem der Märkte ein Gleichgewicht darstellt. Aus der Sicht des Gütermarkts: Zum aktuellen Zinssatz i gehört ein niedrigeres Produktionsniveau, um ein Gleichgewicht auf dem Gütermarkt zu erreichen. Die Produktion ist zu hoch und übersteigt die Nachfrage. Anders ausgedrückt: Zum gegenwärtigen Produktionsniveau müsste der Zinssatz viel geringer sein als in Punkt A. Dass der Zins für ein Gütermarktgleichgewicht zu hoch ist, bedeutet, dass Investitionen und somit potenzielle Nachfrage verdrängt werden. Die zu hohe Produktion in Kombination mit einer zu geringen Investitionsnachfrage führt zu einem Ungleichgewicht auf dem Gütermarkt: zu einem Angebotsüberschuss. Aus der Sicht des Geld- und Finanzmarkts: Die Produktion ist zum momentanen Zinssatz zu gering für ein Geldmarktgleichgewicht. Vielmehr ist das Einkommen und folglich die Geldnachfrage zu gering. Anders ausgedrückt: Bei dem herrschenden Produktionsniveau ist der Zinssatz zu hoch, um für ein Geldmarktgleichgewicht zu sorgen. Der hohe Zins macht Finanzanlagen attraktiv und Bargeld unattraktiv, d.h. die Geldnachfrage ist zu niedrig. Das Ungleichgewicht ist somit ein (Geld-) Angebotsüberschuss.  Punkt B: Dieser Punkt liegt auf der LM-Kurve, d.h., bei dieser Zins-Einkommens- Kombination herrscht Geldmarktgleichgewicht. Allerdings liegt der Punkt B nicht auf der IS-Kurve, womit diese Kombination kein Gleichgewicht auf dem Gütermarkt darstellt. Die Güternachfrage übersteigt die Produktion, denn aus der Sicht des Gütermarkts ist der Zinssatz zu niedrig, um für einen Ausgleich von Güternachfrage und Güterangebot zu sorgen. Das heißt, dass die Güternachfrage zu hoch ist. LM IS B A Y i <?page no="327"?> 328 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Somit herrscht ein Nachfrageüberschuss. Anders ausgedrückt: Für ein Gleichgewicht im Gütermarkt wäre zum herrschenden Zinssatz eine höhere Produktion vonnöten. Abb. 44.25: Ungleichgewichte im IS-LM-Modell (Zsfg.) LM IS Gütermarkt: Angebotsüberschuss Geldmarkt: Angebotsüberschuss Gütermarkt: Nachfrageüberschuss Geldmarkt: Angebotsüberschuss Gütermarkt: Nachfrageüberschuss Geldmarkt: Nachfrageüberschuss Gütermarkt: Angebotsüberschuss Geldmarkt: Nachfrageüberschuss <?page no="328"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 329   Aufgabe 33: Erklären Sie! Welche Marktsituationen herrschen in den Punkten C-H? Begründen Sie bei der Bearbeitung jeweils folgende Aussagen: Es herrscht auf dem Güter-/ Geldmarkt kein Gleichgewicht, denn …  für den vorherrschenden Zinssatz ist die Produktion zu niedrig/ hoch;  für die vorherrschende Produktion ist der Zinssatz zu niedrig/ hoch;  die Nachfrage ist somit größer/ kleiner als das Angebot. LM IS E D B C F H A G Y i <?page no="329"?> 330 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Zinssteuerung im IS-LM-Modell 44.7 In Teil II wurde thematisiert, dass die Zentralbanken aus verschiedenen Gründen von der Geldmengensteuerung Abstand genommen haben (→ Kap. 22.3.2). Somit ist die hier für das IS-LM-Modell gemachte Annahme einer exogen gegebenen Geldmenge, die von der Zentralbank exakt gesteuert werden kann, stark vereinfachend. Unterstellt man demgegenüber eine Geldpolitik, die den Zinssatz direkt steuern kann (Zinstargeting), dann bedeutet eine unveränderte Geldpolitik, dass die Zentralbank das kurzfristige Zinsniveau konstant hält. Somit tritt an die Stelle der positiv geneigten LM- Kurve eine Waagerechte, die in → Abb. 44.26 als Zinslinie bezeichnet wird. → Abb. 44.26 stellt die Wirkungen expansiver und kontraktiver Fiskalpolitik dar (IS‘ bzw. IS‘‘): Nun kommt der Multiplikatoreffekt (→ Kap. 44.2) voll zum Tragen, da es zu keiner zinsinduzierten Änderung der Investitionsgüternachfrage kommt. Es entfällt mit anderen Worten der zinsbedingte Crowding-out-Effekt bzw. das crowding in. Die neue kurzfristige Gleichgewichtsproduktion Y‘ nach expansiver Fiskalpolitik ist größer als im Falle der positiv geneigten LM-Kurve, bei welcher eine konstante Geldmenge unterstellt wurde. Nach kontraktiver Fiskalpolitik ist die Produktion (Y‘‘) entsprechend kleiner als im traditionellen IS-LM-Modell. Expansive Geldpolitik findet nun in Form einer direkten Zinssenkung statt und würde sich in einer Verschiebung der Waagerechten nach unten bemerkbar machen. Im Falle kontraktiver Geldpolitik (direkte Zinserhöhung) würde sich die Waagerechte nach oben verschieben. Quelle: in Anlehnung an B OFINGER , 2011, S. 482. Abb. 44.26: Waagerechte „LM-Kurve“ Y i Zinslinie IS IS` IS`` G G Y Y` Y`` <?page no="330"?> Kurzfristiges Güter- und Geldmarktmodell 331 Ergänzungen 44.7.1 44.7.1.1 Investitionsfalle In unserem Modell wird unterstellt, dass ein Zinsrückgang über den Einfluss auf die Güternachfrage zu einer Produktionszunahme bzw. ein Zinsanstieg zu einem Produktionsrückgang führt. Dafür ursächlich ist die Annahme einer Güternachfrage, die stets auf Zinsänderungen reagiert (zinselastische Güternachfrage). Es ist jedoch möglich, dass die Güternachfrage nicht auf eine Zinsänderung reagiert und die Geldpolitik realwirtschaftlich völlig wirkungslos ist. Man spricht dann von einer Investitionsfalle. Die Investitionsfalle ist im Prinzip ab einem Zinssatz (i hoch ) denkbar, der so hoch ist, dass der zinsabhängige Teil der (Investitions-)Güternachfrage auf Null schrumpft. Dann führt ein weiterer Zinsanstieg (kontraktive Geldpolitik) nicht zu einem Rückgang der Güternachfrage und der Produktion. Oder wenn der Zinssatz bereits erheblich über dem Satz i hoch liegt, reichen umgekehrt kleinere Zinssenkungen nicht aus, um die Güternachfrage anzuregen. Meistens aber sind Investitionsfallen exogen bedingt, etwa weil solch düstere Zukunftserwartungen vorherrschen, dass der Zins sogar auf Null sinken könnte, ohne dass mehr nachgefragt wird. Umgekehrt könnten theoretisch auch derart extrem positive Zukunftserwartungen bestehen, dass sich die Wirtschaftssubjekte durch Zinssteigerungen nicht von ihrem euphorischen Nachfrageverhalten abhalten lassen. 44.7.1.2 Liquiditätsfalle Eine Liquiditätsfalle bedeutet, dass der Zinssatz und somit der Kassenhaltungskoeffizient (k) nicht auf eine Geldmengenerhöhung reagieren. Solch eine Falle kann auftreten, wenn der Zinssatz so niedrig ist (der Wertpapierkurs so hoch ist), dass die Wirtschaftssubjekte bereit sind, jede beliebige Menge an Geld in der Kasse zu halten. In un ser em M odel l kann die se r Fal l str en g gen o mm en n ic ht auf tr eten , da w eder d as Transaktionsnoch das Vorsichtsprinzip solch ein Verhalten erklären können. Stattdessen müsste das - in unserem Modell ausgeklammerte - Spekulationsmotiv der Kassenhaltung (→ Kap. 44.4.1) zur Erklärung herangezogen werden: Ein sehr niedriger Zinssatz impliziert einen sehr hohen Wertpapierkurs. Liegt dieser über dem erwarteten „Normalkurs“ aller Wirtschaftssubjekte, werden sie beliebig viele Wertpapiere kaufen, weil sie Verluste erwarten. Sie sind bereit, unendlich viel Geld in ihre Spekulationskasse aufzunehmen, um liquide zu sein, sobald der Kurs wieder unter den von ihnen jeweils erwarteten Kurs sinkt. Vereinzelt wird ein Erreichen der Nullzinsgrenze (→ Kap. 20.7.6) auch als Liquiditätsfalle bezeichnet.  Aufgabe 34: Überlegen Sie! Welchen Verlauf weist die IS-Kurve (LM-Kurve) auf, wenn eine Investitionsfalle (bzw. Liquiditätsfalle) vorliegt? <?page no="331"?> 332 Einfaches makroökonomisches Totalmodell 45 Modell der mittleren Frist Neoklassischer Arbeitsmarkt 45.1 Bei den bisherigen Überlegungen zur kurzen Frist (IS-LM-Modell) wurde angenommen, dass sich die Produktion stets der Nachfrage anpasst. Dabei wurde u.a. nicht berücksichtigt, dass sich Produktionsänderungen auch auf den Arbeitsmarkt niederschlagen oder dass der Arbeitseinsatz (auch) vom Arbeitsmarktgeschehen abhängt. Der Arbeitsmarkt blieb vielmehr völlig außen vor. Das Modell der mittleren Frist hingegen stellt den Arbeitsmarkt und seine Bedeutung für das Produktionsniveau in den Mittelpunkt der Analyse. Der Grundgedanke ist, dass das Produktionsniveau letztlich nicht von der Güternachfrage bestimmt wird, sondern von der Menge der Produktionsfaktoren, die im Produktionsprozess eingesetzt werden. Da es in unserem Modell nur einen Produktionsfaktor, nämlich Arbeit, gibt, leitet sich die Produktion aus dem Arbeitsmarktgeschehen ab. Im folgenden Kapitel wird von einem neoklassisch geprägten Arbeitsmarktmodell ausgegangen. Im Folgenden gelten die Annahmen der vollständigen Konkurrenz (→ Kap. 16.1) mit wenigen Ausnahmen, die Anpassungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt betreffen (→ Kap. 46.1.2). Wie viel Arbeitsleistung angeboten und nachgefragt wird, hängt in unserem Modell zunächst vom Reallohn w (wage) ab. Der Reallohn w setzt sich aus dem Verhältnis des Nominallohns W zum Preisniveau P zusammen: w . Unter W ist das durchschnittliche, nominale Lohnniveau einer Volkswirtschaft zu verstehen. Während der Nominallohn den Geldwert des Lohnes wiedergibt (z.B. 10 EUR), stellt der Reallohn den Lohn in Produkteinheiten dar (z.B. 0,5 Gütereinheiten bei einem Preisniveau von 20 EUR). Je höher das allgemeine Preisniveau in einer Volkswirtschaft ist, umso weniger Gütereinheiten kann sich ein Haushalt mit einem bestimmten Nominallohn kaufen. Lohnvereinbarungen finden in unserem Modell auf individueller Ebene statt. Es gibt mit anderen Worten z.B. keine kollektiven Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Branchentarifverhandlungen) bzw. zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber (Firmentarifverhandlungen). Diese Annahme ist für Deutschland allerdings nur mit Einschränkungen zutreffend: Etwa die Hälfte der abhängig Beschäftigten arbeiten in branchen- oder firmentarifgebundenen Unternehmen (S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2016f.). Eine weitere Modellannahme ist, dass die individuell ausgehandelten Löhne völlig flexibel sind. Somit wird nicht nur von tariflichen, sondern auch von gesetzlichen Mindestlöhnen abgesehen. Auch diese Annahme ist für Deutschland allerdings nicht gänzlich zutreffend, denn seit 2015 gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn (Stand 2017: 8,84 EUR/ Std.). Es wird von einem sinkenden Grenzprodukt der Arbeit (auch: Grenzertrag der Arbeit) ausgegangen. Das bedeutet: Je mehr Arbeitskräfte beschäftigt werden, umso geringer ist der Zuwachs an Output, den die Beschäftigung einer weiteren Arbeitskraft erzeugt. Anders ausgedrückt: Je höher die Produktionsmenge ist, umso mehr Arbeit <?page no="332"?> Modell der mittleren Frist 333 wird benötigt, um eine zusätzliche Gütereinheit zu produzieren. Mögliche Erklärungen f ü r dies e Annahme könnten se in,  dass die Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte mit steigender Arbeitszeit abnimmt,  dass bei steigender Arbeitsintensität (Verhältnis des Arbeitseinsatzes zum konstant gesetzten Kapitalstock) der Output je Arbeitseinheit sinkt, oder  dass zuerst die produktivsten Arbeitskräfte eingestellt werden und dass mit steigender Beschäftigung auf zunehmend weniger produktive Arbeitskräfte zurückgegriffen wird. Außerdem sei angenommen, dass der zu entrichtende Lohn der einzige Kostenfaktor der Unternehmen ist. Das Ziel der Unternehmen lautet Gewinnmaximierung. Folglich wird ein Unternehmen nur dann zusätzliche Arbeitsleistung nachfragen, wenn dadurch der Gewinn (= Erlös - Kosten) gesteigert wird. Das heißt, dass der Erlös durch eine zusätzliche Arbeitseinheit mindestens den Kosten für eine zusätzliche Arbeitseinheit entspricht. Je höher der zusätzliche Erlös (sog. Grenzerlös der Arbeit) c.p. ist, umso mehr Arbeitskräfte werden nachgefragt. Je geringer die zusätzlichen Kosten (sog. Grenzkosten der Arbeit) c.p. sind, umso mehr Arbeitsleistung wird nachgefragt. Steigen der Geldlohn und damit auch die Grenzkosten, sinkt folglich die Arbeitsnachfrage. Die Arbeitsnachfrage sinkt ebenfalls, wenn c.p. der Marktpreis und damit der zusätzliche Erlös des Unternehmens zurückgehen. Hebt man diese Verhaltensweisen auf die gesamtwirtschaftlich aggregierte Ebene und betrachtet das Lohnniveau (W) und das Preisniveau (P), dann folgt, dass die Arbeitsnachfrage bei sinkendem Reallohn steigt und bei steigendem Reallohn sinkt. Die Arbeitsnachfragekurve L d (labour demand) hat entsprechend eine negative Steigung (→ Abb. 45.1). Das Arbeitsangebot nimmt mit steigendem Reallohn zu. Der Kerngedanke dahinter ist, dass mit steigendem Reallohn die Opportunitätskosten der Freizeit ansteigen. Je höher der Reallohn ist, umso mehr Gütereinheiten „kostet“ eine Stunde Freizeit und umso weniger Freizeit wird „nachgefragt“. Ergo steigt das Arbeitsangebot. Die Arbeitsangebotskurve L s (labour supply) hat entsprechend eine positive Steigung (→ Abb. 45.1).  Aufgabe 35: Überlegen Sie! Man spricht von anomalem Arbeitsangebotsverhalten, wenn das Arbeitsangebot bei sinkendem Reallohn steigt oder bei steigendem Reallohn sinkt. Überlegen Sie für den Fall, dass es keine arbeitsmarktpolitische Regulierung und keine Sozialpolitik gäbe,  warum es plausibel ist, bei einem sehr niedrigen Reallohn von anomalem Angebotsverhalten bei sinkendem Reallohn auszugehen,  welche Gründe dazu führen könnten, dass es auch bei einem sehr hohen Reallohn zu anomalem Angebotsverhalten kommt, sobald der Reallohn steigt. <?page no="333"?> 334 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 45.1: Arbeitsmarkt In → Abb. 45.1 ist der aggregierte Arbeitsmarkt einer Volkswirtschaft dargestellt, also die aggregierte Arbeitsnachfrage aller Unternehmen und das aggregierte Arbeitsangebot der gesamten Erwerbsbevölkerung. Der durchschnittliche Reallohn w * wird als Gleichgewichtslohn bezeichnet, da zu diesem Reallohn genau so viel Arbeit nachgefragt wie angeboten wird. Somit herrscht Arbeitsmarktgleichgewicht. Und auch wenn nicht jede Erwerbsperson eine Anstellung innehat, so wird die bei w * eingesetzte Arbeitsmenge als Vollbeschäftigung erachtet. Jede erwerbsfähige Person, die bereit ist, zu dem herrschenden Reallohn zu arbeiten, ist tatsächlich auch beschäftigt. Die übrigen Arbeitsuchenden gelten als freiwillig arbeitslos (→ Kap. 10.1.1). Entsprechend zählen Unternehmen, die nicht bereit sind, den herrschenden Lohn w * zu bezahlen, als freiwillig unterbesetzt. Läge der Reallohn über dem Gleichgewichtslohn, bspw. w 2 , so würde mehr Arbeit angeboten als nachgefragt. Es läge ein Angebotsüberschuss, d.h. unfreiwillige Arbeitslosigkeit, vor. Es gibt unfreiwillig Arbeitslose, die bereit sind, zu einem geringeren Lohn als dem herrschenden Lohn zu arbeiten. Diese drücken den Durchschnittslohn nach unten, woraufhin die Unternehmen mehr Arbeit nachfragen. Am Ende wird wieder Vollbeschäftigung (L*) erreicht. Bei einem Reallohn w 1 , der unter dem Gleichgewichtslohn liegt, dreht sich diese Argumentation: Der Arbeitsnachfrageüberschuss würde zu höheren Löhnen führen, da die Unternehmen um die Arbeitnehmer konkurrieren. Das Arbeitsangebot würde zu- und die Arbeitsnachfrage solange abnehmen, bis wieder Arbeitsmarktgleichgewicht herrscht (w* und L*). Das bei „neoklassischer“ Vollbeschäftigung realisierte Produktionsniveau wird als „natürliche“ Produktion bezeichnet. Sie entspricht in der Praxis in etwa dem BIP bei Normalauslastung, also dem Produktionspotenzial (→ Kap. 15.3). Im Modell der mittleren Frist ist das Produktionspotenzial konstant, während es langfristig zunehmen kann, etwa durch einen wachsenden Bestand an verfügbaren Produktionsfaktoren oder durch technischen Fortschritt. Reallohn w Arbeitsmenge L L* Vollbeschäftigung Arbeitsangebot L s Arbeitsnachfrage L d w 2 w 1 w * <?page no="334"?> Modell der mittleren Frist 335  Aufgabe 36: Überlegen Sie! Welche Auswirkungen hätte ein Anstieg der allgemeinen Arbeitsproduktivität auf mittlere Sicht auf die Arbeitsnachfrage, das Reallohniveau und schließlich auf die natürliche Beschäftigung und Produktion? Mittelfristig herrscht Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt. Das Arbeitsangebot L s stimmt dann mit der Arbeitsnachfrage L d überein, wenn die realen Grenzkosten des Unternehmens - der Reallohn - dem Grenzprodukt der Arbeit entsprechen. Dann hat sich mit anderen Worten ein Reallohn eingependelt, bei dem L s =L d . Es herrscht Vollbeschäftigung im neoklassischen Sinn (→ Kap. 10.1.1). Die dort realisierte Produktion nennt man die natürliche Produktion, also das BIP bei Normalauslastung (Produktionspotenzial). Flexibles Preisniveau 45.2 In der kurzen Frist (IS-LM-Modell) wurde das Preisniveau als konstant angenommen. Diese Annahme wird in der mittleren Frist fallengelassen. Es wird hier angenommen, dass das Preisniveau von den gesamtwirtschaftlichen Stückkosten abhängt. Wie bereits erwähnt, ist der Lohn in unserem Modell der einzige (variable) Kostenfaktor. Daraus folgt, dass das Preisniveau vom Lohnniveau abhängt. Steigt (fällt) der Geldlohn, steigt (bzw. fällt) auch das Preisniveau. Der Geldlohn ist das Ergebnis individueller Lohnverhandlungen zwischen Arbeitskraft (Arbeitsanbieter) und Arbeitgeber (Arbeitsnachfrager). Somit spielt der Arbeitsmarkt eine tragende Rolle bei Änderungen des Preisniveaus. Weiter unten wird anhand des sog. AS-AD-Modells (→ Kap. 46) beschrieben, wie es zu Änderungen des Geldlohns kommen kann und wie sich die daraufhin eintretenden Preisniveauänderungen auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auswirken, wenn die Interdependenz der gesamtwirtschaftlichen Märkte berücksichtigt wird. Zunächst jedoch werden die Wirkungen von Änderungen des Preisniveaus isoliert betrachtet, d.h. es wird beschrieben, wie sich c.p. ein Anstieg oder Rückgang des Preisniveaus kurzfristig nur auf das Gleichgewicht des jeweils betrachteten Markts auswirkt. Preisniveauänderungen und der Arbeitsmarkt 45.2.1 Ein Anstieg des Preisniveaus ist c.p. gleichbedeutend mit einem Rückgang des Reallohns. Daraufhin steigt die Arbeitsnachfrage und das Arbeitsangebot sinkt. Folglich entsteht ein Nachfrageüberschuss auf dem Arbeitsmarkt. Es herrscht ein Arbeitskräftemangel. Wenn das Preisniveau hingegen sinkt, steigt der Reallohn. Dies führt zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage der Unternehmen und zu einem Anstieg des Arbeitsangebots. Folglich entsteht ein Angebotsüberschuss, d.h. es herrscht unfreiwillige Arbeitslosigkeit. <?page no="335"?> 336 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Preisniveauänderungen und der Geldmarkt 45.2.2 Ein Anstieg des Preisniveaus ist gleichbedeutend mit einem Rückgang des realen Geldangebots (M s / P). Die reale Geldnachfrage bleibt hingegen unverändert, da diese in unserem Modell einzig vom Realeinkommen und vom Zinssatz abhängt (→ Kap. 44.4.1). Folglich herrscht nach der Preisniveauerhöhung ein Geldangebotsdefizit. Umgekehrt führt ein Rückgang des Preisniveaus zu einem Geldangebotsüberschuss. Alternativ lässt sich das Geldmarktungleichgewicht nach einer Preisniveauänderung auch über nominale Größen herleiten. Steigt z.B. das Preisniveau, wird mehr Geld zur Tätigung der Transaktionen (Güter- und Einkommenszahlungen) benötigt. Also steigt die nominale Geldnachfrage, während das nominale Geldangebot unverändert bleibt. Ergebnis ist ein Geldnachfrageüberschuss (= Geldangebotsdefizit). Preisniveauänderungen und der Gütermarkt 45.2.3 Änderungen des Preisniveaus haben in aller Regel keinen Einfluss auf die Güternachfrage (D), da diese zuvorderst von anderen Variablen (z.B. Realeinkommen, Zins, Staatsnachfrage) abhängt (→ Kap. 44.1). Beachte den Unterschied zur Mikroökonomie! Wenn lediglich der Markt für ein Gut (z.B. Eiscreme) betrachtet wird, führt etwa ein Anstieg des Eiscremepreises zu einem Rückgang der Eiscremenachfrage. Ursächlich hierfür ist zum einen der Substitutionseffekt (von Eiscreme wird z.B. auf Wassereis umgestiegen). Zum anderen kommt der Einkommenseffekt hinzu. Damit ist stark vereinfacht gemeint, dass bei gegebenem Konsumbzw. Eiscremebudget (z.B. 10 EUR/ Woche) nun schlichtweg weniger Eiscreme gekauft werden kann. Steigt jedoch das gesamtwirtschaftliche Preisniveau, gibt es zumindest in einer geschlossenen Volkswirtschaft keine Substitutionsmöglichkeiten und somit auch keinen Substitutionseffekt (in offenen Volkswirtschaften wird ggf. durch ausländische Güter substituiert). Einen gesamtwirtschaftlichen Einkommenseffekt gibt es in unserem Modell ebenso wenig, da das nominale BIP c.p. proportional zum Preisniveau steigt (zu den Verteilungswirkungen siehe → Kap. 20.5). Es ist jedoch denkbar, dass Preisniveauänderungen mittelbar über die Erwartungen (E), die in unserem Modell eine Teilvariable der Sammelvariable V sind, Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage haben. Dies wäre etwa der Fall, wenn ein sinkendes Preisniveau bei vielen Wirtschaftssubjekten zu einem Abwarten auf weiter sinkende Preise (Attentismus, → Kap. 20.7.3.1) führt und daher die gesamtwirtschaftliche Nachfrageneigung zurückginge. Allerdings wird in Standardmodellen von dem Phänomen des Attentismus üblicherweise abgesehen, zumal er in der Praxis relativ selten vorkommt. Ähnlich wird auch hier verfahren, indem lediglich in einem Randkapitel (→ Kap. 50.1) auf seine Implikationen für unser Modell eingegangen wird. Kurzum bleibt es bei der Annahme, dass sich Änderungen des Preisniveaus nicht direkt auf das Gütermarktgleichgewicht auswirken. <?page no="336"?> Modell der mittleren Frist 337 Kurze und mittlere Frist: Zwischenfazit 45.3 Kurzfristig wird die Produktion durch das simultane Gleichgewicht auf dem Geld- und Gütermarkt bestimmt. Das gesamtwirtschaftliche Güterangebot entspricht der Güternachfrage. Das liegt an der Annahme, dass sich die Produktion/ das Einkommen kurzfristig der Güternachfrage anpasst. Mittelfristig wird die Produktion durch das Arbeitsmarktgleichgewicht bestimmt. Dort wird über die Menge an eingesetzter Arbeitskraft entschieden. Bei gegebener Produktivität lässt sich von der gleichgewichtigen Arbeitsmenge auf die mittelfristige Produktion schließen, die natürliche Produktion. Sie ist mittelfristig konstant. Bringt man die zwei Fristen zusammen, dann folgt daraus: Die Produktion ist mittelfristig konstant, aber kurzfristig kann es zu Abweichungen von der natürlichen Produktion kommen. Dieses Bild lässt sich für einen längerfristigen Zeitraum anhand der Wachstumsraten des Produktionspotenzials (mittlere Frist) und des BIP (kurze Frist) erkennen (→ Abb. 45.2). Quellen: SVR, 2016, S. 125; S TATISTISCHES B UNDESAMT , 2017a, S. 10. Abb. 45.2: Potenzial- und BIP-Wachstum Deutschlands (in %) Nun stellt sich die Frage, wie die Produktion nach kurzfristigen Schwankungen zur mittelfristig konstanten natürlichen Produktion zurückkehrt. Eine Antwort darauf gibt das AS-AD-Modell, das zugleich auch Preisniveauschwankungen erklärt. -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Produktionspotenzial BIP <?page no="337"?> 338 Einfaches makroökonomisches Totalmodell 46 AS-AD-Modell Das AS-AD-Modell erklärt den Übergang von der kurzen zur mittleren Frist und zeigt u.a. auf, wie Abweichungen von der Normalauslastung mit einer schwankenden Inflationsrate einhergehen. In Lehrbüchern wird das AS-AD-Modell unterschiedlich dargestellt. Die Ergebnisse sind zwar im Wesentlichen die Gleichen, aber die getroffenen Annahmen variieren je nach Lehrbuch. Die Unterschiede betreffen vor allem die Modellierung des Arbeitsmarktes und des Lohnfindungsprozesses. AS-Kurve 46.1 Die AS-Kurve bildet ab, wie das Preisniveau auf Produktions- und Beschäftigungsschwankungen reagiert. Je nach zeitlichem Bezug betrachtet man die kurzfristige aggregierte Angebotskurve SRAS (Short-Run Aggregate Supply) oder die langfristige Angebotskurve LRAS (Long-Run Aggregate Supply), deren Kurvenverläufe sich unterscheiden. Die LRAS-Kurve verläuft senkrecht (→ Kap. 48), während die SRAS-Kurve eine positive Steigung aufweist. Zunächst wird der Verlauf der SRAS-Kurve erklärt. Die mittlerweile übliche Einteilung der Modelle in eine kurze, mittlere und lange Frist kann spätestens dann Verwirrung stiften, wenn die Bezeichnungen SRAS und LRAS eingeführt werden. Das liegt daran, dass bei der Bezeichnung von AS andere Fristen gemeint sind als bei IS-LM bzw. dem Arbeitsmarktgleichgewicht mit mittelfristig konstanter Produktion/ Beschäftigung. Dieses Lehrbuch verwendet die Begriffe SRAS und LRAS, wie sie auch von der Mehrzahl der Autoren definiert werden. LRAS entspricht dem Modell der mittleren Frist und SRAS greift den Übergang vom Modell der kurzen Frist zum Modell der mittleren Frist auf. (In der Literatur findet sich gelegentlich auch der Begriff Mid-Run Aggregate Supply - MRAS -, womit meistens unsere SRAS, manchmal aber auch unsere LRAS gemeint ist.) Herleitung der SRAS-Kurve 46.1.1 Wie gesagt, darf die kurze Frist (short run), auf die sich die Bezeichnung der SRAS- Kurve bezieht, nicht mit dem Modell der kurzen Frist aus → Kap. 44 (IS-LM-Modell) verwechselt werden. Dort ging es um kurzfristige Anpassungsprozesse auf dem Güter- und Geldmarkt (einschließlich Finanzmarkt) bei konstantem Preisniveau. Bei der SRAS-Kurve geht es hingegen um Lohnanpassungen auf dem Arbeitsmarkt, die durch Veränderungen des kurzfristigen Gütermarktgleichgewichts ausgelöst werden. Man könnte die bei der SRAS-Kurve betrachtete Frist demnach eher als „Interimsfrist“, als „kurze Frist plus“ oder Ähnliches bezeichnen, sprich den Übergangszeitraum zwischen der kurzen und der mittleren Frist. Vereinfachend wird hier dennoch von kurzfristigen Arbeitsmarktanpassungen gesprochen. Die SRAS-Kurve stellt somit dar, wie das lohnbestimmte Preisniveau in der Interimsfrist reagiert, wenn die Produktion steigt oder fällt. Die SRAS-Kurve wird in einem Y-P-Diagramm dargestellt (→ Abb. 46.1). Ihr Verlauf ist eng mit der kurzfristigen <?page no="338"?> AS-AD-Modell 339 Arbeitsnachfrage verknüpft. Um kurzfristig mehr zu produzieren, müssen die Unterne h m en meh r Arbeit sk räft e ei nst ell en . Di es gel in gt i hn en nu r, wen n sie i n e in em er sten Schritt höhere Löhne (W) zahlen, da die Arbeitskräfte nur dann bereit sind, mehr zu arbeiten, wenn der Reallohn (w = W/ P) steigt. Ein höherer Lohn bedeutet jedoch, dass die Grenzkosten der Unternehmen steigen, woraufhin diese in einem zweiten Schritt die Preise erhöhen. Ergo steigt mit steigender Produktion/ Beschäftigung das Preisniveau. Nun sei angenommen, dass gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht herrscht. Das heißt, dass alle Märkte (Güter-, Geld-, Finanz- und Arbeitsmarkt) im Gleichgewicht sind. Entsprechend ist die Produktion gleich der natürlichen Produktion (Produktionspotenzial (Y pot )). Wenn nun die Güternachfrage steigt, etwa weil der Staat die Steuern senkt, dann planen die Unternehmen ein höheres Güterangebot, um die gestiegene Güternachfrage befriedigen zu können. Dazu benötigen die Unternehmen mehr Arbeitskräfte, d.h. die Arbeitsnachfrage steigt. Die Unternehmen müssen jedoch die Geldlöhne erhöhen, um mehr Arbeitskräfte zu gewinnen. Das gesamtwirtschaftliche Lohnniveau (W) steigt. Die höheren Lohnkosten werden seitens des Unternehmenssektors durch höhere Preise kompensiert, so dass sich Grenzerlös und Grenzkosten der Unternehmen wieder entsprechen. Sprich: Steigt die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage, dann steigen die Produktion sowie die Geldlöhne und folgend auch das Preisniveau. Es herrscht Überbeschäftigung (Y > Y pot ) und das Preisniveau ist gestiegen. (In der Praxis wäre die Inflationsrate gestiegen.)   Aufgabe 37: Überlegen Sie! Welche Wirkungen kommen zum Tragen, wenn zunächst gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht herrscht und dann die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage sinkt? <?page no="339"?> 340 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 46.1: SRAS und LRAS Rechts von der Y pot -Linie herrscht Überbeschäftigung, links von ihr Unterbeschäftigung.  Produktionspotenzial. Bei Y pot herrscht mittelfristiges Arbeitsmarktgleichgewicht.  Überbeschäftigung (positive Output-Lücke). Rechts von der natürlichen Produktion (Vollbeschäftigung), also bei einem Produktionslevel über dem natürlichen Niveau, steigt der Geldlohn und damit das Preisniveau.  Unterbeschäftigung (negative Output-Lücke). Links von der natürlichen Produktion liegt die Produktion und die Beschäftigung unter ihrem Vollbeschäftigungsniveau. Es herrscht unfreiwillige Arbeitslosigkeit, der Geldlohn sinkt und in Folge sinkt auch das Preisniveau. Die SRAS-Kurve erinnert nicht zufällig an die kurzfristig fallende Phillipskurve (→ Kap. 31.3), denn der zugrundeliegende Beschäftigungs-Lohn-Preis-Zusammenhang ist der Gleiche. (Bei der Phillipskurve ist an der Abszisse die Arbeitslosenquote abgetragen, die sich entgegengesetzt zur Produktion/ Beschäftigung verhält.) Y P SRAS LRAS Y pot Unterbeschäftigung Überbeschäftigung <?page no="340"?> AS-AD-Modell 341  Wissensbox 42: Vollbeschäftigungs- und Inflationskorridor Die dargestellte SRAS-Kurve lässt sich in drei Bereiche unterteilen, wenn sie mit dem praxisnäheren Ansatz eines Vollbeschäftigungskorridors (→ Kap. 11.2.5) verküpft wird. Der graue Bereich deutet an, dass sich in der Praxis nicht ohne Weiteres eine bestimmte Beschäftigungsquote (bzw. Arbeitslosenquote) als Vollbeschäftigung definieren lässt, sondern eher ein Korridor, innerhalb dessen von Vollbeschäftigung gesprochen werden könnte. Das gleiche gilt für die Frage, bei welcher Inflationsrate und Schwankungsbreite in der Praxis Preisniveaustabilität herrscht (→ Kap. 22.1). Es gibt mit anderen Worten nicht die eine Arbeitslosenquote und das eine Preisniveau, bei dem gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht (gGG) herrscht. Quelle: in Anlehnung an G OODWIN , 2014, S. 295. Abb. 46.2: SRAS mit Zielkorridoren Verschiebungen der SRAS-Kurve 46.1.2 Bei der Herleitung der SRAS-Kurve wurde erklärt, warum ein Produktionsanstieg einen einmaligen Anstieg des Preisniveaus zur Folge hat. Grund war die kurzfristig gestiegene Nachfrage nach Arbeit und die damit einhergehenden Nominallohnerhöhungen. Es wurde jedoch noch nicht thematisiert, dass von der zunächst einmaligen Preiserhöhung wiederum Wirkungen auf die Nominallöhne ausgehen. Dazu kommt es, Y P gGG konjunkturelle Arbeitslosigkeit Lohn-Preis- Spirale Kapazitätsmaximum SRAS <?page no="341"?> 342 Einfaches makroökonomisches Totalmodell weil der Anstieg des Preisniveaus einen Rückgang des Reallohns impliziert, den die Arbeitskräfte mit zeitlicher Verzögerung wahrnehmen (siehe unten) und auf den sie mit Lohnerhöhungsforderungen zum Inflationsausgleich reagieren. Die Unternehmen kommen diesen Forderungen nach, da sie ansonsten ihr Produktionsniveau nicht aufrechterhalten können. Die gestiegenen Geldlöhne - und damit gestiegene Grenzkosten - veranlassen die Unternehmen wiederum dazu, die Preise zu erhöhen. Das bedeutet, dass das Preisniveau nun bei gegebener Produktion steigt. Die SRAS-Kurve verschiebt sich nach oben (→ Abb. 46.3, SRAS‘). Umgekehrt geht nach einem Produktionsrückgang zunächst das Preisniveau zurück, weil die Arbeitsnachfrage und damit auch die Löhne sowie die Lohnkosten gesunken sind. Dies spiegelt sich in einer Bewegung entlang der SRAS-Kurve nach links wider. Dieser verzögert wahrgenommene Rückgang des Preisniveaus - d.h. der erst mit Verzögerung erkannte Anstieg des Reallohns - veranlasst die Haushalte dazu, mehr Arbeit anzubieten. Die Arbeitskräfte konkurrieren den Lohn nach unten, woraufhin die Lohnkosten sinken. Dies bewegt die auf dem Gütermarkt konkurrierenden Unternehmen dazu, ihre Preise erneut zu senken. Das Preisniveau sinkt also bei gegebenem Produktionsniveau. Die SRAS-Kurve verschiebt sich nach unten (→ Abb. 46.3; SRAS‘‘). Zusammenfassend führt ein Produktionsanstieg zuerst zu einer Bewegung entlang der SRAS-Kurve und dann zu einer zeitlich verzögerten Verschiebung der SRAS-Kurve. Diese Zeitfolge lässt sich durch Wirkungsverzögerungen auf dem Arbeitsmarkt erklären. Dabei wird - wie oben (→ Kap. 45.1) geschildert - von einem neoklassisch geprägten Arbeitsmarkt ausgegangen, der jedoch in entscheidenden Annahmen vom Modell der vollständigen Konkurrenz (→ Kap. 16.1.1) abweicht: Anpassungsprozesse beanspruchen Zeit (statt unendliche Anpassungsgeschwindigkeit) und die Wirtschaftssubjekte sind nicht vollständig über das aktuelle Preisniveau informiert (statt völlige Markttransparenz). Wirkungsverzögerungen auf dem Arbeitsmarkt Die unvollständige Transparenz hinsichtlich des Preisniveaus führt zu verzögertem Arbeitsangebotsverhalten. Die Arbeitskräfte sind in unserem Modell grundsätzlich frei von Geldillusion, d.h. sie sind an der Kaufkraft des Lohnes (dem Reallohn) interessiert. Somit lassen sie sich z.B. nicht durch hohe nominale Lohnzuwächse blenden, sobald sie merken, dass das Preisniveau um mehr als der nominale Lohn gestiegen ist. Allerdings benötigen die Haushalte Zeit, um alle Preise zu erfassen und auf etwaige Preisniveauänderungen (sprich: Reallohnänderungen) mit einer Anpassung ihres Arbeitsangebotsverhaltens zu reagieren. Da sie das aktuelle Preisniveau nicht kennen, orientieren sie sich somit bei der Berechnung ihres Reallohns und ihrem Arbeitsangebotsverhalten an einem zurückliegenden Preisniveau. Diese Annahmen über das Arbeitsangebotsverhalten werden auch als Worker-misperception-Theorie („Arbeiter- Fehlwahrnehmung“). Die unvollständige Information über das Preisniveau hat hingegen keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Arbeitsnachfrage. Die Unternehmen orientieren sich bei ihrer Arbeitsnachfrage an ihrem Gewinn, der sich aus der Differenz zwischen ihrem Erlös und ihren Kosten ergibt. Unter der o.g. Annahme, dass das Grenzprodukt der Arbeit mit zunehmender Produktionsmenge sinkt, steigt der Gewinn eines Unternehmens solange, wie die Grenzkosten niedriger sind als der Grenzerlös. Die Grenzkosten hän- <?page no="342"?> AS-AD-Modell 343 gen in unserem Modell (mit nur einem Kostenfaktor) von den benötigten Arbeitsstunde n un d vom Geld lo hn a b, u nd nic ht v om g esa mtwir tscha ftlichen P re isn ivea u. Der Grenzerlös eines Unternehmens hängt vom Marktpreis seines Produkts ab, also auch nicht vom gesamtwirtschaftlichen Preisniveau.  Beispiel 34: Beispiel für ein verzögertes Arbeitsanbieterverhalten und eine Preis- Lohn-Spirale Es sei angenommen, dass das aktuelle Preisniveau den Arbeitskräften erst mit zeitlicher Verzögerung bekannt wird. Die Arbeitskraft X ist zur Arbeitsaufnahme bereit, wenn sie einen Reallohn von mind. 0,5 (w) erhält. Im Januar 2016 liegt der Lohn bei 10 EUR/ Std. (W). X kennt das Preisniveau des Jahres 2015 von 20 EUR (P) und willigt ein, für 10 EUR/ Std. (W) zu arbeiten. Im Januar 2016 steigt das Preisniveau allerdings auf 25 EUR (P). Der Reallohn (W/ P) beträgt also nur noch 0,4. Da die Arbeitskraft X diesen Preisniveauanstieg erst nicht realisiert, ist sie dennoch weiterhin bereit zu arbeiten. Sobald der zwischenzeitliche Preisniveauanstieg der Arbeitskraft im April 2016 bekannt wird, ist sie indes nicht mehr bereit, Arbeit anzubieten. Wollte ihr Arbeitgeber sie weiterbeschäftigen, müsste er ab Mai 2016 einen Lohn von 12,50 EUR (W) bezahlen. Damit steigen die Lohnkosten um 25 % und das Unternehmen erhöht c.p. den Preis um 25 %. Überträgt man dieses Beispiel auf alle Beschäftigungsverhältnisse, steigt das gesamtwirtschaftliche Preisniveau im Mai 2016 um 25 % gegenüber April 2016. Es beträgt nun 31,25 EUR. Der Reallohn ist erneut auf 0,4 gesunken, was mit ca. viermonatiger Verzögerung wiederholt zu Lohn- und Preiserhöhungen führt. (Das Beispiel ist stark vereinfacht.) Wenn aber z.B. jeder Anstieg des Preisniveaus mit zeitlicher Verzögerung zu Geldlohnerhöhungen und damit wiederum zu einem Preisniveauanstieg führt (siehe auch → Beispiel 34), müsste es dann nicht zu einer schier unendlichen Lohn-Preis-Spirale kommen? Dem ist nicht so, weil sich ein Anstieg des Preisniveaus parallel auf den Geldmarkt auswirkt (→ Kap. 44.4). Dort kommt es zu einem Geldnachfrageüberschuss, woraufhin der Zinssatz steigt, was sich wiederum dämpfend auf die Güternachfrage auswirkt, woraufhin die Unternehmen ihr Güterangebot reduzieren. (Dieser Preis-Produktions-Zusammenhang wird anhand der AD-Kurve weiter unten nochmals erläutert → Kap. 46.2). Eine reduzierte Produktion impliziert eine sinkende Arbeitsnachfrage, welche die Geldlohnentwicklung bremst. Insoweit gehen durch die Einbeziehung des Geld- und Gütermarkts zwei gegenläufige Lohneffekte von einem Anstieg des Preisniveaus aus: Zum einen steigt der Lohn direkt durch den Inflationsausgleich, zum anderen sinkt der Lohn indirekt durch die geschrumpfte Güternachfrage. Die Preis-Lohn-Spirale hält an, solange der direkte Lohneffekt (W↑) größer als der indirekte Lohneffekt (W↓) ist. Sobald sich die zwei Effekte neutralisieren, endet der inflationäre Prozess. Es sei vorweggenommen, dass dies dann der Fall ist, wenn die Produktion der natürlichen Produktion entspricht. Die Begründung findet sich in → Kap. 47.2.1. <?page no="343"?> 344 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 46.3: Verschiebungen der SRAS-Kurve Wie gesagt, impliziert mittelfristiges Arbeitsmarktgleichgewicht c.p. ein ganz bestimmtes Produktionsniveau - die natürliche Produktion. Die dazu gehörende Beschäftigung nennt man natürliche Beschäftigung und die korrespondierende Arbeitslosenquote ist die natürliche Arbeitslosenquote (→ Kap. 10.1.2 u. 11.2.4 u. 37.2). Nun wird das mittelfristige Arbeitsmarktgleichgewicht in der Neoklassik bekanntlich auch als Vollbeschäftigung bezeichnet (→ Kap. 10.1.1). In der Realität gibt es hier indes durchaus auch unfreiwillige Arbeitslosigkeit, nämlich friktionelle und saisonale Arbeitslosigkeit, ein gewisses Maß an Mismatch-Arbeitslosigkeit sowie institutionell bedingte Arbeitslosigkeit (→ Kap. 10.2). Die Summe aus unvermeidbarer und institutioneller Arbeitslosigkeit ist somit das, was unter natürlicher Arbeitslosigkeit zu verstehen ist. Da institutionelle Arbeitslosigkeit nicht „naturgegeben“ ist, ist der Begriff der „natürlichen“ Arbeitslosigkeit ein wenig irreführend. Die Ausführungen zu den Lohn-Preis-Effekten machen einmal mehr deutlich, warum stattdessen in der Praxis bevorzugt von der inflationsstabilen Arbeitslosenquote (NAIRU) (→ Kap. 10.1.2) gesprochen wird.   Aufgabe 38: Überlegen Sie! Wenn man die soeben skizzierte Wirkungskette weiterverfolgt, müsste es auf den ersten Blick in Folge einer nachfragebedingten Produktionssenkung zu unentwegten sich selbst verstärkenden Lohn-, Kosten- und Preissenkungen in der Volkswirtschaft kommen. a) Überlegen Sie, warum dem so wäre! b) Tatsächlich ist dem aber nicht so, weil die jeweiligen Preisniveausenkungen gewisse Effekte auf den Geld- und Finanzmarkt und somit den Zinssatz ausüben. b1) Wie reagiert der Zins? Y P SRAS Y pot P P SRAS` SRAS`` LRAS <?page no="344"?> AS-AD-Modell 345 b2) Diese Zinsreaktion führt wiederum zu Anpassungsprozessen auf dem Gütermarkt. Zu welchen? b3) Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Arbeitsnachfrage. Welche sind dies und welcher indirekte Effekt folgt daraus für die Geldlohnentwicklung? AD-Kurve 46.2 Die Kurve der aggregierten Nachfrage (aggregate demand) leitet sich aus den Gleichgewichten des Güter- und Geldmarkts her (IS-LM-Modell) und setzt diese nun in einen Bezug zum nunmehr variablem Preisniveau P. Preisniveauänderungen haben zunächst Auswirkungen auf das reale Geldangebot und via Zinsänderungen auch auf den gesamtwirtschaftlichen Gütermarkt. Herleitung der AD-Kurve 46.2.1 Die AD-Kurve stellt die simultanen Gleichgewichte auf Güter-, Geld- und Finanzmarkt bei unterschiedlichen Preisniveaus dar. Betrachtet werden also wiederum die gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichte, die im IS-LM-Modell hergeleitet wurden, diesmal jedoch unter ausdrücklicher Berücksichtigung sich ändernder Preisniveaus. Es wird an die Nachfragegleichungen am Gütermarkt D D i, Y, V G und am Geldmarkt erinnert M / P Y ⋅ k i sowie an das IS-LM-Gleichgewichtsmodell (→ Kap. 44.6), das die Märkte verknüpft und zu einer bestimmten Zins-Einkommens-Kombination führt, bei der beide Märkte gleichzeitig im Gleichgewicht sind. Steigen die Preise, dann möchten die Wirtschaftssubjekte mehr Kasse halten, um ihre geplanten Ausgaben tätigen zu können. Der Anstieg der nominalen Geldnachfrage ist proportional zum Anstieg des Preisniveaus, d.h. die reale Geldnachfrage (M d / P) bleibt konstant. Das reale Geldangebot (M s / P) ist hingegen gesunken. Herrschte zuvor ein Geldmarktgleichgewicht, herrscht nun ein Geldnachfrageüberschuss. Dies bewegt die Wirtschaftssubjekte dazu, Wertpapiere anzubieten, woraufhin der Wertpapierkurs so lange fällt, bis der parallel gestiegene Zinssatz die reale Geldnachfrage so stark hat sinken lassen, dass wieder Geldmarktgleichgewicht herrscht. Die LM-Kurve verschiebt sich nach links (→ Abb. 46.4). Im IS-LM-Modell kommt es nach der LM- Verschiebung auch zu einem neuen simultanen Gleichgewicht (Punkt B) auf Geld- und Gütermarkt. Denn der steigende Zinssatz bewirkt einen Rückgang der Güternachfrage, worauf sich die Produktion anpasst und sinkt (i ↑ ⇨ D ↓ ⇨ Y ↓). <?page no="345"?> 346 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 46.4: Preisniveauänderungen im IS-LM-Modell Aus den Preisniveauänderungen ergeben sich damit im IS-LM-Modell neue Gleichgewichtspunkte, sprich: Zins-Einkommens-Kombinationen, bei denen der Güterbzw. Geldmarkt im Gleichgewicht ist. Je höher das Preisniveau steigt, umso niedriger ist c.p. das Gleichgewichtseinkommen, also diejenige Produktion, bei dem Geld- und Gütermarkt im Gleichgewicht sind. Anders ausgedrückt: Mit steigendem Preisniveau sinkt die gleichgewichte Produktion und bei sinkendem Preisniveau steigt sie. Die AD-Kurve bildet diesen Zusammenhang ab. Ihre grafische Herleitung ist in → Abb. 46.5 dargestellt: Für ein gegebenes Preisniveau ergeben sich eine ursprüngliche IS- und LM-Kurve, die zu einem Gleichgewicht bei einem Zinssatz i 0 und einer Produktion Y 0 führen, bei denen sowohl der Güterals auch der Geldmarkt im Gleichgewicht sind. Steigt das Preisniveau in einer Volkswirtschaft, verschiebt sich die LM-Kurve nach links und es ergeben sich neue Gleichgewichtspunkte, bspw. i 1 und Y 1 , zu dem dann vorherrschenden Preisniveau, welches über dem anfänglichen Preisniveau liegt. Sinkt hingegen das Preisniveau in einer Volkswirtschaft, verschiebt sich die LM-Kurve nach rechts und es ergeben sich andere, neue Gleichgewichtspunkte, bspw. i 2 und Y 2 . Die AD-Kurve hat einen fallenden Verlauf. Sie stellt für verschiedene Preisniveaus das Einkommen bei kurzfristigem simultanen Geld-, Finanz- und Gütermarktgleichgewicht dar. LM` M/ P i M d / P M s / P M s` / P i 1 i 0 M/ P 0 M/ P 1 A B Y i LM IS LM` Y 0 Y 1 i 1 i 0 A B Y i LM IS Y 0 Y 1 i 1 i 0 A B M/ P i M d / P M s` / P M s / P i 0 i 1 M/ P 1 M/ P 0 B A P P <?page no="346"?> AS-AD-Modell 347 Abb. 46.5: Herleitung der AD-Kurve Verschiebungen der AD-Kurve 46.2.2 Ändert sich das Preisniveau, bewegt man sich auf der AD-Kurve hin zu einem neuen Gleichgewichtseinkommen. Alle anderen Änderungen, die eine Verschiebung der IS- oder LM-Kurve bewirken, führen zu einer Verlagerung der AD-Kurve. Verschiebt sich die IS-Kurve nach rechts, weil ein zins- und einkommensunabhängiger Anstieg der Nachfrage zu verzeichnen ist, dann verschiebt sich auch die AD-Kurve nach rechts. Gleiches gilt für eine Rechtsverschiebung der LM-Kurve, bspw. beruhend auf einer expansiven Geldpolitik. Nachfragemindernde Aktivitäten, die die IS- oder die LM-Kurve nach links bewegen, verschieben die AD-Kurve nach links. Y i LM IS LM` Y 0 Y 1 i 1 i 0 A B AD LM`` Y 2 i 2 C P P A B C Y P P P <?page no="347"?> 348 Einfaches makroökonomisches Totalmodell  Aufgabe 39: Erklären Sie! Versuchen Sie mithilfe der folgenden Abbildung die Auswirkungen einer Verschiebung der IS- oder LM-Kurve nachzuvollziehen. Überlegen Sie sich zunächst zu einem fixen Preisniveau P 0 , wie sich exogene Änderungen des Geldangebots, des Kassenhaltungskoeffizienten, der Transfers und der Konjunkturerwartungen jeweils auf die ISbzw. LM-Kurve auswirken. Wass passiert in der Folge mit der AD-Kurve? Zeichnen Sie die entsprechenden Änderungen ein: Y i LM IS Y 0 i 0 A AD A Y P P 0 <?page no="348"?> Zusammenführung von AS und AD 349 47 Zusammenführung von AS und AD Das AS-AD-Modell führt AS und AD zusammen. Mit ihm ist man in der Lage, zu erklären, warum die Produktion zwar kurzfristig vom Produktionspotenzial abweichen kann, aber mittelfristig stets auf das Niveau des natürlichen Produktionsniveaus zurückkehrt. Das resultierende AS-AD-Modell ist vielseitig einsetzbar und ein oft genutztes Standardmodell zur Erklärung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge. Es ist der Schule der neoklassischen Synthese zuzuordnen. Zur Erinnerung: Während die SRAS-Kurve aufgezeigt hat, welche Auswirkungen eine Ausweitung der Produktion auf das Preisniveau hat, stellte die AD-Kurve dar, welche Effekte von einer Preisniveauänderung kurzfristig auf die Produktion ausgehen. Der Verlauf und Verschiebungen der SRAS-Kurve sind durch das kurzbis mittelfristige Arbeitsmarktgeschehen erklärbar. Die AD-Kurve und etwaige Verschiebungen lassen sich durch Prozesse auf dem Geld-, Finanz- und Gütermarkt erklären. Abb. 47.1: AS-AD-Modell In → Abb. 47.1 ist das Preisniveau P 0 dargestellt, das sich ergibt, wenn der Arbeitsmarkt im Gleichgewicht ist. Dort herrscht Vollbeschäftigung und das Güter- und Geldmarktgleichgewichtseinkommen entspricht der natürlichen Produktion (Y pot ). Das Preisniveau ist stabil. Also herrscht gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Sobald von Y pot abgewichen wird, ändert sich das Preisniveau. Y P SRAS AD Y pot P 0 <?page no="349"?> 350 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Konjunkturschwankungen und AS-AD 47.1 Das AS-AD-Modell ist dazu geeignet, das Zustandekommen von Konjunkturschwankungen zu erklären, d.h. Schwankungen des BIP um das mittelfristig konstante Produktionspotenzial und Inflationsschwankungen. Abb. 47.2: Konjunkturzyklus → Abb. 47.2 zeigt den bekannten Konjunkturzyklus. Allerdings ist nun der dargestellte Zeitraum ein anderer als in → Abb. 4.1: Es wird die mittlere Frist mit konstantem Produktionspotenzial (waagerechter Verlauf) anstelle des langfristig wachsenden BIP (steigender Verlauf) dargestellt. Zu einer Expansion/ zum Boom kommt es, wenn die Güternachfrage steigt. Die Produktion liegt über dem Produktionspotenzial (Y > Y pot ). Mit der steigenden Produktion steigt die kurzfristige Produktion (mittlere → Abb. 47.3) und mit ihr die Arbeitsnachfrage und anschließend die Geldlöhne. In einem nächsten Schritt ist mit einem Anstieg des Preisniveaus zu rechnen und darauffolgend mit weiteren Lohn- und Preisanstiegen. Ein Anstieg des Preisniveaus bewirkt indes, dass der Zinssatz steigt, die Güternachfrage zurückgeht und die Produktion sinkt (IS-LM-Modell). Es beginnt der Abschwung. Mit jedem Inflationsschub geht mittelbar auch die Arbeitsnachfrage zurück, die Beschäftigung sinkt. Die Geldlöhne steigen in Relation zum Preisniveau in zunehmend kleineren Schritten. Dies geht so lange, bis sich schließlich der Grenzertrag der Arbeit und der während des Prozesses sinkende Reallohn wieder entsprechen (mittlere Frist): Es herrscht Arbeitsmarktgleichgewicht und die Produktion entspricht der natürlichen Produktion (Y pot ). Zu einer Rezession/ Depression kommt es, wenn die Güternachfrage sinkt. Die Produktion und die Beschäftigung liegen unter ihrem natürlichen Niveau. Die Arbeitsnachfrage ist kurzfristig geringer als im mittelfristigen Arbeitsmarktgleichgewicht. Es herrscht unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die Löhne sinken und dadurch auch das Preisniveau. Jeder Rückgang des Preisniveaus führt zu expansiven Prozessen auf dem Gütermarkt, weil die Geldnachfrage zurückgegangen ist und mit ihr der Zinssatz, welcher die Güternachfrage anregt. Es beginnt der Aufschwung, die Arbeitslosigkeit geht sukzessive zurück und die Lohnsenkungen werden in Relation zum Preisrückgang immer klei- Hochkonjunktur Depression mittelfristiges BIP reales BIP Zeit <?page no="350"?> Zusammenführung von AS und AD 351 ner bis sich der Reallohn und das Grenzprodukt der Arbeit entsprechen. Arbeitsmarktgleichgewicht und Y pot sind erreicht. Abb. 47.3: Konjunkturzyklus im AS-AD-Modell Fiskalpolitik im AS-AD-Modell 47.2 Die Volkswirtschaften werden ständig durch exogene Störungen beeinflusst, die Produktionsschwankungen hervorrufen. Dazu zählen Politikmaßnahmen. Ohne auf die Motivation dieser politischen Schritte eingehen zu wollen, werden hier speziell die Wirkungen der Fiskal- und Geldpolitik im Rahmen des AS-AD-Modells analysiert. Damit findet eine Zusammenfassung und Verknüpfung aller bisherigen Erkenntnisse in einem Totalmodell statt, die das Zusammenspiel aller betrachteten Märkte aufzeigt und so zu einem noch besseren Verständnis gesamtwirtschaftlicher Vorgänge beiträgt. Expansive Fiskalpolitik 47.2.1 Es wird davon ausgegangen, dass sich die Volkswirtschaft im gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht befindet (Y = Y pot , W/ P = Grenzprodukt der Arbeit). Im Rahmen einer expansiven Fiskalpolitik erhöht der Staat seine Güternachfrage. Der nun einsetzende Anpassungsprozess im AS-AD-Modell ist in → Abb. 47.4 grafisch dargestellt, wobei zur Unterstützung die Vorgänge, die der AD-Kurve zugrunde liegen (IS-LM- Schema) auf der rechten Seite illustriert sind: Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigt, wodurch anschließend die Produktion steigt („jede Nachfrage schafft sich ihr Angebot“ einschließlich Multiplikatoreffekt). Dies geht einher mit einer Verschiebung der IS-Kurve nach rechts. Da mit der steigenden Produktion auch das Einkommen steigt, nimmt die nominale Geldnachfrage zu und der Nominalzinssatz steigt. Dies sind die aus dem IS-LM-Modell bekannten Ergebnisse. Der Verschiebung der IS-Kurve nach rechts entspricht eine Verschiebung der AD-Kurve nach rechts von AD 0 zu AD 1 . Bei unverändertem Preisniveau wäre die kurzfristige Gleichgewichtsgewichtsproduktion um den gleichen Betrag gestiegen wie im IS-LM-Modell (von Y pot auf Y‘, → Abb. 47.4). Jedoch sorgt die gestiegene Produktion für eine höhere Nachfrage nach Arbeit, wodurch es zu einem Arbeitskräftemangel kommt. Dies treibt den Nominallohn nach oben. Damit geht eine kostenbedingte Anpassung der Preise nach oben einher. Der Anstieg des Preisniveaus hat Auswirkungen auf den Geldmarkt. Er führt zu einem Anstieg der Geldnachfrage (M d ↑) und zu einem steigenden Zinssatz, woraufhin die Güternachfrage und die kurzfristige Gleich- Y P SRAS AD Y pot Y P Y P SRAS AD Y pot SRAS AD Y pot Y 1 Y 2 <?page no="351"?> 352 Einfaches makroökonomisches Totalmodell gewichtsproduktion sinken. Der kurzfristige Produktionseffekt expansiver Fiskalpolitik ist folglich kleiner als im IS-LM-Modell (Anstieg von Y pot auf Y 1 statt auf Y‘). Aus der Zusammenschau ergibt sich: Die Volkswirtschaft bewegt sich entlang der SRAS-Kurve hin zur neuen AD-Kurve. Das neue Interims-Gleichgewicht liegt in Punkt B. Das Gleichgewicht in Punkt B ist indes nicht von Dauer. Sobald die Haushalte den Preisniveauanstieg antizipieren, werden sie ihr Arbeitsangebot einschränken, woraufhin die Unternehmen zur Attrahierung von Arbeitskräften höhere Geldlöhne zahlen müssen. Steigende Lohnkosten gehen wiederum mit Preiserhöhungen einher. Die SRAS- Kurve verschiebt sich nach oben. Es findet eine Bewegung entlang der AD-Kurve (AD 1 ) zur neuen SRAS statt. Aufgrund der gesunkenen Reallöhne findet mit einiger Verzögerung erneut eine Lohn-, Kosten- und Preiserhöhung statt. Der komplexe Prozess wiederholt sich so lange, bis in dem Schnittpunkt von SRAS und AD wieder die natürliche Produktion herrscht (Punkt C). Warum kommt der inflationäre Prozess hier zu einem Ende? Der Grund ist, dass hier die Arbeitsnachfrage und das Arbeitsangebot dauerhaft übereinstimmen, d.h. es gibt c.p. keinen Anlass für Lohnerhöhungen. Der Reallohn stimmt dauerhaft mit dem Grenzprodukt der Arbeit überein, d.h. es gibt auch keinen Anlass für eine flächendeckende Erhöhung der Preise. Kurzum: Es finden keine Verhaltensänderungen mehr statt und die Volkswirtschaft befindet sich wieder im gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht. Weiter unten findet sich für Interessierte eine Extratour (→ Kap. 47.5) zu den genauen Abläufen auf dem Arbeitsmarkt, die zur natürlichen Beschäftigung zurückführen. Abb. 47.4: Expansive Fiskalpolitik (Übergang von der kurzen zur mittleren Frist) Die Folgen expansiver Fiskalpolitik sind:  kurzfristig: eine steigende Produktion, steigender Nominalzins,  anschließend steigende Nominallöhne und ein steigendes Preisniveau;  mittelfristig: ein noch stärker gestiegener Nominalzins und ein noch höheres Preisniveau; unveränderte Produktion und unveränderter Reallohn. P Y SRAS 0 AD 0 Y pot P 0 AD 1 Y 1 SRAS 1 P 1 A B C A` Y` Y LM 0 IS 0 Y pot i 0 IS 1 Y` LM 1 i 3 i 1 A A` C B Y 1 i <?page no="352"?> Zusammenführung von AS und AD 353 Kurzum: Nach dem kurzfristigen Anstieg der Produktion schrumpft diese wieder auf ihr natürliches Niveau. Die Beschäftigung und der Reallohn sind wieder die „alten“. Kontraktive Fiskalpolitik 47.2.2 Im Rahmen einer kontraktiven Fiskalpolitik senkt der Staat nun seine Nachfrage G oder erhöht die allgemeinen Steuern (V). Die Wirkungs- und Argumentationskette verläuft daraufhin entgegengesetzt zu der einer expansiven Fiskalpolitik. Der Nachfrageeinbruch sorgt für einen Rückgang der Produktion, was einen sinkenden Nominalzins sowie steigende Arbeitslosigkeit hervorruft. Die Produktion liegt unterhalb des Produktionspotenzials, die Arbeitsnachfrage ist kurzfristig geringer und die Löhne sinken, woraufhin das Preisniveau sinkt. Dies bewirkt einen Zinsrückgang, der die Güternachfrage erhöht und schließlich die Produktion und das nachgefragte Arbeitsvolumen steigen lässt. Während des Anpassungsprozesses sinken Löhne und Preise weiter, jedoch sinken die Löhne immer weniger, weil parallel die Beschäftigung steigt. Am Ende entspricht die tatsächliche Produktion wieder der natürlichen Produktion (Y=Y pot ). Abb. 47.5: Kontraktive Fiskalpolitik (mittlere Frist) Die Folgen kontraktiver Fiskalpolitik sind:  kurzfristig: eine sinkende Produktion, ein fallender Nominalzins;  anschließend sinkende Nominallöhne und ein sinkendes Preisniveau;  mittelfristig: ein noch stärker gesunkener Nominalzins und ein niedrigeres Preisniveau; unveränderte Produktion und unveränderter Reallohn. Kurzum: Nach dem kurzfristigen Rückgang der Produktion steigt diese wieder auf ihr natürliches Niveau. Beschäftigung und Reallohn sind wieder die „alten“. P Y SRAS 1 AD 1 Y pot P 1 AD 0 SRAS 0 P 0 Y 1 A B C i Y LM 2 IS 1 Y pot i 3 IS 0 Y 1 LM 0 i 0 LM 1 i 1 i 2 A C B <?page no="353"?> 354 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Geldpolitik im AS-AD-Modell 47.3 Expansive Geldpolitik 47.3.1 Unter expansiver Geldpolitik wird in unserem Modell eine Ausweitung der Geldmenge M s verstanden. Wie aus dem Modell zum Geldmarkt bekannt ist, sinkt dadurch der Nominalzins i. Die daraus folgende Ausweitung der Güternachfrage und der Produktion (D ⇨ Y) hat in den modellbasierten Abbildungen zur Folge, dass sich die LM-Kurve nach rechts verschiebt, ebenso wie die AD-Kurve. Mit der Ausweitung der Produktion respektive Einkommen ist ein steigendes Preisniveau zu verzeichnen (kurzfristig L d  ⇨ W, s.o.). Kurzfristig verursacht die expansive Geldpolitik der Zentralbank einen Anstieg der Produktion und der Beschäftigung. Da jedoch der Reallohn über dem Grenzprodukt der Arbeit liegt, steigen in einem nächsten Schritt die Preise. Das gestiegene Preisniveau führt wiederum zu Lohnsteigerungen und es setzt der oben geschilderte Anpassungsprozess ein. Weiter unten findet sich für Interessierte eine Extratour (→ Kap. 47.5) zu den genauen Abläufen auf dem Arbeitsmarkt, die zur natürlichen Beschäftigung zurückführen. Abb. 47.6: Expansive Geldpolitik (mittlere Frist) Die Folgen expansiver Geldpolitik sind:  kurzfristig: ein sinkender Nominalzins und eine steigende Produktion,  anschließend steigende Löhne und steigendes Preisniveau;  mittelfristig: höheres Preisniveau und Rückkehr zum ursprünglichen Nominalzins; unveränderte Produktion und unveränderter Reallohn. Kurzum: Nach einem kurzfristigen Anstieg der Beschäftigung schrumpft diese wieder auf ihr natürliches Niveau. Einzig das Preisniveau ist gestiegen und zwar proportional zur Geldmenge. P Y SRAS 0 AD 0 Y pot P 0 AD 1 Y 1 SRAS 1 P 1 A C B i Y LM 1 IS Y pot i 2 Y 1 LM 0 LM 2 i 0 i 1 A&C B <?page no="354"?> Zusammenführung von AS und AD 355 Kontraktive Geldpolitik 47.3.2 Bei einer Reduzierung des Geldangebots ist mit der gegenteiligen Entwicklung einer Ausweitung des Geldangebots zu rechnen. Die folgende Abbildung fasst die Folgen zusammen. Abb. 47.7: Kontraktive Geldpolitik (mittlere Frist) Die Folgen kontraktiver Geldpolitik sind:  kurzfristig: ein steigender Nominalzins und eine sinkende Produktion,  anschließend sinkende Löhne und ein fallendes Preisniveau;  mittelfristig: niedrigeres Preisniveau und Rückkehr zum ursprünglichen Nominalzins; unveränderte Produktion und unveränderter Reallohn. Kurzum: Nach dem kurzfristigen Rückgang der Beschäftigung steigt diese wieder auf ihr natürliches Niveau. Einzig das Preisniveau ist gesunken und zwar proportional zur Geldmenge.  Aufgabe 40: Erklären Sie! Bisher wurde nur gezeigt, welche Auswirkungen Fiskal- und Geldpolitik haben, wenn sich die Volkswirtschaft nahe ihrem Produktionspotenzial befand (Y = Y pot ) und die Preisniveauentwicklungen treffend erwartet wurden. Doch welche Wirkung kann mit diesen Politikmaßnahmen erzielt werden, wenn sich die Volkswirtschaft in einer Rezession oder in einem Boom befindet? Lösen Sie die folgenden Aufgaben immer sowohl grafisch als auch argumentativ. Behalten Sie dabei im Auge, dass der Staat einschließlich der Zentralbank das Niveau des Produktionspotenzials nicht genau kennt und die quantitativen Wirkungen ihrer Maßnahmen nicht exakt vorhersagen kann. P Y SRAS 1 AD 1 Y pot P 1 AD 0 Y 1 SRAS 0 P 0 A C B i Y LM 0 IS Y pot i 0 Y 1 LM 1 LM 2 i 1 i 2 A&C B <?page no="355"?> 356 Einfaches makroökonomisches Totalmodell a) Der Argumentation des AS-AD-Modells folgend: Ist eine politische Maßna h me gr und sätzli ch zwin ge nd no twend ig , um b sp w. vo n e in er R ez essi o n (Y < Y pot ) zurück zur Vollbeschäftigung zu gelangen? b) Erläutern Sie, welche Entwicklungen eintreten, wenn der Staat die Output- Lücke (Abweichung der tatsächlichen Produktion von Y pot ) zu hoch einschätzt und/ oder Maßnahmen überdosiert. c) Die Volkswirtschaften der 19 Mitglieder des Eurosystems befanden sich während der letzten Jahre in - teils stark - unterschiedlichen konjunkturellen Phasen. Gleichzeitig verfolgte die EZB eine stark expansive Geldpolitik. Im Hinblick auf die daraus folgenden Effekte im AS-AD-Modell: Für welchen Typ von Volkswirtschaften erscheint diese Politik nützlich und für welche nicht? Tipp: Vergleichen Sie zunächst zwei konkrete Länder wie z.B. Griechenland und Deutschland. Neutralität des Geldes 47.4 Ausgehend von einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht wurde gezeigt, dass nach einer Ausdehnung oder Kontraktion der Geldmenge die alten Werte sowohl des natürlichen Produktionsniveaus als auch des Zinssatzes mittelfristig wieder erreicht werden. In diesem „neuen“ gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht ist auch die reale Geldnachfrage wieder die alte. Das liegt daran, dass die reale Geldnachfrage (M d / P) in unserem Modell vom Realeinkommen (Y) und dem Zinssatz (i) abhängt. Herrscht gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, ist u.a. auch der Geldmarkt im Gleichgewicht: M s / P = Y ⋅ k(i) Geldmarktgleichgewicht Wenn nun die reale Geldnachfrage (rechte Seite der Gleichgewichtsbedingung) die gleiche wie vor der expansiven/ kontraktiven Geldpolitik ist, muss dies auch für das reale Geldangebot (linke Seite) gelten. Daraus folgt, dass sich das Preisniveau mittelfristig proportional zur Geldmenge verändert hat. Dieser Zusammenhang wird (mittelfristige) Neutralität des Geldes genannt. Alternativ wird auch von der Dichotomie des Geldes gesprochen. Dies ist ein Hinweis auf die klassische Theorie, die eine Zweiteilung (Dichotomie) der Volkswirtschaft in eine monetäre Sphäre und eine von ihr unbeeinflusste realwirtschaftliche Sphäre vornimmt.   Multiple-Choice-Aufgabe 15: Verständnisüberprüfung Im gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht beträgt die Produktion 1.000 Mio., der Zinssatz 5 %, der Geldlohn 15 EUR und das Preisniveau 20 EUR. Die Geldmenge beträgt 10.000 Mio. EUR. Nun verdoppelt die Zentralbank die Geldmenge. Es setzen Anpassungsprozesse bis hin zu einem neuen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht ein. <?page no="356"?> Zusammenführung von AS und AD 357 Dieses ist gekennzeichnet durch:  Der Reallohn beträgt 0,375.  Der Reallohn beträgt 0,75.  Das Preisniveau beträgt 40 EUR.  Das Preisniveau ist unverändert.  Das Grenzprodukt der Arbeit beträgt 0,75  Das Grenzprodukt der Arbeit beträgt 1,25.  Der Zinssatz beträgt 2,5 %.  Der Zinssatz beträgt 10 %.  Der Zinssatz ist unverändert.  Die nominale Geldnachfrage beträgt 40.000 Mio. EUR.  Die nominale Geldnachfrage beträgt 20.000 Mio. EUR.  Die reale Geldnachfrage ist unverändert.  Die Beschäftigung ist gesunken.  Die Beschäftigung ist unverändert.  Die Beschäftigung ist gestiegen. Extratour zu den Abläufen auf dem Arbeitsmarkt 47.5 In → Abb. 47.8 ist dargestellt, welche Prozesse auf dem Arbeitsmarkt die wiederholten Verschiebungen der SRAS-Kurve verursachen, die nach einer expansiven Nachfragepolitik (obere Abbildung) oder einer kontraktiven Nachfragepolitik (untere Abbildung) eintreten. Die blauen gestrichelten Linien stellen die Reaktion des Reallohns auf Nominallohn- und Preisniveauänderungen dar, die sich abwechseln. Die gestrichelten Anpassungspfeile verlaufen senkrecht, wenn sich der Nominallohn ändert, z.B. von W 0 auf W 1 . Sie verlaufen schräg, wenn sich daraufhin das Preisniveau ändert, z.B. von P 0 auf P 1 . Der schräge Verlauf verdeutlicht, dass Änderungen des Preisniveaus c.p. zu einer Veränderung der kurzfristigen Beschäftigung führen. Denn via Geld- und Finanzmarktprozesse (IS-LM-Modell, → Kap. 44.6) kommt es nach einem Anstieg oder Rückgang des Preisniveaus zu einer Abbzw. Zunahme der kurzfristigen Güternachfrage und anschließend der Produktion. Entsprechend der Produktion ändert sich auch die Beschäftigung (L). Zur Erinnerung: Die Annahmen sind ein sinkendes Grenzprodukt der Arbeit und vollständige Konkurrenz mit der Ausnahme, dass die Wirtschaftssubjekte unvollständig informiert sind (worker misperception-Annahme, → Kap. 46.1.2). <?page no="357"?> 358 Einfaches makroökonomisches Totalmodell Abb. 47.8: Anpassungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt L s und L d stellen die bekannten Arbeitsangebots- und Arbeitsnachfragekurven dar. Zusätzlich ist eine kurzfristig nachgefragte Arbeitsmenge L kurzfr eingezeichnet. Wenn ausgehend von einem Gleichgewicht die Güternachfrage exogen bedingt steigt (positiver Nachfrageschock) und daher die Produktion zunimmt, ist die kurzfristige nachgefragte Arbeitsmenge L kurzfr höher als die natürliche Beschäftigung L*. Es herrscht Überbeschäftigung. Bei einem negativen Nachfrageschock liegt die kurzfristig nachgefragte Arbeitsmenge unter der mittelfristig nachgefragten Arbeitsmenge, d.h. die Beschäftigung unterschreitet die natürliche Beschäftigung. Es herrscht Unterbeschäftigung und unfreiwillige Arbeitslosigkeit (konjunkturelle Arbeitslosigkeit). Beide Abbildungen zeigen einen Anpassungsprozess (die blauen Pfeile) von L kurzfr. hin zur natürlichen Beschäftigung (L*), bei dem der Reallohn einem permanenten Auf und Ab unterliegt. Die Schwankungen werden zunehmend kleiner. Dieser Prozess wird im Folgenden anhand eines positiven Nachfrageschocks, der z.B. durch expansive Fiskal- oder Geldpolitik hervorgerufen wird, ausführlich erklärt: Angenommen, es herrscht gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht (Y pot , L*, W 0 und P 0 ). Nun kommt es zu einem Nachfrageüberschuss auf dem Gütermarkt, auf welchen die Unternehmen mit einem Anstieg des geplanten Güterangebots reagieren. Zwecks Umsetzung ihrer Produktionspläne fragen die Unternehmen mehr Arbeit (L kurzfr. ) nach. Es entsteht ein Nachfrageüberschuss auf dem Arbeitsmarkt. Die Unternehmen konkurrie- W/ P L s , L d L * natürlich L s L d W 1 / P 0 W 0 / P 0 W 1 / P 1 L d` kurzfr L s L d L d` kurzfr W P W P W P W P W P W 0 / P 0 W/ P L s , L d L * natürlich L s L d W 1 / P 1 W 0 / P 0 W 1 / P 0 L d`` kurzfristig <?page no="358"?> Änderungen des Produktionspotenzials: Verschiebungen der LRAS 359 ren um die knappen Arbeitskräfte und treiben den Nominallohn auf W 1 , wodurch der Rea ll o h n a us S i cht d er A rbeit sk räft e a uf W 1 / P 0 zu steigen scheint (gemäß der worker misperception-Theorie). Gleichzeitig erhöhen die Unternehmen jedoch wegen der gestiegenen Kosten ihre Preise und es kommt zu einem Preisniveau von P 1 , d.h. der tatsächliche Reallohn ist auf W 1 / P 1 gesunken. Der neue Reallohn liegt unterhalb des Gleichgewichtslohns (W 0 / P 0 ), weil die Preiserhöhungen der Unternehmen infolge eines sinkenden Grenzprodukts der Arbeit größer als die Lohnerhöhungen sind. Die Grenzkosten sind nämlich nicht nur wegen der Lohnerhöhung gestiegen, sondern auch, weil der Arbeitseinsatz zugenommen hat, der für die letzte Produkteinheit benötigt wird, was am sinkenden Grenzprodukt der Arbeit liegt. Das gestiegene Preisniveau führt über den Geld- und Gütermarkt zu einer niedrigeren kurzfristigen Gleichgewichtsproduktion und einer entsprechend kleineren kurzfristig nachgefragten Arbeitsmenge. Dies erklärt, warum der erste Anpassungspfeil schräg nach links verläuft. Nach einiger Zeit realisieren die Arbeitskräfte den Anstieg des Preisniveaus auf P 1 und somit den Rückgang des Reallohns, woraufhin sie ihr Arbeitsangebot reduzieren. Der erneute - wenn auch geschrumpfte - Arbeitsnachfrageüberschuss treibt die Geldlöhne wieder nach oben auf W 2 (senkrechter Anpassungspfeil). Die Haushalte gehen zwar jetzt von einem Reallohn von W 2 / P 1 aus, aber tatsächlich erhöhen die Unternehmen wieder ihre Preise bis das Preisniveau P 2 und der Reallohn W 2 / P 2 beträgt (dritter Anpassungspfeil). Sobald die Arbeitsanbieter den neuen Reallohn realisieren, sinkt erneut das Arbeitsangebot. Es entsteht ein Arbeitsnachfrageüberschuss und der Geldlohn steigt auf W 3 . Der Reallohn ist auf W 3 / P 2 gestiegen, die Unternehmen erhöhen die Preise. Der Prozess steigender Löhne und Preise setzt sich fort. Der Arbeitsnachfrageüberschuss wird indes immer kleiner. Gleiches gilt für die Lohn- und Preiserhöhungen. Schließlich ist die Gleichgewichtsproduktion auf die natürliche Produktion gesunken und die Arbeitsnachfrage stimmt mit dem Arbeitsangebot überein. Der Arbeitskräftemangel ist beseitigt und es herrscht neoklassische Vollbeschäftigung (L*). Somit gibt es keinen Anlass mehr für Lohnerhöhungen und entsprechend auch nicht für Preiserhöhungen. Die Volkswirtschaft ist mit anderen Worten ins gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zurückgekehrt. Es bleibt dem interessierten Leser überlassen, den Anpassungsprozess zurück zur natürlichen Beschäftigung herzuleiten, der stattfindet, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht durch einen negativen Nachfrageschock gestört wird (untere → Abb. 47.8). 48 Änderungen des Produktionspotenzials: Verschiebungen der LRAS Es wurde gezeigt, dass die Produktion in unserem Totalmodell mittelfristig immer zu ihrem natürlichen Niveau Y pot zurückkehrt. Gleich welche konjunkturelle Situation vorliegt oder welche prozesspolitische Maßnahme getroffen wurde, die kurzfristigen realwirtschaftlichen Effekte werden mittelfristig aufgehoben - eine Preisniveauänderung und ggfs. eine Zinsänderung sind die einzigen Folgen. Die langfristig aggregierte Angebotskurve LRAS stellt somit eine Gerade dar: Egal wie hoch die Inflation ist, die <?page no="359"?> 360 Einfaches makroökonomisches Totalmodell natürliche Arbeitslosenquote bleibt c.p. unverändert (siehe auch die mittelbis langfristig senkrechte Phillipskurve → Kap. 37). Die lange Frist (long run), auf die sich die LRAS-Kurve bezieht, darf nicht mit Wachstumsmodellen verwechselt werden, die weiter oben als Modelle der langen Frist bezeichnet wurden. Abb. 48.1: LRAS-Kurve Es gibt indes Vorgänge, die eine Verschiebung der LRAS bewirken. Diese rühren vom Arbeitsmarkt her: Steigt die Vollbeschäftigungsproduktion (natürliche Produktion), verschiebt sich die LRAS-Gerade nach rechts. Sinkt die Vollbeschäftigungsproduktion, verschiebt sich LRAS-Gerade nach links (→ Abb. 48.1). Im Folgenden werden exemplarisch einige Ursachen für einen Anstieg der natürlichen Produktion dargestellt.  Ein Anstieg der Erwerbsbevölkerung würde die Arbeitsangebotskurve dauerhaft nach rechts verschieben, woraufhin die Reallöhne sinken und die Beschäftigung steigt.  Steigt die Arbeitsproduktivität - etwa durch technischen Fortschritt oder die Erhöhung des Humankapitals - würde sich die Arbeitsnachfrage dauerhaft nach rechts verschieben. Beschäftigung und Reallohn steigen. Gleiches gilt für eine Erhöhung des Kapitalstocks, durch den die Kapitalausstattung pro Arbeitskraft und damit die Arbeitsproduktivität ebenfalls steigt.  Der Staat senkt Lohnersatzleistungen oder verbessert z.B. Beratungs-, Mobilitäts- und Umschulungshilfen, um freiwillige oder Such- und Mismatch-Arbeitslosigkeit zu senken. Die Arbeitsangebotskurve verschiebt sich dauerhaft nach rechts: Die natürliche Beschäftigung steigt und die Reallöhne sinken. Insoweit sich durch die genannten Maßnahmen auch die Such- und Einstellungskosten der Unternehmen reduzie- Y P SRAS LRAS Y pot LRAS`` LRAS` Y pot ↑ Y pot  Y`` pot Y` pot <?page no="360"?> Änderungen des Produktionspotenzials: Verschiebungen der LRAS 361 ren, verschiebt sich L d parallel ebenfalls nach rechts, so dass sich der Beschäftig un gs ef fe kt ve rstä rkt un d de r Ges am te ff ek t au f de n Re al lohn nic ht e ind eu ti g ist .  Der Staat senkt die Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitgeber, woraufhin die Grenzkosten der Produktion sinken. Die Arbeitsnachfragekurve verschiebt sich dauerhaft nach rechts: Die Beschäftigung und die Reallöhne steigen. Die zuerst genannten Ursachen sind Gegenstand der Wachstumstheorie (→ Kap. 16.1ff.), welche sich mit den Ursachen dauerhaften Wachstums befasst. Grafisch schlägt sich eine kontinuierlich steigende Produktivität oder Erwerbspersonenzahl in einer permanenten Verschiebung der LRAS (→ Abb. 48.1) und einer Verschiebung der Kapazitätsgrenze (→ Abb. 46.2) nieder. Die beiden anderen Ursachen sind hingegen Maßnahmen, die die LRAS einmalig verschieben, nicht aber das Kapazitätsmaximum verändern. Es bleibt dem Leser überlassen, Ursachen für einen Rückgang der natürlichen Produktion zu benennen.  Wissensbox 43: Gewinnspanne, Preissetzung und natürliche Produktion Auf „unserem“ Arbeitsmarkt (→ Kap. 45.1) herrschen im Wesentlichen die Annahmen der vollständigen Konkurrenz (mit Ausnahme der worker misperception- Theorie → Kap. 46.1.2). Allerdings ist die Marktform des Angebots- und Nachfragepolypols in der Praxis eher selten. Stattdessen existieren verschiedene Teilarbeitsmärkte, von denen einige als Nachfrageoligopol (Oligopson) bezeichnet werden können. Das heißt, es gibt zwar sehr viele Arbeitsanbieter, aber vergleichsweise wenige Arbeitsnachfrager. Entsprechendes gilt für die einzelnen Gütermärkte mit sehr vielen Nachfragern, aber mit relativ wenigen Anbietern. Die Folge sind Reallöhne, die unter dem Grenzprodukt der Arbeit liegen, sowie Preise, die höher als die Grenzkosten sind. Auf diesen Märkten erzielen Unternehmen sog. Oligopolrenten, d.h. es werden oligopolistische Gewinnaufschläge durchgesetzt. Je niedriger die Wettbewerbsintensität ist, desto höher sind die Gewinnaufschläge. Anders ausgedrückt: Je vermachteter die Märkte sind, umso höher ist der reale Stückgewinn und umso kleiner ist der Reallohn. Je niedriger wiederum der Reallohn ist, umso niedriger ist die Beschäftigung. Daraus folgt: Wenn es auf vermachteten Märkten gelingt, den Gewinnaufschlag bzw. den realen Stückgewinn durch eine Intensivierung des Wettbewerbs oder durch eine relative Stärkung der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber-Oligopol zu senken, steigen c.p. die natürliche Beschäftigung und der Reallohn. Die LRAS verschiebt sich einmalig nach rechts (B LANCHARD und I LLING , 2014, S. 198ff.). <?page no="361"?> 362 Einfaches makroökonomisches Totalmodell 49 Angebotsschocks und AS-AD Das AS-AD-Modell ist dafür geeignet, außer Nachfragestörungen auch Kostenschocks auf der Angebotsseite und ihre Wirkungen abzubilden. Dazu sei als Erstes angenommen, dass sich die betrachtete Volkswirtschaft im Zustand gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts befindet, also bei Vollbeschäftigung. Nun kommt es zu einer Störung in Form steigender Preise für importierte Vorleistungen in einem gesamtwirtschaftlich relevanten Ausmaß. Es wird also für einen Moment von der Annahme nur eines Kostenfaktors und der Annahme einer geschlossenen Volkswirtschaft abgewichen, ohne jedoch im Weiteren auf außenwirtschaftliche Transaktionen und den Devisenmarkt einzugehen. Der resultierende Anstieg der Grenzkosten führt zu einer Verschiebung der Arbeitsnachfragekurve (L d -Kurve) auf dem Arbeitsmarkt nach links, d.h. das natürliche Beschäftigungsniveau sinkt. Entsprechend verschiebt sich die LRAS-Gerade auch nach links und wird zu LRAS neu (→ Abb. 49.1). Der zugrundeliegende Anpassungsprozess lässt sich wie folgt skizzieren: Da die gestiegenen Inputpreise eine exogen hervorgerufene Erhöhung des Preisniveaus bewirken, verschiebt sich die SRAS-Kurve nach oben zu SRAS‘. Diese Preisniveauerhöhung führt zu einem Rückgang des Reallohns, auf den die Arbeitskräfte nach einiger Zeit mit einem Rückgang des Arbeitsangebots reagieren. Daraufhin müssen die Produzenten höhere Löhne zahlen, um die Güternachfrage befriedigen zu können. Das Preisniveau steigt erneut, verzögert steigen die Löhne, dann wieder die Preise usw. Dieser Prozess schlägt sich in wiederholten Bewegungen der SRAS-Kurve nach oben nieder. Währenddessen führen die Anstiege des Preisniveaus zu Zinssteigerungen, welche die private Güternachfrage reduzieren. (Die Volkswirtschaft bewegt sich entlang der AD-Kurve nach links). Jeder erneute Preisanstieg führt zu einer Wiederholung von zugleich sinkender Beschäftigung und steigendem Preisniveau. Die SRAS-Kurve verschiebt sich immer weiter, bis schließlich im Schnittpunkt von LRAS neu und SRAS neu ein neues gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht (Y pot neu ) erreicht ist. Die mittelfristige Produktion ist gesunken und das Preisniveau ist gestiegen. Solch ein Stagflationsprozess mit steigender Arbeitslosigkeit und Inflation setzte z.B. nach den Ölpreisschocks (→ Beispiel 31) in den 1970/ 80er Jahre ein. Die Wirkungen einer Zerstörung von Produktionskapazitäten - etwa durch Naturkatastrophen - lassen sich ähnlich herleiten, wobei sich nun zusätzlich das Kapazitätsmaximum verringert. Da der Kapitalstock in unserem Modell nicht explizit vorkommt, kann mit einem „Kniff“ gearbeitet werden: Der Rückgang des Kapitalstocks entspricht einer Verringerung der Kapitalintensität, d.h. die Ausstattung einer einzelnen Arbeitskraft mit Kapital sinkt. Das ist gleichbedeutend mit einem Rückgang der Arbeitsproduktivität und kann entsprechend in unser Modell integriert werden. Der Rückgang der Arbeitsproduktivität bewirkt einen Rückgang der Arbeitsnachfragekurve L d nach links. Der bereits beschriebene Prozess setzt ein. Allerdings sind viele Kostenschocks nicht mit einem dauerhaften Rückgang der Produktion (LRAS-Verschiebung) verbunden. Nominallohnschocks führen z.B. vielmehr zu einer Verschiebung der SRAS nach oben, während die LRAS unverändert bleibt. Kurzum: Nur Ursachen, die zu einer Verschiebung der mittelfristigen Arbeitsnachfrage L d oder des Arbeitsangebots L s führen, gehen außer mit Beschäftigungs- und Inflati- <?page no="362"?> Angebotsschocks und AS-AD 363 onsschwankungen auch mit einer Änderung des mittelfristigen Beschäftigungsniveaus (n a tür li c he Pr od ukt io n ) ein her . Abb. 49.1: Angebotsschocks im AS-AD-Modell  Aufgabe 41: Überlegen Sie! a) Angenommen, ein negativer Importpreisschock (z.B. Ölpreisanstieg) wirkt sich zusätzlich auf die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage aus, weil ein kleinerer Teil des Einkommens für inländische Konsumgüter übrig bleibt. Welche Kurve verschiebt sich zusätzlich? Wie ändert sich das mittelfristige Preis- und Beschäftigungsniveau gegenüber der oben gemachten Analyse? b) Angenommen, ein exogener Lohnanstieg (etwa des Mindestlohns) führt nicht allein zu einem unmittelbaren Kostenanstieg, sondern auch zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage. Grund könnte sein, dass die Bezieher von Lohneinkommen eine überdurchschnittlich hohe Konsumneigung aufweisen, d.h. sie möchten einen größeren Teil ihres Einkommens für die Konsumnachfrage nutzen als etwa Bezieher von Vermögens- oder Transfereinkommen. Welche Kurve verschiebt sich zusätzlich? Wie ändert sich das mittelfristige Preis- und Beschäftigungsniveau gegenüber oben gemachter Analyse? P AD Y pot SRAS LRAS Y Y pot neu LRAS neu SRAS neu SRAS` <?page no="363"?> 364 Einfaches makroökonomisches Totalmodell 50 Erwartungen im AS-AD-Modell Deflations- und Rezessionserwartungen 50.1  Wissensbox 44: Hypothesen über die Erwartungsbildung Die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte lassen sich unterschiedlich modellieren. Eine Variante ist die sog. Adaptive Expectation Hypothesis, d.h., dass die Erwartungen der Marktteilnehmer über zukünftige Entwicklungen auf Vergangenheitswerten beruhen (adaptive Erwartungen, → Kap. 37.3). Eine alternative Variante ist die Perfect Foresight Hypothesis (perfekte Erwartungen), aus welcher die Rational Expectations Hypothesis (rationale Erwartungen) erwuchs. (s. auch → Kap. 37.3) Z.B. werden im Zusammenhang mit dem Multiplikatoreffekt (IS-Kurve) adaptive Erwartungen unterstellt: Die Unternehmen erhöhen die Produktion in der Periode t, weil sie erwarten, dass der Nachfrageanstieg aus der Vorperiode t - 1 anhält. Rationale oder perfekte Erwartungen würden bedeuten, dass die Unternehmen die Produktion erst gar nicht erhöhen, weil sie erwarten bzw. wissen, dass der Nachfrageanstieg nur ein kurzfristiges Strohfeuer ist. In → Kap. 20.7.3 wurde ausführlich auf die drohende Problematik des Attentismus bei deflationären Tendenzen eingegangen. Dabei geht es um adaptive Preissenkungserwartungen, die zu Rückgängen der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage führen. Im IS-LM-Modell schlüge sich dies in einer Linksverschiebung der IS-Kurve nieder (V↓ ⇨ D↓ . Im AS-AD-Modell bewegt sich AD folglich nach links. Wenn nun das (erwartete) Preisniveau weiter sinkt und sich die SRAS-Kurve nach unten zu bewegen beginnt (→ Kap. 46.1.2), kommt es infolge des anhaltenden Attentismus zu fortgesetzten Verschiebungen auch der AD-Kurve und zwar nach links. Dieser Prozess kann zusätzlich durch Erwartungen auf Zinssenkungen (V↓) und eine Konjunkturverschlechterung (V↓) verschärft werden. Die Folge ist, dass sich die Produktion immer weiter von Y pot entfernt, die Arbeitslosenquote c.p. wiederholt steigt sowie eine Abwärtsspirale bei den Löhnen einsetzt. Die Volkswirtschaft kehrt vorerst nicht zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zurück. <?page no="364"?> Erwartungen im AS-AD-Modell 365 Abb. 50.1: AS-AD und Rezessions-/ Deflationserwartungen Perfekte Erwartungen 50.2 In → Kap. 37.3.1 wurde die Annahme rationaler Erwartungen erklärt, welche Modelle der Neuen klassischen Makroökonomik (NKM) charakterisiert (s. auch → Wissensbox 30). Perfekte Erwartungen liegen vor, wenn vollständige Information und rationale Erwartungen vorliegen. Dann ist die Reaktion der kurzfristigen Arbeitsnachfrage sowie der Löhne und Preise eine andere als die bisher dargestellten, da nicht mehr von adaptiven Erwartungen auf der Produzentenseite und nicht mehr von der worker misperception-Hypothese auf der Arbeitnehmerseite ausgegangen wird. Angenommen es herrscht gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Dann erhöht die Zentralbank die Geldmenge. Die Arbeitsanbieter wissen/ erwarten nun, dass das Preisniveau proportional zur gestiegenen Geldmenge steigen wird. Folglich sind sie zur Aufrechterhaltung des derzeitigen Arbeitsangebots nur bereit, wenn die Geldlöhne genau in dem Maße des erwarteten Preisniveauanstiegs erhöht werden. Die Zahlung dieser Lohnerhöhung zwingt die Unternehmen zu entsprechenden Preissteigerungen. Ein vorübergehender Anstieg der Arbeitsnachfrage geschieht nicht, da die Unternehmen erwarten/ wissen, dass ein Anstieg der Geldmenge letztlich nur zu einem Anstieg des Preisniveaus bei unverändertem Beschäftigungsniveau führt. Allgemein gilt bei rationalen Erwartungen und vollständiger Information: Änderungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage schlagen sich noch nicht einmal kurzfristig in einem Beschäftigungsanstieg nieder. Stattdessen passen sich die Löhne und Preise sofort so an, dass der Reallohn der gleiche bleibt. Die kurzfristige AS-Kurve (SRAS) ist mithin eine Senkrechte. Nachfrageänderungen (Verschiebungen der AD-Kurve) führen lediglich zu einem gestiegenen oder gesunkenen Preisniveau. Mit anderen Worten: Die SRAS ist mit der LRAS identisch. P Y Y pot AD Y 1 SRAS A C B LRAS Y 2 Y 3 1 3 5 2 4 6 D <?page no="365"?> 366 Einfaches makroökonomisches Totalmodell  Aufgabe 42: Erklären Sie! Erklären Sie, welche Prozesse ablaufen und wie das Ergebnis aussieht, wenn im AS-AD-Modell mit perfekten Erwartungen die Geldmenge um 10 % sinkt. 51 Implikationen des AS-AD-Modells für die Praxis Die wichtigste Erkenntnis aus unserem einfach gehaltenen AS-AD-Modell für die Praxis lautet, dass es in einer dynamischen Volkswirtschaft zu Schwankungen des Wirtschaftswachstums, der Beschäftigung und der Inflationsrate kommt, wenn sog. exogene Schocks eintreten. Da die Volkswirtschaften in der Realität ständigen exogenen Störungen ausgesetzt sind, weichen sie nahezu permanent vom natürlichen Wachstumspfad ab. Es herrscht äußerst selten gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Insoweit hat das Adjektiv im Begriff des Magischen Vierecks durchaus seine Berechtigung (→ Kap. 35). Die Ausführungen in den vorangegangenen Kapiteln beschränkten sich im Wesentlichen auf die Anpassungsprozesse, die in Folge von politisch verursachten Nachfrageschocks auftreten. Sie lassen sich aber auch auf andere Nachfrageschocks und Angebotsschocks übertragen. Es wurde gezeigt, wie die gesamtwirtschaftlichen Märkte grundsätzlich in ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht zurückkehren. Der Prozess von einem alten hin zu einem „neuen“ Gleichgewichtspfad, der sich nur im Hinblick auf das Preisniveau (bzw. die Inflationsrate) und evtl. das Zinsniveau vom alten unterscheidet, erfordert jedoch Zeit. Außerdem kann es unter ungünstigen Bedingungen zu Anpassungsbewegungen weg vom Gleichgewicht kommen. Die Ursachen für solche in der Praxis beobachtbaren Instabilitäten können beispielsweise sein:  eine zufällig eintretende Aneinanderreihung von exogenen Störungen,  sich selbst verstärkende Konjunkturerwartungen (Pessimismus, Optimismus),  Attentismus bei Deflation bzw. das Gegenteil bei Inflation,  eine extrem zinselastische Güternachfrage oder Zinsänderungserwartungen. In einzelnen Abschnitten dieses Lehrbuchs wurde u.a. gezeigt, welche gesellschaftlichen und individuellen Probleme mit Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verbunden sind (→ Kap. 8, 14.1, 20 u. 25). Diese sind gute Gründe für eine aktive Stabilisierungspolitik des Staates, wenn sich eine länger andauernde spürbare Abweichung vom Gleichgewichtspfad abzeichnet oder bereits besteht. Die Ausführungen zum AS-AD-Modell und zum mittelfristigen Arbeitsmarkt machen indes deutlich, dass staatlicher Stabilisierungspolitik deutliche Grenzen gesetzt sind. Davon sind die am besten erkennbaren:  Herrscht die natürliche Arbeitslosenquote (NAIRU), kann von ihr allenfalls vorübergehend abgewichen werden. Expansive Nachfragepolitik zur vorübergehenden Senkung der Arbeitslosigkeit muss mit steigender Inflation erkauft werden. <?page no="366"?> Implikationen des AS-AD-Modells für die Praxis 367  Die natürliche Arbeitslosenquote lässt sich einmalig senken, wenn es gelingt, die Arbeitskräfte zum Arbeitsangebot bei einem niedrigeren Reallohn zu bewegen oder die Grenzkosten der Arbeit auf andere Art zu senken. Die sog. Hartz-IV-Reformen von 2002/ 03 und die Senkung der Lohnnebenkosten (Agenda 2010) werden als solche Maßnahmen erachtet.  Geld- und fiskalpolitische Maßnahmen sind exogene Störungen und können ihrerseits Konjunkturschwankungen auslösen. Das Ansinnen, Konjunkturschwankungen durch eine antizyklische Konjunkturpolitik zu glätten, kann aufgrund von Diagnose- und Dosierungsproblemen sowie insb. durch Zeitverzögerungen (lags) konjunkturelle Abweichungen vom Gleichgewichtspfad verschärfen und somit die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation sogar noch verschlimmern.  Die Erwartungen der privaten Haushalte und Unternehmen sind ganz wesentlich dafür verantwortlich, ob eine Volkswirtschaft zügig ins gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zurückkehrt, oder ob sich die Dauer und die Amplitude konjunktureller Ausschläge erhöht. Insoweit gelingt es der Wirtschaftspolitik letztlich nur dann, den Konjunkturverlauf spürbar zu glätten, wenn die Marktakteure den Staat einschließlich der Zentralbank tatsächlich als stabilisierend wahrnehmen. Nahmen die Wirtschaftssubjekte die Konjunkturpolitik hingegen in der Vergangenheit als erfolglos oder situationsverschärfend wahr, steigt die Gefahr, dass sie auch in der aktuellen Situation scheitern wird. Gleiches gilt, wenn die Wirtschaftssubjekte die Politik als erratisch empfinden. Kurzum: Eine erfolgreiche Stabilisierungspolitik setzt außer Sachkenntnis auch das Vertrauen der Konsumenten und Produzenten voraus. Insoweit zählen Glaubwürdigkeit und Transparenz der Wirtschaftspolitik zu den Voraussetzungen für ihren Erfolg. Ein gutes Verständnis von den Zielen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und von makroökonomischen Zusammenhängen - sowohl bei den politischen Entscheidungsträgern als auch bei den Verbrauchern und innerhalb der Unternehmen - ist dem mit großer Wahrscheinlich dienlich. <?page no="367"?> Lehrbuchverzeichnis B ARTLING , H ARTWIG UND F RANZ L UZIUS . 2014. Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. 17. Auflage. München: Vahlen. 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205, 239, 252 B Beschäftigungsquote 64 Beschäftigungstheorie 22, 47 Bilanz der Währungsreserven 222 BIP-Deflator 165, 173 Bruttoinlandsprodukt 23, 30, 97 nominales 34, 100 reales 101 Wachstum 99 Bruttonationaleinkommen 33, 108 Bruttosozialprodukt 33 Bruttowertschöpfung 30 Buchgeld 184 C Cashflow-Risiko 240 ceteris paribus 21 consols 312 crawling peg 223 crowding out 275 Crowding-out-Effekt 322, 326, 330 D Defizitquote 281 Deflation 39, 154 Spirale 160 Vermeidung 159 Deflationsregel 193 Depression 39, 40 Devisenbilanz 222, 226 Devisenmarkt 228, 231 Gleichgewicht 239 Dichotomie des Geldes 188, 356 Dienstleistungsbilanz 211 Disinflation 274 Distribution 20, 21 DSGE-Modelle 268 <?page no="377"?> 378 Stichwortverzeichnis E Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 167 Einkommensteuer 155 Einlagensätze 185 Entwicklungsländer 99, 117 Entwicklungstheorie 118 Erwartungen 276 rationale 265, 365 Erwerbsfähigen 51 Erwerbslosenquote 54, 74, 76 Erwerbspersonen 52 Erwerbstätige 53 Erwerbstätigenquote 64 EU-Scoreboard 221 evolutorische Makroökonomik 294 evolutorische Ökonomik 144, 145 excess burden 193 Expansion 39 Export 31 F Faktorproduktivität totale 140 Fisher-Gleichung 156 Fisher-Index 102 Fiskalpolitik 22, 160, 260, 275 expansive 320, 351 kontraktive 320, 322, 353 Fortschritt 26 siehe auch technischer Fortschritt Frist kurze 298 lange 297 mittlere 298 G Geldangebot 308 Geldillusion 342 Geldmarkt 310 Geldmenge 183, 186 M1, M2, M3 184 Steuerung 330 Geldnachfrage 308 Geldpolitik 178, 183, 199, 260, 271 expansive 186, 308, 313, 318, 323, 354 kontraktive 186, 308, 318, 324, 355 gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 291, 339 Gewinnquote 33 Giralgeld 184 Gleichgewicht 291 Gleichgewichtslohn 334 Glücksforschung 99 gol d ene Regel der Kapitalakkumulation 146 Grenzerlös der Arbeit 333 Grenzertrag des Kapitals 112 Grenzkosten der Arbeit 333 Grenzprodukt der Arbeit 332 Grenzrate der Substitution 269 Grundbilanz 226 Güter freie 19 wirtschaftliche 19 Güternachfrage gesamtwirtschaftliche 299 H Handelsbilanz 211 Haushaltsdefizit strukturelles 279 hedonische Verfahren 163, 171 Herdentheorie 236 Hocheinkommensländer 118 Hochkonjunktur 41 Hodrick-Prescott-Filter 131, 132 homo oeconomicus 292 Humankapital 23, 26, 47, 48 Hyperinflation 151, 181, 263 I ifo-Geschäftsklimaindex 89 immaterielles Kapital 25 Importausgaben 31 Importreichweite 224 Industrieländer 118, 119 <?page no="378"?> Stichwortverzeichnis 379 Inflation gefühlte 202 Schmiermittelfunktion der 158 Inflationsband 178 Inflationserwartungen 262 Inflationsgewinner 154 Inflationsrate 150 optimale 183, 192, 194 Inflationsverlierer 154 International Labour Organization 52 Internationaler Währungsfonds 225 Interventionsspirale 150 Investition 31 Investitionsfalle 331 Investitionsgüter 24 IS-Kurve 304, 306, 319, 347 IS-LM-Modell 319, 364 Isolation 292 J J-Kurven-Effekt 237 K kalte Progression 155 Kapazitätsauslastungsgrad 94 Kapital 23, 88 Auslastungsgrad 91 Grenzertrag 112 immaterialles 25 -intensität 113, 124 -stock 113, 124, 134 Kapitalbilanz 215 Kassenhaltung 153 Kassenhaltungskoeffizient 310 Kaufkraftparitäten 35 Kaufkraftparitätentheorie 235 Kerninflationsrate 165, 172 keynesianische Theorie 87 Keynesianismus 191 Konjunkturschwankungen 269 Konjunkturtheorie 22 Konjunkturzyklen reale 294 Konjunkturzyklus 38, 350 Konkurrenz vollständige 110, 144, 190 Konsum 31 Konsumgüter 24 Konvergenzthese 121 Kostendruckinflation 158 Kostenpreise 30 Kostenschocks 362 L Labour-Force-Konzept 54 Lagerinvestition 29 lags 367 Länder mittlerer Einkommen 118 Langzeitarbeitslosenquote 63 Langzeitarbeitslosigkeit 83, 85 Laspeyres-Mengenindex 102, 105, 174 Laspeyres-Preisindex 169 Leistungsbilanz 214, 239 Leistungsbilanzdefizit 215 Leistungsbilanzquote 214, 253 Leistungsbilanzüberschuss 217 Leitzins 191 Liquiditätsbilanz gegenüber dem Ausland 226 Liquiditätsfalle 331 Liquiditätspräferenz 310 LM-Kurve 315, 319 Lohn-Preis-Spirale 343 Lohnquote 33 LRAS 338, 359 Lucas-Kritik 266 M Macroeconomic Imbalance Procedure 221 Magisches Fünfeck 279 Magisches Sechsecks 285 Magisches Viereck 44, 256, 366 Makroökonomie 21 neue klassische 197 Neue Klassische 267 makroökonomische Schulen 295 Marktgleichgewicht 43 Mechanisierung 292 <?page no="379"?> 380 Stichwortverzeichnis Mengenindex 101 Laspeyres 102, 105 Paasche 102 Mengenwechselkurs 228 Mikroökonomie 21 Mindestlohn 86, 159 Modell 292 Monetarismus 192, 195, 275 Multiplikatoreffekt 303 N Nachfrageinflation 157 Nachfrageschock 39, 366 Nachhaltigkeit 288 Nachhaltigkeitsvieleck 287 NAIRU 67, 68, 79, 246, 264, 344, 366 Naturkapital 23 Neokeynesianismus 273, 294 neoklassische Geldtheorie 187 Synthese 273, 349 Wachstumstheorie 142 Wachstumsmodelle 110 Nettoauslandsposition 215 Nettoinlandsprodukt 31 Neue Klassische Makroökonomik 267 neoklassische Wachstumstheorie 142 Wachstumstheorie 121 klassische Makroökonomik 197 Neukeynesianismus 271 Neutralität des Geldes 188, 356 Nicht-Erwerbsfähige 51 Niedrigeinkommensländer 118 Nobelpreis 296 Nominalzinssatz 308 Normalauslastung 134 normative Theorie 293 Notenbanken 185 Nullzinsgrenze 163, 194 O OECD 127 Offenmarktgeschäfte 308 Oligopol 271 Opportunitätskosten 192 der Freizeit 333 output gap 298 Output-Lücke 298, 340 P Paasche-Mengenindex 102 Paasche-Preisindex 169 Phillipskurve 256, 260, 340 senkrechte 360 positive Theorie 293 Postkeynesianismus 274, 294 Postwachstumsökonomie 98 Potenzialfaktoren 24, 88 Preisbereinigung hedonische 171 Preisniveaustabilität 149, 178 Preisstabilität gesamtwirtschaftliche 150 Preiswechselkurs 228 Primäreinkommen 21, 28, 29, 31 Ströme 213 Produktionsfaktoren 23 Produktionsfunktion 106 Produktionskoeffizient 26 Produktionslücke 298 Produktionspotenzial 106, 334, 340 Produktivität 26 Q Quantitätsgleichung 187 Quantitätstheorie 189, 197 R rationale Erwartungen 197 Rationalverhalten 112 Real Business Cycles 268 Reallohn 159, 269, 332 Realzins 308 Recheneinheitsfunktion 151 Refinanzierungssätze 185 Rezession 39 <?page no="380"?> Stichwortverzeichnis 381 S Sachkapital 24 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) 135 Sammelvariable 299 Saysches Theorem 188, 191 Schmiermittelfunktion der Inflation 158 Schuhsohlenkosten 153 Schuldenbremse 44, 279 Schuldenquote 281 Sektor primär 90 tertiär 90 Sekundäreinkommen Ströme 213 Soziale Marktwirtschaft 286 Sozialkapital 26, 49 Sparquote optimale 145 Speisekarteneffekt 153 Spekulation 235 Spekulationsblase 41, 235 Spekulationsmotiv 309 SRAS 338 Staat 20 Staatsdefizitquote 280 Staatshaushalt 280 Staatskonsum 31, 300 Staatsschuldenquote 279 Stabilitätsgesetz 44 Stagflation 40, 261, 362 steady state 112, 124, 128, 299 Steuern direkt 29 indirekt 29 sticky prices 271 sticky wages 271 stille Reserve 60 gem. ILO-Konzept 59 i. e. S. 53, 58, 60 i. w. S. 60 in Maßnahmen 54, 60 substitution bias 163 T Tauschwert 100 Taylor-Regel 196 technischer Fortschritt 26, 47, 114, 121, 134 Messung 141 Teilzeitbeschäftigte unfreiwillig 54 Teilzeitbeschäftigung unfreiwillige 58, 82 Theorie normative 293 positive 293 totale Faktorproduktivität 140 Totalmodell 291, 296 Transaktionsfunktion 150 Transaktionskosten 111, 153 Transaktionsmotiv 309 Transformationsökonomien 122 Transmissionsmechanismus 191 trial and error 294 Trickle-down-Hypothese 286 U Überbeschäftigung 340 Umlaufgeschwindigkeit 186 Umweltschutz 285 Unterbeschäftigtenquote 57, 58 Unterbeschäftigung 340 Unterbeschäftigungsquote 57, 75 Unterbeschäftigungsquoten (Überblick) 59 V Verbraucherpreisindex 165, 175 harmonisierte 171 Vermögensänderungsbilanz 208 Verteilungsgerechtigkeit 285 Verteilungstheorie 22 Volkseinkommen 33 Volkswirtschaft 20 geschlossene 297 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 30, 207 <?page no="381"?> 382 Stichwortverzeichnis Vollbeschäftigung 47, 66, 72, 334 Vollbeschäftigungskorridor 80, 87, 341 Vollbeschäftigungsziel 47 Vorsichtsmotiv 309 W Wachstum 136 Wachstumsmodelle neoklassische 110 Wachstumspfad 87 Wachstumstheorie 22, 361 Wägungsschema 166 Warenkorb 166, 168 Wechselkurs 223, 228, 255 bilateraler 229 Blase 236 effektiver 229 feste 223 flexible 223 Krise 223 Mengen- 228 Preis- 228 reale 237 Risiko 234, 240 Volatilität 231 wedge 269 Wertaufbewahrungsfunktion 151 Wettbewerb 145 Wettbewerbstheorie 144 Wirtschaften 19 Wirtschaftskreislauf 28 Wirtschaftsnobelpreis 296 Wirtschaftssubjekte 20 Wirtschaftstheorie normative 19 positive 19 Wirtschaftswachstum 97, 101, 251 stetiges und angemessenes 154 Wohlstand materieller 48 Worker-misperception-Theorie 342 Z Zahlungsbilanz 206, 239 autonome 227 Krise 217 Zauberscheibenmodell 290 Zentralbanken 185, 308 <?page no="382"?> www.utb-shop.de Methoden, Anwendungen, Praxisbeispiele Claudia Fantapié Altobelli Marktforschung Methoden, Anwendungen, Praxisbeispiele 3., vollst. überarb. Aufl. 2017, 496 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-8252-8721-4 Trends und Risiken früh erkennen, das ist ein wichtiges Ziel der Marktforschung. Das Buch stellt hierfür die wesentlichen Methoden und Anwendungsgebiete vor, angefangen mit der Planung (also der Wahl des Forschungsansatzes, der Festlegung des Auswahlplans und der Wahl des Datenerhebungsverfahrens) bis hin zur Durchführung der Erhebung (also der Datensammlung, -auswertung und Interpretation der Ergebnisse). Es berücksichtigt neben quantitativen auch qualitative Forschungsmethoden. Außerdem sind neuere Verfahren, speziell aus den Neurowissenschaften, Teil der 3. Auflage. Auf die Produkt-, Werbe- und Preisforschung geht dieses Buch überdies ein. Mit digitalen Medien, Big Data und ethischen Fragen setzt es sich auseinander. Das Buch richtet sich gleichermaßen an Studierende, Wissenschaftler und Praktiker. Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Inhalte stehen deswegen im Vordergrund. <?page no="383"?> www.utb-shop.de Einstiegs- und Überblickswerk für Studium und Praxis Iris Pufé Nachhaltigkeit 3., überarbeitete Auflage 2017, 322 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-8252-8705-4 Das Thema Nachhaltigkeit ist schon seit einigen Jahren in aller Munde. Doch was bedeutet Nachhaltigkeit überhaupt? Wie wird ein Konzept umgesetzt und mit welchen Instrumenten? Das Buch beantwortet diese und weitere Fragen und macht mit den relevanten Begriffen, Konzepten, Elementen und Themenfeldern von Nachhaltigkeit vertraut. Basierend auf einer geschichtlichen Herleitung des Konzeptes werden konkrete Schwerpunkte und Anwendungsbereiche vorgestellt. Durch die integrative Betrachtung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte wird damit der Vielschichtigkeit, Komplexität und dem großen Einsatzspektrum von Nachhaltigkeit Rechnung getragen. Die 3. Auflage wurde u.a. um die drei Leitstrategien der Nachhaltigkeit - Suffizienz, Konsistenz und Effizienz erweitert. Bei der Behandlung der Nachhaltigkeit in Unternehmen wurde der Abschnitt Ökoeffizienz und -effektivität sowie Sozioeffizienz und -effektivität ergänzt. Neben generellen Aktualisierungen der Inhalte wurden viele empfehlenswerte Links und Hinweise aufgenommen - wie etwa zu Verbraucherschutzportalen oder zu lehrreichen Videos.