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Nachhaltigkeit

0911
2017
978-3-8385-8705-9
978-3-8252-8705-4
UTB 
Iris Pufé

Nachhaltigkeit ist in aller Munde, seit Fukushima noch viel mehr. Doch was versteht man eigentlich unter Nachhaltigkeit? Wie wird ein Konzept umgesetzt und mit welchen Instrumenten? Das Buch dient als systematisches und umfassendes Einstiegs- und Überblickswerk. Es macht mit allen relevanten Begriffen, Konzepten, Elementen und Themenfeldern von Nachhaltigkeit vertraut. Basierend auf einer geschichtlichen Herleitung des Konzeptes werden konkrete Schwerpunkte und Anwendungsbereiche vorgestellt. Durch die integrative Betrachtung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte wird damit der Vielschichtigkeit, Komplexität und dem großen Einsatzspektrum von Nachhaltigkeit Rechnung getragen. Die dritte Auflage wurde u.a. um die drei Leitstrategien der Nachhaltigkeit - Suffizienz, Konsistenz und Effizienz erweitert. Bei der Behandlung der Nachhaltigkeit in Unternehmen wurde der Abschnitt Ökoeffizienz und -effektivität sowie Sozioeffizienz und -effektivität ergänzt. Neben generellen Aktualisierungen der Inhalte wurden in der Neuauflage viele empfehlenswerte Links und Hinweise aufgenommen - wie etwa zu Verbraucherschutzportalen oder zu lehrreichen Videos.

<?page no="0"?> Iris Pufé Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit 3. A. Pufé Nachhaltigkeit ist in aller Munde, seit Fukushima noch viel mehr. Doch was versteht man eigentlich unter Nachhaltigkeit? Wie wird ein Konzept umgesetzt und mit welchen Instrumenten? Das Buch dient als systematisches und umfassendes Einstiegs- und Überblickswerk. Es macht mit allen relevanten Begriffen, Konzepten, Elementen und Themenfeldern von Nachhaltigkeit vertraut. Basierend auf einer geschichtlichen Herleitung des Konzeptes werden konkrete Schwerpunkte und Anwendungsbereiche vorgestellt. Durch die integrative Betrachtung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte wird damit der Vielschichtigkeit, Komplexität und dem großen Einsatzspektrum von Nachhaltigkeit Rechnung getragen. Die dritte Auflage wurde u. a. um die drei Leitstrategien der Nachhaltigkeit - Suffizienz, Konsistenz und Effizienz erweitert. Bei der Behandlung der Nachhaltigkeit in Unternehmen wurden die Abschnitte Ökoeffizienz und -effektivität sowie Sozioeffizienz und -effektivität ergänzt. Neben generellen Aktualisierungen der Inhalte wurden in der Neuauflage viele empfehlenswerte Links und Hinweise aufgenommen - wie etwa zu Verbraucherschutzportalen oder zu lehrreichen Videos. Wirtschaftswissenschaften Sozialwissenschaften ,! 7ID8C5-cihafe! ISBN 978-3-8252-8705-4 Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag UVK / Lucius. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 3. Auflage 87054 Pufé_Lgeb-4054.indd 1 12.07.17 16: 30 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 8705 <?page no="3"?> Iris Pufé Nachhaltigkeit 3., überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="4"?> Dr. Iris Pufé, MBA, ist Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeitsmanagement und Corporate Social Responsibility. Sie wirkte an der Konzeption von Nachhaltigkeitsstudiengängen ebenso mit wie in der praktischen Lehre und kennt durch ihre Arbeit für Unternehmen, staatliche Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von Nachhaltigkeit. Als Dozentin unterrichtet sie u. a. am Lehrstuhl Entrepreneurship und Nachhaltigkeitsmanagement / Sustainability Management der Hochschule München. Sie ist zertifizierte Yogalehrerin sowie Beiratsmitglied bei der Deutschen Umweltstiftung, Jurorin beim Deutschen Forstwirtschaftsrat und bei der Zertifizierungsorganisation Green Brands. Zudem ist sie Kolumnistin der WirtschaftsWoche sowie Autorin der Bücher „Best Practices in Corporate Social Responsibility“ (Grin), „Klima, Wälder, indigene Völker“ (oekom) und „Nachhaltigkeitsmanagement“ (Hanser). Mehr unter www.irispufe.de. Mit diesem QR-Code können Sie das Video aufrufen, in dem die Autorin das Buch vorstellt. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: Wolfilser/ Shutterstock.com Kapitelblättermotiv: iStockphoto.com, DNY59 Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Nr. 3667 ISBN 978-3-8252-8705-4 <?page no="5"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Vorwort zur dritten Auflage Gemischte Gefühle habe ich, während ich dieses Vorwort schreibe. Einerseits freue ich mich über das Interesse an dem Thema und meine damit so viel wie, dass es in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist; es ist zum Stammvokabular einer aufgeklärten Bevölkerung, aber auch in Vorstands-Meetings geworden. Andererseits frage ich mich: Was macht es dort? Vor zehn Jahren hatte das Thema Nachhaltigkeit - als Hype und Trendthema, als „neue Sau in den Gängen“, Verkaufsschlager und Gewissensappel mit frischem Wind - gefühlt mehr Schwung, Verve, Elan. Man war neugierig, motiviert, ja, angriffslustig. Jetzt scheint es, hat der Alltag Einzug in das Thema gehalten, was sich an einer verringerten Publikationsfrequenz von Nachhaltigkeitsberichten und weniger Studien, etwa vom Bundesumwelt- oder -wirtschaftsministerium, zeigt. Wieder andererseits aber ist genau das die gute, ja sehr gute Nachricht, denn es zeigt, aus dem Hype ist Wirklichkeit geworden und aus der Hysterie angewandte Routine; und von letzterem haben unser Planet, unsere Gesellschaft und unsere Umwelt mehr. Zudem trennt sich die Spreu vom Weizen. Gehört haben von Nachhaltigkeit mittlerweile alle, aber die (von Konzernen bis zum Nachbarn), die es immer noch bzw. ab jetzt anwenden, meinen es Ernst und sind dabei oft überzeugter, konsequenter und wirksamer denn je. Nachhaltigkeit ist in der Masse angekommen, noch immer braucht es aber mehr Menschen, privat wie in Unternehmen, in Politik, Recht und Wissenschaft, die sich damit befassen, um es voranzutreiben, weiter zu verankern und „selbstverständlich“ zu machen. Für diese Menschen ist der vorliegende Band gedacht, der in der Neuauflage erweiterte Informationen, Aspekte und Konzepte aufgenommen hat. Neu hinzugekommen sind inhaltlich v.a. die Vertiefung der drei Leitstrategien, die, wenn man so will, das Herz der Nachhaltigkeit ausmachen, Suffizienz, Konsistenz und Effizienz (in dieser Reihenfolge! ; siehe Abschnitt 4.8). Da Nachhaltigkeit in Unternehmen einen der größten Hebel (für die wirksame Umgestaltung unserer Gesellschaft durch die Veränderung von Produktions- und Konsummustern) darstellt, wurde Kapitel 6 um ein Unterkapitel zum Thema Ökoeffizienz und -effektivität sowie Sozioeffizienz und -effektivität und deren Integration erweitert, auch um so einen weiteren Verständniszugang zu eröffnen. Darüber hinaus wurden Teile zu Geschichte und Politik aktualisiert, um jüngere Veränderungen zu berücksichtigen. Zudem wurde ein abschließendes Kapitel (Kap. 11) angefügt mit empfehlenswerten Links, Tipps und Hinweisen wie etwa zu weiterführender Literatur, die als Inspiration dienen kann ebenso wie zu <?page no="6"?> 6 Vorwort zur dritten Auflage ganz pragmatischen Verbraucherschutzportalen oder lehrreichen Videos und online Tutorials. Über Feedback, positives wie kritisches, freuen wir uns im Namen des Konzeptes „einer lernenden Organisation“. Dr. Iris Pufé <?page no="7"?> Nachhaltigkeit und Gemeinwohl Der vorliegende Band zu einem gleichsam schillernden wie ungreifbaren Leitbegriff der Postmoderne ist als einfach begehbares Panoptikum angelegt: Er nähert sich der „Nachhaltigkeit“ von vielen verschiedenen theoretischen und praktischen Blickwinkeln und bringt selbst in jedem dieser Zugänge - Definitionen, Positionen, Modelle, Umsetzungsansätze - eine Übersicht der in kurzer Zeit entstandenen Vielfalt. Das Buch ist ein Orientierungsleitfaden durch einen Bedeutungsdschungel, in dem erbittert um Hoheit gerungen wird, weil es um gesellschaftliche Konsensfindung, politische Strategie, um die Verteilung von Ressourcen und Macht geht. Trotz des beachtlichen Erfolges des Begriffs auf der theoretischen, politischdiskursiven und auch ansatzweise auf der praktischen Umsetzungsebene in Unternehmen und Institutionen fällt jedoch auf, dass sich der große Tanker Weltwirtschaft weiterhin in die Gegenrichtung bewegt, weil er unverändert das falsche Ziel ansteuert und die führenden Erfolgsindikatoren konträre Anreize setzen. Solange der Erfolg eines Unternehmens in der Finanzbilanz gemessen wird und jener der Volkswirtschaft mit dem Bruttoinlandsprodukt, kann die Weltwirtschaft nicht nachhaltig werden. Solange ein Unternehmen, das nichtnachhaltige Entscheidungen trifft, damit erfolgreicher sein kann als ein nachhaltiges, ist ein Kurswechsel nicht möglich. Nachhaltigkeit und Wirtschaft können nur dann in Einklang gebracht werden, wenn das Ziel des Wirtschaftens ein anderes wird als das der Mehrung des Kapitals. In einer Gemeinwohl-Ökonomie wäre das Ziel das Wohl aller Lebewesen, ein gutes Leben für alle. Das Kapital wäre nur noch ein Mittel zum Zwecke der Mehrung des Gemeinwohls. Kapital dürfte nur noch dann verwendet, zum Beispiel investiert werden, wenn durch diesen Vorgang das ökologische, soziale und humane Kapital nicht gemindert wird. Jedes Investitionsvorhaben müsste eine positive Ökobilanz vorweisen, damit ein Kredit gewährt wird. Jedes private Unternehmen muss eine positive Gemeinwohl-Bilanz vorlegen, um Zugang zum Markt zu erhalten. Je nachhaltiger und ethischer ein Unternehmen agiert, desto leichter soll es zum Erfolg kommen, desto größer wird das Gemeinwohl- Produkt einer Volkswirtschaft. Ich wünsche den LeserInnen dieses Buches, dass sie von diesem einführenden Überblick über die Nachhaltigkeitsdiskussion zu den geistigen Kernwidersprüchen zwischen dem gegenwärtigen Wirtschaftsmodell und einer wirklich nachhaltigen Entwicklung vordringen und die ethischen, professionellen und praktischen Konsequenzen für ihr persönliches Leben ziehen können. Christian Felber <?page no="9"?> Geleitwort Planst Du für ein Jahr, so säe Korn, planst Du für ein Jahrzehnt, so pflanze Bäume, planst Du für ein Leben, so bilde die Menschen. Kuan Tzu Das Thema - und Schlagwort der Stunde - Nachhaltigkeit, scheint vielen Studierenden diffus. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Nachhaltigkeit aber ist unverzichtbar: nicht nur, weil es aufgrund seines Querschnittscharakters in immer mehr Studiengängen eine Rolle spielt, sondern vor allem wegen des Gestaltungs- und Orientierungswissens, das es in Sachen Überlebensfähigkeit bietet. Erstmals erwähnt in der Forstwissenschaft 1713, haben Begriff, Prinzip und Leitbild der Nachhaltigkeit eine erstaunliche Karriere durchlaufen: Ausgehend von einer zunächst vor allem gesellschaftspolitisch begründeten Verankerung findet die Nachhaltigkeit heute rasant Eingang in Wirtschaft, Recht und Wissenschaft, in Verwaltung, Forschung und Lehre. Der vorliegende Band der Autorin dient als systematisches und kompaktes Einstiegs- und Überblickswerk, das mit den relevanten Begriffen, Konzepten, Elementen und Themenfeldern von Nachhaltigkeit vertraut macht. Basierend auf einer geschichtlichen Herleitung des Konzeptes werden konkrete Schwerpunkte und Anwendungsbereiche vorgestellt. Studierende und Interessierte erhalten eine Handreichung für zahlreiche Studienfächer wie z.B. Umweltökonomie und -recht, (Ressourcen-)Management, Wirtschafts- und Sozialpolitik oder Ethik, um nur einige zu nennen. Praxisnahe Beispiele und zahlreiche Schaubilder erleichtern dabei das Verständnis. Die Zielgruppe des Buches ist mit den Studierenden im Bachelor-, Mastersowie MBA-Studium klar umrissen. Anfänger wie Fortgeschrittene werden gleichermaßen adressiert. Spezifische Vorkenntnisse zum Verständnis der Inhalte werden nicht vorausgesetzt. Ich wünsche allen Lesern eine inspirierende Lektüre, den Mut und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, scheinbar Bewährtes kritisch zu hinterfragen und neue Denkansätze aufzunehmen - das Buch bietet hierzu die beste Vorlage. Zusammen mit der Autorin, die sich auf ihre Kompetenz im Gebiet Nachhaltigkeit in Forschung und Lehre berufen kann, wünsche ich, dass viele interessierte Leser mithelfen bei der aktiven Umgestaltung unserer Gesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit. Dieses Buch ist ein wichtiger Schritt dazu. Prof. Dr. Georg Zollner <?page no="10"?> Hinweise Mittels internetfähigem Smartphone können Sie Informationen und Links direkt durch Scannen der im Buch abgedruckten QR-Codes aufrufen. Alternativ können Sie diese Links neben anderen nützlichen Materialien auch über unsere Service-Seite für dieses Buch abrufen: http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit <?page no="11"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Inhalt Vorwort zur 3. Auflage .................................................................................................. 5 Nachhaltigkeit und Gemeinwohl ................................................................................. 7 Geleitwort ........................................................................................................................ 9 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................ 1 5 I. TEIL: VON DER THEORIE ZUM KONZEPT....................................................... 17 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung.............................................................. 19 1.1 Durchs Nadelöhr in die Zukunft................................................................... 20 1.2 Die aktuelle Popularität von Nachhaltigkeit ................................................ 23 1.3 Push- und Pull-Faktoren ................................................................................. 26 1.4 Widerstände gegen Wandel ............................................................................ 32 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund ....................................................................................................35 2.1 Carlowitz’ Waldbewirtschaftungsprinzip ..................................................... 37 2.2 Die Grenzen des Wachstums ......................................................................... 39 2.3 Der Brundtland-Bericht .................................................................................. 42 2.4 Der Rio-Gipfel.................................................................................................. 48 2.5 Die Agenda 21 .................................................................................................. 52 2.6 Die Millennium-Entwicklungsziele ............................................................... 53 2.7 Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung .......................................... 55 2.8 Die wichtigsten Stationen ............................................................................... 58 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft ....................................67 3.1 Trends & Megatrends der Nachhaltigkeit .................................................... 71 3.2 Klimawandel und Energieverbrauch............................................................. 75 3.3 Ressourcenverknappung ................................................................................. 77 3.4 Demografischer Wandel.................................................................................. 80 3.5 Trenderfassung und -nutzung ........................................................................ 83 <?page no="12"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes .................................... 91 4.1 Ökologisches, ökonomisches und soziales Kapital .................................... 94 4.2 Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit ............................ 99 4.3 Positionen der Nachhaltigkeit ...................................................................... 105 4.4 Modelle der Nachhaltigkeit........................................................................... 110 4.5 Nachhaltigkeitsprinzipien ............................................................................. 116 4.6 Die wichtigsten Nachhaltigkeitsbegriffe..................................................... 117 4.7 Nachhaltigkeitsthemen .................................................................................. 119 4.8 Die Leitstrategien Effizienz, Konsistenz, Suffizienz................................ 123 4.9 Die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell .................... 131 II. TEIL: VOM KONZEPT ZUR UMSETZUNG...................................................... 143 5 Nachhaltigkeit in der Politik ................................................................... 145 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik .................................................................. 148 5.2 Europäische Nachhaltigkeitspolitik............................................................. 161 5.3 Internationale Nachhaltigkeitspolitik .......................................................... 164 5.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft ..................................................................... 171 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen............................................................. 179 6.1 Ökoeffektivität und -effizienz, Sozioeffektivität und -effizienz sowie deren Integration................................................................................. 182 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie ............................................... 192 6.3 Nachhaltige Wertschöpfungskette und Kernkompetenz ........................ 206 6.4 Nachhaltigkeitsmanagementsysteme........................................................... 213 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell ....................................................... 217 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht ........... 249 7.1 Gratwanderung zwischen Pflicht und Kür ................................................ 250 7.2 Nationales und EU-Nachhaltigkeitsrecht .................................................. 255 7.3 Freiwilliges Engagement ............................................................................... 261 7.4 Zukünftige Verrechtlichung des Nachhaltigkeitsprinzips ....................... 267 <?page no="13"?> 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft ..........................................................269 8.1 Nachhaltigkeitswissenschaft und -forschung - warum? ! ........................ 270 8.2 Die Notwendigkeit von Gestaltungskompetenz....................................... 277 8.3 Wissens- und Bewertungsprobleme ............................................................ 282 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle .......................287 9.1 Die Postwachstumsökonomie...................................................................... 289 9.2 Die Gemeinwohl-Ökonomie ....................................................................... 295 9.3 Weitere Konzepte für eine „andere“ Welt ................................................. 304 10 Fazit .................................................................................................................309 Index ............................................................................................................................ 319 <?page no="15"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abkürzungsverzeichnis BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BMU Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bpb Bundeszentrale für politische Bildung BUND Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland CR Corporate Responsibility CoR Club of Rome CSR Corporate Social Responsibility DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DJSI Dow Jones Sustainability Index E&Y Ernst & Young EMAS Eco-Management and Audit Scheme EU Europäische Union F&E Forschung & Entwicklung HK Handelskammer IHK Industrie- und Handelskammer KMU Kleine und mittlere Unternehmen lt. laut MDG Millennium Development Goals NABU Naturschutzbund Deutschland NGO Non-Governmental Organisation NW Nachhaltigkeitswissenschaft OECD Organisation for Economic Co-operation and Development PPP People, Planet, Profit RNE Rat für Nachhaltige Entwicklung SBSC Sustainability Balanced Scorecard SDG Sustainable Development Goals SRI Socially Responsible Investing TBL Triple-Bottom-Line UN United Nations/ Vereinte Nationen UNDP United Nations Development Programme UNEP United Nations Environment Programme US United States of America USD US-Dollar UVP Umweltverträglichkeitsprüfung <?page no="16"?> VCI Verband der Chemischen Industrie VWL Volkswirtschaftslehre WBGU Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen WRI World Resources Institute WWF World Wide Fund For Nature <?page no="17"?> I. TEIL: VON DER THEORIE ZUM KONZEPT <?page no="19"?> 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung <?page no="20"?> 20 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1.1 Durchs Nadelöhr in die Zukunft „Stell dir vor, du entdeckst eines Tages auf deinem Gartenteich eine Seerose. Du freust dich an ihrer wunderbaren Blütenpracht, weißt andererseits, dass diese Pflanze stark wuchert und ihre Blattfläche jeden Tag verdoppelt. Wenn sie ungehindert wächst, werden ihre Schwimmblätter eines Tages den gesamten Teich bedecken. Dann werden sie in kurzer Zeit alle anderen Lebensformen ersticken. Die Seerose scheint freilich in den folgenden Tagen und Wochen ziemlich zierlich und harmlos zu bleiben. Du machst dir keine großen Sorgen. Im Gegenteil, du freust dich an ihrer wachsenden Pracht. Am 29. Tag stellst du plötzlich fest, dass ihre Blätter die Wasserfläche des Teiches zur Hälfte bedecken. Wie viel Zeit bleibt dir noch, um den Teich zu retten? “ Mit dieser Metapher veranschaulicht Dennis Meadows in seinem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, der für weltweite Furore sorgte, das Dilemma unserer ressourcen- und emissionsintensiven Industriegesellschaft: Unsere Wachstumsgetriebenheit gleicht einer tickenden Zeitbombe. Ein Tag bleibt noch, bis die Seerosenblätter den Teich ersticken. Das Problem ist nicht eine lineare Entwicklung. Das Problem ist eine Entwicklung, die exponentiell oder gar super-exponentiell ist. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches belief sich die Zahl der Weltbevölkerung auf 7,5 Milliarden Menschen. Im Jahr 1700 waren es noch 500 Millionen, 1900 um die eine Milliarde Erdenbewohner. HighTech, Low Carb, neuseeländische Kiwis im Winter - der Wohlstand wird zelebriert, importiert, perpetuiert. Zwischen 1950 und 2000 verzehnfacht sich die Weltwirtschaft. Nie war die Menschheit reicher. Die Erde ist ein Juwel auf schwarzem Samt (zeitweilig beherbergte sie so viele Atomwaffen, dass sie davon fünfmal hätte in die Luft gesprengt werden können). Das System stößt an seine Grenzen, die biophysikalische Tragfähigkeit schwindet, der jahrtausendewährende natürliche Reichtum verengt sich zur Zwangsjacke, sind in der Geschlossenheit des Systems Erde Ressourcen doch endlich. Kampf um Wasser, Boden, Rohstoffe, Luft; Krieg um Wohlstand. Das Ökosystem stirbt leise. Und mit ihm seine Zivilisation, ohne es zu merken. Nachhaltigkeit ist ein ressourcenökonomisches Prinzip, das gewährleistet, ein System in seiner Funktionsweise dauerhaft aufrechtzuerhalten. Das Bild des Nachhaltigkeitstrichters zeigt, dass uns zwei Entwicklungen zur Anwendung des Prinzips „zwingen“, wenn die Menschheit es durch das Nadelöhr zu ihrem Fortbestand schaffen will. <?page no="21"?> 1.1 Durchs Nadelöhr in die Zukunft 21 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 1: Kennzeichen komplexer Systeme Abb. 2: Nachhaltigkeitstrichter als Metapher für die Gesamtproblematik <?page no="22"?> 22 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Bevölkerungswachstum und Ressourcenerschöpfung repräsentieren das obere und untere Ende des Trichters. Die beiden Entwicklungen befeuern sich wechselseitig. Der Spielraum, um zu handeln, schrumpft. Will die Menschheit unter den verschärften Rahmenbedingungen überleben, braucht sie ein strukturiertes, integriertes Vorgehen. Die Lösung gleicht einem wohl durchdachten Experiment: einen Gummi am Rande des Filters anbringen, einen Stein spannen, gerade ansetzen und ihn gezielt durch den Tunnel schießen. Es braucht weder Willkür noch „Trial and Error“, sondern Ganzheitlichkeit bei der Problemerfassung. Es braucht eine neue Systematik, Intelligenz, aber auch Ethik, um durch den Tunnel ans Licht zu gelangen. Es braucht Nachhaltigkeit als Leitstern. Szenenwechsel. Fukushima und BP - zwei Beispiele, die das Thema Nachhaltigkeit in seiner Tragweite veranschaulichen. Bei der Kernreaktorexplosion in Fukushima handelte es sich um die größte atomare Katastrophe in der Geschichte Japans. Der Skandal um die Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexiko war die bislang schwerste Ölverseuchung. Mussten bei Ersterem hundertausende Menschen evakuiert werden (und die Region wird für die nächsten Jahrzehnte unbewohnbar bleiben), so sorgte BP mit einer gerissenen Schutzvorrichtung an einer Pipeline dafür, dass über mehr als zwei Monate hinweg insgesamt ca. 800 Millionen Liter Öl ins Meer strömten. Die beiden Beispiele sind eng miteinander verwoben. Effizient und kostengünstig Energie, Strom und Öl zu gewinnen, ist das Motiv, bis die Überraschung eintritt: langfristige Verstrahlung und Verseuchung. Der Eingriff in die Natur zerstört die Ressource, den Lebens- und Arbeitsraum von Menschen und reißt Wohlstand und Wirtschaftlichkeit mit sich. Die Erde ist ein komplexes System mit vielen Teilsystemen, die untereinander vernetzt sind. Eingriffe von Menschen haben vielfältige, oft unvorhergesehene und unerwünschte (Neben-)Wirkungen. Um das empfindliche Gleichgewicht nicht zu stören, ist ein integrativer Ansatz notwendig. Umweltprobleme sind keine isolierten Einzelereignisse; sie sind Herausforderungen für das gesamte Mensch-Umwelt-System. Insgesamt lassen sich die Ziele von Nachhaltigkeit grundlegend wie folgt umreißen: Sicherung der menschlichen Existenz Bewahrung der globalen ökologischen Ressourcen als physische Lebensgrundlage Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotenzials Gewährleistung der Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten heutiger wie künftiger Generationen weltweit. <?page no="23"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1.2 Die aktuelle Popularität von Nachhaltigkeit Problem Nachhaltigkeit everywhere. Warum ist der Begriff populär und in aller Munde? In welchen Zusammenhängen ist er zu lesen und zu hören? Was erhofft man sich davon? Maßnahmen , aktuelle Schlagzeilen & Pressemeldungen, Assoziationen, Push- & Pull-Faktoren, Studien, Berichte, Prognosen, globale Herausforderungen, Earth Overshoot Day, Wandel & Widerstände Ergebnisse Studierende werden „abgeholt“ und gewinnen eine erste Vorstellung, warum der Begriff der Nachhaltigkeit aktuell, relevant und omnipräsent ist. Sie überblicken das weite Feld der Nachhaltigkeit in seinen wichtigsten Zügen. Nachhaltigkeit? - Ach, ich bleib da lieber flexibel. Passant bei Straßenumfrage Ob in Wirtschaft, Wissenschaft oder Medien - Nachhaltigkeit ist das Schlagwort der Stunde. Als Begriff zunächst positiv besetzt, da mit Langfristigem, Dauerhaftem assoziiert, klingt er aber auch abstrakt und verschwommen. Zu zahlreich sind die Schauplätze, als dass von einem einheitlichen Verständnis gesprochen werden könnte. Nachhaltigkeit wird im Zusammenhang mit Energie, Mobilität, Gebäudesanierung, Ernährung, Bevölkerungsentwicklung, betrieblichem Umweltmanagement und Klimaschutz gebraucht, ebenso wie in Kunst, Kultur, Design und Werbung. Und der Begriff wird von einer Vielzahl von Akteuren benutzt: von Greenpeace über die Deutsche Bank bis zur Brauerei Krombacher, von Professoren über Minister und Manager bis hin zum Endkonsumenten. Vor dem Hintergrund sowohl sich verschärfender Umweltgesetze als auch ethischsozialer Vorschriften sind Nationen, Organisationen, Firmen und Haushalte, die <?page no="24"?> 24 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Nachhaltigkeitsprinzipien anwenden, im Vorteil. Auf Regierungen gemünzt, sorgen diese für eine dauerhafte gesicherte Ressourcenbasis in ökologischer wie menschlicher Hinsicht. Was Unternehmen angeht, so unterliegen diese einem sich globalisierenden wie verstärkenden Wettbewerbsdruck in Sachen Rohstoffe, Kosten, Mitarbeiter und Innovation. Um mittelwie langfristig erfolgreich zu operieren, bedarf es der Erneuerung ihrer Geschäftsmodelle und -strategien unter dem Vorzeichen globaler Gerechtigkeit. Nachhaltigkeit ist eine Innovationsspritze - wobei im Sinne von Michael von Hauff vorwegzuschicken wäre: „Aus der Perspektive Nachhaltiger Entwicklung werden Innovationen nur dann positiv bewertet, wenn alle drei Dimensionen, d.h. Ökologie, Ökonomie und Soziales bei der Entstehung von Innovationen berücksichtigt werden”. 1 Diese Ansicht teilt auch Bertram Brossardt, Geschäftsführer des bayerischen Unternehmensverbandes Metall und Elektro e.V., der 2.000 Firmen vertritt. Er ist überzeugt, dass nachhaltige Unternehmen erfolgreicher sind: „Für unsere Mitgliedsunternehmen spielt das Thema Nachhaltigkeit seit jeher eine große Rolle. Die Betriebe wissen, dass es wichtig ist, langfristig orientiert zu wirtschaften und sich mit innovativen Produkten und Dienstleistungen dauerhaft im Wettbewerb zu behaupten.“ 2 Nachhaltigkeit sei aber auch alter Wein in neuen Schläuchen, meint Ulrich Merkes, Nachhaltigkeitsberater bei Vineta Group. „Vieles davon entspricht dem Common-Sense. In unserer hochkomplexen, dynamischen und globalisierenden Weltwirtschaft haben wir den leider verloren“. Unser ursprünglichstes Weltkulturerbe „Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe“, meint Grober zum Ursprung der ebenso traditionellen wie progressiven Leitidee Nachhaltigkeit (Grober (2010), S. 13). In unserer immer komplexeren Lebens- und Arbeitswelt ist die Auseinandersetzung mit dem Leitbild Nachhaltigkeit unerlässlich. Als Querschnittsthema durchdringt es sämtliche Bereiche, hat unendlich viele Anknüpfungspunkte. Der Facettenreichtum bringt mit sich, dass sich unterschiedlichste Branchen, funktionale Unternehmensbereiche sowie wissenschaftliche Disziplinen damit befassen. 1 Hauff (2014), S. 67 2 www.vbw-bayern.de/ agv/ vbwDie_bayerische_Wirtschaft-bayme_ vbm_starten_ NachhaltigkeitsOffensiveBrossardt_Nachhaltige_Unternehmen_sind_erfolgreicher--16734, ArticleID__21104.htm bzw. www.vbw-bayern.de <?page no="25"?> 1.2 Die aktuelle Popularität von Nachhaltigkeit 25 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die Crux: Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung trifft, ob seiner positiven Aufladung mit Werten wie Umweltschutz und Gesundheit, auf Akzeptanz. Doch sobald es daran geht, diese handlungsleitend zu konkretisieren und in Schlussfolgerungen für das (eigene) Verhalten zu überführen, kollidieren die Interessen. Jeder will sich seine Pfründe sichern. Das hängt auch damit zusammen, dass es (noch) kein klar umrissenes und einheitliches Verständnis bezüglich Handlungserfordernissen und Maßnahmen gibt. Der Begriff eröffnet vielmehr eine kontroverse interdisziplinäre Debatte, bei der es Strategien und Maßnahmen erst festzulegen gilt. Nachhaltigkeit - global, langfristig, umstritten Nachhaltigkeit ist somit ein erst noch an Kontur gewinnendes, unterschiedlich interpretiertes Leitbild, das voneinander abweichende, wenn nicht gegensätzliche Natur-, Mensch- und Weltbilder ebenso wie Anliegen, Bedürfnisse und Modelle einer „guten Gesellschaft“ unter sich vereint. Viele sind sich im Klaren, dass neuartige, komplexe und globale Probleme vor uns liegen und diese nur langfristig und gemeinsam zu lösen sind. Doch darüber, welche Schrauben im Weltapparat wann und wie fest anzuziehen sind, wird gezankt. Nachhaltigkeit - Liebling und Stiefkind der Medien Die Medien greifen das Thema dankbar auf, liefert es doch einen neuen Blick auf alte Probleme. Schwerpunktsetzung und Zusammenhang variieren dabei. Die Auswahl an Schlagzeilen veranschaulicht die Vielseitigkeit des Themas: Agrarförderung der EU soll ökologisch werden. Greenpeace-Report: Cloud-Computing verbraucht mehr Strom als ganz Deutschland. Bisphenol A: In unserem Blut fließt Plastik. Erneuerbare Energieaktien mit kräftigem Gewinn: + 8,4 Punkte. Studie WWF: Wasserkrise in den Megastädten der Welt. ALDI SÜD wird ab 2017 klimaneutral. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) verklagt IKEA. IKEA bringt Küchenfronten aus recycelten PET-Flaschen auf den Markt. Klimawandel bedroht Europa - Küsten und Süden besonders gefährdet. Elektroautos: E-Auto-Markt in China wächst um mehr als die Hälfte. Mehr Jobs, weniger Arbeitslose und viel Niedriglohn. Ungerechter Lohn macht Herz krank. <?page no="26"?> 26 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1.3 Push- und Pull-Faktoren Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Victor Hugo Die Motivation staatlicher, privatwirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Akteure, sich nachhaltig auszurichten, speist sich aus zwei Quellen. Push-Faktoren sind jene Gründe, die sie veranlassen, von nicht-nachhaltigen Aktivitäten aufgrund deren schädlicher Wirkung abzusehen; hierbei spielen soziale Aspekte wie z.B. Menschenrechtsverletzungen, Arbeitsunfälle und Kinderarbeit eine große Rolle. Der wichtigste Grund aber ist der Umweltschutz, was allein im starken Ressourcenbedarf der modernen, hochtechnologischen Industrie- und Wissensgesellschaft begründet liegt. Pull-Faktoren sind die Motive und Gründe, die es für Akteure attraktiv machen, das Thema Nachhaltigkeit ernst zu nehmen und umzusetzen. 3 Push-Faktoren: Weg von Nicht-Nachhaltigkeit Umweltprobleme sind aktuell die stärksten Push-Faktoren. Dies nicht zuletzt, weil sie sich immer verlässlicher sowie auf zunehmend längeren Zeitreihen bewerten lassen. Auf der Liste der Faktoren, die das planetare Ökosystem existenziell bedrohen, stehen Klimawandel, Desertifikation, Gletscherschmelze und Biodiversitätsverlust ganz oben. Die damit einhergehenden sozialen Probleme umfassen Ressourcenflucht, Wassermangel und umweltbedingten Welthunger. Für Unternehmen sind dabei Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung, Kinderarbeit, Bespitzelung oder Dumpinglöhne die entscheidenden Größen. Einen Überblick über die unterschiedlichen Problemfelder gibt folgende nach Kategorien gefasste Grafik. Anhand von sechs Oberkategorien wird versucht, das Spektrum an Problemlagen aufzuzeigen. Umweltprobleme Ernährung Klimawandel, Treibhauseffekt Zerstörung, Verschmutzung Desertifikation, Bodenerosion Klimawandel, Treibhauseffekt Zerstörung, Verschmutzung Desertifikation, Bodenerosion 3 Die Animations-Clips „Globalisierung“ und „Klimawandel“ aus der Reihe „WissensWerte“ erklären fundiert und anschaulich die wichtigsten Fakten und Zusammenhänge zum Thema www.youtube.com/ watch? v=BU4Qprznwu0&list=PLE8A2B80117BCB69D/ sowie www.youtube.com/ watch? feature=player_embedded&v=dMDQzXvEBTE#! / Siehe zudem das „Klimaskeptiker-Portal“ „Sceptical Science“ als gut recherchierte Quelle für Argumente und Belege, um Skeptikern und ihren Einwänden hinsichtlich des Klimawandels: www.skepticalscience.com <?page no="27"?> 1.3 Push- und Pull-Faktoren 27 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Polkappenschmelze, Tsunamis Arten-, Waldsterben Naturkatastrophen Biodiversitätsverlust Rohstoffe & Energie Wohlstand & Gesundheit Ressourcenerschöpfung Peak Oil, Engpässe steigende Energienachfrage Verteilungskämpfe Nord-Süd-Kluft Armut, Krankheit Welthunger, Unterernährung Ozonloch, Feinstaub, Smog Bildungsdefizite, Analphabetismus Mangel an Grundversorgung Weltbevölkerung Menschenrechte Bevölkerungsexplosion Ressourcenkriege, Kampf um Wasser Migration, Urbanisierung Ressourcenflucht Terrorismus, Destabilisierung Diskriminierung, Ungerechtigkeit Frauen, Kinder, Minderheiten etc. Verbrechen, Korruption Arbeitssicherheit, Unfälle Lohndumping, Ausbeutung Tabelle 1: Globale Herausforderungen Um die oben genannten globalen Probleme greifbarer zu machen, seien folgende Zahlen genannt: Im Jahr 1980 wurden den globalen Ökosystemen 40 Milliarden Tonnen entnommen. Der weltweite Verbrauch stieg bis 2002 auf 53 Milliarden Tonnen. Der vom Weltklimarat vorausgesagte Anstieg der Erdmitteltemperatur wird sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf zwischen 1,5° und 5,8° Celsius belaufen; der jährliche Meeresspiegelanstieg liegt bei 3 Millimeter. Bereits 70 % aller Wälder weltweit sind heute gerodet; alle zwei Sekunden wird ein Waldgebiet von der Größe eines Fußballfeldes zerstört bzw. täglich die Fläche New Yorks. Pro Tag werden 130 Tier- und Pflanzenarten - teils pharmazeutisch hochrelevant - ausgerottet. Es ist das größte Artensterben seit Verschwinden der Dinosaurier. Der weltweite Giraffenbestand wird derzeit auf 100.000 geschätzt. Täglich sterben 30.000 Kinder. Über 50 Prozent der Todesfälle sind durch vermeid- oder behandelbare Krankheiten wie Durchfall oder AIDS verursacht. Allein Mangelernährung und Hunger sind für den Tod von über 3,5 Millionen Kindern jährlich verantwortlich (WFP 2016). Weltweit leben mehr Kinder als Erwachsene in extremer Armut. Fast ein Fünftel der Kinder in Entwicklungsländern lebt in Haushalten, die pro Tag und Person mit rund 1,70 Euro auskommen müssen (Unicef 2016). <?page no="28"?> 28 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der globale Besitz konzentriert sich in den Händen von weniger als einem Prozent der Bevölkerung; laut der Universität Zürich kontrollieren 147 Großkonzerne, die miteinander eng verbunden sind, 80 % des gesamten Weltumsatzes und 40 % des Weltvermögens; d.h. weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung beherrscht die Weltwirtschaft. Diese „Super-Gruppe“ besteht hauptsächlich aus Banken und großen Finanzinstituten, wie JP Morgan Chase, Goldman Sachs, Morgan Stanley und Bank of America. Eine Studie des Economic Policy Institute zeigt auf, dass das Einkommen des obersten Prozent der Bevölkerung zwischen 1997 und 2007 um 224 % stieg, das der unteren 90 % aber nur um 5 %. 2007 ist das Jahr in der Menschheitsgeschichte, in dem mehr als 50 % der Weltbevölkerung in Städten lebt. Bis 2030 wird dieser Anteil nach Prognosen der UNO auf zwei Drittel anwachsen. Das 20: 80-Dilemma: 20 % der Weltbevölkerung verbrauchen 80 % der Rohstoffe für Energie- und Materialwirtschaft (Industrieländer), während 80 % der Menschen 20 % der Ressourcen beanspruchen, gleichzeitig aber überwiegend die Auswirkungen zu spüren bekommen (z.B. Wüstenbildung, Meeresspiegelanstieg in den Entwicklungsländern). Abb. 3: Ökosystemleistungen (WWF (2016), S. 16) <?page no="29"?> 1.3 Push- und Pull-Faktoren 29 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die vorstehende Grafik veranschaulicht die Vielfalt der Ökosystemleistungen der Natur und sensibilisiert so für die Wichtigkeit ihrer Erhaltung. Versorgungsleistungen meinen hierbei so viel, wie die von Ökosystemen bezogenen Produkte; Regulierungsleistungen sind Nutzeffekte aus der Regulierung natürlicher Prozesse; Kulturelle Leistungen sind nicht materielle Nutzeffekte, die wir aus Ökosystemen beziehen; Basisleistungen sind grundlegend für die Erbringung aller anderen Ökosystemleistungen (vgl. WWF (2016) Living Planet Report 2016, S. 16 f.). Zudem stellt sich Unternehmen gegenwärtig wie künftig das drängende Problem, Nachwuchs zu finden. Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft fehlen der Wirtschaft im Jahr 2020 rund 230.000 Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker. Die Bundesregierung geht sogar von bis zu 500.000 Arbeitnehmern aus. Bereits heute sind es 144.000 Fachkräfte zu wenig, darunter 37.000 Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure, 25.000 Maschinenbautechniker und 22.000 EDV-Spezialisten. Laut Bundesregierung verursacht dieser Mangel einen Wertschöpfungsverlust von 28 Milliarden Euro pro Jahr. Umweltprobleme wie Gesundheitsrisiken lassen sich exemplarisch an der Branche Elektronik und Elektrotechnik aufzeigen. So gab es laut dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien im Jahr 2003 erstmalig mehr Handys als Einwohner in Deutschland. Die Innovationszyklen für neue Geräte und Systeme werden dabei immer kürzer. Alleine in Deutschland fallen etwa zwei Millionen Tonnen pro Jahr an, was einem Güterzug von 1.200 Kilometer Länge entspricht. Darunter sind Materialien mit teils erheblichem Belastungspotenzial für Umwelt und Gesundheit wie z.B. giftige Schwermetalle oder Flammschutzmittel. Earth Overshoot Day - das Konto überziehen Der 8. August 2016 war ein trauriger Meilenstein: Er markierte den Tag des Jahres 2016, von dem an der Bedarf der Weltbevölkerung nach natürlichen Ressourcen das für das gesamte Jahr zur Verfügung stehende Angebot überschritt. „Das ist so, als wäre bereits jetzt unser Jahreseinkommen aufgebraucht und wir müssten den Rest des Jahres von unseren Ersparnissen leben“, so Mathis Wackernagel, Präsident des internationalen Think Tanks Global Footprint Network (siehe www.footprintnet work.org). Berechnet wird der Earth Overshoot Day durch einen Biokapazitäten-Vergleich: Dem Angebot der Natur wird die Nachfrage der Weltbevölkerung nach Ressourcen gegenübergestellt, genauer jener Naturleistungen, die gebraucht werden, um den Appetit nach Produkten und Dienstleistungen zu stillen. <?page no="30"?> 30 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Vereinfacht gesagt, zeigt er, wann unser totaler ökologischer Fußabdruck (gemessen in globalen Hektar) der totalen Biokapazität (ebenfalls in globalen Hektar gemessen), die die Natur in einem Jahr produzieren kann, entspricht. Nach diesem Tag, für den Rest des Jahres, häufen wir Abfall und ökologische Schulden an, indem wir am Grundstock des Naturkapitals zehren. 4 Abb. 4: Globaler Vergleich des Ressourcenverbrauchs (Global Footprint Network 2016) Pull-Faktoren: Hin zu mehr Nachhaltigkeit Dagegen finden sich Pull-Faktoren, die Anreize darstellen, sich nachhaltiger zu verhalten. In dem Maße, wie die Nachfrage durch aufgeklärte und umweltbewusste Konsumenten steigt, kann sich der bisherige Push-Ansatz künftig verstärkt in eine Pull-Wirkung verwandeln. Letztere steht im Zusammenhang mit dem häufig gehörten Ruf, Nachhaltigkeit müsse sich erst noch seinen Business Case schaffen, also sein Modell zur Gewinnerwirtschaftung und damit zur ökonomischen Legitimierung. Während für politische Akteure meist die Sicherung der nationalen Ressourcen- und Existenzbasis im Vordergrund steht, sich Nichtregierungsorganisationen für von der Politik nicht abgedeckte Themenbereiche einsetzen, sehen wirtschaftliche Akteure den größten Nutzen von Nachhaltigkeit in Aspekten wie Innovation, Wettbewerbsvorteil und Differenzierung. 4 Der ökologische Fußabdruck eines Berliners liegt bei 4,4 Hektar pro Jahr. Das bedeutet, dass zur Bereitstellung aller natürlichen Ressourcen zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse einer in Berlin lebenden Person im Durchschnitt eine Fläche von 4,4 Hektar pro Jahr erforderlich ist, also mehr als sechs Fußballfelder. Für alle Einwohner Berlins zusammengenommen würde die Fläche damit mehr als 15 Millionen Hektar ausmachen. Würde man um Berlin einen Kreis mit dieser Größe legen, so würden Städte wie Rostock, Dresden und Braunschweig innerhalb des Kreises liegen und dieser sogar fast an Hamburg heranreichen. <?page no="31"?> 1.3 Push- und Pull-Faktoren 31 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das soziale und ökologische Handeln großer Unternehmen wird zunehmend gesellschaftlich und global beobachtet. Diese Außenwirkung beeinflusst den Erfolg des Unternehmens. Nicht nur die Akzeptanz der Kunden hängt von dieser Außenwirkung ab, auch der Börsenkurs ist dadurch mitbestimmt. So zeigt die Einführung des Dow Jones Sustainability Group Index (DJSI) ( QR), dass Wertemanagement in seiner 30-jährigen Geschichte aktueller ist denn je. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts emnid unter 250 Führungskräften glauben 90 % der Befragten, nachhaltig ausgerichtete Unternehmen hätten langfristig einen größeren wirtschaftlichen Erfolg als ausschließlich profitorientierte. Nachhaltigkeit kommt dabei vor allem in sechs Kernbereichen zum Einsatz: Umwelt- und Klimaschutz, Unternehmenskultur und -ethik, Qualitätsmanagement, Human Resources, Führung und Corporate Citizenship ( QR). Weltweites Geschäftspotenzial: 10 Bio. USD bis 2050 Besonders reizvoll sind in diesem Zusammenhang Meldungen und Einschätzungen von Experten wie die folgende: Eine bislang abwartend-skeptische Grundhaltung in Unternehmen wandelt sich immer stärker in eine positiverwartungsfreudige Einstellung. Im Rahmen des Projektes „Vision 2050“ ( QR) haben PricewaterhouseCoopers, die International Energy Agency, die OECD und die Weltbank Schätzungen der globalen Größenordnung möglicher weiterer Nachhaltigkeits-Geschäftschancen in wichtigen Sektoren im Jahr 2050 abgegeben. Ihre Prognosen zu den künftigen nachhaltigkeitsbezogenen Geschäftsmöglichkeiten belaufen sich bis 2050 auf drei bis zehn Billionen USD jährlich bzw. auf 1,5 bis 4,5 % des Weltbruttosozialproduktes. Insbesondere profitieren davon Sektoren und Wirtschaftsbereiche wie Energie, Landwirtschaft, Wasser, Metalle sowie Gesundheit und Bildung (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Schätzung globaler Nachhaltigkeits-Geschäftschancen bis 2050 (Schätzungen von PwC auf Basis von Daten von IEA, OECD und Weltbank) <?page no="32"?> 32 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Nutzenpotenziale vor allem aus Einsparungen bei Ressourcen und Prozessen ergeben, die häufig gleichzusetzen sind mit Kosteneinsparungen. Wettbewerbsvorteile ergeben sich dabei etwa aus der Steigerung der Energie- und Materialeffizienz. Insgesamt verweisen die vorangehenden Ausführungen darauf, dass das aktuell hohe Interesse am Thema Nachhaltigkeit in den aussichtsreichen Prognosen, dem hohen erwarteten Geschäftspotenzial und der Abwehr negativer Begleiterscheinungen bei der industriellen Produktion, kurz Umweltverschmutzung, begründet liegt. Dadurch ergibt sich zugleich ein Innovationsschub. Auf den Punkt gebracht: Sowohl Pushals auch Pull-Faktoren gewinnen auf Anbieter- und Nachfragerseite an Gewicht. Dies lässt sich mit einer Aufwärtsspirale vergleichen, die sich langsam gegen eine jahrzehntelange Stagnation des Themas durchsetzt. 1.4 Widerstände gegen Wandel Sei der Wandel, den du in der Welt sehen willst. Mahatma Gandhi Kein Wandel ohne Widerstand. Trotz Argumenten, die auf einen Innovationsschub, Erneuerung und Wachstum durch Nachhaltigkeit schließen lassen, legen sich die Widerstände nur langsam. Zweifel an Nutzen und Zukunftsfähigkeit von Nachhaltigkeit liegen in den befürchteten Trade-Offs begründet: Umweltverträglichkeit sei nur durch Umsatzeinbußen zu erreichen. Eine besondere Herausforderung bildet der Umgang mit den Widerständen der Betroffenen. Veränderungen werden persönlich und beruflich oft als bedrohlich empfunden: Lediglich 5 %, die sogenannten Promotoren, unterstützen Veränderungsprozesse, die Hauptgruppen bilden die Skeptiker und Bremser mit jeweils 40 %. 15 % sind klare Gegner von Wandel (Mohr 1998). Abb. 5: Einstellungen zum Wandel (Mohr (1998)) Obige Zahlen lassen sich auch auf den Umgang mit Nachhaltigkeit übertragen. Nachhaltigkeit ist zwar seit mehr als 40 Jahren ein Thema, konnte sich aber bislang nicht flächendeckend durchsetzen. Nachfolgend einige Gründe hierfür: Befürchtung der Unvereinbarkeit wirtschaftlicher und ökologischer Ziele und Interessen <?page no="33"?> 1.4 Widerstände gegen Wandel 33 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Angst, deshalb Trade-Offs in Kauf nehmen zu müssen, die zulasten des Profits gehen mangelnde Operationalisierbarkeit aufgrund der Komplexität (Wechselwirkungen, Integrativität etc.) mangelndes Wissen und Personal Mangel an Rückhalt in Politik und Gesellschaft Verklärung, Gutmenschen-, Heile-Welt- und Pseudo-Weltuntergangs-Thema Trittbrettfahrermentalität; keiner will den ersten Schritt tun altes Denken, Sicherheitsdenken, Routine, Gewohnheit, Angst vor Neuem, Wandel und Unwägbarkeiten. Segment Eigenschaften Ziele aktive Unterstützer engagieren sich mit Hand und Herz für nachhaltige Themen haben in der Regel gutes Verständnis für und Wissen zu den sozialen Themen sind oft von Themen betroffen gezielt unterstützen und stärken Vorbildfunktion stärken und Sichtbarkeit verleihen versuchen, Anzahl aktiver Unterstützer auf Leitungsebene zu erhöhen stille Befürworter sind grundsätzlich mit Herz dabei sind oft nicht direkt von Themen betroffen Aktivitätsgrad erhöhen Betroffenheit aufzeigen durch gezielte Aktionen aufzeigen, wie sie aktiv werden können in konkrete Projekte einbinden, quick wins realisieren aktive Opponenten setzen sich aktiv gegen nachhaltige Themen ein entweder direkt Betroffene, die ihr Verhalten ändern müssten beziehungsweise für die das soziale Thema negative Konsequenzen hat oder Personen, die den Sinn des Managements nachhaltiger Themen nicht einsehen, da sie damit nicht in Berührung kommen herausfinden, warum opponiert wird Bedenken ernst nehmen und an Lösungen arbeiten Sinn und Betroffenheit gezielt und an konkreten Beispielen aufzeigen versuchen, Herz zu gewinnen für nachhaltige Themen <?page no="34"?> 34 1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung stille Skeptiker stehen nachhaltigen Themen eher desinteressiertskeptisch gegenüber sind häufig nicht direkt von nachhaltigenThemen betroffen gezielt informieren, um Sinn des Managements nachhaltige Themen und Bezüge zu täglichen Geschäftsaktivitäten (Betroffenheit bzw. Relevanz) aufzuzeigen Tabelle 3: Maßnahmen zur Verankerung nachhaltiger Themen in der Kultur (in Anlehnung an Winistörfer et al. (2012), S. 194) 5 Die obige Tabelle zeigt einen Versuch, wie mit einer gewissen Systematik an Maßnahmen, ein „Kulturwandel“ eingeläutet werden könnte. Für die Zukunft muss das Leitbild der Nachhaltigkeit in klaren Farben gemalt werden, damit es als gesamtgesellschaftliche Vision die Anziehungskraft bekommt, die für seine Umsetzung im globalen Maßstab notwendig ist. 5 Winistörfer, H. et al. (2012). Management der sozialen Verantwortung in Unternehmen: Leitfaden zur Umsetzung. München: Hanser. <?page no="35"?> 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund <?page no="36"?> 36 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Alle reden aktuell von Nachhaltigkeit, aber wo kommen der Begriff, das Konzept, das Leitbild her? Wo hat das Konzept seinen Ursprung? Was sind Meilensteine und Rahmenbedingungen, die zur Herausbildung des Nachhaltigkeitsbegriffes geführt haben? Maßnahmen Schrittweise Annäherung über den historischen Verlauf. Herleitung des Konzeptes anhand zentraler Studien, Berichte, Konferenzen. Ergebnisse Studierende kennen die wichtigsten Stationen der Geschichte der Nachhaltigkeit. Hilfsmittel Konferenzen, Dokumente, Gesetze. Man kann nicht den Wald abholzen und das Echo stehen lassen. Richard Schröder Woher kommen das Konzept, das Leitbild, das Handlungsprinzip überhaupt? Wie ist das Konzept entstanden, wie hat es sich entwickelt - und warum? Die folgenden Ausführungen geben einen Überblick über die Geschichte der Nachhaltigkeit, politische Hintergründe, wichtige Konferenzen, Dokumente. Kurz, das, was Nachhaltigkeit zu dem gemacht hat, was es heute ist. Es geht darum, den Wald hinter den Bäumen zu sehen. Denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft einschätzen. Die historischen Vorläufer des Nachhaltigkeitsleitbildes, die erklärt werden, sind: Carlowitz’ Waldbewirtschaftungsprinzip Grenzen des Wachstums Brundtland-Bericht Rio-Gipfel Agenda 21 Millenniumsziele der UN Agenda 2030 <?page no="37"?> 2.1 Carlowitz’ Waldbewirtschaftungsprinzip 37 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 2.1 Carlowitz’ Waldbewirtschaftungsprinzip Der Begriff der Nachhaltigkeit beschreibt in seinem ursprünglichen Sinn die Nutzung eines regenerierbaren natürlichen Systems in einer Weise, dass dieses System in seinen wesentlichen Eigenschaften erhalten bleibt und sein Bestand auf natürliche Weise nachwachsen kann. Seinen Ursprung hat der Begriff in der Forstwirtschaft. Bereits 1713 forderte Carl von Carlowitz, Oberberghauptmann und Leiter des frühindustriell überaus bedeutsamen sächsischen Oberbergamts in Freiberg, „eine beständige und nachhaltende Nutzung des Waldes.“ 6 Die „kluge Art der Waldbewirtschaftung“, wie Carlowitz es bezeichnete, wird als die anschaulichste Metapher zur Erklärung des Nachhaltigkeitsleitbildes herangezogen: Bäume, die abgeholzt werden, müssen nachgepflanzt werden, um die Ressourcenbasis - und damit die wirtschaftliche Basis - nicht zu erschöpfen. Wer allen Wald abholzt, hat kurzfristig viel Holz, aber über die nächsten Jahrzehnte nur wenig. In Ulrich Grobers höchst empfehlenswertem Buch zur Kulturgeschichte des Begriffes Nachhaltigkeit zitiert er Carlowitz 7 : „Die gehöltze pfleglich brauchen“ bedeutete so viel wie sie „also zu handhaben, daß solch eine beständige revenüe auf lange jahre geben … über den ertrag der höltzer nicht gegriffen, sondern eine immerwährende beständige holtz=nutzung dem Herrn und eine beharrliche feuerung, auch andere holtz-nothdurfft, dem lande, von jahren zu jahren, bey ihrer zeit, und künfftig den nachkommen bleiben.“ Konkret ist der Anspruch an Nachhaltigkeit Anna Amalia, der Mutter von Herzog Carl August, zu verdanken. Sie veranlasste die erste Forstreform der Welt mit dem Ziel, Holz, dauerhaft und mit stetem Ertrag bereitzustellen. Denn Europas damalige Gier nach der „Materia Prima“, sei es beim Schiffs- oder Hausbau, beim Kochen oder Heizen, drohte die Ressource so kahlzuschlagen, dass zwar das kurz-, nicht aber das langfristige Überleben gesichert wurde. Nachhaltigkeit wird gegenwärtig schnell und möglichst greifbar gefasst. Dass dem Begriff in Kultur und Bewusstsein, in Philosophie und Poetik viel tiefere Schichten und Dimensionen innewohnen, hat Grober beschrieben. Sein Buch ist eine Ode an die Bedeutung des Begriffes und seinen wahren Kern. Dafür wurde er mit dem Brandenburgischen Literaturpreis Umwelt für „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffes“ ausgezeichnet. In 6 Hans Carl von Carlowitz (1732) Sylvicultura Oeconomica. Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht. Kessel, Remagen-Oberwinter (Wiederauflage 2009). 7 Grober (2010), S. 115 <?page no="38"?> 38 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit der Beschreibung des Buches warnt Grober: „Nachhaltigkeit ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe, ein Begriff, der tief in unserer Kultur verwurzelt ist und den es vor seinem inflationären Gebrauch zu retten gilt.“ Das von Joachim Heinrich Campe 1807 herausgegebene Wörterbuch der deutschen Sprache definiert das Wort „Nachhalt“ als das, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält“. Die Idee aber reicht noch weiter zurück. Sie findet sich im „Sonnengesang“ des Franz von Assisi genauso wie bei den griechischen Philosophen und den Philosophen der Aufklärung. Ulrich Grobers Zeitreise in die Nachhaltigkeit führt an den Hof des Sonnenkönigs und in die deutschen Fürstenstaaten, erzählt von sächsischem Silberbergbau und vom Holzmangel. Und davon, dass die Nachhaltigkeitsidee überall dort, wo sie auftaucht, ein Kind der Krise ist, aber auch die Entstehung eines neuen Bewusstseins markiert: „Des Bewusstseins, dass der Planet, auf dem wir leben, erhalten und bewahrt werden muss.“ So jedenfalls wird das Opus Magnum vom Verlag beschrieben und fasst die jahrhundertelange Geschichte damit in aller Kürze zusammen. Merke: Ihrem Ursprung nach ist Nachhaltigkeit ein ressourcenökonomisches Prinzip, das ermöglichte, eine Ressource dauerhaft ertragbringend zu nutzen. Linnés oeconomia naturae Die Naturlehre bildet den Ausgangspunkt. In dem lateinischen Wort oeconomia steckt das griechische oikos - Haus, Haushalt. Im Kontext von Natur ist damit so viel gemeint wie die Einheit und Ganzheit der Natur, die Mannigfaltigkeit der Arten, der Biodiversität von Flora und Fauna, die Kreisläufe von Werden und Vergehen, Nahrungsketten, Energieströme - das Eigenleben der Natur in seiner ganzen Hülle und Fülle. Mineralreich, Pflanzenreich und Tierreich bilden ein vernetztes Ganzes. Sie sind ein sich selbst regulierender und erhaltender Organismus. Carl von Linné als Vater und Vorläufer der Ökologie schrieb im Rahmen seiner oeconomia naturae um 1750 in diesem Zusammenhang: Es müsse gelingen, die Abläufe der Ökonomie mit den großen, unwandelbaren, gottgegebenen Kreisläufen der oeconomia naturae zu synchronisieren. „Die Natur erlaubt niemandem, sie zu beherrschen“, so Linné. 8 Seiner Auffassung nach war die Ökonomie eine nachahmende Wissenschaft. Diese dürfe nicht wider die Natur handeln, sondern müsse dieser folgen und mit den Ressourcen haushalten. Ökologie meint also die Haushaltung mit der Natur. 8 Grober (2010), S. 128 f. Im Original siehe Carl von Linné (1735), Systema Naturae. Johan Wilhelm de Groot, Leiden. <?page no="39"?> 2.2 Die Grenzen des Wachstums 39 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Zusammenprall von Ökonomie und Ökologie Mitte des 19. Jahrhunderts prallten Ökonomie und Ökologie aufeinander. Ihre Ziele, Absichten und Vorgehensweise schienen inkompatibel. Denn die Reinertragslehre setzte dem gemäßigten Holzeinschlag ein abruptes Ende. Die neue Lehre fragte allein nach der höchstmöglichen Verzinsung des im Wald investierten Kapitals. Statt eines steten hohen Holzertrages rückte plötzlich der höchstmögliche direkte Geldertrag in den Fokus. Nicht mehr die Produktivität der Natur war der Maßstab, sondern der freie Markt und sein Gesetz von Angebot und Nachfrage. Gewinnmaximierung nicht Naturgesetzmäßigkeit war das neue Credo in Wirtschaft und Gesellschaft. „Die Zyklen der Natur traten zurück gegenüber der Dynamik des Kapitalismus, der Gebrauchswert hinter den Tauschwert“, nennt es Grober. 9 Damit wurde das Handlungsprinzip Nachhaltigkeit entwertet. Es sollte über hundert Jahre, bis in 1970er Jahre hinein, dauern, bis die wissenschaftlichen Disziplinen Ökologie und Nachhaltigkeit wieder aufgegriffen wurden. 2.2 Die Grenzen des Wachstums Eines der in unserer Gesellschaft gern geglaubten Märchen ist die Behauptung, dass die Fortdauer des Wachstums zu einer stärkeren menschlichen Gleichberechtigung führen müsse. Wir haben bereits dargestellt, wie das gegenwärtige Wachstum von Bevölkerung und Kapital tatsächlich die Kluft zwischen arm und reich weltweit vergrößert. Dennis Meadows Der Bericht „Grenzen des Wachstums“ ( QR) im Jahre 1972 schlug wie eine Bombe ein. Basierend auf ausgeklügelten Computersimulationen malte er ein düsteres Bild der Zukunft des Planeten, wenn die Menschheit nicht ressourcenverträglicher wird. Der Bericht markiert den Beginn der jüngeren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit nachhaltiger Entwicklung und mahnte eine neue „Weltkonjunkturpolitik“ an. Dennis Meadows und sein Forscherteam warnen: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“ 10 Nach der Publikation des Berichts wurden nur einige zehntausend Exemplare in den USA verkauft, aber Millionen in übervölkerten Ländern wie den Niederlanden oder Japan. Er wurde in etliche Sprachen übersetzt. 9 Grober (2010), S. 177 10 Meadows et al. (1972), S. 17 <?page no="40"?> 40 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der Begriff der Nachhaltigkeit erfuhr eine deutliche Ausdehnung in seiner Bedeutung. Insgesamt plädierten die Wissenschaftler für einen dauerhaften, weltweiten Gleichgewichtszustand (Homöostase), der nur durch weltweite Maßnahmen erreicht werden kann. Sie verknüpften gezielt ökonomische, ökologische und soziale Aspekte der Nachhaltigkeit. Dabei basierte die Studie auf dem Modell der Dynamik komplexer Systeme (Systems Dynamics) einer homogenen Welt. Sie berücksichtigte die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsdichte, Nahrungsmittelressourcen, Energie, Material und Kapital, Umweltzerstörung, Landnutzung u.a. Mittels Computersimulation wurde eine Reihe von Szenarien entwickelt. Die Ergebnisse waren immer ähnlich: ein katastrophaler Abfall in der Weltbevölkerung und dem Lebensstandard innerhalb von 50 bis 100 Jahren, wenn die gegenwärtigen Trends anhielten. Das Fatale der ressourcen- und emissionsintensiven Industriegesellschaft sei, dass das Wachstum nicht linear, sondern exponentiell verlaufe. Diese Form des Wachstums endet langfristig tödlich. Nur wenn das Ruder herumgerissen werde, könne ein ökologischer Kollaps verhindert werden, war Meadows’ Argumentation. Sich ihrer unvollständigen Datengrundlage bewusst, erstellte das Forscherteam Modellläufe unter Annahme gleichbleibender wie bis zu fünfmal höherer Reserven. Das Anliegen war, „Hinweise auf die im Weltsystem charakteristischen Verhaltensweisen“ zu geben statt fixer Voraussagen. 11 Ebenso war es ein Anliegen, dass durch eine Betrachtung der Welt als Ganzes - ohne eine separate Behandlung verschiedener Regionen oder Länder - das heißt durch Simplifizierung - ein Modell überhaupt erst möglich gemacht wurde. Auch hagelte es Kritik am Vorgehen sowie an Annahmen und Berechnungsweisen des Berichts. Diese beruhten jedoch meist auf Fehlinterpretationen. Vielmehr bestätigen einige bereits heute eingetretene Voraussagen die damaligen Prognosen des Berichts. So veröffentlichte Graham Turner von der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO) im Juni 2008 eine Studie. Dort verglich er die historischen Daten von 1970 bis 2000 mit den Szenarien der Studie und stellte fest, dass viele mit den Vorhersagen des Standardszenarios übereinstimmten und dieses in einem globalen Kollaps Mitte des 21. Jahrhunderts resultieren dürfte. 12 Nachhaltig ist anders. 2006 kam es zu einem Update der Studie. In „Grenzen des Wachstums. Das 30- Jahre-Update“ schreiben Meadows und sein Forscherteam: „Die globale Herausforderung kann man einfach zusammenfassen: Um eine Entwicklung tragfähig zu gestalten, muss die Menschheit das Konsumniveau der Armen dieser Welt anheben, gleichzeitig aber den 11 Meadows et al. (1972), S. 79 12 Graham Turner: A Comparison of The Limits to Growth with Thirty Years of Reality. In: Socio-Economics and the Environment in Discussion. CSIRO Working Paper Series Number 2008-09. June 2008; New Scientist: Prophesy of economic collapse „coming true“. 17. November 2008 <?page no="41"?> 2.2 Die Grenzen des Wachstums 41 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit ökologischen Fußabdruck der Menschheit insgesamt senken. Dazu braucht es technologischen Fortschritt, personelle Veränderungen und längere Planungshorizonte.“ 13 Small is Beautiful Die Studie steht in einer langen Tradition von wachstumskritischen Schriften, die das Thema Nachhaltigkeit befördert haben. Dazu zählt auch E.F. Schumachers „Small is Beautiful: Economics as if People Mattered“ aus dem Jahre 1973. Als Ausgangspunkt der weltweiten Umweltbewegung kann das 1962 erschienene Buch ‚Der Stumme Frühling‘ (Silent Spring) der Biologin und Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson gelten. Ziel war, die Auswirkungen eines rigorosen Pestizid-Einsatzes auf Ökosysteme aufzuzeigen. Das Buch löste in den USA eine heftige politische Debatte aus und führte letztlich zum späteren DDT- Verbot. In einer raffiniert aufgebauten Anklage gegen den übermäßigen Einsatz von Pestiziden und anderen Chemikalien zeichnet Carson die Idylle einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt, in der die Stimmen des Frühlings, die Vögel, aber auch die Insekten und andere Lebewesen verstummen. Sie nennt statistische Angaben, Fallbeispiele und Aussagen von Experten und erzeugt so mit ihrer eindringlichen Erzählung Betroffenheit. Neuen Auftrieb bekam der Schutz der Erde auch durch die Weltraumperspektive ( QR). 400.000 Kilometer von der Erde entfernt meinte der Astronaut Eugene Cernan 1972: „Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden, aber tatsächlich entdeckten wir die Erde.“ Er und seine Kollegen sprachen von der blauen Weltkugel (das meistpublizierte Foto aller Zeiten) als fragil, zerbrechlich, zart, verletzlich. Vom Universum aus war die Schönheit der Erde von grenzenloser Majestät, sie war ein funkelndes blauweißes Juwel, unergründlich und geheimnisvoll, ein einsames, marmoriertes, winziges Etwas, ein Saphir auf schwarzem Samt. Das jedenfalls waren die Bezeichnungen von Astronauten beim Anblick unseres Planeten vom Weltall aus. Um materiell und energetisch nachhaltig zu sein, wie Meadows et al. es fordern, müssten für alle Durchsätze der Wirtschaft Bedingungen erfüllt sein, die sich an den drei Prinzipien orientieren, die Herman Daly u.a. in seinem vielbeachteten Werk „Towards a Steady-State Economy“ formuliert: Erstens dürfen die Verbrauchsraten erneuerbarer Ressourcen nicht deren Erneuerungsraten übersteigen. Zweitens dürfen die Verbrauchsraten nicht-erneuerbarer Ressourcen 13 Meadows et al. (2006), S. 264 <?page no="42"?> 42 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit nicht die Rate überschreiten, mit der nachhaltig erneuerbare Ressourcen als Ersatz dafür erschlossen werden. Drittens dürfen die Raten der Schadstoffemissionen nicht die Aufnahmefähigkeit der Umwelt für diese Schadstoffe übersteigen. 14 2.3 Der Brundtland-Bericht To keep options open for future generations, the present generation must begin now, and begin together, nationally and internationally. Our Common Future Report Seit Meadows et al. prosperierten viele Länder und Ökonomien, gleichzeitig aber häuften sich wirtschaftliche, ökologische und soziale Probleme als unliebsame Begleiterscheinungen. 1983 gründeten die Vereinten Nationen deshalb eine unabhängige Sachverständigenkommission, die sogenannte Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (World Commission on Environment and Development, WCED) mit ihrem Sekretariat in Genf. Sie wurde damit betraut, einen Perspektivbericht zu langfristig tragfähiger, umweltschonender Entwicklung im Weltmaßstab bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus zu erarbeiten. Der offizielle Titel dieses Berichtes war „Our Common Future“, geläufiger aber ist die Benennung nach der Vorsitzenden, Gro Harlem Brundtland. Ob als Brundtland- oder Our-Common-Future-Bericht bezeichnet, zwischen den Buchdeckeln findet sich, was bis heute als „klassische“ und am weitesten anerkannte Definition und Leitbildbeschreibung von nachhaltiger Entwicklung gilt: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die gewährleistet, dass künftige Generationen nicht schlechter gestellt sind, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, als gegenwärtig lebende.“ Wer sich diese Definition verinnerlicht, sie auswendig lernt und damit immer parat hat, tut sich einen Gefallen, weil letztlich und im Zweifelsfall immer auf sie rekurriert wird. 14 Daly (1990), S. 2. Als physikalische Teildisziplin bietet die Thermodynamik z.B. mit ihrem Entropiegesetz Ansätze, die als Gegenentwürfe zum neoklassischen Paradigma genutzt werden könnten und an denen sich Wirtschaftsprozesse orientieren könnten. Demnach wären jene Prozesse etwa als unwiederbringlicher Verzehr eines endlichen Vorrats an Ressourcen zu begreifen. Siehe Daly, H.E.: Toward Some Operational Principles of Sustainable Development. In: Ecological Economics, Bd. 2 (1990) H.1; S. 1-6. Siehe auch Georgescu- Roegen, N.: The Entropy Law and Economic Process. Cambridge 1971. <?page no="43"?> 2.3 Der Brundtland-Bericht 43 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Mit dem Bericht beabsichtigten die UNO und die Weltkommission, Handlungsempfehlungen für eine dauerhafte Entwicklung zu geben. Und damit war hier konkret gemeint: eine dauerhafte Erfüllung der Grundbedürfnisse aller Menschen weltweit unter Berücksichtigung der Tragekapazität 15 der natürlichen Umwelt sowie der Konfliktlinien zwischen Umwelt- und Naturschutz, Armutsbekämpfung und Wirtschaftswachstum. Der Verdienst des Brundtland-Berichts war, den Begriff nachhaltige Entwicklung erstmals als globales Leitbild der Entwicklung einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht zu haben. Und dies indem er einen Aspekt hervorhob, der gemeinhin radikal vernachlässigt wird: Globale Umweltprobleme sind hauptsächlich das Resultat der nicht-nachhaltigen Konsum- und Produktionsmuster im Norden und der großen Armut im Süden. Diese Problemwahrnehmung verlangte sowohl nach einer gerechtigkeitsorientierten Definition von Nachhaltigkeit als auch nach einem entsprechenden Lösungsansatz. Dies erforderte in der Konsequenz eine Strategie, die Entwicklung und Umwelt zusammenbrachte. Eine weitere, in eine Gleichung gefasste Definition lautete deshalb: 16 Nachhaltigkeit = Umwelt + Entwicklung. Mit dieser Formel schließt sich der Kreis. Sie zeigt, dass die heute geläufige Bezeichnung „nachhaltige Entwicklung“ die Übersetzung der Ausgangsdefinition von „sustainable development“ war. Erstmals war in der Politik die Rede von der Notwendigkeit eines „dauerhaften Gleichgewichtszustandes“. Beachte: Der Unterschied zwischen den Begriffen Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung ist: Nachhaltigkeit verweist auf einen Zustand, Statik und Beständigkeit; nachhaltige Entwicklung impliziert Bewegung, Dynamik, das Prozesshafte sowie das Werdende und Entstehende. Konferenzen und Abkommen von globaler, historischer Bedeutung sind die Meilensteine bei der Herausbildung des Nachhaltigkeitsleitbildes. Im Hintergrund des politischen Ringens verschärften sich dabei einige Entwicklungen, die Treiber hin zu mehr Nachhaltigkeit werden können. Auch wenn sicher mehr Rahmenumstände als jene zu nennen sind, wie sie auch im ersten und dritten 15 In der Schifffahrt bezeichnet der in der Ökologie geläufige Begriff der Tragekapazität bzw. carrying capacity die maximal mögliche Fracht, bevor das Schiff Gefahr läuft unterzugehen. 16 Auf diese Definition als Ausgangspunkt bezieht sich auch die Dissertation der Autorin mit dem Titel „Klima, Wälder, indigene Völker“. Dort zeigt sie auf, wie Umweltveränderungen menschliche Entwicklung beeinflussen. Da indigene Völker besonders nah an, mit und in der Natur leben, lässt sich der Zusammenhang von Umwelt und Entwicklung gut aufzeigen. So ist bspw. der Regenwald die notwendige Basis für kulturelles wie wirtschaftliches (Über- )Leben und beeinflusst damit die Entwicklung einer Gemeinschaft. <?page no="44"?> 44 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Kapitel etwa unter Push- und Pull-Faktoren und (Mega-)Trends genannt werden, seien an dieser Stelle der Treibhauseffekt, die Bevölkerungsexplosion sowie die globale Ressourcenerschöpfung genannt. Ihnen ist ihr Zerstörungspotenzial wie ihre wissenschaftliche Mess- und Überprüfbarkeit gemein. Das Treibhaus heizt sich auf Was war der Anlass für die Weltgemeinschaft, sich im Brundtland-Bericht von 1987 auf eine gemeinsame globale Strategie zu verständigen? Es war die sich erhärtende wissenschaftliche Erkenntnis, dass sich die Umweltqualität weltweit aufgrund wirtschaftlicher Aktivitäten des Menschen rasant verschlechterte. Besonders deutlich abzulesen war dies an der Veränderung der Emissionswerte und der damit einhergehenden Klimaveränderung. Zu diesem Ergebnis kam auch das Intergovernmental Panel on Climate Change bzw. der Weltklimarat. Eine Auswahl der Ergebnisse aus dem jüngsten Sachstandsbericht von 2013 findet sich hier: 17 Die Konzentration an Kohlendioxid hat sich seit Beginn der Industrialisierung um 40 Prozent erhöht. Die Konzentration des Treibhausgases Methan stieg um 150 Prozent. Wenn sich der CO 2 -Gehalt der Atmosphäre verdoppelt, wird die Lufttemperatur um 1,5 bis 4,5 Grad Celsius steigen. (Im Report 2007 war das IPCC noch von 2 bis 4,5 Grad ausgegangen.) Die Ozeane haben etwa 30 Prozent des menschengemachten Kohlendioxids aufgenommen und sind dadurch saurer geworden. Der Meeresspiegel ist von 1901 bis 2010 um 19 Zentimeter gestiegen. Bis zum Ende des Jahrhunderts wird er um 26 bis 82 Zentimeter steigen. Die Geschwindigkeit der Eisschmelze in Grönland und in der Antarktis hat sich vervielfacht. Hitzewellen treten sehr wahrscheinlich öfter auf und halten länger an. Nie war es, dem Bericht zufolge, seit Beginn der Wetteraufzeichnungen wärmer als im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. 17 IPCC Fifth Assessment Report (AR5), Climate Change 2013, The Physical Science Basis. WMO. Genf. <?page no="45"?> 2.3 Der Brundtland-Bericht 45 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Mit welchen Veränderungen, basierend auf dem Ausgangsjahr 1986, bis zum Jahr 2100 zu rechnen ist, zeigen folgende Grafiken anhand der Kategorien globale bodennahe Durchschnittstemperatur, durchschnittlicher globaler Niederschlag sowie Schneeabdeckung in der nördlichen Hemisphäre. Abb. 6: Klimawandel - Globale Durchschnittswerte (IPCC 2013) Die Kurzfassung des aktuellsten Weltklimaberichts ist abrufbar unter QR. Die Wissenschaft stößt in Politik und Wirtschaft vor allem auf Gehör, wenn sie beziffert, was Umweltschäden kosten. Weltweite Beachtung über Nacht fand deshalb der Stern-Report ( QR), benannt nach Sir Nicholas Stern, ehemaliger Weltbank-Chefökonom und Herausgeber des rund 650-seitigen Berichts ‚Stern Review on the Economics of Climate Change‘. „Der Klimawandel ist das größte und weitestreichende Marktversagen der Weltgeschichte.“, so Stern, den die <?page no="46"?> 46 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit britische Regierung beauftragt hat, die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung abzuschätzen. Der Bericht erschien Ende 2006 mit Ergebnissen wie: „Die jährlichen Kosten für Maßnahmen zur Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration zwischen 500 und 550 ppm Kohlendioxidäquivalenten werden schätzungsweise bei etwa 1 % des globalen Bruttoinlandsprodukts liegen, wenn jetzt begonnen wird, entschieden zu handeln.“ Laut Stern kämen Schäden von umgerechnet knapp 5,5 Billionen Euro pro Jahr bis 2100 auf die Menschheit zu, wenn nichts gegen den Klimawandel unternommen wird. Bereits heute wird rund 1 % des globalen Bruttoinlandsprodukts, etwa 270 Milliarden Euro, jährlich ausgegeben, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Die jährlichen Kosten des Klimawandels werden, wenn nicht gehandelt wird, dem Verlust von wenigstens 5 % des globalen Bruttoinlandsprodukts entsprechen. Unter Berücksichtigung sämtlicher Risiken und Einflüsse könnten die Schäden auf 20 % oder mehr des erwarteten globalen Bruttoinlandsprodukts ansteigen. Vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer werden die ökonomischen Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen. So wären bspw. weitere soziale und kulturelle Konsequenzen, dass bis zu 100 Millionen Menschen ihr Obdach durch Überschwemmungen und infolge des steigenden Meeresspiegels verlieren. Einem von sechs Menschen weltweit droht akute Wasserknappheit bedingt durch schmelzende Gletscher. Bereits heute gibt es über 150 Millionen Klimaflüchtlinge, das heißt Menschen, die etwa durch Trockenheiten und Dürren zur Umsiedelung gezwungen sind. Abb. 7: Entwicklung Kohlendioxid-Konzentration letzte 400.000 Jahre (IPCC 2007) Wie sich die Kohlendioxid-Konzentration entwickelt hat, zeigt die vorstehende Abbildung 7. Der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre war seit 400.000 Jahren nicht so hoch wie heute. <?page no="47"?> 2.3 Der Brundtland-Bericht 47 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Es wird voll auf dem Planeten Der Treibhauseffekt verschärfte die externen Lebensbedingungen, d.h. die ökologischen Rahmenbedingungen des Lebensraums. Das rasante Bevölkerungswachstum (siehe Abbildung zur Prognose 1990-2050) verschärft dabei den Ressourcendruck, v.a. durch Wasserverbrauch und Nahrungsmittelproduktion zusätzlich. Eine Milliarde Menschen leidet täglich Hunger. Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung stetig und ungebremst. Für 2050 erwarten die Vereinten Nationen bis zu 9,1 Milliarden Menschen auf der Erde. Das stellt Bevölkerungsexperten, Ökologen, Epidemiologen und Agrarwissenschaftler gleichermaßen vor Rätsel, wie diese steigende Anzahl von Menschen ernährt werden soll. Das exponentielle Wachstum stellt die landwirtschaftliche Produktion unter Druck. „Wir müssen in den kommenden 40 Jahren die gleiche Menge von Lebensmitteln herstellen wie in den letzten 8.000 Jahren“, sagt Jason Clay von der Umweltorganisation WWF. 18 Abb. 8: Bevölkerungsentwicklung 1990-2050 (UN, World Population Prospects (2009)) Dieses rasante Tempo der Bevölkerungszunahme erhöht den Ressourcendruck, treibt den Emissionsausstoß an und vermindert die Qualität der globalen Umweltgüter, die Voraussetzung für Leben und Produktion sind. Problematisch dabei ist, dass 95 % der Zunahme in armen Ländern stattfindet, aber gerade jene im Überlebenskampf keine Rücksicht auf die Umwelt nehmen können. Experten fordern, bei der Energieverschwendung müsste den Industrieländern, beim Bevölkerungswachstum den Entwicklungsländern Einhalt geboten werden. 18 The American Association for the Advancement of Science (AAAS). Science Without Borders, 177 th Meeting. 16.-21.02.2011, Washington, DC <?page no="48"?> 48 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 2.4 Der Rio-Gipfel Die Weltgemeinschaft ist seit 1992 der nachhaltigen Entwicklung verpflichtet - jedes einzelne Land für sich, aber auch gemeinsam, müssen wir dieses Versprechen umsetzen. Ursula Eid Erkenntnis und Handeln sind bisweilen zwei Paar Stiefel. Während Meadows’ Studie die Grenzen des Wachstums bereits vor vier Jahrzehnten ins globale Bewusstsein gehoben hatte, brauchte der Brundtland-Bericht immerhin nur zwei Jahre, bis er 1989 in der UNO-Vollversammlung Beachtung fand. Endlich war der Entschluss geboren, Taten folgen zu lassen. Hatte der vormalige Bericht auf dringenden Handlungsbedarf in internationalem Rahmen hingewiesen, ging es nun darum, Forderungen und Vorschläge in verbindliche Verträge und Konventionen zu überführen. Als Instrument wählte die UNO hierfür eine Konferenz - exakt 20 Jahre nach der ersten weltweiten Umweltkonferenz 1972 in Stockholm. Die Startbahn war frei für die Planung der bis dato größten Umwelt- und Entwicklungskonferenz der Welt, der legendären Rio-Konferenz von 1992. Die so genannte Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED) ist geläufig unter dem Begriff Erd-Gipfel, Rio-Gipfel und Weltumwelt- Konferenz. Sie tagte vom 3. bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro. Die Besonderheit der Konferenz lag in ihrem stattlichen Umfang von zwölf Tagen und der großen Anzahl von Teilnehmern aus insgesamt 178 Staaten. Auch was die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen anging, setzte die Konferenz neue Maßstäbe, nahmen doch 2.400 Vertreter von NGOs teil, weitere 17.000 Menschen beteiligten sich am parallel stattfindenden NGO-Forum. 19 Die Herkulesaufgabe war, die Umwelt- und Entwicklungsanliegen zusammenzubringen und sie in ein Abkommen zu überführen, das weltweite Verbindlichkeit beansprucht. Nicht nur umweltpolitische Probleme waren Gegenstand der Konferenz; vielmehr sollten auch die drängenden globalen Entwicklungsprobleme im umweltpolitischen Zusammenhang behandelt werden. Ziel war es, die Weichen für eine weltweite, nachhaltige Entwicklung zu stellen. Dabei war die Öffentlichkeit insbesondere für die Abhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt zu sensibilisieren ebenso wie für die Rückkopplung weltweiter Umweltveränderungen auf sein Verhalten bzw. seine Handlungsmöglichkeiten. 19 Siehe www.un.org/ jsummit/ html/ basic_info/ unced.html. Die Konferenz wurde über mehrere Jahre vorbereitet, u.a. durch ein eigens dafür gegründetes Sekretariat in London, durch Berichte aus über 120 Ländern und durch Expertenarbeitsgruppen aus verschiedenen UN-Gremien wie der UN-Wirtschaftskommission UNCTAD, dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO sowie der Weltorganisation für Meteorologie WMO. <?page no="49"?> 2.4 Der Rio-Gipfel 49 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Es war ein langer Weg von den Verhandlungen der Regierungen bis zur Verabschiedung der Dokumente. Und einer, auf dem zäh gerungen wurde. Umso mehr wird der Erdgipfel als bisheriger Höhepunkt weltweiter politischer Bemühungen um Nachhaltigkeit angesehen. Trotz der Interessengegensätze - etwa beim Thema Wald- oder Klimaschutz - konnten sich die Staatsmänner und -frauen auf die Unterzeichnung von sechs Dokumenten einigen, die die formaljuristische Verankerung von Nachhaltigkeit befördert haben. Deklaration von Rio über Umwelt und Entwicklung In den 27 Grundsätzen der Rio-Deklaration wurde u.a. erstmals global das Recht auf nachhaltige Entwicklung verankert. Weiter wurden das Vorsorge- und das Verursacherprinzip als Leitprinzipien anerkannt. Als unerlässliche Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung werden u.a. die Bekämpfung der Armut, eine angemessene Bevölkerungspolitik, Verringerung und Abbau nicht nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen sowie die umfassende Einbeziehung der Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse genannt. Klimaschutz-Konvention Die Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaveränderungen sieht vor, dass die Belastung der Atmosphäre mit Treibhausgasen auf einem Niveau stabilisiert wird, welches eine gefährliche Störung des Weltklimas verhindert. Nach Einschätzung des IPCC muss der Ausstoß an CO 2 bis 2050 weltweit um mindestens 60 % reduziert werden, um den Klimawandel in vertretbaren, also „ungefährlichen“ Grenzen zu halten. Biodiversitätskonvention Die Biodiversitätskonvention ist ein Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt. Die Welt soll die biologische Vielfalt erhalten und ihre Grundelemente auf gerechte und ausgewogene Art nachhaltig nutzen. Konkret heißt dies, dass die Nutzung so erfolgen muss, dass die biologische Vielfalt langfristig nicht weiter gefährdet wird. Die Länder haben das Recht, über ihre biologischen Ressourcen zu verfügen, sind aber dafür verantwortlich, biologische Vielfalt zu erhalten und biologische Ressourcen auf nachhaltige Weise zu nutzen. Walddeklaration Sie nennt Leitsätze für die Bewirtschaftung, Erhaltung und nachhaltige Entwicklung der Wälder der Erde. Gemäß dieser eher unverbindlichen Absichtserklärung sollen Wälder nach ökologischen Maßstäben bewirtschaftet, erhalten und geschützt werden. Eine verbindl lichere Wald-Konvention, wie sie von den Industriestaaten gewünscht wurde, scheiterte am Widerstand der Entwicklungsländer. Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung Auf der Konferenz wurde ein regierungsübergreifendes Verhandlungskomitee ins Leben gerufen, um eine Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung in den Ländern, die schwer unter Dürre und Wüstenbildung leiden, vorzubereiten. Dieses <?page no="50"?> 50 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Komitee, 1993 gegründet, beschloss nach fünf vorbereitenden Sitzungen am 17. Juni 1994 in Paris die Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung. Agenda 21 Sie ist das bekannteste der fünf Abkommen. Ihr zufolge ist es an den Regierungen der einzelnen Staaten selbst, für die Umsetzung des Nachhaltigkeitsleitbildes auf nationaler Ebene zu sorgen. Mehr dazu folgt im nächsten Unterkapitel. Tabelle 4: Die wichtigsten Abkommen der Rio-Gipfels 1992 Im Nachfolgeprozess der Rio-Konferenz wurde die Kommission für Nachhaltige Entwicklung (Commission on Sustainable Development, CSD) gegründet, die den Umsetzungsprozess der Konferenzergebnisse überwacht. Als Nachfolgekonferenzen fanden 1997 die Konferenz Rio+5 in New York und 2002 der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg statt. Im Juni 2012 fand mit Rio+20 erneut ein Gipfeltreffen in Brasilien statt, das unter dem Titel Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung lief. Insgesamt hielt das Leitbild Nachhaltigkeit durch den Rio-Gipfel Einzug in die Politik. Allerdings wurde die Problematik von den Ländern in Art und Intensität unterschiedlich angegangen, in der Strategie wie in der Umsetzung. Nach wie vor krankt es zudem an der geringen gesetzlichen Einklagbarkeit und damit Durchsetzungskraft. Johannesburg Summit - the show must go on Die größte Nachfolgekonferenz von Rio war der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2002 in Johannesburg/ Südafrika mit ca. 20.000 Vertretern von Regierungen, der Wirtschaft, NGOs und Kommunen. Diese mündete nach Marathondebatten über Konsensformulierungen in die Verabschiedung einer Politischen Erklärung der Staats- und Regierungschefs („The Johannesburg Declaration on Sustainable Development“). Wichtigstes Ergebnis: neue Prioritäten, Zielmarken und Umsetzungsprogramme wurden vorgegeben zur weiteren Umsetzung des Leitbildes. Erstmals wurden quantifizierbare Ziele, insbesondere die Millenniumsziele, in den Aktionsplan aufgenommen. Zentrale neue Ziele waren: a) Bis zum Jahr 2010 soll der Rückgang der Artenvielfalt deutlich reduziert werden. b) Bis zum Jahr 2015 soll die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut, d.h. von weniger als einem USD pro Tag, leben, um 500 Mio. reduziert werden, weltweit alle Kinder eine Grundschulausbildung erhalten und der Anteil der Menschen, die keinen Zugang zu sanitärer Grundversorgung haben, halbiert werden. c) Bis zum Jahr 2020 soll eine Minimierung der gesundheits- und umweltschädlichen Auswirkungen bei der Produktion und dem Gebrauch von Chemikalien erreicht werden. <?page no="51"?> 2.4 Der Rio-Gipfel 51 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das Hauptproblem hinsichtlich der Umsetzung der Millenniumsziele waren zu knappe Finanzmittel. Um die Gelder zu gewinnen, wurde die sogenannte Global Marshall Plan Initiative als Einnahmequelle erwogen. Global Marshall Plan Initiative - Welt in Balance Eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft zu etablieren, ist das Ziel der Initiative. Denn nur so bekommt die Weltwirtschaft den Ordnungsrahmen, den es für eine nachhaltige Entwicklung braucht. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Global Marshall Plan Initiative „eine Plattform für eine Welt in Balance“. Getragen von rund 5.000 Unterstützern aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft organisieren sich diese als Netzwerk mit flachen Hierarchien und ohne Zentrale. Bereits in den 1990er Jahren unterstützten die Idee Persönlichkeiten wie Kofi Annan, Al Gore, Michail Gorbatschow, Prinz El Hassan bin Talal, Jane Goodall oder George Soros. Deutsche Befürworter sind u.a. Joschka Fischer (der 100 Milliarden DM pro Jahr für die Einrichtung einer Ökosozialen Marktwirtschaft forderte), Hans-Dietrich Genscher, Hubert Weinzierl, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Jakob von Uexküll und Sandra Maischberger. Ihre Kernforderungen für eine gerechtere Globalisierung lauten: globale Etablierung ökologischer und sozialer Standards für eine nachhaltige Entwicklung Überwindung der entwürdigenden Armut der Hälfte der Weltbevölkerung; Verwirklichung der Menschenrechte und Menschenwürde für alle Beförderung weltweiten Friedens, globaler Sicherheit und Befriedung von Terrorismus Gestaltung eines neuen Wirtschaftswunders durch Nutzung brachliegender Human-Potenziale von drei Milliarden Menschen weltweit. „Der Wille zum Wandel muss aus der Mitte der Gesellschaft kommen.“, ist die Initiative überzeugt. Zu diesem Zweck schärft sie das Bewusstsein für die Zusammenhänge der Globalisierung durch Information, Allianzen und Druck „von unten“. 20 20 Siehe Global Marshall Plan Initiative (Hrsg.) (2004) Welt in Balance. Zukunftschance Ökosoziale Marktwirtschaft. Hamburg <?page no="52"?> 52 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 2.5 Die Agenda 21 Die Agenda 21 nimmt sich der drängendsten Probleme der heutigen Zeit an und ist zur gleichen Zeit bemüht, die Welt auf die Herausforderungen des nächsten Jahrhunderts vorzubereiten. Sie ist Ausdruck eines globalen Konsenses und einer auf höchster Ebene eingegangenen politischen Verpflichtung zur Zusammenarbeit im Bereich von Entwicklung und Umwelt. Präambel Agenda 21 Die Rio-Konferenz machte eines deutlich: Nachhaltige Entwicklung lässt sich nur durch ein Handlungsprogramm von globaler Reichweite erreichen. Und das war die Agenda 21 ( QR). Mit der in Rio verabschiedeten Agenda 21 wurden detaillierte Handlungsaufträge unter sozialen, ökologischen und ökonomischen Vorzeichen gegeben, um einer weiteren Verschlechterung der Situation des Menschen und der Umwelt entgegenzuwirken und eine nachhaltige Ressourcennutzung sicherzustellen. Von 172 Landesvertretern unterzeichnet, ist die Agenda 21 damit ein entwicklungs- und umweltpolitisches Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert. Sie ist ein Maßnahmenpaket, das sich an alle Akteure, Ebenen und Bereiche richtet. Ihr zufolge sind es vor allem die Regierungen der einzelnen Staaten, die auf nationaler Ebene die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung planen müssen, in Form von nationalen Strategien, Umweltplänen und Aktionsprogrammen. Dabei sind auch regierungsunabhängige Organisationen und andere Institutionen zu beteiligen. Wichtig für den Erfolg der Maßnahmen und Projekte ist eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit bzw. der Bevölkerung, weil sie das Rückgrat der Gesellschaft sind. Eine Verantwortung kommt auch den Kommunalverwaltungen zu, die für ihren Bereich die Umsetzung der „Lokalen Agenda 21“ im Konsens mit ihren Bürgern herstellen soll. Global denken - lokal handeln Die Agenda 21 besteht aus insgesamt 40 Kapiteln, in denen alle relevanten Politikbereiche und Handlungsmaßnahmen angesprochen werden. In der Präambel heißt es: „Durch eine Vereinigung von Umwelt- und Entwicklungsinteressen und ihre stärkere Beachtung kann es uns jedoch gelingen, die Deckung der Grundbedürfnisse, die Verbesserung des Lebensstandards aller Menschen, einen größeren Schutz und eine bessere Bewirtschaftung der Ökosysteme und eine gesicherte, gedeihlichere Zukunft zu gewährleisten. Das vermag keine Nation allein zu erreichen, während es uns gemeinsam gelingen kann: in einer globalen Partnerschaft, die auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist.“ Die Agenda 21 ist thematisch in vier Bereiche unterteilt: <?page no="53"?> 2.6 Die Millennium-Entwicklungsziele 53 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Soziale und wirtschaftliche Dimension Diese behandelt die soziale und wirtschaftliche Dimension mit den Aspekten Armutsbekämpfung, Bevölkerungsdynamik, Gesundheitsschutz und nachhaltige Siedlungsentwicklung. Erhaltung und Bewirtschaftung der Ressourcen für die Entwicklung Diese umfasst die ökologieorientierten Themen vom Schutz der Erdatmosphäre über die Bekämpfung der Entwaldung, dem Erhalt der biologischen Vielfalt bis hin zur umweltverträglichen Entsorgung von Abfällen. Stärkung der Rolle wichtiger Gruppen Diese umfasst die partizipativen Aspekte von diversen gesellschaftlichen Gruppen, die für die Umsetzung der Agenda von besonderer Bedeutung sind. Möglichkeiten der Umsetzung Diese behandelt die Rahmenbedingungen der Umsetzung hinsichtlich der finanziellen und organisatorischen Instrumente (Technologietransfer, Bildung, internationale Zusammenarbeit usw.). Tabelle 5: Themenbereiche der Agenda 21 Anlässlich des „Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung“ in Johannesburg 2002 vermeldeten die Vertreter der Kommunen nach zehn Jahren nur mittelmäßige Erfolge. In Deutschland besteht derzeit in rund 2.600 Kommunen ein Beschluss zur Erarbeitung einer Lokalen Agenda 21, das heißt, dass ein nachhaltigkeitsorientiertes Handlungsprogramm, das auf die örtlichen Voraussetzung abgestimmt ist, entwickelt werden soll. Insgesamt stehen die Bemühungen für die Lokale Agenda 21 unter dem Motto „Global denken - lokal handeln! “ bzw. unter dem Vorzeichen des Prinzips Glokalität. 2.6 Die Millennium-Entwicklungsziele Today it is increasingly clear that UN objectives: peace, security, development, go hand in hand with prosperity and growing markets. If societies fail, so will markets. Kofi Annan Die Millennium-Entwicklungsziele - auf Englisch Millennium Development Goals oder kurz MDGs - der Vereinten Nationen sind acht Entwicklungsziele, die im Jahr 2000 von der UNO, der Weltbank, der OECD und mehreren Nichtregierungsorganisationen formuliert worden sind. Hauptziel dabei ist, die weltweite Armut zu halbieren und dies innerhalb desselben Zeitrahmens, der für die anderen Ziele ausgegeben wurde, bis 2015. Am 9. September 2000 ver- <?page no="54"?> 54 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit abschiedeten 189 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mit der Millenniumserklärung einen Katalog grundsätzlicher, verpflichtender Zielsetzungen für alle UN-Mitgliedstaaten. Armutsbekämpfung, Friedenserhaltung und Umweltschutz wurden als die wichtigsten Ziele der internationalen Gemeinschaft bestätigt. Das Hauptaugenmerk lag hierbei auf dem Kampf gegen die extreme Armut. Hauptanliegen war die globale Zukunftssicherung, also die Gewährleistung einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung, mit vier Handlungsfeldern: Frieden, Sicherheit und Abrüstung Entwicklung und Armutsbekämpfung Schutz der gemeinsamen Umwelt Menschenrechte, Demokratie und gute Regierungsführung. Die Ziele sind hier genannt, weitere Informationen dazu finden sich in Kapitel 5. Bekämpfung von extremer Armut und Hunger Die Zahl der Menschen, die von weniger als einem USD pro Tag leben, soll um die Hälfte gesenkt werden. Primärschulbildung für alle Alle Jungen und Mädchen sollen eine vollständige Grundschulausbildung erhalten. Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frau In der Grund- und Mittelschulausbildung soll bis zum Jahr 2005 und auf allen Ausbildungsstufen bis zum Jahr 2015 jede unterschiedliche Behandlung der Geschlechter beseitigt werden. Senkung der Kindersterblichkeit Die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren soll um zwei Drittel gesenkt werden. Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern Die Müttersterblichkeit soll um drei Viertel gesenkt werden. Bekämpfung von HIV/ AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten Die Ausbreitung der HIV-Infektion/ Aids soll zum Stillstand gebracht werden. Der Ausbruch von Malaria und anderer schwerer Krankheiten soll unterbunden und ihr Auftreten zum Rückzug gezwungen werden. ökologische Nachhaltigkeit Die Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung sollen in der nationalen Politik übernommen werden; dem Verlust von Umweltressourcen soll Einhalt geboten werden; die Zahl der Menschen, die über keinen nachhaltigen Zugang zu gesundem Trinkwasser verfügen, soll um die Hälfte gesenkt werden; bis zum Jahr 2020 sollen wesent- <?page no="55"?> 2.7 Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung 55 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit liche Verbesserungen der Lebensbedingungen von zumindest 100 Millionen Slumbewohnern erzielt werden. Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung Öffnung des Handels- und Finanzsystems, verbesserter Marktzugang; Verpflichtung zu guter Staatsführung; Schuldenerleichterung und -erlasse; großzügigere Entwicklungshilfe; Schaffung menschenwürdiger und produktiver Arbeitsplätze; Informations- und Technologietransfer u.a. Tabelle 6: Millenniumsentwicklungsziele (UN 2000) Zehn Jahre später wurden die MDGs und ihre Umsetzung auf der 65. UN- Generalversammlung (vom 20. bis 22. September 2010 in New York) einer Zwischenbilanz unterzogen. Auf der sogenannten „Weltarmutskonferenz“ mahnte UN-Generalsekretär Ban-Ki Moon: Es gebe Fortschritte, aber auch noch viel zu tun. Kritiker indes sprechen davon, dass die Ziele weit verfehlt werden und die Arm-Reich-Schere sich unaufhörlich erweitert. Karl-Albrecht Immel von der Welthungerhilfe sagt: „In den Industrieländern und einigen Entwicklungsländern insbesondere in Asien ist der Pro-Kopf-Konsum in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. In Afrika dagegen steht einem Durchschnittshaushalt heute rund ein Fünftel weniger zur Verfügung als 1980. In den Ländern mit dem reichsten Fünftel der Erdbevölkerung ist das Pro-Kopf- Einkommen heute rund 90 Mal so hoch wie in jenen Staaten, in denen das ärmste Fünftel der Menschheit lebt. Selbst in der „Blütezeit“ des Kolonialismus gab es nicht annähernd ein solches weltweites Wohlstandsgefälle. Noch im Jahr 1960 hatte das Verhältnis bei 30: 1, im Jahr 1990 bei 60: 1 gelegen." 2.7 Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung „Wir können die erste Generation sein, der es gelingt, die Armut zu beseitigen, ebenso wie wir die letzte sein könnten, die die Chance hat, unseren Planeten zu retten.“ Ban-Ki Moon, UN-Generalsekretär von 2007 bis 2016, im Kontext der Agenda 2030 Die Agenda 2030 wurde im September 2015 auf einem Gipfel der Vereinten Nationen von allen Mitgliedsstaaten verabschiedet und gilt für alle Staaten dieser Welt, für Industriestaaten ebenso wie für Schwellen- und Entwicklungsländer. Unter breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft in aller Welt entwickelt, ist sie ein Meilenstein der jüngeren Geschichte der UN. Kernstück der Agenda bildet ein ambitionierter Katalog mit 17 Zielen. Diese Sustainable Development Goals, <?page no="56"?> 56 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit kurz SDGs, die in Anlehnung an den Entwicklungsprozess der Millenniums- Entwicklungsziele (MDGs) entworfen wurden, traten am 1. Januar 2016 mit einer Laufzeit von 15 Jahren - also bis 2030 - in Kraft. Im Unterschied zu den MDGs, die insbesondere Entwicklungsländern galten, gelten die SDGs für alle Staaten. Mit der Agenda 2030 geht ein neues globales Wohlstandsverständnis einher. Statt um die verengte Betrachtung von Pro-Kopf-Einkommen geht es um die Umgestaltung von Volkswirtschaften hin zu nachhaltiger Entwicklung, etwa durch verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster und saubere und erschwingliche Energie. Klimapolitik, nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung werden stärker als bisher als untrennbar miteinander verbunden verstanden. In der Umsetzung der Agenda in Verbindung mit dem Pariser Klima- Abkommen von 2015 sehen viele die erhoffte Chance, den Wandel hin zu nachhaltigen und emissionsarmen Lebens- und Wirtschaftsweisen weltweit zu schaffen, die „enkeltauglich“ sind und die Schwächsten und Verwundbarsten nicht zurückzulassen („leave no one behind“). Die Agenda 2030 benennt fünf Kernbotschaften, die den 17 SDGs als handlungsleitende Prinzipien („5 Ps“) vorangestellt sind: Mensch, Planet, Wohlstand, Frieden und Partnerschaft bzw. People, Planet, Prosperity, Peace, Partnership. Kernbotschaften der SDGs - die „5 Ps“ People Planet Prosperity Peace Partnership die Würde des Menschen im Mittelpunkt den Planeten schützen Wohlstand für alle fördern Frieden fördern globale Partnerschaften aufbauen eine Welt ohne Armut und Hunger ist möglich Klimawandel begrenzen, natürliche Lebensgrundlagen bewahren Globalisierung gerecht gestalten Menschenrechte und gute Regierungsführung global gemeinsam voranschreiten Tabelle 7: Kernbotschaften der SDGs - die „5 Ps“ <?page no="57"?> 2.7 Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung 57 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die 17 Ziele sind: 1. Weltweite Beendigung der Armut in allen ihren Formen. 2. Beendigung von Hunger, Erreichung von Ernährungssicherheit und verbesserter Ernährung und Förderung nachhaltiger Landwirtschaft. 3. Sicherstellung von gesundem Leben und Förderung des Wohlbefindens aller Menschen jeder Altersgruppe. 4. Sicherstellung einer inklusiven und gerechten Bildung von hoher Qualität und Förderung der Möglichkeit des lebenslangen Lernens für alle. 5. Erreichen der Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung aller Frauen und Mädchen. 6. Sicherstellen der Verfügbarkeit und des nachhaltigen Managements von Wasser und sanitärer Einrichtungen für alle. 7. Sicherstellung des Zugangs zu erschwinglicher, zuverlässiger, nachhaltiger und moderner Energie für alle. 8. Förderung von kontinuierlichem, inklusivem und nachhaltigem Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle. 9. Aufbau von belastbarer Infrastruktur, Förderung von inklusiver und nachhaltiger Industrialisierung und Innovation. 10. Reduzierung der Ungleichheiten in und zwischen Ländern. 11. Inklusive, sichere, belastbare und nachhaltige Städte und Siedlungen. 12. Sicherstellen nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen. 13. Ergreifen dringender Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen. 14. Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Ozeane, Meere und Meeresressourcen für eine nachhaltige Entwicklung. 15. Schutz, Wiederherstellung und Förderung der nachhaltigen Nutzung der terrestrischen Ökosysteme, nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder, Bekämpfung der Wüstenbildung, Stopp und Umkehrung der Landdegradierung und Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt. 16. Förderung friedlicher und inklusiver Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung, Ermöglichen des Zugangs zu Rechtsmitteln für alle und Aufbau von effektiven, rechenschaftspflichtigen und inklusiven Institutionen auf allen Ebenen. 17. Stärkung der Umsetzungsmittel und Wiederbelebung der globalen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung. 21 21 Vgl. BMZ (2015) Agenda 2030. Berlin <?page no="58"?> 58 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 2.8 Die wichtigsten Stationen The science is getting worse faster than the politics is getting better. David Miliband Die wichtigsten Konferenzen, Abkommen und Bündnisse zum Thema Nachhaltigkeit sowie Umwelt- und Klimaschutz sind nachfolgend aufgelistet: 1946 Internationale Konvention zur Regelung des Walfangs 1948 Gründung der Welt-Naturschutzunion 1961 OECD - Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: gegründet, um die Arbeit der Vorläuferorganisation OEEC (Organisation for European Economic Co-operation) und konkret die politische Stabilisierung Westeuropas vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts fortzusetzen. 1968 Europäische Wassercharta 1972 1. Internationale Konferenz über die menschliche Umwelt in Stockholm 1973 Washingtoner Artenschutzübereinkommen - Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen 1976 HABITAT: UN-Konferenz über menschliche Siedlungen 1979 Weltklimakonferenz, Konferenz der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) zur Veränderung des Klimas Nord-Südbzw. Brandt-Report: Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer. Forderung an die Industrieländer, die Entwicklungsländer stärker zu unterstützen. 1982 Weltcharta für die Natur 1985 Wiener Abkommen zum Schutz der Ozonschicht 1987 Internationale Konferenz zum Schutz der Ozonschicht in Montreal Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen; erstmalige Definition des Begriffs Nachhaltige Entwicklung in einem politischen Dokument <?page no="59"?> 2.8 Die wichtigsten Stationen 59 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1990 Gründung von Klimabündnis e.V., einer Instiution zur Förderung von Städtepartnerschaften zwischen Industrie- und Entwicklungsländern 1992 Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung bzw. Erdgipfel oder Rio-Konferenz - Meilenstein für die Integration von Umwelt- und Entwicklungsfragen; seit Stockholm 1972 die erste größere internationale Konferenz zur Diskussion von Umweltfragen in einem globalen Rahmen 1993 Menschenrechtskonferenz, Wien WHO-Programm: Globale Strategie für Gesundheit und Umwelt (Global Strategy for Health and Environment): dient als Arbeitsrahmen für die Erfüllung der in der Agenda 21 vereinbarten Ziele Weltwaldkonferenz, Jakarta: Folgekonferenz der Wald-Deklaration, verabschiedet auf der Rio-Konferenz 1992 1994 UN-Klimarahmenkonvention, UN-Weltbevölkerungskonferenz, UN- Artenschutz-Konferenz, Nassau/ Bahamas, 1. Vertragsstaatenkonferenz zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt, der Artenschutz-Konvention Aalborg-Charta: Charta der Europäischen Städte und Gemeinden auf dem Weg zur Zukunftsbeständigkeit Inselstaatenkonferenz, Barbados, „Weltkonferenz zur nachhaltigen Entwicklung der kleinen Inselstaaten“ 1995 1. UN-Klimakonferenz Berlin/ Deutschland 1996 2. UN-Klimakonferenz Genf/ Schweiz WACLAC - Weltversammlung der Städte und Gemeinden, Istanbul HABITAT II, Istanbul: 2. UN-Konferenz über menschliche Siedlungen 1997 3. UN-Klimakonferenz Kyoto/ Japan - erstmals werden rechtlich verbindliche Ziele für Emissionshöchstmengen für Industrieländer international festgelegt. Weltgipfel Rio+5 New York/ USA - Ernüchterung nach Bilanzierung der Bemühungen seit 1992; Diskussion um die Entwicklung der Vorgaben des ersten Weltgipfels. 1. Weltwüstenkonferenz, Rom <?page no="60"?> 60 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1998 4. UN-Klimakonferenz Buenos Aires/ Argentinien - Arbeitsplan zur Ausgestaltung des Kyoto-Protokolls. Aarhus-Konvention: EU-Übereinkommen über den Zugang zu Informationen und Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren in Umweltangelegenheiten 1999 5. UN-Klimakonferenz Bonn/ Deutschland 2000 6. UN-Klimakonferenz Den Haag/ Niederlande - Scheitern und Aussetzen der Klimaverhandlungen Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen in New York, mit Verabschiedung der acht Millenniumsziele, die bis 2015 erreicht werden sollen. 2001 6. UN-Klimakonferenz Bonn/ Deutschland - Fortführung der vorigen Klimakonferenz und Einigung über Kyoto-Protokoll-Ausgestaltung 7. UN-Klimakonferenz Marrakesch/ Marokko 2002 Weltgipfel Rio+10 Johannesburg/ Südafrika - erneute Diskussion der Umsetzungsmöglichkeiten der Rio-Konventionen in Zeiten voranschreitender Globalisierung 8. UN-Klimakonferenz Neu Delhi/ Indien 2003 9. UN-Klimakonferenz Mailand/ Italien - Verabschiedung neuer Leitlinien für Emissionsberichterstattung und Übereinkunft zu kohlenstoffbindenden Aufforstungsprojekten (Clean Development Mechanism, CDM) 2004 10. UN-Klimakonferenz Buenos Aires/ Argentinien - Überlegungen zu Möglichkeiten der Anpassung an unvermeidbare Klimawandelfolgen 2005 11. UN-Klimakonferenz Montreal/ Kanada - Beschluss über Kyoto- Protokoll-Fortschreibung nach 2012; Aushandlung neuer Grenzwerte für Treibhausgasemissionen 2006 12. UN-Klimakonferenz Nairobi/ Kenia - Beschluss eines Fonds zur Unterstützung afrikanischer Länder 2007 13. UN-Klimakonferenz Bali/ Indonesien - gemäß „Fahrplan von Bali“ soll 2009 ein Folgeabkommen samt inhaltlicher Anforderungen für das Kyoto-Protokoll beschlossen werden. <?page no="61"?> 2.8 Die wichtigsten Stationen 61 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 2008 14. UN-Klimakonferenz Posen/ Polen 2009 15. UN-Klimakonferenz Kopenhagen/ Dänemark - laut rechtlich unverbindlichem „Minimalkonsens“ ist die Erderwärmung auf maximal 2° C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu begrenzen. 2010 16. UN-Klimakonferenz Cancún/ Mexiko - es wurden keine völkerrechtlich bindenden Maßnahmen getroffen. 2011 17. UN-Klimakonferenz in Durban/ Südafrika - Ziel war es, ein Nachfolgeabkommen für das 2012 auslaufende Kyoto-Protokoll zu finden - Beschluss, das Kyoto-Protokoll zunächst ab 1. Januar 2013 mit einer zweiten Verpflichtungsperiode zu verlängern, Reduktionsziele und Dauer der zweiten Verpflichtungsperiode sollten auf der 18. UN-Klimakonferenz in Katar 2012 festgelegt werden. 2012 18. UN-Klimakonferenz Doha/ Katar (sogenannter Weltgipfel Rio +20) - Beschluss der Fortsetzung des Kyoto-Protokolls bis 2020 in letzter Minute; Russland, Kanada, Japan und Neuseeland erklärten ihren Austritt. Weltgipfel Rio+20 Rio de Janeiro/ Brasilien - Ansinnen der Staats- und Regierungschefs der Welt, dem Thema nachhaltiger Entwicklung neuen Schwung zu verleihen; BUND-Vorsitzender Hubert Weiger kritisierte, blumige Absichtserklärungen und ein Aufguss früherer Gipfelbeschlüsse würden dem globalen Ressourcenschutz nicht helfen. Gipfelergebnisse wurden gemischt aufgenommen. 2013 19. UN-Klimakonferenz Warschau/ Polen - Konferenz endet nur mit einer Einigung auf die Grundsätze eines Abkommens. 2014 20. UN-Klimakonferenz Lima/ Peru. Lediglich Minimalkonsens über erste Grundzüge und Eckpunkte eines Weltklimavertrages der 195 teilnehmenden Länder mit nur vagen Kriterien für die Ziele zur CO 2 - Minderung. 2015 21. UN-Klimakonferenz Paris/ Frankreich 2017 Gefahr der Verwässerung des Pariser Abkommens durch Austrittsdrohung der USA Das letzte Großereignis der Klimapolitik war die Pariser Klimakonferenz. „Im Jahr 2015 haben sich 196 Länder in Paris auf ein weltweites, rechtlich verbindliches Ziel von Treibhausgasneutralität im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte geeinigt, um die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen und darüber hinaus Anstrengungen zu unternehmen, den Temperaturanstieg unter <?page no="62"?> 62 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1,5 °C zu halten. Ein Jahr zuvor hat sich die Europäische Union auf eine Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen um mindestens 40 Prozent bis 2030 gegenüber 1990 verpflichtet“ (BMU 2016: 8). „Das Signal von Paris ist eindeutig: Alle Staaten der Welt werden in die Pflicht genommen. Kein Land und keine Branche wird sich mehr hinter anderen verstecken können. Daher formuliert der Klimaschutzplan 2050 für alle wichtigen Handlungsfelder - Energie, Gebäude, Verkehr, Industrie, Gewerbe-, Handel- und Dienstleistungen, Land-, Forst- und Abfallwirtschaft - Leitbilder für das Jahr 2050 und entwickelt Meilensteine und Maßnahmen für die wichtige Zwischenetappe im Jahr 2030“ (BMU 2016: 7), sagt Dr. Barbara Hendricks, aktuelle Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Bedenklich stimmt, dass der „große Wurf“ um den lang ersehnten globalen Klimaschutzvertrag samt der drei Schwergewichte Europa, China und USA durch US-Präsident Donald Trump gefährdet ist. Insgesamt lässt sich der Prozess der Etablierung des Nachhaltigkeitsleitbildes auf politischer Ebene - wie er sich anhand obiger Konferenzen und Abkommen abzeichnet - als ambivalent beschreiben. Einerseits lässt sich die Herausbildung der Gedanken des Umweltschutzes und sozialer Gerechtigkeit an der zunehmenden Regelmäßigkeit, Institutionalisierung und Internationalisierung politischer Treffen ablesen. Andererseits verlaufen dieser Verstetigungs- und Aufwertungsprozess des Themas Nachhaltigkeit, die damit einhergehende globale politische Konsensfindung als auch die Umsetzung von Maßnahmen im Verhältnis zur Relevanz des Themas viel zu langsam, fragmentarisch und unkoordiniert. Somit lässt sich die nachhaltigkeitsbezogene Institutionen-, Kapazitäten- und Willensbildung als erratisch, im Sinne von „ein Schritt vor und ein Schritt zurück“, beschreiben. Abb. 9: Herausbildung des Nachhaltigkeitsleitbildes <?page no="63"?> 2.8 Die wichtigsten Stationen 63 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Als Beispiel hierfür kann das 1997 beschlossene Kyoto-Protokoll gelten, das bis heute als wichtigster Beschluss für den globalen Klimaschutz aufgrund seiner annähernd sanktionsfähigen Wirkung angesehen werden kann. Demgegenüber sind alle Bemühungen auf internationaler Ebene seitdem als zaghaft und rückschrittlich zu bewerten. So offenbarten die Verhandlungen zur Fortschreibung des Klimaschutzabkommens die großen Schwierigkeiten zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern zu einem Konsens zu gelangen, da sich die Parteien gegenseitig Zugeständnisse abverlangen, bevor sie jene eingehen, was in einer Patt-Situation resultiert, die wiederum die Bemühungen, sich der Herausforderung des Klimawandels zu stellen, stagnieren lässt. Für viele Akteure wie z.B. Umweltschutzverbände, Menschenrechtsorganisationen oder wissenschaftliche Einrichtungen ist dies insofern befremdlich, weil das politische Verhalten mit den durch die Medien vermittelten Erkenntnisfortschritten kontrastiert, die klimawandelbedingte Veränderungen zunehmend bestätigen (wie Überschwemmungen, Wirbelstürme oder Meeresspiegelanstieg; vgl. aktueller Weltklimabericht des IPCC von 2013, S. 43). Auch für die globale Zivilgesellschaft führt es zu Irritationen, wenn Politiker und Regierungen vor dem Hintergrund der sich erhärtenden Klimawandelhypothese nicht konsequent aktiv werden. Die folgende Abbildung 10 fasst die wichtigsten Entwicklungen in der internationalen Klimapolitik seit 1990 zusammen. Fazit - Es geht voran, aber zu langsam Der Ursprung des Nachhaltigkeitsprinzips geht auf das Jahr 1713 zurück. In den darauffolgenden 300 Jahren griffen vor allem Politik und Zivilgesellschaft das ressourcenökonomische Prinzip erneut auf. Im 20. Jahrhundert verstärkte sich das Bewusstsein der Weltgemeinschaft für Probleme wie Umweltverschmutzung, Überbevölkerung, Armut und Ressourcenerschöpfung. Zu Beginn des Jahrhunderts fanden erste internationale Konferenzen zum Thema Naturschutz statt. Ab Mitte der 1970er Jahre wuchs das öffentliche und politische Interesse an Umweltschutz- Themen. Es wurden bindende Regelungen zwischen Staaten zum Schutz der Umwelt beschlossen, so z.B. das Washingtoner Artenschutzabkommen. Die Probleme wurden spezifischer, die Ziele konkreter. Ein vorläufiger Höhepunkt war 1972 der alarmierende Bericht „Grenzen des Wachstums“, der ein neues Denken und Handeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft forderte. 1987 lieferte der Brundtland-Bericht die erste formale politische Definition von Nachhaltigkeit, die bis heute als die klassische, gültige und am weitesten akzeptierte Definition anzusehen ist. An der Schwelle zum 3. Jahrtausend markierte die weltweite Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 den Höhepunkt gemeinsamer globaler Nachhaltigkeitsbemühungen, nämlich von 178 Staaten. Hieraus ging auch die maßgebliche globale Agenda 21 hervor. Die Erfolge der Millenniumsentwicklungsziele bleiben seit dem Jahr 2000 indes genauso aus wie die Fortschreibung des Kyoto- Protokolls zum Klimaschutz. <?page no="64"?> 64 2 Geschichte der Nachhaltigkeit und soziopolitischer Hintergrund http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 10: Zeitleiste der relevanten Ereignisse im internationalen Klimaschutz seit 1990 (BMU 2016: 20) International wurden in den Folgejahren viele verschiedene Gremien und Arbeitsorgane gegründet und Konferenzen durchgeführt. Seitdem hat sich das Thema aufgefächert, d.h. neben seiner zunehmenden Akzeptanz in allen Gesellschaftsbereichen wurden entsprechende Lösungen erwogen, wie e-Mobilität sowie schärfere Abgasnormen innerhalb der EU, Veganismus, Biolebensmittel in Discountern oder sozial-digitale Innovationen wie Online-Secondhand- Börsen. Zudem kam es 2011 zur Wahl eines „grünen“ Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, aber auch zu befürchteten Rückschritten in Sachen Umweltschutz auf Seiten Amerikas mit der Wahl des neuen Präsidenten Trump 2016. Gleichzeitig wurden verbraucherschutzaufweichende und gentechnikfreundliche transatlantisches Freihandelsabkommen wie TTIP durch Demonstrationen der Zivilbevölkerung verhindert. Bis heute sind die Aktivitäten umfangreich und unübersichtlich geworden. Das Prinzip Nachhaltigkeit ist dabei, sich seinen Weg zu bahnen. Leicht hat es das Thema dabei aber nicht. <?page no="65"?> 2 65 Literatur BMU (2016) Klimaschutz in Zahlen. Fakten, Trends und Impulse deutscher Klimapolitik. Berlin. Brandt, W. (Hrsg.) (1982) Das Überleben sichern. Bericht der Nord-Süd- Kommission. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer. Kiepenheuer und Witsch. Carson, R. (1963) Der stumme Frühling. Biederstein München. Costanza, R. (1991) Ecological Economics. The Science and Management of Sustainability. New York. Columbia University Press. Dueck, G. (2008) Abschied vom Homo Oeconomicus. Warum wir eine neue ökonomische Vernunft brauchen. Eichborn. Grober, U. (2010) Die Entdeckung der Nachhaltigkeit: Kulturgeschichte eines Begriffs. München. Habisch, A.; Schmidpeter, R.; Neureiter, M. (2007) Handbuch Corporate Citizenship. Corporate Social Responsibility für Manager. Springer Berlin. Hauff, M. von (Hrsg.) (1987) Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland- Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Eggenkamp Verlag, Greven. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) (2013) Fifth Assessment Report, AR5. United Nations. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (1992) Agenda 21. Rio de Janeiro. Meadows, D. et al. (1972) Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. dva Stuttgart. Meadows, D. et al. (2008) Grenzen des Wachstums. Das 30-Jahre-Update: Signal zum Kurswechsel, 3. Aufl., Stuttgart. Ott, K.; Döring, R. (2008) Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg. Radermacher, F.J.; Beyers, B. (2011) Welt mit Zukunft: Die ökosoziale Perspektive, 7. Aufl., Hamburg. Rogall, H. (2003) Akteure der nachhaltigen Entwicklung. München: oekom Rogall, H. (2008) Ökologische Ökonomie. Eine Einführung. Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden. Schumacher, E.F. (1973) Small is Beautiful: Economics as if People Mattered. Harper New York. Siebenhüner, B. (2001) Homo sustinens - Auf dem Weg zu einem Menschenbild der Nachhaltigkeit. Metropolis Marburg. Stern, N. (2007) The Economics of Climate Change. The Stern Review. Cambridge University Press Cambridge. WWF (2016) Living Planet Report 2016 <?page no="67"?> 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft <?page no="68"?> 68 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Wo geht die Reise hin? Was erwartet mich, unsere Welt & Gesellschaft? Was bringt die Zukunft? Wo treibt der Planet Erde hin? Maßnahmen Trendanalyse, Prognosen, Szenarien, Computersimulationen, Studien, Zukunftsberichte. Ergebnisse Studierende haben Vorstellung von der Herausforderung der Welt, Wirtschaft und Gesellschaft von morgen und können Rückschlüsse auf Erfordernisse in Wissenschaft, (Aus-)Bildung und Beruf ziehen. Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten. Willy Brandt Szenarien stehen für den ausgedachten oder ausgerechneten Entwurf einer Situation oder eines Ablaufes. Sie erlauben, die Komplexität möglicher künftiger Entwicklungen anschaulich zu schildern. Die beiden Extreme stellen dabei Negativ- und Positivszenarien dar. Ersteres wird an folgendem Beispiel, Letzteres am Kapitelende veranschaulicht. Negativszenario: 600 USD pro Barrel und drei Grad wärmer Der fortschreitende Klimawandel, gepaart mit dem Wettkampf um Ressourcen und Wohlstand, zwingt der Zivilisation massive Umwälzungen auf. Die Welt hat es nicht geschafft, in einer gemeinsamen Anstrengung den Verbrauch fossiler Brennstoffe einzudämmen. Der durchschnittliche Preis für ein Barrel Öl liegt bei 600 USD. Der hemmungslose Verbrauch der Kohle in Asien macht die Bemühungen westlicher Industrienationen um regenerative Energiequellen wett. Hinzu kommt, dass algerische Fundamentalisten in den 2020er Jahren ein ambitioniertes europäisches Wüstenstrom-Projekt namens Desertec in der Sahara mit einer Serie von Anschlägen sabotiert haben. <?page no="69"?> 69 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 2050 ist die Erdatmosphäre im Durchschnitt 3,4 Grad wärmer als es vor Beginn der Industrialisierung der Fall war, Eisbären und viele weitere Tierarten sind ausgestorben. Bis 2100 dürfte der Planet sich um weitere fünf Grad aufheizen. Rein klimatisch gesehen, könnten die Deutschen die Entwicklung genießen. Brandenburg ist ein ertragreiches Weinanbaugebiet geworden. Die bayerischen Seen taugen bis in den Oktober hinein als Badegewässer. Die Alpen sind nur noch im Sommer attraktiv. Ein findiger Hersteller hat ein Rollbrett für Grashänge entwickelt, das ähnlich viel Spaß macht wie das zu Beginn des 21. Jahrhunderts beliebte Snowboard. Dagegen sind aufgrund zunehmender Hitzewellen weite Teile Süditaliens, Spaniens sowie Griechenlands regelmäßig von Dürren und Buschbränden betroffen. Der einst blühende Tourismus ist dort zum Erliegen gekommen. Nach den schweren Fluten der Jahre 2023, 2031 und vor allem 2044 musste die Bundesregierung massive Umsiedlungsprogramme einleiten. 1,3 Millionen Deutsche mussten teils freiwillig, teils unfreiwillig ihre küstennahen Wohnorte verlassen. Dieses nationale Umsiedlungsprogramm war jedoch harmlos im Vergleich zu den 2,4 Millionen Menschen, die Deutschland seit 2039 im Rahmen eines UN-Abkommens für Klimaflüchtlinge aufnehmen musste. Eine zunehmende politische Radikalisierung in den vom Klimawandel betroffenen Regionen (besonders Afrika und Asien) hat letztlich zu dem UN-Abkommen geführt, bei dem klimatisch verschonte oder gar profitierende Regionen wie Kanada und Nordeuropa verpflichtet wurden, Millionen von Flüchtlingen aus anderen Erdteilen aufzunehmen. Ein umfangreiches Ansiedlungsprojekt in Ostdeutschland nennen die Deutschen halb scherzhaft „Thüringistan“. Die Superreichen der weltweit 9,2 Milliarden Menschen haben sich exklusive Enklaven geschaffen. Spitzbergen und die Färöer zählen seit einigen Jahren zu den glamourösesten Ferienzielen. Legendär ist eine chinesische Urlaubskolonie auf Feuerland, die von einer Privatarmee geschützt wird. Mit der grenzenlosen Verbreitung ziviler Atomtechnik ist die Zahl der Nationen mit Nuklearwaffen gestiegen. Die Gefahr terroristischer Anschläge mit radioaktivem Material ist gewachsen. Auch stehen sich Nationen wie Brasilien und Argentinien neuerdings mit Atomwaffen gegenüber. Das Konfliktpotenzial zwischen beiden Ländern ist hoch, seit das zu 80 % versteppte Amazonasgebiet als Rohstoffquelle verlorengegangen ist. 22 22 Gekürzt und leicht bearbeitet nach einem Artikel der Süddeutschen Zeitung am 17.12.2009 von P. Illinger und C. Schrader. <?page no="70"?> 70 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit „Nachhaltige Entwicklung ist das neue Modewort der Umweltbewegung. Es könnte sich als Schlüsselwort des 21. Jahrhunderts erweisen“, heißt es im Spiegel Spezial 2/ 1995 unter dem Titel „Wort des Jahrhunderts. Formel fürs Überleben“. Woran lässt sich die Entwicklung ablesen? Und welche Trends bereiten dabei den Weg? Zunächst zum Begriff Trend. Dieser beschreibt raum- und zeitübergreifende Veränderungen und Strömungen in allen Bereichen der Gesellschaft. Die Diagnose von Trends basiert meist auf Zahlenreihen, deren Fortschreibung eine Aussage über die Zukunft ermöglichen soll. In diesem Sinne bezeichnet der Große Brockhaus von 1957 einen Trend als die Grundrichtung einer Zeitreihe. Megatrends sind demgegenüber noch großräumigere und langfristigere Treiber von Wandel. Sie verändern und durchdringen Technologie, Ökonomie, Wertesysteme, Zivilisationsformen. Mit einer Halbwertszeit von etwa 50 Jahren sind sie dauerhafter als Trends oder Hypes. Aufgrund ihres ganzheitlichen Charakters zeigen sie Auswirkungen auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche. Einen Ansatz, jene größeren Zyklen systematisch zu erfassen und darzustellen, lieferte Kondratieff, indem er sechs Phasen ausmachte, die unsere zivilisatorische Entwicklung unterteilen. Abb. 11: Kondratieff-Zyklen Kondratieff zufolge befinden wir uns gegenwärtig an der Schwelle von der Automatisierung zurück zum Faktor Mensch, vom fünften Zyklus unter der Vorherrschaft von IT-Technik und Telekommunikation und der damit einhergehenden Digitalisierung, Vernetzung und Internetnutzung hin zum sechsten Zyklus, <?page no="71"?> 3.1 Trends & Megatrends der Nachhaltigkeit 71 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit der mutmaßlich im Zeichen von Green-/ Gen-Technologie und Gesundheit im weiteren Sinne steht. Die Wahrscheinlichkeit der Prognose wird durch die folgenden Ausführungen zu Trends und Megatrends erhärtet. 3.1 Trends & Megatrends der Nachhaltigkeit Wir können die Zukunft nicht komplett voraussehen, aber wir können unsere Organisationen, Denkweisen, Systeme „evolutionstauglicher“ gestalten. Matthias Horx Zukunftstrends werden häufig mit technologischen Trends gleichgesetzt. Während technologischen Innovationen die Wirkungsmacht unterstellt wird, der Wirtschaft und der Gesellschaft Schübe zu verleihen, werden weichere, globalere, mittelbarere sowie soziale Entwicklungen unterschätzt. Nachhaltigkeitstrends werden für irrelevant, kurzfristig und temporär und räumlich begrenzt gehalten - zu diesem Schluss kommt die BMU-Studie „Megatrends der Nachhaltigkeit“ von 2008. Dafür spricht die intensive Lobbyarbeit gegen einzelne Klimaschutzmaßnahmen. Das Gros der Unternehmen richte sich eher kurzfristig markt- oder technologieorientiert aus - statt innovativ-visionär auf die kommenden Dekaden von Weltmarkt und -gesellschaft zu blicken. Noch in der Unterzahl seien die Unternehmen, die Maßnahmen, die sich aus den Megatrends der Nachhaltigkeit ergeben, bereits heute gezielt und erfolgreich umsetzen. Gemeint ist damit so viel wie: strategisch jene Innovationen auszuwählen, mit denen sich Zukunftsmärkte sinnvoll erschließen lassen. So nimmt z.B. die Energiebranche die Herausforderung der dezentralen Erzeugung regenerativen Stroms durch vielfältige neue Technologien an und bietet Alternativen zum bislang auf zentrale Großkraftwerke ausgerichteten strategischen Modell an. Auf Unternehmen als gesellschaftsrelevante Akteure aufgrund ihrer Rolle als Warenproduzenten und Arbeitgeber gemünzt, bedeutet das: Zielgruppen unterliegen dem Wandel und mit ihnen alle Produkte, ihr Design, ihre Funktionalität und Beschaffenheit. In diesem Zusammenhang ist auch das Aufkommen der neuen Zielgruppe LOHAS zu sehen. LOHAS - Lifestyle of Health and Sustainability LOHAS ist ein Akronym für Lifestyle of Health and Sustainability (deutsch: Lebensstil für Gesundheit und Nachhaltigkeit). Der Begriff steht für Lebensstile oder Konsumententypen, die durch ihr Konsumverhalten und gezielte Produktauswahl Gesundheit und Nachhaltigkeit zu fördern beabsichtigen. <?page no="72"?> 72 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit LOHAS-Konsumenten sind beispielsweise Natur- und Outdoor-Urlauber, Kunden von Bioläden oder Biosupermärkten und verfügen meist über ein überdurchschnittliches Einkommen. Ihre Motive ähneln denen der Slow- Food-Bewegung. Erstmals beschrieben wurde das Phänomen in den USA im Jahr 2000 von dem Soziologen Paul Ray in dem Buch „The Cultural Creatives: How 50 Million Are Changing The World“. Vertreter der traditionellen Umweltbewegung sehen darin den Versuch, dem Konsumismus ein neues, zeitgeisttypisches Image zu geben. In Anlehnung an LOHAS wird der Lebensstil des Einfachen Lebens auch als LOVOS („Lifestyles of Voluntary Simplicity“) bezeichnet. In den Vereinigten Staaten existiert zudem der Begriff „Scuppie“ für „socially conscious upwardly-mobile people“. Als eine Untergruppe der LOHAS zeichnen sich die PARKOS (partizipative Konsumenten) ab. PARKOS sind LOHAS, die aktiv das Internet nutzen. Den Hintergrund zur Herausbildung obiger Bevölkerungsgruppen bildet die Feststellung, dass Konsummuster und -strukturen zunehmend hinterfragt werden. So liegt der Wasserverbrauch im Haushalt einer in Deutschland lebenden Person im Schnitt bei rund 130 Litern, während der indirekte Verbrauch (d.h. der nicht unmittelbar sichtbare) bei 4000 Litern pro Person und Tag liegt, wovon mehr als die Hälfte importiert wird. Für die Produktion eines T-Shirts werden mehr als 4000 Liter Wasser benötigt. Um eine Tasse Kaffee herzustellen, werden entlang der Produktionskette 140 Liter Wasser verbraucht. Abb. 12: Wasserverbrauch pro Haushalt pro Jahr (Nachhaltiger Warenkorb (2013), S. 7) In Deutschland werden mittlerweile 11 % des Bruttoinlandsproduktes für Gesundheit ausgegeben. In den USA sind es bereits 14 %. Zwischen 1999 und 2004 ist der Markt für Functional Food in Europa um 43 % auf 4 Milliarden <?page no="73"?> 3.1 Trends & Megatrends der Nachhaltigkeit 73 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Euro gestiegen; der Umsatz mit den sogenannten Smart-Drugs, also Lifestyle- Medikamenten, die etwa der Leistungssteigerung dienen, beträgt weltweit 60 Milliarden USD. Analysten erwarten eine Verdreifachung in den nächsten 25 Jahren. Gleichzeitig geht der „ungesunde“ Konsum zurück. Beispiel Alkohol: Der durchschnittliche Bierverbrauch pro Kopf und Jahr sank in Deutschland von 1993 bis 2003 um 18,8 Liter auf 113,9 Liter. Diese Entwicklungen sind als interdependent, also wechselseitig abhängig zu sehen. So hängt z.B. das Interesse an Bioprodukten mit dem soziokulturell bedingten Interesse an dem Thema Ökologie zusammen, dieses wiederum entsteht aus den Knappheiten der globalen Ökonomie. Trends sind zudem im Kontext systemischer Veränderungen zu sehen. Ihre Ausprägungen sind Facetten einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die sich in Umwelt und Gesundheit begreifen lässt. Wichtige globale Megatrends, die der WBGU im Kontext einer „großen Transformation“ sieht, nennt er in seinem Factsheet ( QR). In der Quintessenz befasst sich die (Mega-)Trendforschung als eine Form empirischer Kulturwissenschaft mit dem Wandel der Lebenswelten. Sie ist von wissenschaftlichen Disziplinen beeinflusst wie Evolutionsbiologie, Soziobiologie, Evolutionspsychologie, Soziogenetik, Kulturanthropologie. Voraussetzung ist ein interdisziplinäres Kontextwissen, wie es dem ganzheitlichen Forschungsverständnis von Nachhaltigkeit per definitionem entspricht sowie eine breite Datenbasis z.B. durch (Medien-)Beobachtung, Dokumentenanalyse oder Vergleich. Wie Dynamik und Komplexität bei Trends zusammenspielen, zeigt die folgende Abbildung 13. Sie veranschaulicht, dass sich ein einfaches System zu einem hohen Grad an Unberechenbarkeit entwickeln kann. Dies erschwert die Identifikation von Trends. Dem kann aber durch gezielte Methoden begegnet werden. Übung: Überlegen Sie, welche Trends aus dem eigenen Lebens- und Erfahrungsbereich sich bereits heute abzeichnen und ordnen Sie diese in obiges Raster ein. Definieren Sie dabei den IST-Punkt und die Entwicklungstendenz. <?page no="74"?> 74 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 13: Dynamik und Komplexität: Vom einfachen System zur Unberechenbarkeit (Pillkahn (2007), S. 44) Grundsätzlich zu beachten ist: Trends sind als Diagnosen, nicht als Prognosen zu verstehen, auch wenn sie häufig als solche gesehen werden. Eine weitere Gefahr ist eine unzulängliche Datenerhebung und -interpretation. Vorsicht ist auch geboten, Trends als Moden zu verpacken und sie für Marketing- und Verkaufszwecke zu missbrauchen. Zudem sollte sich seriöse Trendforschung weniger an den eingangs erwähnten kurzfristigen und rein technologischen Trends orientieren als vielmehr an der Klimaforschung. Sie kann deshalb als Beispiel dienen, weil sie auf langen chronologischen Zeitreihen unter Einbeziehung einer Vielzahl vernetzter Variablen beruht, die einer zunehmend komplexen Welt entsprechen. Im Folgenden wird zwischen größeren Trends und Megatrends unterschieden. Während Trends vor allem für die westlich-zivilisierte Welt, die Industrieländer und Wissensgesellschaften zutreffen, können Megatrends eine weltweite sowie noch stärker nachhaltigkeits-relevante Gültigkeit beanspruchen, weshalb sie hier thematisiert werden. Dabei handelt es sich vor allem um die Phänomene Klimawandel, Ressourcenverknappung und demografischer Wandel, die ökologische wie soziale Herausforderungen gleichermaßen darstellen. Als Quelle wurde vor allem die BMU-Studie „Megatrends der Nachhaltigkeit“ von 2008 herangezogen. <?page no="75"?> 3.2 Klimawandel und Energieverbrauch 75 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 3.2 Klimawandel und Energieverbrauch Ein US-Bürger emittiert im Schnitt 20 Tonnen Kohlendioxid, ein Deutscher zehn, ein Nigerianer weniger als eine Tonne. World Resources Institute Die globale Erwärmung ist gegenwärtig gesellschaftlich wie wirtschaftlich der wichtigste Nachhaltigkeitstrend. Vorrangig bedingt durch die Verbrennung fossiler Energieträger führen stetig ansteigende Kohlendioxidemissionen zu den Auswirkungen von größter Reichweite unter allen nachhaltigkeitsbezogenen Problemen. Dazu zählen vermehrte Extremwetterlagen wie Stürme, trockene Sommer, feuchte Winter und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Landwirtschaft, den Tourismus, die Verfügbarkeit von Trinkwasser sowie schlicht die weltweite Ressourcenverteilungsgerechtigkeit. Abb. 14: CO 2 -Emissionen pro Kopf und Jahr in acht ausgewählten Ländern, 2015 Was Temperaturszenarien angeht, so markiert in Abb. 15 die unterste Linie die hypothetische Entwicklung bei konstanten Treibhausgaskonzentrationen. A2, A1B und B1 sind Szenarien. Die Schattierungen deuten mögliche Abweichungen an. Der drastisch wachsende Energiebedarf Chinas, Indiens und anderer Schwellenländer bewirkt eine Rohstoffverknappung, die mit einem Preisanstieg bei Erdöl <?page no="76"?> 76 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit einhergehend Krisen- und Konfliktherde heraufbeschwört. Gas- und Strompreise steigen aufgrund der Kopplung an den Erdölpreis. Abb. 15: Temperaturszenarien der Klimaforschung (IPCC 2007) Erneuerbare Energien: Die Beschäftigtenzahlen im Bereich erneuerbarer Energien sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und werden auch in Zukunft weiter zulegen. Bis zum Jahr 2020 ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Beschäftigten in dieser Branche von rund 170.000 im Jahr 2006 auf mindestens 300.000 ansteigen wird. Auch können bis 2020 die weltweiten Investitionen in Anlagen für erneuerbare Energien von etwa 40 Milliarden Euro 2006 auf rund 250 Milliarden Euro ansteigen und im Jahr 2030 sogar 460 Milliarden Euro pro Jahr erreichen. 23 Tatsache ist aber, dass laut BMU bereits 2010 rund 340.000 Menschen in dem Sektor gearbeitet haben, sprich die Beschäftigungswirkung erneuerbarer Energien ist in Deutschland bislang höher ausgefallen als angenommen. Energieeffizienz: Energieeffiziente Häuser, Haushaltsgeräte und Automobile stehen seit Jahren im Zentrum der Umweltpolitik. Trotz unbestreitbarer Erfolge braucht es weitere Innovationen. Die deutschen Märkte für energieeffiziente Häuser, Dämmmaterialien und moderne Fenstersysteme sowie Klima- und Heizungstechnik wachsen beträchtlich. Aber auch die Effizienzsteigerung anderer Produkte und industrieller Prozesse bietet Marktchancen. „Der globale Markt für Umwelt- und Effizienztechnologien beträgt 2,5 Billionen Euro und wird sich nach aktuellen Schätzungen bis 2025 mindestens ver- 23 BMU (2006) Wirkungen des Ausbaus erneuerbarer Energien auf den deutschen Arbeitsmarkt. Berlin. Siehe auch www.bmu.de/ pressemitteilungen/ aktuelle_pressemitteilungen/ pm/ 46546.php vom 24.01.2012 <?page no="77"?> 3.3 Ressourcenverknappung 77 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit doppeln“ (BMU 2016: 9). So jedenfalls lautet die Prognose der Studie „Klimaschutz in Zahlen. Fakten, Trends und Impulse deutscher Klimapolitik“ des BMU von 2016. Dezentralisierung: Der weitere Ausbau der Stromerzeugung aus regenerativen Energien und die Erschließung der energieeffizienten Kraft-Wärmekopplung für Gebäude könnten zur Dezentralisierung der Energieerzeugung führen. Auch hier entstehen große Märkte für entsprechende Technologien und Dienstleistungen. Emissionshandel: Mit Einsparzertifikaten für Treibhausgase ist ein Handel in Gang gekommen, von dem neben den Anlagenlieferanten und ihren Maklern vor allem asiatische Schwellen- und Entwicklungsländer profitieren. Die Weltbank schätzte das Handelsvolumen 2006 auf 22 Mrd. Euro. Subventionen: Allein der Energiesektor profitiert jährlich weltweit von Subventionen in Höhe von mehreren Hundert Milliarden Euro. Gleichzeitig wurden dem Steinkohlebergbau in Deutschland - nicht nur als Reaktion auf den Klimawandel - bereits Subventionen in Milliardenhöhe entzogen. Der Stern- Review erwartet bis 2050 einen Subventionsabbau im Energiesektor von 250 Mrd. USD jährlich. Das heißt, die Wirtschaftsakteure können bereits mittelfristig solche staatlichen Unterstützungsleistungen nicht mehr in ihre Kalkulationen einrechnen. 3.3 Ressourcenverknappung Ein Amerikaner verbraucht im Jahr 307 Kilogramm Papier, Bewohner der ärmsten Länder Afrikas ein Kilogramm. World Resources Institute Abb. 16: Verbrauch an Papier und Papierprodukten pro Kopf und Jahr in acht ausgewählten Ländern (WRI 2002) <?page no="78"?> 78 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 17: Stahlverbrauch pro Kopf und Jahr in acht ausgewählten Ländern (DIW 2003) Die Abbildungen machen deutlich: Der Ressourcenbedarf weltweit ist hoch und weiter am Steigen. Der Verbrauch in den Industrieländern ist bis zu 300 Mal höher als in den ärmsten Ländern der Welt. Rohstoffe wie Silizium, Metalle oder Naturkautschuk geraten aufgrund des Materialhungers der Industriesowie auch der Schwellenländer an ihre Grenzen. Die drohende Knappheit spiegelt sich laut Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) im Preis wider: Bei Kupfer und Eisenerz stieg er im Zeitraum von 2003 bis 2005 um 100 %, bei Wolfram und Titan um 200 %, bei Molybdän um 400 % und bei Vanadium um 500 %. In seinem Bericht zur Verfügbarkeit von metallischen Rohstoffen sieht der Verband die Ursachen für die Preissteigerungen und Verknappungen in der dauerhaft hohen Nachfrage, in einem zumindest kurz- und mittelfristig knappen Angebot, aber auch in handelsverzerrenden Praktiken einiger Länder. Ein Ende dieser Rohstoffhausse sei nicht absehbar. Für viele Akteure bestehen hier Chancen und Risiken. 24 Neue Produkte und Geschäftsfelder: Die Wochenzeitung „Die Zeit“ errechnete 2002 für die deutsche Industrie einen potenziellen Mehrumsatz von 190 Mrd. Euro jährlich durch neue ressourceneffiziente Produkte und neue Geschäftsfelder. Dabei sind auch funktionale Substitutionen wichtig. So reduzierte sich der Verbrauch von Silber und Chemikalien drastisch durch die Einführung der digitalen Fotografie. 25 24 Siehe Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (Hrsg.) (2007): Verfügbarkeitssituation metallischer Rohstoffe und ihre Auswirkungen auf die deutsche Industrie; siehe auch Liedtke, Christa; Busch, Timo (Hrsg.): Materialeffizienz. Potenziale bewerten, Innovationen fördern, Beschäftigung sichern. oekom Verlag München, 2005. 25 Siehe auch Studie von PwC (2010) „Schätzung globaler Nachhaltigkeits-Geschäftschancen bis 2050“ in Kapitel 1. <?page no="79"?> 3.3 Ressourcenverknappung 79 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Wiederaufarbeitung und Nutzungsdauerverlängerung: In Märkten für hochwertige Investitionsgüter werden durch Aufarbeitung veralteter Geräte erhebliche Materialmengen und Kosten eingespart. Erschlossen wurden solche Märkte durch eine Reihe von großen Markenherstellern in verschiedenen Branchen, die beispielsweise Leasinggeräte nach der Rücknahme runderneuern und wieder verkaufen. Diese Geräte sind oft 15 bis 30 % günstiger als Neugeräte. Der Markt an gebrauchten Medizingeräten etwa hat ein Volumen von 1,1 Mrd. USD und wächst jährlich um bis zu 15 %, in Europa sogar noch stärker. Abb. 18: Entwicklung des Metallpreisindexes 1947-2007 (Commodity Research Bureau) Versorgungsrisiken: Bei einer ganzen Reihe von Rohstoffen führt das begrenzte Angebot in Verbindung mit den boomenden Märkten der Schwellenländer zu Preissteigerungen. Vor Investitionen wie dem Aufbau neuer Produktlinien ist es daher notwendig, die langfristige Versorgungssicherheit mit wichtigsten Rohstoffen einzukalkulieren. Das Ziel muss sein, potenziell teure und knappe Ressourcen materialeffizient einzusetzen und gleichzeitig eine absolute Reduktion anzustreben. Materialeffizienz: Die Produktionskosten im verarbeitenden Gewerbe setzen sich aus den Personalkosten, Kosten für Material, Energie, Abschreibungen, Mieten und sonstigen Kosten zusammen. Der prozentuale Anteil der einzelnen Kosten ist laut bayerischer Metall- und Elektroarbeitgeberverbände bayme vbm zwar stark von der jeweiligen Branche abhängig, mit rund 50 % sind die Materialkosten jedoch für das verarbeitende Gewerbe der zentrale Kostenblock. Laut IHK Hannover machen Materialien heute 40 % der betrieblichen Kosten im produzierenden Gewerbe aus. Personalkosten machen dagegen nur ungefähr 25 % aus. Waren es in den 1990er Jahren noch die Entsorgungskosten, die die Abfallvermeidung attraktiv machten, so sind es heute vielfach die eingesparten Rohstoffkosten. Sowohl die effiziente Verwendung des Materials wie auch die <?page no="80"?> 80 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Suche nach Alternativen zu Materialien, die sich stark verteuern, bekommen eine neue ökonomische Bedeutung. Dennoch setzen Unternehmen häufig bei den Personalkosten an. 26 3.4 Demografischer Wandel Die Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung muss jetzt die soziale Dimension stärken - für die Menschen der nächsten Generationen. Marlehn Thieme Für das Jahr 2050 erwarten die Vereinten Nationen ein Anwachsen der Weltbevölkerung auf knapp neun Milliarden Menschen. Der Anstieg findet jedoch nicht in Europa statt. Dort ist vielmehr mit einem leichten Rückgang der Bevölkerung und einer gravierenden Verschiebung in der Struktur der Alterspyramide zu rechnen. Der Trend verweist auf eine zahlenmäßig abnehmende und stark alternde Bevölkerung. Im Jahr 2000 war der durchschnittliche Deutsche 39,9 Jahre alt. Die Lebenserwartung lag bei 79,8 Jahren. Im Jahr 2030 werden die Menschen in Deutschland im Schnitt 90 Jahre alt werden. Das Durchschnittsalter wird auf 54 Jahre angestiegen sein. In den hiesigen Unternehmen liegt das Durchschnittsalter derzeit bei 43 Jahren, 2030 soll es 53 Jahre betragen. Auch das weltweite Durchschnittsalter steigt rasant: von derzeit 27,2 Jahren auf 37,3 Jahre im Jahr 2050. Deshalb dürfte es eine Betonung neuer Qualitäten bei Produkten geben, die speziell mit Blick auf ältere Menschen entwickelt werden: elektronische Geräte beispielsweise mit einfacheren Funktionalitäten und größeren Displays, oder neue Fitnessgeräte. Eine Veränderung der demografischen Zusammensetzung wird Konsequenzen für die Art und Weise des Wirtschaftens, der Produkt- und Konsumpräferenzen sowie des Dienstleistungsangebots haben. Schon in den vergangenen 15 Jahren sind im Freizeit-, Pflege- und Versorgungsbereich Hunderttausende von Arbeitsplätzen entstanden. Produktdesign: Wenn zukünftig mehr als ein Drittel aller Deutschen über 60 Jahre alt ist, steigt auch der anteilige Konsum dieser Gruppe. Bereits heute wird deshalb die Fokussierung auf den jugendlichen Konsumenten durch die „jungen Alten“ erweitert. Gut vermarkten lassen werden sich künftig insbesondere Produkte des täglichen Bedarfs für Wohnung, Ernährung, Mobilität und Freizeit. 26 Die Bundesregierung schrieb bereits 2006 in einer Meldung: „Die Rohstoffpreise sind im Zeitraum von Anfang 2003 bis Ende 2005 um insgesamt über 67 % gestiegen, so stark wie seit 25 Jahren nicht mehr. Am deutlichsten war die Jahresteuerung bei Eisenerz und Stahlschrott (plus 38 %) und bei den Energierohstoffen (plus 36 %). Der Preis einzelner Metalle stieg sogar um bis zu 600 %.“ Siehe www.bundesregierung.de/ Content/ DE/ Magazine/ emags/ evelop/ 2006/ 047/ s4-bdideutsche-wirtschaft-braucht-rohstoffsicherheit.html <?page no="81"?> 3.4 Demografischer Wandel 81 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Dienstleistungen: In einer Gesellschaft, in der ein hoher Anteil der Menschen alt ist, werden sich Versorgungs- und Pflegeleistungen immer weniger im privaten Bereich erbringen lassen. Nicht nur, weil es mehr Alte gibt, sondern auch, weil zu ihrer privaten Pflege immer weniger Kinder und Enkelkinder da sind. Professionelle und preiswerte Dienstleistungen werden daher an Bedeutung gewinnen. Qualifiziertes Personal: Selbst bei einer Zunahme qualifizierter Zuwanderung ist abzusehen, dass der Fachkräftebedarf vieler Unternehmen sich in Zukunft nur decken lassen wird, wenn die betriebliche sowie überbetriebliche Ausbildung intensiviert und die lebenslange Weiterbildung verstärkt werden. Es wird darum gehen, in die Personalressourcen zu investieren, Personal zu halten und zu binden. Älteres Personal muss Erfahrungen besser einbringen können. Dabei kommt auch der betrieblichen Gesundheitsvorsorge eine steigende Bedeutung zu. 27 Bislang wurden die drei wichtigsten Trends ausführlicher beschrieben, um für deren Ausprägung, Wesen und Art zu sensibilisieren. Daneben zeichnen sich eine Reihe weiterer Trends ab, die es gilt, im Blick zu behalten. Die folgende Auflistung bezieht sich auf Informationen des Zukunftsinstituts in Kelkheim und des Statistischen Bundesamtes. Sie nennt die zwölf wichtigen Megatrends und wie sich diese niederschlagen. Globalisierung Wirtschaftswachstum, globaler Wettbewerb, „War for Talents“, Verschärfung internationaler Umweltgesetzgebung, „Arm-Reich-Kluft“ Urbanisierung Megacities, Slums, Getthoisierung, Landflucht, kulturelle Einebnung, Verdichtung, neue Stadtplanungskonzepte, Slow Cities, soziale Kluft demografischer Wandel, „Downageing“ Bevölkerungsexplosion, Nahrungsmittelverknappung (v. a. Wasser, Anbaufläche), Ressourcenerschöpfung, „junge Alte“ / „Silver ager“ Umweltschutz & Energie Forschung und Entwicklung, Innovationswettbewerb, Patente, Subventionen/ Sanktionen, erneuerbare Energien, Hybridantriebe, Dezentralisierung, Wasserstoffökonomie Mobilität ÖPNV, „ohne Auto“, Leihauto, Bahnreisen, Ökotourismus, Mobilitätskonzepte, Wohnraumverdichtung, Flugreisen-Kompensation, e-Mobilität 27 Statistisches Bundesamt (2006): Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Download unter www. destatis.de <?page no="82"?> 82 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Hightech Innovationswettbewerb, Internet, Web 2.0, Social Media, Data-Mining, Onlinebanking und -shopping, Nano- und Biotechnologie, Social Freezing, digitale Währunen Gesundheit Überalterung, Wellness, Homöopathie, Ökotourismus, Wachstumsmarkt, Bio food, Fairtrade, Vegetarismus, Veganismus, langes Leben Arbeit/ „New Work“ Homeoffice, Telekonferenzen, mobiles Arbeiten, Unternehmerhaltung Feminisierung Frauenquote, Soft skills, neues Denken, Konsensorientierung, weibliche Qualitäten und Eigenschaften, Gender Mainstreaming Bildung & Wissen international, technisch, lebenslanges Lernen, mehrere Sprachen, Wissensgesellschaft Gemeinschaftssinn Generationenhäuser, Bürgerinitiativen, soziale Verantwortung, kulturelle Integration von Minderheiten, Multikulturalität, Flüchtlingskrise Tabelle 8: Megatrends im 21. Jahrhundert Frauen gehen in Führung Die Beschäftigungsquote von Frauen im erwerbsfähigen Alter lag in Deutschland 2004 bei rund 58 %. Gegenüber 1997 bedeutete das eine Zunahme von 3,2 %, während bei den Männern im selben Zeitraum ein Rückgang von 1,8 % zu verzeichnen war. Der Frauenanteil an den Führungspositionen liegt in Europa mittlerweile bei rund 30 %, in Lettland sogar bei 44 %. Prognose: Im Jahr 2030 ist in Europa jede zweite Führungskraft weiblich. Wichtigster Treiber dieses Trends ist die Umverteilung der höheren Bildung von den Männern zu den Frauen. Jedes vierte Mädchen in Deutschland erreicht die allgemeine Hochschulreife, allerdings nur jeder fünfte Junge. Aufgabe: Hinterfragen Sie für sich, welche jener Trends in welchem Umfang, mit welcher Intensität und mit welcher Wahrscheinlichkeit in Zukunft auftreten. 28 www.goethe.de <?page no="83"?> 3.5 Trenderfassung und -nutzung 83 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 3.5 Trenderfassung und -nutzung It‘s better to be vaguely right, than to be precisely wrong. Karl Popper Aus Trends lassen sich Handlungsempfehlungen für jeden Einzelnen wie für ganze Unternehmen, Branchen und Länder ableiten. „Wir müssen Trendforschung, Prognosen und Szenarien, die Nachhaltigkeitsaspekte konsequent einbeziehen, einen höheren Stellenwert einräumen. Nur so können wir die Tragfähigkeit der Erde erhalten und nur so können wir wirtschaftliche Chancen nutzen“, sagt Ines Seidel, Geschäftsführerin der Agentur für Zukunftsfitness dazu. Wie aber lassen sich Trends erfassen? Eine grundsätzliche Möglichkeit besteht in der Entwicklung verschiedener Szenarien, meist Positiv- oder Best-Case- Szenarien sowie Negativ- oder Worst-Case-Szenarien, die als Extrempunkte die Spannbreite möglicher Zukunftsrealitäten aufzeigen. Abb. 19: Szenariotrichter Ein Szenario ist die auf eine bestimmte Fragestellung bezogene, möglichst vollständige und in sich plausible Zusammenstellung von Ereignissen und Ereignisfolgen. Szenarien bilden nicht nur tatsächlich erwartete Entwicklungen ab, sondern die gesamte Breite denkbarer Tendenzen aufzeigen. Prognose - wörtlich „das Vorwissen“, die „Voraus-Kenntnis“ -, deutsch Vorhersage oder Voraussage, ist eine Aussage über Ereignisse, Zustände oder Entwicklungen in der Zukunft. <?page no="84"?> 84 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der „Szenariotrichter“ dient dabei als Werkzeug. Er soll den Raum möglicher zukünftiger Entwicklungen und die ganze Spannbreite denkbarer Tendenzen aufspannen. Der Begriff Wild Card bezeichnet so etwas wie einen Joker im Kartenspiel und repräsentiert einen Platzhalter oder blinden Fleck in unserer Zukunftserwartung. Übung: Entwicklung eines Negativszenarios Entwickeln Sie ein Negativszenario, basierend auf der Annahme weltweit ungebremster Umweltdegradation. Berücksichtigen Sie die Bereiche Politik, Wirtschaft, Gesellschaft - und überlegen Sie sich, was hier im schlimmsten Fall schieflaufen kann. Welche Schieflagen in Deutschland, Europa und der Welt deuten bereits heute an, dass wir auf einen Kollaps zusteuern? Verschaffen Sie sich Fakten aus der Recherche als Grundlage, lassen Sie sonst Ihrer Fantasie freien Lauf! Übung: Entwicklung eines Positivszenarios Hier gilt die gleiche Aufgabenstellung nur unter umgekehrten Vorzeichen. Entwickeln Sie ein Positivszenario unter der Annahme, dass wir die Kurve kriegen und Wirtschaft, Umwelt und Menschen aufs Beste gedeihen. Das umfasst z.B. internationale Vereinbarungen, individuelle und kollektive Anstrengungen etc. Methoden und Instrumente zur Trenderkennung Neben der Szenarienentwicklung gibt es die Möglichkeit, unter einer Reihe von Techniken und Methoden auszuwählen, von denen eine Auswahl in der folgenden Tabelle genannt wird. Besichtigung der Zukunft (z.B. im Ausland) morphologische Analyse Synektik Brainstorming Netzplantechnik Systemanalyse Business Wargaming Nutzwertanalyse Szenarien Collective-Notebook Papiercomputer Technikfolgen- Abschätzung Computersimulation Perspektiven-Werkstatt Trendextrapolation Cross-Impact-Analyse Relevanzbaum Verflechtungsmatrix <?page no="85"?> 3.5 Trenderfassung und -nutzung 85 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Delphi-Befragung Roadmapping Zukunftskonferenz historische Analogie Rollenspiel Zukunftswerkstatt 6-3-5-Methode Simulation Zukunftsspiel Tabelle 9: Methoden und Instrumente zur Trenderkennung Eine konkrete Möglichkeit ist das integrierte Roadmapping. Über eine systematische Bündelung von Einzelthemen stellt es mittel- und langfristiges Orientierungswissen in Form einer Roadmap bereit, die als Grundlage für die Erarbeitung von Handlungsoptionen und Prioritäten dient. Das Konzept wird z.B. vom Zentralverband der Elektroindustrie (ZVEI) zur Unterstützung der Strategieentwicklung der Mitgliedsunternehmen eingesetzt. Es berücksichtigt politische, ökonomische, ökologische, technologische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Trends. Am ehesten mit dem vorherrschenden Innovationsmanagement kompatibel ist es, die Nachhaltigkeitsdimensionen quasi als Leitplanken einzubeziehen und an den passenden Stellen zu integrieren. Hierzu muss einerseits auf die Ergebnisse der Zukunftsforschung zurückgegriffen werden. Andererseits scheint eine relative offene Methode am aussichtsreichsten, da sie die verschiedenen Unternehmensbereiche und Akteure vernetzt und so einen Lernprozess anstößt. Neben Experteninterviews und Delphi-Befragungen sind auch Gespräche mit Stakeholdern und Anwendern zielführend. Mit Hilfe der integrierten Technologie-Roadmap gelang es Unternehmen des ZVEI, eine Reihe von Herausforderungen in den Bereichen der Auslandsmärkte, der Nutzerintegration in die Entwicklung, der Standardisierung und der Qualifizierung zu identifizieren. Abb. 20: Überblick integriertes Roadmapping (ZVEI) <?page no="86"?> 86 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Eine große Herausforderung stellt sich. Sie liegt in der Ableitung von Konsequenzen für das eigene Unternehmen respektive die Branche, das Arbeitsgebiet oder den Politikbereich. Sprich, es geht um die fachkundige Interpretation solider Daten für eine Entscheidungsfindung, die den Namen Trendforschung verdient. Dabei können Märkte der Zukunft sowohl über die Strategieentwicklung als auch über das Innovationsmanagement erschlossen werden. Wichtig ist jedoch ein grundlegendes Verständnis dieser Trends als erster Schritt. Beispiele für Produkte und Dienstleistungen, die Trends richtig erkannt haben, sind Mieträder, weil sie bürgernah sind und unkompliziert mobil machen; die Organisation AtmosFair, weil sie einen nachvollziehbaren Mechanismus gefunden hat, wie individuelle reisebedingte Emissionen unmittelbar und gerecht ausgeglichen werden können; Plusenergiehäuser, weil sie effizient sind, noch effizienter als Null-Energiehäuser; Mikrokredite, weil sie dort ansetzen, wo Geld wirklich gebraucht wird; Facebook, weil es den Wunsch nach Austausch, Vernetzung und weltweiter sozialer Inklusion in Echtzeit befriedigt; Apple, weil das Unternehmen bewiesen hat, dass Computer edles Design und nutzerorientierte Funktionalität auf spielerische Weise verbinden können. Die Zukunft ist vernetzt - ökologisch und digital Wie eingangs im Kontext der Kondratieff-Zyklen erwähnt, befinden wir uns gegenwärtig an der Schwelle zum sechsten Zyklus unter dem Vorzeichen Umwelt und Gesundheit. Im Zuge dieser neuen Phase ist ein Innovationsschub mit einem massiven Auftreten von Basisinnovationen in diesem Bereich zu erwarten. Dies würde dafür sprechen, dass uns das Thema Nachhaltigkeit (verstanden als Ausdruck für Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit) für die nächsten 40 bis 60 Jahre in Atem halten wird. Dabei beziehen sich jene Innovationen auf Basisinnovationen in Form von Produkt- und Prozessinnovationen als auch auf völlig neuen Geschäftsmodelle wie z.B. Internet-Auktionshäuser oder Marketingkanäle wie etwa Groupon oder techno-soziale Konzepte wie Web 2.0. Kriterien wie Usability, Partizipation, Konvergenz oder Synchronisierung sind dabei die Währung. Anwendungen und interaktive wie kollaborative Elemente sind z.B. Tagging, Social Bookmarking, Blogs, Folksonomies, Social Software, Crowdsourcing oder Cloud Computing, die sich großer sozialer Beliebtheit erfreuen. Die Zukunft ist vernetzt - ökologisch, digital. Das Internet und Web 2.0 werden in diesem Kontext erwähnt, weil sie die technische Basis und Plattform zum Informationsaustausch, zur Gemeinschaftsbildung und Vernetzung von Menschen bieten, die so auf digitalem Wege sich eine flächendeckende Bildung zum Thema Nachhaltigkeit aneignen können als auch technisch dazu befähigt werden, konkrete Aktionen, Maßnahmen und Initiativen anzustoßen. In diesem Zusammenhang sind auch Phänomene wie Citizen Journalism - auch als Graswurzel- oder Bürgerjournalismus bezeichnet - oder E- Demokratie (E für elektronische) zu sehen, weil sie die Informierung der kritischen Basis bewirken, die Nachhaltigkeit in der Breite wirksam werden lässt, <?page no="87"?> 3.5 Trenderfassung und -nutzung 87 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Konsumenten sensibilisiert und so dafür sorgt, dass diese als Nachfrager von Produkten und Dienstleistungen Unternehmen beeinflussen, aber auch Regierungen oder NGOs hinsichtlich ihrer programmatischen Ausrichtung. So war der Erfolg Barack Obamas in seiner Kampagne als US-Präsidentschaftskandidat zu einem Großteil dem Einsatz von Social Media zu verdanken. Damit hat es nicht nur Obama als Vertreter des Diversity-Prinzips selbst bis an die Spitze geschafft, sondern gleichzeitig wurde der landesweit verstreuten Wählerschaft mit dem Internet ein Sprachrohr gegeben, sich als Bürger zu beteiligen und Gehör zu verschaffen, Stichwort: Crowdsourcing. 29 Crowdsourcing bedeutet, dass viele Leute zum Entstehen eines Produktes beitragen, wie z.B. im Fall von Wikipedia. Der Fairness halber - und weil Nachhaltigkeit als Leitbild für Visionen, Engagement und Zuversicht steht, für die es beherztes Handeln braucht - sei abschließend ein Positivszenario genannt. Dieses ergänzt das zu Eingang des Kapitels angeführte Negativszenario. Positivszenario: Es ist geschafft Die Menschheit kann mit dem konsequenten Umstieg auf regenerative Energie die gröbsten Folgen der Erderwärmung vermeiden. Die Nachrichten beherrscht seit Wochen nur ein Thema. Es ist ein historischer Rückblick. Vor 40 Jahren hat die Welt begonnen, sich am eigenen Schopf aus einem Sumpf namens Klimawandel zu ziehen. Auf der Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen nahmen sich 192 Staaten der Welt vor, den Ausstoß von Treibhausgasen bis zum Jahr 2050 zu halbieren. Die Durchschnittstemperatur der Erde sollte um nicht mehr als zwei Grad Celsius über die Werte vor der Industrialisierung steigen. Diese Ziele hat die Welt weitgehend erreicht. 2021, drei Jahre später als vereinbart, begann der weltweite Ausstoß an Treibhausgasen zu sinken. Dennoch, die Effekte ließen sich nicht einfach stoppen. Deutschland hat sich stärker erwärmt als die Welt im Durchschnitt. Die Zahl der Schneetage ist um ein Drittel auf 30 gefallen. Die Zahl der Überflutungen hat stark zugenommen. Lange Trockenphasen just in der Zeit, als Getreide und Trauben reifen sollten, haben in den drei Jahren 2043 bis 2045 die Ernten geschädigt. Doch Deutschland ist auf den Hitzestress vorbereitet, weil die hauptsächlich betroffenen Senioren längst keine Randgruppe mehr, sondern den Kern der Gesellschaft bilden. Die umfangreiche Isolierung der Häuser hält die meisten Wohnungen angenehm kühl. Hersteller 29 Siehe www.barackobama.com und http: / / demokratiezweinull.de <?page no="88"?> 88 3 Trends und Entwicklungen - die Zukunft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit von solarbetriebenen Klimaanlagen, die seit 2021 auf dem Markt sind, haben gute Geschäfte gemacht. Diese Geräte sind nur ein Beispiel für den radikalen Wandel, den die Wirtschaft erlebt hat. Besonders die Energieversorger haben sich praktisch neu erfunden. Seit 2018 erzeugen die großen Offshore-Windparks in der Nordsee Strom billiger als Kohlekraftwerke. Für den privaten Verbraucher ist Elektrizität aus der eigenen Photovoltaik-Anlage auf dem Dach schon seit 2020 günstiger als der Strom aus dem Netz. Inzwischen werden die Zellen auf Plastikfolien, Dachziegel oder auch Fenster aufgedampft. Ihre Farbe richtet sich nach den Wünschen der Kunden. Im Jahr 2050 sind in Deutschland erstmals weniger als 40 Millionen Autos zugelassen (ihre Zahl sinkt seit etwa 2020) und die Zahl der Neuwagen mit Elektroantrieb übertrifft die Menge derjenigen mit Verbrennungsmotor seit 2029. Aber 20 Jahre später stammen noch immer zwei Drittel der Energie, die im deutschen Verkehr verbraucht wird, aus Erdöl, Erdgas und verflüssigter Kohle. Biokraftstoffe, die mittels künstlicher Photosynthese erzeugt werden, kommen allmählich auf den Markt. Dafür hatten 2039 zwei saudi-arabische Forscher den Chemie-Nobelpreis bekommen. Die technologische Entwicklung in Deutschland puffert den ökonomischen Effekt für den Verbraucher jedoch ab. Ihn hat der Klimaschutz bisher nicht mehr als ein Prozent seines Wohlstands gekostet. In Zahlen: vier Euro pro Woche. Dieser Betrag heißt landläufig „Kopenhagener Pfennig“. 30 Fazit - Die Weichen für Zukunftsfähigkeit stellen „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“, wurde Willy Brandt zitiert. Während sich Innovationen bislang stark auf technische Lösungen beziehen, dürften künftig auch soziale Innovationen mehr Gewicht haben. Die Hinweise darauf lassen sich an den beschriebenen Trends und Megatrends ablesen, zu denen vor allem Klimawandel und Energieverbrauch, Ressourcenverknappung und der demografische Wandel zählen. Die Anzeichen häufen sich, dass Nachhaltigkeit ein Schlüsselthema des 21. Jahrhunderts ist. Je eher Akteure diese zu deuten wissen, desto eher kommt es zu evolutionstauglichen Lösungen. Konkrete Trendtechniken können bei der Analyse helfen und Risiken so in Chancen umgewandelt werden. Positiv- und Negativszenarien sind dabei als Push- und Pull-Faktoren zu sehen: Will die Menschheit künftig eine bedrohliche Entwicklung abwenden oder gezielt eine vielversprechende Fortschreibung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse verfolgen? 30 Gekürzt und leicht bearbeitet nach einem Artikel der Süddeutschen Zeitung am 17.12.2009 von P. Illinger und C. Schrader. <?page no="89"?> 89 Literatur BMU (2008) Megatrends der Nachhaltigkeit. Berlin. (siehe auch http: / / www.bmu.de/ files/ pdfs/ allgemein/ application/ pdf/ broschuere_csr_ megatrends.pdf) Ferdinand, J.-P. (2011) Megatrends und die grüne Wirtschaftspolitik. Ökologisches Wirtschaften, Heft 4/ 2011, S. 12-13, oekom Verlag München. Gordon, Adam: Future Savvy: Identifying Trends to Make Better Decisions, Manage Uncertainty, and Profit from Change. AMACOM. Horx, M. (2014) Das Megatrend-Prinzip: Wie die Welt von morgen entsteht. Deutsche Verlags-Anstalt. Jackson, T. (2017) Wohlstand ohne Wachstum - das Update. oekom Verlag, München. Naisbitt, J. (1982) Megatrends. Ten New Directions Transforming Our Lives. Warner Books. Naisbitt, J.; Aburdene, P. (1992) Megatrends 2000. Zehn Perspektiven für den Weg ins nächste Jahrtausend. Econ Berlin. Pillkahn, U. (2007) Trends und Szenarien als Werkzeuge der Strategieentwicklung. Publicis. Simon, H. (2011) Die Wirtschafstrends der Zukunft. Campus Verlag Frankfurt/ M. Stiftung Entwicklung und Frieden / Centre for Global Cooperation Research (2015) Globale Trends. Perspektiven für die Weltgesellschaft. Welzer, H.; Wiegandt, K. (2011) Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung: Wie sieht die Welt im Jahr 2050 aus? , Frankfurt/ M. Wenzel, E.; Kirig, A.; Rauch, C. (2008) Greenomics. Wie der grüne Lifestyle Märkte und Konsumenten verändert. Redline. <?page no="91"?> 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes <?page no="92"?> 92 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Ich blicke in diesem Begriffschaos nicht mehr durch. An welchen Theorien kann ich mich orientieren? Maßnahmen Klarer Überblick durch Begriffsarchitektur, Zusammenhänge und Wechselwirkungen, namhafte Theorien und deren Vertreter. Ergebnisse Studierende sind über den theoretisch-wissenschaftlichen „Unterbau“ im Bilde, sie kennen alle wichtigen Termini und sind mit der wissenschaftlichen Dimension von Nachhaltigkeit vertraut. Hilfsmittel Schaubilder, Grafiken, Tabellen. Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Immanuel Kant Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die wichtigsten Definitionen, theoretischen Ansätze, Modelle und Konzepte zum Verständnis von Nachhaltigkeit. Es nennt handlungsleitende Prinzipien, Positionen, Themen und Strategieoptionen. Einleitend sei folgende Auswahl theoretischer Zugänge zum Thema Nachhaltigkeit angeführt. Sie sind Felix Ekardts „Theorie der Nachhaltigkeit“ entnommen und durch Stichworte umrissen. 31 31 Ekardt, F. (2011) Theorie der Nachhaltigkeit. Nomos Verlag, Baden-Baden <?page no="93"?> 93 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Erkenntnistheoretische, definitorische und empirische Grundlagen Westliche Wirtschafts- und Lebensformen, Ressourcenknappheit, Klimawandel, Energiewende; Definitionen und Ebenen des Nachhaltigkeitsdiskurses wie z.B. Dreisäuligkeit, soziale Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeitsindikatoren und -messungen; inter- und transdisziplinäre Verflechtungen, normative, instrumentelle und theoretische Vernunft, Gerechtigkeitsforschung und Governancebzw. Transformationsforschung. Anthropologie und Gesellschaftstheorie Individuelle Handlungsoptionen; Wissen und Nachhaltigkeitsbzw. Umweltbewusstsein; ökonomische, biologische, kulturelle und ähnliche Faktoren wie Konformität, Eigennutzen, Gefühle, tradierte Werte, strukturelle Gegebenheiten. Universale Gerechtigkeitstheorie - Grundbedingung einer transdisziplinären Nachhaltigkeitstheorie Neuformierte Diskursethik; metaphysische Gerechtigkeitsansätze nach Platon, der Bibel etc.; skeptizistische (wie z.B. postmoderne, positivistische, nihilistische), kontextualistische Gerechtigkeitsansätze sowie liberal-demokratische Klassiker (von Immanuel Kant zu John Rawls); Präferenz-, Effizienztheorien sowie Kosten-Nutzen-Analysen; Menschenwürde, Unparteilichkeit, Freiheit, gewaltenteilige Demokratie als universalistischer Neuansatz in der Ethik. Menschenrechte und Nachhaltigkeit - Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit (ethisch und rechtlich) Warum die Gerechtigkeitstheorie die Individual- und Unternehmensethik ersetzt; Freiheitsvoraussetzungsschutz und Junktim von Freiheit und Handlungsfolgenverantwortung, Menschenwürde als liberal-demokratisches Grundprinzip; „Umweltgrundrechte“, „Umweltstaatsziele“, „Nachhaltigkeit als Rechtsprinzip“, menschenrechtlicher Schutz elementarer Freiheitsvoraussetzungen wie z.B. Nahrung, Wasser, Energiezugang, Klimastabilität; Grundbedürfnisansatz. Nachhaltige Demokratien - Effizienz und Risikomanagement Demokratie, Nachhaltigkeit und Institutionen; Abwägungsregeln und existenzielle Konflikte in der Risikogesellschaft; Nachhaltigkeitsökonomik, ökonomische Effizienztheorien, Kosten-Nutzen-Analysen; partizipative Demokratie. Nachhaltige Politik - Transformation und Governance Wechselspiel von Politik und gesellschaftlichem Wandel; Bottom-Up; „klassische Politik“; Mengensteuerung und ökonomische Nachhaltigkeitsinstrumente; soziale Umweltpolitik; pragmatische versus visionäre Ansätze; ordnungsrechtliche, planerische und informationelle Regelungsbedarfe. Tabelle 10: Theorien der Nachhaltigkeit <?page no="94"?> 94 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit „Der interdisziplinäre Charakter erschwert es, Nachhaltigkeit auf einige ausgewählte Theorien zu beschränken. Ihrer spezifischen Ausrichtung entsprechend wählt jede Disziplin ihren eigenen Zugang und das sind potenziell sehr viele“, sagt Felix Ekardt. 4.1 Ökologisches, ökonomisches und soziales Kapital Der Kapitalismus hat den Sieg davongetragen. Fragt sich nur: Wohin? Volker Pispers Das Wort Kapital ist uns vertraut, wir hören es in unserer täglichen Wirtschafts-, Lebens- und Arbeitswelt. Kapital ist etwas, das einen Wert hat und folglich an Wert verliert, wenn es zerstört wird. Dabei kann Kapital entgegen dem gemeinhin geläufigen monetären Verständnis auch als soziales oder Wissenskapital verstanden werden, wie es der Soziologe Pierre Bourdieu nahelegt. Die Kulturtheorie Bourdieus vergleicht Interaktionen des Alltagslebens mit einem Spiel. Die Individuen besitzen unterschiedlich viele Potenziale verschiedener Art, die sie einsetzen und teilweise umwandeln können: ökonomisches Kapital, soziales Kapital, symbolisches Kapital und kulturelles Kapital. Dabei gilt: Jeder spielt entsprechend der Höhe seiner Chips. So kann der Erwerb kulturellen Kapitals beispielsweise zur Erhöhung des ökonomischen Kapitals dienen. Mit dem soziologischen Begriff Soziales Kapital bezeichnet Pierre Bourdieu die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sein können. Im Gegensatz zum Humankapital bezieht sich das soziale Kapital nicht auf natürliche Personen an sich, sondern auf die Beziehungen zwischen ihnen. Soziales Kapital bietet für die Individuen einen Zugang zu den Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens wie Unterstützung, Hilfeleistung, Anerkennung, Wissen und Verbindungen bis hin zum Finden von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Es produziert und reproduziert sich auch über Tauschbeziehungen, wie gegenseitige Geschenke, Gefälligkeiten, Besuche und Ähnliches. Die Differenzierung der Sozialstruktur in Klassen wird mit der Verfügung über die drei Kapitalarten ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital und durch Unterschiede in Geschmack und Lebensstil definiert. Hinzu kommt das symbolische Kapital, welches Anerkennung und Prestige verleiht. Individuen und Klassen kämpfen im Rahmen ihrer Habitus- und Kapitalausstattung um die Position in der Gesellschaft. Bourdieus Vorläufer sind Émile Durkheim, Max Weber und Karl Marx. 32 32 Siehe Bourdieu, Pierre (1983) Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.) (1982) Soziale Ungleichheiten, Göttingen, S. 183-198; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt/ M. <?page no="95"?> 4.1 Ökologisches, ökonomisches und soziales Kapital 95 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der Begriff des Kapitals wird an dieser Stelle herangezogen, um zu verdeutlichen, dass Kapital jenseits des finanziellen und ökonomischen besteht und es andere Kapitalarten in ihrer Bedeutung zu erfassen und anzuerkennen gilt. Zudem ist die Unterscheidung und die Abgrenzung nach Kapitalarten gerade auch für die quantitative Konkretisierung der drei Dimensionen - Ökonomie, Ökologie und Soziales - ein Ansatz, der gangbar und nachvollziehbar ist. Abb. 21: Kapitalarten im Überblick (nach Hediger) Die verschiedenen Kapitalarten lassen sich abgrenzen, gleichzeitig gibt es jedoch Überschneidungen z.B. Holz wird zu Büromöbeln, ökologisches Wissen mündet in neue Forsttechniken. Die obige Abbildung spiegelt dies wider. Sie zeigt, dass das Gesamtkapital aus ökonomischem, sozialem und ökologischen Kapital besteht, die sich jeweils weiter ausdifferenzieren lassen, Letzteres etwa in erneuerbare und nicht-erneuerbare Ressourcen. Sichtbar aber sollte vor allem werden: nicht allein ökonomisches Kapital macht den Reichtum eines Landes oder einer Unternehmung aus, sondern auch das direkte wie indirekte, materielle wie immaterielle Vermögen und Kapazitäten tragen dazu bei. Zusammenfassend listet folgende Tabelle Bestandteile der Kapitalarten auf, um so für deren Wesen zu sensibilisieren. <?page no="96"?> 96 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit ökologisches Kapital ökonomisches Kapital soziales Kapital erneuerbare Ressourcen Land Nahrungskreisläufe Klimasystem solare Einstrahlung Gleichgewichte Tragfähigkeit Naturkapital, nichterneuerbare Ressourcen wirtschaftliches Produktionskapital in Form von Sach-, Wissens- und Humankapital (z. B. technische Anlagen, Fabriken, Software, qualifizierte Mitarbeiter) immaterielles Vermögen (z. B. Goodwill, Lizenzen, Patente) am schwersten zu fassen bisher Wissen, Talent, Engagement Netzwerke, Gemeinschaft, Rückhalt Grundbedürfnisbefriedigung gesellschaftliche Integration Weiterentwicklung der Gesellschaft Tabelle 11: Beispiele für ökologisches, ökonomisches und soziales Kapital Grundsätzlich gilt, dass ohne Sicherung des ökologischen Kapitals die Basis für Aufbau, Erhalt und Nutzung ökonomischen und sozialen Kapitals fehlt. Das ist der Grund für dessen stärkere Gewichtung und damit für die vorherrschende Bedeutung der Umweltpolitik. Naturkapital - der Kapitalstock, von dem wir zehren Hinsichtlich des Naturkapitals muss so zunächst unterschieden werden, ob der natürliche Kapitalstock ganz oder teils von Menschenhand produziert wurde, wie z.B. die zivilisatorische Errungenschaft Stadt oder landwirtschaftliche Nutzfläche, oder ob er rein natürlichen Ursprungs ist, wie z.B. Sauerstoff bei Verbrennungsanlagen oder das Abzweigen von Wasser aus einem natürlichem Flusslauf. Zudem ist im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Nutzung dieser Kapitalart von wesentlicher Bedeutung, ob der Kapitalstock erneuerbar ist oder nicht. Im ersten Fall geht es um die zeitliche Relation des Nachwachsens zur Abnutzung dieser Ressource. Ökonomisches Kapital - Produktionsfaktoren Ökonomisches Kapital umfasst alle Produktionsfaktoren, die zum Zwecke der Herstellung von Endprodukten erstellt wurden. Dies können Produktionsanlagen, Lagerhallen, Transportmittel und vieles andere mehr sein. Auch Rechtsansprüche wie Patente sind eine Form von Sachkapital. Die Nachhaltigkeitsfrage bei dieser Kapitalform konzentriert sich entgegen der anderen Formen weniger auf die Frage, wie das ökonomische Kapital selbst erhalten werden kann; vielmehr geht es hier um die Frage, welcher Anteil von Naturkapital beim Einsatz von ökonomischem Kapital verbraucht wird. Wie viel Sauerstoff wird in CO 2 -Emis- <?page no="97"?> 4.1 Ökologisches, ökonomisches und soziales Kapital 97 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit sionen umgewandelt, wie viel Boden wird versiegelt, wie viel Müll als Kuppelprodukt entsteht und belastet die Umwelt? Sozialkapital - Beziehungen sind wertvoll Sozialkapital umfasst Zeit mit Kindern, Partnern und Freunden, die Pflege von Alten und Kranken, Nachbarschaftshilfe und das Engagement für soziale oder gesellschaftliche Initiativen ebenso wie kulturelle Unternehmungen und viele andere außerberufliche Beiträge zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung. Ebenso wie beim Humankapital ist der Mensch Ausgangspunkt dieser Kapitalart. Während beim Humankapital jedoch das Individuum Träger dieser Ressource ist, wird Sozialkapital von der Beziehung zweier Individuen zueinander oder durch ein ganzes Beziehungsgeflecht getragen. Hierbei spielen soziale Normen, Reziprozität und der Vertrauensgrad eine wesentliche Rolle für die Höhe und Stabilität des Sozialkapitalstocks. Ein hoher Sozialkapitalstock verbessert den sozialen Frieden in Betrieb, Wohnort und der gesamten Gesellschaft. Da er durch jene interaktiven Verhaltensweisen erhöht oder erhalten wird, durch die dauerhaft soziale Verpflichtungen entstehen oder das Vertrauensniveau steigt, muss das Nachhaltigkeitsziel dort ansetzen. 33 Je größer und dezentraler die Gesellschaft ist, desto wichtiger ist es, zu verhindern, dass sich die Kluft zwischen einzelnen sozialen Gruppen vergrößert. Das sogenannte bridging social capital soll Interessen und Ziele einzelner Teilsysteme mit Oberzielen der Gesamtgesellschaft ausgleichen helfen. Hier spielen wiederum gesellschaftliche und politische Institutionen und deren Reputation eine wesentliche Rolle. Sonderform Humankapital Das Humankapital kann sowohl als Sonderform des Naturkapitals als auch als Teil des ökonomischen Kapitals gesehen werden. Es umfasst physische, psychische und kognitive Komponenten; gerade letztere sind in einer wissensbasierten Gesellschaft bedeutsam. Die Ressourcen können dem Einzelnen, dem Individuum, zugerechnet werden. Dabei kann Humankapital zum einen als Produkt der menschlichen Natur verstanden werden, zum anderen kann es aber auch als Wissenskapital bzw. als wissensbasiertes Ergebnis im Herstellungsprozess (Learning by Doing) verstanden werden. Unabhängig von der Frage der Kapitalformzuordnung rücken damit Fragen zu Bildungssystem und -politik in den Blick. Zwischenfazit zu den Kapitalarten Was das Gleichgewicht der Kapitalarten angeht, zeigt sich, dass die klassische Wirtschaft und Industrie auf der Umwandlung von Waren in Produkte beruhen, 33 Vgl. Schechler, J. M. (2002), Sozialkapital und Netzwerkökonomik, S. 162 ff <?page no="98"?> 98 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit wobei jener Umwandlung stets ein Energieverbrauch wie auch eine Zerstörung natürlicher Ressourcen zugrundeliegen. So werden etwa zur Erzeugung einer Tonne Stahl rund 60.000 Liter Wasser benötigt. Problematisch daran ist, dass die industrielle Produktion destruktive Begleiterscheinungen wie Verschwendung, Verschmutzung oder negative soziale Auswirkungen nicht als externe Kosten in die Kalkulation beziehungsweise Gewinnausweisung mit einbezieht. Vielmehr führt die Überbewertung ökonomischen Kapitals und die Unterbewertung anderer Kapitalarten dazu, betrieblicher Wertschöpfung niedrigere Kosten zu attestieren als sie erzeugt und dabei gleichermaßen die damit verbundenen hohen gesellschaftlichen und ökologischen Kosten auszublenden. D.h. die Vorteile der Wertschöpfung werden rechnerisch erfasst und bilanziert, nicht jedoch die mit Negativeffekten verbundenen Kosten. Die durch ökonomische Wertschöpfung entstandenen gesellschafts- und umweltbezogenen Schadschöpfungen werden somit an die Gesellschaft weitergegeben statt sie innerhalb des eigenen Unternehmens und bzw. der eigenen betrieblichen Produktion, Wertschöpfung und Kerntätigkeit zu veranschlagen. (Vgl. Ausführungen zu Externalisierung in Kapitel 4.3.) Bisherige Dominanz der Umweltpolitik Nachhaltigkeit ist in den Industrieländern über viele Jahre durch die ökologische Nachhaltigkeit dominiert worden, das Thema Umweltschutz stand im Vordergrund der Politik. Das macht auch die früher in Deutschland häufig verwendete Bezeichnung einer „dauerhaft umweltgerechten Entwicklung“ für „Sustainable Development“ deutlich. Ab den 1970er Jahren wurde durch die Einführung einer aktiven Umweltschutzpolitik die ökologische Komponente in der Wirtschaftsordnung verankert. Das heißt, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wurde in einem gewissen Maße hin zu einer Ökosozialen Marktwirtschaft erweitert. In den Entwicklungsländern überwog und überwiegt demgegenüber stärker die wirtschaftliche Dimension mit Prinzipien wie Wettbewerb, freier Marktzugang und Leistungsorientierung. Die soziale Dimension findet dabei vor allem in sozialpolitischen Maßnahmen Niederschlag wie Einkommensumverteilung, Sozialversicherungssystem und Sozialleistungstransfers. Ebenfalls für die Dominanz der Umweltpolitik spricht die in den 1990er Jahren in Deutschland aufgekommene Diskussion um die „Ökologische Modernisierung“. Technisch-ökonomischer Fortschritt galt als das heilsbringende Gebot. Umwelt wurde zunehmend als Wirtschaftstreiber und Innovationsmotor begriffen. <?page no="99"?> 4.2 Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit 99 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 4.2 Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit It‘s not a choice between our environment and our economy, it‘s a choice between prosperity and decline. Barack Obama In vielen älteren wie jüngeren Konzepten wird der Natur bzw. den Ökosystemen als Lebens- und Wirtschaftsgrundlage der Menschheit ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Bis heute herrscht damit das Primat der Ökologie vor, in dem Sinne, dass Umweltschutz wirtschafts- und sozialverträglich zu gestalten sei. Dies erklärt, warum Nachhaltigkeit heute häufig mit Umweltschutz und verträglichkeit verbunden wird. Sprich, Ökologie ist die wesentliche, tragende Säule. Aus ökonomischer Sicht stellt Nachhaltigkeit dagegen auf die Sicherung der Lebens- und Produktionsbedingungen ab. Der Anspruch ist damit, die Umwelt dauerhaft zu erhalten und auf dieser Grundlage das Wirtschafts- und Sozialsystem aufzubauen. Kern, Bezugspunkt und Grundprinzip jeglicher Nachhaltigkeitsdiskussion bildet dabei aber vielmehr der Gerechtigkeitsbegriff im Sinne von Gerechtigkeit als normativer Grundlage für heutige wie künftige Generationen. Oder wie Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, in seinem Buch ‚Ökonomie für den Menschen‘ schreibt: „Meine These lautet, dass die Beseitigung gewichtiger Unfreiheiten eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung ist.“ 34 Zwei Lager stehen sich bis heute unversöhnlich gegenüber, was die Beziehung von Ökonomie und Ökologie sowie die damit verbundene Verteilung von Ressourcen betrifft: die neoklassische Ökonomik versus die ökologische Ökonomie (mehr dazu im Folgenden). Gleichwohl sind wir heute an dem Punkt, wo die Dreidimensionalität als Ausgangspunkt jeder weiteren inhaltlichen Konkretisierung herangezogen wird. Denn diese räumt allen drei Bereichen eine gleichrangige Bedeutung ein. Sie betont die Ganzheitlichkeit nachhaltiger Entwicklung: „Eine Entwicklung ist dann und nur dann nachhaltig, wenn sie alle Dimensionen gleichberechtigt berücksichtigt. Die Wirtschaft darf sich nicht auf Kosten von Umwelt und Gesellschaft entwickeln, andererseits soll die Lösung ökologischer Probleme nicht zu ökonomischen und sozialen Risiken führen“, sagt Dr. Detlef Schreiber vom Bundesdeutschen Arbeitskreis für Umweltbewusstes Management e.V. 34 Sen (2002), S. 10 <?page no="100"?> 100 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 22: Die Dreidimensionalität von Nachhaltigkeit Die Konzeptualisierung in der Nachhaltigkeit ist indessen fortgeschritten. Mittlerweile ist die Rede häufiger von Dimensionen denn von „Säulen“. Während Säulen die Assoziation eines Nebeneinanders heraufbeschwören, verweist der Begriff der Nachhaltigkeitsdimensionen (und dies konkret im Kontext des Nachhaltigkeitsdreieckes, wie später noch zu sehen sein wird) auf das weitflächige verwobene In- und Miteinander der drei Bereiche. Denn Kern des Nachhaltigkeitsgedankens ist, das integrative Wahrnehmen und Denken von Ganzheitlichkeit, Integrativität und Wechselwirkungen zu schulen. Aktuell findet das Konzept der Dreidimensionalität breite Zustimmung und kann als Leitbild anerkannt gelten. Die Dreidimensionalität von Nachhaltigkeit setzt sich aus der integrativen, in sich verschränkenden Verknüpfung der drei Säulen, Bereiche bzw. Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales zusammen. Was aber wird jeweils unter ökologischer bzw. ökonomischer bzw. sozialer Nachhaltigkeit verstanden? Der folgende Abschnitt gibt Klarheit über jede der drei Dimensionen an sich. Ökologische Nachhaltigkeit Ökologische Nachhaltigkeit beschreibt die Nutzung eines Systems in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und so sein Fortbestand gesichert wird. Dabei spielen folgende Aspekte eine Rolle: <?page no="101"?> 4.2 Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit 101 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das ökologische System ist zugleich Senke (anthropogener Emissionen) und Quelle (natürlicher Ressourcen), die direkt und indirekt überlebenswichtig sind. Der Mensch ist ohne einen bestimmten quantitativen und qualitativen Zustand von Natur und Ökosystemen nicht überlebensfähig. Menschliche Aktivitäten als Ursachen ökologischer Degradation sind z.B. Abbau von Rohstoffen, Umlenkung von Stoff- und Energieströmen, Landschaftsumwandlung oder Bodenversiegelung. Bei gewissen Phänomenen ist bereits ein Niveau der Übernutzung erreicht, wie z.B. Überfischung der Meere, Schmelzen der Polkappen, Ozonloch. Problematisch ist dabei die Geschwindigkeit anthropogen bedingter Veränderungen, z.B. können Bäume nicht schnell genug der klimabedingten Verschiebung von Vegetationszonen folgen. Der Mensch hat die Erde im Laufe der letzten hundert Jahre durch Industrialisierung stärker beeinflusst als in den 10.000 Jahren zuvor. Streitpunkt: Wann ist die Erschöpfung der Natur erreicht? Haben wir noch Zeit? Oder sind wir bereits zu spät dran? Stichworte Peak Oil oder Earth Overshoot Day. Die Vertreter einer starken ökologischen Nachhaltigkeit sind bezüglich des genannten Streitpunktes einig: Wir leben schon lange nicht mehr von den Zinsen, sondern auf Kosten der Ressourcen unserer (Kindes-)Kinder. Damit ist die ökologische Nachhaltigkeit durch unsere gegenwärtigen Lebensstile und Wirtschaftsformen nicht mehr gegeben. Ökonomische Nachhaltigkeit Ökonomische Nachhaltigkeit beschreibt die betriebswirtschaftliche Nutzung eines Systems im Sinne einer Organisation oder eines Unternehmens in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und sein wirtschaftlicher Fortbestand so gesichert ist. Dabei spielen folgende Aspekte eine Rolle: Kernaussage der klassischen ökonomischen Wachstumstheorie ist, dass eine Steigerung des Pro-Kopf-Wachstums langfristig nur durch technischen Fortschritt möglich ist. Wenn aber technischer Fortschritt kapital- und arbeitsvermehrend ist, die Produktivität natürlichen Kapitals aber nicht, dann muss es langfristig zu einer Überlastung, Übernutzung und Überstrapazierung der natürlichen Ressourcenbasis kommen. Zu vollziehen sei aber vielmehr ein Paradigmenwechsel im Sinne von „from wealth to sustainability”. <?page no="102"?> 102 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Demnach entspräche das Einkommen genau der Summe, die maximal konsumiert werden kann, ohne den künftigen realen Konsum zu schmälern. Mögliche Lösung: Entkoppelung von Wachstum und Ressourcennutzung durch Effizienz, Suffizienz und Konsistenz sowie durch umwelttechnische, soziale (! ) und institutionelle Innovationen. Fazit: Vertreter der ökonomischen Nachhaltigkeit befürworten ein Wirtschaften, das umwelt- und sozialverträglich ist und Wohlstand nicht allein durch Wachstum anstrebt, sondern vielmehr Lebensqualität statt Besitzmehrung. Soziale Nachhaltigkeit Soziale Nachhaltigkeit beschreibt die auf Menschen ausgerichtete Nutzung eines Systems oder einer Organisation in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und sein personalbezogener sowie gesellschaftlicher Fortbestand so gesichert ist. Dabei spielen folgende Aspekte eine Rolle: Aktuelle Probleme, die Ausdruck sozialer Nicht-Nachhaltigkeit sind, sind Terrorismus, Zwangsmigration, Arm-Reich-Kluft oder Diskriminierung und wie diese schwer greifbaren soften Aspekte ganze Ökonomien und Länder zerschlagen können. Soziale Ressourcen sind z.B. Toleranz, Solidarität, Integrationsfähigkeit, Inklusion, Gemeinwohlorientierung, Recht- und Gerechtigkeitssinn. Eine weitere mögliche Definition sozialer Nachhaltigkeit ist: Die Lösung der Verteilungsprobleme zwischen Regionen, sozialen Schichten, Geschlechtern und Altersgruppen sowie der kulturellen Integration von Zugehörigkeiten und Identitäten. Theoretische Ansätze sind die Klassentheorie von Pierre Bourdieu sowie die Rational Choice Theory von James S. Coleman und Robert Putnam. Soziale Nachhaltigkeit wurde bislang vernachlässigt und unterbewertet. Sie erfährt aber zunehmend Aufmerksamkeit durch soziale Innovationen wie z.B. soziale Netzwerke (Erfolg von Facebook), Kooperationen, strategische Allianzen, Fachkräftemangel, Humankapitalaufwertung. <?page no="103"?> 4.2 Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit 103 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 23: Happy Planet Index (2017) - Globale Glücksmessung Ein Referenzrahmen zur Bewertung sozialer Nachhaltigkeit ist die Glücksforschung. So relativiert die Messung von Glück und Zufriedenheit z.B. durch World Happiness Index (HPI) ( QR) bzw. World Database of Happiness das Gewicht rein ökonomischer Faktoren. Dafür sind Faktoren bedeutsam wie soziales Wohlbefinden, gute Beziehungen zu Familie, Freunden, Nachbarn und der Gemeinschaft sowie eine intakte, gesunde Natur, also nicht rein marktliche Güter. Der Begriff Bruttonationalglück wurde 1979 vom König von Bhutan, Jigme Singye Wangchuck, geprägt. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass er sich einer Wirtschaftsentwicklung verpflichtet fühlt, die Bhutans einzigartiger Kultur und ihren buddhistischen Werten gerecht werde. Bhutan hat zu diesem Zweck mit der Kommission für das Bruttonationalglück eine Staatskommission eingesetzt und in Artikel 9.2 der Verfassung festgeschrieben: „Der Staat soll sich darum bemühen, diejenigen Bedingungen zu fördern, die das Streben nach Gross National Happiness ermöglichen“. 35 In seinem Beitrag ‚Das Streben nach Bruttosozialglück. Bhutans Weg zu nachhaltiger Wohlfahrt‘ schreibt Tobias Pfaff: „Die Konzentration auf den Geist anstelle der materiellen Welt ist der Kerngedanke der buddhistischen Philosophie. Sie widerspricht der ökonomischen Auffassung der Nutzenmaximierung 35 Siehe hierzu www.grossnationalhappiness.com. Siehe auch http: / / worlddatabaseofhappiness.eur.nl/ sowie Jensen, A. (2011) Wir steigern das Bruttosozialglück: Von Menschen, die anders wirtschaften und besser leben. Herder. <?page no="104"?> 104 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit durch den Konsum materieller Güter. Damit kommt die buddhistische Weltanschauung dem Gedanken der Ressourcenschonung entgegen. Auch der Glaube an Wiedergeburt legt nachhaltiges Denken und Handeln nahe.“ 36 Mischarbeit - Aufwertung informeller Arbeit Mischarbeit berücksichtigt nicht allein Erwerbsarbeit, sondern alle weiteren in einer Volkswirtschaft relevanten, aber unbezahlten Arbeitsformen. Dies umfasst Eigenarbeit wie Haus- und Gartenarbeit, Versorgungsarbeit wie Kinderbetreuung, Kranken- und Altenpflege, und Gemeinschaftsarbeit wie unbezahlte Tätigkeiten in Selbsthilfegruppen, informellen Organisationen oder gemeinnützigen Vereinen. Mischarbeit erkennt diese informellen Arbeiten als produktive Beiträge zur Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft an. Hintergrund ist u.a. die Erhöhung der Arbeitsproduktivität bei gleichzeitiger Häufung von Burn-Out-Fällen. Befürworter argumentieren, dass sich durch Mischarbeit das Dilemma westlicher Wohlstandsgesellschaften auflösen würde, nämlich dass nur sehr hohe Zuwachsraten der Güterproduktion die hohen Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität ausgleichen können. Abschließend lassen sich die Ziele und Regeln der drei Nachhaltigkeitsdimensionen wie folgt zusammenfassen: ökonomisch ökologisch sozial Sicherung der menschlichen Existenz Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotenzials Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten Schutz der menschlichen Gesundheit nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen Chancengleichheit im Hinblick auf Bildung, Beruf, Information Gewährleistung der Grundversorgung nachhaltige Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen selbständige Existenzsicherung nachhaltige Nutzung der Umwelt als Senke Erhaltung des kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt 36 Pfaff, T. Das Streben nach Bruttosozialglück. Bhutans Weg zu nachhaltiger Wohlfahrt. In: Journal 360°. 02/ 2009, S. 6 <?page no="105"?> 4.3 Positionen der Nachhaltigkeit 105 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit gerechte Verteilung der Umweltnutzungsmöglichkeiten Vermeidung unvertretbarer technischer Risiken Erhaltung der kulturellen Funktion der Natur Ausgleich extremer Einkommens- und Vermögensunterschiede nachhaltige Entwicklung des Sach-, Human- und Wissenskapitals Erhaltung der sozialen Ressourcen Tabelle 12: Die wichtigsten Ziele und Regeln von Nachhaltigkeit (Kopfmüller et al. (2001), S. 172) 4.3 Positionen der Nachhaltigkeit Durch den Klimawandel werden hunderte Millionen Menschen ihren Lebensraum verlieren. Gegen die dadurch ausgelösten Flüchtlingsströme wird die klassische Völkerwanderung wie ein ruhiger Sonntagsspaziergang erscheinen. Hans Joachim Schellnhuber Der Begriff der Nachhaltigkeit lässt sich in ein Kontinuum von schwacher bis starker Ausprägung einordnen. Dabei führen die Extrempositionen in diesem Zusammenhang zu eindimensionalen Auslegungen, die den multidimensionalen Charakter des Nachhaltigkeitsleitbildes verkennen. Schwache Nachhaltigkeit - Position der neoklassischen Ökonomie Schwache Nachhaltigkeit fußt auf der Prämisse der neoklassischen Ökonomie ( QR): Ihr Sinn, Zweck und Ziel ist das Streben nach permanentem Wachstum durch ökonomische Aktivitäten. Bis heute basiert die vorherrschende Ressourcen- und Umweltökonomie stark auf dem Ansatz der geldfixierten Ausbeutung und Wertschöpfung durch messbare Kosten-Nutzen-Analysen. Es besteht eine klar anthropozentrische Sichtweise, im Zentrum dieses Universums stehen der Mensch und die Befriedigung seiner Bedürfnisse. (Gleichwohl gilt zu beachten, dass Parameter und Größen, die die soziale Wohlfahrt bestimmen, niemals völlig objektiv sind und deshalb schwer in feste Werte zu fassen sind.) Problematisch an der über Jahrhunderte nicht infrage gestellten Position ist die unverhältnismäßig optimistische Sichtweise, nämlich: Naturkapital sei durch Sachkapital ersetzbar. Dies gilt auf globale, langfristige Sicht umso weniger, haben doch z.B. aus dem Rohstoff Stahl gefertigte Nutzobjekte eine langfristig kürzere Haltbarkeit und Nutzenfunktion als in ihrem Rohzustand. Paradoxerweise gründet damit gerade diese harte ökonomische Theorie auf einem naiven Substituierbarkeitsglauben. Dass ökonomische Kapitalwerte nicht ohne Weiteres ökologisches und kulturelles Kapital ersetzen, zeigt auch das Beispiel des peruanischen Regenwaldvolkes Ashaninka. Ihr anfänglicher wirtschaftlicher Aufschwung bedingt durch die Erschließung westlicher Ölunternehmen führte zu einer steten kulturellen Zersetzung des Eingebore- <?page no="106"?> 106 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit nenstammes und damit zur unwiederbringlichen Zerstörung von Traditionen, Riten, Sprachen und Werten, kurz zu einer Erosion kulturellen Reichtums und biologischer Vielfalt. 37 Tabelle 13: Ökozentrismus versus Anthropozentrismus Das wohl bekannteste Sinnbild der neoklassischen Theorie ist der „Homo oeconomicus“ (lat. homo = Mensch, oeconomicus = wirtschaftlich; also haushaltender, wirtschaftender Mensch). Als fiktives Wirtschaftssubjekt hat er feststehende Präferenzen und handelt rational in dem Sinne, dass er unter gegebenen Alternativen stets diejenige auswählt, die seinen eigenen Nutzen am stärksten maximiert. Der Homo oeconomicus wäre somit z.B. über alle Preise eines Produkts in verschiedenen Geschäften und Städten informiert und würde, da er sein Budget bestmöglich auszunutzen sucht, jenes Geschäft, welches am billigsten verkauft, aufsuchen, auch wenn es räumlich weiter entfernt läge. Aspekte wie die mit höheren Emissionen verbundene Anreise oder die Unterstützung lokaler Produzenten seiner unmittelbaren Gemeinde oder Gemeinschaft wären hinfällig. Das Prinzip rationalen Verhaltens ist auf zwei Institutionen übertragen worden: einerseits auf Haushalte, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten (bestimmt durch gegebene Preise, Löhne und sonstiges Einkommen) die nutzenmaximierende Alternative wählen; sowie andererseits auf Unternehmen, welche unter den jeweiligen Bedingungen wie vollständige Konkurrenz, Oligopol, Monopol etc. und gegebener Technologie die Produktion auswählen, die dem Unternehmensziel am besten entspricht. 37 Vgl. Pufé, I. (2007) Klima, Wälder, indigene Völker. Umwelt- und Entwicklungspolitik im Rahmen des Klima-Bündnisses zur Erhaltung von Natur und Kultur in Amazonien. oekom Verlag, München. <?page no="107"?> 4.3 Positionen der Nachhaltigkeit 107 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das Gegenmodell zum Homo oeconomicus ist der Homo sustinens ( QR), wie ihn Siebenhüner in seinem gleichnamigen Buch bezeichnet, ein Menschenbild, das im natürlichen Einklang mit Prinzipien der Nachhaltigkeit begründet ist. Starke Nachhaltigkeit - Position der ökologischen Ökonomie Bei der starken Nachhaltigkeit wird von einer ökozentrischen Sichtweise ausgegangen: Die Notwendigkeit von Schutz, Erhalt und Bestand ökologischer Systeme ist indiskutabel und ist unter allen Umständen zu gewährleisten. Dies ist der Ausgangspunkt jeglicher Argumentation, jeder Nutzen- und Wirtschaftlichkeitserwägung nach folgender Logik: Ein Fischerboot auf Seen ohne Fische ist nutzlos, wie Daly es einmal beschrieb. Damit grenzt sich die ökologische Ökonomie ( QR) von der formal zwar eleganten, inhaltlich aber als weltfremd zu betrachtenden neoklassischen Umweltökonomie ab. Als interbzw. transdisziplinäres Wissenschaftsfeld, das sich mit der Erforschung von Handlungsmöglichkeiten angesichts ökologischer Grenzen der Tragfähigkeit natürlicher Systeme befasst, ist ihr Ziel die wissenschaftliche Fundierung einer nachhaltigen Entwicklung unter Berücksichtigung ökologischer, wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Aspekte. Entgegen des von neoklassischen Ökonomen gepriesenen Selbststeuerungsmechanismus des Marktes muss demnach bei starken externen Effekten die Umweltpolitik eingreifen, um Lobbyismus für einen Bereich ohne Fürsprecher zu betreiben. Das Problem dabei ist: Die Natur kennt keine Preise, und Auswirkungen menschlichen Handelns sind oft schwer abwägbar. Unwissenheit und Unsicherheit, Irreversibilitäten, Trigger- und Schmetterlingseffekt und hochsensible Ökosysteme wie z.B. beim Ozonloch, bringen ökologische Ökonomen in Argumentationsnöte (siehe hierzu auch Kapitel 8). Im Vergleich zur Zuversicht der neoklassischen Ökonomen in Sachen Substituierbarkeit, glauben Vertreter der starken Nachhaltigkeit nicht an Lösungen wie Nachsorge und Reaktion - sondern an Prävention und Antizipation. So kann eine Ozonlochvergrößerung nur begrenzt durch Sonnencreme, Kleidung, medizinische Vor- und Nachsorge kompensiert werden. Auch technologische Ansätze wie Geo-Engineering sind kritisch zu bewerten, da dadurch das Problem kosmetisch behandelt, nicht aber an seiner Wurzel gepackt wird. Geo-Engineering bezeichnet technische Eingriffe in geochemische oder biogeochemische Kreisläufe, etwa um die Klimaerwärmung oder die Versauerung der Meere zu bremsen. Zur Minderung von Umweltbelastungen werden bislang vor allem End-of-pipe- Technologien verwendet wie z.B. Filteranlagen auf Schornsteinen oder Katalysatoren in Autos. Gleichzeitig werden langfristige Umweltprobleme von solchen Maßnahmen in den Hintergrund gedrängt, solange deren Auswirkungen nicht stark genug wahrgenommen werden, wie etwa der Klimawandel oder der Biodiversitätsverlust. Die Ursache für diesen kosmetischen Klimaschutz ist die so genannte Externalisierung, die Nach-Außen-Verlagerung von Umwelt- und Sozialkosten. <?page no="108"?> 108 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Externalisierung - Umweltverschmutzung kostet nichts Wenn ein Öltanker in Küstennähe auf Grund läuft und 800 Millionen Liter Öl, wie im Falle der Explosion der BP-Ölbohrplattform Deepwater Horizon, ins Wasser, an Strände und die Küste gelangen, bringt das einen Wachstumsschub für die Wirtschaft mit sich: Spezialeinheiten von Umwelttechnikern müssen ausrücken, das Öl chemisch gebunden, verseuchter Sand abgegraben und abtransportiert werden. Die Umweltkatastrophe schafft Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Die Verminderung der Qualität von Luft, Boden, Wasser, Pflanzen geht in die wirtschaftliche Gesamtrechnung dagegen nicht ein. Auch Transporte von Rohstoffen und Gütern quer über den Globus sind wirtschaftlich nur deshalb rentabel, weil fossile Energieträger nach wie vor sehr billig sind. Nach Abschätzungen der Weltbank und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften beläuft sich der jährliche Umweltschaden auf zumindest 8 %, vielleicht sogar 15 % des chinesischen Bruttosozialprodukts. Das bedeutet, dass längerfristig gesehen, die Umweltschäden und Ressourcenverluste den wirtschaftlichen Erfolg aufheben. Das heißt, bei der Preisbildung werden lediglich volks- und betriebswirtschaftliche Kosten berücksichtigt, auch deshalb, weil jene leichter zu beziffern sind, während die mit der Güter- und Dienstleistungsbereitstellung einhergehenden sozialen und ökologischen Kosten ausgeschlossen bzw. außen vorgehalten werden. Dies verzerrt die Preise im Markt. Bei Dumpingprodukten etwa werden nur die direkten Aufwendungen kalkuliert, nicht aber die indirekten Kosten und Schäden. Produkte haben häufig einen Preis, der nicht ihren wahren Wert widerspiegelt. Private Kosten sind über den Marktmechanismus dem Einzelnen, dem Individuum, dem Verursacher zuzuschreiben und die privaten Preise spiegeln wider, wie knapp ein bestimmtes Gut am Markt ist. Externe Kosten können nicht über den Marktmechanismus ihrem Verursacher zugeordnet werden, weil sie ein öffentliches, jedem zugängliches Gut sind, das zudem keine Rechte für sich beansprucht oder ein Preisschild trägt (Beispiele: Luft, Wasser, Boden). Wie viel ist ein Sonnenuntergang wert? Wie viel ist ein Latte Macchiato wert? Und wie viel ein schöner Sonnenuntergang? Wie sollte ein in China produziertes Lacoste-Shirt mit prestigeträchtigem Logo, aber zweifelhaften Herstellungsbedingungen bepreist werden und wie ein von Hand gefertigtes Shirt eines lokalen Produzenten? <?page no="109"?> 4.3 Positionen der Nachhaltigkeit 109 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Wie viel ist ein iPhone 4S wert im Vergleich zu einem Freundeskreis, mit dem man sich jeden Freitag in seiner Lieblings-Bar trifft? Wie viel ist ein Stück der Berliner Mauer als historisches Erinnerungsstück wert und wie viel der Ausblick von einem Berg, den man erklommen hat? Der Flügelschlag eines Schmetterlings Ein weiteres Konzept zum Verständnis von Nachhaltigkeit ist der „Schmetterlingseffekt“. Dieser bezeichnet, dass in manchen Systemen kleine Ursachen große meist unvorhersehbare Wirkungen haben können. Die Bezeichnung Schmetterlingseffekt stammt von einer bildhaften Veranschaulichung dieses Effekts durch Edward N. Lorenz am Beispiel des Wetters: Der Schlag eines Schmetterlingsflügels im Amazonas-Urwald kann in diesem Beispiel einen Orkan in Europa auslösen. Das Phänomen beruht auf der Tatsache, dass manche komplexen Systeme, wie etwa das Wetter, langfristig gesehen sehr empfindlich und instabil gegenüber Änderungen sind. Dabei können Systeme bei Störungen in andere (instabile) Systeme übergehen. 38 Der Meteorologe Lorenz entdeckte den Effekt 1963, als er eine Berechnung zur Wettervorhersage mit dem Computer machte. Bei seiner ersten Berechnung gab er einen Startwertwert für eine Iteration auf sechs Dezimalstellen genau an (0 506127), bei der zweiten Berechnung auf drei (0 506), und obwohl diese Werte nur um etwa 1/ 1000 voneinander abwichen, also einer Differenz, die mit dem vom Flügelschlag eines Schmetterlings erzeugten Windhauch vergleichbar ist, wich im weiteren Verlauf diese Berechnung mit der Zeit von der ersten stark ab. Tabelle 14: Schwaches versus starkes Nachhaltigkeitsparadigma 38 Michael Crichton verarbeitet dieses Prinzip in seinem Roman Jurassic Park, der 1993 unter der Regie von Steven Spielberg als SciFi-Horror- und Abenteuerfilm ins Kino kam. <?page no="110"?> 110 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Sehr starke und sehr schwache Nachhaltigkeit Vertreter der sehr starken Nachhaltigkeit räumen der Ökologie die größte Priorität ein und gehen davon aus, dass sich jedes Wirtschaften der ökologischen Tragbarkeit unterwerfen muss. Die Politik soll hier der Aufgabe nachkommen, wirtschaftliche und soziale Aspekte in eine ökologische Gesamtstruktur einzubetten. Der Gegenpol - die sehr schwache Nachhaltigkeit oder auch das ökonomische Paradigma - geht davon aus, dass das Wohl der Menschen in relativ direkter Weise vom materiellen Wohlstand abhängt. Einmischungen in die ökonomische Freiheit werden hier als ineffizient gewertet. Vom wachsenden Wohlstand würden auch die Armen profitieren. 4.4 Modelle der Nachhaltigkeit Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet, Profite sozial und ökologisch verantwortungsvoll zu erwirtschaften und nicht, Profite zu erwirtschaften, um sie dann für soziale oder Umweltbelange einzusetzen. Bianca Wiedemann Ein Modell ist ein beschränktes Abbild der Wirklichkeit. Will man die verschiedenen Aspekte und Themen von Nachhaltigkeit in einen Gesamtzusammenhang bringen, helfen Modelle, weil sie Komplexes vereinfacht und damit verständlich darstellen. Zur Veranschaulichung der Komplexität des Nachhaltigkeitskonzeptes dienen verschiedene Modelle, die sich über die Zeit herausgebildet haben. Im Folgenden werden die drei wichtigsten Nachhaltigkeitsmodelle vorgestellt. Unabhängig, ob starke oder schwache Nachhaltigkeit, ob sehr viele oder einige zentrale Themen verfolgt werden, stets geht es um den unauflösbaren Zusammenhang von Ökonomischem, Ökologischem und Sozialem. Wie aber lässt sich dieses Feld wechselwirkender Dimensionen veranschaulichen? 4.4.1 Drei-Säulen-Modell Es war bereits die Rede von den drei Säulen, von denen jede als Stütze bei wirtschaftlichem Handeln für eine zukunftsfähige Entwicklung zu berücksichtigen ist. Dies wird meist anhand des Drei-Säulen-Modells veranschaulicht. Abb. 24: Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit <?page no="111"?> 4.4 Modelle der Nachhaltigkeit 111 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die Not wurde zur Tugend: Während früher allein Gewinnerwirtschaftung das unternehmerische Ziel und damit die tragende Säule jeglicher Vorhaben war, wurde diese ergänzt. Zunächst kam die ökologische Säule hinzu, aus vormals genannten Faktoren wie Ressourcenverknappung und Umweltverschmutzung, die diverse Stakeholder auf den Plan rief. Vor dem Hintergrund, dass nicht mehr nur Arbeitnehmer von umweltschädigender Geschäftstätigkeit von Unternehmen betroffen sind, sondern zahlreiche interne und externe Akteure wie das soziale Umfeld, Gemeinden, Entwicklungsländer, gewann die soziale Säule an Gewicht. Wo vormals nur Shareholder (Anteilseigner) das Sagen hatten, tritt jetzt die zunehmende Bedeutung von Stakeholdern (Anspruchsberechtigten). Mit drei Säulen ruht eine Unternehmung auf einem belastbareren Fundament als mit nur einer, bei gleichzeitiger Erhöhung der Komplexität. Abb. 25: Strukturierung der Stakeholder Das Drei-Säulen-Modell ist hilfreich, weil es veranschaulicht, dass was bislang auf einer Säule, der ökonomischen, ruhte, nun auf drei Säulen basiert. Die bestechende Klarheit des Modells in Form eines Gebäudes mit drei Säulen hat aber bei genauerem Betrachten eine große Schwäche. Entfernt man die rechte, die linke, die mittlere oder gar die rechte und linke Säule, so bliebe bei ausreichender Stärke der verbleibenden Säule(n) das Gebäude bzw. das Dach weiterhin stehen. Dieser statischen Überlegungen, die die Metapher bei eingehenderer Reflektion offenbart, ist sich das Gros jener, die das Drei-Säulen-Modell immer noch in der Überzeugung heranziehen, es sei sehr clever und eingängig, nicht bewusst. <?page no="112"?> 112 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Zu bemängeln ist zudem, dass das Modell nur schwer operationalisierbar ist und sich kaum praktische Konsequenzen ableiten lassen. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen sprach in seinem Gutachten 2002 dem Drei-Säulen-Modell die Orientierungsfunktion ab, weil es zu einem dreispaltigen Wunschzettel verkomme, in das jeder Akteur seine Anliegen eintragen könne. Dies führe aber zu einer „Hyperkomplexität, die das arbeitsteilige politische System überfordert“. 39 Auch beschreibt das Modell die ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit als einander gleichrangig, während ökologische Nachhaltigkeit Vorrang genießen müsse, ist doch der Schutz der natürlichen Lebensbedingungen die Grundvoraussetzung. Der letztgenannte Punkt ist aber umstritten, weil er die gleichberechtigte Bedeutung, die Nachhaltigkeit explizit ausmacht, unterminiert. 4.4.2 Schnittmengenmodell der Nachhaltigkeit Das sogenannte Schnittmengen- oder Dreiklangmodell war der Versuch, das Nebeneinander der Säulen aufzubrechen und die drei Dimensionen von Nachhaltigkeit bildlich ineinandergreifen zu lassen. Die Überlappung der Kreise veranschaulicht, dass zwischen jeweils zwei Bereichen ein engerer Zusammenhang bestehen kann und die Grenzen fließend sind. Beispiele dafür sind die umweltfreundliche Mobilität als Schnittmenge aus Ökonomie und Ökologie, das Carsharing als Schnittmenge aus Ökonomie und Sozialem oder Umweltbildungsprogramme als Schnittmenge aus Sozialem und Ökologie. Dabei stellen die Begriffe bzw. Werte überlebensfähig, erträglich und gerecht jeweils den Kernwert jener Überschneidungen dar. Letztliches Ziel ist die Verbindung aller drei Kreise, hin auf dauerhafte Projekte, Produkte und Entwicklungen. Abb. 26: Schnittmengen- oder Dreiklangmodell 4.4.3 Das Nachhaltigkeitsdreieck Das Nachhaltigkeitsdreieck ist die Weiterentwicklung der beiden vorigen Modelle. Als Sinnbild für Symmetrie und Ausgewogenheit vereint es die verschiedenen 39 Sachverständigenrat für Umweltfragen (2002) Umweltgutachten 2002. Für eine neue Vorreiterrolle. Metzler-Poeschel Stuttgart. <?page no="113"?> 4.4 Modelle der Nachhaltigkeit 113 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Aspekte von Nachhaltigkeit. Die drei Bereiche stehen nicht länger unverbunden nebeneinander, sondern ergeben ein gemeinsames Ganzes. Auf der Suche nach einem integrativen Konzept wurde das Drei-Säulen-Modell vom Forschungszentrum Karlsruhe weiterentwickelt. 40 Eine Rolle bei der Herausbildung des Nachhaltigkeitsdreiecks kommt auch dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) zu, der 1996 forderte, dass wirtschaftliche, ökologische und soziale Aspekte gleichrangig berücksichtigt werden müssen. „Wir betrachten Sustainable Development also nicht als ein einseitiges ökologisches, sondern als ein ganzheitliches Zukunftskonzept. Denn jeder dieser drei Bereiche trägt dazu bei, dass eine langfristige und tragfähige Entwicklung möglich wird.“, hieß es in einer Studie im Auftrag des VCI. 41 Diese Konzeption hat die Bundesregierung in der Nachhaltigkeitsstrategie 2002 bekräftigt und festgelegt, dass „die umwelt-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele gleichermaßen berücksichtigt werden“ müssen. 42 Das gleichschenklige Dreieck veranschaulicht, dass allen drei Seiten die gleiche Bedeutung zukommt, auch wenn in der Praxis oft eine Schwerpunktverlagerung in den einen oder anderen Bereich (meist den ökonomischen) geschieht. Abb. 27: Das Nachhaltigkeitsdreieck Dabei eröffnet die Innenfläche die Möglichkeit zur inhaltlichen Differenzierung, die dafür sensibilisiert, dass die einzelnen Bereiche operativ abtrennbar, aber logisch zwingend miteinander verbunden sind. Von Hauff hat jenes sogenannte integrierende Nachhaltigkeitsdreieck wie folgt untergliedert (Abb. 28): 40 Jörissen, J. et al. (1999) Ein integratives Konzept nachhaltiger Entwicklung. Forschungszentrum Karlsruhe. 41 IFOK (Institut für Organisationskommunikation) (1997) Bausteine für ein zukunftsfähiges Deutschland. Diskursprojekt im Auftrag von VCI und IG Chemie-Papier-Keramik, Wiesbaden. 42 Deutscher Bundestag (1998) Konzept Nachhaltigkeit. Vom Leitbild zur Umsetzung. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit. Bonn. <?page no="114"?> 114 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 28: Das integrierende Nachhaltigkeitsdreieck (von Hauff (2014), S. 170) Abb. 29: Idealtypische Koordinaten des integrierenden Nachhaltigkeitsdreiecks (von Hauff (2014), S. 174) <?page no="115"?> 4.4 Modelle der Nachhaltigkeit 115 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das Diagramm, auch als Gibbsches Dreieck bekannt, bildet eine aus drei Komponenten bestehende Einheit: x + y + z = 100 %. Wie Abbildung 29 zeigt, lässt sich das Prinzip Nachhaltigkeit durch das integrierende Nachhaltigkeitsdreieck im Vergleich zum Drei-Säulen- oder Schnittmengenmodell relativ gut rechnerisch operationalisieren, nämlich indem entsprechende Koordinaten bestimmt werden (die beispielsweise die Ist- und die Soll-Position aufzeigen können). Idealtypisch würde eine Kombination von 33 % / 33 % / 33 % ein Gleichgewicht aller drei Dimensionen ausdrücken. Den Dimensionen können Nachhaltigkeitsaspekte kontinuierlich zugeordnet werden. Beispielsweise betrifft die Ökoeffizienz als ökonomisch-ökologisches Konzept zwei Dimensionen gleichermaßen (50 % Ökonomie + 50 % Ökologie), während die Biodiversität demgegenüber als ein ökologisch dominiertes Thema (ca. 100 % Ökologie) anzusehen ist. Somit lassen sich im integrierenden Nachhaltigkeitsdreieck alle möglichen Kombinationen darstellen. 43 Diese integrierende Darstellungsweise ermöglicht eine differenziertere Analyse, eine zielgenauere Einbindung anderer Konzepte (z.B. Ökoeffizienz) und zugleich eine synoptische Zusammenstellung, indem die Innenfläche ausgenutzt wird. Damit eignet es sich auch für Anwendungen wie Nachhaltigkeitsbewertung, Sammlung von Indikatoren oder für inhaltliche Untergliederungen wie z.B. die Lokale Agenda 21. Eine konkrete, anschauliche sowie konsequente Anwendung des integrierenden Nachhaltigkeitsdreiecks bietet das Beispiel Rheinland-Pfalz. Hier empfiehlt es sich, die Nachhaltigkeitsstrategie als Kurzfassung unter dem angeführten QR einzusehen. Zur abschließenden Zusammenschau seien hier alle drei Modelle nochmals gebündelt dargestellt. 43 von Hauff, M. (2014): Nachhaltige Entwicklung. Grundlagen und Umsetzung. 2. akt. Auflage. Oldenburg. <?page no="116"?> 116 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 4.5 Nachhaltigkeitsprinzipien Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist die einzige Option für verantwortliches globales Handeln, die unsere Ökosysteme schützt und damit das Überleben künftiger Generationen sichert. Olaf Tschimpke Bislang war von Begriffen, Ansätzen und Theorien die Rede, von Ausprägungen, Modellen und Konzepten. Was ist ihnen allen gemein? Welches sind die wichtigsten Prinzipien, auf denen alle jene Aspekte basieren? Was sind die raum-, orts- und organisationsunabhängigen Kernpunkte, die als Orientierung und Referenzrahmen dienen können? Prinzip der intergenerationellen Gerechtigkeit - zwischen jung, alt, Großeltern, Eltern, Kindern, Enkeln sowie künftigen, ungeborenen Generationen. Prinzip der intragenerationellen Gerechtigkeit - zwischen unterschiedlichen Generationen, d.h. hinsichtlich Alter, Geschlecht, Rasse, Religion, Herkunft, sozialem Status, politischer Gesinnung etc. Prinzip der Ganzheitlichkeit und Integration - keine der drei Dimensionen hat Vorrang, sondern es gilt, alle drei in Entscheidungen einzubeziehen; Vernetzung, Zusammenhang und Interdependenz ökonomischer, ökologischer und sozialer Anliegen samt integrativer Problem- und Lösungssicht; integrative Querschnittsorientierung. Prinzip der Glokalität - „think global, act local“. Verknüpfung von Globalität und Lokalität. Prinzip der Partizipation, Verantwortung und Stakeholder- Beteiligung - Einbezug aller Betroffenen und Verantwortlichen, aller „Opfer und Täter“. Prinzip der präventiven Langfristorientierung - Prävention und Vorbeugung statt Reaktion und Krisenbehebung; Beachtung langfristiger und dauerhafter Entwicklungen statt kurzer, temporärer. Charakter eines normativen Leitbildes - in der Quintessenz ist Nachhaltigkeit ein ethisch-moralisches sowie handlungsleitendes Prinzip und eine regulative Idee. <?page no="117"?> 4.6 Die wichtigsten Nachhaltigkeitsbegriffe 117 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit In Kürze gefasst, kann die Orientierung an den Prinzipien als der schnellste und direkteste Prüfstein zur Nachhaltigkeitsbewertung von Strategien oder Maßnahmen gesehen werden. Sprich, wenn sich jede Handlung und Entscheidung vorab an jenen Prinzipien zu messen lassen hätten, bevor sie in eine tatsächliche Handlung oder einen operativen Beschluss überführt werden, könnte der größte Nutzen erzielt bzw. der größte Schaden abgewendet werden. In den Unternehmenskontext übersetzt, ließen sich obige Prinzipien wie folgt ausdefinieren: Tabelle 15: Konkrete Nachhaltigkeitsprinzipien für Unternehmen 4.6 Die wichtigsten Nachhaltigkeitsbegriffe You can make a lot of speeches, but the real thing is when you dig a hole, plant a tree, give it water, and make it survive. That‘s what makes the difference. Wangari Maathai PPP, TBL, CSR - mit dem Thema Nachhaltigkeit kam eine Armada angelsächsischer Begriffe auf. Was bedeutet was? Wo sind Parallelen, wo Unterschiede? Die folgende Auflistung nennt die wichtigsten mit dem Konzept der Nachhaltigkeit verbundenen Begriffe und Konzepte. Nachhaltigkeit beschreibt die Nutzung eines regenerierbaren Systems in einer Weise, dass dieses System in seinen wesentlichen Eigenschaften erhalten bleibt und sein Bestand auf natürliche Weise regeneriert werden kann. <?page no="118"?> 118 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit People, Profit, Planet (PPP) verweist auf die drei zentralen Aspekte allen organisatorischen Handelns und Entscheidens, nämlich People (Menschen, sozial), Profit (Gewinn/ Ertrag, wirtschaftlich) und Planet (Erde/ Umwelt, ökologisch). Triple-Bottom-Line (TBL) verweist darauf, dass unter dem Strich nebst „konventionellen“ Bewertungskriterien für Unternehmenserfolg ein erweitertes Spektrum an Werten und Kriterien einbezogen wird. Verweist auf ein erweitertes Spektrum an Werten und Kriterien zur Bemessung von unternehmerischem und gesellschaftlichem Erfolg, nämlich auf alle drei Dimensionen. Alternativer Begriff zu PPP. Corporate Social Responsibility (CSR) unternehmerische Gesellschaftsverantwortung; der freiwillige Beitrag von Firmen zu einer nachhaltigen Entwicklung, die über die gesetzlichen Forderungen (Compliance) hinausgeht. Corporate Citizenship (CC) das bürgerschaftliche Engagement in und von Unternehmen, die ihr Verhalten und ihre Strategie mittel- und langfristig verantwortungsbewusst ausrichten; die sich über die eigentliche Geschäftstätigkeit hinaus wie „gute Bürger“ aktiv für die lokale Zivilgesellschaft einsetzen wie z.B. für ökologische oder kulturelle Belange. Corporate Governance die Gesamtheit aller internationalen und nationalen Regeln, Vorschriften, Werte und Grundsätze, die für Unternehmen gelten und bestimmen, wie diese geführt und überwacht werden. Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung von Unternehmen z.B. mittels Gesetzen, Richtlinien, Kodizes, Absichtserklärungen, Unternehmensleitbild etc. Corporate Responsibility (CR) Unternehmensverantwortung; im weiteren Sinn der Grad des Verantwortungsbewusstseins eines Unternehmens, wo immer seine Geschäftstätigkeit Auswirkungen auf Mitarbeiter, Gesellschaft, Umwelt und wirtschaftliches Umfeld hat; im engeren Sinn eine Unternehmensphilosophie, für die Transparenz, ethisches Verhalten und Respekt vor den Stakeholdern ausschlaggebend bei unternehmerischen Entscheidungen ist. Der Begriff CR umfasst CSR, CC und Corporate Governance. <?page no="119"?> 4.7 Nachhaltigkeitsthemen 119 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 4.7 Nachhaltigkeitsthemen Nachhaltigkeit heißt vor allem, über die momentane Nützlichkeit hinaus langfristig zu denken und entsprechend Zukunftsverantwortung zu übernehmen. Alois Glück Nachhaltigkeit ist ein Querschnittsthema. Die Vielfalt an Nachhaltigkeitsthemen ist entsprechend groß, um nicht zu sagen überbordend. Im Folgenden werden die wichtigsten bzw. geläufigsten Themen gemäß der drei Hauptdimensionen angeführt. Je nachdem, wie stark oder schwach das Engagement für Nachhaltigkeit ausfällt, fällt auch das Spektrum möglicher Themenfelder aus. Gleiches gilt für die gewählten Maßnahmen und Aktivitäten, wie in den folgenden Modulen mit starker Praxisausrichtung zu sehen sein wird. Nachhaltigkeitsthemen ökologisch ökonomisch sozial Optimierung der Öko- Effizienz Reduzierung des ökologischen Fußabdruckes Reduzierung von Abfall, Emissionen, toxischen Stoffen Abwassermanagement Recycling Steigerung der Energieeffizienz Energieeinsparung z.B. Null-, Plusenergiehäuser, energetische Sanierung Erneuerbare Energien Gesundheit Cradle-to-Cradle Biodiversität Korruptionsbekämpfung (r)evolutionäre Geschäftsmodelle Verbraucherschutz Förderung von F&E und Innovation Förderung von nachhaltiger Produktion und Konsum Bewertung von Non- Financial Performance Sozialverantwortliche Investitionen (SRI) Nachhaltiges Marketing, Cause-Related-Marketing Nachhaltigkeitsausrichtung der Wertschöpfungskette Produktverantwortlichkeit Menschenrechte, Verbot von Kinderarbeit Steigerung der kulturellen Diversität Gleichstellung, Antidiskriminierung Wohlbefinden, gesunder Arbeitsplatz, z.B. Gesundheit und Sicherheit Work-Life-Balance Stakeholder-Dialog demografischer Wandel Qualifizierung, Bildung, Fortbildung Partnerschaften zwischen Unternehmen, Organisationen und (Hoch-)Schulen Tabelle 16: Nachhaltigkeitsthemen <?page no="120"?> 120 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Themen mit hoher Praxisrelevanz sind v.a. jene, die sich aus Stakeholder- Forderungen ergeben und die mit der spezifischen Geschäftstätigkeit zu tun haben. Zu den in der Praxis geläufigsten Themen zählen v.a. „klassische“ Themen wie Energie- und Ressourcenverbrauch sowie Emissionen, Abwasser und Abfall, dies auch deshalb, weil sie sich am leichtesten messen und damit steuern und kontrollieren lassen und sich deshalb auch gut kommunizieren lassen. Zudem bewirken sie unmittelbare Kostenersparnisse. Laut Sustainability Barometer von PricewaterhouseCoopers ( QR) ergibt sich folgendes Bild: Unter den ökologischen Themen sind Emissionen und Klimaschutz am wichtigsten (45 %), gefolgt von Energieverwendung und -effizienz (32 %), Ressourcenverwendung und -effizienz (17 %) sowie etwas geringer Supply Chain (12 %). Unter sozialem Vorzeichen spielen v.a. die Themen Aus- und Weiterbildung (20 %) eine Rolle, gefolgt von Arbeitgeberattraktivität und Mitarbeiterzufriedenheit (14 %) sowie Arbeitsplätze und Beschäftigung (14 %). Verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit erhalten dagegen aktuell Themen wie Biodiversität, Armutsbekämpfung oder Vereinigungsfreiheit 44 (siehe Abbildung 30). Es fällt auf, dass sich gerade Unternehmen häufig für bereits etablierte, konventionelle Themen einsetzen und weniger für jene, die den Horizont auf weniger beachtete erweitern. Meist stehen die gewählten Themen im Zusammenhang mit Effizienz, so dass das Engagement einen unmittelbaren ökonomischen Nutzen erwarten lässt bzw. unmittelbar kostenrelevant ist, während das Prinzip intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit „hinten runterfällt“. Ein weiteres Augenmerk liegt auf den Mitarbeitern, mit dem Faktor Humankapital verstanden als Voraussetzung für die Produktivität und Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Die Priorisierung von Themen korreliert meist mit Organisationsgröße und -typus. So setzt ein Global Player, der international operiert, eher auf eine ökologische Supply Chain-Optimierung als auf ein Projekt in seinem direkten Umfeld, wie z.B. die Zusammenarbeit mit der Gemeinde. Ein KMU wird umgekehrt eher nicht Kinderarbeit als Schwerpunktthema wählen, da seine Wertschöpfungskette weniger global ist. 44 Die Zahlen und einige der angeführten Informationen stammen aus der Studie von PricewaterhouseCoopers Corporate Sustainability Barometer, die aber sowohl aufgrund der geringen Anzahl der befragten Unternehmen als auch deren geringer Nachhaltigkeitsorientierung als Orientierungsrahmen dienen sollte, der eher rückwärtsgewandt, vergangenheitsbezogen und konventionell ausgerichtet zu verstehen ist, und weniger für Unternehmen mit proaktiver, zukunftsgewandter, engagierter Pionierrolle und erwiesener Nachhaltigkeitsexpertise. Sie sagt, was Unternehmen in der Vergangenheit gemacht haben oder tun könnten, aber bleibt hinter dem Potenzial an für Unternehmen zu erwägenden Maßnahmen weit zurück. <?page no="121"?> 4.7 Nachhaltigkeitsthemen 121 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 30: Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen (PwC (2010)) Abb. 31: Nachhaltigkeitsthemen angeordnet im Rahmen einer Materialitätsmatrix <?page no="122"?> 122 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Vorstehende Abbildung 31 zeigt eine sogenannte Materialitätsmatrix, die am Beispiel der Allianz AG zeigt, wie das Unternehmen versucht, die für sie relevanten Nachhaltigkeitsthemen in einen logischen Zusammenhang zu bringen, in diesem Fall geordnet nach Stakeholder- und Geschäftsrelevanz. Um nun die Querverbindungen, Zusammenhänge und Wechselwirkungen der unterschiedlichen Themenbereiche und Nachhaltigkeitsherausforderungen aufzuzeigen, hat die Allianz folgende Übersichtsgrafik erstellt: Abb. 32: Wechselwirkungen von Nachhaltigkeitsthemen veranschaulicht durch Materialitätslandschaft Die Welt ist bunt: Charta der Vielfalt In der multikulturellen Weltgesellschaft treffen die Bedürfnisse von Menschen unterschiedlichster ethischer, religiöser, sprachlicher oder geographischer Herkunft aufeinander. Die Globalisierung bringt durch ihre Homogenisierungstendenzen biologische und kulturelle Vielfalt unter Druck. Während erste in Form des Themas Biodiversität noch um Aufmerksamkeit ringt, hat sich kulturelle Vielfalt als nutzbringendes Thema etablieren können. Deshalb haben 2006 deutsche Unternehmen die „Charta der Vielfalt“ ( QR) ins Leben gerufen, der sich bis heute 1.200 Firmen mit insgesamt rund 6 Millionen Beschäftigten angeschlossen haben. Mit ihrer Unterschrift verpflichten <?page no="123"?> 4.8 Die Leitstrategien Effizienz, Konsistenz, Suffizienz 123 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit sich die Unternehmen, kulturelle Vielfalt anzuerkennen, wertzuschätzen und ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist, und damit Deutschland auch für ausländische Investoren als Standort offener und attraktiver zu machen. „Der systematische Umgang mit diesen Unterschieden verbessert die Fähigkeit Probleme zu lösen, Innovationen hervorzubringen, Kreativität zu erhöhen, aber auch die Bindung von Kunden und Mitarbeitern zu verstärken.“, sagt Angela Merkel, Schirmherrin der Initiative. Die Charta dient als Feigenblatt - das hält der „Spiegel“ nicht für unwahrscheinlich. Auch wenn Angela Merkel hofft, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Unterzeichnung der Charta eine „Frage der Ehre“ ist, und für die Bundesregierung die Förderung der Chancen ausländischer Mitarbeiter einer zentralen Forderungen des Nationalen Integrationsplans entspricht, meint das Nachrichtenmagazin: „Der Inhalt der Initiative bleibt nebulös. Zahlen über konkrete Erfolge kann niemand nennen.“, kurz „Schöner Schein zum Nulltarif“. 45 4.8 Die Leitstrategien Effizienz, Konsistenz, Suffizienz Jede Milliarde, die nicht in saubere Technologien investiert wird, ist eine verlorene Milliarde. Sven Hansen Die Zielhierarchie Suffizienz - Konsistenz - Effizienz Die Zielsetzung einer nachhaltigen Produktion ist die Verbesserung von Ökologie, Ökonomie und sozialen Aspekten der wertschöpfenden Zusammenarbeit. Es geht um langfristiges Wirtschaften und Wertsteigern durch eine höchstmögliche Öko- und Sozioeffizienz und -effektivität. Vor dem Hintergrund sich weltweit verknappender Rohstoffbestände gilt es, eine nachhaltige Produktoptimierung anzustreben, die das Überleben des Unternehmens, aber auch dessen engeren und weiteren Umfeldes durch eine gesicherte Ressourcenbasis gewährleistet. Drei grundlegende Prinzipien spielen eine zentrale Rolle, die es in schrittweiser Reihenfolge zu befolgen gilt. Diese sind das Suffizienz-, das Konsistenzsowie das Effizienzprinzip. Im Zuge einer nachhaltigen Produktionsplanung ist zunächst zu fragen, ob das Suffizienzprinzip anzuwenden ist. Sollte dies nicht anwendbar sein, ist zu prüfen, ob das Konsistenzprinzip genutzt werden kann. Falls auch dieses verneint wird, sollte das Effizienzprinzip zum Tragen kommen. Das Drei-Stufen-Prinzip verläuft in den aus der folgenden Abbildung ersichtlichen Schritten. 45 Spiegel Online „Charta der Vielfalt - Schöner Schein zum Nulltarif“ vom 05.12.2007 <?page no="124"?> 124 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 33: Das Drei-Stufen-Prinzip: Suffizienz - Konsistenz - Effizienz Insgesamt können die drei Prinzipien strategisch und operativ in Führung und Produktion als handlungsleitend gelten und sind daher von zentraler Bedeutung. 4.8.1 Das Suffizienzprinzip: Senkung des Anspruchsniveaus Das Suffizienzprinzip kann als das „unbequemste“ Denk- und Handlungsprinzip unter ökonomischen Gesichtspunkten angesehen werden, weil es die Notwendigkeit des Wachstums, wie es die konventionelle Wirtschaft kennzeichnet, hinterfragt und auf den Aspekt der Genügsamkeit fokussiert (von Englisch „sufficient“ - „ausreichend, hinreichend, genügen, hinlänglich, genügsam“). „Die Suffizienz-Strategie fordert sozialverträgliche Obergrenzen für die Ökonomie bzw. das Wirtschaftswachstum ein, um die ökologischen Belastungsgrenzen einhalten zu können. Hierbei geht es um die Auffassung, ein verminderter Ressourcen- und Umweltverbrauch genüge für ein zufriedenstellendes, ‚suffizientes‘ Leben. Ansatzpunkte sind hier die Überzeugung der Menschen und eine veränderte Lebensführung, wozu auch ein neues Wirtschaftsparadigma gehört“ (von Hauff 2014: 64). Unter dem Motto ‚weniger ist mehr‘ zeigt sich die Überzeugung, ‚Entschleunigung‘ und ein reflektierter Umgang mit den materiellen Zwängen förderten die Lebensqualität. Bei der Suffizienz-Strategie geht es darum, sozial- und umweltverträgliche Obergrenzen bei wirtschaftlichen Aktivitäten einzuhalten. Hier liegt die Überzeugung zugrunde, dass ein gedrosselter Ressourcen- und Umweltverbrauch nicht zu Verdruss, Missmut und unseliger Selbstgeißelung führt, sondern im Gegenteil zu einem zufriedenstellenden, weil suffizientem Leben. <?page no="125"?> 4.8 Die Leitstrategien Effizienz, Konsistenz, Suffizienz 125 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die Suffizienz-Strategie ist zudem ein maßgeblicher Baustein der Postwachstumsökonomie, die auf der Annahme basiert, dass eine sozioökonomische Transformation Richtung Nachhaltigkeit nicht ohne grundlegende Konzessionen an einen übertriebenen Ressourcenverbrauch zu realisieren ist. „Lebensqualität statt Wirtschaftswachstum“ und „weniger ist mehr“ ist das Credo, wie es auch in den Bewegungen Slow Food, Cittaslow bzw. Slowcity und Transition Town zum Ausdruck kommt. Suffizienz-Megatrend: Slow Food statt Fast Food Slow Food ist ein Begriff, der von einer gleichnamigen Organisation als Ausdruck für genussvolles, bewusstes und regionales Essen geprägt wurde, und eine Gegenbewegung zum Trend des uniformen, globalisierten und genussfreien Fast Food bezeichnet. Die ursprünglich aus Italien stammende Bewegung bemüht sich um die Erhaltung der regionalen Küche mit heimischen pflanzlichen und tierischen Produkten und um deren lokale Produktion. Slow Food steht in diesem Zusammenhang für Produkte mit authentischem Charakter (regional, saisonal), die auf traditionelle oder ursprüngliche Weise hergestellt und genossen werden. Sie sollen regionale Wirtschaftskreisläufe stärken und Menschen wieder mit Auge, Ohr, Mund und Händen an ihre Region binden. Nach Ansicht des Zukunftsforschers Matthias Horx ist „Slow Food“ einer von 18 Trends, die das Leben von morgen auf dem Gebiet der Ernährung beeinflussen werden. Kritiker werfen der Bewegung elitäres Verhalten vor, seien doch industriell erzeugte Lebensmittel wegen ihres Preisvorteils für den Massenkonsum geeigneter. Siehe www.slowfood.de. Suffizienz-Kriterien sind: Vermeidung jeglicher Verschwendung und sinnloser Ressourcen und Tätigkeiten keine Produktion von nicht-nachhaltigen Produkten Beachtung des Prinzips der Genügsamkeit, z. B. ein kleineres, schlankeres, dafür nachhaltigeres Produktsortiment Ansatzpunkte zur Erhöhung der Suffizienz sind die Veränderung des Nutzungsverhaltens und der Bedürfnisse von Endkonsumenten und Unternehmenskunden, um so die Nachfrage nach umwelt- und sozialfreundlichen Produkten zu steigern. Damit würde eine nachhaltigkeitsorientierte Nachfrage langfristig ein nachhaltigkeitsgerechtes Angebot fördern. „Das einzig noch verantwortbare Gestaltungsprinzip für Gesellschaften und Lebensstile im 21. Jahrhundert heißt Reduktion“ (Paech 2012: 11). Beispiele hierfür sind alle Geschäftsmodelle, die einen Zugang zu einer gemeinsamen Produktnutzung bzw. zu kollektivem Konsum bieten, wie etwa Carsharing. <?page no="126"?> 126 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 4.8.2 Das Konsistenzprinzip: Imitation der Kreislaufströme der Natur Im Zentrum des Konsistenzprinzips steht die Imitation der Natur und ihrer geschlossenen Kreislaufströme. Das Ziel ist die Kreislaufführung von Energie und Stoffen, um so den materiellen und energetischen Durchfluss aller Wirtschaftsprozesse zu schließen. Es geht darum zu lernen, „das hocheffektive Wiege-zu- Wiege-System der Natur mit seinen Nährstoffströmen und Metabolismen zu imitieren, ein System, in dem Abfall überhaupt nicht vorkommt“ (Braungart, McDonough 2013: 135 f.; vgl. Cradle-to-Cradle). Konsistenz meint hier die Übereinstimmung mit natürlichen Stoff- und Energiekreisläufen, indem z. B. in der Produktion Abwärme oder Brauchwasser wiederverwendet und genutzt werden (vgl. von Hauff 2014: 63). Durch dieses Prinzip wird die Wirksamkeit jeglicher nachhaltiger Maßnahmen verfolgt, d. h. die Ökoeffektivität wird konsequent erhöht. Die Konsistenz-Strategie basiert auf der Forderung, dass menschliche bzw. wirtschaftliche Aktivitäten und deren Stoff- und Energieströme in Einklang mit jenen in der Natur sein müssen, da alles, was umwelt- und wirtschaftsverträglich ist, konsistent ist und daher im Nachgang keiner Schadensbehebung bedarf. Konsistenz-Kriterien sind: Denken, Handeln und Produzieren im Sinne des geschlossenen Kreislaufprinzips Abfall ist Ausgangsmaterial für das nächste Produkt Abläufe aus der Natur dienen als Vorbild Die an sich schlüssige Herangehensweise setzt allerdings voraus, dass Produktions- und Konsummuster in diesem Sinne umzustellen sind, was eine vorausschauende Innovationspolitik und eine breite Basis in Wirtschaft und Gesellschaft verlangt, um einen kritischen Schwellennutzen zu erzielen. Das Konsistenzprinzip erfordert deshalb neben technischen Veränderungen v. a. einen mentalen Kulturwandel sowie organisatorische Änderungen bei Design, Produktion, Distribution und Redistribution von Produkten und Prozessen. 4.8.3 Das Effizienzprinzip: Verbesserung der Ressourcenproduktivität Das Effizienzprinzip fokussiert auf die Erhöhung der Ressourcenproduktivität und Wirtschaftlichkeit. Ziel ist die Entkoppelung von Wirtschaftsleistung und Umweltverbrauch, d. h. es wird die Substitution von Produkten und Verfahren durch nachhaltigere bzw. ressourcenschonende Varianten verfolgt, v. a. mittels technischer Fortschritte. Sie ist ökologisch wie ökonomisch beliebt, weil sie Produkt-, Prozess-, etc.- Innovationen stimuliert und Business-Case Potenziale mit sich bringt. Sie wird von Wirtschaft und Regierung gleichermaßen positiv aufgenommen und ist deshalb unter den drei Strategien am weitesten operationalisiert. Aufgrund seiner relativ einfachen Anwendbarkeit ist es in Unternehmen am geläufigsten. <?page no="127"?> 4.8 Die Leitstrategien Effizienz, Konsistenz, Suffizienz 127 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Beispiele sind sparsamere Fahrzeuge im Automobilsektor, die Reduzierung des Materialverbrauchs in der Fertigung oder des Energieverbrauchs in der Nutzung (z.B. durch Energie-Plus-Häuser oder energieeffiziente (Haushalts-)Geräte). Laut Untersuchungen von Weizsäcker sind Effizienzgewinne um bis zu dem Faktor 10 möglich, d. h., es kann mit dem gleichen Input ein bis zu zehnfacher Output generiert werden bzw. mit einem Zehntel des Inputs derselbe Output (vgl. Weizsäcker et al. 1997; Weizsäcker et al. 2010.). Effizienz-Kriterien sind: Verbesserung der Rohstoff- und Ressourcenproduktivität mit möglichst wenig Input den gleiche Output oder bei gleichem Input mehr Output erzielen (Minimax-Prinzip) Prinzip bezieht sich auf Materialien und Tätigkeiten „Fünfmal so viel Wohlstand aus einer Kilowattstunde“ In „Faktor fünf - Die Formel für nachhaltiges Wachstum“ beschreibt Ernst Ulrich von Weizsäcker das Knowhow zu seiner Kernthese: die weltweite Ressourcenproduktivität lässt sich um mindestens 75 bis 80 % steigern. Das Buch heiße Faktor Fünf, weil wir fünfmal so viel Wohlstand aus einer Kilowattstunde rausholen können - oder aus einer Tonne Kupfererz oder einem Kubikmeter Wasser, so von Weizsäcker. Zum Beispiel verbrauche ein Passivhaus bei hohem Wohnkomfort, guter Lüftung und Temperatur nur 1/ 8 bis 1/ 10 der Energie, die ein normaler Altbau nötig hat. Der Hauseigentümer zahle am Ende nur 1/ 8 oder 1/ 10 der Heizkosten. Das wiederum amortisiere sich in zehn bis 20 Jahren. Es geht also um Ressourcenproduktivität. Das ist so ähnlich wie bei der Arbeitsproduktivität, bei der wir gelernt haben, aus einer Stunde menschlicher Arbeit immer mehr Wohlstand zu erwirtschaften. Kritisch ist allerdings der ihr zugrundeliegende Technikoptimismus ebenso wie eine Problembehandlung, die utilitaristisch motiviert ist, statt an der Wurzel des Problems anzusetzen, nämlich bei Verzicht, Einschränkung und Einsparung. In diesem Zusammenhang ist auch der sogenannte Rebound-Effekt zu sehen. Rebound-Effekt - Die Kehrseite der Effizienz Der Rebound- oder Bumerang-Effekt besagt, dass verbesserte Material- oder Energieeffizienz über die Hintertüre wieder hereinkommen können. Dadurch, dass effizienzbedingt Produkte günstiger angeboten werden können, kaufen Konsumenten mehr oder ersetzen diese häufiger. Typische Beispiele sind Com- <?page no="128"?> 128 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit puter oder Mobiltelefone, die mittlerweile so erschwinglich sind, dass sich Konsumenten mehrere davon leisten können. Bereits heute gibt es mehr Mobiltelefone auf der Welt als Erdbewohner. Abb. 34: Rebound-Effekt: Aufzehrung eines ökologischen Nutzens am Beispiel Autofahren Abb. 35: Mathematische Darstellung des Rebound-Effektes Die Kritik am Effizienzprinzip betrifft den sog. Rebound-Effekt, der auch als „Jevons’ Paradoxon“ bezeichnet wird. Demnach zehrt sich die angestrebte Ressourcenschonung in dem Maße auf, wie eine Effizienzsteigerung eine Preissenkung bei einem Gut oder einer Dienstleistung bewirkt und damit, unter sonst gleichen Bedingungen, die Zunahme der Nachfrage erhöht. So wird z. B. ein sinkender Benzinverbrauch pro 100 km bei Autos durch eine insgesamt höhere Anzahl von Autos und deren Fahrleistung wieder untergraben (vgl. Gleich, Gößling-Reisemann 2008: 12). <?page no="129"?> 4.8 Die Leitstrategien Effizienz, Konsistenz, Suffizienz 129 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit „Ganz gleich wie man es wendet, gesteigerte technische Effizienz ist systematisch nicht ohne Zuwächse an materiellen Verbräuchen zu haben, weil der nötige Übergang entweder alte Strukturen entwertet oder die neuen Anlagen, wenn sie die alten nicht ersetzen, als reine Addition zusätzliche Ressourcenflüsse verursachen“, meint Paech (2012: 34) zum „zweischneidigen Schwert“ Effizienz. Suffizienz, Konsistenz und Effizienz entlang der Wertschöpfungskette am Beispiel der Firma Lebensbaum Die Lebensbaum Ulrich Walter GmbH „ist ein mittelständisches Familienunternehmen der Biobranche, das sich auf Kaffees, Tees und Gewürze aus ökologischem Landbau spezialisiert hat und für seine Verdienste um Nachhaltigkeit mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet wurde. Erklärtes Ziel von Lebensbaum ist, Bioqualität mit ökologischer Weitsicht und sozialer Verantwortung zu verbinden [Konsistenz, Suffizienz]. Dazu werden Nachhaltigkeits- und Qualitätsstandards auf branchenführendem Niveau in der gesamten Wertschöpfungskette konsequent umgesetzt. Das Unternehmen stellt seine langfristige Entwicklungsfähigkeit u. a. durch hohe Ressourcenverfügbarkeit aufgrund von langfristigen Partnerschaften und zukunftsfähigen Anbaumethoden sicher und differenziert sich im Wettbewerb durch die Vertrauenswürdigkeit seiner Marke. Als eines der ersten Unternehmen der Biobranche in Deutschland führte Lebensbaum 1997 das Umweltmanagement EMAS ein, um eine dauerhafte Weiterentwicklung der Umweltleistung sicherzustellen. Lebensbaum hat einen Nachhaltigkeitsbericht publiziert, mit dem es als erstes Unternehmen der Biobranche und derzeit kleinster deutscher Mittelständler die G3- Standards der Global Reporting Initiative auf Berichtslevel A+ einhält. Lebensbaum produziert CO 2 -neutral, u. a. durch 100 % Ökostrom, Beheizung mit einer eigenen Geothermie-Anlage und Wärmerückgewinnung [Effizienz, Konsistenz]. Verbleibende produktionsbedingte Emissionen werden durch die Unterstützung eines Kompostierungsprojekts des ägyptischen Anbaupartners Sekem kompensiert [Konsistenz]. Im Rahmen des Lieferantenmanagements werden u. a. ökologische und soziale Standards von Lieferanten eingefordert, durch regelmäßige Abfragen kontrolliert und neue Entwicklungsziele vereinbart. Lebensbaum legt Wert auf partnerschaftlichen, fairen Umgang mit seinen Lieferanten und hilft Handelspartnern bei Bedarf - von der Einführung neuer Erntetechniken bis hin zum Bau einer Schule. Das Unternehmen gewährleistet hohe Transparenz bei Produktion und Herkunft und sichert durch eine nachhaltige Qualitätsgarantie für alle Lebensbaum-Produkte u. a. den Verzicht auf Gentechnik, Aromazusätze, Geschmacksverstärker <?page no="130"?> 130 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit und Zusatzstoffe zu [Suffizienz]. Des Weiteren fördert die Lebensbaum- Stiftung eine Vielzahl an ökologischen, sozialen und kulturellen Initiativen. Seit einigen Jahren führt Lebensbaum ein vom Europäischen Sozialfonds (ESF) unterstütztes Projekt zur Systematisierung, Intensivierung und Steigerung der Effektivität der Nachhaltigkeitskommunikation mit Verbrauchern durch. Die ökonomische Nachhaltigkeitsexzellenz von Lebensbaum beruht auf der Positionierung als Nachhaltigkeits- und Qualitätsführer und auf der Marktführerschaft im deutschen Biofachhandel bei Tee, Kaffee und Gewürzen sowie auf der Refinanzierung von Nachhaltigkeitsinvestitionen durch langfristige Einsparungen durch Effizienzsteigerungen und niedrigerer Fehlerquoten [Effizienz]“. Folgendes Schaubild zeigt die drei Nachhaltigkeitsleitstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz im Zusammenhang: Tabelle 17: Die drei Nachhaltigkeitsleitstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz Ausgehend vom Nachhaltigkeitskriterium, dass Lebens- und Wirtschaftsstile zeitlich und räumlich übertragbar sein müssen, ist es geboten, Durchlaufmengen und Aktivitäten dementsprechend anzupassen bzw. zu vermindern. Dabei verfolgen die drei Leitstrategien unterschiedliche Logiken, wie dies geschehen kann. Zudem setzen sie an unterschiedlichen Stellen der Wertschöpfungskette an. Die Beispiele veranschaulichen die jeweilige Strategie an einem konkreten Produkt. <?page no="131"?> 4.9 Die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell 131 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 4.9 Die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Aristoteles Wie man eine Welt herunterwirtschaftet Es war eine Aufgabe, von der alle Sozialreformer träumen: Zwölf deutsche Studenten verschiedener Fachbereiche bekamen alle Vollmachten, die Lebensbedingungen der im afrikanischen Entwicklungsgebiet Tanaland am Rande des Existenzminimums lebenden Stämme der Tupis und der Moros zu verbessern. Die Entwicklungshelfer ließen Dämme bauen und Bewässerungssysteme anlegen, roden und Ackerland düngen. Sie mechanisierten die Landwirtschaft, machten Jagd auf Raubtiere und versprühten Insektizide, sie siedelten Ärzte an und führten in Tanaland die Geburtenkontrolle ein. Doch das Ergebnis aller Anstrengungen war deprimierend. Kolonialistische Ausbeuter hätten Tanaland nicht gründlicher herunterwirtschaften können als die wohlmeinenden deutschen Jung-Akademiker: Nach anfänglichem Aufwärtstrend wurde das Land von Katastrophen und Hungersnöten heimgesucht. Die Viehherden schrumpften auf einen Bruchteil ihres ehemaligen Bestandes, Nahrungsreservoire und natürliche Finanzquellen drohten zu versiegen. Den Tupis und Moros ging es so schlecht wie nie zuvor. Zum Glück ereignete sich das Desaster von Tanaland nur auf dem Papier. Um zu erforschen, wie sich intelligente Menschen verhalten. wenn sie komplexe Probleme zu lösen haben, hatten der Gießener Psychologie- Professor Dietrich Dörner und sein Team (Ulrike Drewes, Franz Reither) die fiktive afrikanische Landschaft Tanaland auf einem Computer simuliert und den zwölf Testpersonen (Psychologen, Biologen, Juristen, Agrar- und Ernährungswissenschaftlern) die Aufgabe gestellt, dem angenommenen Entwicklungsland wirksame Hilfe zu bringen. Jeder Entwicklungshelfer konnte angeben, welche Maßnahmen jeweils ergriffen werden sollten. Die Eingriffe wurden dann auf den Computer übertragen, der die Auswirkungen der Maßnahmen auf das Wirtschaftsleben und das Bio-System des Landes für den jeweils gewünschten Zeitraum errechnete. Bei der nächsten Sitzung wurden den Tanaland- Sanierern dann die Wirkungen ihrer Operationen rückgemeldet. Die Unzulänglichkeit der konzertierten Aktionen wurde bald offenbar. Obwohl sämtliche Testpersonen in Intelligenztests weit überdurchschnitt- <?page no="132"?> 132 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit lich abgeschnitten hatten und es ihnen auch nicht an gutem Willen und reformerischem Eifer fehlte, scheiterten sie - freilich ohne Schuld. Denn die Tanaland-Sanierer verfügten, wie das Gießener Experiment bewies, bei aller Intelligenz nicht über die notwendigen Denkwerkzeuge, um das dichtverwobene Netz der Wechselbeziehungen aufzudröseln, aus denen komplexe, unbekannte Systeme wie das Schulbeispiel Tanaland bestehen. So, wie sie es in der Schule gelernt hatten, dachten die Testpersonen allesamt „einspurig“ - das heißt in Wirkungsketten und nicht, wie erforderlich, in Wirkungsnetzen: Dörners Studenten hatten jeweils nur die unmittelbaren Folgen ihrer Eingriffe im Auge, statt auch deren mögliche Nebeneffekte mit einzukalkulieren. So dezimierten sie beispielsweise durch Gifteinsatz die Zahl der plantagenschädigenden Affen und Kleinsäuger drastisch. Sie bedachten dabei nicht, dass die zahlreichen Leoparden in Tanaland, die sich vorwiegend von den Kleinsäugern ernähren, als Folge dieser Maßnahme nun in die Rinder- und Schafherden einbrechen würden, von denen wiederum der Stamm der Moros lebte. Oder aber sie ließen die Leoparden abschießen, deren Felle gewinnbringend verkaufen und mit dem Geld die Rinderherden vergrößern. Das aber hatte zur Folge, dass die Kleinsäuger zur Plage wurden und Obst- und Ackerbau schädigten. Zugleich wuchs die Bevölkerung dank besserer Ernährung und medizinischer Versorgung in einer exponentiell verlaufenden Kurve. Folge: Übervölkerung, Versorgungsschwierigkeiten und nachfolgend wieder hohe Sterblichkeitsraten durch Hungersnot. Die Gießener Studenten verkannten nicht nur die typischen Eigenschaften komplizierter Sozial- und Ökosysteme. Sie zeigten sich auch außerstande, das einmal gewonnene Bild der Modellwelt von Tanaland den veränderten Umständen anzupassen. „Was immer geschehen mochte“, so beobachtete Professor Dörner, „sie sammelten keine Informationen mehr und waren nicht bereit, dieses Bild zu korrigieren.“ So kam es, dass sie bald das Gesamtsystem aus dem Auge verloren und sich nur noch um die von ihnen in Gang gesetzten Projekte kümmerten. Dörner: „Die Maßnahmen verselbständigten sich oft und nahmen dann die Stelle des eigentlichen Problems ein.“ Misserfolge versuchten die meisten Teilnehmer vom Tisch zu wischen, indem sie ihnen einen höheren Sinn unterschoben. Während die ersten Hungersnöte noch mit Betroffenheit registriert wurden, hieß es bald: „Die müssen halt den Gürtel enger schnallen und für ihre Enkel leiden.“ Oder: „Da sterben ja wohl hauptsächlich die Alten und Schwachen, das ist gut für die Bevölkerungsstruktur.“ <?page no="133"?> 4.9 Die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell 133 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Bei dem Gießener Computer-Experiment handelt es sich keineswegs nur um ein abstraktes Manöver - überall ist Tanaland. Immer häufiger schlagen Pläne und Programme etwa zur Sanierung unterentwickelter Gebiete nicht nur fehl, sondern erzielen oft das genaue Gegenteil der erwünschten Resultate. „Die Krisen von heute“, behauptet Professor Dörner, „haben ihren Ursprung in den Denkfehlern der Vergangenheit.“ Der Beitrag ist übernommen aus der Spiegel-Ausgabe 21/ 1975. Er erschien im Nachgang von den ‚Grenzen des Wachstums‘. Das Experiment versuchte damals die akademischen Voraussetzungen zur Bewältigung systemischer Probleme zu eruieren, wobei die Systemtheorie in Forschung und Lehre bis heute nicht die notwendige, ihr gebührende Beachtung erfahren hat (siehe auch www. spiegel.de/ spiegel/ print/ d-41496567.html). Ein Vergleich von Dörners klassischen Experimenten aus dem Jahr 1975 mit aktuellem Verhalten in Politik und Wirtschaft lässt die Vermutung zu, dass sich wenig an den wichtigsten beiden systemischen Parametern verändert hat: a) das Verhalten der „Spieler“ ist nach wie vor an Linearität, nicht an Wechselwirkungen ausgerichtet, b) der Mensch verhält sich als „Spieler“ nicht wie ein mechanisches Rad, sondern ist selbst höchst komplex, unberechenbar und schwer zu steuern. Systemische Denk- und Handlungsmodelle Gegenwärtig liegt eine Reihe spezifischer Erklärungsansätze zum Thema Nachhaltigkeit vor, also Theorien, die auf konkrete Fragestellungen - bzw. Aspekte, Teile, Spezialfälle oder Subkategorien - zugeschnitten sind, weil dies von der voranschreitenden funktionellen Differenzierung des wissenschaftlichen Systems verlangt wird (z.B. Industrial Ecology, ökologischer Fußabdruck, Social Entrepreneurship). Demgegenüber bestehen nur wenige Theorien, die eine <?page no="134"?> 134 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit allgemeine, ganzheitliche Betrachtung des Themenkomplexes Nachhaltigkeit befördern, indem sie der Tendenz der Zersplitterung mittels inter-, multi- und transdisziplinärer Forschung entgegenwirken. Die hohe und zunehmende Komplexität unserer Lebenswelt macht damit ein umfassendes Theoriegebäude bzw. einen umfassenden Orientierungsrahmen zur Beschreibung und Erklärung disparater Einflussfaktoren erforderlich. Welche komplexen, dynamischen Systeme uns grundlegend in Natur, Technik und Gesellschaft umgeben, zeigt exemplarisch die folgende Tabelle: dynamische Systeme in der Natur Populationsdynamik, logistisches Wachstum, Fischfang, konkurrierende Populationen, Epidemien, Algenblüte dynamische Systeme in der Technik Schwingungen, chemische Reaktoren, Wellenausbreitung in Strömungen, Benard-Konvektion, Verkehrsdynamik dynamische Systeme in der Gesellschaft Verhaltensdynamik, Modelle in der Volkswirtschaftslehre, Zivilisationsdynamik, Ökolopoly (kybernetisches Umweltspiel) komplexe dynamische Systeme Klimamodelle, Weltmodelle (Forrester, Meadows, CoR) Kernbegriffe und -konzepte mathematische Grundlagen zum Wachstum, Linearität und Nichtlinearität, Wachstumsgesetze, Rückkopplung und Regelkreise, Determinismus und Chaos, Systeme von Differenzialgleichungen, Attraktoren Tabelle 18: Dynamische Systeme in Natur, Technik und Gesellschaft Die Systemtheorie als Orientierungsrahmen für das Nachhaltigkeitsleitbild Die Systemtheorie empfiehlt sich als wissenschaftliche Disziplin zur Erklärung und Einbettung des Nachhaltigkeitsgedanken, weil sie dessen inhärentem Anspruch an Interdisziplinarität gerecht wird, indem sie unterschiedlichste Systeme einbezieht. Damit wird sie der Erfordernis an Dreidimensionalität von Nachhaltigkeit - d.h. der Berücksichtigung wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Aspekte - gerecht. Dass die Systemtheorie Bezüge in viele für das Thema Nachhaltigkeit relevante Fachgebiete aufweist, zeigt die Heranziehung systemi- <?page no="135"?> 4.9 Die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell 135 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit scher Begrifflichkeiten etwa in der Biologie, Chemie, Ethnologie, Informatik, der Geographie, Literaturwissenschaft, Logik, Mathematik, Pädagogik, Philosophie, Physik, Physiologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie sowie den Ingenieurwissenschaften, Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften. Clayton und Radcliffe meinen in diesem Zusammenhang: „It provides a multidimensional framework in which information from different disciplines and domains can be integrated without being forced into a one-dimensional mapping. (...) The world itself can be thought of as a very large and complex system, which contains complex subsystems such as ecological and biological systems, weather systems, and human social and economic systems. Subsystems such as the human economy is a highly open system, as it interacts with many other systems in a great many different ways.“ (Clayton/ Radcliffe (1996), S. 12f). Die Systemtheorie bzw. systemisches Denken ist dadurch gekennzeichnet, dass in erster Linie nach Strukturen, Beziehungen, Prozessen und deren Wechselwirkung gefragt wird. Ein System wird nicht durch seine Teile bestimmt, sondern durch seine Struktur. Die Analyse jener Strukturen und Funktionen soll dabei Vorhersagen über das Systemverhalten ermöglichen wie z.B. bei der Überfischung der Weltmeere oder der Entstehung von Katastrophen wie Fukushima. Der Ursprung der Systemtheorie liegt in den 1940er Jahren, und die soziologische Systemtheorie - von der Kybernetik her kommend - wurde durch Talcott Parsons entwickelt, während Niklas Luhmann als Hauptvertreter der kommunikationstheoretischen Systemtheorie gilt. Als Vertreter der allgemeinen Systemtheorie gilt der amerikanische Biologe Ludwig von Bertalanffy, der mit seiner General Systems Theory eine neue interdisziplinäre Formalwissenschaft zu begründen suchte, die die einzelnen Realwissenschaften zu einer „Einheit der Wissenschaft“ verband. Sinn und Zweck war eine für alle Systeme geltende Theorie aufzustellen samt exakter mathematischer Formulierungen der von ihr entwickelten Begriffe, Beziehungen und Gesetze. Die allgemeine Systemtheorie von Bertalanffy (1950; 1969), an die viele Autoren verschiedener systemtheoretischer Richtungen anknüpfen, ist konzipiert, um alle möglichen (z.B. technische, ökologische, soziale) Systeme zu beschreiben. Ihren Höhepunkt dürfte die angewandte Systemtheorie computerbasiert im Rahmen der Studie ‚Die Grenzen des Wachstums‘ (Meadows et al.) gehabt haben, wo systemische Methoden die Simulation, Modellierung und Szenarienbildung zur Weltentwicklung ermöglichten (siehe Kapitel 2.2). Prämissen des systemischen Ansatzes sind: Das System ist dynamisch, unterliegt also einem ständigen Wandel. Es existiert keine strenge Rationalität. <?page no="136"?> 136 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die Unternehmung ist ein produktives System. Dieses System ist offen, d. h. es ist mit der Umwelt verbunden. Unternehmungen sind komplex. Kurz: Insgesamt ist der systemische Ansatz als evolutionär, deskriptiv, ganzheitlich, dynamisch, kausal und offen ausgerichtet zu begreifen. Basierend auf der Überlegung, dass es in erster Linie um Strukturen, Beziehungen, Prozesse und deren Wechselwirkung geht, wird demgemäß z.B. eine Organisation oder ein Unternehmen nicht als Maschine verstanden, sondern als ein System oder ein Organismus. (System meint dabei so viel wie eine Ansammlung miteinander in Beziehung stehender Teile bzw. Elemente; Organismus steht allgemein für ein Ganzes, ein System, dessen Teile bzw. Organe zusammenwirken.) Deshalb kann das Wegnehmen oder Zuführen eines Elements zu überproportionalen Störungen führen. Ein Beispiel hierfür wäre, wie die Unternehmenskultur durch das Ausscheiden ihres Chefs Steve Jobs nach dessen Tod beeinträchtigt wurde. In diesem Sinne kritisiert systemisches Management die Führung von Menschen unter Ausklammerung des sie umgebenden Systems; es sei vielmehr in Managemententscheidungen gezielt einzubeziehen. Kritisiert wird auch das Mantra, ein stetes Mehr an weiteren zu erfassenden Informationen sei ausschlaggebend - worauf es ankommt, ist demgegenüber der Zugang zu und die Einbeziehung systemrelevanter Informationen. Nicht separate Entscheidungen über Teilbereiche helfen, ein System zu steuern und zu kontrollieren, sondern der Blick auf das Gesamtsystem (vgl. Rüegg-Stürm 2003, S. 17 ff.; Bleicher 2011, S. 568 ff.) In ihrer Ausdifferenzierung orientiert sich die Systemtheorie bzw. systemische Managementlehre dabei u.a. an der Kybernetik, der Theorie zur Regelung und Steuerung dynamischer Systeme, weil diese Lösungsansätze zum Management komplexer Systeme liefert (Malik 2006, 2008, 2009; Ulrich 2001; Vester 2002). Die Systemtheorie wird manchmal auch mit Begrifflichkeiten wie Systems Engineering, Systems Research/ Systemforschung, System Dynamics/ Systemdynamik und Kybernetik assoziiert bzw. gleichgesetzt, wobei die Begriffe systemtheoretisch und systemisch meist sinngleich verwendet werden. Kybernetik und Vernetztes Denken Die Kybernetik - auch als „die Kunst des Steuerns“ beschrieben - geht vor allem auf den Mathematiker Norbert Wiener zurück und lässt sich als die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen Organisationen begreifen. Frederic Vester hat unter Berufung auf die (Bio-)Kybernetik das sogenannte systemische bzw. vernetzte Denken propagiert. Gemäß dieses Ansatzes werden die Eigenschaften eines Systems als ein vernetztes Wirkungsgefüge gesehen, wobei <?page no="137"?> 4.9 Die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell 137 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit sich die einzelnen Faktoren in sogenannten Rückkopplungen verstärken oder schwächen. Auf diese Weise können z. B. positive, selbstverstärkende und negative, selbstregulierende Rückkopplungskreisläufe erkannt werden. (Zudem werden Einflussgrößen in ihrer Systemqualität sichtbar und bewertet, z. B. als stabilisierend, kritisch, puffernd oder empfindlich für äußere Einflüsse. Für stärker „linear Denkende“ kann die Betrachtung der Wirklichkeit als Netz verwirrend wirken. Mittels seines Sensitivitätsmodells versucht Vester jenen Erkenntnisprozess softwarebasiert zu unterstützen (Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken. dtv, 6. Aufl. 2007). „Auf der Suche nach Lösungen benötigen wir ein viel tiefergehendes Verständnis von Belastungen, Motivationen, Ursachen sowie der grundlegenden Dynamiken natürlicher Systeme“, heißt es im Living Planet Report 2016 des WWF (WWF (2016), S.32. Abb. 36: Das Modell der vier Denkebenen (vgl. Maani und Cavana 2007 46 ). Das Modell der vier Denkebenen will vor Augen führen, dass es sich bei Ereignissen bzw. Symptomen innerhalb der Gesamtdynamik eines Systems nur um die Spitze eines Eisbergs handelt. Dabei bleiben die tatsächlichen Treiber für das Verhalten unter der Oberfläche verborgen. Gleichsam gilt: Je tiefer wir vordringen, desto näher kommen wir an die Ursachen. 46 Vgl. Maani, K. E.; Cavana, R. Y. (2007) Systems Thinking, System Dynamics. 2nd Edition. Pearson Education. <?page no="138"?> 138 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das neue St. Galler Management-Modell Wie lässt sich die Systemtheorie in der Praxis anwenden? Ein Modell, das sich aufgrund seiner interdisziplinär-integrativen Ausrichtung, die den Prämissen der Systemtheorie entspricht, empfiehlt, ist das (neue) St. Galler Management- Modell. Das Modell ist ein in den 1960er Jahren an der Universität St. Gallen entwickelter Bezugsrahmen, der 1972 von dem Wegbereiter der systemorientierten Managementlehre Hans Ulrich zusammen mit Walter Krieg veröffentlicht und 1991 von Knut Bleicher sowie 2002 von Johannes Rüegg-Stürm weiterentwickelt wurde. Das Modell samt schrittweiser Herleitung und Hintergrundinformationen findet sich hier QR. Im Kern geht es in dem Modell darum, die Erkenntnisse der Systemtheorie auf Unternehmen bzw. Organisationen anzuwenden, wobei Management als ein Schlüssel für den Umgang mit Komplexität begriffen wird. Hierzu werden heterarchisch-partizipative Strukturen gegenüber hierarchisch-rekursiven empfohlen, weil sie über eine höhere Fähigkeit verfügen, mit Komplexität umzugehen. Das Management hat dabei grundlegend auf drei Ebenen folgende Kriterien zu verwirklichen: normatives Management Nachhaltigkeit strategisches Management Effektivität operatives Management Effizienz Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer integrierten, da zunehmend komplexitätsfähigen Managementlehre erweiterte Rüegg-Stürm das Ausgangsmodell von 1972/ 1991 in dreierlei Hinsicht: Erstens kommt der ethischnormativen Dimension von Management ein deutlich höherer Stellenwert zu, was eine Bedeutungsaufwertung des Themas Nachhaltigkeit impliziert. Zweitens reflektiert das neue Modell die (u.a. im Kontext des Stakeholder- Paradigmas) gewachsene Bedeutung einer prozessorientierten Herangehensweise an Unternehmungen. Drittens und daran anknüpfend wird einer interpretativ-sinnhaften Dimension von Management mehr Raum gegeben. Die eben genannten Aspekte lassen sich am besten anhand des Modells als Schaubild zusammenfassen: <?page no="139"?> 4.9 Die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell 139 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 37: Das neue St. Galler Management-Modell (Rüegg-Stürm 2003: S. 50) Was aus dem Schaubild auch hervorgeht, ist, dass im neuen Ansatz die drei Integrationsebenen Strategie, Struktur und Kultur wichtige Größen darstellen. Auch die Prozessdimension rückt in den Vordergrund und relevante Interaktionsthemen (wie Ressourcen, Normen und Werte, Anliegen und Interessen) werden neu gebündelt. Damit soll mehr Aufmerksamkeit auf die Erkenntnis gelenkt werden, dass Management in erheblichem Maße bedeutet, Sachlagen zu interpretieren und mit Sinn zu füllen sowie die Abstimmung von Erwartungen und Leistungen zu bewältigen. Ein Beitrag des neuen St. Galler Management-Modells liegt u.a. darin, die Weiterentwicklung der Betriebswirtschaft zur systemorientierten Managementlehre befördert zu haben. In ihrem Zentrum steht die Führungskraft als Handlungsträger im Kontext komplexer Systeme, wie es nachhaltigkeitsrelevante Kontexte per se sind. Als Fazit ist festzuhalten: Im systemischen Denken liegt die Betonung auf der Unbestimmtheit komplexer Systeme. Komplexität kann nicht einfach reduziert oder umgangen werden, sondern muss bewältigt werden. Ein System mit einer gegebenen Komplexität ist nur mit Hilfe eines mindestens ebenso komplexen Systems unter Kontrolle zu bringen. Dementsprechend gibt es zur Lösung von Problemen statt eines einzigen, klaren Hebels vielfältige Möglichkeiten der Einflussnahme (wie z.B. die Stärkung bereits vorhandener positiver Kreisläufe). <?page no="140"?> 140 4 Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das Wichtigste ist die Konzentration auf die entscheidenden Aspekte und Faktoren und deren Zusammenhänge. Nur das richtige Bild von vielfältigen und vielschichtigen Zusammenhängen führt zu den richtigen Entscheidungen. Entscheidend für wirksame Modelle ist deshalb, dass sie den Anforderungen der Realität entsprechen. Als Voraussetzung für das Umlernen von linearem zu systemischem Handeln gilt es, Flexibilität, Anpassungs-, Lern- und Entwicklungsfähigkeit als Kompetenzen auszubilden (siehe auch Kapitel 9). Dabei ist es - wie Dörner einleitend klar aufgezeigt hat - unumgänglich, dass die „Systemspieler“ ihr persönliches Verhalten durch gezieltes Üben und Reflektieren nachhaltig verändern. Fazit: Ökologie, Ökonomie, Soziales - die heilige Triade Dem Nachhaltigkeitsleitbild liegen unterschiedliche theoretische Ansätze zugrunde, die ein Handeln im Sinne von Nachhaltigkeit rechtfertigen; diesmal stärker über den erkenntnistheoretischen, anthropologischen Zugang oder das Gerechtigkeitsprinzip. Ein weiterer Zugang bietet sich über das Konzept verschiedener Kapitalarten an. Ihm zufolge ist nicht allein ökonomisches Kapital wertvoll, sondern auch ökologisches und soziales Kapital sind von Wert und erhaltungswürdig. Die Kapitalarten lassen sich ebenso wie die Nachhaltigkeitsdimensionen in Unterbeispiele und -aspekte ausdifferenzieren. Notwendig jedoch ist, um das Nachhaltigkeitsgebot der Integrativität und Dreidimensionalität zu berücksichtigen, dass jene in einen unauflöslichen Gesamtzusammenhang gestellt werden, um so ihre Interdependenz zu veranschaulichen. Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet, Profite sozial und ökologisch verantwortungsvoll zu erwirtschaften, und bedeutet nicht, Profite zu erwirtschaften, um sie dann für soziale oder Umweltbelange einzusetzen. Grundsätzlich begleitet wird jegliche Nachhaltigkeitsdiskussion von der Frage der Position, die vertreten wird, mit den Antipoden starkes versus schwaches Nachhaltigkeitsparadigma, welche die zwei Gegenpole neoklassische Ökonomie und ökologische Ökonomie widerspiegeln. Die drei angeführten Modelle, das Drei-Säulen-Modell, das Schnittmengenbzw. Dreiklang-Modell sowie das (integrierende) Nachhaltigkeitsdreieck können als Genese des Nachhaltigkeitskonzeptes mit spezifischen Vorteilen gesehen werden; wobei letzteres Modell am stärksten empfohlen wird, weil es der Komplexität von Nachhaltigkeit in der Darstellung am meisten gerecht wird. Unabhängig vom gewählten Modell können dabei stets die sieben genannten Nachhaltigkeitsprinzipien als handlungsleitend herangezogen werden. Sie reflektieren den Kern von Nachhaltigkeit jenseits variierender Schwerpunktsetzungen. Schließlich wurden vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, Nachhaltigkeit zu operationalisieren, konkrete Nachhaltigkeitsthemen ebenso wie die drei Leitstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz, genannt, auf die sich im Rahmen von Kapitel 6 (Nachhaltigkeit in Unternehmen) aufbauen lässt. <?page no="141"?> 4 141 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Als grundsätzlicher Orientierungsrahmen empfiehlt sich die Systemtheorie. Sie bietet ein interdisziplinäres Erkenntnismodell, das die Handhabung komplexer nachhaltigkeitsbezogener Probleme durch eine integrative Sicht- und Herangehensweise unterstützt. Literatur Bertalanffy, L. v. (1948) Zu einer allgemeinen Systemlehre. MIT Press/ Wiley & Sons New York/ Cambridge. Bleicher, K. (2011) Das Konzept Integriertes Management. Campus Frankfurt. Bourdieu, P. (1983) Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.) (1982) Soziale Ungleichheiten, Göttingen, S. 183-198; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Clayton, A.; Radcliffe, N. (1996) Sustainability: A systems approach. Earthscan. London. Daly, H.E. (1990) Toward Some Operational Principles of Sustainable Development. In: Ecological Economics, Bd. 2/ 1990, H. 1; S. 1-6 Deutscher Bundestag (1998) Konzept Nachhaltigkeit. Vom Leitbild zur Umsetzung, Bonn. Dörner , D. (2003) Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. 11. Aufl. rororo. Ekardt, F. (2005) Das Prinzip Nachhaltigkeit. Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit. München. Ekardt, F. (2011) Theorie der Nachhaltigkeit: Rechtliche, ethische und politische Zugänge. Baden-Baden. Gleich, A. von; Gößling-Reisemann, S. (Hrsg.) (2008): Industrial Ecology. Erfolgreiche Wege zu nachhaltigen industriellen Systemen. Wiesbaden: Vieweg + Teubner. Grunwald, A.; Kopfmüller, J. 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Weizsäcker, E.U. von; et al. 1997) Faktor 4: Doppelter Wohlstand - halbierter Verbrauch. Droemer Knaur München. WWF (2016) Living Planet Report 2016. <?page no="143"?> II. TEIL: VOM KONZEPT ZUR UMSETZUNG <?page no="145"?> 5 Nachhaltigkeit in der Politik <?page no="146"?> 146 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Nachhaltigkeit gut und recht - aber was tut die Politik dafür? Inwiefern liegt es in ihrer Verantwortung, das Thema zu verankern, zu steuern, einzufordern, umzusetzen? Maßnahmen Überblick über Politikebenen von Deutschland (Bund, Länder, Kommunen) über die EU zu internationalen Einrichtungen; Nennung von Abkommen, Konferenzen und Bündnissen; Auszüge aus Koalitionsverträgen, der Agenda 21, Parteiprogrammen, Gesetzen etc.; Nennung von Räten, Beiräten, Kommissionen, Ausschüssen, Programmen, Projekten, Initiativen. Ergebnisse Studierende kennen die wichtigsten Akteure, Ebenen, Inhalte und Schwerpunkte, die im Bereich Nachhaltigkeit politische Gestaltungskraft haben. We know the problems, and we know the solution: sustainable development. The issue is the political will. Tony Blair Das folgende Kapitel beleuchtet das Nachhaltigkeitsengagement im Bereich Politik auf drei zentralen Ebenen: der Ebene der nationalen Politik in Deutschland, der in Europa sowie jener auf internationaler, staatenübergreifender Ebene, der Weltpolitik. Eine institutionelle Transformation ist dabei Voraussetzung, fordert aber selbst weitere Voraussetzungen, was die Aspekte Institutionen, Steuerung und Gesellschaft angeht. Kennzeichnend für alle Ebenen ist, dass Nachhaltigkeit deshalb einer regulativen Idee gleichkommt, der in politischen Programmen und Strategien konkrete Gestalt zu verleihen ist. Die in Kapitel 4 angeführten Kernprinzipien der Nachhaltigkeit fasst, auf die Anforderungen an die Politik gemünzt, Brand in einem Satz zusammen, der so monströs wie gehaltvoll ist: „Gefordert wird also eine präventiv, auf die langhttp: <?page no="147"?> / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit fristige Sicherung der globalen ökologischen Bestandsbedingungen gerichtete, am Prinzip internationaler Solidarität orientierte, kooperativ und partizipativ angelegte Politik, die anstelle einer sektoral segmentierten eine integrative Form der Problembearbeitung entwickelt.“ 47 Für Brand sind fünf skeptische Fragen nach der Möglichkeit einer Politik nachhaltiger Entwicklung zu klären (Brand (2002), S. 28-31): a) Wollen wir überhaupt eine nachhaltige Entwicklung? Wollen wir sie wirklich, dauerhaft und umfassend? b) Verfügen wir über hinreichend verlässliches Wissen (Stichworte Hypothesen, Nichtwissen und Unsicherheit)? c) Besteht nicht nur eine hinreichende, sondern auch hinreichend mobilisierungsfähige Wissensbasis? d) Ist nachhaltige Entwicklung überhaupt ein realistisches Ziel? e) Inwieweit können neue institutionelle Arrangements und Formen von Staatsführung die Entwicklung der Weltgesellschaft vorantreiben? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, kann eine für Nachhaltigkeit notwendige institutionelle Transformation gelingen. Theoretiker, die im Kontext von Strukturwandel sowie diesbezüglicher Bedingungen und Voraussetzungen der Gesellschaft zu berücksichtigen sind, sind Ulrich Beck, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Michel Foucault. Für Beck ist Nichtwissen eines der wesentlichen Merkmale der reflexiven Moderne. Ihm zufolge basiere die Selbsttransformation der industriegesellschaftlichen Moderne auf Konflikten um Nichtwissen bzw. um „die Konstruktion, Zirkulation und Destruktion von Wissen und Nicht-Wissen“. Zentrales Motiv von Habermas ist die „Versöhnung der mit sich selber zerfallenden Moderne“. Luhmanns Systemtheorie demgegenüber versteht die Gesellschaft als einen operativ geschlossenen Prozess sozialer Kommunikation. Foucault untersuchte, wie Wissen entsteht und Geltung erlangt, wie Macht ausgeübt wird und wie Subjekte konstituiert und diszipliniert werden. Ihnen gemeinsam ist, dass sie in der Gesellschaft der Moderne Vorzeichen erkennen, die es in Richtung Nachhaltigkeit umzusteuern gelte, um eine Transformation zu erwirken. 48 47 Brand (2002), S. 27. Brands ‚Politik der Nachhaltigkeit‘ ist mit dem Erscheinungsjahr 2002 ein nicht mehr ganz aktuelles, aber sehr empfehlenswertes Buch. Es bietet eine kritische Bestandsaufnahme der institutionellen Voraussetzungen, Hemmnisse und Chancen des für mehr Nachhaltigkeit notwendigen Transformationsprozesses in Politik und Gesellschaft und regt mit seiner Perspektivenvielfalt und gut gewählten Begrifflichkeiten zum Denken an. 48 Beck (1996), S. 298. Beck, U.; Giddens, A.; Lash, S. (1996) Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt/ M. Siehe auch Beck, U. (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in einer andere Moderne. Frankfurt/ M.; Habermas, J. (1990) Die Moderne - Ein unvollendetes <?page no="148"?> 148 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik In der Bilanz von zehn Jahren Nachhaltigkeitsstrategie liegen Licht und Schatten eng zusammen. Günther Bachmann Das Thema Nachhaltigkeit ist in der deutschen Politik angekommen. Von der Bundesüber die Landesbis hin zur kommunalen Ebene setzen sich Politiker und andere politische Akteure mit Nachhaltigkeitsthemen auseinander; sei es mit Fokus auf Energie, Mobilität, Stadtplanung, Kultur oder soziale Einrichtungen. 5.1.1 Bundesregierung - ökosozial Top-Down Die Bundesregierung ist durch die Agenda 21 aufgefordert, Nachhaltigkeit in Form von Strategien, Umweltplänen und Umweltaktionsplänen zu gestalten. Von besonderer Bedeutung sind hierbei folgende Ministerien: Bundesministerien für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV), Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (BMG), Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Auswärtiges Amt (AA). Verankert ist das Ziel nachhaltiger Entwicklung dabei im Artikel 20a des Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Ergänzend hat die Bundesregierung Expertengremien zur fachlich-inhaltlichen Unterstützung ins Leben gerufen, so 1990 den Sachverständigenrat für Umweltfragen, 1992 den Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen sowie 2001 den Rat für Nachhaltige Entwicklung. Welche Themen und Tätigkeitsfelder die deutsche Politik prägen, darüber geben die Koalitionsverträge Aufschluss. So heißt es im Koalitionsvertrag 2002-2006 mit dem Titel Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit von SPD und Bündnis 90/ D IE G RÜNEN in der Präambel: „Der Erhalt der natürlichen Lebens- Projekt. Leipzig; Foucault, M. (1974) Die Ordnung des Diskurses. München; Luhmann, N. (1986) Ökologische Kommunikation sowie (1988) Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/ M. <?page no="149"?> 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik 149 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit grundlagen ist die Voraussetzung zur dauerhaften Sicherung von Gerechtigkeit und Wachstum. Ökonomie und Ökologie gehören für uns zusammen. (…) Das erfordert klare Schwerpunkte in unserer Politik. Sie ist daher ausgerichtet am Ziel der Generationengerechtigkeit.“ 49 Auch die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD sah sich in ihrem Koalitionsvertrag von 2005 dem Nachhaltigkeitsleitbild verpflichtet, von dem sie sich eine Katalysatorwirkung auf die Wirtschaft versprach: „CDU, CSU und SPD wollen eine nachhaltige Entwicklung. Eine intakte Natur, reine Luft und saubere Gewässer sind Voraussetzungen für hohe Lebensqualität. […] Eine ambitionierte Umweltpolitik gehört für uns zu einer modernen Gesellschaft und leistet einen Beitrag zum weltweiten Klimaschutz. Sie kann zum Motor werden für die Entwicklung und die weltweite Vermarktung von Zukunftstechnologien, die Erhöhung der Energie- und Ressourcenproduktivität und damit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft, die Schaffung neuer, qualifizierter und sicherer Arbeitsplätze.“ 50 Schließlich reihte sich auch der Koalitionsvertrag (CDU, CSU und FDP) aus dem Jahr 2009 in das Bekenntnis zu Nachhaltigkeit ein, verlautbarte er doch: „Wir stellen den Mut zur Zukunft der Verzagtheit entgegen. Wir wollen unserem Land eine neue Richtung geben. […] Wir wollen nachhaltiges Wachstum, um Wohlstand und soziale Gerechtigkeit zu sichern. Deutschland wird seine Spitzenstellung in der Welt mit starker klassischer Industrie und hochqualifiziertem Handwerk nur halten können, wenn wir globale Maßstäbe im Bereich der Innovation und Forschung setzen.“ 51 Die Bundesregierung selbst beschreibt ihr Nachhaltigkeitsengagement 2017 auf ihrer Webpräsenz so: Ehrgeizige Strategie: Mehr Ziele, mehr Messgrößen Der hohe Anspruch der Strategie zeigt sich schon in der deutlichen Zunahme der Ziele und Messgrößen: 13 zusätzliche Themenbereiche und 30 Indikatoren wurden neu aufgenommen. Neu ist beispielsweise das Ziel für nachhaltigen Konsum und nachhaltige Produktion, das anhand von drei Messgrößen überprüft werden soll: Mit dem Marktanteil von Produkten mit staatlichem Umweltzeichen, dem CO 2 -Verbrauch und der Anzahl von Unternehmen am Umweltmanagementsystem EMAS. Auch das Thema Verteilungsgerechtigkeit ist erstmals festgeschrieben und führt mit einem Indikator auf Basis des Gini- Koeffizienten einen anerkannten Maßstab ein. Außerdem wird gute Regierungsführung zukünftig am Transparency’s Corruption Perception Index festgemacht. 49 SPD und Bündnis 90/ D IE G RÜNEN . Koalitionsvertrag 2002-2006. Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit. Berlin. Präambel. 50 CDU, CSU und SPD. Koalitionsvertrag 2005-2009. Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit. Berlin. Präambel. 51 CDU, CSU und FDP. Koalitionsvertrag 2009-2013. Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Berlin. Präambel. <?page no="150"?> 150 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit In der 260-Seiten umfassenden „Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2017“ der Bundesregierung heißt es, die Neuauflage der Nachhaltigkeitsstrategie, sei die umfassendste Weiterentwicklung der Strategie seit ihrem erstmaligen Beschluss 2002. Nie zuvor sei der Nachhaltigkeitsgedanken in der Öffentlichkeit so präsent und akzeptiert gewesen wie heute. „Mit der größeren Aufmerksamkeit sind auch die Erwartungen und Anforderungen an die Strategie gestiegen. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie erläutert die Bedeutung für nachhaltige Entwicklung Für die Politik der Bundesregierung und liegt konkret gezielter Maßnahmen über die gesamte Breite politische Themen fest damit bietet sie einen Maßstab für die notwendige langfristige Orientierung. Alle Bundeseinrichtungen sind aufgerufen, durch eigene Aktivitäten in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern zur Erreichung der Ziele beizutragen (Bundesregierung (2017), S. 11 f.). Tabelle 19: Auszug aus der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2017 zum Thema Gesundheit (Bundesregierung (2017), S.36) Und welche Bilanz lässt sich nach einer Legislaturperiode unter der Umweltministerin Barbara Hendricks ziehen? Nach Auffassung des Vorsitzenden des Bundes für Umwelt und Naturschutz <?page no="151"?> 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik 151 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Deutschland (BUND) Hubert Weiger war die Umweltpolitik durch Fortschritte beim Natur- und Klimaschutz, beim Kampf gegen die Luftverschmutzung und durch einen wachsenden Widerstand gegen die umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP und Ceta geprägt; hierbei seien insbesondere die mit über 300.000 Teilnehmern durchgeführten Demonstrationen in sieben deutschen Großstädten gegen Ceta und TTIP hervorgehoben. Weitere Erfolge waren die blockierte Wiederzulassung des krebsverdächtigen Pestizids Glyphosat, die Beibehaltung der europäischen Naturschutzrichtlinien und die Beschlüsse des Weltklimagipfels in Marrakesch zum Ausstieg aus fossilen Energien. „Fossile Energieträger sind ohne Zukunft, diese Erkenntnis setzte sich 2016 zunehmend durch. Berlin, Stuttgart und Münster verabschiedeten sich von Geldanlagen in fossile Branchen, das hat Signalwirkung auch über Deutschland hinaus“, sagte der BUND-Vorsitzende. „Wir sind froh, dass es endlich Klimaziele für die Bereiche Energie, Landwirtschaft, Verkehr und Gebäude gibt. 2017 muss die Bundesregierung beim Klimaschutz noch zulegen. Sonst wird sie ihr Ziel, die CO 2 -Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken, klar verfehlen“, gibt Weiger zu Bedenken. Der BUND-Vorsitzende kritisierte in diesem Zusammenhang den Kurs von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel gegen einen schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien und für den Weiterbetrieb klimaschädlicher Kohlekraftwerke. „Es ist inakzeptabel, dass Gabriel den umwelt- und sozialverträglichen Umbau der Wirtschaft in den Kohleregionen bremst anstatt ihn aktiv zu fördern. Das schadet nicht nur dem Klima, sondern auch den Beschäftigten in den Braunkohleregionen“, sagte Weiger. Nicht zufriedenstellend im Jahr 2016 sei die Bilanz der Landwirtschaftspolitik. „Beim Thema Glyphosat, beim Düngerecht und beim Tierschutz, Agrarminister Schmidt machte sich jedes Mal zum Sprachrohr der Agrarindustrie. Der Umwelt- und Verbraucherschutz und das Wohl der Tiere sind für ihn eher zweitrangig. Massentierhaltung, Monokulturen, exorbitante Nitratwerte im Grundwasser und viel zu hohe Pestizidwerte in Lebensmitteln belegen den dringenden Reformbedarf in der Landwirtschaft. Unter dem Motto ‚Wir haben es satt‘ werden wir deshalb in Berlin am 21. Januar zum siebten Mal für eine andere Agrarpolitik auf die Straße gehen“, sagte der BUND-Vorsitzende. International habe es 2016 ebenfalls hoffnungsvolle Zeichen für mehr Klimaschutz gegeben. Bei der Klimakonferenz in Marrakesch sei die Welt erkennbar zusammengerückt, auch als Reaktion auf das Wahlergebnis in den USA. „Die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft steht auf der Tagesordnung, dem Ausbau erneuerbarer Energien wird dies Auftrieb geben“, so Weiger 52 . 52 Vgl. NABU (2016) Jahresbilanz 2016 der Umweltpolitik zeigt Licht und Schatten. Berlin <?page no="152"?> 152 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit „Viel Schatten und wenig Licht habe es in der Verkehrspolitik des zurückliegenden Jahres gegeben. Die Fahrzeuge müssen endlich leichter, sparsamer und weniger werden“, sagte Weiger. Zwei Beispiele - eines unter stärker sozialem, eines unter stärker ökologischem Vorzeichen- seien abschließend schlaglichtartig herausgegriffen, um die die aktuelle deutsche Nachhaltigkeitspolitik zu beleuchten. Beispiel für soziale Nachhaltigkeit: Integrationspolitik bei der Flüchtlingskrise Mehr als 65.000.000 Menschen waren 2015 weltweit auf der Flucht. Zu den diesbezüglichen Zielen der deutschen Bundespolitik zählen u.a. die globale Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Fluchtursachen, die Stabilisierung der Aufnahmeregionen sowie die Umsetzung des 2016 beschlossenen Integrationskonzeptes von Bund und Ländern. Letzteres umfasst eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung der Jobcenter, die Qualifizierung durch berufliche Ausbildung von Flüchtlingen sowie das Angebot von Kursen zur Sprach-, Kultur- und Wertevermittlung (Bundesregierung (2017), S. 19 ff.). Darüber hinaus adressiert die erwähnte Agenda 2030 flüchtlingspolitische Probleme und Lösungen. Beispiel für ökologische Nachhaltigkeit: Elektroauto-Quote Elektroautos verkaufen sich in Deutschland gegenwärtig noch schleppend. 2016 wurden in Deutschland 11.410 reine Elektroautos neu zugelassen, dazu kommen rund 48.000 Hybrid-Wagen. Die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks erwägt deshalb eine „Elektroquote“, so dass Elektroautos erschwinglich werden. Die Bundesregierung hat sich erhofft, dass der Verkauf von mindestens 300.000 Fahrzeugen angeschoben werden könnte. Rat für Nachhaltige Entwicklung Deutschlands Institutionenlandschaft im Auftrag von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit ist seit dem Jahr 2000 um ein „Green Cabinet“ bereichert: den Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE). Fachlich ist er so bunt besetzt wie das Thema selbst, um damit dessen Querschnittscharakter personaltechnisch zu reflektieren. „Die Aufgaben des Rates sind die Entwicklung von Beiträgen für die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, die Benennung von konkreten Handlungsfeldern und Projekten sowie Nachhaltigkeit zu einem wichtigen öffentlichen Anliegen zu machen“, so der Rat (www. nachhaltigkeitsrat.de). Alle vier Jahre veröffentlicht die Bundesregierung unter Beratung des RNE einen Fortschrittsbericht, der zum einen eine Berichterstattung beinhaltet, zum anderen zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie dient; alle zwei Jahre erscheint ergänzend ein Indikatorenbericht. <?page no="153"?> 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik 153 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der Nachhaltige Warenkorb Ein Beispiel für die Arbeit des Rates ist der Nachhaltige Warenkorb. Der in Papier wie online erhältliche Ratgeber setzt im Alltag an - als Entscheidungshilfe für nachhaltigen Konsum. „Tag für Tag tun wir jede Menge Dinge, die mit darüber entscheiden, ob das Klima geschützt, knappe Ressourcen geschont oder Menschenrechte geachtet werden: Das fängt beim morgendlichen Frühstücksei an, geht weiter mit der Wahl des Verkehrsmittels für den Weg zur Arbeit und endet noch lange nicht, wenn wir abends im Katalog blättern, um herauszufinden, welcher neue Kühlschrank infrage kommt. Konsumentinnen und Konsumenten haben Macht, denn mit ihren Konsum- und Lebensgewohnheiten können sie das Angebot beeinflussen und ganze Branchen umkrempeln“, heißt es auf www.nachhaltigkeitsrat.de zur Erklärung des Warenkorbes. Der Warenkorb unterscheidet nach häufigen, seltenen und sehr großen Einkäufen und Anschaffungen, wie den Kauf eines neuen Autos oder einer Geldanlage, und hilft, neue Routinen zu entwickeln. „Unsere Gesellschaft muss viel stärker über die Wertorientierung unserer Lebensstile und über den Wert öffentlicher Dinge reden.“, sagt Dr. Hans Geisler, Mitglied des RNE. 53 Enquete-Kommissionen als Schnittstellen Enquete-Kommissionen sind Schnittstellen zwischen Politik und Wissenschaft. Ihre Mission: überparteilich Fragen, Antworten und Strategien erarbeiten, die gemeinsam von allen Fraktionen getragen werden. Seit Ende der 1960er Jahre beruft die Bundesebene Enquete-Kommissionen ein, von denen sich einige mit nachhaltigkeitsbezogenen Themen auseinandergesetzt haben; seit den 1980er Jahren rücken die Umwelt-, Entwicklungs- und Technologiefragen stärker ins Blickfeld. 1987 z.B. beantragten CDU/ CSU und FDP eine Enquete-Kommission zum Thema „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“. Das Sofortprogramm, mit dem die Kommission aufwartete, umfasste eine internationale Konvention zum Schutz der tropischen Wälder und die Gründung eines internationalen Treuhandfonds. Bis zum Jahr 2010 sollte die Vernichtung der Tropenwälder gänzlich gestoppt, bis 2030 der Waldbestand in den Tropen durch Wiederaufforstung wieder auf den Wert von 1990 zurückgeführt werden. Zudem schlug sie Reduktionsziele zur Verminderung der energiebedingten CO 2 -Emissionen bis zu den Jahren 2005 und 2050 vor. Dabei sollten die Entwicklungsländer bezogen auf den Stand von 1987 sogar noch mehr CO 2 freisetzen dürfen als 53 RNE (2013) Der Nachhaltige Warenkorb. Einfach besser einkaufen. Der Ratgeber kann online als pdf in der aktuellsten Version heruntergeladen werden. <?page no="154"?> 154 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1987; Ziel ist hier, die jährlichen Wachstumsraten zu vermindern. Um die nationalen Reduktionsziele zu erreichen, empfahl die Kommission die Überprüfung und Novellierung klimarelevanter Gesetze wie z.B. des Energiewirtschaftsgesetzes, Energieeinspargesetzes, Bundesimmissionsschutzgesetzes, Sozialwohnungsbaugesetzes oder Abfallgesetzes. Sie mahnte Verordnungen an wie die Wärmeschutzverordnung, Bundestarifordnungen für Elektrizität und Gas, Abwärmenutzungsverordnung, Heizungsanlagenverordnung, die Verordnungen für Groß- und Kleinfeuerungsanlagen. An guten Ratschlägen hat es der Bundesregierung also nicht gemangelt. Der Geist war wissend, das Fleisch aber schwach. 5.1.2 Parteien & Programme Eine nächste große Frage hinsichtlich der Herausforderung Nachhaltigkeit ist, wie die Parteien hierzu jeweils aufgestellt sind. Welche Ziele verfolgen sie? Wo und wie setzen sie ihre Schwerpunkte? In den Parteiprogrammen legen diese ihre Ideen, Ansichten und Ziele fest, die sich auch mit dem Thema Nachhaltigkeit befassen und je nach Partei in unterschiedlicher Ausrichtung, Überzeugung und Intention ausgestaltet sind. Mit welchen Positionen die Parteien zum Bundestagswahlkampf 2013 angetreten sind, zeigen die beiden folgenden Abbildungen am Beispiel der Themen Gentechnologie und Frauenquote. Die Positionen der Parteien finden sich anhand von 20 ausgewählten Themenbereichen unter dem nebenstehenden QR (http: / / www.tagesschau.de/ wahl/ parteien_und_programme/ progr ammvergleich-start100.html). Eine Einschätzung der Parteien hinsichtlich ihrer Haltung zum Thema Nachhaltigkeit und ihrem aktuellen Wahlerfolg könnte so aussehen: Insgesamt lassen die Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 die Annahme zu, dass die CDU stärker grüne und soziale Interessen vertrat als in der Vergangenheit und dadurch Wähler der Grünen als auch der FDP für sich gewinnen konnte. Die SPD und die Grünen liegen in ihrem Programm wie auch bei den Themen Gentechnologie und Frauenquote nah beieinander, wobei Die Grünen stärker ökologische und die SPD stärker soziale und wirtschaftliche Positionen vertreten. Die Linke steht im Allgemeinen für die sozialste Politik und vertritt am wenigsten die wirtschaftlichen Interessen des Einzelnen, dabei hat sie sich in ihren ökologischen Standpunkten den Grünen stark angenähert. Insgesamt lässt sich festhalten, dass alle Parteien in ihrer Programmatik „grüner“ geworden sind. Der Blick auf das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013 legt die Vermutung nahe, dass die CDU den offensichtlich besten Mix an Posi- <?page no="155"?> 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik 155 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 38: Parteipositionen zum Thema Gentechnologie <?page no="156"?> 156 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 39: Parteipositionen zum Thema Frauenquote <?page no="157"?> 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik 157 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit tionen zu Nachhaltigkeitsthemen gefunden und somit den Zeitgeist einer Mehrheit der Bevölkerung getroffen hat. Neuausrichtung unserer Landwirtschaft, Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2035, „zuhause“ und weltweit das Artensterben stoppen, ernsthafter Meeresschutz und verpflichtende Transparenzrichtlinien für Finanzmärkte, um Klima- und Umweltrisiken sichtbar zu machen. Wenn es um Nachhaltigkeit geht, sind die großen Fragen unserer Zeit dieselben wie vor zehn oder zwanzig Jahren. (Wie können wir unsere Gesellschaft und uns selbst so verändern, dass wir sozial gerecht und ökologisch nachhaltig dauerhaft (über-)leben können? Und wie können wir für uns und unsere Kinder die Arten- und Pflanzenvielfalt unserer Erde bewahren - die durch unseren Lebensstil so bedroht wird? Die internationale Gemeinschaft hat 2015 Antworten auf diese Fragen mit der Verabschiedung des Pariser UN-Klimaschutzabkommens und der UN-Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung gegeben. Die beiden UN-Abkommen bedeuten einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Entwicklungs- und Umweltschutzpolitik. In beiden Abkommen verpflichten sich Deutschland und alle Mitglieder der Vereinten Nationen zu substanziellen Mehranstrengungen beim Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz“, so benennt der WWF, die aus seiner Sicht notwendigen Forderungen zur Bundestagswahl 2017. www.wwf.de/ themenprojekte/ politische-arbeit/ bundestagswahl-2017/ Welche Bedeutung hat Nachhaltigkeit für die politischen Parteien in Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl 2017. Das Ergebnis der Befragung im April 2017 durch den Rat für Nachhaltige Entwicklung findet sich im Internet unter dem Titel „Was heißt ‚Nachhaltigkeit‘ für die politischen Parteien? Antworten auf Fragen des Nachhaltigkeitsrates“. 5.1.3 Die Bundesländer - unterschiedliche Dynamik Großskalige Projekte sind ob lokaler Besonderheiten auf Bundesebene schwer anzugehen, auf niederer Ebene dagegen leichter zu planen und umzusetzen. Ebenso wie die Kommunen spielen die 16 Bundesländer eine wichtige Rolle, sei es bei der Realisierung von nachhaltigkeitsbezogenen Projekten oder der rechtlichen Ausgestaltung diesbezüglicher Gesetze. Die Zuständigkeiten weichen dabei voneinander ab, weil sich Ministerien von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich abgrenzen. Zudem gibt es Unterschiede in Art, Umfang und Dynamik bei Nachhaltigkeitsbemühungen. Bundesländervergleiche konstatieren bezüglich wie die einzelnen Bundesländer im Bereich erneuerbarer Energien vergleichsweise abschneiden zu dem Ergebnis, dass es Vorreiter und Nachzügler, Mutige und Bremser gebe. Dies sei dies am Beispiel Bayerns konkretisiert. So hat der Freistaat zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit des Freistaates Bayern fallen, jüngst folgende Enquete- Kommissionen eingesetzt: Der Bayerische Landtag beschloss am 19. Juli 2016 einstimmig die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Integration in Bayern <?page no="158"?> 158 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit aktiv gestalten und Richtung geben“ sowie am 1. Juli 2014 - ebenfalls einstimmig beschlossen - die Einsetzung der Enquete-Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“. In der 14. Wahlperiode beschloss Bayern zudem die Enquete-Kommission „Mit neuer Energie in das neue Jahrtausend“. 5.1.4 Kommunen - think global, act local Kommunen sind Schlüsselakteure bei der Umsetzung nachhaltiger Entwicklung. Bei Projekten und Maßnahmen vor Ort ist keine andere Ebene den Bürgern im Alltag näher. Der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland geschuldet, überträgt diese den Bundesländern Verantwortungen und Zuständigkeiten und jene wiederum den Kommunen. Das Recht der kommunalen Selbstverwaltung ist dabei im Grundgesetz verankert. Für viele Staatsaufgaben bedient sich der Staat der Kommunalverwaltung als unterer staatlicher Verwaltungsbehörde. Die Kommunalverwaltungen üben somit eine Doppelfunktion aus: Sie sind eine eigene Verwaltungseinheit und eine untere staatliche Behörde. Auch die Agenda 21 hat den kommunalen Einrichtungen explizit eine Schlüsselfunktion bei Vor-Ort-Maßnahmen zugewiesen. Regensburger Heizspiegel Ein Beispiel für kommunales Nachhaltigkeitsengagement ist der Regensburger Heizspiegel. Der Heizspiegel wurde auf der Grundlage von 2.000 anonymisierten Abrechnungen erstellt. Mit den ermittelten Werten wurde eine Broschüre erarbeitet, die die Mieter in die Lage versetzt, die Plausibilität ihrer Heizkosten zu überprüfen. Sie können darüber hinaus ihre Heizkostenrechnung kostenlos überprüfen lassen. Ziel dieser Aktion ist es, die Mieter als wichtige Akteure bei der Energieeinsparung zu gewinnen. Im Rahmen der Aktion besteht auch für Regensburger Vermieter die Möglichkeit, sich mit einem kostenlosen Kurzgutachten über die Energieeinsparungsmöglichkeiten zu informieren. Für die Aktion zogen unterschiedlichste lokale Parteien an einem Strang wie z.B. die Mietervereinigung Stadt und Landkreis Regensburg, der Energieversorger REWAG, die Sparkasse Regensburg, die Verbraucherberatung der Bayerischen Hausfrauenvereinigung, der Haus- und Grundbesitzerverein Regensburg und Umgebung, die Kaminkehrer-Innung, die Mittelbayerische Zeitung sowie die Fernsehprogrammgesellschaft TVA Ostbayern. Ergo: Die Kommunen sind eine kleinteilige, aber treibende Kraft, die eine bunte Palette an Akteuren für konkrete Projekte mit Wirkung an Bord holen kann. Die Betonung liegt auf kann. Als zwei Beispiele für Initiativen auf kommunaler Ebene seien hier cittaslow und Transition Town genannt. Cittaslow begreift sich als eine internationale Vereinigung lebenswerter Städte. <?page no="159"?> 5.1 Deutsche Nachhaltigkeitspolitik 159 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Ursprung dieser slowcity-Bewegung war 1999 Orvieto, dort wurde sie von den Bürgermeistern einiger aktiver italienischer „Slow Food“-Städte ins Leben gerufen. Deutsche cittaslow-Städte sind z.B. Hersbruck, Bad Schussenried oder Waldkirch. Die sieben Kernkriterien von cittaslow umfassen: 1. Umweltpolitik: Nutzung alternativer und/ oder regenerativer Energien; Recycling-Konzept u.a. 2. Infrastrukturpolitik: behindertengerecht, Bürgernähe, Grünanlagen, Naherholungsgebiet u.a. 3. urbane Qualität: Stadtentwicklung, Denkmalpflege, Müllkonzept u.a. 4. Aufwertung der autochthonen Erzeugnisse: regionale Wochenmärkte, Pflege heimischen Brauchtums u.a. 5. Gastfreundschaft: Pflege von Städtepartnerschaften, Touristinformation, u.a. 6. (cittaslow-)Bewusstsein: PR-Arbeit für slowcity, Öffentlichkeitsarbeit u.a. 7. landschaftliche Qualität: Erhalt und Pflege der landschaftlichen Schönheit und Vielfalt u.a. Im Rahmen des cittaslow-Netzwerkes tauschen die Städte Erfahrungen aus und lernen so voneinander. Abb. 40: Säulen der Transition Town Bewegung <?page no="160"?> 160 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Im Rahmen der Transition-Town-Bewegung - zu deutsch bedeutet dies so viel wie „Stadt im Wandel“ - gestalten seit 2006 Umwelt- und Nachhaltigkeitsinitiativen in vielen Städten und Gemeinden der Welt den geplanten Übergang in eine postfossile, relokalisierte Wirtschaft. Ausgehend von der Beobachtung, dass die nationale und internationale Politik nicht entsprechend auf die Herausforderungen des Klimawandels und des bevorstehenden globalen Ölfördermaximums, Peak Oil, reagiert und daher die Kommunen von sich aus mit ersten vorbereitenden Maßnahmen auf eine Zukunft knapper werdender Roh- und Treibstoffe reagieren müssen, werden Gemeinschaftsprojekte von Transition Town initiiert. Hierzu gehören u.a. Maßnahmen zur Verbrauchsreduktion von fossilen Energieträgern sowie zur Stärkung der Regional- und Lokalwirtschaft. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Gestaltungsprinzipien der Permakultur, die es insbesondere landwirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Systemen ermöglichen sollen, ähnlich effizient und belastbar zu funktionieren wie natürliche Ökosysteme. Zu den „offiziellen“ Transition Towns gehören gegenwärtig nach eigenen Angaben über 450 Gemeinden und Städte, vor allem in der industrialisierten westlichen Welt (siehe www.transition-initiativen.de). 5.1.5 Weitere Institutionen Institutionen auf Bundesebene müssen von internationalen Einrichtungen flankiert werden. Sie bringen die notwendige Strahlkraft und Handlungsmasse für jene höhere Ebene mit. Im Bereich der Entwicklungsarbeit und der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung ist dies vor allem die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ). Seit Januar 2011 bündelt die GIZ die Kompetenzen und Erfahrungen der GTZ (Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH), des DED (Deutscher Entwicklungsdienst) und von InWEnt (Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH) und hat 17.000 MitarbeiterInnen in 130 Ländern. Die wichtigsten Auftraggeber sind neben dem BMZ, das BMU, BMBF, das Auswärtige Amt sowie Bundesländer und Kommunen, aber auch weitere öffentliche und private Auftraggeber im In- und Ausland. Der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) agiert im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als einer der führenden europäischen Personalentsender in der Entwicklungszusammenarbeit. Im Jahr 2009 arbeiteten insgesamt 2826 Mitarbeiter für den Entwicklungsdienst, davon rund 2600 in 48 Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Seit seinem Gründungsjahr 1963 haben sich über 16.000 EntwicklungshelferInnen weltweit aktiv an einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen beteiligt. Die Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH (InWEnt) ist ein weltweit tätiges Unternehmen für Personalentwicklung, Weiterbildung und Dialog mit Hauptsitz in Bonn, das seit 2002 aktiv ist. InWEnt unterstützt Menschen dabei, Veränderungsprozesse in ihren Ländern zu gestalten und qualifiziert diese, ihr <?page no="161"?> 5.2 Europäische Nachhaltigkeitspolitik 161 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Wissen weiterzugeben und langfristig Strukturen zu verändern. Nationale Auftraggeber sind die Bundesregierung, die deutsche Wirtschaft und die Bundesländer; zwei Drittel aller Programme werden im Auftrag des BMZ durchgeführt. Auftraggeber sind die Europäische Union, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, die Welthandelsorganisation und die Vereinten Nationen. Das Tempo des technischen Fortschrittes bedingt weitere Akteure im Bereich Nachhaltigkeit. Mit den technischen Herausforderungen und deren Auswirkungen, Chancen und Risiken beschäftigen sich z.B. das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemananalysen (ITAS) und das Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB). Umwelt- und Energiefragen, der Erhalt natürlicher Ressourcen - auch hierzu braucht es Spezialisten. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU, oder auch Umweltrat) wurde 1971 als Teil des Umweltprogramms eingerichtet. Als Beratungsgremium der Bundesregierung hat er den Auftrag, die Umweltsituation und -politik in der Bundesrepublik Deutschland und deren Entwicklungstendenzen darzustellen, zu begutachten und Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung aufzuzeigen. Seit 2004 erstellt er alle zwei Jahre ein Gutachten. Zusätzlich kann er Gutachten oder Stellungnahmen zu umweltpolitischen Einzelfragen nach eigener Wahl erarbeiten. Ziel dieser Arbeit ist, die Urteilsbildung bei allen umweltpolitisch verantwortlichen Instanzen und in der Öffentlichkeit zu erleichtern. Am 26.01.2011 erschien z.B. das Sondergutachten „Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung“. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) wurde 1992 von der Bundesregierung als unabhängiges Beratergremium zu Fragen des Globalen Wandels eingerichtet. Hauptaufgabe des interdisziplinär besetzten WBGU ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse aus allen Bereichen des globalen Wandels auszuwerten und aus diesen komplexen Zusammenhängen politische Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Entwicklung abzuleiten. Ein Beispiel für eine Beratungsleistung ist das 420-seitige Gutachten „Welt im Wandel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ ( QR). Der WBGU hat in erster Linie die Vermeidung von unumkehrbaren, schwerwiegenden Schäden für Mensch und Umwelt im Blick. Etwa alle zwei Jahre gibt der WBGU ein Gutachten mit Handlungs- und Forschungsempfehlungen unter dem Namen „Welt im Wandel“ heraus, hinzu kommen Sondergutachten, Politikpapiere und Factsheets. 5.2 Europäische Nachhaltigkeitspolitik Failure to reverse trends that threaten future quality of life will steeply increase the costs to society. European Heads of State and Government Europäische Nachhaltigkeitspolitik lebt vom Engagement der Nationalstaaten. Sie kann nur funktionieren, wenn ihre Ziele und Maßnahmen auf nationaler <?page no="162"?> 162 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Ebene festgeschrieben und umgesetzt werden. Die größte Aufmerksamkeit liegt dabei auf den supranationalen Regelungen der EU; ihre Programme und Verträge geben die Richtung vor, die auf Nachhaltigkeit hinwirkt ( QR). Die Vorgaben der EU werden dann Gegenstand nationaler Programme, von Nachhaltigkeitsstrategien und -plänen. Zentrale Politikfelder sind dabei Umwelt, Landwirtschaft und Energie. Die Relevanz politischer Mehrebenensysteme für die Leitbildumsetzung von Nachhaltigkeit wird wissenschaftlich immer stärker thematisiert. Da die Anzahl an Akteuren und Institutionen als auch die Komplexität an Abstimmungsprozessen zunimmt, gewinnt strategisches und vernetztes Denken und Handeln an Bedeutung. Auch die Suche nach strategischen Partnern und Allianzen mit wissenschaftlichen Einrichtungen, NGOs, Medien und Öffentlichkeit wird wichtiger. Was die EU angeht, so brachte das Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages von 1999 eine Aufwertung des Gemeinschaftsrechtes gegenüber nationalen Politiken. Durch das Bekenntnis zum Nachhaltigkeitsleitbild stieg der Stellenwert der Umweltpolitik, für die die „Querschnittsklausel“ in Artikel 6 EGV besonders bedeutsam war. Der Einfluss der EU-Umweltpolitik auf die deutsche Politik zeigt sich z.B. darin, dass Regulierungsinstrumente wie Umweltaudits oder Umweltverträglichkeitsprüfungen zum Einsatz kommen (mehr dazu im Kapitel 7). Als transnationales Politiklernen könnte bezeichnet werden, was sich gegenwärtig mit dem Aufbau europaweiter Kooperationsnetzwerke sowie zahlreicher umweltbezogener Umweltforen, -agenturen, -gremien und -räte abspielt. Lernen - kollektiv und lebenslang Lebenslanges Lernen ist ein Konzept, Menschen zu befähigen, eigenständig während ihrer gesamten Lebensspanne zu lernen. Lebenslanges Lernen setzt auf die Informationskompetenz des Einzelnen und hat deshalb Aufnahme in viele bildungspolitische Programme gefunden. „Lebenslanges Lernen hilft, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken und Ausgrenzung soweit wie möglich zu vermeiden. Im Rahmen einer Gesamtstrategie soll das Ziel verfolgt werden, die Bildungsteilhabe zu erhöhen, allen Menschen mehr Chancen zur persönlichen, ihren Begabungen entsprechenden gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklung zu ermöglichen und den Standort Europa mitzugestalten.“, so das BMBF. 54 54 BMBF (2001) Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ Berlin. <?page no="163"?> 5.2 Europäische Nachhaltigkeitspolitik 163 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der Aufbau der EU spiegelt sich in ihren wichtigsten Organen. So ist der Europarat institutionell nicht mit der Europäischen Union verbunden, spielt auf politischer Ebene in Europa jedoch eine wichtige Rolle. Die Europäische Investitionsbank fördert die Umsetzung der Umweltpolitik u.a. mit Projektfinanzierungen. Die Europäische Umweltagentur hat demgegenüber das Ziel, vergleichbare Informationen über die Umwelt an die Mitgliedstaaten zu liefern und ein Europäisches Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz zu unterhalten. Stärker auf soziale Themen ausgerichtet ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die EU benennt die wichtigsten Probleme in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie wie folgt: Begrenzung des Klimawandels und gesteigerte Nutzung sauberer Energien Umgang mit Gefahren für die öffentliche Gesundheit Mehr Verantwortung im Umgang mit natürlichen Ressourcen Verbesserung des Verkehrssystems und der Flächennutzung Um diesen Herausforderungen zu begegnen, schlägt die Kommission eine dreistufige EU-Strategie vor: [1] Ein Paket von allgemeinen Vorschlägen und Empfehlungen, um die Wirksamkeit der Politik zu verbessern. Damit soll sichergestellt werden, dass die verschiedenen Politiken sich gegenseitig stärken, statt entgegengesetzte Ziele zu verfolgen; [2] ein Paket von wichtigen Zielen und spezifischen Maßnahmen auf EU- Ebene; [3] Schritte zur Durchführung der Strategie und Überprüfung der erzielten Fortschritte. Maßnahmen, die die EU für obige Probleme empfiehlt: Internalisierung externer sozialer und ökologischer Kosten Abgemessene Diskontierung Entschuldung Faire weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen Förderung der internationalen Zusammenarbeit Resonanzfähigkeit der Gesellschaft Reflexivität der Gesellschaft Steuerungsfähigkeit Selbstorganisation Machtausgleich <?page no="164"?> 164 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 5.3 Internationale Nachhaltigkeitspolitik Ein Inder oder ein Chinese hat genau das gleiche Recht, die Atmosphäre zu nutzen, wie wir Deutschen oder die Amerikaner. Ernst Ulrich von Weizsäcker Wer sorgt dafür, dass ökologische und soziale Gerechtigkeit in globalem Maßstab eingehalten werden? Schon vor der Rio-Konferenz 1992 gab es Trippelschritte in Richtung eines gemeinsamen internationalen Vorgehens zum Schutz von Natur und Umwelt. So kann man den Beginn der Geschichte des internationalen Naturschutzes auf 1872 datieren, das Jahr, in dem durch Beschluss des amerikanischen Kongresses der Yellowstone National Park gegründet wurde. Damit wurde die weltweite Einrichtung von Nationalparks und anderer Schutzgebiete im Verlauf des 20. Jahrhunderts eingeleitet, wie auch des ersten Nationalparks Europas 1909 in Schweden. Einige der ersten internationalen Bemühungen waren folgende Veranstaltungen: 1911 Erste Int. Konferenz für Vogelschutz, Paris 1913 Erste Int. Konferenz für Naturschutz, Bern 1923 Erster Int. Kongress für Naturschutz, Paris 1925 Erster Deutscher Naturschutztag, München Internationale Politik - unter diesem Oberbegriff werden Gipfeltreffen, internationale Konferenzen und Aktivitäten international agierender Akteure verstanden. Hierzu zählen beispielsweise die jährlich stattfindenden G8-Treffen. Die Gruppe der Acht (G8), die die größten Industrienationen der Welt umfasst, bezeichnet sich selbst als „ein Abstimmungsforum, das Fragen der Weltwirtschaft im Konsens erörtert“. In der Funktion eines Regierungsgremiums diskutieren sie transnationale Themen wie globale Sicherheit, Klimawandel, Weltwirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit sowie Ernährungssicherheit. Mitglieder sind Deutschland, Japan, die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada, Frankreich, Italien und Russland. Als Wegweiser für den globalen Klimaschutz gelten auch die UN-Klimakonferenzen. Um die Vielzahl der Abkommen, Konferenzen und Bündnisse gebündelt zu erfassen, sei auf die Tabelle in Kapitel 2 verwiesen. Sie nennt die wichtigsten Meilensteine bei der Herausbildung des Nachhaltigkeitsbildes in der Weltpolitik. Wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, erschweren divergierende Interessen und Positionen eine gemeinsame Linie in der internationalen Nachhaltigkeitspolitik. Ihr Grundcharakter wird in der nachstehenden Illustration humoristisch zusammengefasst. <?page no="165"?> 5.3 Internationale Nachhaltigkeitspolitik 165 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 41: Positionen der verschiedenen Länder und Nationen zum Klimaabkommen (WBGU 2016) <?page no="166"?> 166 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 5.3.1 Die Vereinten Nationen Immer, wenn wir einen Menschen aus dem Leben in Armut erlösen, verteidigen wir Menschenrechte. Und immer wenn wir versagen, verraten wir Menschenrechte. Kofi Annan Die Vereinten Nationen (UN) sind eine komplexe internationale Organisation mit Völkerrechtscharakter, die sich aus vielen Neben- und Sonderorganisationen zusammensetzt. Sie befasst sich mit der Förderung freundschaftlicher und partnerschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen, dem Schutz und Erhalt der Menschenrechte, Friedenssicherung sowie mit Nachhaltigkeitsstrategien auf allen Ebenen. Die UN gab Anstoß zu Konferenzen im Bereich Klima-, Umwelt- und Artenschutz, deren Anzahl so unüberschaubar wie ihre Wirkung fragwürdig ist. Bei internationalen (Klima-)Konferenzen der Vereinten Nationen werden nachhaltigkeitsbezogene Ziele festgesetzt, die den Handlungsrahmen der Nationalstaaten vorgeben. Von zweifellos eminenter Bedeutung ist der Weltklimarat bzw. das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Er wurde 1988 vom UN-Umweltprogramm (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) ins Leben gerufen. Seitdem erstellen Arbeitsgruppen Berichte zur aktuellen Klimaforschung als Grundlage internationaler Klimaverhandlungen. Im Verbund des IPCC tragen 2500 Forscher über die Erde verteilt Studien, Daten und Erkenntnisse zum Klimawandel zusammen und geben diese in aggregierter Form wieder. Die wichtigsten Ergebnisse des IPCC sind die Untersuchungsberichte zum Stand der Klimaentwicklung der Erde, die sogenannten Sachstandsberichte bzw. Assessment Reports. Weltweiten Ruhm erlangte 2007 der 4. Sachstandsbericht ( QR). Erstmals erläutert er Ursachen, Ausmaß und regionale Folgen der Klimaerwärmung. Anthropogene, also vom Menschen verursachte Treibhausgasemissionen stellen demnach die wesentliche Ursache des Treibhauseffektes dar. Für die wissenschaftlich fundierte Erhärtung bisheriger Annahmen erhielt der Weltklimarat zusammen mit dem ehemaligen US-Präsidentschaftskanditaten Al Gore 2007 den Friedensnobelpreis. In der Begründung heißt es, der Preis ginge an sie „für ihre Bemühungen, tieferes Verständnis des menschengemachten Klimawandels zu schaffen und zu verbreiten, sowie für die Grundlagenforschung zu notwendigen Maßnahmen, um diesem Klimawandel entgegenzuwirken.“ 55 Die UN initiierten mehr Projekte und Programme zur Förderung nachhaltiger Entwicklung als sich hier anführen lassen; hier eine Auswahl der wichtigsten: 55 www.nobelprize.org/ nobel_prizes/ peace/ laureates/ 2007/ index.html; oder: Nobelprize.org (2007) Zugriff am 20.12.2011 <?page no="167"?> 5.3 Internationale Nachhaltigkeitspolitik 167 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit UNEP - Umweltprogramm der Vereinten Nationen: Die Gründung des UNEP wurde auf der Stockholm-Konferenz 1972 beschlossen und hat ihren Sitz in Nairobi/ Kenia. Nach seinem Selbstverständnis ist das Programm die „Stimme der Umwelt“ bei den UN. Die UNEP wirkt als Auslöser, Anwalt, Lehrer und Vermittler für den schonenden Umgang mit der Umwelt und für eine nachhaltige Entwicklung. Sie arbeitet mit verschiedenen Partnern zusammen, darunter andere UN-Organisationen und andere internationale Organisationen, Regierungen, NGOs, Unternehmen und mit der Zivilgesellschaft. UNDP - United Nations Development Programme: Exekutivausschuss innerhalb der UN-Generalversammlung. Um die Millennium-Ziele zu erreichen und die globale Entwicklung voranzutreiben, konzentriert sich das UNDP auf die Armutsbekämpfung, HIV/ AIDS, Demokratische Regierungsführung, Energie und Umwelt sowie Krisenprävention. Querschnittsaufgaben in allen Programmen sind dabei der Schutz der Menschenrechte sowie die Gleichbehandlung von Frauen. Global Compact: Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 1999 beschlossen, um die Grundsätze bei Menschenrechten, Arbeitsstandards, Umweltschutz und Antikorruption als Minimalstandard zu verankern und auch weltweit voranzutreiben. GEF - Global Environment Facility bzw. „Globale Umwelteinrichtung“: Die GEF ist ein internationaler Mechanismus zur Finanzierung von Umweltschutzprojekten in Entwicklungsländern. Schwerpunkte der Projekte sind Klimaschutz, Artenvielfalt, Gewässerschutz, Ozonschicht, Desertifikation bzw. Landdegradation sowie Chemikaliensicherheit. UNU - United Nations University: Auch Weltuniversität genannt, ist sie ein Nebenorgan der Vereinten Nationen. Sie wurde 1973 mit dem Ziel gegründet, Zukunftsfragen der Menschheit in allen Lebensbereichen auf konzentrierter wissenschaftlicher Basis zu erarbeiten. UN-Millenniumsentwicklungsziele: im Folgenden dargestellt. Die UNO ist aber auch Gegenstand der Kritik. Der Journalist Andreas Zumach bezweifelt Nutzen und Zweck der UNO in seinem 2015 erschienenen Buch „Globales Chaos - machtlose UNO. Ist die Weltorganisation überflüssig geworden? “ Nach dem Zweiten Weltkrieg war mit der UNO vor allem die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung verbunden, durch viele bewaffnete Konflikte sei diese Erwartung allerdings enttäuscht worden. Ob in Syrien, in der Ukraine, im Irak, Gazastreifen oder im „Krieg gegen den Terrorismus“: Bei allen diesen Gewaltkonflikten habe die UNO kaum mehr eine politische Rolle bei den Bemühungen, diese Konflikte zu beschließen und ihre Ursachen zu überwinden. Vielmehr hat es den Eindruck, die Weltorganisation werde von ihren Mitgliedsstaaten reduziert auf die Rolle des humanitären Nothelfers für die Opfer dieser Konflikte. Und selbst für diese humanitären Aufgaben erhalte die UNO von ihren Mitgliedern nicht mehr genügend Geld. <?page no="168"?> 168 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit In der Konsequenz drängt sich damit die Frage auf, ob die UNO noch genügend Akzeptanz, Macht und damit Handlungsgewalt hat, um globale Nachhaltigkeitsziele wie auch die Millenniums-Entwicklungsziele zu erreichen. 5.3.2 UN-Millenniums-Entwicklungsziele Die Weltlandwirtschaft könnte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren. Das heißt, ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet. Jean Ziegler Die UN-Millenniumsentwicklungsziele - auch Millennium Development Goals bzw. MDGs - umfassen acht Ziele von globaler Bedeutung. Auf dem Millenniumgipfel im Jahr 2000 haben die Vereinten Nationen in New York vor dem Hintergrund weiter zunehmender Verelendung in zahlreichen Entwicklungsländern, der anhaltenden Benachteiligung von Frauen in vielen Staaten und der zunehmenden Umweltzerstörung acht Millenniumziele beschlossen. Diese Ziele sollen bis zum Jahr 2015 erreicht werden, stellen jedoch eine Jahrhundertaufgabe dar, was sich daran ablesen lässt, dass sie bislang bei Weitem nicht erreicht sind. Sie werden nachfolgend angeführt, weil sie Nachhaltigkeitsziele anhand von Zahlen greifbar machen. Bekämpfung von extremer Armut und Hunger * 2005 lebten ca. 1,4 Mio. Menschen von weniger als 1,25 USD pro Tag. * Jedes Jahr sterben ca. 10 Mio. Menschen an Hunger oder an Krankheiten, die durch Hunger hervorgerufen werden. * Durch steigende Lebensmittelpreise besteht die Gefahr, dass 100 Mio. Menschen tiefer in Armut geraten. * Es sind weniger Kinder unter fünf Jahren unterernährt: Während die Prozentzahl 1990 bei 33 % lag, waren es im Jahr 2006 26 %. Primärschulbildung für alle * 75 Mio. Kinder haben keine Schulbildung: 34 Mio. Jungen und 41 Mio. Mädchen. * Rund 90 % der Kinder in Entwicklungsländern gehen zur Primärschule und 54 % besuchen die Sekundarstufe. Stärkung der Rolle der Frau * Trotz besserer Zugangsmöglichkeiten zur Erwerbsarbeit als je zuvor verdienen Frauen im Schnitt ein Drittel weniger als Männer. * 2008 lag der Frauenanteil bei der Belegung von Parlamentssitzen bei 18 % weltweit. Senkung der Kindersterblichkeit * Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren in Entwicklungsländern ist 13 Mal höher als bei Kindern, die in Industrieländern geboren werden. <?page no="169"?> 5.3 Internationale Nachhaltigkeitspolitik 169 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern * In Entwicklungsländern sterben jährlich mehr als 500.000 Frauen während der Schwangerschaft oder an den Folgen einer Geburt. Bekämpfung von HIV/ AIDS, Malaria etc. * Im Jahr 2007 lebten ca. 33 Mio. Menschen mit HIV. * Jährlich infizieren sich 350 - 500 Mio. Kinder mit Malaria, davon sterben jährlich ungefähr 1 Million. Ökologische Nachhaltigkeit * Rund eine Milliarde Menschen weltweit wohnen in Slums. * 2,5 Mrd. Menschen leben ohne adäquate sanitäre Einrichtungen. * Bei einem Energieverbrauch von Menschen in Entwicklungsländern gemäß jener in Industrieländern, bräuchte es bis zu neun weitere Planeten, um die Emissionen zu absorbieren. Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung * Die Ausgaben für Agrarsubventionen der entwickelten Länder sind drei Mal so hoch wie ihre finanziellen Zuwendungen zur Entwicklungszusammenarbeit. * Aktuell sind rund 40 arme Länder stark verschuldet. Tabelle 20: UN-Millenniumsentwicklungsziele Der Rat für nachhaltige Entwicklung veröffentlichte am 12.09.2008 auf seiner Homepage folgende Stellungnahme: „Trotz einiger Fortschritte hinkt die internationale Gemeinschaft den Zielen der Millenniumerklärung weit hinterher. Handelshemmnisse erschweren den Entwicklungsländern den Zugang zu Absatzmärkten, verschärft wird die Lage durch die weltweiten Krisen der Nahrungsmittel- und Finanzmärkte. Zugleich waren die Entwicklungshilfezahlungen der Geberländer zuletzt rückläufig.“ Basierend auf Zahlen der Weltbank stieg die Verschuldung von Entwicklungsländern von ca. 1.300 Milliarden USD 1990 auf 2.500 Milliarden USD im Jahr 2004. Ein abschließender Blick auf Deutschlands Position lässt Zweifel an der Durchsetzungskraft einer nachhaltigkeitsorientierten Weltpolitik, vor allem hinsichtlich des Entwicklungshilfeaspektes, aufkommen. So verkündete FDP- Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel am 18.11.2009 in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst, dass der EU-Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe vorerst von deutscher Seite nicht unterstützt wird. Die Bundesregierung erhöht also nicht wie vor 40 Jahren versprochen ihren Anteil an Entwicklungshilfe von 0,7 % auf 0,72 % trotz eines Anstieges des BSP in diesem Zeitraum um 60 %. <?page no="170"?> 170 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Eine institutionelle Transformation der Politik ist Voraussetzung für den künftigen Erfolg von Nachhaltigkeit, hieß es zu Beginn des Kapitels. Entstehen indessen neue Regelungsformen in der Nachhaltigkeitspolitik? Knopf et al. schreiben: „Der mit nachhaltiger Entwicklung verbundene Bereich ist zu einem vielfältigen Experimentierfeld für neue Governance-Mechanismen geworden. Neue Beteiligungsverfahren, neue Formen der interministeriellen Zusammenarbeit, neue Politikinstrumente oder die Entwicklung und Institutionalisierung von wissensbasierten Entscheidungsprozessen sollen dazu beitragen, die Relevanz von Nachhaltigkeitspolitik in Regierung, Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken.“ 56 Ihnen zufolge umfassen Nachhaltigkeitsstrategien auch prozedurale Elemente, die auf kontinuierliches Lernen abzielen. Anforderungen, die an die Ausgestaltung einer politischen Nachhaltigkeitsstrategie zu stellen sind, umfassen dabei idealtypisch Ziele, die Zuweisung von Verantwortlichkeiten, Umsetzungsschritte und Ressourcen, Monitoring und Evaluierung sowie Mechanismen zur Förderung der Politikintegration. Das Konzept der Politikintegration ist ein wichtiger Ansatz zur Forcierung nachhaltiger Entwicklung und umfasst den Autoren um Knopf zufolge folgende vier Aspekte: [1] Ein übergeordnetes Ziel ist die Integration von kurz- und langfristigen Zielen. Nachhaltigkeitsstrategien bilden einen Rahmen, um die Interessen heutiger und künftiger Generationen in Einklang zu bringen. Ergänzend erfolgt eine Koordination und Abstimmung zwischen den staatlichen Einheiten. [2] Dies beinhaltet die Integration unterschiedlicher Ressortpolitiken (horizontale Integration) sowie [3] verschiedener Jurisdiktionen (vertikale Integration). [4] Schließlich sollen Nachhaltigkeitsstrategien die Integration nichtstaatlicher Akteure in politische Entscheidungsprozesse fördern. Brand empfiehlt, dass neue, am Leitbild Nachhaltigkeit orientierte Strategien und Verfahren einige Merkmale aufweisen sollten, um Stabilität und institutionellen Charakter zu erlangen. 57 Zu diesen zählen, dass sie einen klaren Problembezug haben, Sinnstiftung und Handlungsorientierung bieten müssen, in Alltags- und Routinepraktiken eingebettet sind, neuer, breiter Akteursallianzen bedürfen und über normierende und sanktionierende Kraft verfügen müssen. 56 Knopf, J. et al. (2011), S. 20 ff. 57 Brand (2002), S. 68 f. <?page no="171"?> 5.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft 171 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der letzte Punkt verweist auf den Aspekt Nachhaltigkeit und Recht, auf den in Kapitel 7 eingegangen wird. Global Governance Unter dem Begriff Global Governance werden Konzepte für eine neue globale Strukturpolitik diskutiert. Global Governance ( QR) ist weniger mit Weltregierung denn mit Weltordnungspolitik gleichzusetzen. Der Hintergrund: Die Zunahme internationaler Institutionen in den letzten Jahrzehnten hat zu einer neuen Qualität internationaler Beziehungen geführt, die über das traditionelle Verständnis zwischenstaatlicher Politik hinausgeht. Unter dem Eindruck schwindender Einflussmöglichkeiten auf nationaler Ebene soll im Zeichen der Globalisierung auch globales Regieren in den Vordergrund treten; Nationalstaaten werden nicht ersetzt, sondern zu einem Koordinierungsstaat transformiert. Zentrale Gestaltungskriterien sind dabei eine Multi-Ebenen- Vernetzung, flexible Steuerung und Subsidiarität. 5.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft Unsere Gesellschaft muss viel stärker über die Wertorientierung unserer Lebensstile und über den Wert öffentlicher Dinge reden. Hans Geisler Zivilbzw. bürgerschaftliches Engagement hat eine eigene Handlungslogik. Und zwar eine, die das Thema Nachhaltigkeit maßgeblich mitträgt. Eigene Interessen werden mit jenen in der Öffentlichkeit abgewogen. Sozialkapital wird in Form von gesellschaftlichem Vertrauen, Demokratiefähigkeit, Normen der Gegenseitigkeit oder Netzwerken geschaffen. Dabei vereint es unterschiedlichste Formen im Bereich von Nachhaltigkeit: soziale wie die Anti-AKW-Bewegung oder Attac, Verbände wie BUND und Greenpeace oder Umwelt- und Sozialinitiativen und Lokale-Agenda-21-Gruppen. „In bürgerschaftlichem Engagement sind die Bürgerinnen und Bürger Expertinnen und Experten ihres eigenen Lebensalltages. Das Engagement gestaltet sich als offener gesellschaftlicher Lernprozess.“ 58 Die Zivilgesellschaft befindet sich in einer vorstaatlichen oder nichtstaatlichen Handlungssphäre und besteht aus einer Vielzahl pluraler, auf freiwilliger Basis gegründeter Organisationen und Assoziationen, die ihre spezifischen Interessen 58 Brand (2002), S. 134. Siehe auch Dürr, H.-P. (2000) Für eine zivile Gesellschaft. Beiträge zu unserer Zukunftsfähigkeit. dtv München. <?page no="172"?> 172 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit autonom organisieren. Im Zwischenbereich von Privatsphäre und Staat angesiedelt umfasst sie Akteure aus den Bereichen Gewerkschaften, Jugend, Kirchen, Stiftungen, Forschungsinstitute, Verbände und Netzwerke. Diese sind in die Politik involviert, ohne nach staatlichen Ämtern zu streben. Ihre Prinzipien sind Toleranz, Fairness und die Anerkennung Anderer. Eine Würdigung haben einzelne Mitglieder der Gesellschaft für ihr Nachhaltigkeitsengagement durch den Alternativen Nobelpreis bekommen. Themen gelangen so an das Licht der Öffentlichkeit, die bislang unbeachtet blieben. Alternativer Nobelpreis - Würdigung der stillen Helden Der Right Livelihood Award (RLA, „Preis für die richtige Lebensweise“), auch als Alternativer Nobelpreis bekannt, ist eine Auszeichnung „für die Gestaltung einer besseren Welt“. Er wird jährlich von der Stiftung Right Livelihood Award Foundation vergeben und durch Spenden finanziert. Er ehrt Menschen und Initiativen, die Lösungen für die dringendsten Probleme unserer Zeit finden und erfolgreich umsetzen. „Die Preisträger sollten die eigentlichen Stars unserer Zeit sein, doch stattdessen wird ihre Arbeit oft bekämpft, belächelt oder ignoriert.“, so die Stiftung. Dabei kennt der Preis keine strengen Kategorien, häufig beziehen sich die Verdienste auf die Bereiche Umwelt, Frieden, Abrüstung, Menschenrechte, Entwicklung, Kultur und Spiritualität, indigene Völker, Verbraucherschutz, Bildung, Gesundheit, Energie oder Ressourcenschonung. Deutsche Preisträger sind Hans-Peter Dürr, Monika Hauser, Petra Kelly, Hermann Scheer und Michael Succow. Mischen zivil-kollaborative Akteure künftig stärker im politischen Spiel mit? Gemäß jener, die eine solche Entwicklung vor allem anhand der Lokalen- Agenda-21-Prozesse sehen, ja. Denn hier geht es um eine systematisch auf Kooperation und Vernetzung angelegte Form politischer Mitsprache, die Elemente zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation ebenso umfasst wie von Protestgruppen und von NGOs betriebene Kampagnenpolitik. „Am ehesten lässt sich die Lokale Agenda 21 somit als mobilisierendes Netzwerk begreifen, das mittels breiter Partizipation, kommunikativer Vernetzung und dialogisch-kooperativer Verfahren lokale Nachhaltigkeit zu fördern versucht, zu diesem Zweck aber der Legitimation und Unterstützung in formellen Politikstrukturen und -verfahren (z.B. durch Stadtrat oder Verwaltungsspitze) bedarf.“ 59 59 Brand (2002), S. 58. Siehe auch Brunold, A. (2004) Globales Lernen und Lokale Agenda 21: Aspekte kommunaler Bildungsprozesse in der „Einen Welt“. VS Verlag Wiesbaden. <?page no="173"?> 5.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft 173 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Gleichwohl kann zivilgesellschaftliches Engagement, laut Brand, allein genommen nur abmildern, nicht aber prinzipiell ändern. So wird z.B. die CO 2 - Reduktion durch Car-Sharing-Projekte oder den Ausbau von Radwegenetzen sowie verstärkte Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch die Zunahme von Flügen, Fahrzeugen und industrieller Produktion im Handumdrehen zunichte gemacht. Bürgerschaftliches Engagement ist für eine nachhaltige Entwicklung notwendig, aber nicht hinreichend. Hinzukommen müssen Bemühungen, freiwillig wie rechtlich verbindlich, auf diversen Ebenen, in sämtlichen Bereichen. 5.4.1 NGOs: Mächtige Zwerge, umstrittene Riesen Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein! Kurt Tucholsky Nichtstaatliche Organisationen, kurz NGOs, sind Speerspitzen der Nachhaltigkeit. Unternehmen streben nach Profit, Parteien nach Macht, die Wissenschaft will Deutungshoheit. NGOs richten ihren Blick auf gesellschaftliche Schieflagen. Non-Governmental Organisations (NGO) bzw. Nichtregierungsorganisationen (NRO) sind nicht-gewinnorientierte und auf freiwilliger Arbeit basierende Organisationen (bzw. Interessensverbände) von Bürgern, die sowohl lokal als auch national oder international organisiert und tätig sein können. Auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet und von Leuten mit einem gemeinsamen Interesse gegründet, versuchen NGOs, eine Vielfalt von Leistungen und humanitären Funktionen wahrzunehmen, Bürgeranliegen bei Regierungen vorzubringen, die politische Landschaft zu beobachten und das politische Engagement in der Bevölkerung zu wecken. Sie stellen Analysen und Sachverstand zur Verfügung, dienen als Frühwarnmechanismus und helfen, internationale Übereinkünfte zu beobachten und umzusetzen. NGOs sind für bestimmte Aufgaben gegründet wie z.B. Umwelt- und Sozialstandards, Menschenrechte, Entwicklungspolitik, Bildung oder Gesundheit. Wird der Begriff NGO breiter gefasst, dann werden alle privaten Akteure und Interessengruppen, also internationale Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Verbände von wissenschaftlichen Einrichtungen, Wohlfahrtsverbände, Hilfsorganisationen, Stiftungen, Kirchen, Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen dazu gezählt. Gemäß Artikel 71 der Charta der Vereinten Nationen können NGOs Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen erwirken, wenn sie die Kriterien der Economic and Social Council Resolution 1996/ 31 erfüllen. 60 60 Im Englischen werden auch Begriffe verwendet wie independent sector, volunteer sector, civic society, grassroots organizations respektive transnational social movement organizations, private voluntary organizations, self-help organizations, häufig auch non-state actors <?page no="174"?> 174 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die ersten Vorläufer von NGOs finden sich im 19. Jahrhundert. 1839 wurde die erste Menschenrechtsorganisation, die Anti-Sklaverei-Gesellschaft, gegründet. Mit dem Roten Kreuz gründete sich 1863 die erste humanitäre Organisation der Welt. Insbesondere die Rio-Konferenz führte zu einer neuen Akzeptanz von NGOs. Parallel zu ihrer steigenden Bedeutung durch Mitarbeit, Expertise und Lobbytätigkeit erhöhte sich die Anzahl der NGOs bis 2007 kontinuierlich auf rund 7.600. Eine Auswahl davon findet sich im „The Top 100 Best NGOs“ von The Global Journal ( QR). Abb. 42: NGOs 1909-2007 (Union of International Associations, Bundeszentrale für politische Bildung) Heute sind die NGOs ein fester Bestandteil aller Global Governance Ansätze. Sie sollen das Gewicht der Zivilgesellschaft auf globaler Ebene erhöhen und Themen wie Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte zur Sprache bringen. Die Rolle von NGOs ist in der Agenda 21 unter Punkt 27 beschrieben: „Nichtstaatliche Organisationen spielen eine entscheidende Rolle bei der Ausformung und Umsetzung einer teilhabenden Demokratie. Ihre Glaubwürdigkeit ist durch die verantwortliche und konstruktive Rolle begründet, die sie in der Gesellschaft (NSAs). Im Deutschen wird teils auch vom Dritten Sektor gesprochen. Dieser Begriff geht auf den US-amerikanischen Soziologen Amitai Etzioni zurück. Siehe Etzioni, Amitai (1968) The Active Society: A Theory of Societal and Political Processes. Free Press. New York; (2011) Vom Empire zur Gemeinschaft: Ein neuer Entwurf der internationalen Beziehungen. Fischer Frankfurt/ M. <?page no="175"?> 5.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft 175 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit spielen.“ (Kapitel 27.1). Sie „verfügen über fundierte und vielfältige Erfahrungen, Fachkenntnisse und Fähigkeiten in Bereichen, die von besonderer Bedeutung für die Umsetzung und Überprüfung einer umweltverträglichen und sozial ausgewogenen nachhaltigen Entwicklung sind, wie sie in der gesamten Agenda 21 angestrebt wird“ (Kapitel 27.3). Dass NGOs die Themensetzung von Dokumenten wie der Agenda 21 beeinflussen, lässt sich auch an den dort berücksichtigten Anliegen ablesen: Umwelt- und Klimaschutz, Schutz der Regenwälder, Arbeitsschutz und Kinderarbeit, Frauen und Gleichberechtigung, Entwicklungszusammenarbeit, Dritte-Welt- Problematik sowie in ihrer Existenz bedrohte oder benachteiligte bzw. indigene Völker. Für das Thema Nachhaltigkeit sind NGOs von besonderer Bedeutung, weil sich Nachhaltigkeit als Gerechtigkeitsprinzip per definitionem für „die Schwachen“, das Unbeachtete, das zu Schützende und Erhaltende einsetzt. Während die Politik dabei eine am stärksten langfristig ausgerichtete Perspektive verfolgt, zielen Unternehmen vor allem auf Innovations- und Wertschöpfungspotenziale; Netzwerke wiederum verfolgen Nachhaltigkeit eher unter der Sicht von Wissensvermittlung und -austausch; NGOs begreifen Nachhaltigkeit demgegenüber als einen grundlegenden, existenzsichernden und gesellschaftsrelevanten Imperativ. Welche NGOs haben es geschafft, sich auf internationalem Parkett Gehör zu verschaffen? Eine Auswahl nennt folgende Tabelle: Aktion Mensch Greenpeace Pro Natura Amnesty International Health and Environment Alliance Rainforest Alliance Ärzte ohne Grenzen Human Rights Watch Save the Children International Brot für die Welt Interpeace SOS Kinderdörfer CARE International Klima-Bündnis der europäischen Städte TED Campact Manager ohne Grenzen Terre des Hommes Friends of the Earth Misereor Transparency International GfbV - Gesellschaft für bedrohte Völker Oxfam Wikimedia Foundation Global Footprint Network PETA World Vision Tabelle 21: Nachhaltigkeitsrelevante NGOs <?page no="176"?> 176 5 Nachhaltigkeit in der Politik http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Im Zuge der Globalisierung organisieren sich NGOs heute stärker grenzüberschreitend und nehmen zunehmend erfolgreich Einfluss auf die Politikgestaltung. Als aktuelle Beispiele seien hier ACTA oder das Thema Atomausstieg genannt. Die Mobilisierung tausender Unterzeichner via Online-Petitionen erlaubt Zivilisten, sich im basisdemokratischen Sinne schneller, leichter und besser zu organisieren. Ein kurz vor der Absegnung stehendes Gesetz kann so kippen. Auf das Thema Nachhaltigkeit hin besehen, fördern NGOs die Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft. Es vollzieht sich, was 40 Jahre zuvor mit „Eine Welt“-Bewusstsein bezeichnet wurde. 61 Auf Konferenzen treten NGOs deshalb immer selbstbewusster auf. So reichten NGOs auf der Rio-Konferenz insgesamt 46 alternative Vertragsentwürfe, allesamt dokumentiert, ein; im Vorfeld der Rio-Folgekonferenz in Johannesburg 2002 schlossen sich die NGOs BUND, NABU, terre des hommes und WWF für die Kampagne „Globale Gerechtigkeit ökologisch gestalten“ zusammen. Ihre Finanzierung sichern NGOs durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Erlöse aus dem Verkauf von Waren und Dienstleistungen - aber auch durch staatliche Zuwendungen. Anders als der Begriff nahelegt, hängen NGOs auch von Fördermitteln ab, um ihre dauerhafte Existenz und damit das Fortführen von Themen sicherzustellen. Während einige große NGOs Jahresbudgets in Millionenhöhe haben, begnügt sich das Gros mit deutlich bescheideneren Etats. Aufgrund begrenzter finanzieller Ressourcen werden sie denn auch als Arbeitgeber häufig übersehen. Gleichwohl bieten NGOs ein Arbeitsumfeld, das als bereichernd ob des Engagements für Anliegen mit Sinn, Ziel und Gehalt empfunden wird. Im Gegenzug wird NGOs vorgeworfen, sie nähmen für sich in Anspruch, allgemeine und universelle Gesellschaftsinteressen zu vertreten, und reklamierten diese Gestaltungsmacht - jedoch ohne demokratische Legitimation. Selbst die NGOs, die sich auf globaler Ebene für mehr Demokratie einsetzten, seien nicht gewählt - und damit nicht ermächtigt, im Namen des Volkes zu agieren. Entgegenzuhalten wäre, dass auch transnationale Politik bislang nicht öffentlich legitimiert ist. Positiv besehen, finden sich in NGOs „Sparringpartner“, die mehr Interessenausgleich bewirken. Ein weiterer Vorwurf lautet, NGOs seien selbst teils undemokratisch strukturiert und ihre Spendenabhängigkeit könne in Widerspruch zu ihrer Glaubwürdigkeit stehen. Letzteres würde auch durch eine einseitige Kommunikation wissenschaftlicher Fakten und Erkenntnisse verstärkt. Der Hauptvorwurf unter Ökonomen aber dürfte sein, dass NGOs zu wenig wirtschaftlich denken, lenken und argumentieren. Im Kontext von Nachhaltigkeit ist die Relativierung materiellen Nutzenkalküls aber ein Wesens- 61 Die Bedeutung von NGOs beschreiben Brunnengräber et al. in ihrem Band mit dem sinnfälligen Titel „NGOs im Prozess der Globalisierung: Mächtige Zwerge - umstrittene Riesen. Bürgergesellschaft und Demokratie“. <?page no="177"?> 5.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft 177 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit zug, der die gewünschte Integration und Ganzheitlichkeit ökonomischer, ökologischer und sozialer Interessen befördert und einen wichtigen Kontrapunkt im globalen Konzert der Wachstumsgetriebenheit setzt. Zusammengefasst sind NGOs wichtige Vertreter zivilgesellschaftlicher Interessen und leisten einen wertvollen Beitrag zur Demokratisierung internationaler Politik. Auch wenn die NGOs demokratisch legitimierte Institutionen und Personen nicht ersetzen können und sie im Vergleich zu Nationalstaaten und Multinationalen Unternehmen eine geringere „Investitionsmacht“ haben, sind sie ein bedeutender Bestandteil der bestehenden Global Governance-Ansätze und für eine Nachhaltigkeitsbewegung systemrelevant. Fazit - Steuerung des schwer Steuerbaren Die Steuerung und Legitimation einer Politik für Nachhaltigkeit steht vor zwei Problemen: zum einen die grundlegende Steuerungsproblematik moderner Demokratien, zum anderen der Mangel an politischem Interesse und Partizipation; beide sind Voraussetzungen für Lösungen wie z.B. die Lokale Agenda 21 als neuen Politiktypus oder institutionelle Reformen. Zu Ersterem ist zu sagen: die traditionelle Vorstellung des Staates als zentraler Steuerungsinstanz wurde abgelöst. An die Stelle nationalstaatlicher Souveränität tritt eine funktional hochgradig untergliederte Gesellschaft, ein Akteurs- und Interessengeflecht, in das die europäische Mehrebenenpolitik, wirtschaftliche Globalisierungsprozesse und weltweit internetgestützte Kommunikation hineinspielen. Statt hierarchisch reguliert wird zunehmend horizontal und interaktiv verhandelt. Die Politik wächst dabei in die Rolle des Moderators, sei es bei der Einführung von Dosenpfand, Energiesparlampen, Ökosteuer, Antidiskriminierungsgesetz oder der Gesundheits- oder Bildungsreform. Damit werden traditionelle politische Kategorien und Denkmuster zugunsten einer stärkeren Dialog- und Kooperationsfähigkeit aufgeweicht. An die Stelle nationaler Gewissheiten tritt das Bewusstsein, Weltbürger mit zumindest digital zu bewerkstelligender Mitsprache zu sein. 62 62 Campact ist eine 2004 entstandene gemeinnützige Nichtregierungsorganisation und bietet ein internetbasiertes Beteiligungsforum, mit dem Protest-E-Mails oder -Anrufe nicht gebündelt in Form von Online-Petitionen an politische Entscheidungsträger gerichtet werden. Laut Eigenbeschreibung entsteht mit Campact „im Internet ein Netzwerk von Menschen, die sich einmischen, wenn politische Entscheidungen auf der Kippe stehen.“ Campact ermöglicht politisch Interessierten unkompliziert und effektiv politisch aktiv zu werden. <?page no="178"?> 178 5 Nachhaltigkeit in der Politik Literatur Bechmann, A.; Steitz, M.(2016) Evolutionäre Nachhaltigkeitspolitik: Leitbildwandel durch paradigmatische Neuorientierung. BoD. Brand, K.-W. (2002) Politik der Nachhaltigkeit. Sigma Berlin. Brunnengräber, A. et al. (2005) NGOs im Prozess der Globalisierung: Mächtige Zwerge - umstrittene Riesen. Bürgergesellschaft und Demokratie. Verlag für Sozialwissenschaften. Bundesregierung (2017) Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie - Neuauflage 2016. Berlin. Dobson, A. (2016) Environmental Politics: A Very Short Introduction. Oxford University Press. Dürr, H.-P. (2000) Für eine zivile Gesellschaft. Beiträge zu unserer Zukunftsfähigkeit. dtv München. Etzioni, A. (1968) The Active Society: A Theory of Societal and Political Processes. Free Press. New York. Etzioni, A. (2011) Vom Empire zur Gemeinschaft: Ein neuer Entwurf der internationalen Beziehungen. Fischer Frankfurt/ M. Knopf, J. et al. (2011) Nachhaltigkeitsstrategien in Politik und Wirtschaft. Treiber für Innovation und Kooperation. oekom München. Kopfmüller, J. et al. (2001) Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. edition sigma Berlin. Müller, H. (2008) Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik. Fischer Frankfurt. Schreiber, D. (2005) Netzwerklernen und Kreislaufwirtschaft. Nachhaltige Entwicklung im lernenden System. oekom München. <?page no="179"?> 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen <?page no="180"?> 180 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Wenn ich in einem Unternehmen mit Nachhaltigkeitsbezug arbeiten will, wie kann ich mir das vorstellen? Welche Aufgaben kommen auf mich als Nachhaltigkeitsverantwortlicher zu? Was mache ich, wenn ich Nachhaltigkeit umsetzen will? Maßnahmen Übersicht über Bausteine, Bereiche, Ebenen, Funktionen, Sphären, Maßnahmen, Werkzeuge, Instrumente; Kennzahlen, Sustainability Balanced Score Card, Strategiemodelle und -prinzipien, Projektmanagement-Tools, Schaubilder, Matrizes, Flussdiagramme, Tabellen, Beispiele. Ergebnisse Studierende bewegen sich sicher im betrieblichen Umfeld hinsichtlich der praktischen Umsetzung von Nachhaltigkeit z.B. in Sachen Organisation, Management etc.; sie sind mit einer klaren Vorgehensweise für die praktische Umsetzung von Nachhaltigkeit vertraut. Die Wirtschaft muss beim Thema Nachhaltigkeit vorangehen - technische Innovationen und gesellschaftliche Verantwortung sind gleichberechtigte Schlüssel für unternehmerischen Erfolg. Eric Schweitzer Globalisierung, Wirtschaftskrise, Finanzkrise. Gesetzesverschärfungen, Fachkräftemangel, verändertes Konsum- und Nachfrageverhalten. Ressourcenverknappung, Klimawandel, Arm-Reich-Kluft - diese Aspekte zwingen Unternehmen zum Umdenken. Tun sie es nicht, werden sie mit den Kosten des Nichthandelns konfrontiert. Denn jegliches Wirtschaften geschieht in einem sozioökologisch-ökonomischen System. Nur innerhalb dieses Systems ist es Unternehmen möglich, erfolgreich zu sein. <?page no="181"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 43: Bedeutungsentwicklung von Nachhaltigkeit für Unternehmen (in Anlehnung an E&Y (2009)) Deshalb stößt Nachhaltigkeit in Firmen auf mehr Gehör. Es hat sich vom lästigen Öko-Thema zum potenziellen Erfolgsrezept entwickelt. Unternehmen erhoffen sich einen Innovationsschub, weil das Thema Nachhaltigkeit, neu auf der Agenda, zu altem Wein in neuen Schläuchen (wie Ulrich Merkes in der Einleitung zitiert wurde) anregt, aber auch zu neuem Wein. Einige Firmen haben Nachhaltigkeit zum Geschäftsmodell gemacht. Dennoch sieht das Gros der Unternehmen darin noch immer primär den Nutzen für die eigene Überlebensfähigkeit, und denkt weniger an die Überlebensfähigkeit der globalen Weltgemeinschaft. Es bedarf der Erkenntnisfortschritte - und deren ernsthafter Umsetzung. Das Schaubild oben veranschaulicht, welche Karriere im Sinne von Relevanz, Stellenwert und Bedeutungszunahme das Leitbild der Nachhaltigkeit durchlaufen hat. Es zeigt, wie es von einem wichtigen, zu einem entscheidenden, dann dringenden und schließlich notwendigen Thema avancierte, dass die Anzahl der Stakeholder sich erhöht hat und dass die treibenden Kräfte dahinter sich von reinen Kostenfaktoren hin zu Wert-, Risiko- und Reputationsgründen entwickelt haben. Die Veränderungslinie verläuft dabei, über die letzten vier Jahrzehnte gesehen, von der anfänglichen Motivation der Kosteneinsparung (in der Nachhaltigkeit als ein wichtiges Thema angesehen wurde) über eine Phase der Bedeutungszunahme (in der sich das Thema etablierte und als entscheidend gesehen wurde als Werttreiber, als ein Weg zur Steuereinsparung oder zur Returnon-Investment-Steigerung) bis zu einem Punkt ab der Jahrtausendwende, wo Nachhaltigkeit nicht länger als reines Kosten- oder Wertthema, sondern schon als Risiko - falls nicht betrieben - gesehen wird. Transparenz, Korruption, Compliance sind die treibenden Kräfte hinter dem Bekenntnis zu Corporate Governance; heute ist Nachhaltigkeit auch bei Unternehmen noch nicht gänz- <?page no="182"?> 182 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit lich, aber mehrheitlich aus der „Öko-Ecke“ in die Erkenntnis wirtschaftlicher Notwendigkeit diffundiert. Die Integration von Umwelt- und Sozialkriterien in die Geschäftstätigkeit wird nicht länger als Pferdefuß, sondern zunehmend als notwendig, als Chance zur Differenzierung und Innovation begriffen und deshalb verstärkt auch freiwillig eingesetzt. Das sieht auch die alte Bundesregierung so, wie sich an ihrem umfangreichen Leitfaden ‚Nachhaltigkeitsmanagement in Unternehmen‘ ablesen lässt ( QR). Die Herausforderung für die Person, die sich dem Thema praktisch als „Nachhaltigkeitsverantwortlicher“ annimmt, ist, mehrere Rollen, Funktionen und Perspektiven auf sich im Unternehmen zu vereinen. Der Nachhaltigkeitsverantwortliche fungiert als Vermittler (Galionsfigur, Vorgesetzter, Vernetzer), Informant (Radarschirm, Sender, Sprecher) und Entscheider (Innovator, Ressourcenzuteiler, Verhandlungsführer). 6.1 Ökoeffektivität und -effizienz, Sozioeffektivität und effizienz sowie deren Integration Ziel dieses Buches ist es, seinen Lesern verschiedene Zugänge zum Thema Nachhaltigkeit zu eröffnen, um so die Wahrscheinlichkeit seines Verständnis und seiner Anwendung zu erhöhen. Ein weiterer Erklärungsansatz ist deshalb jener, der sich maßgeblich auf die Begriffe Ökoeffektivität und -effizienz, Sozioeffektivität und -effizienz sowie deren Integration und Verschränkung bezieht und für den sich für Grundlagen wie Ausführungen in der Studie BMU, econsense, CSM (2007): „Nachhaltigkeitsmanagement in Unternehmen. Von der Idee zur Praxis: Managementansätze zur Umsetzung von Corporate Social Responsibility und Corporate Sustainability“. Sie bietet auch einen umfassenden, systematischen Überblick über sämtliche Instrumente des Nachhaltigkeitsmanagements. Gewinnorientierte Unternehmen werden, im Vergleich zum Staat oder zu Non- Profit-Organisationen, primär für ökonomische Zwecke gegründet und betrieben. Die unternehmerische Herausforderung unter dem Vorzeichen des Nachhaltigkeitsgedankens ist dabei, weiterhin gewinnorientiert und profitabel zu wirtschaften, darüber hinaus jedoch auch der wirksamen und effizienten Befriedigung ökologischer und sozialer Anliegen gerecht zu werden. Das Umwelt- und Sozialmanagement soll in das konventionelle ökonomische Management eines Unternehmens integriert werden. Daraus lassen sich die wichtigsten Nachhaltigkeitsherausforderungen ableiten, denen sich Unternehmen im Rahmen ihres Nachhaltigkeitsmanagements zu stellen haben. Die ökologische Herausforderung thematisiert die Schädigung unserer globalen Ökosysteme durch wirtschaftliche Aktivitäten. Sie liegt einerseits in der Steigehttp: <?page no="183"?> / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit rung der Ökoeffektivität unternehmerischer Handlungen, z.B. mehr betrieblicher Umweltschutz, und andererseits in der Erhöhung der Umweltqualität, z.B. der Sicherung der Absorptionsfähigkeit und Regenerationskraft der natürlichen Umwelt und dem Erhalt der Biodiversität (vgl. Kap. 1). Unternehmen sind gesellschaftlich eingebettete Institutionen, die auf Akzeptanz angewiesen sind. Die soziale Herausforderung stellt sie vor die Aufgabe, ihre positiven sozialen Wirkungen zu erhöhen und negative soziale Effekte zu vermeiden oder zu vermindern, z.B. Reduktion gesellschaftlich unerwünschter Auswirkungen wie Kritik durch Verbraucherschutzorganisationen oder Erhöhung der Produkttransparenz. Die ökonomische Herausforderung besteht darin, die Wirksamkeit des betrieblichen Umwelt- und Sozialmanagements zu verbessern. Als gewinnorientierte Institutionen stehen sie mit dem sog. Business Case for Sustainability stets vor der Aufgabe, einen Beitrag zur Erhöhung des Unternehmenswertes sowie zur Steigerung der Rentabilität und Profitabilität zu leisten. Zu unterscheiden ist zwischen Öko- und Sozioeffektivität und Öko- und Sozioeffizienz. Bei der Öko- und Sozioeffizienz steht zum einen das Verhältnis von Wertschöpfung zu ökologischem Schaden im Vordergrund (Schadschöpfung meint dabei so viel wie Ressourcenverbrauch oder Emissionsausstoß). Zum anderen beschreibt die Öko- und Sozioeffizienz das Verhältnis zwischen Wertschöpfung und sozialem Schaden. In diesem Fall wird die Schadschöpfung verursacht durch sozial unerwünschte Wirkungen, wie z. B. soziale Ungerechtigkeit. Das Ziel im Sinne einer optimalen Öko- und Sozioeffizienz ist es, das Verhältnis durch z. B. Verringerung der Schadschöpfung (inklusive der externen Kosten) oder Steigerung der Wertschöpfung zu optimieren. Die Integrationsherausforderung leitet sich aus zwei Ansprüchen auf dem Weg zum Nachhaltigkeitsmanagement ab. Zunächst besteht die inhaltliche Integrationsherausforderung darin, den drei vorgenannten Herausforderungen nachzukommen. Darüber hinaus geht es um die instrumentelle Integrationsherausforderung, d. h. das Umwelt- und Sozialmanagement ist in das bestehende, meist konventionell ausgerichtete Management methodisch einzubetten. Bislang dominiert das Gegenteil, dass Umwelt- und Sozialfragen organisatorisch und methodisch getrennt von dem ökonomischen Management behandelt werden. Dies verhindert jedoch, Gemeinsamkeiten sowie Konflikte zu erkennen und diese effektiv anzugehen. Ziel des Nachhaltigkeitsmanagements ist die integrierte Berücksichtigung ökologischer, sozialer und ökonomischer Aspekte auf allen Ebenen, im Tagesgeschäft wie in der strategischen Ausrichtung (vgl. Abschnitt 6.2). Mit diesem Anliegen lässt sich alles nun Folgende v.a. für Unternehmen - so gesehen aber auch jedwede Form von Organisation, Institution, Instanz oder gar <?page no="184"?> 184 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Partei anwenden, kann es doch aufgrund seiner ordnungsstiftenden Funktion maßgeblich zur Ordnung und Klärung strategischer Planungen und Ausrichtungen beitragen. Die vier Nachhaltigkeitsherausforderungen sind: [1] ökologische Herausforderung: Steigerung der Ökoeffektivität [2] soziale Herausforderung: Steigerung der Sozioeffektivität [3] ökonomische Herausforderung an das Umwelt- und Sozialmanagement: Verbesserung der Ökound/ oder der Sozioeffizienz [4] Integrationsherausforderung: Zusammenführung der drei Herausforderungen und Integration des Umwelt- und Sozialmanagements in das konventionelle, ökonomisch ausgerichtete Management. Abb. 44: Die vier Nachhaltigkeitsherausforderungen an Unternehmen (vgl. BMU, econsense, CSM 2007: 14) Eine nachhaltige Unternehmensentwicklung und erfolgreiche Begegnung ihrer vier Herausforderungen eröffnet Unternehmen einerseits Chancen, z. B. durch neue Märkte, gesteigerte Mitarbeitermotivation, erweiterte Innovationsmöglichkeiten, Imagegewinn und Kostensenkung in der Produktion, und dient andererseits einer umfassenden Risikovorsorge. Die einzelnen Herausforderungen werden nachfolgend eingehender betrachtet. Was ist der Unterschied zwischen Effektivität und Effizienz? Effektivität bezieht sich auf das Maß der Zielerreichung. Gemeint ist das Verhältnis vom Angestrebten zum Erreichten; der damit verbundene Aufwand spielt keine Rolle. Das Prinzip lautet: „Die richtigen Dinge tun“. Effizienz ist der im Verhältnis zur Vollständigkeit und Genauigkeit eingebrachte Aufwand, mit dem ein bestimmtes Ziel erreicht wird. Das Prinzip heißt: „Die Dinge richtig tun“. <?page no="185"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Der Unterschied zwischen Effektivität und Effizienz ist nicht immer sofort offensichtlich, deshalb sei dieses Beispiel angeführt: Luis möchte an einem warmen Tag sein Fahrrad putzen. Wenn er den ganzen Tag aber nur faulenzt, ist er nicht effektiv im Sinne des eigentlichen Ziels. Im Sinne der Zielerreichung macht er somit das Falsche. Wenn er sich aufrafft, das Fahrrad zu putzen und damit an seiner Zielerreichung arbeitet, ist er effektiv. Da er aber nur mit Wasser und einem Lappen putzt, ist er nicht effizient. Effektiv und effizient wäre er dann, wenn er mit den richtigen Mitteln (geeignete Reinigungsmittel, Bürste etc.) das Richtige tut (das Fahrrad putzen). „Das Richtige zu tun“ beantwortet die Frage nach dem WAS - Was muss getan werden, um das Ziel zu erreichen? Das Richtige dann richtig umzusetzen, beantwortet die Frage nach dem WIE - Wie kann es umgesetzt werden? 6.1.1 Ökoeffektivität als ökologische Nachhaltigkeitsherausforderung „Alle menschlichen Handlungen beeinflussen das Ökosystem. Zu den zentralen Umweltproblemen zählen der Treibhauseffekt, die Zerstörung der Ozonschicht, die Übersäuerung und Überdüngung von Böden und Gewässern, der Rückgang der Biodiversität, der photochemische Smog, öko- und humantoxikologische Belastungen, Abfälle, Abwässer usw. Die in vielen Bereichen insgesamt zu hohe Umweltbelastung, z. B. durch CO 2 -Emissionen (Klimaproblematik) oder Flächenversiegelung (Verlust an Lebensraum), fordert deshalb dazu heraus, das absolute Ausmaß der Umwelteinwirkungen von Produktionsprozessen, Produkten, Dienstleistungen, Investitionen usw. weiter zu reduzieren. Umweltbelastungen können meist nicht vollständig vermieden werden. Ihre möglichst starke Verringerung ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen anzustreben. Das Erfolgskriterium zur Beurteilung, wie gut eine Unternehmung der ökologischen Herausforderung begegnet, ist die ökologische Effektivität (Ökoeffektivität oder Umweltwirksamkeit)“ (BMU, econsense, CSM (2007), S. 15). Ökoeffektivität beschreibt den Zielerreichungs- oder Wirkungsgrad einer ökologischen Maßnahme durch Bemessung des Grades der (absoluten) Umweltverträglichkeit einer Maßnahme. Die Hauptfrage ist, wie gut das angestrebte Ziel der Minimierung von Umwelteinwirkungen erreicht wurde. In einigen Fällen ist die Ökoeffektivität gut messbar, z. B. durch Ökobilanzen, Stoffstrom- oder Materialflussrechnungen, die das Ausmaß der Reduktion von Kohlenstoffdioxidemissionen in einem bestimmten Produktionsprozess ermittelt. In anderen Fällen ist ihre Messung schwierig und umstritten, z. B. bei Giftstoffen, deren Schädlichkeit bislang noch wissenschaftlich unerforscht ist. Hinzu kommt, dass die Ökoeffektivität einer Umweltschutzmaßnahme von Stakeholdern unterschiedlich eingeschätzt werden kann. <?page no="186"?> 186 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Ein Sondermüllofen kann einerseits als eine sehr (öko)effektive Umweltschutzmaßnahme erachtet werden, weil toxische Substanzen in Schlacke transformiert werden. Andererseits kann er als ökologisch ineffektiv eingeschätzt werden, weil er nur Sondermüll verarbeitet, aber nicht an der Wurzel des Problems ansetzt, nämlich ihn zu vermeiden. Ein Zielkonflikt tritt dann auf, wenn die Erreichung eines Zieles die Erreichung eines anderen Zieles beeinträchtigt. Häufig ist dabei von Trade-Offs (gegenläufigen Abhängigkeiten) die Rede. Eine verbesserte Energie- oder Rohstoffproduktivität kann mit erhöhten Treibhausgasemissionen einhergehen. Gelder, die in Sozialprojekte fließen, fehlen, um die Ökoeffizienz im Unternehmen zu erhöhen. Investitionen, die für langfristige Ziele, wie den Ausbau erneuerbarer Energien, getätigt werden, fehlen, um kurz- und mittelfristige Ziele, wie eine höhere Entlohnung der Mitarbeiter, zu realisieren. Zielkonflikte sind durch deutliche Formulierungen des angestrebten Umweltentlastungsziels, z. B. im Umweltbericht, transparent zu machen. Die Spezifizierung und Beurteilung von Ökoeffektivität sollte sich an den gesellschaftlich akzeptierten, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Die Ökoeffektivität wird heute auch in (Nachhaltigkeits-)Ratings anhand von Indikatoren beurteilt, wie z.B. Energie- oder Rohstoffproduktivität, Primärenergieverbrauch, Treibhausgasemissionen, Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch, Anstieg der Siedlungs und Verkehrsfläche, Artenvielfalt und Landschaftsqualität etc. (vgl. Statistisches Bundesamt). 6.1.2 Sozioeffektivität als soziale Nachhaltigkeitsherausforderung Unternehmen sind gesellschaftlich eingebettet; sie werden von Stakeholdern getragen und beeinflusst. Das Management steht schon seit jeher vor der sozialen Aufgabe der Führung von Menschen. Nicht jedes Unternehmen wird automatisch als sozial gerecht erachtet. Die soziale Herausforderung für das Management besteht darin, sowohl die Existenz und den Erfolg des Unternehmens zu gewährleisten als auch der Vielfalt an gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen sozialen Ansprüchen gerecht zu werden. Damit können die gesellschaftliche Akzeptanz des Unternehmens und die Legitimation der unternehmerischen Aktivitäten gesichert werden. Die Erhöhung der Sozialwirksamkeit wird erreicht durch die Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren wie Gleichberechtigung, Fairness, Transparenz, Chancengleichheit sowie Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit. „Als sozial effektiv kann ein Unternehmen bezeichnet werden, das das absolute Niveau negativer sozialer Wirkungen wirksam reduziert hat und geringhalten kann sowie bedeutende positive soziale Wirkungen auslöst. Der Begriff der Sozioeffektivität als der Grad der wirksamen Erfüllung sozialer Anliegen, wurde bis heute nur sehr unscharf definiert. Eine gute Operationalisierung ist bis heute nicht erfolgt. Konzepte und Instrumente, die zur Reduktion sozial unerwünschhttp: <?page no="187"?> / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit ter und Förderung sozial erwünschter Wirkungen beitragen, verbessern die Sozioeffektivität eines Unternehmens“ (vgl. BMU, econsense, CSM (2007), S. 8). Auch Ratingagenturen und Fondsgesellschaften erfragen vermehrt bei Unternehmen, wie diese gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Anliegen und Ansprüchen begegnen. Zu diesen zählen Gleichberechtigung (bzgl. Frauenförderung, ethnischer Minderheiten, ausländischer Mitarbeiter, Behinderter, älterer Mitarbeiter etc.), Kinderarbeit, Arbeitsplatzsicherheit, Arbeitsbedingungen, Gesetzestreue, Betriebsklima, Führungsstil im Unternehmen, Gehaltsstruktur und Sozialleistungen für Angestellte, Gesundheits- und Sicherheitsrisiken am Arbeitsplatz, Aus- und Weiterbildung, Sozialstandards für Lieferanten, Sozialleitbild und -politik, kulturelles Engagement, Korruptionsbekämpfung, Mäzenatentum u. a. Diese Sozialkriterien werden etwa mittels Fragebögen erfasst, die viele, häufig ungewichtete soziale Einzelanliegen auflisten. Der Grad der Erfüllung der Anliegen wird meistens nach einem einfachen Ausschlussprinzip, z.B. mit ja/ nein bzw. beachtet/ nicht beachtet anhand von Checklisten geprüft. 6.1.3 Öko- und Sozioeffizienz als ökonomische Nachhaltigkeitsherausforderung Die ökonomische Nachhaltigkeitsherausforderung für die Unternehmensführung besteht darin, die Öko- und Sozioeffizienz im Rahmen ihres Umwelt- und Sozialmanagements zu erhöhen. Grundlegend stehen Unternehmen vor der Herausforderung des sog. Business Case for Sustainability, dem Geschäftsfall der Nachhaltigkeit. Dies bedeutet, den Unternehmenswert (Shareholder Value) zu steigern, einen Beitrag zur Rentabilität zu leisten oder zumindest möglichst kostengünstig zu agieren (Environmental Shareholder Value, Stakeholder Value, Kostenrechnung) (BMU, BDI (2007), S. 16). Die traditionelle ökonomische Herausforderung besteht darin, den Unternehmenswert zu erhöhen und die Rentabilität der Produkte und Dienstleistungen zu steigern. Bei der ökonomischen Nachhaltigkeitsherausforderung geht es darum, das Umwelt- und Sozialmanagement möglichst wirtschaftlich zu gestalten. Ansatzpunkte, dem Geschäftsfall der Nachhaltigkeit zu begegnen, sind u.a. folgende: Maßnahmen mit Kostensenkungswirkung (z. B. durch eine Steigerung der Energie- und Materialeffizienz), der Umsatzsteigerung (z. B. durch neue nachhaltige Produkte), der Reputationssteigerung (z. B. durch eine Erhöhung des Markenwertes), der Innovation (z. B. durch neue Geschäftsmodelle) oder der Steigerung der Attraktivität als Arbeitgeber für Know-how-Träger (Employer of Choice). Die Senkung von Umwelt-, Sozial- und Führungsrisiken bzw. die Realisierung damit verbundener Chancen ist ebenso ein Hauptbestandteil des Nachhaltigkeitsmanagements. Die Kernaufgabe der Ökonomie besteht darin, Knappheiten zu bewältigen und das Verhältnis erwünschter und unerwünschter Wirkungen auszubalancieren. Diese Aufgabe kann als das Händeln von Effizienz verstanden werden; dabei wird auf monetäre Erfolgsgrößen und Rentabilitätskennziffern zurückgegriffen. <?page no="188"?> 188 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Im Kontext des Ziels einer nachhaltigen Entwicklung ist dieses Verständnis um ökologische und soziale Erfolgsgrößen zu erweitern. Neben der ökonomischen Effizienz sind im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung insbesondere zwei Arten von Effizienzen von Bedeutung: Ökoeffizienz (ökonomisch-ökologische Effizienz) Sozioeffizienz (ökonomisch-soziale Effizienz) Ökoeffizienz bezieht sich auf das Verhältnis zwischen ökonomischen, monetären und einer physikalischen bzw. ökologischen Größe. Alternativ wäre sie als ökonomisch-ökologische Effizienz zu bezeichnen, während im englischen Sprachraum von eco-efficiency oder E2-efficiency (economic-ecological efficiency) gesprochen wird. Wertschöpfung bezeichnet den Ertrag aus wirtschaftlicher Tätigkeit. Dieser Ertrag resultiert aus der Differenz zwischen der Leistung einer Wirtschaftseinheit (z. B. gesamte Volkswirtschaft, ein Unternehmen oder auch ein einzelner Leistungsprozess) und der zur Leistungserstellung benötigten Vorleistung. Es gilt: Wertschöpfung = Gesamtleistung - Vorleistungen. Die Schadschöpfung ist das negative bzw. destruktive Pendant dazu. Sie ist die Summe aller Emissionen und Auswirkungen, die in einem Werk, einer Unternehmung, einem Land oder während eines Produktlebens durch betriebliche Leistungsprozesse direkt und indirekt verursacht werden; diese sind nach ihrer relativen ökologischen Schädlichkeit zu beurteilen. Ursachen für eine hohe Schadschöpfung sind z. B. eine ressourcenintensive, toxische Produktion, verpackungsträchtiger Konsum, eine schwierige Produktentsorgung oder Aktivitäten wie lange, umständliche Transportwege. Die Ökoeffizienz ist somit als das Verhältnis von Wertschöpfung zu ökologischer Schadschöpfung definiert. Beispiele für Maße der Ökoeffizienz sind Wertschöpfung €/ Tonne emittiertes Kohlenstoffdioxid, Wertschöpfung €/ Tonne fester Abfall oder Wertschöpfung €/ Kilowattstunde verbrauchter Energie. Spezifische Teilausprägungen der Ökoeffizienz spiegeln sich in der Ressourceneffizienz, der Material- oder Energieeffizienz sowie der Wasser(verbrauchs-) effizienz wider (BMU, BDI (2007), S. 17). Analog zur Ökoeffizienz kann Sozioeffizienz als das Verhältnis zwischen der Wertschöpfung und dem sozialen Schaden bezeichnet werden. Der soziale Schaden entspricht der Summe aller negativen sozialen Auswirkungen, die von einem Produkt, Prozess oder einer Aktivität ausgehen. Beispiele für die Sozioeffizienz sind Wertschöpfung €/ Anzahl der Personalunfälle oder Wertschöpfung €/ Krankheitstage. <?page no="189"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Andere, eher technisch orientierte Effizienztypen kennzeichnet, dass nur nichtmonetäre Größen in die Verhältniszahl Eingang finden (z. B. geleistete Arbeitsstunden/ Personalunfall oder Produkteinheiten/ Tonne Emission). Sie repräsentieren also Verhältnisgrößen ohne monetären Bezug. Eine Steigerung der Öko- und Sozioeffizienz muss nicht immer mit einer Verbesserung der Öko- oder Sozioeffektivität einhergehen. Im schlimmsten Fall kann sogar eine Verschlechterung der ökologischen bzw. sozialen Situation mit einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Wertschöpfung und ökologischem bzw. sozialem Schaden einhergehen (sog. Rebound-Effekt). Menschen, die sich ein neues, sparsameres Auto zulegen, fahren ggf. mehr, gerade weil sich die Nutzung vergünstigt oder weil der neue Hybridwagen als Statussymbol fungiert. Auch sparen gedämmte Wohnungen zunächst Heizenergie ein; das ersparte Geld wird aber vielleicht auf einen zusätzlichen klimaschädlichen Urlaubsflug umgelegt. Dieser Umstand zeigt, wie bedeutend die gleichzeitige Berücksichtigung sowohl der ökologischen und sozialen als auch der ökonomischen Nachhaltigkeitsherausforderung ist. Nachhaltige Managementansätze, die das Verhältnis zwischen Wertschöpfung und ökologischer oder sozialer Schadschöpfung verbessern, tragen zu einer Steigerung der Ökobzw. Sozioeffizienz eines Unternehmens bei. 6.1.4 Die Integrationsherausforderung Den drei oben dargestellten Herausforderungen nachhaltigen Wirtschaftens kann mit konsequentem Streben nach öko- und sozioeffektivem sowie öko- und sozio-effizientem Handeln begegnet werden. Die größte Herausforderung des unternehmerischen Nachhaltigkeitsmanagements ist jedoch die Integrationsherausforderung. Sie leitet sich aus zwei Ansprüchen ab: inhaltliche Integrationsherausforderung: die Zusammenführung und Erfüllung der Inhalte und Themen der drei zuvor dargelegten Ansprüche instrumentelle Integrationsherausforderung: die Einbettung des Umwelt- und Sozialmanagements in Organisation, Prozesse und Methoden des konventionellen ökonomischen Managements Ziel des ersten Anspruchs ist die Steigerung von Öko- und Sozioeffektivität sowie Öko- und Sozioeffizienz gleichermaßen. Die Idee des zweiten Anspruchs ist eine Gesamtintegration bzw. die methodische oder instrumentelle Integration von Themen des Umwelt- und Sozialmanagements in die operativen Strukturen des Unternehmens (vgl. BMU, econsense, CSM 2007: 18). Die inhaltliche Herausforderung besteht darin, dass Unternehmen die richtigen Themen aufgreifen, die instrumentelle Herausforderung darin, diese angemessen im Unternehmen zu verankern; Inhalte müssen in eine Form gebracht werden, um bearbeitet werden zu können. Es geht um eine Verbesserung des Effektivitäts- und Effizienzmanagements. <?page no="190"?> 190 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Entsprechend diesen drei Dimensionen berührt Nachhaltigkeit eine große Spannbreite an Themen. Während z.B. „Corporate Governance“, also gute Unternehmensführung, ein ökonomisch und stärker strategisches Thema ist, ist „Tropenholz“ ein recht spezifisches, umweltbezogenes Thema und „Arbeitsplatzsicherheit“ eine im Sozialen angesiedelte Aufgabe. Für Unternehmen gilt es, aus allen Dimensionen jene mit der für sie größten Hebelwirkung bzw. Leverage auszuwählen. Dabei ergänzen und verstärken sich die gewählten Themen idealerweise wechselseitig und erzielen so eine integrative bzw. Triple-Win-Nutzenwirkung. 6.1.5 Nachhaltigkeitsinstrumente im Überblick Die nachfolgende Tabelle 22 nennt Konzepte, Systeme und Instrumente soll für die Vielfalt an Umsetzungsmöglichkeiten sensibilisieren. 63 Ihre Beurteilung erfolgt anhand der Merkmale Ausrichtung und Anwendung; bezüglich der Ausrichtung wurde hinterfragt, inwiefern der Ansatz das Nachhaltigkeitsmanagement explizit unterstützt. Der Beurteilung der Managementansätze liegen zum einen theoretische Überlegungen zugrunde; zum anderen wurde die Einstufung der Ansätze durch eine Arbeitsgruppe unterstützt, die aus Unternehmens- und Verbandsvertretern bestand. Die Beurteilung ist zweistufig: Zwei Punkte stehen für die weitgehende oder vollständige, ein Punkt für eine teilweise Ausrichtung des Ansatzes auf die Begegnung der entsprechenden Nachhaltigkeitsherausforderung. Die Einstufung der Leistungsfähigkeit der Konzepte, Systeme und Instrumente zur Begegnung der Nachhaltigkeitsherausforderung kann als Bewertung des aktuellen Status Quo an geläufigen Nachhaltigkeitsmaßnahmen gelten. In der Tabelle fällt eine Verzerrung zugunsten ökologischer Ansätze auf. Dies ist mit dem längeren Bestehen des Umweltgegenüber dem Sozialmanagement und insbesondere mit dem sich noch stark in der Entwicklung befindlichen, integrierten Nachhaltigkeitsmanagement zu erklären. Das Management der Öko- und Sozioeffizienz weist ebenfalls eine große Anzahl von Konzepten, Systemen und Instrumenten auf, wobei hier der Schwerpunkt deutlich bei der Ökoeffizienz liegt. Die aufgeführten Konzepte, Systeme und Instrumente werden im Rahmen des Leitfadens „Nachhaltigkeitsmanagement in Unternehmen“ näher erläutert (BMU, econsense, CSM 2007: 49 ff.). 63 Als Grundlage dienen hierfür die Studien des BMU/ BDI von 2002 und 2007, die vierzig Managementkonzepte und -instrumente identifiziert und beschrieben haben, die sich für die Umsetzung von Nachhaltigkeitsmanagement anbieten.) <?page no="191"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Systeme/ Konzepte und Instrumente Nachhaltigkeitsherausforderungen ökologische Herausforderung Ökoeffektivität soziale Herausforderung Sozioeffektivität ökonomische Herausforderung Ökoeffizienz/ Sozioeffizienz Integrationsherausforderung Integration Systeme/ Konzepte Anreizsysteme A A Arbeitszeitmodelle A A Balanced Scorecard betriebl. Umweltinformationssystem A Corporate Citizenship A Corporate Social Responsibility A Design Nachhaltigkeitsmanagementsysteme A A Qualitätsmanagementsysteme A A Supply Chain Management Instrumente ABC-Analyse A Audit A Benchmarking Bericht A A A Bilanz A Budgetierung Checkliste A Corporate Volunteering A Cross-Impact-Analyse Dialoginstrumente A Effizienz-Analyse Emissionszertifikatehandel Früherkennung Indikator A A A Investitionsrechnung Kompass Kostenrechnung Label A <?page no="192"?> 192 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Leitbild A A A A Material- und Energieflussrechnung Produktlinienanalyse Rating Risikoanalyse A A Shareholder Value Sponsoring A A Stakeholder Value Szenarioanalyse Vorschlagswesen A A Weiterbildung A A Zirkel A A Ausrichtung des Systems, Konzepts oder Instruments weitgehend oder vollständig gegeben Ausrichtung des Systems, Konzepts oder Instruments teilweise gegeben A System, Konzept oder Instrument findet häufig Anwendung in der Praxis Tabelle 22: Systeme, Konzepte und Instrumente zur Begegnung der vier Nachhaltigkeitsherausforderungen (BMU, econsense, CSM (2007), S. 19) Aus der Vielzahl an Möglichkeiten sollten einige zentrale, geeignete Maßnahmen, die sich wechselseitig ergänzen unter Berücksichtigung potenzieller Zielkonflikte (Trade-Offs) ausgewählt werden. 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie Verzicht auf heute möglichen aber ethisch zweifelhaften Gewinn wird somit zur langfristig ausgerichteten Investition für Marktanteile, Umsatz und Gewinn. Sie werden zum Instrument der Zukunftssicherung des Unternehmens. Klaus Leisinger Strategie - vom altgriechischen strategós, Feldherr, Kommandant - ist ein längerfristig ausgerichtetes planvolles Anstreben eines Ziels unter Berücksichtigung verfügbarer Mittel und Ressourcen; dies mittelfristig (ca. drei Jahre) bis langfristig (fünf bis zehn Jahre). Eine Strategie dient als Schlachtplan, Roadmap, Kompass und Vorgehensüberblick. Gemeinhin impliziert strategisch, die Schachzüge und Bewegungen der Mit- und Wettbewerber miteinzubeziehen. Ein nachhaltigkeitsbezogenes Strategieverständnis dagegen begreift jene als Partner und Mitspieler im friedlichen Wettbewerb, geht es doch um die Gewährleistung eines branchen-, regionen- und portfolioübergreifenden Ziels - die Bewahrung der natürlichen Lebensvoraussetzungen auf der Erde. <?page no="193"?> 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie 193 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Zur Erinnerung: Grundlegend zeichnen sich Unternehmensstrategien durch folgende Eigenschaften aus; sie sind a) ausgerichtet auf das ganze Geschäft, b) ausschlaggebend für die Vermögens- und Ertragslage, c) konkurrenzbezogen und zukunftsorientiert, d) reflektieren die Unternehmenskultur, e) orientieren sich an verfügbaren Ressourcen und berücksichtigen Rahmenbedingungen als Chancen und Risiken, f) erfordern Schwerpunkte und Maßnahmenpläne für Unterbereiche und g) sind keine Endstation, sondern ein Prozess. All das gilt auch für nachhaltigkeitsbezogene Strategien, nur unter gezielter Berücksichtigung nebst ökonomischer auch sozialer und ökologischer Kriterien, kurz unter Berücksichtigung der Triple-Bottom-Line. Triple-Bottom-Line - unterm Strich auch ökosozial TBL bedeutet, sein Kerngeschäft sowohl sozial und ökologisch verantwortlich als auch wirtschaftlich erfolgreich zu betreiben. Den Begriff prägte 1994 der britische Berater und Buchautor John Elkington. Die „Bottom Line“ ist das Ergebnis unter dem Schlussstrich der Gewinnund-Verlust- Rechnung. Elkington hat den Begriff um die ökologische Dimension und die soziale respektive gesellschaftliche Dimension erweitert. International ist der Begriff in Unternehmen und Politik etabliert. Die EU-Kommission hat börsennotierte Aktiengesellschaften aufgefordert, eine Triple-Bottom- Line in ihren Geschäftsberichten zu veröffentlichen. TBL ist zudem Grundlage einer Bewertung, die Banken oder Kapitalgesellschaften für Unternehmen ausführen. Damit beurteilen sie die Kredit- und Geschäftswürdigkeit, wobei sie ethische, ökologische und finanzielle Leistungen berücksichtigen. Die Leistungen sind auf allen drei Feldern ‚unter dem Strich‘ dauerhaft zu steigern und der entsprechende Mehrwert ist zu messen und zu beziffern. Die weltweit größte Konferenz für Investoren und Finanzexperten zu Themen rund um nachhaltig orientiertes Investment ist die Triple-Bottom-Line Investing Conference. Formal betrachtet setzt sich der Prozess des strategischen Unternehmensmanagements aus Analyse, Strategieformulierung und Strategieimplementierung zusammen. Es ist ein rollierender, wiederkehrender Prozess, in den die Erfahrungen aus der Implementierung strategischer Einzelprojekte wieder zurückfließen. So befruchten sich die formale Strategie und die aus ihr entwickelte Unternehmenspraxis wechselseitig und werden Hand in Hand weiterentwickelt. Der World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) wertet dies als evolutionären Managementprozess, in dem das Erkennen und Verstehen der globalen <?page no="194"?> 194 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Veränderungen eine genauso wichtige Rolle spielt wie die konsequente strategische Umsetzung. In Sachen Strategie unterscheidet die klassische BWL zwischen Kostenführerschaft, durch die sich ein Unternehmen über eine möglichst kostengünstige Produktbereitstellung positioniert, und Qualitätsführerschaft, die darauf abhebt, hochwertige Produkte entsprechend hochpreisig anzubieten. Nachhaltigkeitsorientierte Unternehmensstrategien kennzeichnet, dass sie ökologische und soziale Aspekte systematisch bei Entscheidungsprozessen einbeziehen. Ökologisches und gesellschaftliches Engagement werden so eingesetzt, dass sie Wettbewerbsvorteile bringen und Differenzierung erlauben. Ein Ansatz zur Ausrichtung einer Nachhaltigkeitsstrategie sind die in Kapitel 4 genannten Prinzipien Effizienz, Suffizienz, Konsistenz - wirksamer, sparsamer oder naturnaher. Die Aufgabe ist es, das für das Unternehmen jeweils am besten geeignete Prinzip auszuwählen und als handlungs- und entscheidungsleitend zugrunde zu legen. Nachhaltigkeitskriterium: zeitliche und räumliche Übertragbarkeit von Lebens- und Wirtschaftsstilen Durchlaufmenge an Material und Energie auf ein ökologisch und sozial tragfähiges, dauerhaftes und übertragbares Niveau senken anthropogene Aktivitäten an ökologisch-soziale Erfordernisse anpassen Effizienz Suffizienz Konsistenz Produktivität steigern, um dasselbe Resultat mit geringerem Ressourceneinsatz zu erzielen sparsame Konsumstile, „gut leben statt viel haben“, „simple living, high thinking“, Downsizing, Entschleunigung Prinzipien der Natur und Abläufe der Biosphäre kopieren, Kreislaufwirtschaft, Abfälle als Wertstoffe Drei-Liter-Auto, Hybrid Carsharing, ÖPNV Biokraftstoffe Ressourcen Produktion Konsum Abfälle Tabelle 23: Effizienz, Suffizienz, Konsistenz Um ein Beispiel zu nennen: Konsistenz steht im Kern der Strategie der Reinigungsmittel-Produktlinie von Frosch. Der grüne Frosch - konsistent erfolgreich Froschs Strategie war, seine Produktpalette vor seinen Wettbewerbern auf biologisch abbaubare Substanzen und größtmögliche Umweltverträglichkeit umzustellen. Unter Verzicht auf Chemikalien wird gemäß den Prinzipien der Natur eine Säuberung durch biologische Stoffe verfolgt. Unter Voraussicht eines zunehmenden Umweltbewusstseins bei Kunden wurde dies durch einen grünen Frosch als Markenzeichen sichtbar gemacht. <?page no="195"?> 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie 195 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Eine weitere Möglichkeit für Nachhaltigkeitsstrategien sind Basis- und Zusatzstrategien. Die folgende Grafik zeigt die Optionen. Das Fundament jeder Strategie ist die Basisstrategie Sicherheit mit dem Ziel der Risikovermeidung, ohne die alle anderen Bemühungen auf Sand gebaut würden. Die Absicherung an der Basis wird ergänzt durch eine oder mehrere Zusatzstrategien. Unter dem Vorzeichen Glaubwürdigkeit liegt bei der ersten Option der Schwerpunkt auf Image und Reputation, die durch Kommunikation gestützt wird. Die zweite Option zielt auf Effizienz. Produktivität und Wirksamkeit werden dabei durch gekonntes Kostenmanagement befördert. Drittens gibt es die Zusatzstrategie Innovation. Hier geht es um Differenzierung und Positionierung durch Innovations- und Marketingmanagement. Welche Zusatzstrategien ein Unternehmen wählt, liegt im Ermessen der Einschätzung der eigenen Kernkompetenz sowie der inneren und äußeren Voraussetzungen der Organisation. Abb. 45: Nachhaltigkeit: Basis- und Zusatzstrategien (in Anlehnung an Gminder 2006) Intern - extern, defensiv - offensiv: Ausrichtung und Intensität sind variabel. Unternehmen können Strategien nach innen ausrichten, also auf die Belegschaft, betriebliche Organisation und interne Prozesse abzielen, oder nach außen auf die Gesellschaft, den Markt, das Umfeld; sie können ihre Strategie als Abwehrschild begreifen, das defensiv auf Gefahren reagiert und sie antizipiert; oder als Katalysator und Turbobooster, der offensiv genutzt wird. Laut Sustainability- Barometer von PricewaterhouseCoopers von 2011 sind aktuell die meisten Strategien von Unternehmen intern und defensiv ausgerichtet. Um von der Strategie ausgehend konkreter zu werden, ist diese in ausgewählte Kernthemen bzw. strategische Leitthemen zu überführen. Wie diese strategischen Leitthemen in einen Zusammenhang zu bringen sind, zeigen die beiden folgenden Beispiele. <?page no="196"?> 196 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Im Fall von BMW wird das Drei-Säulen-Modell verwendet. Freilich gilt es bei der BMW-Grafik, die sehr allgemein gehaltenen Leitthemen operativ zu konkretisieren und mit Leben zu füllen. Abb. 46: Die Nachhaltigkeitsstrategie von BMW Im Falle der Allgäu GmbH, die plant, mit ihrer Nachhaltigkeitsstrategie eine ganze Region unter das Vorzeichen Umwelt und Gesundheit zu setzen, findet das Nachhaltigkeitsdreieck Verwendung (vgl. Abb. ); Letzteres scheint besser geeignet, um die fließenden Übergänge und das Ineinander der Strategiethemen darzustellen. Ein weiterer Ansatz zur Definition einer Nachhaltigkeitsstrategie setzt bei einer konsequenten Zukunftsausrichtung an (siehe Kapitel 3). Dabei gilt es, die für das Unternehmen wichtigsten Trends auszuwählen und ins Zentrum aller Maßnahmen zu rücken. Dass Nachhaltigkeit dabei an unterschiedlichen Stellen ansetzt, vom Gesamtunternehmen über ausgewählte Geschäftsfelder, bei der Form der Produktion oder einer Revision der Zulieferkette, aber auch über den Hebel Personal oder Netzwerke, zeigt die folgende Auflistung von Strategieebenen samt Beispielen. <?page no="197"?> 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie 197 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Unternehmensstrategie Ein Hersteller von Energieanlagen erweitert sein Produktportfolio durch den Zukauf eines Windenergieanlagenherstellers in Voraussicht steigender Preise und Steuern bei fossilen Energieträgern. In welchen Märkten will und kann das Unternehmen tätig sein? Geschäftsfeldstrategie Ein Produzent toxischer Chemikalien setzt auf Kostenführerschaft unter höchstmöglich umweltverträglichen Stoffen, ein anderer setzt im Rahmen seiner Differenzierungsstrategie auf besonders sichere und geschlossene Produktkreisläufe. Mit welchen Wettbewerbsstrategien tritt das Unternehmen in einzelnen Geschäftsfeldern an? Produktionsstrategie Statt die Produktion an Standorte mit derzeit niedrigen Energiepreisen zu verlagern, reduziert ein Unternehmen mit energieintensiven Herstellungsprozessen die Kostenrisiken im Energiebereich durch maximal energieeffiziente Produktionstechnologien. Wie und wo wird produziert? Supply-Chain-Strategie Ein globaler Textilhersteller trennt sich von Zulieferern, die ökologische Mindeststandards, das Verbot von Kinderarbeit und Menschenrechte verletzen und verringert dadurch Image-, Qualitäts- und Lieferausfallrisiken. Wie ist die Beschaffung zu optimieren? Personalstrategie Ein Finanzdienstleister investiert 10 % mehr im Vergleich zum Vorjahr in Maßnahmen zur Personalentwicklung und -bindung und fängt so die auf längere Sicht deutlich höheren Kosten fehlender Arbeitskräfte bedingt durch den demografischen Wandel auf. Welches Personal mit welcher Qualifikation steht langfristig zur Verfügung? Netzwerkstrategie Ein Möbelhersteller gibt eine Studie beim WWF in Auftrag, um die Biodiversitätssituation hinsichtlich verwendeter Hölzer einzuschätzen. Welche Wertschöpfungsbereiche deckt das Unternehmen ab und welche seine Partner? Tabelle 24: Strategieebenen (WBCSD (2006)) <?page no="198"?> 198 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Aufgabe: Recherche im Internet Inspiration: Gehen Sie auf die Webseite eines in Ihren Augen faszinierenden Unternehmens. Recherche: Notieren Sie sich in Orientierung an obiger Liste alle Begriffe, die sich dort auf das Thema Nachhaltigkeit beziehen: Informationen, Fakten, Themen, Schlagwörter, Kategorien, Schwerpunkte etc. Durchforsten Sie den Webauftritt anhand von Fragen wie: Was steht dazu in der Unternehmensphilosophie? Bezieht sich der Slogan oder die Bildsprache darauf? Gibt es eine eigene Abteilung oder einen Nachhaltigkeitsbericht dazu? Falls ja, was besagt er? Tragen Sie harte und weiche Fakten in diesem ersten Schritt noch ungefiltert zusammen. Erkenntnis: Verdichten Sie das, was Sie glauben als Strategie des Unternehmens mit Bezug auf Nachhaltigkeit ausgemacht zu haben, in eine griffige, auf das Wesentliche reduzierte These. Zwei Konzepte, die bestrebt sind, das Nachhaltigkeitsprinzip in Geschäftsmodelle zu überführen, indem sie Innovation und Profitabilität verbinden, sind die Green Economy und Blue Economy. Während die Green Economy bislang vor allem im Rahmen von Produktentwicklungen rund um erneuerbare Energien schon zum Einsatz kommt, ist die Blue Economy aufgrund ihres hohen Innovationsgrades noch in den Anfängen, ihre Wirkung durch praktische Umsetzung zu entfalten. Beide Konzepte werden kurz erklärt, weil sie als zukunftsweisend, nachhaltigkeitsrelevant und ökonomisch vielversprechend gelten können. Dabei wird das Konzept der Blue Economy aufgrund seines höheren Innovationsgrades sowie geringeren Bekanntheitsgrades ausführlicher erklärt. Green Economy: Mit grünen Produkten Geld verdienen „Das Konzept der Green Economy erkennt einerseits die ökologischen Rahmenbedingungen mit ihren Begrenzungen an und soll zum anderen die Umweltauswirkungen bei allen wirtschaftlichen Entscheidungen und Aktivitäten reduzieren oder gar vermeiden. Der damit angestrebte Strukturwandel geht in vielen Branchen mit großen ökonomischen Chancen einher.“ (BMU (2013), S. 5). Ziel der Green Economy ist damit, umweltverträglich bzw. nachhaltig und profitabel gleichermaßen zu wirtschaften, d.h. mit grünen Produkten Geld zu verdienen. Anliegen ist eine Wirtschaft bzw. Wirtschaftsordnung, die ökologisch verträglich und ökonomisch erträglich ist. Für die Forschung zur Green Economy stellt allein das Bundesforschungsministerium bis zum Jahr 2018 insgesamt 350 Millionen Euro bereit. <?page no="199"?> 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie 199 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 47: Geschäftsmöglichkeiten der Green Economy Blue Economy: Radikale Innovationen „It is remarkable that some of the greatest opportunities for jobs will come from replicating the waste-free efficiency of eco-systems. The natural world, in all its splendor and diversity, has already solved many of the sustainability challenges humanity faces in the ingenious, unexpected, and even counterintuitive ways. If humans could only unravel the fascinating chemistry, processes, structures, and designs that organisms - from bacterica to mollusks to reptiles and mammals - have evolved and tested over millennia, perhaps then we would have new and transformational solutions to the many challenges faced by a planet [...] rising over nine billion by 2050“ (Pauli 2010: xvii). Die Idee: 10 Jahre, 100 Innovationen, 100 Millionen Jobs Die Blue Economy kann als Konzept, Bewegung oder Wirtschaftsmodell bezeichnet werden. Bisher haben nur wenige Menschen davon gehört, von Experten aber wird es als nichts weniger als eine radikale, bahnbrechende Innovation angesehen. Denn mit der ganzheitlichen Nutzung von Ressourcen und Abfällen in Kaskadensystemen Arbeitsplätze schaffen, Sozialkapital aufbauen und das Volkseinkommen steigern, ohne die Umwelt zu belasten. Der Grundgedanke der Blue Economy ist, dass Abfall nicht das Problem ist. Es gilt vielmehr das Problem zu lösen, den produzierten Abfall nicht zu verschwenden, sondern weiterzuverwenden. „Der erste Schritt ist die Suche nach neuen sinnvollen Verwertungsmöglichkeiten für Abfall und nach Ausgangstoffen, die in großen Mengen und preiswert verfügbar sind, weil sie nur wenig oder keinen Nutzen für andere Akteure im System haben. Denn so macht es die Natur“ (Pauli 2010: 8). Im Hinblick auf ihre Logik und Basisannahme, dass aus Abfällen nachhaltige Einkommensströme entstehen können, ist die Blue Economy in weiten Teilen mit dem Cradle-to-Cradle-Konzept vergleichbar. Die Blue Economy wird als Weiterentwicklung der Green Economy begriffen, mit dem Ziel, von der Natur inspirierte Technologien einzusetzen, um so Ressourcen und Abfälle innovativ zu nutzen. So sollen Unternehmen zusätzliche Umsätze generieren. Bis 2020 sollen 100 Mio. Arbeitsplätze geschaffen werden, <?page no="200"?> 200 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit bis 2050 soll es keine Emissionen mehr geben. Blau bezieht sich auf die Farbe des Himmels, des Ozeans und der Erde, vom Weltall aus betrachtet. Gemäß der Logik der Blue Economy geht es darum, zu beweisen, dass Unternehmen mit simplen, von der Natur jahrhundertelang erprobten Methoden Absatz auf Märkten und damit Gewinne erzielen können. Abb. 48: Kreislaufgedanke der Blue Economy nach Pauli „Für Pauli besteht die Antwort auf die ökologische Krise nicht in Verboten und Verzicht, sondern in einer ‚zweiten grünen Revolution‘. Wie alle Revolutionen beginnt sie im Kopf: vom Denken in linearen Produktionsketten zum Design von Stoffkreisläufen. Enge Verzahnung von Landwirtschaft und Industrie, regionale Produktionscluster, Kaskadennutzung von Rohstoffen und Energie, Vielfalt statt Monostrukturen sind Kennzeichen dieser neuen Ökonomie. Unternehmen organisieren sich als Netzwerke. Ihre Steuerung gleicht dem menschlichen Nervensystem“ (Fücks 2013: 162 f.). Hintergrund und Geschichte Pauli, der u. a. als „Global Leader of Future“ ausgezeichnet wurde, gründete 1994 das globale Netzwerk „Zero Emissions Research and Initiatives“ (ZERI), ein Zusammenschluss zahlreicher innovativer Wissenschaftler, Betriebswirtschaftler, Bürokraten und Pädagogen mit dem Ziel, nachhaltige Lösungen für komplexe gesellschaftliche Problemstellungen zu finden. 2004 konnte durch die finanzielle Unterstützung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen das Projekt „Nature’s 100 Best“ ins Leben gerufen werden. Ein Team von Wissenschaftlern definierte 2.131 Technologien, „natürliche“ Problemlösungsansätze, von denen 100 ausgewählt und in kaskadenförmige Systeme zusammengefasst wurden. <?page no="201"?> 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie 201 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Pauli adressiert mittels der Blue Economy einen Geschäftsansatz, der gezielt die Bedürfnisse heute und künftig lebender Menschen berücksichtigt, wie es in der weithin gebräuchlichsten Definition von Nachhaltigkeit gemäß Brundtland- Bericht angesprochen wird. Prüfstein der Innovationen war die Untersuchung durch staatliche Angestellte, Finanzanalytiker und Geschäftsstrategen hinsichtlich ihrer Machbarkeit, des Entwicklungsstandes und der Zielerreichungswahrscheinlichkeit. Zudem wurde hinterfragt, wie viele Arbeitsplätze durch eine Innovation zerstört und geschaffen werden sowie die Zeitspanne analysiert, die benötigt wird, um den Massenmarkt zu erreichen. Durch wissenschaftliche und wirtschaftliche Analysen konnte von Anfang an eine solide Basis zur Umsetzung der Technologien gewährleistet werden. Pauli hat diese Innovationen in einem Buch zusammengefasst, um die neuen Entwicklungsmöglichkeiten der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Anwendung: erprobte Praxisbeispiele Die Logik der Blue Economy lässt sich am besten anhand von Praxisbeispielen erklären. Im Folgenden werden ausgewählte Umsetzungsmöglichkeiten vorgestellt. Es zeigt sich, dass das Innovative der Blue Economy der konsequenten Orientierung an den Prinzipien der Natur geschuldet ist. Beispiel 1: Pilzzucht auf Kaffeeabfällen Kaffee gehört zu den drei meistgehandelten Lebensmitteln der Welt. Bei der Herstellung entstehen zwei Abfallströme: zum einen die Kaffeepulpe, die bei der Ernte auf den Plantagen entsteht und den größten Teil der Abfälle ausmacht, zum anderen der Kaffeesatz, der beim Aufbrühen von Kaffee übrigbleibt. Nur 0,2 % der Biomasse von Kaffee wird tatsächlich verzehrt, die restlichen 99,8 % landen im Müll. Um nur eine Tasse Kaffee aufzubrühen, werden insgesamt 140 Liter Wasser benötigt. Die Kaffeeproduktion trägt wesentlich zu der Abfallproblematik bei. Jährlich werden rund 9 Mio. Tonnen Kaffee mit einem Abfallaufkommen von ca. 24 Mio. Tonnen verbraucht. Der Konsum von Kaffee ist aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten sehr kritisch zu betrachten. Eine der Ideen der Blue Economy bietet eine Lösung, die Abfälle nach dem Kreislaufprinzip als Ausgangspunkt für die Pilzzucht einsetzt. Pilze gedeihen auf Kaffeeabfällen. Schon im Jahr 1990 wurde nachgewiesen, dass Kaffeesubstrat ideal für die Zucht von proteinhaltigen Pilzen wie Austernseitlingen, Shiitake-Pilzen und für Reishi-Pilze geeignet ist. Letztere sind sehr hochwertig und werden für medizinische Behandlungen eingesetzt. Ein unterstützender Faktor ist, dass Koffein das Pilzwachstum beschleunigt. Auch die Überreste bei der Pilzproduktion, wie z. B. die Stiele der Pilze, können als proteinhaltiges Tierfutter oder als Kompost weiterverwendet werden (Pauli 2010: 93). <?page no="202"?> 202 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 49: Der schematische Ablauf des Protein-aus-Pulpe-Verfahrens (Pauli 2010: 93) Aufgrund des immensen Absatzvolumens von Kaffee hat das Protein-aus- Pulpe-Verfahren ein hohes Potenzial. Allein in Städten könnten nach diesem Prinzip jährlich Millionen Tonnen Nahrungsmittel für den menschlichen Verbrauch auf Kaffeeabfällen entstehen. Hier kommt eine der Logiken der Blue Economy zur Anwendung, die besagt, dass Nährstoffe, Materie und Energie in natürlichen Systemen weiterverwendet werden - Abfälle gibt es nicht. Jedes Nebenprodukt ist Ausgangsstoff für ein neues Produkt (Wall Street Journal 2011). Zwischen 10 und 15 Cafés sind nötig, um genug Kaffeesatz für eine Pilzzucht anzusammeln. Eine Pilzzucht würde ungefähr 10 Arbeitsplätze bieten. Bei 21.000 Cafés in den USA sowie ca. 100.000 weiteren weltweit beliefe sich das Potenzial auf 1,2 Mio. neue Arbeitsplätze. Auf den Kaffeeplantagen ist das Potenzial noch viel größer. Pro Plantage könnten durchschnittlich zwei Arbeitsplätze für die Pilzzucht entstehen. Bei weltweit ungefähr 25 Mio. Kaffeeplantagen würde das 50 Mio. Arbeitsplätze bedeuten. Insgesamt wird das weltweite Potenzial dieser im Rahmen des Blue Economy Konzeptes als „Waste-to- Protein“ bezeichneten Innovation auf 51,2 Mio. Arbeitsplätze geschätzt (Pauli 2010: 91). Beispiel 2: Nutzung von Maden - das Songhai-Modell Das Songhai-Zentrum in der Republik Benin in Afrika ist eine Art Biobauernhof. 1987 rief Pater Nzamujo ein integriertes Ackerbau- und Viehzuchtprojekt ins Leben. Ziel war es, die Ernährungssicherheit als Grundbedürfnis der Menschen zu verbessern. Nzamujo kam auf die Idee, an einer entlegenen Sammel- <?page no="203"?> 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie 203 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit fläche im Songhai-Center Schlachtabfälle in quadratischen Betonbehältern anzusammeln. Diese werden durch ein Netz gegen Geier und andere Vögel geschützt. Die Abfälle ziehen Fliegen an, die in dem Fleisch ihre Eier legen. Nach kurzer Zeit schlüpfen Maden und wachsen heran. Anschließend wird Wasser in die Betonbehälter gegeben, und die Maden kommen zum Atmen an die Oberfläche, wo sie abgesammelt werden können. Für die Maden gibt es vielseitige Verwendungsmöglichkeiten: a) Fischfutter: Die Maden werden an Fische verfüttert, die im Anschluss gefangen und von den Bewohnern gegessen werden. Die Überreste, die hier entstehen, werden zur Anreicherung des Ackerbodens weiterverwendet. Somit können Feldfrüchte ohne die Verwendung von chemischen Düngemitteln angebaut werden. b) Wachtelfutter: Die Maden werden zur Fütterung der Wachteln des Songhai-Centers verwendet; die Eier der Wachteln werden als Delikatesse nach Frankreich exportiert. c)zur Erstellung von Wundheilungsmedizin: Maden haben hinsichtlich medizinischer Einsatzmöglichkeiten ein großes Potenzial. Sie reinigen Wunden, entfernen nekrotisches und verschonen lebendes Gewebe, ohne dass Bakterien zurückbleiben. So kann auf den Einsatz von Antibiotika verzichtet werden. Des Weiteren produzieren Maden Enzyme, die das Zellwachstum stimulieren. Mit einem einfachen Verfahren können die Enzyme gewonnen werden: Die Maden werden dazu in Salzwasser getaucht und so zum Erbrechen gebracht. Das enzymreiche Sekret, das so gewonnen wird, kann nach gründlicher Reinigung und Sterilisierung zur Wundheilung verwendet werden. Der Wert des Sekrets ist um einiges höher als der des gesamten Versorgungssystems (Pauli 2010: 135). Aktuell können im Songhai-Center monatlich 60 Pfund des Madensekrets produziert und die Kosten für Wundversorgung drastisch verringert werden. Im Hinblick auf ganz Afrika hat dieses Modell ein viel größeres Potenzial: Würden die afrikanischen Schlachtereien ihren Betrieb um eine Madenfarm mit Fisch- und Geflügelzucht erweitern, könnten ca. 300 - 500.000 Arbeitsplätze entstehen sowie die Ernährungssicherheit und die Gesundheitsversorgung verbessert werden. Es könnten Probleme im Zusammenhang mit Schlachtabfällen vermieden und so viel Madensekret produziert werden, dass Überschüsse exportiert werden könnten. Patienten würden schneller und insgesamt nachhaltiger geheilt werden (Pauli 2010: 130 ff.). Die 21 Prinzipien der Blue Economy Wie aus den genannten Beispielen ersichtlich wird, beruht die Blue Economy auf wiederkehrenden Prinzipien, die sich vielfältig kombinieren lassen. Die 21 grundlegenden Prinzipien sind folgende (Blue Economy 2014a): <?page no="204"?> 204 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 1. Lösungen basieren vor allem auf den Gesetzen der Physik. Die entscheidenden Faktoren sind Druck und Temperatur, so wie sie vor Ort vorliegen. 2. Ersetze ‚etwas‘ durch ‚nichts‘ - Hinterfrage bei jeder Ressource, ob sie wirklich notwendig für die Produktion ist. 3. Nährstoffe, Materie und Energie werden in natürlichen Systemen immer weiterverwendet - Abfälle gibt es nicht. Jedes Nebenprodukt ist Ausgangsstoff für ein neues Produkt. 4. Die Natur hat sich von wenigen Spezies hin zu einer reichen Artenvielfalt entwickelt. Reichtum heißt Vielfalt. Industrielle Normierung ist das Gegenteil. 5. Die Natur bietet Raum für Unternehmer, die mehr aus weniger herstellen. Die Natur steht im Gegensatz zur Monopolisierung. 6. Die Schwerkraft ist die Hauptenergiequelle, die zweite erneuerbare Ressource ist die Sonnenenergie. 7. Wasser ist das primäre Lösungsmittel (keine komplexen, chemischen, giftigen Katalysatoren). 8. Die Natur unterliegt ständiger Veränderung. Neuerungen gibt es immer. 9. Die Natur arbeitet nur mit dem, was es vor Ort gibt. Nachhaltige Wirtschaft respektiert nicht nur die lokalen Ressourcen, sondern auch Kultur und Tradition. 10. Die Natur richtet sich nach Grundbedürfnissen und entwickelt sich dann zum Überfluss. Das gegenwärtige Wirtschaftsmodell basiert auf Knappheit als Grundlage für Produktion und Konsum. 11. Natürliche Systeme sind nicht geradlinig. 12. In der Natur ist alles abbaubar - es ist lediglich eine Frage der Zeit. 13. In der Natur steht alles miteinander in Verbindung und entwickelt sich symbiotisch. 14. In der Natur sind Wasser, Luft und Boden Gemeingut, frei und reichlich vorhanden. 15. In der Natur schafft ein Prozess vielerlei Nutzen. 16. Natürliche Systeme bergen Risiken. Jedes Risiko ist ein Motivator für Innovationen. 17. Die Natur ist effizient. Daher nutzt nachhaltige Wirtschaft maximal die vorhandene Materie und Energie, so dass der Preis für den Endverbraucher sinkt. <?page no="205"?> 6.2 Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie 205 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 18. Die Natur sucht das Bestmögliche für alle Beteiligten. 19. In der Natur werden Nachteile zu Vorteilen. Probleme sind Chancen. 20. Die Natur strebt nach Diversifikationsvorteilen. Eine natürliche Innovation bringt mehrere Vorteile für alle. 21. Gehe auf Grundbedürfnisse ein mit dem, was du hast, entwickle Innovationen inspiriert durch die Natur, schaffe vielfältigen Nutzen ebenso wie Arbeitsplätze und soziales Kapital, biete mehr aus weniger. Eine Disziplin, an der sich die nachhaltige Innovationsforschung orientieren kann, ist die Bionik, d. h. von der Natur zu lernen bzw. die Natur als Inspiration zu nutzen. Die Bionik beschäftigt sich mit der Übertragung biologischer Prinzipien und Lösungen auf technische Probleme. Der Klettverschluss ist den elastischen Häkchen der Klette nachempfunden, die mittels dieser Funktion für ihre Verbreitung sorgt. Die Form von Walköpfen inspirierte zur runden Formgebung der Rumpfspitze großer Schiffe. Kühlsysteme in Gebäuden mit hohen Außentemperaturen orientieren sich an Prinzipien der Luftzirkulation, wie sie sich in Termitenbauten finden lassen. Die Wuchsform von Bäumen gibt Ingenieuren Anhaltspunkte, wie sich Struktur und Gewicht bei Bauteilen verbessern lassen. Die gebogenen, fächerförmigen Schwungfedern von Vögeln gaben Anlass zur analogen Bauweise der gebogenen Enden von Flugzeugtragflächen, den sog. Winglets (Müller-Prothmann, Dörr 2009: 102; Fücks 2013: 161). Bewertung der Blue Economy Seit ihrer Entwicklung hat sich die Blue Economy als sinnvolles und funktionierendes System bewiesen, belegt durch zahlreiche Praxisbeispiele. Von den 100 Innovationen, die aus dem Projekt entstanden sind, ist mittlerweile ein Drittel umgesetzt, ein weiteres Drittel gibt es bereits als Prototyp. Lediglich das letzte Drittel ist noch nicht marktfähig, jedoch wurde die Machbarkeit laut ZERI bereits wissenschaftlich belegt. Im Vergleich zur Green Economy ist die Blue Economy in ihren Ansätzen und Sichtweisen noch vorausschauender und innovativer. Aus ihren Prinzipien heraus macht sie Greenwashing unmöglich. Gemäß dem Prinzip der Dreidimensionalität adressiert das Konzept sowohl die ökonomische Dimension (Umsatz generieren) als auch die ökologische (von der Natur lernen und sie schützen bzw. Zusammenarbeit mit der Natur) und die soziale Dimension (Arbeitsplätze schaffen). Jede Blue-Economy-Unternehmung ist von Anfang an auf diesen Dreiklang ausgerichtet, während konventionelle Geschäftsgründungen häufig erst nachhaltig agieren, wenn sie Gewinn erzielt und bereits naturschädigend gewirkt haben. <?page no="206"?> 206 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 6.3 Nachhaltige Wertschöpfungskette und Kernkompetenz Ethik ohne Ökonomik ist leer, Ökonomik ohne Ethik ist blind. Karl Homann „Wo setze ich an? An welchen Stellschrauben kann ich drehen, damit sich etwas tut? ! “, fragt sich ein Nachhaltigkeitsverantwortlicher bei der Strategieformulierung. Nachhaltigkeit als Querschnittsthema birgt per se das Potenzial, entlang der gesamten Wertschöpfungskette integriert zu werden. Jedes Glied der Kette wird abgeklopft, ob es umwelt- und sozialverträglicher gestaltet, ob es reformiert oder optimiert werden kann - mit dem Ziel, Schwachstellen auszumerzen und positive Aspekte zu stärken. Idealerweise wird das Nachhaltigkeitsprinzip - umwelt- , sozial- und wirtschaftsverträglich gleichermaßen zu handeln - im gesamten Unternehmen und in allen Bereichen integriert; wahrscheinlicher ist die Konzentration auf ausgewählte Punkte. Die Wertschöpfungskette ist ein Modell, das bei der Orientierung hilft. Es hilft, die vielen unterschiedlichen Ebenen und Prozesse zu strukturieren und in einen logischen, nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen. Ihre Verbesserung der Wertschöpfung setzt auf zwei Ebenen an: Direkte Aktivitäten Sie sind unmittelbar an der Wertbildung für den Kunden beteiligt. Beispiele sind Montage, maschinelle Bearbeitung, Außendienst, Werbung, Produktgestaltung, Forschung. Indirekte Aktivitäten Sie gewährleisten die kontinuierliche Ausführung von direkten Aktivitäten. Beispiele sind Instandhaltung, Terminplanung, Betrieb der Anlagen, Verkaufs- und Forschungsverwaltung. Eine nachhaltigkeitsbezogene Wertschöpfungskette zeichnet sich dadurch aus, dass sie, wie oben erwähnt, die drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales immer im Blick behält, wie nachfolgende Abbildung 50 veranschaulicht. Beachte: Unerlässlich ist, dass sich der Gedanke der Nachhaltigkeit wie ein roter Faden durch das eigene „Housekeeping“ zieht, aber auch durch Forschung & Entwicklung, Einkauf, Produktion, Produktnutzungsphase, Logistik und Recycling. <?page no="207"?> 6.3 Nachhaltige Wertschöpfungskette und Kernkompetenz 207 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 50: Nachhaltigkeitsbezogene Wertschöpfungskette Welche nachhaltige Kernkompetenz haben wir? Im Zentrum Münchens gibt es an jeder Ecke eine Bäckerei der Kette Hofpfisterei. Die Verkäuferinnen sind freundlich, die Papiertüten recycelt und auch beim Markenlogo schwingt bei den gezeigten Getreideähren Tradition mit. Trotzdem kauft kein Mensch allein deshalb dort seine Brötchen. Was zählt, ist die Fähigkeit, geschmackvolle und ausschließlich mit biologisch angebauten Zutaten in Originalrezeptur zubereitete Backwaren, bei gleichbleibend hoher Qualität frisch herzustellen, dauerhaft und verlässlich. Dafür stehen die Leute Schlange. Die anderen Glieder der Wertschöpfungskette - ein gut ausgebautes Vertriebsnetz, Qualifikation des Personals, die Kommunikation etc. - unterstützen diesen Schlüsselerfolgsfaktor, sind aber nicht Hauptauswahlkriterium der Kunden. Dieser Punkt ist die Kernkompetenz. Kernkompetenz kann verstanden werden als die wesentliche Kompetenz, Qualifikation und Befähigung eines Unternehmens in einem Aspekt, in dem es eine Leistung zur Meisterschaft gebracht hat und sich dadurch von anderen Unternehmen unterscheidet. Sie ist Differenzierungs- und Alleinstellungsmerkmal, die spezifische, nur schwer nachzuahmende Stärke eines Unternehmens. Durch die Fokussierung auf seine Kernkompetenz kann sich ein Unternehmen von innen heraus durch einen Aspekt positionieren, der unnachahmlich ist. Die folgende Tabelle 25 nennt Unternehmen, die ihre Kernkompetenz sinnvoll Richtung Nachhaltigkeit ausgeschöpft haben. Der Schwerpunkt liegt bei den einen auf dem Gesamtunternehmen, der Marke oder Strategie, bei anderen auf ihren Produkten oder gestarteten Initiativen. <?page no="208"?> 208 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Tipp: Bei Interesse an einem der Unternehmen empfiehlt sich eine Online-Recherche. Schauen Sie sich die Webseite des Unternehmens, dessen Publikationen, Pressemitteilungen und Nachhaltigkeitsberichte an. Die dort gefundenen Informationen könnten gemäß der hier angeführten Ausführungen strukturiert werden und so den Grundstein für eine Bachelor- oder Masterthesis legen. Nachhaltigkeitspioniere Unternehmen Alnatura Vermarktung biologisch hergestellter Produkte; langfristige Kundenorientierung und anhaltendes organisches Wachstum ARAMARK Groß-Caterer; konsequent ökologische Auswahl von Lieferanten und Vertragspartnern Hofpfisterei Großbäckerei; hervorragende Qualität zu akzeptablen Preisen, vorbildliche Vermeidung von Lebensmittelverschwendung Marke GEPA Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH (GEPA); größter europäischer Importeur fair gehandelter Lebensmittel und Handwerksprodukte aus den südlichen Ländern der Welt Viessmann Heiztechnik-Unternehmen; Nachhaltigkeit seit 1966 im Markenkern verankert, technische Lösungen zur Energiewende Zukunftsstrategien (Konzern) 3M Innovationskonzern; ehrgeizige, quantifizierbare Unternehmensziele, konkrete Nachhaltigkeitsprogramme, konsequente Umsetzung, Ziele wiederholt übertroffen SAP Software-Riese; ermöglicht seinen Kunden die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien durch Softwarelösungen, die Nachhaltigkeitsmanagement in allen Unternehmensfunktionen erleichtern Siemens Konzern; klares, vielschichtiges Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, das konsequent umgesetzt wird, Vorreiterrolle im Bereich grüner Technologien, die global Impulse setzen Zukunftsstrategien (KMU) Herrmannsdorfer Landwerkstätten Trendsetter in der nachhaltigen Herstellung von ökologischen Lebensmitteln; ausschließlicher Direktbezug von regionalen landwirtschaftlichen Betrieben und Engagement im Erhalt von Nutztierrassen Müller - Die lila Logistik innovatives Geschäftsmodell, das Speditionsgeschäft mit Beratungsleistung verbindet, ermöglicht besonders ressourcenschonende Prozesse <?page no="209"?> 6.3 Nachhaltige Wertschöpfungskette und Kernkompetenz 209 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit VAUDE will bis 2015 umweltfreundlichster Outdoor-Ausrüster werden; maßgeblicher Förderer für die Initiierung von Zertifizierungsstandards in der Textilbranche Produkte Dienstleistungen Followfish Handelsplattform; ermöglicht eine vollständige Transparenz über die Herkunft von Fischen, breite Plattform, binnen kurzer Zeit etabliert SCHOTT Technologiekonzern; die umweltfreundliche Kochfläche „SCHOTT Ceran“ ist ein nachhaltiges Highlight, weil es unter kompletter Vermeidung von toxischen Emissionen über die gesamte Lieferkette hergestellt wird Vaillant Systemtechnik-Unternehmen; bietet viele Lösungen für effiziente Wärmetechnik aus einer Hand, z.B. „Eco- POWER“, das europaweit erste Mikrokraftwärmekopplungssystem für Einfamilienhäuser Initiative Adamec Recycling vorbildhafte Initiative zum Recycling von Elektroschrott; ressourcenschonende Wiedergewinnung von Wertstoffen wie Edelmetallen und seltenen Erden schon in den Ländern der Nutzung, Schutz vor Gesundheitsschäden für Menschen in ärmeren Ländern, die heute die Wertstoffe trennen Bayer Forschungsinitiative „Dream Production“ zur Verwendung von CO 2 als Rohstoff für die Kunststoffproduktion dm drogerie markt Mit „Ideen Initiative Zukunft“ unterstützt dm mit der Deutschen UNESCO-Kommission die Nachhaltigkeits- „Basis“. dm fördert tausende nachhaltige Projekte unterschiedlicher Art in Deutschland und verschafft dem Thema Nachhaltigkeit eine Breitenwirkung Tabelle 25: Nachhaltigkeitspioniere GLS: Die erste sozialökologische Bank der Welt „Geld ist unsere Kernkompetenz“, sagt Carsten Schmitz, Filialleiter der GLS-Bank in München. „Als erste sozial-ökologische Universalbank der Welt geht es uns um Transparenz, Menschlichkeit und die Förderung von Projekten in diesem Sinn.“ 1974 gegründet, finanziert sie nur Vorhaben, die sich an wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kriterien ausrichten. Projekte, die mit dem Geld der Kunden ermöglicht werden, fallen in die Bereiche ökologische Landwirtschaft, nachhaltiges Bauen, Wohnprojekte, regenerative Energien, die Biobranche, freie Schulen und Kindergärten, Gesundheit, Behinderteneinrichtungen, Leben im Alter oder Kultur. „Dabei können Kunden bei der Geldanlage angeben, wohin ihr Kapital <?page no="210"?> 210 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit fließen soll.“, so Schmitz. Über Fortschritte, Fakten und Hintergründe der jeweiligen Projekte informiert das Kundenmagazin ‚Bankenspiegel‘ einmal im Jahr. Die GLS-Bank steigerte ihre Bilanzsumme 2010 um 37 % und hat aktuell rund 90.000 Kunden, denen eine ethisch-ökologische Bank wichtiger ist als nur eine hohe Rendite. Sustainability Balanced Scorecard Ein weiteres Strategiewerkzeug ist die Sustainability Balanced Scorecard (SBSC) ( QR), die bei der Strategieformulierung verstärkt externe Faktoren und unterschiedliche Perspektiven einbezieht. Wörtlich übersetzt mit „ausgewogener Berichtsbogen“ ist die Balanced Scorecard ein ganzheitliches Konzept zur Messung, Dokumentation und Steuerung der Aktivitäten eines Unternehmens hinsichtlich seiner Vision und Strategie. Abb. 51: Sustainability Balanced Scorecard (SBSC) Die SBSC ist ein wertorientiertes Konzept des strategischen Nachhaltigkeitsmanagements und stellt die Erweiterung der konventionellen BSC dar, indem sie Umwelt- und Sozialaspekte - also das nicht-marktliche bzw. nicht-monetäre Umfeld - integriert. Die vier Perspektiven sind <?page no="211"?> 6.3 Nachhaltige Wertschöpfungskette und Kernkompetenz 211 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit a) Finanzperspektive; b) Kundenperspektive; c) interne bzw. Prozessperspektive; d) Mitarbeiter-, Potenzialbzw. Lern- und Wachstumsperspektive. Ziel ist, die strategisch zentralen ökonomischen, ökologischen und sozialen Ziele zu ermitteln, zu systematisieren und zu steuern, sowie nicht-monetäre Aspekte bei der Planung und Umsetzung von Unternehmensstrategien zu berücksichtigen. Weitere Managementsysteme, die zur Orientierung heranzuziehen sind, sind in folgender Tabelle aufgeführt: Qualitätsmanagementsysteme Sozialmanagementsysteme EMAS ISO 14001 PDCA-Zyklus (plan, do, check, act) Sustainability EFQM Total Quality (Environmental) Management (TQM, TQEM) AccountAbility (AA) 1000 OHSAS 18001 Safety Certificate Contractors (SCC* und SCC**) Social Accountability (SA) 8000 Tabelle 26: Managementsysteme Nachhaltigkeit muss im Kerngeschäft und in der gesamten Wertschöpfungskette eines Unternehmens verankert sein. Ist dies dagegen nur an vereinzelten Stellen der Fall, noch dazu in homöopathischen Dosen, ist vom vielzitierten Greenwashing die Rede. Greenwashing bedeutet sinngemäß „sich ein grünes Mäntelchen umhängen“. Die Bezeichnung wird meist kritisierend verwendet, weil sie für Kommunikationsmethoden steht, die darauf abzielen, einem Unternehmen ein umweltfreundlicheres und verantwortungsvolleres Image zu verleihen als es der Realität entspricht. Der Begriff spielt auf „Grün“ als Symbol für Natur und Umweltschutz sowie „waschen“ auf Geldwäsche oder „sich reinwaschen“ an (Winistörfer et al. 2012: 326). Beim Greenwashing nutzen PR-Spezialisten Techniken aus der Öffentlichkeitsarbeit, der Rhetorik und der Manipulation zur Umdeutung von Unternehmensgeschichte und -aktivitäten. So behaupten die Unternehmen u.a., die Ausrottung der Armut und des Welthungers voranzutreiben und ihre Produkte fair zu handeln oder auf ökologische und klimaverträgliche Weise herzustellen. Eine weitere Technik ist es, einzelne umweltfreundliche Leistungen, Aktivitäten oder Ergebnisse mittels Kampagnen, Presseaktionen oder Werbeanzeigen öffentlich herauszustellen. In diesem Zusammenhang sind auch verzerrende Einzelaus- <?page no="212"?> 212 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit sagen zu sehen, z.B. über ein umweltfreundlicheres Produkt, was an sich der Wahrheit entspricht, jedoch das umweltverschmutzende Kerngeschäft des Unternehmens unerwähnt lässt. Nachhaltigkeit setzt immer bei dem Kerngeschäft und entlang der gesamten Wertschöpfungskette an. Eine besondere Form des Greenwashing sind Kooperationsprojekte mit Partnern v. a. NGOs, die in der Öffentlichkeit ein positives Image haben und mit Umweltfreundlichkeit, uneigennützigem ökologischen Engagement oder Unabhängigkeit assoziiert werden. Meistens handelt es sich bei diesen Projekten um Sponsoring und nicht automatisch um Greenwashing. Allgemein anerkannte Kriterien zur Unterscheidung fehlen jedoch bislang. Daher haben sich einige Umweltorganisationen Richtlinien für Sponsoring oder Kooperationen definiert, mit denen Greenwashing oder entsprechenden Vorwürfen begegnet werden soll. Beispiele für Greenwashing Globaler Image-Crash. Der VW-Abgasskandal dürfte das aktuell „beste“ Negativbeispiel zum Thema Greenwashing sein. Mittels Software wurden bei rund elf Millionen Dieselmotoren die Emissionen unter den erlaubten Höchstwert manipuliert, und das obwohl Martin Winterkorn, damaliger Vorstandschef, davon sprach, verantwortliches Handeln sei seit jeher Teil der Unternehmenskultur gewesen (Spiegel Online 2015). RWE, der Energieerzeuger mit Europas größtem CO 2 -Ausstoß, zeigt sich in einem TV-Werbespot bildlich als „grüner Energieriese“, der mittels Wasserstrom einen positiven Beitrag für das Klima leistet und Windkraftanlagen wie Bäume pflanzt, obwohl nur 2 % des von RWE produzierten Stromes aus erneuerbaren Energien hergestellt werden (Greenpeace Deutschland 2009). Der Energiekonzern Vattenfall wirbt mit Windrädern, obwohl gleichzeitig von ihm in Hamburg das größte Kohlekraftwerk Europas gebaut wird (Vattenfall 2014). McDonalds stellt zeitweise seine legendäre Firmenfarbe Rot auf Grün um - als „Bekenntnis zur und Respekt vor der Umwelt“. Gleichwohl steht McDonalds u. a. wegen des anfallenden Verpackungsmülls in der Kritik (Greenpeace Deutschland 2014). Demgegenüber ist der Otto Versand ein Beispiel für gelungene Nachhaltigkeitskommunikation. Die nachhaltige Umweltpolitik wird online ausführlich und publikumswirksam dargestellt. Inhaltlich fördert der Otto Versand z. B. die Verringerung des Straßenfrachtverkehrs und ein schadstoffgeprüftes Angebot seiner Artikel. Es besteht ein Code of Conduct, der Regeln für die Zusammenarbeit mit Lieferanten, z.B. bezüglich Mindestlöhnen oder Ausschluss von Kinderarbeit, formuliert (Ottogroup 2012, 2017). <?page no="213"?> 6.4 Nachhaltigkeitsmanagementsysteme 213 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Immer mehr Reiseveranstalter, vor allem nachhaltige wie Studiosus, forum anders reisen oder neuewege.com bieten „atmosfair“ als Option bei der Urlaubsbuchung an. 6.4 Nachhaltigkeitsmanagementsysteme Ein bereits vorgestelltes integriertes Nachhaltigkeitsmanagementsystem ist die SBSC. Ergänzend werden im Folgenden weitere Systeme und Konzepte des Nachhaltigkeitsmanagements angeführt, die in Unternehmen bislang am meisten verbreitet sind und die künftig an Bedeutung gewinnen dürften. 6.4.1 Umweltmanagementsysteme Der Begriff Umweltmanagementsystem bezeichnet ein ganzheitliches und strategisches Rahmenwerk, mit dessen Einführung Unternehmen sich zu höheren Qualitätsstandards im Bereich Ökoeffizienz und -effektivität sowie Umweltschutz verpflichten. Im Gegenzug profitieren sie von einer Reihe von Vorteilen, die folgende Tabelle anhand von Beispielen auflistet. Aspekt Anmerkung/ Vorteile Strategisches Rahmenwerk UMS bieten eine strukturierte Methodologie zur Einführung von Umweltaspekten und einen international anerkannten Standard. Druck in der Supply Chain Öffentliche und private Einrichtungen verlangen zunehmend ein zertifiziertes UMS, mit dem der Nachweis eines umweltorientierten Wirtschaftens erbracht werden kann. Erweiterung des Außenhandels Obwohl Regierungen keine offizielle Koppelung zwischen Außenhandelsaktivitäten und UMS fordern, wird ISO 14000 zum Quasistandard in diesem Bereich. Reduktion der regulatorischen Auflagen Durch die Einführung eines UMS können die umweltrechtlichen Regulatorien proaktiv adressiert und damit Strafen vermieden werden. Gleichzeitig können Zulassungsprozesse schneller und günstiger durchlaufen werden. Kostenreduktion Der Standard führt ein Wertschöpfungsketten-Management ein, bei dem die externen und internen Faktoren gemeinsam betrachtet werden. Es kommt zu einer verbesserten Umweltleistung. Stakeholder- Interessen Die Zertifizierung hilft bei Adressierung der Bedürfnisse der Anspruchsgruppen von Umweltaktivisten bis Shareholdern. Image Die Zertifizierung stellt einen Bestandteil der Imagebildung dar. Tabelle 27: Vorteile durch Umweltmanagementsysteme <?page no="214"?> 214 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit EMAS EMAS gilt als ein Gütesiegel der EU in Sachen Ökoeffizienz. Die Abkürzung steht für Eco-Management and Audit Scheme, auch bekannt als EU-Öko-Audit oder Öko-Audit. Von der EU entwickelt, ist EMAS ein System, das Organisationen, die ihre Umweltleistung verbessern wollen, hilft, Umweltmanagement zu nutzen sowie eine Umweltbetriebsprüfung durchzuführen. EMAS ist das weltweit anspruchsvollste System für nachhaltiges Umweltmanagement in der EU (BMU 2009). Organisationen werden mit dem EU-Label ausgezeichnet, wenn sie die Anforderungen der EMAS-Verordnung erfüllen: Sie verwenden das standardisierte Managementsystem EMAS, um eine kontinuierliche Verbesserung ihrer ökologischen Performance zu verfolgen. Sie berichten über ihre selbst gesteckten Umweltziele und deren Umsetzung, etwa in der jährlichen EMAS-Umwelterklärung, und lassen sich durch einen unabhängigen Umweltgutachter validieren. Die Umweltgutachter kontrollieren, ob EMAS in der Praxis richtig umgesetzt wird und garantieren, dass die EMAS-Teilnehmer alle Umweltvorschriften einhalten, d.h. in Übereinstimmung mit der sogenannten Legal Compliance sind. ISO 14001 Das internationale Pendant zu EMAS ist die ISO 14001. Als Umweltmanagementnorm legt sie weltweit anerkannte Anforderungen an ein Umweltmanagementsystem fest. Der Schwerpunkt liegt auf der Methodik des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) zur Erreichung der jeweils definierten Zielsetzung in Bezug auf die Umweltleistung gemäß des PDCA-Zyklus. Bestandteile der ISO 14001 sind: allgemeine Anforderungen Umweltpolitik Implementierung und Durchführung Kontroll- und Korrekturmaßnahmen Bewertung durch die oberste Leitung Die ISO 14001 ist Teil der ISO-Normenfamilie zum Umweltmanagement. Sie beinhaltet zahlreiche weitere Normen zu verschiedenen Bereichen des Umweltmanagements, u. a. zu Ökobilanzen, Umweltkennzahlen bzw. zur Umweltleistungsbewertung. Die Umweltnorm ISO 14000 bezieht sich auf betriebliches Umweltmanagement, das die Identifikation und Kontrolle der Auswirkungen auf die Umwelt sowie auf die Verbesserung der Umweltverträglichkeit beinhaltet. Ebenfalls relevant sind die Normen ISO 14020-14025 Umweltkennzeichnungen und -deklarationen sowie ISO 14040-14043 Ökobilanz. <?page no="215"?> 6.4 Nachhaltigkeitsmanagementsysteme 215 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit ISO 9001 Produktivität und Preis waren früher die Schlüsselfaktoren für den Unternehmenserfolg. Durch die Globalisierung der Märkte verschärft sich der Wettbewerb, und der Markt stellt zahlreiche zusätzliche Anforderungen an Unternehmen. Kriterien wie Innovations-, Anpassungsfähigkeit, Kundenorientierung und Qualität entscheiden zunehmend über den Erfolg von Unternehmen. Die ISO 9001 unterstützt Unternehmen mit einem Qualitätssicherungsnachweis gezielt für die Bereiche Entwicklung, Konstruktion, Fertigung, Montage und Dienste. Insbesondere die ISO 9001: 2008 unterstützt Unternehmen dabei, festzulegen, welche Vorgaben im Dienstleistungs- und Produktionsbereich sinnvoll sind, damit sie die Qualitätssicherung und Effektivität in sämtlichen Abteilungen und Schnittstellen gewährleisten. Eine Zertifizierung belegt, dass ein Unternehmen in der Lage ist, Produkte bereitzustellen, die den Anforderungen der Kunden entsprechen. Sie zeigt, dass ein Betrieb alle behördlichen Anforderungen erfüllt und ständig anstrebt, die Kundenzufriedenheit zu erhöhen. 6.4.2 Sozialmanagementsysteme Sozialmanagementsysteme bezeichnen Systeme zur Sicherstellung von Menschenrechten und Arbeitssicherheitsstandards in Unternehmen. Basierend auf international anerkannten Regelwerken wie den Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder der Menschenrechtserklärung der UN helfen SMS unternehmensinterne und/ oder vorgelagerte Prozesse in der Wertschöpfungskette auf mögliche Regelwerksverletzungen hin zu überprüfen. Sie sind insbesondere für Unternehmen relevant, die Waren aus Entwicklungs- und Schwellenländern beziehen, in denen Kinder- oder Zwangsarbeit, z. B. in Form sog. „Sweatshops“, d.h. Ausbeutungsbetriebe, bestehen. ISO 26000 Die ISO 26000 unterstützt als Leitfaden Unternehmen bei der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Im Jahr 2011 veröffentlicht, ist die ISO 26000 keine zertifizierbare Managementsystem-Norm wie ISO 9001 oder ISO 14001. Sie gibt Handlungsempfehlungen für sieben Kernthemen vor, die als Prinzipien sozialer Verantwortung gelten können. Diese sind: Organisationsführung Menschenrechte Arbeitspraktiken Umwelt faire Betriebs- und Geschäftspraktiken Konsumentenanliegen Einbindung und Entwicklung der Gemeinschaft Der Unternehmensführung kommt dabei als institutionell-funktionale Voraussetzung für die anderen Bereiche eine Sonderstellung zu. <?page no="216"?> 216 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit OHSAS 18001 OHSAS steht für Organizational Health and Safety Assessment System. OHSAS 18001 ist ein international anerkannter Standard für die Zertifizierung von Managementsystemen im Hinblick auf Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz. Er dient Unternehmen zur Vermeidung von Arbeitsunfällen und zur Erfüllung von Anforderungen im Bereich der Sicherheit und Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Ziele sind bspw.: Senkung der Arbeitsunfälle Senkung der gesundheitlichen Belastungen der Beschäftigten Verringerung von Fehlzeiten durch bessere Arbeitsorganisation und Arbeitsplatzumgebung Verbesserung der Qualität der Produkte durch erhöhte Sicherheit Verbesserung der finanziellen Lage durch Senkung von Krankenstand- und unfallbezogene Kosten Verbesserung der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens durch Berücksichtigung des demographischen Wandels Verringerung der Belastung der Volkswirtschaft durch jährlich zahlreiche, neue Unfallrenten, Renten für anerkannte Berufskrankheiten und Sterbegeld Hauptanliegen einer Zertifizierung durch OHSAS 18001 ist der Nachweis für Unternehmen, sich an feste Standards und Vorgehensweisen im betrieblichen Gesundheitsschutz, insbesondere hinsichtlich der Unfallvermeidung, zu halten. Safety Certificate Contractors Inhaltlich verwandt zu OHSAS 8001 ist das System Safety Certificate Contractors (SCC). Es fungiert als ein internationaler Standard für Sicherheits-, Gesundheits- und Umweltschutzmanagement und richtet sich v.a. an technische Dienstleistungsunternehmen und Kontraktoren wie Bau-, Wartungs-, Montage-, Installationsbetriebe sowie Reinigungs-, Transport- und Entsorgungsunternehmen. Der SCC-Standard wurde entwickelt, um die Anforderungen an die Auftrags- und Subauftragsnehmer zu vereinheitlichen. Im Mittelpunkt der Bewertung stehen Themen wie Ausbildung oder Reduktion der Unfallhäufigkeit. Social Accountability 8000 Social Accountability 8000 und AccountAbility 1000 sind zentrale Normenkataloge zur Prüfung des Sozialmanagements eines Unternehmens. Die Norm SA8000 gilt als freiwilliger Arbeitsplatzstandard. Als ein Sozialstandard bezieht sie sich auf die Auditierung und Zertifizierung von Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechten in Produktions- und Dienstleistungsunternehmen (SAI 2013). Sie basiert auf den Kernarbeitsnormen der ILO, der UN- Menschenrechtscharta und der UN-Kinderrechtskonvention und umfasst Forderungen wie: <?page no="217"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 217 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit Gewährleistung von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz Garantie zur Organisationsfreiheit und das Recht auf kollektive Verhandlungen Verbot von Diskriminierung und Strafmaßnahmen Die wöchentliche Arbeitszeit darf 48 Stunden nicht überschreiten; zusätzlich werden wöchentlich max. 12 Überstunden auf freiwilliger Basis zugestanden. existenzsichernde Lohnzahlung effiziente Managementsysteme Der SA8000 Standard wurde 1997 festgelegt und ergänzt vorhandene Managementsysteme wie ISO 9000 oder ISO 14000. AccountAbility 1000 Eine Prüfung nach AA1000 bescheinigt die Verlässlichkeit von Informationen, wie z. B. die Zuverlässigkeit eines Nachhaltigkeitsberichts und erhöht damit seine Vertrauenswürdigkeit. Der erste integrierte Standard für Nachhaltigkeitsinformationen hat das Ziel, durch die Prüfung nach AA-Prinzipien die Reputation und Glaubwürdigkeit gegenüber den Stakeholdern weiter zu stärken. Damit unterstützt die Norm das betriebliche Nachhaltigkeits-Reporting. Fragestellungen sind hier z. B.: Erfolgt eine umfassende Identifikation und Priorisierung von Stakeholdern? Gibt es ein wirkungsvolles Stakeholder-Management, und wird dieses in die Nachhaltigkeitsstrategie und Unternehmensorganisation integriert? Sind Prozesse und Zuständigkeiten bezüglich Anfragen von Stakeholdern klar definiert? Im Hinblick auf den Nutzen durch AA1000 schneiden Unternehmen, die ihre Nachhaltigkeitsberichte nach dem Standard prüfen lassen, in Nachhaltigkeitsrankings branchenüberdurchschnittlich ab. 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell Moral, Werte, Vertrauen - das soziale Gerüst stellte früher die Gesellschaft den Unternehmen zur Verfügung. Kostenlos. Heute müssen Unternehmen in diese Faktoren investieren. Manager Magazin Als ressourcenökonomisches Gerechtigkeitsleitbild muss Nachhaltigkeit in sämtliche Funktionen, Bereiche und Ebenen - horizontal wie vertikal - integriert werden. In welche Sphären des Unternehmens es Eingang finden muss, veranschaulicht das Organisationsmodell in Abbildung . <?page no="218"?> 218 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das Organisationsmodell ist als orientierungsgebende Landkarte zu verstehen, die im Hinterkopf zu behalten ist, wenn es an die Umsetzung von Nachhaltigkeit in Unternehmen geht. Während die Ausführungen zur Strategie helfen, die Grundausrichtung festzulegen, werden in diesem Abschnitt Bereiche genannt, in denen diese operationalisiert und damit praktisch wirksam werden kann. In Kürze sind Wesen, Nutzen und Maßnahmen zu den fünf wichtigsten organisationalen Bausteinen beschrieben. Abb. 52: Von der Strategie zur Umsetzung Abb. 53: Organisationsmodell (Management Center Vorarlberg) <?page no="219"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 219 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 6.5.1 Nachhaltige Unternehmenskultur - weicher Faktor mit harten Folgen Das höchste Ziel des Kapitals ist nicht Geld zu verdienen, sondern der Einsatz von Geld zur Verbesserung des Lebens. Henry Ford Auf trockener Erde gedeiht nichts. Die Unternehmenskultur ist der Nährboden für sämtliche Nachhaltigkeitsbemühungen in sozialer Hinsicht. Sie schafft Rückendeckung, Motivation, Dynamik, Visions- und Schubkraft. Und damit die Voraussetzungen in den Köpfen und Herzen der Menschen, Mitarbeiter und Beteiligten, ohne die Nachhaltigkeit nicht vorankommt. Ohne breite Akzeptanz lässt sich keine Strategie in die Realität überführen. Für Nachhaltigkeitsstrategien gilt dies umso mehr, leben sie doch von Authentizität und Glaubwürdigkeit. Unternehmenskultur meint die Gesamtheit geteilter Werte, Normen und Einstellungen in einem Unternehmen; es ist der Blick auf das Unternehmen als Kultursystem samt Eigenheiten. Jedes Unternehmen (und jede Organisation) bildet, pflegt und entwickelt seine spezifische Kultur. Sie wird erfahrbar im Zusammenleben der Mitarbeiter, darin, wie sie fühlen, denken, entscheiden und handeln; wie auch im Auftreten nach außen, der Unternehmensidentität bzw. Corporate Identity. Eine gute Unternehmenskultur ist der lebendigste Ausdruck von Nachhaltigkeit - sie steht für menschliches, fürsorgliches, gesundes und daher produktives Miteinander. Unternehmenskultur ist ein weicher Faktor mit harten Folgen. Abb. 54: Unternehmenskultur - das Eisberg-Modell <?page no="220"?> 220 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das Eisberg-Modell illustriert: Das Gros einer Unternehmenskultur spielt sich unter der Oberfläche ab. Während das Sichtbare zu gerade einmal 10 % in Form von Sprache, Ritualen und Etikette erlebt wird, bleiben weiche Faktoren wie Stimmungen, Beziehungen und das Wesen von Menschen zu 90 % dem logisch-rationalen Erfassen verschlossen. Psychosoziale Gesundheit als Erfolgsfaktor Das, was der Sozialforscher Leo A. Nefiodow die „psychosoziale Gesundheit“ nennt, wird zum Angelpunkt der nächsten Welle von Produktivitätssteigerung. Nicht mehr die Anzahl oder die Datenbandbreite der Server, sondern wie Menschen in ihrem sozialen Umfeld agieren, wie sie im Unternehmen „empowert“ sind, entscheidet über den Erfolg. Soziale Techniken und Kompetenzen, die sogenannten „soft factors“, sind die eigentliche Produktivitätsreserve der nächsten Runde der Ökonomie. Wie lässt sich nun eine für Nachhaltigkeitsengagement zuträgliche Unternehmenskultur schaffen, eine Kultur, die sensibilisiert für Verantwortung, Weitblick und Harmonie? Die Gestaltung der Unternehmenskultur muss dreierlei in Einklang bringen: Unternehmensziele, Mitarbeiterzufriedenheit und Kundenorientierung. Maßnahmen, die dabei helfen, sind z.B. ein Unternehmensleitbild in Übereinstimmung mit dem Nachhaltigkeitsleitbild; Mitarbeiterumfragen, um der Belegschaft eine Stimme zu geben; Programme und Initiativen, die informieren und das Bewusstsein erhöhen wie z.B. autofreier Tag, Fahrgemeinschaften, grünes Jobticket oder interne Informationstage; Kompetenz-Entwicklungs-Systeme, v.a. immaterielle Anreizsysteme, Mentoring sowie Jobrotation, die Mitarbeiter durch die Möglichkeit „unkonventionellen“ Engagements motiviert und zufriedener macht, weil sie sehen, dass ihr Unternehmen menschlich, offen und entgegenkommend ist. Beispiele für Faktoren einer nachhaltigen Unternehmenskultur sind eine Führung, die auf Partnerschaftlichkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen basiert; eine unabhängige, engagierte Unternehmensaufsicht; Moral, Ethik, gelebte Werte, Gemeinschaftssinn, Miteinander; Empowerment des Einzelnen und - vor allem - Lern- und Entwicklungsbereitschaft. Lernen wir als Organisation dazu? Eine lernende Organisation ( QR) meint ein System, das in beständiger Bewegung ist. Ereignisse werden als Anregungen für Entwicklungsmöglichkeiten genutzt, um die Wissensbasis und Handlungsspielräume an die neuen Erfordernisse anzupassen. Zugrunde liegt eine offene und von Individualität geprägte Organisation, die innovatives Problemlösen als Chance begreift und unter- <?page no="221"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 221 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit stützt. Unternehmen, die sich daran orientieren, kreieren durch weiche Maßnahmen den Rahmen für messbaren, langfristigen Erfolg, weil eine tragfähige menschliche Basis und „glückliches Humankapital“ das Fundament sind. 6.5.2 Nachhaltigkeits-Reporting - Ökosoziale Steuerung durch Kennzahlen Woher weiß ein Unternehmen, ob es Emissionen reduziert; wie hoch die Krankenrate ist; wie viele Auszubildende übernommen oder „grüne“ Produkte abgesetzt werden? Reporting erlaubt, diffuse Daten in klare, messbare Einheiten, Größen und Ratios umzuwandeln. Formell meint Reporting die interne, regelmäßige, standardisierte Berichterstattung an die oberste Führungsebene. Es unterstützt die Kommunikation mit externen Stakeholdern, weil es Indikatoren und Kennzahlen heranzieht, die eine dauerhafte Unternehmensbeobachtung und -entwicklung erlauben, die sich gut kommunizieren lässt. Non-Financial Reporting ( QR) bzw. Social Accounting bezieht ökologische und soziale Aspekte gezielt mit ein. Social Accounting meint dabei so viel wie einen Ansatz der Einbeziehung gesellschaftsbezogener Zielsetzungen bzw. gesellschaftsbezogener positiver (sozialer Nutzen) und negativer (sozialer Schaden) Auswirkungen unternehmerischer Tätigkeit in das betriebliche Rechnungswesen. Indem es sich an Kriterien wie Transparenz, Offenlegungspflichten und Selbstverpflichtungen orientiert, befriedigt es die gestiegenen Informationsbedürfnisse seitens der Anspruchsgruppen wie Analysten, Kapitalgeber, NGOs oder Konsumenten. Für Controller selbst gilt: Ihr Herz weitet sich, wenn sie Zahlen an der Hand haben, die ihnen sagen, wie viel und wofür. Die Leitfrage lautet, wie betriebliches Nachhaltigkeitsengagement wie Investitionen, Aktivitäten, Initiativen, Maßnahmen oder Programme in Zahlen gefasst werden kann. Merke: Für die Anwendung sind Kategorien wie Emissionsausstoß, Mitarbeiterengagement oder Kulturförderungsprojekte in Indikatoren umzuwandeln, wie z.B. Kohlendioxidemission in Tonnen, Anzahl der Ideen im betrieblichen Vorschlagswesen, jährlicher Sponsoringaufwand in Euro. Das Unternehmen erkennt so, wo es steht und wo Veränderungen vorzunehmen sind, um seine Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. <?page no="222"?> 222 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Tabelle 28: BMW Nachhaltigkeitsbericht (2016). Wesentliche Kennzahlen im 5-Jahres-Überblick Die Schritte umfassen dabei a) die Vergegenwärtigung der Wertschöpfungskette; b) die Definition von Kategorien für die wichtigsten Stellen; c) die Definition von diesbezüglichen Indikatoren; d) die Festlegung von Zeitabständen, Form und Adressaten für das Reporting sowie e) die Erstellung und Distribution eines Nachhaltigkeitsberichts. Das folgende Beispiel (Abb. 55) zeigt, welche Indikatoren, die sich in Zahlen konkretisieren lassen, die Allgäu GmbH ausgewählt hat und wie sich diese im Nachhaltigkeitsdreieck verorten lassen. Es veranschaulicht die Möglichkeit eines integrativen Ansatzes beim Controlling und Reporting. Nachhaltigkeitsberichte sind ein klassisches Reporting- und Kommunikationsinstrument. Sie fördern die interne wie öffentliche Diskussion und beeinflussen Werte und Ziele des Unternehmens ebenso wie Wettbewerbsvorteile. <?page no="223"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 223 Nachhaltigkeitsberichterstattung Nachhaltigkeitsberichte sind neben dem Geschäftsbericht ein wichtiger Bestandteil der Informationspolitik von Unternehmen. Aufgekommen in den 1990er Jahren bilden sie die Weiterentwicklung von Umweltberichten. Sie greifen die wichtigsten Themengebiete von Nachhaltigkeit auf und stellen die diesbezüglichen Tätigkeiten und Leistungen des Unternehmens dar. Damit sind sie ein Instrument des Nachhaltigkeitsmanagements als auch des Marketings. Inzwischen veröffentlichen vor allem Großunternehmen aller Branchen jährlich Nachhaltigkeitsberichte. Der Nachhaltigkeitsberichterstattung liegen vor allem drei Motive zugrunde: marktorientierte, managementorientierte sowie öffentlichkeitsorientierte Motive. Elemente der Berichterstattung sind a) Kernkennzahlen, b) Vorwort der Unternehmensleitung, c) Profil des berichtenden Unternehmens, d) Vision und Strategie, e) Managementsysteme sowie f) Unternehmensleistung. Seit 2005 werden in Deutschland in einem Ranking durch das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und future e.V. die Nachhaltigkeitsberichte von Unternehmen verglichen und bewertet. „Ein Leitfaden zur Praxis glaubwürdiger Kommunikation für zukunftsfähige Unternehmen. Der Nachhaltigkeitsbericht.“ findet sich hier QR. <?page no="224"?> 224 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 55: Nachhaltigkeitsindikatoren der Allgäu GmbH Abb. 56: Wirkung von Nachhaltigkeitsberichterstattung <?page no="225"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 225 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Nachhaltigkeitscontrolling ist ein noch junges Feld. Gleichwohl gibt es einige Konzepte und Controllinginstrumente, die das Feld konturieren, wie zum Beispiel: Energie- und Stoffstrommanagement Umweltkostenrechnung Materialflusskostenrechnung Stoffstromanalyse Life Cycle Assessment/ Ökobilanzierung Carbon Accounting Life Cycle Costing Key Performance Indicators Gesundheitskostenrechnung Gleichstellungscontrolling Sustainability Balanced Scorecard Zu beachten gilt, dass ausgehend von der Dreidimensionalität wie sie dem ganzheitlichen Nachhaltigkeitsprinzip per definitionem zu eigen ist, die soziale Dimension ins Hintertreffen gerät. Denn soziale Aspekte und Kriterien sind ungleich schwer zu erfassen und gewichten als dies bei ökologischen Mess- und Kennzahlen, Werten und Indikatoren der Fall ist. Emissionen lassen sich bspw. gut in Tonnen CO 2 bemessen, während die Mitarbeiterzufriedenheit oder Qualität einer Unternehmenskultur schwerer zu erfassen sind 6.5.3 Prozesse & Strukturen Wer macht was, wann, wie und womit? Prozessmanagement beschäftigt sich mit der Identifikation, Gestaltung, Dokumentation, Implementierung, Steuerung und Verbesserung von Geschäftsprozessen. Nachhaltiges Prozessmanagement verbessert Abläufe im Unternehmen, so dass sich der ökologische und sozial-personelle Ressourcenaufwand bei gleichbleibender oder zunehmender Effizienz verringert. Ansatzpunkte für die Verringerung von Belastungen sind dabei Nachhaltigkeit in Beschaffung und Einkauf, beim Ressourceneinsatz, im Transport- und Logistikbereich, in der Produktion (z.B. Lean Production), im Qualitätssystem (z.B. Verbesserungszirkel) sowie in Planung, Steuerung und Erhöhung der Messbarkeit von Nachhaltigkeit. Gesamtziel ist die Vermeidung nicht-nachhaltiger Anteile bei sämtlichen Prozessen. Zur Feststellung nicht-nachhaltiger Anteile im Produktionsprozess gilt es, diese Fragen zu beantworten: Wie viele der durchgeführten Tätigkeiten sind zur Erfüllung der Produktion unbedingt notwendig? Welche kosten-, umwelt- und sozial belastenden Tätigkeiten können ersetzt werden? <?page no="226"?> 226 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Wie viele Tätigkeiten dienen tatsächlich der Wertsteigerung? Wie viele Tätigkeiten haben wirklich einen Bezug zu dem, was der Kunde sieht und was für ihn wichtig ist? Wie können die einzelnen Prozessschritte nachhaltig gestaltet werden? Abb. 57: Nachhaltigkeit in der Prozesskette Merke Zwei Hebel, die bei geringem Aufwand hohen Nutzen bringen: positive Effekte verstärken oder negative vermindern mittels neuer oder veränderter Prozesse. Alles, was nicht der nachhaltigen Wertsteigerung dient, führt zu unnötiger Belastung. Dargestellt werden Prozesse und Strukturen durch Ablaufdiagramme und Organisationsmodelle. Nachhaltige Gestaltungsprinzipien und Lösungen sind als Standard festzulegen und in der Organisation zu verankern. Zur besseren Steuerung werden entsprechende Kennzahlen verwendet. Diese können in einer Balanced Scorecard dargestellt werden. Ein Beispiel dafür, wie nachhaltigkeitsorientierte Prozessoptimierung auf das Unternehmensziel emissionsfreies Fahrzeug hin ausdekliniert wird, ist Toyota. <?page no="227"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 227 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Toyota: Null-Emissions-Auto als Unternehmensziel Seit 2004 bewertet Toyota für jedes neue Fahrzeugmodell mittels Ecological Vehicle Assessment System (Eco-VAS) dessen Umweltauswirkungen von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum Betrieb und der Entsorgung. Im Entwicklungsstadium werden quantitative Ziele zur höchstmöglichen Reduzierung von Umwelteffekten definiert. Dies umfasst z.B. die Prüfung verwendeter Materialien, Komponenten und Fertigungsmethoden, des Kraftstoffverbrauchs und der Emissionswerte während der Fahrzeugnutzung sowie der Wiederverwertbarkeitsrate. Erfolgreichstes Resultat ist der Toyota Prius. Bei seiner Produktion konnte in den letzten zehn Jahren ein Drittel an CO 2 -Emissionen eingespart werden, z.B. durch die Verwendung von Dämmmatten aus pflanzlich hergestelltem Kunststoff. Der Hybrid-Antrieb reduziert den Kraftstoffverbrauch und die Emissionswerte während der Fahrzeugnutzung, die Wiederverwertbarkeit liegt bei 92 %. Toyotas Ziel ist ein Auto, das nach vielen Jahren des emissionsfreien Gebrauchs zu 100 % wiederverwertbar ist. Tipp: Eine gute Webseite zur Überprüfung des Aspektes nachhaltiger Beschaffung bietet der Selbst-Check mit Online-Fragebogen und direkter Auswertung ( QR). 6.5.4 Produkte & Technologien Jede Einheit industrieller Produktion benötigt eine bestimmte Menge nicht regenerierbarer Rohstoffe. Mit der langsamen Erschöpfung der Rohstoffvorräte wird immer mehr Kapital erforderlich, um gleiche Mengen von Rohstoffen zu gewinnen. Dennis Meadows Die i-Serie von BMW, Solarrucksäcke, die mobil Energie erzeugen, oder T- Shirts von Trigema oder Patagonia, die 100 Prozent kompostierbar sind: sie sind das Ergebnis nachhaltiger Produktentwicklung, machen sie doch von den in Kapitel 4 erwähnten Prinzipien Suffizienz, Konsistenz und Effizienz Gebrauch. Nachhaltig meint hier einerseits das, was produziert wird, und andererseits wie es produziert wird. Anders gefragt: Wie stellt das Unternehmen nachhaltige Produkte auf nachhaltige Weise her? Vorteile einer nachhaltigkeitsorientierten Produktentwicklung und Technologieverwendung sind, dass sich Unternehmen als innovative, weil stark umwelt- und gesellschaftsverantwortliche Unternehmen positionieren. Sie profitieren u.a. von First-Mover-Effekten, erschließen neue Märkte, Geschäftsbereiche und Zielgruppen und binden diese verlässlicher. Gleichzeitig bieten stete Verbesserungen und Fortschritte Material für die Außenkommunikation. Rechtlich besehen liegt der <?page no="228"?> 228 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit größte Vorteil darin, Gesetzverschärfungen, die sich heute schon abzeichnen, zuvorzukommen. Nachhaltigkeit bezieht sich im Kontext der Aspekte Produkte, Technologien und Ressourcen einerseits auf das, was produziert wird, und andererseits darauf, wie es produziert wird. Die Leitfrage lautet: Wie stellt ein Unternehmen nachhaltige Produkte auf nachhaltige Weise her? Im Zentrum steht damit die Produktion als das zentrale Glied und das Herzstück der Wertschöpfungskette, weil sie Produkte hervorbringt, die die Wirtschaftsgrundlage jedes Unternehmens bilden. Das Konzept des Produktlebenszyklus unterteilt den Prozess der Produkterstellung in konkrete Phasen und sensibilisiert damit für die Möglichkeiten einer umwelt- und sozialverträglichen Ausrichtung dieser Phasen. Abb. 58: Das Konzept des nachhaltigen Produktlebenszyklus Obwohl gerade das Thema Produktion einen zentralen Stellenwert bei Unternehmen einnimmt, wenn es darum geht, Nachhaltigkeit im Unternehmen umsetzen, kann es aus Platzgründen an dieser Stelle nicht vertieft behandelt werden. Stattdessen soll für Wesen und Charakter, für Nutzen und Ausdrucksformen einer nachhaltigen Produktgestaltung drei Aspekte beispielhaft herausgegriffen und nachfolgend erklärt werden, nämlich: nachhaltige Designprinzipien (= Gestaltungsprinzipien) Stoffstromanalyse (= Analyseverfahren) Cradle-to-Cradle (= umfassendes Produktionskonzept). Nachhaltige Designprizipien Nachhaltige Designprinzipien sind Prinzipien, die als Orientierung und Inspiration bei der Entwicklung neuer Produkte, Leistungen und Services anzusehen <?page no="229"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 229 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit sind. Je mehr der aufgeführten Designprinzipien zur Anwendung kommen, desto nachhaltiger ist die Produktentwicklung. Die in der Grafik näher bestimmten Prinzipien sind Materialeffizienz, Materialgerechtigkeit, Energieeffizienz, Schadstoffarmut und Abfallvermeidung, Langlebigkeit, Reparaturfreundlichkeit und Zeitbeständigkeit, Logistikgerechtigkeit sowie Recyclinggerechtigkeit und Entsorgungsgerechtigkeit. Die beiden folgenden Unternehmensbeispiele zeigen, wie obige nachhaltige Designprinzipien zur Anwendung gelangt sind. Nachhaltige Designprinzipien Mit ihrem Kampf für möglichst umweltfreundliche Materialien und Fertigungstechniken spielt Patagonia eine Vorreiterrolle in der Textilindustrie. Anfang der 1990er Jahre stellte die Firma fest, dass die Produktion von recycelten Polyesterfasern gegenüber neuen 76% Energie einspart. Der Verzicht auf konventionell mit Pestizid-Giften besprühte Baumwolle brachte die Produktion von Biobaumwolle weltweit in Schwung. Die verwendete Schafswolle wird einer besonders schonenden, chlorfreien Spezialwäsche unterzogen. Der penetrante Geruch der Rohwolle wird statt mit Chemikalien mit einer Eigenentwicklung aus zerstoßenen Krabbenschalen beseitigt. Vor zwei Jahren entwickelte Patagonia in Zusammenarbeit mit der japanischen Firma Tejin ein Verfahren, das es erlaubt, Fasern beliebig oft wiederzuverwerten. Künftig soll die gesamte Bekleidungslinie von Patagonia ausschließlich aus Recycling-Material gefertigt werden. Die ersten Versuche mit recycelter Baumwolle sind vielversprechend, aber gewöhnungsbedürftig. „Die Färbung ist noch ein Abenteuer“, heißt es dort in der Führung. Das Beispiel Greenkitchen von Bauknecht Den Energieverbrauch um 50%, die Energiekosten um bis zu 70% reduzieren. Diese Einsparungen will Bauknecht Haushalten durch das innovative Produkt- und Technologiekonzept Greenkitchen ermöglichen. Hier die Neuerungen im Detail: H 2 O Optimum Garer: Sensoren messen Gewicht und Konsistenz der Lebensmittel und errechnen selbstständig Garzeit und benötigte Wassermenge. Somit wird nur die Menge an Wasser und Energie verbraucht, die wirklich benötigt wird. Freestyle Kochfeld: konzentriert die Hitze und passt sie individuell der Topfgröße an, um somit Energie- und Wärmeverlust zu vermeiden. Herbarium: beheizt durch die Restwärme des Backofens bietet es ganzjährig ein Klima für den Kräuteranbau in der eigenen Küche. <?page no="230"?> 230 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Spülbecken: sauberes Wasser wird in einen speziellen Tank abgeleitet, gereinigt und danach wieder in den Nutzungskreislauf geführt z.B. für Geschirrspüler oder Pflanzenbewässerung. Schubladengeschirrspüler: Erhöhte Leistung bei gleichzeitig verringertem Energieverbrauch. Flexible Innenraumausnutzung durch zwei Bereiche, die Geschirr mit unterschiedlichem Verschmutzungsgrad spülen. Zeitersparnis. Fazit: Alle Geräte sind auf drei Kriterien ausgerichtet: den Verbrauch anzupassen, ihn zu reduzieren und die genutzte Energie zu recyceln. Welche Prinzipien insgesamt bei der Orientierung in Sachen nachhaltiges Design dienen, zeigt folgendes Schaubild. Abb. 59: Prinzipien nachhaltigen Designs Stoffstromanalyse Die Stoffstromanalyse ist inhaltlich und methodisch ein Instrument zur Implementierung und Durchführung von Stoff- und Energiebilanzen und wird hier vorgestellt, um für die physikalisch-mathematische Dimension im Bereich Produktion zu sensibilisieren. Dabei ergeben sich aus den unterschiedlichen betrieblichen, umweltökonomischen Zielsetzungen eine Vielzahl methodischer Ansätze zur Modell- und Systembildung, unter denen die Materialfluss- und Stoffstromanalyse zwei wirkungsvolle Beispiele sind. <?page no="231"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 231 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Mittels Stoff- und Energiebilanzen können Stoffsysteme abgebildet werden, die in der Praxis in Form von Betriebs-, Prozess- und Produktbilanzen erstellt werden. Grundlegend lassen sich die genannten Bilanzformen wie folgt unterscheiden: Betriebsbilanzen geben die Stoffströme einer einzelnen Organisation für einen bestimmten Bilanzzeitraum wieder. Prozessbilanzen sind das Ergebnis stofflicher und energetischer Bilanzierungen von einzelnen oder mehreren, hintereinander geschalteten Prozessschritten, z. B. von einer Anlage oder eines Verfahrens. Produktbilanzen bilden die Stoffströme eines Produktes über den gesamten Produktlebenszyklus ab. Mittlerweile wird die Produktökobilanz oft als Ökobilanz bezeichnet. Stoffstromanalysen sind eine gute Basis zur Untersuchung der betrieblichen Umweltauswirkungen im Rahmen des betrieblichen Umweltmanagements, z. B. nach ISO 14001 oder EMAS, zur Darstellung von Stoffverlusten und zum Auffinden von Ansatzpunkten für Verbesserungen. Ein methodisch weit entwickelter Ansatz zur Abbildung komplexer Stoffstromsysteme sind Stoffstromnetze. Sie verzichten auf lineare Gleichungssysteme und bedienen sich spezieller Graphen, die auf sog. Petri-Netzen basieren. Abb. 60: Beispiel für ein Sankey-Diagramm Eine weitere Möglichkeit zur Beschreibung von Stoffsystemen sind Fließbilder, wie in der Verfahrenstechnik zur Darstellung stofflicher und energetischer Flüs- <?page no="232"?> 232 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit se üblich. Flow Sheets können Prozesse oder Anlagen sowohl qualitativ als auch quantitativ beschreiben. Ein Beispiel für ein qualitativ-quantitativ beschreibendes Fließbild sind die sog. Sankey-Diagramme bei denen die Pfeilbreite der Stoffflüsse deren Quantität entspricht. Verfolgen Sie die Stränge in ihrem Verlauf. Beachten Sie die Bezeichnungen der einzelnen Bestandteile sowie ihre Größenangaben. Sowohl Fließbilder als auch Stoff- und Energiebilanzen sind deskriptive Modelle von Stoffstromsystemen, die als Grundlage einer systematischen Bewertung der Effizienz der Stoffnutzung herangezogen werden können, wie etwa im Rahmen der Bestrebungen zu Cleaner Production, d.h. vorsorgendem, betriebsspezifischem Umweltschutz. Der Cradle-to-Cradle-Ansatz: Produzieren „von der Wiege zur Wiege“ Das Cradle-to-Cradle-Konzept hat die Sprengkraft, die konventionelle Produktionsweise von Gütern von Grund auf zu revolutionieren, weshalb es nachfolgend ausführlich erklärt wird. Der Cradle-to-Cradle-Ansatz orientiert sich an der Natur als Vorbild für die Gestaltung und die Ausrichtung des Lebenszyklus von Produkten und schafft so die Grundlage für einen ewigen Nährstoffkreislauf. Es wird der Lebensweg eines Produktes „von der Wiege bis zur Wiege“ betrachtet und zielt v. a. auf eine Erhöhung der Ökoeffektivität ab. (vgl. Braungart, McDonough 2013). „Wahrhaftiges“ Nachhaltigkeitsmanagement kennzeichnet, an die Wurzeln eines Problems zu gehen, d. h. an die Ursprünge des Produktionsprozesses - um diesen nicht nur partiell umzugestalten, sondern gänzlich neu denkend aufzusetzen: Wie würde ich das Produkt konzipieren, wenn ich es frei von bisherigen Restriktionen und Bestimmungen von Grund auf im Sinne ökologischer Verträglichkeit und sozialer Gerechtigkeit gestalten könnte? Ein Ansatz, der diesem Gedanken entspringt ist der sogenannte Cradle-to- Cradle (C2C)-Ansatz von Braungart und McDonough. Er ist als die zukunftsweisende Produktionsweise, die am stärksten den Prinzipien der Nachhaltigkeit entspricht, anzusehen. Mit ihm lassen sich unerschlossene Potenziale an Innovation und Ressourceneinsparung realisieren, wie bislang v. a. Braungart und McDonough nachweisen konnten. Allerdings steht seine Anwendung aufgrund seiner Fortschrittlichkeit in der Unternehmenspraxis noch in den Anfängen, d. h. er wird bisher von wenigen Unternehmen angewendet, von diesen jedoch erfolgreich. Braungart und McDonough kritisieren, dass viele Industrielle, Designer und Ingenieure ihre Designs nicht als Teil eines über das Wirtschaftssystem hinausausgehenden größeren Systems betrachten. Woran es fehle, sei die integrative Perspektive, die Nachhaltigkeit kennzeichnet. „Weder die Gesundheit der natürlichen Systeme noch das Bewusstsein von ihrer Empfindlichkeit, Komplexität und wechselseitigen Abhängigkeit sind Teil des industriellen Designprogramms. <?page no="233"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 233 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Ihrem Wesen nach ist die heutige industrielle Infrastruktur linear: Sie ist darauf konzentriert, ein Produkt herzustellen und es schnell und billig an den Mann oder die Frau zu bringen, ohne andere Aspekte zu berücksichtigen“ (Braungart, McDonough 2013: 46). In Konsequenz fragen der Chemiker Braungart und der Architekt McDonough lösungsorientiert: Was wäre, wenn die Menschen Produkte und Systeme entwerfen würden, in denen die Fülle an menschliche Kreativität, Kultur und Produktivität zum Ausdruck käme? Die so intelligent und sicher wären, dass unsere Spezies einen großen ökologischen Fußabdruck hinterlässt, an dem sich alle Lebewesen erfreuen können, statt über ihn zu lamentieren? Ihnen zufolge dienen hierbei Ameisen als bestes Beispiel der Natur. Zusammen genommen haben alle Ameisen auf der Erde eine Biomasse, die weit größer ist als die der Menschen. Die von Menschen geschaffene Industrie ist demgegenüber erst seit knapp über einem Jahrhundert in vollem Gange, und hat dennoch in fast allen Ökosystemen dieses Planeten zu einer Verschlechterung geführt. Unzulänglichkeit des Prinzips der Ökoeffizienz Der Cradle-to-Grave-Ansatz hat das primäre Ziel, die Ökoeffizienz zu erhöhen. Diese ist durch den Wunsch, die Wirkungen menschlichen Handelns auf dem Planeten Erde zu verringern, den sogenannten ökologischen Fußabdruck zu kontrollieren, entstanden. Während der unmittelbare wirtschaftliche Nutzen dabei steige, nehme jedoch die Gesamtqualität durch den Verlust jedes einzelnen Aspekts dieses Systems tatsächlich kontinuierlich ab. Im Rahmen der Ökoeffizienz werden bspw. Regierungsprogramme, Auflagen oder Regularien vorgelegt, die einzuhalten sind, wie z. B. jedes Jahr geringere Mengen toxischen Materials in Luft, Wasser und Erdboden freizusetzen oder geringere Müllmengen zu erzeugen. Ebenso sollen weniger gefährliche Materialien, die eine beständige Überwachung durch künftige Generationen erfordern, produziert werden, weniger wertvolle Materialien weltweit auf Deponien verschwinden, wo sie nie wieder nutzbar gemacht werden können, oder biologische Arten und kulturelle Aktivitäten standardisiert und aufeinander abgestimmt werden, um Erträge zu steigern. „Die Ökoeffizienz macht das alte System lediglich ein bisschen langsamer zerstörerisch. In manchen Fällen kann sie sogar schädlicher sein, weil ihre Wirkung subtiler und langfristiger ist“ (vgl. Braungart, McDonough 2013: 8). Von außen betrachtet sei Ökoeffizienz ein ausgezeichnetes, ja wirklich vortreffliches Konzept, jedoch keine Strategie für langfristigen Erfolg, weil es nicht tief genug reiche. Zudem gehen destruktive Rebound-Effekte damit einher, die häufig übersehen werden: Reduktion des Benzinverbrauchs um 50 %, während sich weltweit die Gesamtanzahl an Autos verdreifacht. <?page no="234"?> 234 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Verringerung des Abwasservolumens in der Textilherstellung unter Erhöhung der Anzahl an Additiven, so dass am Ende ein nicht wiederverwendbares Produkt verbleibt. Das Prinzip der Ökoeffizienz behandelt lediglich die Symptome der Industrieproduktion, ohne die schädlichen Ursachen, die dem industriellen System zugrunde liegen, anzutasten. Es wendet den Gedanken des Recyclings nur unzulänglich an. Wenn das konventionelle Industrie- und Produktionssystem durch Ökoeffizienz verbessert wird, würde der Schaden bzw. die Schadschöpfung zwar minimiert, nicht jedoch eliminiert werden. Somit sei das keine Hilfe für die Umwelt. Wenn man weniger schlecht ist, zögert das den unvermeidlichen Zusammenbruch lediglich hinaus. Auch Paech verteufelt das Effizienzprinzip: „Die enormen Steigerungen des materiellen Wohlstandes seit Beginn der Industrialisierung beruhen allein auf ökologischer Plünderung“ (Paech 2012: 56). Es herrsche ein Mythos des Effizienzfortschritts und anderer Ausprägungen menschlicher Schaffenskraft, mit denen das Wachstum an Gütern, Mobilität und Komfort erarbeitet wurde. Technische Innovationen und neues Wissen mögen die Wohlstandsentwicklung zwar entscheidend geprägt haben. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich dieser Fortschritt jedoch lediglich als effektiver Hebel, der dazu befähigt, sich mit minimalem eigenem Einsatz ein zunehmendes Quantum an physischen Leistungen anzueignen. Dieses wachsende Missverhältnis spiegele eine dreifache Entgrenzung materieller Ansprüche wider, nämlich zum einen von den eigenen körperlichen Fähigkeiten, von den in unmittelbarer Reichweite vorhandenen Ressourcen mit Hilfe globaler Wertschöpfungsketten und von den Möglichkeiten der Gegenwart mit Hilfe von Verschuldung. Die Cradle-to-Cradle-Vision: Erhöhung der Ökoeffektivität Das Cradle-to-Cradle-Konzept wurde 2002 von Braungart und McDonough begründet. Hintergrund ist die Kenntnis um die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, die ein Umdenken bei deren Einsatz in der Güterproduktion erfordert. Die Idee ist, schon bei der Planung und Entwicklung eines Produktes die Weiter- oder Wiederverwertbarkeit der einzelnen Komponenten zu berücksichtigen und dadurch keinen Abfall, sondern nur noch weiterverwertbare Rohstoffe zu produzieren, was aus Sicht der konventionellen Industrie als Revolution bezeichnet werden kann. Diese basiere auf den überraschend effektiven Designprinzipien der Natur, auf menschlicher Kreativität, auf Respekt und Toleranz, auf erfolgreicher wirtschaftlicher Entwicklung und Nachhaltigkeit. Das Ziel besteht nicht darin, den Materialstrom „von der Wiege bis zur Bahre“ zu verringern oder zu verzögern, sondern darin, zyklische Stoffwechselkreisläufe zu erzeugen, die eine naturnahe Produktionsweise ermöglichen und Materialien immer wieder neu nutzen. <?page no="235"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 235 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Dem Vorbild der Natur folgend, beruht die Idee der naturnahen Produktion auf folgenden Prinzipien: Abfall bedeutet Nahrung Nutzung erneuerbarer Energien Förderung von Vielfalt Damit steht das Ziel der Ökoeffektivität aus folgenden Gründen im Kontrast zur Ökoeffizienz: Die Ökoeffizienz analysiert den Stoffkreislauf und dessen Umwelteinwirkungen von der Wiege bis zur Bahre (Cradle-to-Grave). Mit weniger Ressourceneinsatz sollen höhere Ergebnisse erreicht und durch die Verminderung von Schadstoffen die Umweltauswirkungen reduziert werden. Mit fortschreitender Zeit zeigte sich, dass Ökoeffizienz den Prozess der Umweltverschmutzung und Rohstoffverknappung verlangsamen, aber nicht stoppen kann. Ökoeffektiv sind Produkte, die entweder als „biologische Nährstoffe“ in biologische Kreisläufe zurückgeführt werden können oder als „technische Nährstoffe“ kontinuierlich in technischen Kreisläufen gehalten werden. Das Prinzip für einen ökoeffektiven Lösungsansatz lautet: Abfall ist Nahrung. Bei vielen natürlichen Prozessen wird sowohl Energie als auch Material verschwendet; sie sind aber Teil eines nachhaltigen Systems, das jedes Stück Abfall verwertet. Cradle-to-Cradle fordert keine Reduktion oder Vermeidung von schädlichen oder gefährlichen Stoffen und Materialien, sondern eine komplette Eliminierung dieser bzw. das Ersetzen durch förderliche Stoffe. Die C2G- und C2C- Ansätze lassen sich, wie in Abbildung xxx dargestellt, vergleichen; Ziel ist es, sich im Zuge erhöhter Nachhaltigkeit von der Ökoeffizienz zur Ökoeffektivität zu entwickeln. Kriterien, die den C2C-Ansatz versuchen, messbar zu machen, sind bspw.: keine gesundheitsschädlichen Stoffe in Luft, Wasser und Erdboden entlassen den Wohlstand daran messen, wie viel natürliches Kapital auf produktive Weise angesammelt werden kann Materialien sind strikt in den für sie vorgesehen (biologischen bzw. technischen) Kreislauf zu ihrer Wiederwertung zurückzuführen Produktivität daran messen, wie viele Menschen gewinnbringend und sinnvoll beschäftigt werden nichts produzieren, was künftige Generationen in ungerechtem Maße belastet. <?page no="236"?> 236 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 61: Von der Ökoeffizienz zur Ökoeffektivität Ökoeffektives Design erfordert somit ein kohärentes Prinzipiensystem, das auf den Gesetzen der Natur und auf der Möglichkeit einer immer währenden Ausdrucksvielfalt gründet. Es gibt die bekannte Regel, dass die Form der Funktion folgen sollte, aber die Möglichkeiten sind größer, wenn die Form der Evolution folge. Die Logik geschlossener Stoffkreisläufe Gemäß dem Cradle-to-Cradle-Ansatz teilen sich die Stoffkreisläufe in einen biologischen und einen technischen Kreislauf. <?page no="237"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 237 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 62: Notwendigkeit der Rückführung von Materialien in den für sie geeigneten biologischen bzw. technischen Stoffkreislauf (EPEA 2013) In dem biologischen Kreislauf sind alle Inhaltsstoffe des Produktes biologisch abbaubar, d. h. sie fungieren nach dem biologischen Abbauprozess wieder als Nährstoffe für Pflanzen und Tiere. Die Produkte in dem biologischen Kreislauf sind vorwiegend Verbrauchsgüter, wie z. B. Reinigungsmittel, Wegwerfverpackungen und Produkte, die durch ihre Nutzung biologisch, chemisch oder physikalisch verändert werden (Schuhsohlen, Bremsbeläge etc.). Die Inhaltsstoffe im technischen Kreislauf sind nicht biologisch abbaubar. Sie können allerdings nach ihrer Nutzung vollständig wiederverwendet werden. Die Inhaltsstoffe zirkulieren dauerhaft in diesem Kreislauf, und es entsteht kein Abfall. Sie stellen somit einen technischen Rohstoff zur erneuten Produktion von Erzeugnissen dar. Insbesondere komplexe Gebrauchsgüter und mineralische Ressourcen gehen in den technischen Stoffkreislauf ein. Das konventionelle Design von Lederschuhen hat bspw. zahlreiche negative Folgen, denn es handelt sich um eine Mischung aus biologischem Material (Leder, das biologisch abbaubar ist) und technischen Stoffen (Chrom und andere Substanzen, die für die Industrie einen Wert darstellen). Bei den gegenwärtigen Methoden der Herstellung und Beseitigung lassen sich keine dieser Stoffe erfolgreich zurückgewinnen, nachdem der Schuh ausrangiert ist. Vom materiellen und ökologischen Standpunkt aus könnte das Design des durchschnittlichen Schuhs wesentlich intelligenter sein: Die Sohle könnte mit einem biologisch abbaubaren Material beschichtet werden, das nach Gebrauch abgelöst werden kann. Der Rest des Schuhs könnte aus Kunststoffen und Polymeren hergestellt werden, die unschädlich sind und zu neuen Schuhen recycelt werden könnten. Bei langfristigen Gebrauchsgütern ergibt sich durch C2C eine Möglichkeit, komplett neue Servicekonzepte zu verkaufen: Das Produkt werde zwar vom Kunden genutzt, verbleibt aber im Eigentum des Herstellers. Waschmaschinen, <?page no="238"?> 238 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Automobile und Fernsehgeräte sind solche Gebrauchsprodukte, die für den endlosen Umlauf, Wiederaufbereitung und erneute Nutzung entwickelt werden können. Die C2C-Zertifizierung Es ist möglich, Produkte mit einer Cradle-to-Cradle-Zertifizierung im Hinblick auf ihre Ökoeffektivität bestätigen zu lassen, um dem Kunden zu gewährleisten, dass es sich um ein kreislauffähiges Produkt handelt. Diese Zertifizierung wird durch das Institut EPEA durchgeführt. Die EPEA ist nach eigenen Angaben „ein internationales Forschungs- und Beratungsinstitut, das durch ökoeffektives Design die Qualität und den Nutzwert von Materialien, Produkten und Dienstleistungen optimiert“ (vgl. EPEA 2013). Der Gründer des Instituts ist M. Braungart. Die Zertifizierung ist für Produkte entwickelt worden. Unternehmen, Dienstleistungen, Lebensmittel oder Personen können nicht zertifiziert werden. Bezüglich der Inhaltsstoffe gibt es eine Reihe von Chemikalien (Banned List), die als Produktbestandteile die Zertifizierung eines Produktes verhindern. Darüber hinaus werden Produkte nicht zertifiziert, wenn sie konzeptionell nicht in die Cradle-to-Cradle-Grundsätze passen (vgl. EPEA 2013). Bei der Zertifizierung, die zwei Jahre gültig ist, werden folgende Kriterien berücksichtigt: 1. Materialbewertung (human- und ökotoxikologisches Profil) 2. Wiederverwertbarkeit in technischen oder biologischen Kreisläufen 3. Energiemanagement bei der Produktion 4. Wassermanagement zur Produktion 5. sozialer Standard am Produktionsstandort Unternehmen, die bereits ein oder mehrere C2C-Zertifikate erworben haben, sind u. a. Puma, Trigema, Desso oder Erdal Frosch. Beispiel 1: Kompostierbares T-Shirt - das Textilunternehmen Trigema Trigema ist ein deutscher Sportbekleidungshersteller. Im Januar 2006 hat das Unternehmen erstmals ein vollkompostierbares T-Shirt vorgestellt. Das neue, kompostierbare Trigema-Shirt wurde im Unternehmen in enger Zusammenarbeit mit EPEA und ausgesuchten Lieferanten entwickelt. Es wird zu 100 % aus Bio-Baumwolle hergestellt (Trigema 2017). „Die biologisch abbaubaren und kreislauffähigen Materialien schonen die Umwelt, das innovative Produkt ist gesund für den Menschen und daher nicht nur für Allergiker interessant“ (Braungart, McDonough 2011: 61). <?page no="239"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 239 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Beispiel 2: Ökoleasing von Teppichen Teppichboden - das Produktdienstleistungskonzept von Shaw Der amerikanische Teppichhersteller Shaw hat durch C2C ein neues Service-Konzept für Teppichböden entwickelt - das Produktdienstleistungskonzept. Kunden kaufen nicht den Teppich selbst, sondern bezahlen lediglich seine Nutzung. Damit kann der Hersteller sicherstellen, die verwendeten Materialien nach Gebrauch wieder in den technischen Stoffkreislauf einzuführen, da das Eigentum des Teppichs zu jeder Zeit bei dem Unternehmen Shaw bleibt. Shaw hat ein Verfahren entwickelt, mit dem es möglich ist, alte Teppichfasern ohne signifikanten Materialverlust zu Garn höchster Qualität wieder zu verarbeiten (Braungart, McDonough 2011: 40). „Die Strategie des Dienstleistungsproduktes ist sowohl für den Hersteller als auch für den Kunden nützlich. Der Hersteller bleibt weiterhin Eigentümer des wertvollen Materials für die ständige Wiederverwendung, während die Kunden die Dienstleistung des Produktes in Anspruch nehmen, ohne damit eine materielle Verpflichtung zu übernehmen. […] Der Hersteller oder Verkäufer des Produktes pflegt überdies langfristige Beziehungen mit den Kunden über viele Produktlebenszyklen hinweg, da die Kunden immer zurückkommen“ (Braungart, McDonough 2011: 42). Dieses Modell wird „Ökoleasing“ genannt. Kritische Bewertung Cradle-to-Cradle ist ein hoch innovativer, praxisorientierter Ansatz, um dem durch Industrialisierung und steigendes Konsumverhalten bedingten, immensen Ressourcenverbrauch entgegenzuwirken. Statt Güter zu produzieren, deren Rohstoffe letztlich auf dem Müll (grave) landen, werden diese von Beginn an in Hinblick auf ihren Nutzen als neuer Ausgangsstoff (cradle) überprüft. Konsequent praktiziert, würde dieser Ansatz ab einem gewissen Punkt lediglich die Energie beanspruchen, die benötigt werden würde, um die Kreisläufe aufrecht zu erhalten, da ein finaler Verbrauch von Ressourcen hinfällig werden würde. Was verbliebe, wäre die nach jeder Produktnutzung - unter Energieaufwendung - erneute Ressourceneinspeisung in den biologischen oder technischen Stoffkreislauf. Dadurch, dass Cradle-to-Cradle nicht auf Minimierung, Vermeidung oder Einschränkungen im Konsumverhalten abzielt, findet das Konzept ebenso Anklang bei eher nicht umweltbewussten Käufern, da diese ihr Konsumverhalten nicht verändern müssen. Damit entspräche der C2C-Ansatz dem Konsistenz-Prinzip, das weder das „wirtschaftsfeindliche“ Prinzip der Suffizienz bzw. Genügsam- <?page no="240"?> 240 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit keit verfolgt, noch das ungewollte Rebound-Effekte nach sich ziehende Effizienz-Prinzip. Mit dem C2C-Ansatz würde Produktrisiken, wie etwa bei Polyesterhemden, Rechnung getragen werden, die Braungart und McDonough (2013: 59) „Produkte plus“ nennen. Es handelt sich hier um einen Artikel oder eine Dienstleistung, die Kunden haben wollten, plus Zusatzstoffe, um die sie nicht gebeten haben und von denen sie nicht wussten, dass sie in der Ware enthalten und vielleicht schädlich für sie sind. „Vielleicht sollte auf diesen Hemdetiketten stehen: Produkt enthält toxische Farbstoffe und Katalysatoren. Durch Schwitzen könnte es zu gesundheitsgefährdendem Kontakt dieser Substanzen mit der Haut kommen“ (ebda.). C2C-Produkte umgehen diese Produktrisiken durch Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit. Dennoch stößt der Cradle-to-Cradle-Ansatz aufgrund der mit seinem hohen Innovationsgrad verbundenen Entwicklungskosten aktuell auf Widerstand seitens vieler Unternehmen. Es bleibt abzuwarten, wie schnell sich das Konzept 100 %-kreislauffähiger Produkte künftig durchsetzt. Die wenigen Pioniere, auf deren Lernkurve zurückgegriffen werden kann, erweisen sich als erfolgreich auf dem Markt aufgrund ihrer hohen Innovativität. Wesentliche Faktoren neben den Unternehmen sind künftig die Verbraucher und die Politik. Durch staatliche Aufklärungskampagnen könnte die Nachfrage nach C2C-Produkten durch die Verbraucher angeregt werden, sodass Unternehmen motiviert wären, sich aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit diesem Ansatz ihren eigenen Produktions- und Käufermarkt der Zukunft zu schaffen. Der C2C-Ansatz ist beeindruckend, da er simpel sowie progressiv ist, einerseits bei der Produktion von Gütern die Natur zum Vorbild nimmt und andererseits von Unternehmen als bislang komplex und schwer imitierbar wahrgenommen wird. 6.5.5 Nachhaltiges Personalmanagement Die folgende Grafik zeigt einen Überblick an Maßnahmen, die ergriffen werden können, um gesellschafts- und mitarbeiterbezogene Verantwortung zu übernehmen; dabei nennt die innere Box Maßnahmen, die sich gezielt auf die Belegschaft eines Unternehmens beziehen während die äußere Box Maßnahmen nennt, die sich auf das die Mitarbeiterschaft umgebende gesamtgesellschaftliche Umfeld bezieht. <?page no="241"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 241 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 63: Beispiele für mitarbeiter- und gesellschaftsbezogene Maßnahmen im Überblick Eine nachhaltige Unternehmenskultur ist der Nährboden umwelt- und sozialverträglichen Wirtschaftens. Nachhaltigkeitsorientiertes Personalbzw. Human Resource Management kümmert sich um die Entwicklung der Mitarbeiter als wichtigster sozialer Ressource und zentralem Humankapital auf diesem Boden. Ganzheitliches Personalwesen sorgt für eine dauerhaft hohe Motivation, Verantwortungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit und dafür, dass das Unternehmen zu jedem Zeitpunkt über die richtig qualifizierten Leute in ausreichendem Maße verfügt und dass diese dank positiver Hygienefaktoren und hoher Identität mit dem Unternehmen sich produktiv und mit Freude einbringen. Fachkräftemangel, War-for-Talents, demografischer Wandel, Wissensgesellschaft: In Zeiten, in denen der Erfolg eines Unternehmens zunehmend von Verfüg- <?page no="242"?> 242 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit barkeit, Kompetenz und Engagement der Mitarbeiter abhängt, wird es immer wichtiger, diese zu gewinnen, zu halten und zu entwickeln. Abb. 64: Anforderungen an ein nachhaltiges HRM Für deutsche Unternehmen werden fehlende Fachkräfte immer mehr zum Problem. Einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages zufolge können bereits heute 37 % der Firmen offene Stellen zwei Monate oder länger nicht besetzen. Das entspricht rund 1,3 Millionen Arbeitsplätzen. Laut Umfrage wird auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer wichtiger, um Fachkräfte anzulocken. Innerhalb der vergangenen vier Jahre stieg der Anteil der Unternehmen, die ihre entsprechenden Maßnahmen ausbauen wollen, von 15 % auf 25 %. Ferner will jedes vierte Unternehmen die Einstellung und Beschäftigung Älterer ausweiten. Eine einfachere Beschäftigung ausländischer Fachkräfte wäre für 17 % der Unternehmen hilfreich. Die Unternehmen selbst wollen laut Verband verstärkt auf den eigenen Nachwuchs setzen und ihre Ausbildung ausweiten - 52 % der befragten Firmen kündigten das an. Der Fachkräftemangel könnte sonst „die Achillesferse für Wohlstand, Fortschritt und Innovation“ in den nächsten 15 bis 20 Jahren in Deutschland und Europa werden, fürchtet nicht nur die CDU. Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung in Deutschland um rund sieben Millionen Menschen auf insgesamt 75 Millionen schrumpfen, hat das Statistische Bundesamt berechnet. <?page no="243"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 243 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 65: Personalmanagement bei Daimler (Daimler 2011) Maßnahmen, qualifizierte Mitarbeiter zu finden und zu halten, umfassen z.B. Anreizmodelle zur Mitarbeiterbildung oder Entlohnung. Darüber hinaus spielen neuere, nachhaltigkeitsorientierte Ansätze eine zunehmende Rolle wie z.B. Employer Branding, Sabbaticals, Home-Office, Teleworking, Gleitzeit und Work-Life- Balance bzw. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Basierend auf dem Qualifikations- und Bedarfsprofil der Mitarbeiterschaft werden so Angebote entwickelt und eingeführt, die auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter auch wirklich zugeschnitten sind. Beim Cafeteria-System z.B. können Mitarbeiter analog einer Menüauswahl in einer Cafeteria zwischen verschiedenen Sozialleistungen wie Freizeitausgleich, Versicherung, Weiterbildung, Dienstwagen etc. unter der Prämisse der Kostenneutralität zwischen inhaltlich und zeitlich verschiedenen Entgeltbestandteilen innerhalb eines bestimmten Budgets wählen. Das Cafeteria-System hat sich dabei für Unternehmen ökonomisch und Mitarbeiter persönlich als <?page no="244"?> 244 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit vorteilhaft erwiesen. Es bietet eine Win-win-Situation, bei der Monetäres durch Soziales aufgewogen wird, was für beide Seiten sinnvoll ist. Der demografische Wandel verleiht auch dem Thema Employer Branding bzw. Arbeitgeberattraktivität Aufwind. „Employer Branding ist die identitätsbasierte, intern wie extern wirksame Entwicklung und Positionierung eines Unternehmens als glaubwürdiger und attraktiver Arbeitgeber“, so die Deutsche Employer Branding Akademie. Der flexible Mensch Im Kontext eines veränderten Gesellschaftsverständnisses sei Richard Sennett erwähnt, der sich als Kulturkritiker mit den Auswirkungen der globalen Ökonomie auf unsere Gesellschaft auseinandersetzt. In „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“ analysiert er die Folgen des Kapitalismus auf die Lebensführung. Von Menschen als Arbeitnehmern werde verlangt, flexibel und offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen, unabhängiger von Regeln und formalen Prozeduren zu werden. Für Sennett ist das zukunftsorientierte Wirtschaften ganz auf Kurzfristigkeit und Elastizität angelegt. Individuelle Biographien werden bis zum äußersten strapaziert, da sich der flexible Mensch ständig neuen Anforderungen stellt und stets bereit ist, Arbeitsstelle, -aufgaben und -wohnort zu wechseln. Altes Erfahrungswissen zählt immer weniger und es entsteht eine Unternehmenskultur der Oberflächlichkeit, die vom Menschen, welcher auf die Kontinuität sozialer Beziehungen, wie Langfristigkeit, Verlässlichkeit und Entwicklung, angewiesen ist, nicht verkraftet wird. Die Loyalität zum Unternehmen erodiert, diese wiederum entstehen und vergehen und hinterlassen dabei Orientierungslose. 64 64 Sennett, R. (1998) Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag Berlin. <?page no="245"?> 6.5 Umsetzung - das Fünf-Stufen-Modell 245 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 66: Nachhaltigkeitsmanagement im Überblick: Etablierung eines nachhaltigen Unternehmens durch Integration aller Funktionsbereiche Fazit - Nachhaltigkeit als roter Faden in der Geschäftstätigkeit Zusammenfassend gilt es, eine Reihe von Grundsätzen bei der Verankerung des Nachhaltigkeitsleitbildes in Unternehmen zu beachten. Zunächst muss Nachhaltigkeitsengagement aus der Führungsebene heraus als Strategie und Leitbild formuliert und von dort aktiv unterstützt werden. Das Führungsverhalten dient dabei als Vorbild für nachhaltiges Handeln unter Mitarbeitern. Alle Bereiche eines Unternehmens sowie vor- und nachgelagerte Teile der Wertschöpfungskette sind in eine nachhaltige Ausrichtung einzubinden, damit von Nachhaltigkeit in seiner wahren Bedeutung gesprochen werden kann. Dies verhindert zugleich, dass sich Unternehmen dem Verdacht des Greenwashing aussetzen, d.h. der Kritik, sich als grüner oder nachhaltiger nach außen darzustellen als es der Wirklichkeit entspricht. Umgekehrt ergeben stete Fortschritte bei der Nachhaltigkeitsperformance Sinn, Ziel, Struktur, Richtung und Inhalte für die Außenkommunikation. Unterstützt wird die Operationalisierung dabei von Kennzahlen und Indikatoren, die Nachhaltigkeitsziele mess- und steuerbar machen. Ein Nachhaltigkeitsbericht ist hierzu ein sinnvolles Instrument. Die Ressource Personal ist genauso umsichtig zu handhaben wie die Ressourcen für den Produktionsprozess. Nachhaltiges Personalmanagement bietet die Möglichkeiten, das Beste aus Mitarbeitern herauszuholen - und für diese herauszuholen. Insgesamt ist Nachhaltigkeitsmanagement ein selbstreflexiver Prozess ohne Endstadium, denn jede Ebene bildet die Basis für die nächste Verbesserung im Sinne von Umwelt- und Sozialverträglichkeit. <?page no="246"?> 246 6 Nachhaltigkeit in Unternehmen http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Literatur Balik, M.; Frühwald, C. (2006) Nachhaltigkeitsmanagement. Mit Sustainability Management durch Innovation und Verantwortung langfristig Werte schaffen. Saarbrücken. Baumast, A.; Pape, J. (2009) Betriebliches Umweltmanagement. Theoretische Grundlagen, Praxisbeispiele. Stuttgart. Baumgartner, R. et al. (2005) Sustainability Management for Industries. Wertsteigerung durch Nachhaltigkeit. Stuttgart. Becherberger, M.; Reiche, D. (2006) Ökologische Transformation der Energiewirtschaft. Erich Schmidt Verlag Berlin. BMU (2013) Green Economy in der Praxis - Erfolgsbeispiele aus deutschen Unternehmen. BMU Berlin. Braungart, M.; McDonough, W. (2013): Cradle to Cradle. Einfach intelligent produzieren. München: Piper. Esty, D.C.; Winston, A.S. (2006) Green to Gold. Yale University Press. Fücks, R. (2013): Intelligent wachsen. Die grüne Revolution. München: Hanser. Gminder, C. U. (2006) Nachhaltigkeitsstrategien systemisch umsetzen. Wiesbaden. Habisch, A.; Schmidpeter, R.; Neureiter, M. (2007) Handbuch Corporate Citizenship: Corporate Social Responsibility für Manager. Berlin. Hardtke, A.; Kleinfeld, A. (2010) Corporate Social Responsibility - Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen: Von der Idee der Corporate Social Responsibility zur erfolgreichen Umsetzung. Wiesbaden. Hauff, M. von (2014) Nachhaltige Entwicklung. Grundlagen und Umsetzung. 2. Aufl. Oldenbourg. Hauff, M. von.; Kleine, A. (2009) Nachhaltige Entwicklung. Grundlagen und Umsetzung. Oldenbourg. Jackson, T. (2017) Wohlstand ohne Wachstum - das Update: Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. oekom München. Müller-Prothmann, T.; Dörr, N. (2009) Innovationsmanagement. Strategien, Methoden und Werkzeuge für systematische Innovationsprozesse. München. Nadery, D.(2015) Nachhaltigkeitspolitik im Unternehmen. Umweltethischer Grundsatz oder Marketinginstrument? Grin. Paech, N. (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: oekom. <?page no="247"?> 6 247 Pauli, G. (2010) The Blue Economy. 10 Jahre, 100 Innovationem, 100 Millionen Jobs. Berlin: Konvergenta Publishing. Pufé, I. (2011) Best Practices in Corporate Social Responsibility, München. Sennett, R. (1998) Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag Berlin. Stoll, B. (2009) Sozial und ökonomisch handeln: Corporate Social Responsibility kleiner und mittlerer Unternehmen. Frankfurt am Main. Utermöhlen, R. (2015) Was jede Führungskraft über Green Economy und nachhaltige Entwicklung wissen sollte: Nachhaltigkeitsmanagement in der Praxis. Welfenakademie. Wang, Y.; Heupel, T. (2015) Green Controlling: Integriertes Nachhaltigkeitsmanagement in der Unternehmensführung - ein globaler Vergleich zwischen China und Deutschland. Metropolis. Weizsäcker, E. U. von (2010) Faktor Fünf: Die Formel für nachhaltiges Wachstum. Droemer München. World Business Council for Sustainable Development (2006) From Challenge to Opportunity. The Role of business in tomorrow’s society. <?page no="249"?> 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht <?page no="250"?> 250 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Wie wird das Prinzip Nachhaltigkeit in Recht transformiert? Was sind Vorschriften, Gesetze, Pflichten? Wo sind Möglichkeiten freiwilligen Engagements? Wie weit ist das „Nachhaltigkeitsrecht“ deutschland-, europa- und weltweit gediehen? Lässt sich Nachhaltigkeit als universelles Querschnittsanliegen überhaupt verrechtlichen? Maßnahmen Allgemeines zum „Nachhaltigkeitsrecht“, Abgrenzung Pflicht - Kür, relevante Rechtsgebiete und Gesetze als Beispiele, Recht aus Mehrebenenperspektive, nationales, EU- und internationales Recht, Gesetze, Vorgaben, Bestimmungen, Empfehlungen, Rechtsvorschriften auf den verschiedenen Ebenen und in NHrelevanten Bereichen beleuchten, die wichtigsten Gesetze und Fachgebiete kennen. Ergebnisse Studierende haben einen Grobüberblick über die Rechtslage in Sachen Nachhaltigkeit. 7.1 Gratwanderung zwischen Pflicht und Kür Jeder hat so viel Recht, wie er Macht hat. Spinoza Nachhaltigkeit in das Recht zu überführen gleicht einem Balanceakt aus Pflichterfüllung und Philanthropie, einer Gratwanderung zwischen Compliance und Freiwilligkeit. Ohne gültige Rechtsordnung ist Nachhaltigkeit bar jeder Durchsetzungskraft und Glaubwürdigkeit; was in weiten Teilen noch der Fall ist. Gleichwohl geht der Trend zur Verrechtlichung. Der Querschnittscharakter, der Imperativ des Integrativen, das Übergreifende und in alles Eingreifende erschweren es, ein spezielles Rechtsgebiet dafür verantwortlich zu zeichnen. Das Prinzip Nachhaltigkeit berührt so viele Bereiche, dass es schwerfällt, Ressorts und Zuständigkeiten festzulegen und abzugrenzen. Nur so aber wird es seinem An- <?page no="251"?> 7.1 Gratwanderung zwischen Pflicht und Kür 251 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit spruch flächendeckender Wirksamkeit und des in jeder Handlung, jedem Gesetz und Entscheid zum Ausdruck kommenden Bedarfs nach intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit gerecht. Glokalisierung Nachhaltigkeitsrecht Institutionalisierung Gesetze Umweltrecht CSR-Maßnahmen Stiftungen Sponsoring Diversity Mgt. Auflagen Verbraucherschutz Vorschriften etc. Regulierung Freiwillligkeit intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit Tabelle 29: Überblick „Nachhaltigkeitsrecht“ Je nachdem, wie weit Begriff und Prinzip von Nachhaltigkeit gefasst werden, entsprechend groß fällt das Spektrum dafür verantwortlicher Rechtsgebiete und Gesetze aus. Zweifellos von zentraler Bedeutung sind die nachfolgend angeführten Bereiche Umwelt- und Verbraucherschutz. Wird der Begriff weiter gefasst, potenziert sich die Anzahl zu beachtender rechtlicher Regelungen auf ebenso viele Bereiche wie sich wissenschaftliche Disziplinen damit beschäftigen. Im Rahmen dieses Kapitels wird dabei einerseits auf die wichtigsten Rechtsgebiete fokussiert, Umwelt- und Verbraucherschutz, andererseits auf weitere wichtige angrenzende. Rechtsgebiete, die sich mit nachhaltigkeitsbezogenen Anliegen auseinandersetzen sind u.a: Umweltrecht Abfallwirtschaftsrecht Chemikalienrecht (REACH) Energierecht Gewässerschutzrecht Immissionsschutzrecht Natur- und Bodenschutzrecht Strahlenschutzrecht Verbraucherschutzrecht <?page no="252"?> 252 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Umweltrecht im Überblick Umweltrecht bezeichnet die Gesamtheit der Rechtsnormen, die den Schutz der natürlichen Umwelt und die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Ökosysteme bezwecken; es ist kein scharf abgrenzbares Rechtsgebiet. Ansatzpunkt ist der Schutz vor Beeinträchtigungen, dieser erfolgt mittels verschiedener Herangehensweisen: [1] Minimierung der Einwirkungen auf das Schutzgut; z.B. Wasserhaushaltsgesetz, Naturschutzgesetze, Landeswassergesetze. [2] Begrenzung der schädlichen Wirkungen bekannter Umweltgefahren; a) quellenbezogen, d.h. Regelung der Gefährdungsquelle ausgehender Emissionen, und b) umweltbezogen, z.B. Gesamtimmissionsbelastungen sind zu unterschreiten. [3] Regelungen zu umweltgefährdenden Stoffen und Gegenständen wie z.B. Abfall-, Chemikalien-, teils Atomrecht. Seit 1994 verpflichtet das deutsche Verfassungsrecht in Art. 20a des Grundgesetzes den Staat zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Dies ist kein Grundrecht, sondern eine Staatszielbestimmung, d.h. ein Programmauftrag für die öffentliche Gewalt. Gesetzgeber und Verwaltung werden dadurch zwar allgemein verpflichtet, können aber nicht belangt werden. Viele planerische Vorschriften sind dem Umweltrecht zuzurechnen, da sie auch dem Umweltschutz dienen, indem bereits im Planungsstadium etwaige Umweltbeeinträchtigungen vorweggenommen werden. Hierzu zählen das Baugesetzbuch, das Raumordnungsgesetz oder die Umweltverträglichkeitsprüfung. Zudem gibt es zunehmend Straftatbestände und Ordnungswidrigkeiten, die aus Umweltschutzgründen verfolgt werden. Schwere Umweltschutzdelikte sind im 29. Abschnitt des besonderen Teils des Strafgesetzbuches (§§ 324-330d) geregelt. Schließlich gibt es Überschneidungen mit dem allgemeinen Gesundheitsschutz und dem besonderen Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Viele Regelungen mit diesen Zielsetzungen bewirken sozusagen nebenbei einen Schutz vor Umweltbeeinträchtigungen; manche werden jedoch auch parallel auf beide Zielsetzungen hin formuliert. Eine Übersicht relevanter Umweltgesetze bietet die Datenbank Umwelt Online ( QR). Nationales und internationales Umweltrecht lassen sich dabei nach folgenden Rechtsebenen unterscheiden: <?page no="253"?> 7.1 Gratwanderung zwischen Pflicht und Kür 253 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit nationales Umweltrecht internationales Umweltrecht Umweltverfassungsrecht europäisches Umweltrecht Umweltvölkerrecht Umweltverwaltungsrecht Primärrecht Art. 6 EGV Art. 174ff. EGV Gewohnheitsrecht allg. Rechtsgrundsätze Umweltverwaltungsrecht Umweltstrafrecht Umweltprivatrecht Sekundärrecht Verordnung Richtlinie Entscheidung völkerrechtliche Verträge Tabelle 30: Nationales und internationales Umweltrecht Verbraucherrecht im Überblick Auch im Verbraucherschutz überschneiden sich die Ziele mit vielen anderen Rechtsgebieten. Abgesehen davon existiert kein gesondertes Verbraucherschutzgesetz, das alle Fragen des Verbraucherrechts regelt, sondern vielmehr gibt es Rechtsnormen in vielen Einzelgesetzen, die dem Verbraucherschutz hauptsächlich oder „nebenbei“ dienen. So kann eine Vorschrift zum Umgang mit Chemikalien dem Verbraucher-, Arbeits- oder Umweltschutz dienen. Viele Verbraucherschutzvorschriften finden sich zudem im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Auch Vorschriften des öffentlichen Rechts, die auf zahlreiche Gesetze verstreut sind, dienen dem, meist gesundheitlichen, Verbraucherschutz. Sie verpflichten Warenhersteller und händler, Mindeststandards bei Rohstoffen, Ausgangsmaterialien, Zusatzstoffen, Herstellungsverfahren oder Verpackungen einzuhalten. Wichtige derartige Rechtsnormen sind die Gesetze über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Produkten und sonstigen Bedarfsgegenständen (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB)). Umweltgifte, Gefahrstoffe, Chemikalien. Ein kurzer Blick auf das novellierte Chemikalienrecht zeigt, dass sich hier mit REACH etwas getan hat. REACH ist ein global harmonisiertes System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien. 2007 in Kraft getreten, ist REACH eine EU-Chemikalienverordnung und das Kürzel für Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals, also für die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien. Das REACH-System basiert auf dem Grundsatz der Eigenverantwortung der Industrie. Nach dem Prinzip „no data, no market“ dürfen innerhalb des Geltungsbereiches nur noch chemische Stoffe in Verkehr gebracht werden, die vorher registriert worden sind. Jeder Hersteller oder Importeur, der seine <?page no="254"?> 254 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Stoffe, die in den Geltungsbereich von REACH fallen, in Verkehr bringen will, muss für diese Stoffe eine eigene Registrierungsnummer besitzen. Zum juristischen Nachhaltigkeitsverständnis 65 Das Prinzip nachhaltiger Entwicklung ist in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand rechtlicher und planerischer Maßnahmen geworden. Dennoch bleibt offen, wie Nachhaltigkeit als Prinzip und Leitbild klar und allgemeingültig sowie juristisch verbindlich zu fassen ist. In der juristischen Diskussion wird über die Frage gestritten, ob Nachhaltigkeit lediglich den Charakter eines politischen Leitziels hat oder ob ein verbindliches Rechtsprinzip und Nachhaltigkeitsgebot daraus ableitbar ist. Für die Übersetzung des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht ist zunächst zu klären, welche Konzepte, Modelle und Annahmen zugrunde liegen. Wird vom Paradigma schwacher oder starker Nachhaltigkeit ausgegangen? Liegt der Schwerpunkt auf der Erhaltung der Ressourcenbasis als Fundament dauerhafter Entwicklung oder gleichermaßen auf sozialer Gerechtigkeit, auf Armutsbekämpfung und globaler Chancengleichheit? Unterschiedliche Annahmen ziehen unterschiedliche Rechtsauslegungen nach sich. Zweifellos besteht dringender Bedarf, sich unter konkurrierenden Interpretationen auf jene Annahmen zu verständigen, die der ebenso notwendigen rechtlichen Ausgestaltung eine Grundlage geben. Gleichwohl wird auch im Recht meist auf die Definition des Brundtland- Berichts rekurriert, die inhaltlich so gehaltvoll wie interpretatorisch ein schwerer Brocken ist: „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Unter rechtlicher Perspektive sticht insbesondere jener Aspekt hervor: Der Begriff von „Bedürfnissen“, insbesondere der Grundbedürfnisse der Ärmsten der Welt, die die überwiegende Priorität haben sollten. 66 Irrespektiv des zugrundegelegten Verständnisses bleiben die bisher eingegangenen Verpflichtungen weit hinter den Erfordernissen zurück, betont doch Angela Merkel auf der 11. Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 20.06.2011: „Die Summe der Verpflichtungen der Industrie- und der Schwellenländer reicht aber längst nicht aus, um das Ziel - keine Erderwärmung um mehr als zwei Grad Celsius - zu erreichen. […] Mit den bisher eingegangenen Verpflichtungen haut das nicht hin. Deshalb müssen wir härtere Verpflichtungen anmahnen.“ Fraglich ist, ob sich Verantwortung und Gerechtigkeitssinn bis zu den Ärmsten erstrecken, wenn die Bemühungen schon im eigenen Land zu kurz greifen. 65 Die nachfolgenden Ausführungen wurden übernommen aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 27/ 2033). Nachhaltigkeit und das Recht. Nach Bückmann, W.; Lee, Y.H.; Simonis, U.E. 66 Hauff (1987), S. 46 <?page no="255"?> 7.2 Nationales und EU-Nachhaltigkeitsrecht 255 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 67: Akteure im Bereich Nachhaltigkeit (Rogall 2003: 171) 67 Das Zusammenspiel nachhaltigkeitsrelevanter Organe, Institutionen und Akteure lässt sich wie in der Abbildung oben darstellen. 7.2 Nationales und EU-Nachhaltigkeitsrecht Europe has become a giant laboratory for rethinking humanity‘s future. Jeremy Rifkin Der Umgang von Regierung und Verwaltung mit dem Nachhaltigkeitsprinzip ist nicht eindeutig bestimmbar. Zwar haben sich die Bundesregierung und speziell das Umweltministerium in einer Reihe von Dokumenten dazu bekannt, so etwa im Umweltprogrammentwurf von 1998, im Bericht ‚Aus Verantwortung für die Zukunft‘ von 2000 und in der ‚Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie‘ von 2002. „Doch ungeachtet dieser und anderer Verlautbarungen wird Nachhaltigkeit weniger als Verpflichtung zu einer Politik in den Grenzen des Ökosystems verstanden - einer ‚Politik innerhalb der ökologischen Leitplanken‘. (…) Auch ist die Tendenz erkennbar, nachhaltige Entwicklung weniger als politisches Gesamtkonzept zu sehen, sondern auf vermeintlich wichtige Schwerpunktbereiche zu beschränken. (…) Dieser zurückhaltende Umgang der Bundesregierung mit dem Nachhaltigkeitsprinzip wirkt sich auch auf dessen Transformation 67 Rogall, H. (2003): Akteure der nachhaltigen Entwicklung. München: oekom. <?page no="256"?> 256 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit in das Recht aus - und erklärt die bislang nur unzureichende Umsetzung.“ (Bückmann (2003), S. 27 f). Wie das Thema organisatorisch von der Bundesregierung angegangen wird, zeigt folgendes Schaubild. Abb. 68: Das Nachhaltigkeitsmanagement der Bundesregierung Das Leitbild der Nachhaltigkeit hat sich mittlerweile zu einem internationalen Rechtsbegriff entwickelt. Trotzdem bestehen weiterhin Unsicherheiten bezüglich der Notwendigkeit, es in das deutsche Recht aufzunehmen. Gleichwohl wurde das Prinzip Nachhaltigkeit in eine Reihe von Fachgesetzen einbezogen. War es 1998 noch nicht im Bau- und Raumordnungsgesetz enthalten, wurde es auf Vorschlag des Bundestagsausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau aufgenommen und in ein Gesetz übergeführt. Mit § 1 Satz 1 formuliert das Bundesbodenschutzgesetz (BBodSchG) einen „nachhaltigen“ Bodenschutz als Zielbestimmung. Weitere Maßnahmen, mit denen eine nachhaltige Flächenhaushaltspolitik vorangetrieben werden könnte, sind z.B.: a) die Stärkung des Bodenschutzes in der Planung, b) Versiegelungs- oder Naturschutzabgaben, c) die Verstärkung der Entsiegelungspflichten, d) eine Reform der Grundsteuer, e) steuerliche Abschreibungen, <?page no="257"?> 7.2 Nationales und EU-Nachhaltigkeitsrecht 257 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit f) eine grundlegende Reduzierung oder Reform staatlicher Förderungen, g) Reformen des kommunalen Finanzausgleichs, oder h) die Einführung handelbarer Flächenausweisungsrechte. Im Vergleich zu früher wurde das Nachhaltigkeitsprinzip in das Naturschutzrecht, mit teils konfligierenden Schutzkategorien, aufgenommen. Dort umfasst es u.a. den Schutz, die Pflege und die Entwicklung von Natur und Landschaft, die Sicherung der Tier- und Pflanzenwelt, des Naturhaushalts unter Berücksichtigung der standortprägenden biologischen Funktionen, Stoff- und Energieflüsse sowie der landschaftlichen Strukturen, der Regenerationsfähigkeit der Naturgüter und die sparsame und schonende Nutzung dieser Güter. Doch auch wenn das Prinzip zudem in Rechtsgebiete wie das Wald-, das Jagd- und Fischereisowie das Abfallrecht Eingang gefunden hat, bezweifeln Nachhaltigkeitsexperten, ob es damit im Umweltrecht bereits hinreichend instrumentiert ist. Eingang fand das Nachhaltigkeitsprinzip auch in das Energierecht. Es ist in mehreren Zielbestimmungen enthalten, insbesondere in § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWiG), in § 1 des Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetzes (KWKG) und in § 1 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG). Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) Das deutsche Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien - kurz Erneuerbare-Energien-Gesetz oder EEG - regelt die bevorzugte Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Quellen ins Stromnetz und garantiert deren Erzeugern feste Einspeisevergütungen. Mit dem EEG erhalten Anlagebetreiber 15 bis 20 Jahre lang eine festgelegte Einspeisevergütung für ihren erzeugten Strom und Netzbetreiber werden zu dessen vorrangiger Abnahme verpflichtet (§ 21 und § 8 Abs. 1 EEG vom 25. Oktober 2008). Die Vergütungssätze sind nach Technologien und Standorten differenziert und sollen einen wirtschaftlichen Betrieb der Anlagen ermöglichen. Der für neu installierte Anlagen festgelegte Satz sinkt jährlich um einen bestimmten Prozentsatz (Degression). Durch diese stetige Degression wird ein Kostendruck im Sinne einer gewollten Anreizregulierung erzeugt: Anlagen sollen effizienter und kostengünstiger hergestellt werden, um langfristig auch ohne Hilfen am Markt bestehen zu können. Gefördert wird die Erzeugung von Strom aus Wasserkraft, Deponiegas, Klärgas und Grubengas, Biomasse, Geothermie, Windenergie sowie aus solarer Strahlungsenergie z.B. Photovoltaik (siehe auch www.unendlich-viel-energie. de). Für Planung und Steuerung von nachhaltiger Entwicklung ist das Raumordnungsrecht eines der wichtigsten Instrumentarien. Nachhaltigkeit bildet infolge seiner Aufnahme in die Ziel- und Grundsätzebestimmungen des Bundesraumord- <?page no="258"?> 258 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit nungsgesetzes (BROG) das raumordnerische Leitprinzip. Laut §§ 1 und 2 des Bundesraumordnungsgesetzes (BROG) meint Nachhaltigkeit bei der Raumentwicklung, die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang zu bringen, dies unter Vorbehalt planerischer Abwägungen. Die Crux: Das Raumordnungsrecht ist ein Rahmenrecht ohne direkte Möglichkeit, die Realisierung des Nachhaltigkeitsprinzips zu gewährleisten. Zwei Beispiele für mehr Nachhaltigkeit durch eine Reformierung der nationalstaatlichen Rechtsordnung sind Neuseeland und Südkorea. Mit dem Resource Management Act von 1999 wurde das neuseeländische Umwelt- und Planungsrecht erneuert, indem das Nachhaltigkeitsprinzip als Vorschrift aufgenommen wurde (§ 5). Ökonomische Anliegen genießen demnach nur solange Vorrang, wie ein ökologischer Minimumstandard, die sogenannte ecological bottom line, nicht gefährdet wird. Auch die Novellierung des südkoreanischen Gesetzes geht mit der Vorrangregelung ökologischer Belange einen Schritt weiter. Die grundlegende Verrechtlichung des Nachhaltigkeitsprinzips findet sich im 1999 novellierten Grundgesetz für die Umweltpolitik (GUP). Hier wurde das Nachhaltigkeitsprinzip durch prägnante Zweck- und Grundsatznormen verrechtlicht, von denen der Grundsatz der „vorrangigen Berücksichtigung der Belange des Umweltschutzes bei jeder Nutzung der Umwelt“ hervorsticht. Interessant ist auch das koreanische „Grundlagengesetz für die Landesentwicklung“. Nach § 2 bildet das Land die Lebensgrundlage der Bevölkerung, so dass es gilt, kommenden Generationen dieses Land intakt weiterzugeben, wodurch alle drei Dimensionen adressiert werden. Ein Fortschritt in der deutschen Nachhaltigkeitspolitik ist, dass bei der Planung neuer Gesetze künftig möglichst früh gefragt werden soll: Trägt es dazu bei, das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zu erreichen oder gerät es mit diesem Ziel in Konflikt? Dies veranschaulicht folgende Mitteilung der Bundesregierung vom 27.05.2009: „Gesetze werden künftig auf ihre Wirkungen unter ökonomischer, ökologischer und sozialer Sicht geprüft. Auf diese Weise wird deutlich, welche Vor- und Nachteile ein Gesetz für künftige Generationen hat. Das Prinzip der Nachhaltigkeit trägt dazu bei, kommenden Generationen ein intaktes ökonomisches, ökologisches und soziales Umfeld zu hinterlassen. Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie hat sich die Bundesregierung zur Nachhaltigkeit als Leitprinzip ihrer Politik bekannt“. Nachhaltigkeit im Europäischen Gemeinschaftsrecht Wie verhält es sich mit intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechts? Für das Verständnis der Nachhaltigkeit im deutschen Recht ist das Begriffsverständnis der EU, insbesondere im EG- Vertrag in der Fassung des Vertrages von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 (EGV), von Belang. Im Vertragstext von Maastricht von 1993 taucht der Begriff Nachhaltigkeit lediglich einmal, bei der Förderung der Entwicklungszu- <?page no="259"?> 7.2 Nationales und EU-Nachhaltigkeitsrecht 259 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit sammenarbeit in Art. 130 u, Abs. 1, auf, obgleich Elemente des Nachhaltigkeitskonzepts in mehreren Umweltschutzbestimmungen des Vertrages enthalten sind. In der Präambel bekunden die Mitgliedsstaaten den „festen Willen, im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts sowie der Stärkung des Zusammenhalts und des Umweltschutzes den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Völker unter Berücksichtigung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung zu fördern“. Die Querschnittsklausel des Art. 6 EGV fordert die Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung in das Umweltrecht und verlangt die Einbeziehung der Erfordernisse des Umweltschutzes in alle Gemeinschaftspolitiken. Sie soll für das europäische Recht sicherstellen, dass der Umweltschutz mit ökonomischen und sozialen Entwicklungsinteressen der Gegenwart in Einklang gebracht wird, ohne künftigen Generationen die Fähigkeit zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu nehmen, und damit zugleich ein dauerhafter Erhalt der menschlichen Lebensgrundlagen gewährleistet wird. Abb. 69: Beispiele für Rechtsvorschriften der EU Als Beispiele für zwei konkrete umweltrelevante Bestimmungen des EU- Vertrages seien hier Artikel 2 und 130 genannt. Artikel 2 benennt die Aufgabe der Gemeinschaft, „ein beständiges, nicht inflationäres und umweltverträgliches Wachstum zu fördern, Lebenshaltung und Lebensqualität zu heben.“ Artikel 130 stellt die Prinzipien der Umweltpolitik der Gemeinschaft ins Zentrum, genauer das Vorsorge-, Ursprungs-, Verursacherprinzip. Dass das Nachhaltigkeitsprinzip auf europäischer Ebene aber unterschiedlich interpretiert wird, ergibt sich aktuell aus Art. 3 Abs. 2 des Europäischen Verfassungsentwurfs, demzufolge die Union „ein Europa der nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und sozialer Gerechtigkeit“ anstrebt. In dieser Formulierung ist von einer gleichgewichtigen <?page no="260"?> 260 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Berücksichtigung der ökologischen Grundlagen nicht die Rede, erst recht nicht von einer nach dem Brundtland-Bericht intendierten Vorrangstellung. Gleichwohl bemüht sich die Europäische Union, das Nachhaltigkeitsprinzip in konkretes Verwaltungshandeln zu überführen. So verabschiedete der Europäische Rat 2002 in Barcelona die „Europäische Strategie für eine Nachhaltige Entwicklung“ und bekundete so - in eklatantem Gegensatz zum Entwurf der Europäischen Verfassung - die Absicht, nachhaltige Entwicklung unter gleichgewichtiger Beachtung ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele in der Union umzusetzen. Die folgende Grafik gibt einen guten Überblick über die Instrumente der indirekten Verhaltenssteuerung, welche die bekannten Instrumente Kyoto-Protokoll, Emissionshandel und EMAS ( QR) in einen Zusammenhang stellt und ihren ebenso wichtigen wie leidlich indirekten Charakter aufzeigt. Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung / indirekte Instrumente ökonomische Instrumente Zertifikate & Kompensationsmodelle informelle Instrumente weitere Instrumente Abgaben (Lenkung, Finanzierung, Ausgleich) Subventionen (Leistung, Verschonung) Preisfestsetzung Auftragsvergabe Emissionshandel (Kyoto-Protokoll) Kompensation (z.B. §§ 7 III, 17 III a 48 BImSchG) Empfehlungen Warnungen Absprachen Strafrecht Umwelt-Audit (EMAS II), Öko-Audit Ökobilanz Umweltinformation (UIG) Tabelle 31: Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung Auch Subventionen sind ein gangbarer Weg. Sie können einerseits umweltfreundliche Technologien begünstigen, andererseits sind „perverse Subventionen“ langfristig schädlich für Wirtschaft und Umwelt, wie etwa Diesel- und Kohlesubventionen oder die Kerosinsteuerbefreiung. Die nachfolgende Grafik zeigt bezüglich des Aspektes der Kerosinsteuerbefreiung, dass sich dies in kostengünstigen und damit häufigeren Flugreisen niederschlägt, die zu einem hohen Anteil von 7,8 % an den Gesamtemissionen pro <?page no="261"?> 7.3 Freiwilliges Engagement 261 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Person führen. Zudem zeigt die Abbildung nach Produktgruppen aufgeschlüsselt, wo - verrechtlichte oder freiwillige - Hebel zur Verringerung der CO 2 - Belastung sind. Abb. 70: CO 2 -Belastung pro Kopf nach Produktgruppe (Nachhaltiger Warenkorb (2013), S. 3) Um Recht zu setzen, das das Überleben der Menschheit ressourcenökonomisch und fair geregelt gewährleistet, müsste Nachhaltigkeit zum universellen Rechtsprinzip erhoben werden, was aber durch das Gebot nationalstaatlicher Souveränität unmöglich wird, Stichworte Kyoto-Protokoll und Weltumweltbehörde. 7.3 Freiwilliges Engagement Alle Gesetze sind Versuche, sich den Absichten der moralischen Weltordnung im Welt- und Lebenslaufe zu nähern. Johann Wolfgang von Goethe Das rechtliche Feld ist ein Spannungsfeld. - Regulierung, Kontrolle, Gesetze einerseits, Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung andererseits; verbindliche, starre Vorgaben versus flexible, variable Maßnahmen. Es ist an den Akteuren, zu entscheiden, inwieweit sie bereit sind, sich über die gesetzlichen Mindeststandards hinaus zu verpflichten. <?page no="262"?> 262 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Grundsätzlich ist dabei zwischen zwingenden, quasi-gesetzlichen und freiwilligen Vorgaben zu unterscheiden. Während Steuer-, Aktien- oder Strafgesetze grundständigste Anforderungen darstellen, umfassen quasi-gesetzliche Vorgaben Instrumente wie den Corporate Governance Kodex ( QR) oder Richtlinien laut UN Global Compact oder Social Accounting 8000 (siehe folgende Box). Freiwilliges Engagement geht häufig in Richtung CSR - das Unternehmen übernimmt eigenständig soziale Unternehmensverantwortung, dies meist mittels öffentlichkeitswirksamer Maßnahmen. Hierzu zählen Firmenrichtlinien, Selbstverpflichtungen, Verhaltenskodexe, Aussagen zur Unternehmensphilosophie und öffentliche Bekanntmachungen, wie sie auf der Webseite, in Kundenmagazinen und in Nachhaltigkeitsberichten zu finden sind. Die Grundsatzentscheidung zwischen Pflicht, Kür und der Grauzone dazwischen veranschaulicht der folgende Überblick. Tabelle 32: Gesetze, Vorgaben, Freiwilligkeit (E&Y (2009)) Social Accounting (SA) 8000 SA 8000 ist ein internationaler Standard mit dem Ziel, Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern zu verbessern. Ins Leben gerufen von der NGO Social Accountability International (SAI) dient er vor allem transnationalen Unternehmen als Mindestanforderung an Sozial- und Arbeitsstandards und ergänzt damit Managementsysteme wie ISO 9000 oder 14000. Für die Zertifizierung melden sich Unternehmen selbständig bei der SAI an. Im Gegensatz zu nationalen Gesetzen und Verordnungen beruht sie auf der freiwilligen Entscheidung der Unternehmen. Die Grundlage sind Konven- <?page no="263"?> 7.3 Freiwilliges Engagement 263 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit tionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Vereinten Nationen. Am stärksten verbreitet ist die Norm im Bereich der Bekleidungs- und Textilindustrie. Um das Zertifikat zu erhalten, muss ein Unternehmen folgende Anforderungen erfüllen: keine Kinderarbeit keine Zwangsarbeit keine Diskriminierung keine physischen oder psychischen Bestrafungen Beschränkungen der Arbeitszeit ein nicht zu niedriges Lohnniveau Mindeststandards im Bereich Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit Gewerkschaften erlauben weitere Anforderungen an das Management Abb. 71: Prozess der Wahl rechtlicher Maßnahmen (E&Y (2009)) Der Prozess der Wahl rechtlicher Maßnahmen verläuft wie folgt: Zunächst wird hinterfragt, worin das Vertrauen der Öffentlichkeit zu bestärken ist; dies kann die Tätigkeit einer Partei, Organisation oder eines Unternehmen sein, deren Berichterstattung oder Ratings und Rankings. Die Kontrollinstrumente, die im Anschluss daran einzuführen sind, um das Vertrauen zu gewinnen und zu rechtfertigen, sind z.B. Einbindung von Nachhaltigkeits- oder CSR-Maßnahmen in die gesamte Organisation, Selbstregulierung, aber auch externe Prüfungen und Gesetzesvorgaben. Schließlich wird festgelegt, wer die gewählten Maßnahmen zur Vertrauensbildung überwachen soll. Dies können organisationsinterne Ent- <?page no="264"?> 264 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit scheidungsträger sein, Kunden, Gewerkschaften, NGOs sowie politische oder juristische Akteure. Wie Instrumente und Maßnahmen im Unternehmen etabliert werden, zeigt die vorstehende Grafik. Wie weit ist die Verrechtlichung des Nachhaltigkeitsprinzips in Unternehmen fortgeschritten? Wo gibt es noch Handlungsbedarf? Als Fortschritt zu werten ist z.B. die Reform des Vergaberechts, d.h. soziale und ökologische Kriterien werden zunehmend bei Ausschreibungen um Projekte und Fördermittel einbezogen (z.B. bei der Bewerbung um Olympia 2020). Ebenfalls positiv ist, dass rund ein Drittel der deutschen Großunternehmen bereits einen Nachhaltigkeits- oder CSR-Bericht vorlegt, ein Viertel befürwortet eine Berichtspflicht. Das BMU empfiehlt die Anwendung der Richtlinien der GRI (Global Reporting Initiative). Auf Konsumentenseite kommt die Studie Eurobarometer zu dem Ergebnis, dass immer mehr Verbraucher ökologische und soziale Kriterien bei ihrer Kaufentscheidung berücksichtigen, während die EU gleichzeitig zunehmend die Produktgestaltung unter jenen Kriterien beeinflusst (z.B. Verbot der Glühbirne, Einführung der Energiesparlampe). Handlungsbedarf besteht z.B. darin, dass bei nur sieben der DAX-30-Unternehmen Nachhaltigkeits- oder CSR-Berichte extern (von Auditoren, unabhängigen Dritten) geprüft werden und 60 % der Unternehmen gegen eine Berichtspflicht sind sowie nur knapp die Hälfte der DAX 30 die GRI-Richtlinien heranzieht. In den 200 größten deutschen Unternehmen (Finanzsektor ausgeschlossen) besetzen Frauen nur 3 % der obersten Führungspositionen. Statt einheitlicher, nachvollziehbarer, transparenter Kriterien zur Produktkennzeichnung anhand klarer Bio- und Öko-Siegel herrscht ein Label-Dschungel; so wie es an eindeutigen Richtlinien für Unternehmen auch insgesamt fehlt. Zudem ist zu befürchten, dass die Wirtschaftskrisen die Bemühungen und Fortschritte zu nachhaltiger Entwicklung zurückwerfen. Grundsätzliche branchenübergreifende Kriterien bei der Auswahl von Nachhaltigkeitsmaßnahmen bieten dabei folgende Regelwerke und Quellen: Leistungsindikatoren der Global Reporting Initiative International Organization for Standardization - ISO 140001, ISO 16001, ISO 26000 Eco-Management and Audit Scheme (EMAS) Nachhaltigkeitsberichterstattung: Empfehlungen für eine gute Unternehmenspraxis (lt. BMU) Empfehlungen der IHK, HK und diverser anderer Verbände und Institutionen Im Folgenden ist eine Reihe von CSR-Maßnahmen genannt, die Unternehmen zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung freiwillig ergreifen können. Nebst der genannten Reputationsverbesserung oder Arbeitgeberattraktivität ist <?page no="265"?> 7.3 Freiwilliges Engagement 265 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit eine Hauptmotivation von Unternehmen, damit etwaigen Gesetzesverschärfungen zuvorzukommen. Ein jüngeres Beispiel für das freiwillige Engagement eines Großunternehmens ist die Deutsche Telekom. Sie führte als erstes DAX-30-Unternehmen eine Frauenquote ein. Demnach sollen 30 % der oberen und mittleren Führungspositionen bis 2015 von Frauen besetzt sein. Diese freiwillige Selbstverpflichtung erfolgte in Übereinstimmung mit dem Ruf nach einer größeren Diversität der Aufsichtsräte, um eine bessere Unternehmenskontrolle herbeizuführen. Auch Daimler will bis 2020 konzernweit den Anteil von Frauen in Führungspositionen auf 20 % steigern. Hintergrund der Maßnahmen sind Studien wie „Women matter“ ( QR) von McKinsey aus dem Jahre 2010, der zufolge die finanziellen Ergebnisse von Unternehmen mit höherem Anteil weiblicher Führungskräfte im Schnitt ein Drittel besser sind. Die Prognosen der Harvard Business Review von 2009 gehen davon aus, dass das weltweite Einkommen der Frauen von 13 Billionen USD im Jahr 2009 bis 2014 auf 18 Billionen USD steigen wird. Die beiden Beispiele zeigen, wie sich bislang unverbindliche Regelungen in verbindliche Vorschriften verkehren könnten. Unternehmen, die Maßnahmen pro-aktiv einleiten, kommen so etwaigen Gesetzesverschärfungen zuvor. Zudem profitieren sie von First-Mover-Vorteilen, einer höheren Attraktivität als Arbeitgeber und einem stärkeren Stakeholdervertrauen. Beispiele für Maßnahmen freiwilligen Engagements, auch als CSR-Maßnahmen bezeichnet, umfassen: Arbeitsmotivation-Incentives Community Involvement Corporate Partnerships Corporate Volunteering Diversity Management Employer Branding Fort- und Weiterbildung Kooperationen und Allianzen mit NGOs Unternehmensstiftungen Work-Life-Balance <?page no="266"?> 266 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Jüngste Fortschritte Der Weg vor uns Theoretisch sind große Unternehmen ab 2017 in der EU verpflichtet, über die sozialen und ökologischen Aspekte ihres Wirtschaftens zu informieren … … Praktisch wird ein Großteil von ihnen verspätet, ungenügend oder gar nicht der sogenannten CSR-Berichtspflicht nachkommen. Theoretisch hat die Bundesregierung Ende 2016 ihren Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet; d.h. bis 2020 sollen die Hälfte aller Großunternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern menschenrechtliche Sorgfaltspflichten umsetzen (ca. 6.000 Firmen) … … Praktisch halten Menschenrechtler und Gewerkschaften halten den Plan für nicht ausreichend; echte Vorgaben seien verwässert, es fehle an Verbindlichkeit und Sanktionen. Theoretisch hilft die Initiative FairWelcome geflüchteten Menschen eine Stelle auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu finden … … Praktisch gibt es angesichts der hohen Anzahl an Flüchtlingen zu wenige vergleichbare Initiativen, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Telekom benennt Frauenquote … … in den 200 größten deutschen Unternehmen (ohne Finanzsektor) sind zurzeit nur 2,5 % der Spitzenpositionen von Frauen besetzt. Eine Studie (Eurobarometer) stellt fest, dass eine Vielzahl der europäischen Konsumenten den Umwelteinfluss von Produkten in ihre Kaufentscheidung einbezieht … … transparente und einheitliche Kriterien zur Kennzeichnung von Produkten sind noch nicht ausreichend vorhanden. Stattdessen existiert ein „Labeldschungel“. Tabelle 33: Regulierung: Fortschritte und Ausblick (Eurostat, EU-Kommission, RNE) In jüngerer Zeit sind in der Unternehmenspraxis immer mehr Fortschritte zum Thema Nachhaltigkeit erzielt worden. Gleichwohl ist es noch ein weiter Weg bis die integrative Anwendung des Nachhaltigkeitsleitbildes flächendeckend erreicht ist. Einige Beispiele für bisherige und noch ausstehende Maßnahmen werden in der obigen Tabelle aufgelistet. <?page no="267"?> 7.4 Zukünftige Verrechtlichung des Nachhaltigkeitsprinzips 267 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 7.4 Zukünftige Verrechtlichung des Nachhaltigkeitszips We will create the environment of the future, either through action or inaction. John Duggan Welche Möglichkeit gibt es für die künftige Weiterentwicklung des Rechts im Sinne des Nachhaltigkeitsprinzips? Eine Auswahl sei hier vorgestellt anhand der Beispiele Umweltgesetzbuch, Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung und Stoffstrommanagement. Die Strategische Umweltprüfung, auch SUP-Richtlinie, ist ein systematisches Prüfungsverfahren, mit dem die Umweltaspekte bei strategischen Planungen und dem Entwurf von Programmen untersucht werden. Typische Anwendungsfälle sind Regionalentwicklungspläne, Bauleitpläne, Verkehrskonzepte, Abfallwirtschaftspläne, Energiekonzepte, Tourismusprogramme etc. Auch der von der EU-Kommission entwickelte Ansatz der Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung, auch Sustainability Impact Assessment (SIA) genannt, der in Deutschland bisher vornehmlich in Bezug auf energiewirtschaftliche Bewertungsfragen diskutiert worden ist, scheint als sinnvoller Ansatz das Nachhaltigkeitsprinzip zu verrechtlichen. Die EU-Kommission betrachtet den SIA-Ansatz als Instrument für die Umsetzung nachhaltiger Entwicklung nach Maßgabe ihrer eigenen Nachhaltigkeitsstrategie. Ein weiterer Ansatz für die Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips im Bereich Umwelt- und Ressourcenschutz ist die Installation eines Stoffstrommanagements. Dabei wird bei der Konzeption des Rechts von einer Gesamtanalyse der Auswirkung von Stoffen von ihrer Gewinnung über die Bearbeitung bis hin zum Verbrauch ausgegangen. In der Rechtswissenschaft läuft dazu eine kontroverse Diskussion. Denn das Spektrum an Möglichkeiten reicht von der Neuschaffung eines Stoff- oder Produktgesetzes über den Ausbau einzelner Gesetze bis hin zu einem einheitlichen umfassenden Stoffgesetz. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Ökobilanzen. Auch sie könnten als künftige Instrumente des Umweltrechts dienen, wie Rehbinder und Schmihing darlegen. Fazit - Die Verrechtlichung des Leitbildes steht aus In der rechtlichen Diskussion bleibt die Konkretisierung des Nachhaltigkeitsprinzips auf wenige plakative Beispiele beschränkt. Für eine Novellierung der Rechtsordnung ergeben sich mehrere Ansätze, die sich teils überlagern. Ein guter Ansatz wäre ein Umweltgesetzbuch, weil es Regelungen die gebührende Breite wie Tiefe bei bindender Kraft verleiht. Die Verrechtlichung des Nachhaltigkeitsprinzips durch Aufnahme in die Verfassung, wie im Falle der Schweiz geschehen, oder durch eine medienübergreifende Regelung im einfachen Recht würde befördern, Nachhaltigkeit über das ethische Gebotensein hinaus als Vorgabe für die staatliche Gewalt zu etablieren. Die Einbeziehung des Nachhaltigkeitsprinzips in eine medienübergreifende Regelung wäre daher, wie Vergleiche mit anderen Rechtsordnungen belegen, eine attraktive Möglichkeit, der Nachhaltigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. <?page no="268"?> 268 7 Transformation des Nachhaltigkeitsprinzips in das Recht Literatur Becker, B. (2010) Das neue Umweltrecht. C.H. Beck München. BMU (2002) Nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Entwurf eines umweltpolitischen Schwerpunktprogramms, Bonn 1998; Bundesregierung, Perspektiven für Deutschland. Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung. Berlin. Bückmann, W. et al. (2003) Nachhaltigkeit und das Recht. Politik und Zeitgeschichte B 27/ 2003. Bund/ Misereor (1996) Zukunftsfähiges Deutschland Basel. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Schutz des Menschen und der Umwelt (1994) Die Industriegesellschaft gestalten. Perspektiven für einen nachhaltigen Umgang mit Stoff- und Materialströmen. Bonn. Hauff, M. von (Hrsg.) (1987) Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland- Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Eggenkamp Verlag Greven. Kleine, A. (2009) Operationalisierung einer Nachhaltigkeitsstrategie. Ökologie, Ökonomie und Soziales integrieren. Gabler Wiesbaden. Koch, H.-J. (2010) Umweltrecht. Handbuch. 3. Aufl. Vahlen München. Rehbinder, E.; Schmihing, C. (2001): Ökobilanzen als Instrumente des Umweltrechts. Schmidt Berlin. SRU, Umweltgutachten 1994, 2000, 2002. Stuttgart. UBA (2002) Nachhaltige Entwicklung in Deutschland. Die Zukunft dauerhaft umweltgerecht gestalten. Berlin. Willand, A. et al. (2005) Nachhaltigkeit durch Rechtsgestaltung. Umweltforschungsplan des Umweltbundesamts, Dessau. <?page no="269"?> 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft <?page no="270"?> 270 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Wird das Thema Nachhaltigkeit in der Wissenschaft überhaupt aufgegriffen? Falls ja, wie und in welchen Zusammenhängen? Wie lässt sich dieses Querschnittsthema erforschen und erschließen? Ist das nur was für Ökologen? Maßnahmen Studiengänge und Disziplinen mit Nachhaltigkeitsbezug; Curricula, Inhalte, Kompetenzen, Rolle der Hochschule, Nachhaltigkeit in Forschung & Lehre. Ergebnisse Studierende haben einen Überblick über die Nachhaltigkeitslandschaft unter wissenschaftlicher Perspektive. 8.1 Nachhaltigkeitswissenschaft und -forschung - warum? ! Nachhaltigkeit als übergeordnetes Thema muss Pflichtveranstaltung aller Studiengänge werden, wenn die globalen Herausforderungen in Zukunft bewältigt werden sollen. BMBF Nachhaltigkeit braucht Wissen. Sie ist ohne den Zustrom neuen Wissens, frischer Erkenntnisse, ungekannter Zusammenhänge, Ursachen-Wirkungs-Gefüge und Wechselwirkungen nicht denkbar. Als Vorsorgeforschung zur Diagnose und Therapie von ökonomisch-ökologisch-sozialen Problemen ist sie eine Frühwarninstanz. Ohne die Wissenschaft hätten Akteure blind auszuprobieren. Ein Trial-and-Error, zeitaufwändig und mühsam, wäre die Folge. Hochschulen und Universitäten haben eine Vorreiterrolle: Sie beschreiben und erklären heute, was Akteure morgen in der Praxis brauchen. Sie sind die Bildungs- und Prägungsstätte, der Hort und die Wiege künftiger Generationen von Menschen, Bürgern, Arbeitnehmern und -gebern, von Konsumenten, Managern und Investoren. Hierzu verfügen sie über Wissen in allen Forschungsgebieten, <?page no="271"?> 271 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit in den technischen Disziplinen, in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Für diese Rolle übernehmen sie vier Funktionen: wissenschaftliche Forschungsfunktion, Wissensvermittlungsfunktion, Funktion als Akteure in Wissenschaft und Gesellschaft, Vorbildfunktion in der Gesellschaft. Benötigt wird ein neuer Vertrag zwischen Gesellschaft und Wissenschaft, mehr Forschung und Bildung für die Transformation, wie der WBGU es nennt ( QR). Ziel ist, die zukünftigen Generationen für diese Herausforderungen vorzubereiten und sie zu befähigen, den ökonomischen, ökologischen und sozialen Bedürfnissen der Menschheit Rechnung zu tragen. An den Hochschulen liegt es, ihren Zöglingen zu vermitteln, welche globalen Herausforderungen auf sie zukommen und inwiefern ihre jeweilige Wissenschaft und Spezialisierung mit technischen, aber auch ökologischen und sozialen Innovationen hierzu einen Beitrag leisten kann. Gleichzeitig gilt es, die für die Umsetzung dieser Prozess- und Produktinnovationen notwendigen ökonomischen und sozialpolitischen Bedingungen zu erkennen und die interdisziplinäre und globale Zusammenarbeit in Wirtschaft wie Wissenschaft zu suchen, da dies der intelligente, weil konsensuelle, friedliche und integrative Weg hierfür ist. Hochschulen stehen damit in der Verantwortung, „umweltbewusste Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensstrukturen sowie ein Gefühl für ethische Verantwortung [zu] fördern“ (BMBF (2004), S. 5). Dass die Hochschulen der geeignete Ort sind, darauf verweist Brand: „Das erkenntnisorientierte und explanatorische Selbstverständnis der Wissenschaft als Ort praxisferner Kontemplation, Experimentierkunst und Theoriebildung, wie es dem Ideal der klassischen Physik entspricht und von dort seinen Siegeszug antrat, ist heute nur noch in Teilen der Wissenschaft anzutreffen. Andere Teile hingegen wurden in die Entscheidungsprozesse der Gesellschaft hineingezogen: Wissenschaft als Beitrag zu politischer Meinungsbildung-, Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen.“ 68 Nachhaltigkeitswissenschaft (NW) oder Sustainability Science ist eine neue angewandte Wissenschaft. Sie beschäftigt sich mit der Forschung und Umsetzung von Nachhaltigkeit, nachhaltiger Entwicklung und Nachhaltigkeitsstrategien auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene und in Praxisfeldern wie dem betrieblichen Nachhaltigkeitsmanagement, der Bildung etc. Earth System Science ( QR) zielt darauf, die Erde als System zu verstehen, und betrachtet hierzu die Wechselwirkungen zwischen der Atmosphäre, Hydrosphäre, Lithosphäre (Geosphäre), Biosphäre und Heliosphäre. 68 Brand (2002) S. 113 <?page no="272"?> 272 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Normativität NW ist Richtschnur, Regel, Winkelmaß; Aufstellen von Normen und Regeln, normgeben; ein Sollen vorschreibend. Verantwortung NW gründet auf der Verantwortung der Wissenschaft und des einzelnen Wissenschaftlers gegenüber zukünftigen Generationen und dem Planeten. Inter-, Multi- und Transdisziplinarität Integrative Forschung, die verschiedene Ansätze, Denkweisen, Methoden und Fachrichtungen einbezieht sowie wissenschaftliches und praktisches Wissen verbindet. Praxisorientierung Ziel von NW ist die Lösung existenzieller Probleme der Weltgesellschaft und des Lebenssystems Erde. Tabelle 34: Kennzeichen von Nachhaltigkeitswissenschaft (NW) Viele Bildungseinrichtungen sind dem Appell des Rio-Umweltgipfels gefolgt, das Thema in der Gesellschaft zu verankern; Initiativen wurden in Gang gesetzt, Projekte angegangen, Wettbewerbe ausgeschrieben. Die internationale Dekade zur „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, 2005 ausgerufen, hat deutsche Bildungseinrichtungen in ihrem Elan unterstützt; Bund und Länder haben eine Reihe dieser Initiativen mitgetragen. 69 Dekade zur Bildung für nachhaltige Entwicklung „Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein Bildungskonzept, das Kindern und Erwachsenen nachhaltiges Denken und Handeln vermittelt. Denn wir müssen lernen: Mein heutiges Handeln hat Einfluss auf das Leben meiner Kinder und auf das Leben von Menschen in anderen Weltregionen. Mit der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (2005- 2014) haben sich die Staaten der Vereinten Nationen verpflichtet, dieses Bildungskonzept zu stärken.“, heißt es auf bne-portal.de. Die kulturelle Dimension einer Bildung für nachhaltige Entwicklung betont die UNESCO. Gemeint ist ein tiefgreifender Mentalitätswandel unter Achtung lokaler kultureller Kontexte. Der Ansatz basiert auf der Annahme, dass die 69 Die wichtigste deutsche Plattform zur Nachhaltigkeitsforschung ist das Netzwerk Forschung für Nachhaltigkeit (FONA) des BMBF; siehe www.fona.de. Hier findet sich eine alphabetische Auflistung von rund 700 Nachhaltigkeitsakteuren, von Forschungsüber Bildungseinrichtungen bis zu Behörden und Stiftungen sowie NGOs. Der Blog http: / / nach haltige wissenschaft.blog.de/ gibt einen Überblick über Initiativen und Projekte zu einer nachhaltigen Wissenschaft auf nationaler und internationaler Ebene. <?page no="273"?> 273 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit globale ökologisch-soziale Krise in erster Linie kultureller Natur ist, also Ausdruck problematischer Wertorientierungen, Verhaltensweisen und Lebensstile. Bildungsinitiativen sollten an diesem Punkt ansetzen und Kulturen der Nachhaltigkeit befördern. Die Agenda 21 definiert eine innovative Weiterentwicklung der Bildung in allen Bereichen als eine wesentliche Voraussetzung für eine gesellschaftliche Modernisierung in Richtung Nachhaltigkeit. Wissen, Sensibilisierung, Befähigung, Kompetenz, Qualifizierung - das sind die Weichen, die in den Köpfen der Menschen von heute und der Entscheidungsträger von morgen, eine nachhaltige Entwicklung verwirklichen, verstärken, verstetigen. Schließlich handelt es sich bei nachhaltiger Entwicklung um „ein umfassendes gesellschaftliches Modernisierungskonzept“, so das BMBF. 70 Deutsche Hochschulen, Universitäten und Fachhochschulen zeigen sich zunehmend offen, das Thema einzubeziehen, wenn auch zögerlich. Sie machen Studierenden, Hochschulabsolventen oder Berufstätigen hier zunehmend Bildungsangebote - gelten doch Nachhaltigkeitsmanagement, Umwelttechnik und Umweltforschung als zukunftsweisende Sektoren für den Wirtschafts- und Bildungsstandort Deutschland. Das Nachhaltigkeitsleitbild findet sich immer öfter in der Aus- und Weiterbildung von Ingenieuren und Wirtschaftswissenschaftlern. Aber nicht nur - auch die Sozial- und Kulturwissenschaften beziehen es ein und adressieren angehende LehrerInnen, Pädagogen, Künstler, Philosophen. Nachfolgend steht eine Auswahl an deutschen Studiengängen, die sich am Thema Nachhaltigkeit ausrichten, mal mit stärkerem Umweltbezug, mal mit stärkerem sozialem Bezug. Studiengänge mit stärkerem Umweltbezug Agrarökologie Angewandte Systemwissenschaft Umweltinformatik Bioand Environmental Engineering Bioprodukttechnologie Bio-, Umwelt- und Prozess-Verfahrenstechnik Chemie- und Umweltingenieurwesen/ -technik Energie-, Gebäude- und Umweltmanagement Energietechnik und Regenerative Energien Environmental Technology and Management Geoinformation und Kommunaltechnik Innovationsmanagement Ökosystemmanagement 70 BMBF (2004) S. 5 <?page no="274"?> 274 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Global Change Management Infrastrukturmanagement Internationaler Naturschutz Kreislaufwirtschaft, Altlasten und Recycling Landnutzung und Wasserbewirtschaftung Landschaftsökologie und Naturschutz, Landschaftsplanung Life-Science Engineering Landwirtschaft und Umwelt Management natürlicher Ressourcen, Ressource Management Nachhaltige Energieökonomie Nachhaltigkeits- und Qualitätsmanagement Öffentliches und betriebliches Umweltmanagement Regionalentwicklung und Naturschutz, Stadtökologie Renewable Energy Design Sicherheit und Gefahrenabwehr, Technik - Sicherheitswesen Social Entrepreneurship Sustainability Management MBA Technischer Umweltschutz Umwelt-, Hygiene- und Sicherheitstechnik Umweltingenieurswesen/ -wissenschaften Umweltanalyse, -planung, -modellierung und -monitoring Umweltschutztechnik, Umwelt- und Verfahrenstechnik Verfahrens-, Energie- und Umwelttechnik Versorgungs- und Entsorgungstechnik Wasser- und Bodenmanagement Wirtschaftsingenieurwesen (Umweltplanung) Wirtschafts- und Umweltrecht Studiengänge mit stärkerem sozialem Bezug Nachhaltiges Tourismusmanagement Sozial- und Humanökologie Soziale Arbeit Gesundheitswissenschaften Soziokultur/ Gemeinwesenentwicklung Civil Engineering Kultur- und Sozialanthropologie Coaching und Systementwicklung Sozialmanagement Kultur und Technik Management sozialer Innovationen etc. Tabelle 35: Studiengänge deutscher Hochschulen mit Nachhaltigkeitsbezug <?page no="275"?> 275 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Das Zusammenspiel von Human- und Naturwissenschaften kann man sich dabei wie im folgenden Schaubild vorstellen. Die Humanwissenschaften zielen auf das anthropogene System und fokussieren auf Orientierung, Handlungskompetenzen, Kommunikation, Partizipation und Diskurs; die Naturwissenschaften beziehen sich auf die natürliche Umwelt samt Stoffströmen, Wirkungen in und auf Ökosysteme sowie Ökosystemdienstleistungen. Die beiden Wissenschaften tauschen sich aus und gleichen sich mittels Adaption, Rekonstruktion und Mitigation ab. Abb. 72: Zusammenspiel von Human- und Naturwissenschaften (Leuphana Universität) Um welche Inhalte, Themen und Aspekte geht es bei nachhaltigkeitsbezogenen Studiengängen? Sie umfassen einerseits Aspekte aus den Humanwissenschaften wie z.B. zentrale gesellschaftliche, staatliche, rechtliche, unternehmerische sowie individuelle Akteure; andererseits kommen Inhalte aus den Natur- und Technikwissenschaften vor, wie z.B. Informationen zu Ökosystemen, Raumplanung, Design oder Infrastruktur. Wie Bausteine aus beiden Bereichen schließlich in Forschung, Methoden und Projekten, die transdisziplinär ausgerichtet sind, zusammengeführt werden, stellt das folgende Modell (Abbildung 71) dar. <?page no="276"?> 276 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 73: Modell der Nachhaltigkeitswissenschaften (Leuphana Universität) Auch wenn die vorher genannten Kennzeichen die Anforderungen an Studiengänge, die das Etikett „nachhaltig“ tragen, konkretisieren, verbindlich sind sie nicht. Am Thema Nachhaltigkeit Interessierte taten sich deshalb bis dato schwer, diesbezüglich einen Überblick zu Studiengängen zu gewinnen, sei es für ein Vollstudium, eine Teilqualifikation oder ein Ergänzungsstudium. Deshalb hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Erarbeitung eines Leitfadens in Auftrag gegeben, der alle gegenwärtigen Studiengänge mit Nachhaltigkeitsbezug auflistet. Unter www.leitfadennachhaltigkeit.de ( QR) sind nun rund 300 Studienangebote sowie 60 außeruniversitäre und 130 universitäre Forschungseinrichtungen beschrieben. Welche Studiengänge zum Thema Nachhaltigkeit gibt es? Der Leitfaden orientiert sich an den Kriterien der Integration von ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen und Perspektiven sowie Partizipation und Gerechtigkeit. Unterschieden werden Studiengänge nach drei Gruppen: <?page no="277"?> 8.2 Die Notwendigkeit von Gestaltungskompetenz 277 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit [1] Ausdrückliche Nachhaltigkeits-Studiengänge: Studiengänge, die sich in ihrem Profil explizit, umfassend und eingehend auf das Themenfeld ausgerichtet haben und sämtliche Schlüsselthemen behandeln. [2] Studiengänge mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit: Hier werden Aspekte der Nachhaltigkeit abgedeckt durch Wahlpflichtfächer, Studienrichtungen und -schwerpunkte, Vertiefungsmöglichkeiten oder Module; d.h. auf einen grundständigen Studiengang wird das Thema Nachhaltigkeit aufgesattelt. [3] Einzelne nachhaltigkeitsbezogene Lehrangebote: Dabei handelt es sich um Studienangebote, bei denen lediglich einzelne Lehrveranstaltungen einen Nachhaltigkeitsbezug aufweisen. Laut Leitfaden sind von den 300 Studiengängen und anderen Studienangeboten mit Nachhaltigkeitsbezug, 260 Studiengänge, die die nachhaltige Entwicklung ausdrücklich und umfassend zum Gegenstand machen oder einen entsprechenden Studienschwerpunkt anbieten; und das bei einer etwa 90-prozentigen Erfassung aller nachhaltigkeitsbezogenen Studienangebote in Deutschland. 8.2 Die Notwendigkeit von Gestaltungskompetenz Nur mit ökologischer Intelligenz werden wir die beispiellosen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen. Daniel Goleman Wie vermitteln Bildungsinstitutionen im Rahmen der genannten Studiengänge das Können und Wissen, um sie zu befähigen, wissenschaftliche Leistungen bereitzustellen? Wie sind Studierende auf globale Aufgaben vorzubereiten wie globale Armut zu bekämpfen, verknappende Ressourcen sparsamer einzusetzen, die Auswirkungen heutigen menschlichen Handelns zu antizipieren, das Leben so zu gestalten, dass auch künftige Generationen eine lebenswerte Welt vorfinden? Wie sensibilisieren sie für ethische, moralische und normative Fragestellungen und Perspektiven, für ein Urteilsvermögen, das ganzheitlich, verantwortungsbewusst und fair ist? Und wie lässt sich etwas vermitteln, das kein festes Konzept, sondern erst zu entdeckende neue Optionen und Verbesserungs-, Effizienz- und Integrationspotenziale bietet? Oder anders, wie lässt sich ein Problem- und Lösungsbewusstsein vermitteln, das auf die Komplexität einer dynamischen, globalisierenden und vernetzten Welt mit angemessenen Strategien reagiert? Kurz, wie schult man Zukunftsfähigkeit? ! „Es wird deutlich, dass die Problemlösungen in vernetzten, dynamischen und intransparenten Systemen ansetzen und große Zeithorizonte sowie vielfache Rückkoppelungen berücksichtigen müssen.“ sagt Lenelis Kruse in der Zeitschrift Politische Ökologie unter dem Titel: Baustelle Hochschule. Nachhaltigkeit als neues Fundament für Lehre und Forschung. 71 71 Politische Ökologie (2005) S. 28 <?page no="278"?> 278 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die Wissenschaft leistet ihren Beitrag zu Nachhaltigkeit durch vielfältige Maßnahmen 72 : wissenschaftliche Leistungen Beispiele Erkennen von Nachhaltigkeitsproblemen Ozonloch, Treibhauseffekt, Wassermangel, Umweltflüchtlinge Empirische Beobachtung von Entwicklungen über die Zeit Zusammenwirken chemischer Substanzen über Jahrzehnte; Monitoring Extrapolation für die Zukunft Prognosen zur Klimaveränderung, -erwärmung Simulation und Szenarienentwicklung Skizzierung möglicher Zukünfte, Worst- / Best-Case-Entwicklungen, Delphi- Methode Bewertung unter Nachhaltigkeitskriterien Kennzahlen, Kriterien, Indikatoren Aufdeckung/ Identifizierung von Ursache-Wirkungs- Zusammenhängen Kenntnis von Kausalverhältnissen, um Stellschrauben anzusetzen; Frontversus End-of-pipe, Zuliefer-/ Wertkettenanalyse Interpretation von Ergebnissen Hermeneutik, Wissenschaftstheorie etc. Erarbeitung von Handlungsstrategien Nachhaltigkeitsstrategien des Bundeslandes Bayern für die EU Maßnahmen/ Wirkungsforschung und Alternativenabwägung Technikfolgenabschätzung, (Cross-) Impact-Analysen, Öko-Assessments Verifikation und Überwachung der Maßnahmen (Health-, Condition-, Usage-)Monitoring, sektorale Umweltbeobachtung Rückverfolgung von Abweichungen der Zielerreichung Lernkurve, Lessons Learned, Wissensmanagement, Verbesserung des Systemverständnisses Tabelle 36: Wissenschaftliche Leistungen für Nachhaltigkeit 72 In Anlehnung an Brand (2002) S. 115 ff. <?page no="279"?> 8.2 Die Notwendigkeit von Gestaltungskompetenz 279 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Was die Umsetzung der Jahrhundertherausforderung Nachhaltigkeit angeht, sehen sich Hochschulen aufgrund ihrer disziplinären Strukturen und untergegliederten Verwaltung unvorbereitet. Verbesserungsmöglichkeiten bestünden hochschulintern in der formellen Zuschreibung von Zuständigkeiten und Rechten, der Schaffung struktureller Voraussetzungen, z.B. im Bereich der Mittelzuweisungen, um daraus spezielle Deputate oder Möglichkeiten für Lehrbeauftragungen zu schaffen sowie dem Einbezug von Nachhaltigkeitsthemen in Prüfungsordnungen. Viel weitreichender aber bräuchte es gänzlich neue Bildungskonzepte gemäß Albert Einsteins Aussage „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Hinzu kommt im Kontext von Nachhaltigkeit als ganzheitlicher Wissenschaft die Erfordernis einer systemischen Sicht- und Herangehensweise, zu der sich Einstein abermals zitieren ließe: „Wir können der Tatsache nicht ausweichen, dass jede einzelne Handlung, die wir tun, ihre Auswirkung auf das Ganze hat.“ In diesem Sinne wäre es am sinnvollsten und wirksamsten das Nachhaltigkeitsprinzip in jegliche (Hochschul-) Bildung zu integrieren. Ferner zu bewältigen wäre die Herkulesaufgabe, die über Epochen zementierte Dichotomie von Ökonomie und Ökologie zu überwinden. Zudem müssten über Faktenwissen hinaus Handlungswissen, statt Hardauch Soft-Skills, nicht nur logisch-analytische, sondern auch soziale-interpersonelle Kompetenzen an die Führungskräfte von morgen vermittelt werden, Stichwort vernetztes Denken. Vernetztes und systemisches Denken Damit ist ein Ansatz gemeint, bei dem die Eigenschaften eines Systems als ein vernetztes Wirkungsgefüge gesehen werden. Einzelne Faktoren verstärken oder schwächen andere Größen des Systems in Form von Rückkopplungen - und ergeben ein Netz, das den linear denkenden Betrachter verwirrt. Unter Berufung auf die (Bio-)Kybernetik propagiert vor allem Frederic Vester diesen Ansatz. Sein softwarebasiertes Sensitivitätsmodell macht positive, selbstverstärkende und negative, selbstregulierende Rückkopplungskreisläufe erkenn-, analysier- und begreifbar. Einflussgrößen werden in ihrer Systemqualität sichtbar und bewertet z.B. als stabilisierend, kritisch, puffernd oder empfindlich für äußere Einflüsse. Durch Simulationen können langfristige oder spezielle Verläufe von Eigenschaften betrachtet werden. Auf der Grundlage eines so erarbeiteten Modells können Fragen nach sinnvollen Eingriffsmöglichkeiten, zukünftiger Entwicklung oder möglichen Systemverbesserungen beantwortet werden. In seinem Bestseller „Denken, Lernen, Vergessen“ unterscheidet Vester Lerntypen und deren Präferenz für auditive, visuelle, haptische oder verbal-abstrakte „Kanäle“, was die innewohnenden Eigenschaften des Menschen beim Aufnehmen, Verknüpfen und Speichern von Informationen beschreibt. <?page no="280"?> 280 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Spielend vernetztes Denken lernen ist das Ziel von Vesters Simulationsspiel „ecopolicy“ ( QR). Erkannt wird von den Hochschulen auch die Notwendigkeit für eine hochschulübergreifende Koordination zu Nachhaltigkeitsthemen vor allem in Forschung und Lehre z.B. zum Transfer von Best Practices. So gesehen repräsentieren Hochschulen regionale Wissens- und Kompetenzzentren zum Thema Nachhaltigkeit. Prof. Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal- Instituts für Umwelt, Klima, Energie, empfiehlt: „Gut vernetzte Kompetenzzentren […] würden die Methodenprofessionalisierung und den Methodentransfer verbessern und den Stellenwert einer transdisziplinären Forschung verdeutlichen.“ 73 Darüber hinaus sorgen Partnerschaften zwischen Hochschulen und Behörden, Unternehmen, Arbeitsverwaltungen, NGOs oder anderen Akteuren auf regionaler Ebene dafür, dass Strategien für eine nachhaltige Entwicklung vor Ort Form annehmen. Theoretisches Wissen würde so in Projekten und Kooperationen mit Leben gefüllt. Zugleich käme damit der Gedanke der Partizipation, Inklusion und des Dialogs zum Tragen. In jedem Fall unabdingbar wäre eine finanziell bessere Ausstattung von Hochschulen, um den neuen Aufgaben und Herausforderungen nachkommen zu können. Darauf verweist auch der Appell des BUND in folgender Pressemeldung am 2.2.2012: Eine Milliarde Euro für Nachhaltigkeitsforschung Berlin: Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hat Bundesforschungsministerin Annette Schavan aufgefordert, die Forschungspolitik in Deutschland stärker am Motto des Wissenschaftsjahres 2012 - „Zukunftsprojekt Erde“ - auszurichten. Dafür sei es notwendig, jährlich rund eine Milliarde Euro für eine gesellschaftsorientierte Forschung zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen umzuwidmen. Mittel in dieser Größenordnung seien nötig, um vorhandene Defizite in der Wissenschafts- und Forschungspolitik auszugleichen. „Die zunehmende Drittmittel- und Exzellenzorientierung hat den Blickwinkel der Wissenschaft stark verengt. Auf drängende Fragen zur Energie- und Mobilitätswende oder zu neuen ökonomischen Konzepten in der Finanzkrise fehlen gesellschaftlich angemessene Antworten. Die zu starke Technikfixierung führt dazu, dass Gefahren und Risiken neuer Technologien oft ausgeblendet werden.“, sagte der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger bei einer Pressekonferenz in Berlin. Forschungsministerin Annette Schavan und die Bundesländer müssten dringend gegensteuern und die 73 Schneidewind (2009), S. 111 <?page no="281"?> 8.2 Die Notwendigkeit von Gestaltungskompetenz 281 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Forschung stärker als bisher an den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausrichten. Die notwendigen Mittel dafür müssten aus anderen, nicht zukunftsfähigen Bereichen umgeschichtet werden. Statt beispielsweise im Energiebereich 2012 rund 150 Millionen Euro in die Kernfusion zu stecken, müssten Forschungen zur Dezentralisierung des Stromnetzes und zur Steigerung der Energieeffizienz verstärkt gefördert werden. (siehe www. bund.net/ nc/ presse/ pressemitteilungen/ detail/ artikel/ bund-fordert-einemilliarde-euro-fuer-nachhaltigkeitsforschung) Last not least seien zwei Beispiele für Hochschulen genannt, die sich durch die Konzentration auf ökosoziale Fragestellungen ökonomisch erfolgreich aufgestellt haben. Die kürzlich in Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (FH) umbenannte Fachhochschule Eberswalde bietet 16 Bachelor- und Master- Studiengänge mit direktem Nachhaltigkeitsbezug an. Einen Bachelor of Science können Studierende dort unter anderem in Landschaftsnutzung und Naturschutz, Ökolandbau und Vermarktung oder International Forest Ecosystem Management erlangen. Studierende, die einen Masterabschluss anstreben, können zwischen Studiengängen wie Nachhaltiges Tourismusmanagement, Global Change Management oder Öko-Agrarmanagement wählen. Der englischsprachige Master-Studiengang Global Change Management vermittelt, wie nachhaltige Veränderungsprozesse in Organisationen anzustoßen sind. Zugangsvoraussetzung ist ein bereits absolviertes naturwissenschaftliches Bachelor- Studium. Zu Reputation in Sachen Nachhaltigkeit hat es die Leuphana Universität Lüneburg gebracht. Die Fakultät Nachhaltigkeit umfasst das Institut für Ethik und transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung, das Institut für Nachhaltigkeitssteuerung, das Institut für Ökologie, ein Institut für Nachhaltige Chemie und Umweltchemie, ein Institut für Umweltkommunikation sowie das Center for Sustainability Management. Dabei verbindet die Fakultät in transdisziplinärer Ausrichtung Human- und Naturwissenschaften mit derzeit etwa 25 Professuren aus den Disziplinen Chemie, Informatik, Kommunikation, Management, Ökologie, Philosophie, Planung, Politik, Psychologie, Recht, Technik und VWL. In den vergangenen Jahren haben die deutschen Hochschulen viele Aktivitäten ergriffen, um ihrem Auftrag, Zukunftssicherung der Gesellschaft durch Bildung nachzukommen, dies in Forschung und Lehre, Transfer und Hochschulbetrieb. Auch im internationalen Vergleich sind die Ansätze an deutschen Hochschulen fortgeschritten. Hochschulen profilieren sich zudem als ein immer wichtigerer zivilgesellschaftlicher Akteur. Als solcher beteiligen sie sich an der gesellschaftlichen Entwicklung und übernehmen eine aktive Rolle bei der Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung. Dabei haben sie eine Doppelfunktion: Zum einen stellen sie als Forschungsstätte den örtlichen Rahmen bereit zur Generierung neuen (nachhaltig- <?page no="282"?> 282 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit keitsbezogenen) Wissens; zum anderen schaffen sie Wissen und geben es weiter, kurz sind Wissensvermittler. Hochschulen sind wichtige Zahnräder im Nachhaltigkeitsgetriebe, um das Thema voranzubringen. Allerdings fallen die Maßnahmen sehr unterschiedlich aus, dass nicht grundsätzlich und flächendeckend von einem Bekenntnis zum Nachhaltigkeitsleitbild gesprochen werden kann. So divers die deutsche Hochschullandschaft ist, so mannigfaltig sind auch die Ansätze und die Intensität, mit der das Nachhaltigkeitsleitbild angegangen wird. Während einige Hochschulen sich dem Bedarf an Wandel, Änderungen und Transformation öffnen, pro-aktiv „umrüsten“ oder es gar zur Profilierung nutzen, legen andere kaum oder keine Ambitionen Richtung stärkerer Einbindung von Umwelt- und Sozialanliegen in Inhalte und Organisation an den Tag. Das BMBF schreibt dazu: „Bei aller positiven Entwicklung in den Hochschulen kann deshalb noch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die gesellschaftliche Aufgabe der nachhaltigen Entwicklung zu einer allgemein akzeptierten und gemeinsam formulierten Hauptrichtung im Bildungsbereich Hochschule in Deutschland entwickelt hat. (…) Erst langsam bilden sich strukturelle Prozesse heraus, die auf dem Austausch gemeinsamer Erfahrungen und Handlungsprinzipien beruhen. Diese Gemeinsamkeiten beziehen sich im Wesentlichen auf Zielsetzungen, die auch außerhalb der Hochschulen zunehmend Akzeptanz gefunden haben, beispielsweise im Bereich des Umweltmanagements oder der Lokalen Agenda 21. Auffallend ist hierbei allerdings, dass die Hochschulen in Deutschland eher dahin tendieren, individuelle Maßnahmen zu entwickeln, statt sich gemeinsam mit anderen Hochschulen den Aufgaben zu stellen, sich gegenseitig zu informieren und damit gegenseitig zu helfen. Dieses Einzelkämpfertum führt in der Konsequenz dazu, dass der gesamte Erkenntnisprozess sehr langsam abläuft und sehr viel vermeidbare Doppelarbeit mit sich bringt.“ (BMBF (2004), S. 7). Neben organisatorischen und inhaltlichen Herausforderungen besteht beim Thema Nachhaltigkeit noch ein grundsätzliches Problem - das der Unsicherheit. 8.3 Wissens- und Bewertungsprobleme Prediction is very difficult, especially about the future. Niels Bohr Immer noch und immer wieder kommt die Frage auf: Wissen wir überhaupt genug über Zusammenhänge, Entwicklungen, Aussichten, um nachzuweisen, dass wir handeln müssen? Vielleicht stimmen die ganzen Klimakollapshypothesen gar nicht - und wir versuchen ganz umsonst, die Erde zu retten? Die Argumentation lautet: Das gegenwärtig verfügbare Wissen ist nicht hinreichend genug, um ein Handeln pro Nachhaltigkeit angesichts der damit verbundenen Kosten und Mühen zu rechtfertigen. Der Anspruch auf vollständiges, aktuelles, <?page no="283"?> 8.3 Wissens- und Bewertungsprobleme 283 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit umfassendes, verlässliches Wissen begründet Handlungslähmung, Verzögerung, Verhinderung von Maßnahmen. „Solange das System noch funktioniert, kann es so schlimm nicht sein“, scheint die gängige Auffassung zu sein. Nachhaltigkeit meint Vorsorge. Damit das Vorsorgeprinzip greifen kann, muss aber erst eine reale oder potenzielle Gefährdung nachgewiesen werden. Fukushima ist ein Beispiel dafür: Es muss erst ein Schaden eintreten, dessen Ausmaß und Konsequenzen ein präventiv umsichtiges Handeln rechtfertigen. Durch die Kernschmelze wurde die Gefahr nuklearer Unfälle als radikal real erfahren, während sie bis dahin eine rein hypothetische Größe war. Der schnelle Ausstieg aus der Atomkraft belegt, wie schnell Handeln abgestellt, umgelenkt, verändert werden kann, samt Gesetzen, Beschlüssen, Abkommen, wenn aus Unsicherheit erst einmal Sicherheit geworden ist. Unsicherheiten sind themeninhärent. Kleinste Abweichungen der Ausgangsdaten, die aufgrund von Messungenauigkeiten unvermeidlich sind, führen bei nichtlinearen Zusammenhängen zu quantitativ und qualitativ völlig unterschiedlichen Prognosen. Auch steht kein Labor zur Verfügung, das Experimente erlaubt, die die Realität angemessen abbilden. An die Stelle praktischer Erfahrungen und empirischer Forschung treten Modelle, Szenarien, Simulationen. Schadenspotenziale und Schadenswahrscheinlichkeiten müssen gedanklich antizipiert werden. Denn im Experiment wird die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre nicht so lange geändert werden, bis das Umkippen des Golfstroms beobachtet werden kann? Ersatzweise kommen also Modelle zum Einsatz, deren Vereinfachung (wie auch die Kritik an „Grenzen des Wachstums“ lautete) erneut Unsicherheiten mit sich bringt. Von der Bewertung von Nachhaltigkeitsproblemen hängen einerseits die Diagnose von Nachhaltigkeitsdefiziten sowie andererseits die Empfehlungen für Maßnahmen und Strategien ab. Für diese Bewertungen sind normative Bewertungskriterien notwendig. Dies bringt die Frage auf: Wer legt diese Kriterien fest? Die Wissenschaften selber? Und falls ja, sind sie hierzu gesellschaftlich legitimiert? Und falls eine Einigung zwischen Richter und Rechtssprecher erzielt wird - bringt jener nicht auch verdeckte Konflikte, Ambiguitäten, Prämissen, unterschwellige Annahmen, Werte und Sinnzuschreibungen mit sich? Direkt oder indirekt sind die Bewertungskriterien dabei ein Spiegel normativer Anschauungen der Gesellschaft. Sie sind abhängig von deren Rechts-, Moral- und Wertvorstellungen, die ihrerseits einem Wertewandel unterliegen. Die Bewertung von Nachhaltigkeitsproblemen kann sich ändern, weil sich der zugrundeliegende Wertekodex verändert hat. Mit Nachhaltigkeit soll nicht nur das physische Überleben der Menschheit, sondern eine menschenwürdige Existenz auf Dauer gesichert werden. Was aber unter menschenwürdig zu verstehen ist, ändert sich von Ära zu Ära. Nicht nur das Wissen ist vorläufig, sondern auch die Werte folgen einer „morale provisoire“. <?page no="284"?> 284 8 Nachhaltigkeit und Wissenschaft http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Fazit - Wissenschaft als Frühwarninstanz mit Unsicherheiten Die Notwendigkeit bei Problemen von Nicht-Nachhaltigkeit wird verschleiert, weil die Herausforderungen schleichender, prozesshafter Natur sind, weil sie global verstreut und oft überdeckt sind. Wissenschaft als Vorsorgeforschung zur Diagnose und Therapie von Nachhaltigkeitsproblemen ist dabei zu einer Frühwarninstanz für die Gesellschaft geworden, wie das Problem der Ozonlochvergrößerung zeigt. Damit das Vorsorgeprinzip greifen kann, ist eine potenzielle Gefährdung nachvollziehbar nachzuweisen. Nur: Wie vollständig, wie sicher muss das verfügbare Wissen sein? Der Anspruch auf garantiert sicheres Wissen scheitert in der Nachhaltigkeitsforschung daran, dass Komplexität und Vielfalt sich überlagernder kausaler Zusammenhänge und Kreisprozesse analytisch kaum zu fassen sind. Das Maß der Skepsis richtet sich danach, ob etwas als „klarer Korridor“ (im Falle der Metapher des Nachhaltigkeitstrichters) oder als „hinreichend verlässliches“ Wissen verstanden wird. Hierbei aber gilt es zu bedenken, dass mit der Produktion von Wissen auch das Nichtwissen zunimmt. Darauf zu warten, endgültig, umfassende, gesicherte Informationen zu haben, entzieht aber Nachhaltigkeitsbemühungen den Boden. Unabdingbar erfordert Nachhaltigkeit, in Langzeitkategorien zu denken. Viele der Entwicklungen und Problemfelder, die die Nachhaltigkeitsdiskussion primär motivierten und die zentral für die Thematik sind, sind globale Entwicklungen von großer zeitlicher Reichweite. Die Herausforderungen an das Nachhaltigkeitsleitbild sind, für diese Dimension zu sensibilisieren und gleichermaßen die Implikationen auf kurzfristigere Sicht ob ihrer Erfahrbarkeit zu vermitteln. Literatur Brand, K.-W. (2000) Nachhaltigkeitsforschung - Besonderheiten, Probleme und Erfordernisse eines neuen Forschungstypus. In: Brand, K.-W. (Hrsg.) (2000) Nachhaltige Entwicklung und Transdisziplinarität. Besonderheiten, Probleme und Erfordernisse der Nachhaltigkeitsforschung. Analytica Verlag Berlin. BMBF (2004) Hochschulbildung für eine nachhaltige Entwicklung. www.bmbf.de/ pub/ uni_21.pdf Zugriff am 19.03.2012 BMBF (2004) Rahmenprogramm des BMBF für eine zukunftsfähige innovative Gesellschaft. Berlin www.bmbf.de/ pub/ forschung_nachhaltigkeit.pdf Zugriff am 21.02.2012 de Haan, G. (2008) Gestaltungskompetenz als Kompetenzkonzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung. In: Bormann, I.; de Haan, G. (Hrsg.): Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung. VS Verlag Wiesbaden. <?page no="285"?> 8 285 Goleman, D. (2009) Ökologische Intelligenz. Wer umdenkt, lebt besser. Droemer. Jahn, T. (2003) Sozial-ökologische Forschung. Ein neuer Forschungstyp in der Nachhaltigkeitsforschung. www.nachhaltiges-wirtschaften.net/ ftp/ ThJ_nachhandbuch.pdf Zugriff am 21.02. 2012 Politische Ökologie 93 (2005) Baustelle Hochschule. Nachhaltigkeit als neues Fundament für Lehre und Forschung. oekom München. Schneidewind, U. (2009) Nachhaltige Wissenschaft. Plädoyer für einen Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Metropolis Marburg. Senge, P. M. (2008) Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta Stuttgart. Vester, F. (1982) Das kybernetische Zeitalter. Neue Dimensionen des Denkens. Fischer Verlag; (1998) Denken, Lernen, Vergessen: Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann lässt es uns im Stich? dtv München. <?page no="287"?> 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle <?page no="288"?> 288 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Problem Wenn das Prinzip Nachhaltigkeit nicht Theorie bleiben, sondern tatsächlich umgesetzt und gelebt werden soll - welche Form von Wirtschaftsordnung und welches Gesellschaftsmodell wären hierzu notwendig? Maßnahmen Weiterentwicklung der Wachstumszur Postwachstumsdebatte; Einleitung und Befolgung von fünf Transformationsschritten; Anerkennung von Mythen des Kapitalismus; Etablierung der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin der Postwachstumsökonomik; Diskussion der Gemeinwohlökonomie als alternatives Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Ergebnisse Studierende kennen zwei Systementwürfe für nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn man schnell vorankommen will, muss man alleine gehen, wenn man aber weit kommen will, muss man gemeinsam gehen. Sprichwort der australischen Aborigines Zum Ende des Buches hin sollen zwei Entwürfe für ein Wirtschaftsbzw. Gesellschaftsmodell dafür sensibilisieren, wie sich das Nachhaltigkeitsleitbild künftig in der Realität umsetzen ließe. Zum einen handelt es sich dabei um die Postwachstumsökonomie als neue Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften, die sich um eine zukunftsweisende Fortschreibung der bisherigen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, angesichts ökologisch wie ökonomisch und sozial veränderter Rahmenbedingungen, bemüht. Zum anderen handelt es sich um das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie, die sich als alternative Wirtschaftsordnung und solidarisches Gesellschaftsmodell <?page no="289"?> 9.1 Die Postwachstumsökonomie 289 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit begreift, und die das Wohl der Allgemeinheit, wie der Name schon sagt, vor das Einzelner stellt. Beide Ansätze können als Handlungsanleitungen zur Gestaltung einer Wirtschaft und einer Gesellschaft im Sinne des Nachhaltigkeitsleitbildes verstanden werden, die bereits heute in ihren wichtigsten Zügen konturiert sind, wenngleich sie der weiteren Ausarbeitung in Theorie wie Praxis bedürfen. Ihre Vorstellung zeigt, dass es sich beim Thema Nachhaltigkeit entgegen der etwaig bestehenden Annahme nicht um eine Worthülse, eine Leerformel oder ein reines Theoriegebäude handelt, sondern dass bereits Operationalisierungsentwürfe vorliegen, die jedoch auf Handlungsbereitschaft und Umsetzungsvermögen angewiesen sind. 9.1 Die Postwachstumsökonomie Wer heute noch Wachstum propagiert, muss an nicht weniger als zwei Entkoppelungswunder glauben, nämlich hinsichtlich knapper Ressourcen und ökologischer Schäden. Niko Paech Als Postwachstumsökonomie wird eine Wirtschaft bezeichnet, die ohne Wachstum des Bruttoinlandsprodukts über stabile, wenngleich mit einem vergleichsweise reduzierten Konsumniveau einhergehende Versorgungsstrukturen verfügt. Die Postwachstumsökonomie grenzt sich von landläufigen, auf Konformität zielenden Nachhaltigkeitsvisionen wie „qualitativem“, „nachhaltigem“, „grünem“, „dematerialisiertem“ oder „decarbonisiertem“ Wachstum ab. Damit ist die Herleitung der Postwachstumsökonomie als Zukunftsentwurf in den breiteren konzeptionellen Rahmen der Postwachstumsökonomik eingebettet. 74 Wachstumskritische Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaft Wissenschaftlich lässt sich die Postwachstumsökonomik als ökologisch orientierte Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften an der Schnittstelle von nachhaltiger Entwicklung und Wirtschaftswachstum verorten. Inhaltlich kann sie ihrem Begründer Niko Paech zufolge als Weiterentwicklung wachstumskritischer Darlegungen verstanden werden wie z.B. „Das Ende der Großen - zurück zum menschlichen Maß“ (Kohr 1957), (Mumford 1967), „The Entropy Law and the Economic Process“ (Geogescu-Roegen 1971), „Selbstbegrenzung“ (Illich 1973) oder „New scarcity and economic growth: More welfare 74 Die Informationen zu diesem Kapitel beziehen sich auf das Buch von Niko Paech ‚Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie‘, das 2012 im oekom Verlag erschien; sowie auf Ausführungen, die abrufbar sind unter http: / / postwachstumsoekono mie.org/ html/ paech_grundzuge_einer_postwach.html <?page no="290"?> 290 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit through less production? “ (Hueting 1980) und „Die Macht der Bedürfnisse“ (Gronemeyer 1988). Darüber hinaus finden sich in einer Reihe jüngerer Beiträge Begriffe, die in Assoziation zur Postwachstumsökonomie stehen wie z.B. „Ökosozialismus“ (Sakar 2001), „La decrescita felice“ (Pallante 2005), „Décroissance“ (Latouche 2006), „Degrowth“ (Martinez-Alliez 2009), „Managing without Growth“ (Victor 2008), „Prosperity without Growth“ (Jackson 2009), „Vorwärts zur Mäßigung“ (Binswanger 2009), „Exit“ (Miegel 2017) oder „Postwachstumsgesellschaft“ (Seidl/ Zahrnt 2010). Annahmen und Kernforderungen In seinem Beitrag ‚Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie‘ von 2012 erklärt der Volkswirtschaftler Niko Paech das Konzept der Postwachstumsökonomie, das auf drei Annahmen beruht: [1] Reines Wachstum des Bruttoinlandsproduktes ist keine langfristige Option für die Gestaltung moderner Gesellschaften. [2] Arbeitsteilige Industriegesellschaften sind auf permanentes BIP-Wachstum angewiesen. [3] Eine Wirtschaft ohne Wachstum bzw. eine Postwachstumsökonomie ist möglich, und zwar durch diverse sich ergänzende Versorgungssysteme. Die Kernforderungen der Postwachstumsökonomie lauten: Stärkung von lokaler und regionaler Selbstversorgung und Regionalökonomie Partieller Rückbau von industriellen, insbesondere global arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozessen Orientierung an der Suffizienzstrategie Ansätze zu Geld- und Bodenreformen Bestandserhalt statt Neuherstellung in der Produktion Subsistenz, De-Globalisierung bzw. Re-Regionalisierung (von Lebensstilen und Herstellungsketten) Die Grundidee wurde an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg entwickelt und wurde 2007 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Basierend auf diesen Forschungsaktivitäten wurden die Begriffe Postwachstumsökonomik als analytischer Rahmen und Postwachstumsökonomie als konkreter Zukunftsentwurf um das Jahr 2006 in die wissenschaftliche Nachhaltigkeitsdiskussion eingebracht. <?page no="291"?> 9.1 Die Postwachstumsökonomie 291 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Zahlreiche Publikationen, Veranstaltungen und Netzwerke - wie z.B. Transition- Town-Bewegung, Netzwerk Wachstumswende, Netzwerk Suffizienz, Urban Gardening- oder Repair-Bewegung, Tauschbörsen etc. - haben seither das Thema mit unterschiedlichen Akzenten und Konkretisierungsgraden aufgegriffen. Eine besondere Dynamik entfaltete dabei die Transition-Town- Bewegung. In einem abrufbaren Video erklären Praktiker was Transition Town für sie bedeutet ( QR). Argumente für eine Postwachstumsökonomie Paech nennt vier Gründe, Vorteile und Motive für eine Postwachstumsökonomie: a) Erstens und grundlegend entbehre die Möglichkeit, in Geld und über Märkte transferierte Wertschöpfung systematisch von ökologischen Schäden zu entkoppeln, jeglicher theoretischen und empirischen Grundlage; b) zweitens bewirkten Zunahmen des Einkommens bzw. des Konsums nach Erreichen eines bestimmten Niveaus keine weitere Steigerung des individuellen Wohlbefindens, d.h. der Lebenszufriedenheit oder des sogenannten „Glücks“ (siehe Kapitel 4.2); c) drittens sei die soziale Logik des Wachstumsimperativs, wonach Hunger, Armut oder Verteilungsungerechtigkeit durch ökonomische Expansion zu beseitigen sei, hochgradig ambivalent. Vielmehr würden kontraproduktive soziale Effekte dadurch wahrscheinlicher; d) und viertens stieße das Wirtschaftswachstum schlicht an ökonomische Grenzen. Insbesondere die explosionsartige Nachfragesteigerung von Aufsteigernationen wie China und Indien führe zu einer radikalen Ressourcenverknappung und -verteuerung. In fünf Transformationsschritten zur Umsetzung Im Zentrum der Postwachstumsökonomie steht eine umwelt- und sozialverträgliche bzw. nachhaltig ausgerichtete Umgestaltung des gegenwärtigen Industrie- und Gesellschaftsystems. Hierzu sind angebots- und nachfrageseitige Wachstumstreiber durch solche Versorgungsstrukturen zu ersetzen, die einerseits weniger kapitalintensiv, spezialisiert und räumlich entgrenzt (d.h. vermehrte Subsistenz) sowie andererseits genügsamer (d.h. vermehrte Suffizienz) sind. Insgesamt lassen sich die folgenden fünf Transformationsschritte ausmachen: 1) Suffizienz Suffizienz besteht in der Identifikation und Entledigung jenes Ballastes, der Zeit, Geld, Raum und ökologische Ressourcen verbraucht, aber nur minimalen Nutzen stiftet. Suffizienz entspricht zeitökonomischer Optimierung. Zugleich resultiert daraus mehr Unabhängigkeit vom volatilen Marktgeschehen, also ökonomische Resilienz. <?page no="292"?> 292 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Abb. 74: Fünf Schritte zur Postwachstumsökonomie: Reduktion und Umbau (Paech (2009), S. 30) Aus Sicht von Individuen, die durch Optionenvielfalt überfordert werden, bedeuten Reduktionsleistungen keinen Verzicht, sondern Befreiung von Zeit beanspruchendem Überfluss. 2) Subsistenz Zwischen reiner Subsistenz und dem Konsum von Industriegütern existiert ein reichhaltiges Kontinuum unterschiedlicher Fremdversorgungsgrade, wobei eine Intensivierung der Selbstversorgung die Abhängigkeit von einer Fremdversorgung abfedern bzw. relativieren würde. So würde z.B. eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 20 Stunden Zeitressourcen freisetzen, die in kostensparende und befriedigende marktfreie Aktivitäten umgewidmet werden könnten, wie z.B. für handwerkliche Tätigkeiten, die Reparatur und gemeinsame Nutzung von Konsumgütern, die Mitwirkung in Gemeinschaftsgärten oder Generationenhäusern, für Kindererziehung, Nachbarschaftshilfe oder die Pflege von Angehörigen, Behinderten oder Bedürftigen. An die Stelle materieller Ressourcen für die Neuproduktion träten drei neuartige Inputkategorien in Form dekommodifizierter (d.h. von einer Marktabhängigkeit entkoppelter) Ressourcen, nämlich a) handwerkliche Fähigkeiten zur Eigenproduktion und Nutzungsdauerverlängerung, b) eigene Zeit, die dazu nötig ist, sowie c) soziale Beziehungen zwecks Gemeinschaftsnutzung und Leistungsaustausch. <?page no="293"?> 9.1 Die Postwachstumsökonomie 293 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Mittels dieser Inputs generiert urbane Subsistenz drei Outputkategorien, bestehend aus a) eigener Produktion, b) selbsttätiger Nutzungsdauerverlängerung und c) Nutzungsintensivierung, die den Bedarf an industrieller Produktion und folglich den Kapitalbedarf reduzieren. 3) Regionalwirtschaft Zwischen den beiden Extremen von lokaler Subsistenz und globaler Arbeitsteilung ließen sich Regionalökonomien als ergänzende Versorgungssysteme entwickeln. Komplementäre Regionalwährungen könnten die Kaufkraft stabilisierend an die Region binden. So würden zudem unternehmerische Spezialisierungsvorteile genutzt werden, dies jedoch „de-globalisiert“ und auf arbeitsintensiveren Technologien basierend. 4) Stoffliche Nullsummenspiele als Produktionsmodus Nach einem Rückbau der geldbasierten und arbeitsteiligen Industrie wären die verbleibenden Produktionssysteme so umzugestalten, dass die Neuherstellung von Gütern nur mehr dem Ersatz nicht mehr verwertbarer Artefakte dient. Im Vordergrund stünden der Erhalt und die Aufwertung bereits vorhandener Güterbestände und Infrastrukturen etwa mittels Renovation, Konversion, Optimierung, Nutzungsintensivierung oder Nutzungsdauerverlängerung. Durch Reparaturdienstleistungen würden defekte Güter seltener ausrangiert sowie durch Renovationsstrategien im Sinne von „Umbau statt Neubau“ würde aus vorhandenen Gütern weiterer Nutzen extrahiert werden, und dies indem diese funktional und ästhetisch an aktuelle Bedürfnisse angepasst werden und damit wiederum lange im Kreislauf einer sinnvollen Verwendung blieben. Märkte für gebrauchte, aufgearbeitete und überholte Güter würden ebenfalls zur Reduktion der Neuproduktion beitragen (z.B. Müll-, Schrott- oder Gebrauchtbörsen). Gelänge es, die durchschnittliche Nutzungsdauer und/ oder -intensität mancher Konsumgüter - durch eine Kombination aus langlebigem Design, urbaner Subsistenz und ergänzenden Unternehmensdienstleistungen - zu verdoppeln, könnte der Output halbiert werden, ohne die Verfügbarkeit der Konsumfunktionen zu beeinträchtigen. 5) Institutionelle Innovationen Darunter sind z.B. Boden-, Geld- und Finanzmarktreformen zu verstehen. Ihr Sinn läge vor allem darin, systemimmanente Wachstumszwänge zu mildern. So könnten beispielsweise Regionalwährungen mit einer das Zinsniveau gegen Null senkenden Geldumlaufsicherung versehen werden. Veränderte Unternehmensformen könnten die Gewinndynamik dämpfen und das Subventionsdickicht könnte durchforstet werden, um dadurch gleichermaßen ökologische Schäden und die öffentliche Verschuldung zu verringern. Ein Bodenversiegelungsmoratorium sowie Renaturierungs- und Rückbauprogramme für Infrastrukturen - wie Industrieparkanlagen, Autobahnen, Parkplätze und Flughäfen - könnten sich hier als sinnvoll erweisen, ebenso wie die Errichtung von Anlagen für erneuerbare Energien. <?page no="294"?> 294 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Weitere mögliche institutionelle Innovationen wäre die Verpflichtung zu einer individualisierten Öko- oder CO 2 -Bilanzierung. Demnach hätte jede Person das Anrecht auf ein übertragbares jährliches Emissionskontingent (von z.B. 2,7 Tonnen) oder Unternehmen müssten ihre Produkte künftig mit dem CO 2 - Fußabdruck über deren gesamten Lebenszyklus kennzeichnen. Auch Vorkehrungen gegen geplante Obsoleszenz und ein zur urbanen Subsistenz befähigendes Bildungssystem würden den Übergang zu einer Postwachstumsökonomie befördern. In diesem Zusammenhang sei ein global besehener Lösungsversuch erwähnt, der zeigt, welches Gesamtverhalten die verschiedenen Akteure im Zusammenspiel entwickeln müssen, um die planetaren Grenzen der Erde einzuhalten. Abb. 75: Kluge Lösungen aus der „One Planet“-Perspektive des WWF. Quelle: WWF (2016), S. 34. Ziele der in der Abbildung dargestellten „klugen Lösungen“ sind: die Unversehrtheit der Ökosysteme, der Schutz der Biodiversität und die Absicherung der Nahrungs-, Wasser- und Energieversorgung (WWF (2016), S. 34). Einen anderen Ansatz, um das gesellschaftlich-ökonomische System Richtung Prinzipien der Nachhaltigkeit - wie Gerechtigkeit, Integration, Glokalität, Partizipation, Verantwortung und Langfristorientierung - umzugestalten, bietet die Gemeinwohl-Ökonomie. <?page no="295"?> 9.2 Die Gemeinwohl-Ökonomie 295 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 9.2 Die Gemeinwohl-Ökonomie Die Gemeinwohl-Ökonomie ist die kluge, nützliche Antwort auf das ökonomische Chaos und das große soziale Leid, welches die Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals über die Welt gebracht haben. Jean Ziegler Die Gemeinwohl-Ökonomie begreift sich als Alternative zum kapitalistischen System mit dem Ziel der Beförderung einer auf dem Gemein-Wohl statt dem Einzel-Wohl basierenden Ökonomie. 75 Ihrem Ansatz nach versucht sie, die Prinzipien der Nachhaltigkeit im Rahmen eines neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells wirksam zu machen. Sie geht dabei von der Annahme aus, dass die sich in jüngerer Zeit häufenden Finanzkrisen, ökologischen Krisen, Verteilungskrisen, Demokratiekrisen sowie Sinn- und Wertekrisen ursächlich zusammenhängen und Ausdruck der Fehlentwicklung unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems als Ganzes sind. In diesem Zusammenhang liefert eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2010 einen interessanten empirischen Befund, der die Infragestellung des aktuellen Wirtschaftssystems stützt. So meinten 88 % der Befragten, die im Rahmen der Studie mit dem Titel ‚Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis‘ interviewt wurden, sie wünschten sich eine „neue Wirtschaftsordnung“. Die Studie ist abrufbar unter QR. Das Gedankenwie Wirtschaftsmodell der Gemeinwohl-Ökonomie ist gekennzeichnet durch eine neue Perspektive auf die Funktionsweise der Wirtschaft. Maßgeblich entwickelt und ausgestaltet wurde das Modell von dem Gesellschaftswissenschaftler Christian Felber. In seinem Buch ‚Die Gemeinwohl-Ökonomie - Das Wirtschaftsmodell der Zukunft‘ erläutert er, dass die Gemeinwohl- Ökonomie als entwicklungsoffener Beteiligungsprozess zu verstehen ist, zu dem jeder Bürger aufgerufen ist, Ansprüche und Wertvorstellungen einzubringen. Gründe für die Gemeinwohl-Ökonomie als alternatives Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell Die Herausbildung der Gemeinwohl-Ökonomie speist sich aus drei Hauptgründen. Erstens begreift sie sich als Antwort auf das Dilemma von Individuen, die in ihrem Alltag angehalten sind, widersprüchliche Werte zu verfolgen (siehe nachfolgende Abbildung 74); zweitens adressiert sie Wirtschafts-, Finanz- und 75 Die Ausführungen zur Gemeinwohl-Ökonomie basieren auf dem gleichnamigen Buch von Christian Felber aus dem Jahre 2010, ergänzt um aktuelle Informationen von der Webseite der Gemeinwohl-Initiative www.gemeinwohl-oekonomie.org/ de <?page no="296"?> 296 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Verschuldungskrisen, indem sie an die Wurzeln jener Krisenphänomene geht und sie langfristig und ganzheitlich statt reaktiv und reparativ löst; drittens sorgt sie für eine kritisch-konstruktive Durchleuchtung nicht (mehr) angemessener Indikatoren, auf denen die gegenwärtige Wirtschaft basiert und die dadurch zu eklatanten Verzerrungen und Fehldarstellungen ihrer wahren Beschaffen- und Intaktheit führen. Was den ersten Punkt angeht, äußert sich dieser in einem ambivalenten Werteverständnis: Ist das Denken, Fühlen und Verhalten im Privatleben vor allem durch soziale und kooperative Grundsätze geprägt, wird der Einzelne im Wirtschaftsleben häufig angehalten das Gegenteilige zu verfolgen, nämlich durch konkurrierendes und übervorteilendes Verhalten zu wirtschaftlichem Erfolg zu gelangen (Felber (2012), S. 21 f). Freundschaften, Partnerschaften, Familienverhältnisse gelingen aufgrund von Kooperation; der Beruf, das Arbeitsumfeld und wirtschaftliches Gebaren hingegen erscheinen häufig vielmehr durch egoistische und der Menschenwürde zuwiderlaufende Grundsätze geprägt zu sein. Die folgende Abbildung nennt Wertekonflikte, mit denen Individuen sich im Alltag konfrontiert sehen können. Abb. 76: Wertekonflikte im Alltag (nach Christian Felber) Jenseits jener persönlich-individuellen Sphäre kommen Probleme hinzu, die den Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aufgrund seiner schädlichen ökologischen wie sozialen Impakte verstärkt in Frage stellen. Dazu zählen vor allem Aspekte wie ein permanenter Wachstumszwang, Umweltdegradation, die Ausweitung sozialer Machtgefälle, die Nichtbefriedigung von Grundbedürfnissen und von Hunger zahlreicher Menschen weltweit sowie der Konkurrenzkampf der Nationen um Standortvorteile für Unternehmen im globalen Wettbewerb. Schließlich, und drittens, fordert die Gemeinwohl-Ökonomie dazu auf, die Aussagekraft bisheriger Wirtschaftsindikatoren zu hinterfragen. Damit sind vor allem die beiden wirtschaftlichen Erfolgsgrößen auf mikro- und makroökonomischer Ebene - der Finanzgewinn von Unternehmen und das Bruttoinlandsprodukt einer Volkswirtschaft - gemeint. Da jene einen rein monetären Tauschwert messen, nicht jedoch den direkten für die Menschen (bzw. das Gemeinwohl) entscheidenden Nutzwert, können sie nicht nur signifikant voneinander abweichen, sondern auch den Blick auf ihren tatsächlichen Beitrag zu <?page no="297"?> 9.2 Die Gemeinwohl-Ökonomie 297 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit einer „guten Gesellschaft“ verstellen (siehe nachfolgende Abbildung). So könne ein hoher Finanzgewinn mit weniger Arbeitsplätzen, zerstörter Umwelt, steigender Armut, zunehmender Krankheit und Kriminalität einhergehen (Felber (2012), S. 35-38). Kritik an konventionellen Wirtschaftsindikatoren Das BIP mit seinem Tauschwert sagt beispielsweise nichts darüber aus, ob … … sich ein Land in einem Krieg befindet oder im Frieden. … der Ressourcenverbrauch wächst, schrumpft oder stagniert. … soziale Gerechtigkeit herrscht. Der Finanzgewinn als entscheidende Größe für die betriebswirtschaftliche Sichtweise sagt wiederum nichts darüber aus, ob … … das Unternehmen ökologische Rahmenbedingungen achtet. … die Erträge gerecht verteilt sind. … es als Waffenhersteller agiert oder einen wirklichen gesellschaftlichen Mehrwert leistet. Auflösung von Widersprüchen in der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Insgesamt lässt sich die Gemeinwohl-Ökonomie durch das Bemühen kennzeichnen, die genannten Widersprüche aufzulösen, indem Gemeinwohl nicht mehr länger nur zufälliger Nebeneffekt individuellen Vorteilsstrebens ist, sondern zum intendierten privatwirtschaftlichen Zweck wird. Wie sich das Gemeinwohl-Ökonomie-Modell vom kapitalistischen Wirtschaftsmodell in zentralen Merkmalen unterscheidet, zeigt folgende Tabelle: Merkmale der aktuellen kapitalistischen Wirtschaft Merkmale der Gemeinwohl-Ökonomie Maximierung des Unternehmenswachstums Beschränkung des Wachstums auf eine „ideale Größe“ fehlende Honorierung des Beitrags zum Gemeinwohl führt zu Verantwortungslosigkeit gegenüber Mitmensch und Natur staatliche Honorierung der Unternehmen, die ihren Beitrag zum Gemeinwohl maximieren kein flächendeckender Mindestlohn Einführung eines Mindestlohns freie Verwendung der Jahresüberschüsse für Investitionen des Unternehmens Restriktionen bei der Verwendung des Jahresüberschusses <?page no="298"?> 298 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit keine Beschränkung von Arbeitnehmervergütungen Beschränkung von Gehältern kein verpflichtendes Mitspracherecht von Mitarbeitern (abgesehen von Betriebsrat und anderen Arbeitnehmergruppierungen) Mitarbeiter erhalten Stimmrechte am Unternehmen ohne Eigenkapitaleinlage keine Begrenzung des Privatvermögens, keine generelle Beschränkung des maximalen Erbes, sondern Erbschaftssteuer Begrenzung des Privatvermögens und generelle Beschränkung bei der Vererbung Deregulierung der Finanzmärkte und Förderung des unbeschränkten Investitions- und Kapitalverkehrs Abschaffung der verschiedenen Arten von Kapitalerträgen und Fokussierung auf tatsächlich geschaffenen volkswirtschaftlichen Mehrwert aktive Teilnahme von Unternehmen an Spekulations- und Beteiligungsengagements auf internationalen Finanzmärkten Verbot von Finanzspekulationen für Unternehmen Finanzbilanz zur Darstellung des Erfolgs betriebswirtschaftlicher Tätigkeiten Gemeinwohlbilanz zur Darstellung des nachhaltigen Erfolgs betriebswirtschaftlicher Tätigkeiten Tabelle 37: Vergleich von aktueller Wirtschaftsordnung und Gemeinwohl-Ökonomie Eine wichtige Weichenstellung liegt dabei auch in einem veränderten Verständnis von unternehmerischem Erfolg. Dieser sei nicht länger mit Finanzgewinn gleichzusetzen, da jener wenig über den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand aussagt. So könne ein höheres BIP mit höherer Arbeitslosigkeit, ungerechterer Verteilung, Umweltzerstörung oder Kriegsführung einhergehen sowie ein höherer unternehmerischer Finanzgewinn mit weniger sozialer Sicherheit, geringeren Einkommen, Umweltzerstörung oder Menschenrechtsverletzungen. Felber zufolge sei unternehmerischer Erfolg künftig am Beitrag zum allgemeinen Wohl zu messen. Operativ könne dies in drei Schritten erfolgen, nämlich i) zunächst das Gemeinwohlverhalten in wesentlichen Punkten zu definieren, ii) um es dann zu messen und 9iii) schließlich zu belohnen. Ein Faktor, der diese Entwicklung befördern könnte, ist die Bedeutungszunahme von Stakeholdern. Denn sie äußern ein gesteigertes Bedürfnis nach Aspekten wie Transparenz, sozialer Verantwortung, ökologisch nachhaltigem Wirtschaften, innerbetrieblicher Demokratie sowie gesamtgesellschaftlicher Solidarität von Unternehmen, die die Gemeinwohl-Ökonomie kennzeichnen. Darauf verweisen auch Aussagen der Bertelsmann-Studie (Bertelsmann (2010), S. 1 f). <?page no="299"?> 9.2 Die Gemeinwohl-Ökonomie 299 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Die Gemeinwohl-Bilanz Um Indikatoren zu bieten, die erlauben, den Gemeinwohlnutzen einer Unternehmung zu erfassen, und die verlässlicher sind als jene bislang von der konventionellen Wirtschaftslehre bereitgestellten, wurde das Instrument der so genannten Gemeinwohl-Bilanz entwickelt. Sie erweitert die bisherige Finanzbilanz um die für das Nachhaltigkeitsparadigma zentralen Perspektiven Soziales und Ökologie. Dadurch führt z.B. die Steigerung des Finanzgewinns zu Lasten sozialer und ökologischer Größen nicht länger zu einem gesteigerten Erfolg der betrieblichen Tätigkeit in der Bilanz. Eine Methodik zur Erfassung der für eine Gemeinwohlbilanz erforderlichen Informationen bietet die Gemeinwohl-Matrix (siehe nachstehende Tabelle 38). Die Anforderungen an eine Gemeinwohlbilanz umfassen die Kriterien Verbindlichkeit, Ganzheitlichkeit, Operationalisierbarkeit, Vergleichbarkeit, Verständlichkeit sowie die Überprüfung durch unabhängige Dritte als auch die Zugänglichkeit für alle Bürger bzw. die Öffentlichkeit (Felber (2012), S. 45). Zudem ist die Gemeinwohl-Bilanz von Unternehmen für jedermann einsehbar, um dadurch die Vergleichbarkeit und Glaubwürdigkeit von Informationen für Konsumenten wie Produzenten zu erhöhen. Dies könnte beispielsweise durch einen an Produkten angebrachten Bar- oder QR-Code geschehen, der Kunden per Handy eine sekundenschnelle digitale Auswertung der Gemeinwohl-Bilanz erlaubt. Anreize und Belohnungsmaßnahmen Gemäß der Gemeinwohl-Bilanz sind die im Sinne des Gemeinwohls Erfolgreichen systematisch zu belohnen. Das heißt, wer zum Beispiel Beschäftigte mitbestimmen lässt, Führungspositionen mit Frauen besetzt, gleichen Lohn für gleiche Arbeit bezahlt, Ressourcen lokal bezieht oder Knowhow an die Mit- Unternehmen weitergibt, erhält sogenannte „Gemeinwohl-Punkte“. Je höher seine Gemeinwohlpunktezahl ist, desto besser fällt in der Konsequenz die Gemeinwohl-Bilanz eines Unternehmens aus. Anreize und Belohnungsmaßnahmen wären in weiterer Konsequenz rechtliche Vorteile wie zum Beispiel ein günstigerer Mehrwertsteuersatz, ein niedrigerer Zoll-Tarif, eine Kreditaufnahme zu günstigeren Konditionen oder Vorrang im öffentlichen Einkauf. Während die Finanzbilanz erhalten bliebe, würde das Gewinnstreben eingeschränkt. Indem Gewinne weiterhin für umwelt- und sozialverträgliche bzw. nachhaltige Investitionen, Kreditrückzahlungen, begrenzte Ausschüttungen an die Mitarbeitenden oder Rückstellungen verwendet werden dürften, würden Aktivitäten wie feindliche Übernahmen, reine Kapitalgeschäfte, Finanzmarktspekulationen sowie die Ausschüttung an Personen, die das Unternehmen nur besitzen, aber nicht darin mitarbeiten, erschwert werden. Dadurch, so Felber, würden die Entscheidungsmacht in das Unternehmen zurückgebracht und Geld wieder vom Zweck zum Mittel der Wirtschaft werden. <?page no="300"?> 300 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Tabelle 38: Gemeinwohl-Matrix <?page no="301"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit 9.2 Die Gemeinwohl-Ökonomie <?page no="302"?> 302 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Ein weiterer Ansatzpunkt zur Umgestaltung der Finanzmärkte in Form einer institutionellen Innovation, wie es Paech bezeichnen würde, ist die sogenannte demokratische Bank. Sie soll die Entwicklung gemeinwohlorientierter Unternehmen befördern, die Aktivitäten von Rating-Agenturen, Fonds, Derivaten oder Börsen beschränken und Aktiengesellschaften in Bürgerbeteiligungsmodelle umwandeln helfen. Felber spricht in diesem Zusammenhang von einer Erlösung vom gegenseitigen Fresszwang, da die kapitalistische Hauptstrategie - Wachstum durch Konkurrenz und feindliche Übernahmen - obsolet würde. Die inhaltliche Grundlage für den Gesamtprozess der Gemeinwohl-Ökonomie ist in 20 Punkten zusammengefasst über den nebenstehenden Code abrufbar ( QR). Was die Umsetzung angeht, unterstützen bislang mehrere Dutzend Unternehmen als Mitglieder die Initiative der Gemeinwohl-Ökonomie, von denen hier zwei exemplarisch genannt werden. Die weltgrößte Genossenschaft Mondragón Die baskische Mondragón Corporación Cooperativa ist die weltgrößte Genossenschaft mit 256 Unternehmen, 95.000 Beschäftigten und rund 15 Milliarden Euro Umsatz. Die Gewinne werden zu einem großen Teil reinvestiert und zu einem kleinen Teil an die MitarbeiterInnen ausgeschüttet, unter denen es seit der Gründung des Unternehmens 1946 zu keiner Entlassung kam. Ein weiterer Teil fließt in einen zentralen Kooperationsfonds, über den sich Betriebe gegenseitig auffangen. Mehr Informationen unter www.mondragon-corporation.com. Die ägyptische Fair-Trade-Kooperative Sekem Die ägyptische Fair-Trade-Kooperative Sekem (was so viel bedeutet wie „Lebenskraft aus der Sonne“) wurde 1977 sechzig Kilometer südlich von Kairo gegründet. Heute beschäftigen sieben Unternehmen 2000 Menschen. Sekem bewirkte mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft die wirtschaftliche Nutzbarmachung der Wüste. Zu den Produkten zählen Bio-Lebensmittel, Gesundheitspräparate und Textilien. Der Gründer Ibrahim Abouleish wurde 2003 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Mehr Informationen unter www.sekem.com. 9.2.1 Vergleich der Postwachstums- und Gemeinwohl-Ökonomie Beiden Ansätzen ist gemein, das bestehende kapitalistische System an seine Grenzen gekommen zu sehen und darauf mit langfristig und umfassend ausgerichteten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellen zu reagieren, die unter Bereitstellung zentraler Prinzipien, Bausteine, Orientierungspunkte und Hilfsmittel umset- <?page no="303"?> 9.2 Die Gemeinwohl-Ökonomie 303 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit zungsorientiert konzipiert sind. Beide Ansätze sehen die Notwendigkeit zum Umbau des gesellschaftlichen wie des Infrastruktur-Systems als zwingenden Handlungsimperativ. Während die Gemeinwohl-Ökonomie einen dem Gesellschaftsvertrag von Jean- Jacques Rousseau vergleichbaren Gesellschaftsentwurf anbietet, der über die Logik sozialer Gerechtigkeit argumentiert („Gemeinwohl“), nimmt die Postwachstums-Ökonomie die Nicht-Fortführbarkeit des Wachstumsparadigmas und ökonomische Sachzwänge als Aufforderung zur Entwicklung eines ebenso rationalen wie alternativen Lebens- und Wirtschaftsmodells, um das Wachstumsmodell abzulösen („Postwachstum“). Damit knüpft die Gemeinwohl-Ökonomie an Aspekte und Werte wie Empathie, gesunden Menschenverstand sowie „natürliches“ Wahrnehmen und Empfinden bzw. „schlichte menschliche Logik“ an, die in der gegenwärtigen abstrakten Lebens- und Arbeitswelt technisch-medial überformt und verdrängt worden sind. Die Postwachstumsökonomie empfiehlt Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit eine vergleichbare Wirkung erzielen sollen wie die Gemeinwohl-Ökonomie, wie z.B. Entschleunigung der Wirtschaft bzw. von Innovationszyklen, Vermenschlichung der Gesellschaft durch mehr Zeit für persönliche Kontakte, Reduktion von Produktion und Konsum im Sinne von Qualität statt Quantität, Anerkennung ökologischer Grenzen bzw. Belastungsgrenzen, Lebenszufriedenheit statt Wachstumsgetriebenheit. Dabei geht sie von der ebenso rationalen wie banalen Annahme sich verknappender Ressourcen angesichts global gestiegener Nutzeransprüche aus, der nur durch Transformation jener Kernaspekte zu entgegnen ist. Beide Ansätze oder Modelle liefern umsetzungsorientierte, d.h. praktische Handlungsanleitungen für eine systematische Realisierung des Nachhaltigkeitsparadigmas. Sie begreifen sich nicht als normativ-idealistische Theorien - oder Luftschlösser -, die reiner Diskussionsgegenstand bleiben sollen. Sie haben vielmehr den Anspruch, das geistige Rüstzeug für den gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess für eine Wirtschaft und eine Gesellschaft anzubieten, die auf ihrem Weg in und durch das 21. Jahrhundert ist. Die Motivation dabei ist, durch maßgebliche Weichenstellungen den Fortbestand des Mensch-Umwelt-Systems als Ganzes langfristig zu gewährleisten und zwar durch eine Ablösung des „klassischen Kapitalismus“, der an seine Belastbarkeit gelangt ist, und dem eine Alternative jenseits von marxistischer Planwirtschaft oder Sozialismus gegenübergestellt werden soll, die entwicklungsfähig ist und den sich verschärfenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen Rechnung trägt, statt das bisherige unhinterfragt fortzuführen. Die Postwachstumsökonomie ist dabei auf wachstumskritische Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaft begründet, als dessen inhaltliche Weiterentwicklung sie sich begreift. Damit sieht sie sich in der Funktion, begrifflich wie inhaltlich neues Vokabular und neues Instrumentarium bereitzustellen, das der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre die Mittel an die Hand gibt, in den längst überfälligen <?page no="304"?> 304 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Dialog mit sich selbst (und ihrem Selbstverständnis und Nutzen unter veränderten globalen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen) als auch mit der sie umgebenden Gesellschaft zu treten, um so jene zukunftsfähigen Lösungen hervorzubringen, für deren Entwicklung sie als Wissenschaften begründet wurden. Die Gemeinwohl-Ökonomie demgegenüber ist in ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung und Fundierung und in ihrer Bezugnahme auf diverse Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Neurophysiologie, Anthropologie, Motivationsforschung, Ökonomik oder Politologie interdisziplinär aufgestellt und entspricht damit im Kern dem Querschnittsthema Nachhaltigkeit, doch bleibt sie bislang eine explizite wissenschaftstheoretische Verankerung schuldig. Ihre Stärke liegt in der bislang nur impliziten Bezugnahme auf unterschiedlichste, die Wirtschaft und die Gesellschaft beeinflussende Disziplinen, womit sie einen allgemeinverständlichen und menschlichen Zugang zu dem eröffnet, was Grober „unser ursprünglichstes Weltkulturerbe“ nannte (siehe Abschnitt 1.2), und deren wissenschaftliche Anschlussfähigkeit durch die Postwachstumsökonomik gewährleistet werden könnte. Anders gesagt: Während die Postwachstumsökonomie eine Wissenschaft ist, die das Hirn adressiert und sich vor allem durch den intellektuellen Diskurs Wirkung entfalten möchte, um sich damit ihren Weg von der Theorie in die Praxis zu bahnen, richtet sich die Gemeinwohl- Ökonomie an den Menschen und spricht sein Herz an, indem sie ihn in Kontakt mit sich selbst und mit anderen zurückbringt, und ihre Wirkung durch den gesellschaftlichen sowie intra- und interpersonellen Dialog entfaltet, der schließlich seinen systemischen Niederschlag in einem „re-humanisierten“ bzw. (wieder) vermenschlichten Wirtschaftssystem entfaltet. 9.3 Weitere Konzepte für eine „andere“ Welt There can’t be any large-scale revolution until there’s a personal revolution, on an individual level. It’s got to happen inside first. Jim Morrison Die Welt ist im Wandel. Die beiden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle sind ein Ausdruck dafür. Abschließend sollen einige weitere Konzepte genannt werden, die ein Hinweis für einen gesellschaftlichen Wandel sind und zeigen, was sich gerade unter sozialem Vorzeichen tut. Dass die Beliebtheit nachhaltiger bzw. sinnhafter Neuerungen an Bedeutung gewinnt, lässt sich an Bestsellern wie den Büchern „Simplify Your Life“ oder „The Cult of Less“ ablesen, aber auch ganzen Lebenskonzepten und -stilen wie die des Minimalismus, des Downshifting oder der Sharing Economy. Minimalismus meint als Lebensstil die Reduzierung von materiellen und immateriellen Verbindlichkeiten und die Entledigung von „Ballast“ im Sinne einer <?page no="305"?> 9.3 Weitere Konzepte für eine „andere“ Welt 305 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Befreiung, Entschleunigung und Entschlackung. Downshifting bezeichnet einen Trend bzw. Lebensstil, der auf ein einfaches Leben oder freiwillige Einfachheit abzielt. Im Zentrum steht die bewusste Abkehr von einer Konsumgesellschaft, die Lebenszeit beansprucht, die sinnvoller genutzt werden kann, wie z. B. für ehrenamtliches Engagement oder mehr Zeit für die Familie und das soziale Umfeld. Ein wahrnehmbarer Trend, der den Wunsch nach gelebtem Umweltschutz und nach Gemeinschaft zum Ausdruck bringt sowie Werte des Minimalismus und des Downshifting beinhaltet, ist Urban Gardening bzw. die Nutzung kleiner, städtischer Freiflächen für den Anbau von Obst und Gemüse. Die Effekte sind ein Beitrag zur nachhaltigen Stadtentwicklung, zur Verbesserung des städtischen Mikroklimas, zur urbanen Artenvielfalt, zur Bildung und Sensibilisierung für nachhaltige Lebensstile sowie Raum zu schaffen für Begegnung, Gemeinschaft und Engagement. Schneidwind und Scheck sprechen in diesem Zusammenhang von der „Stadt als Reallabor für Systeminnovationen“ (Ruckert-John (2013), S. 229 ff.). Die Sharing Economy - auch als Share Economy oder kollaborativer Konsum bezeichnet - ist ein sozioökonomisches System rund um die Nutzung von Human- und Sachanlagen, um die Verteilung, gemeinsame Nutzung und Wiederverwendung von Überkapazitäten in Waren und Dienstleistungen zu stärken. Im Kern geht es darum, den Wohlstand für alle zu erhöhen, indem mehr unter allen Marktteilnehmern geteilt wird. Kollaborativer Konsum basiert auf dem stillen Übereinkommen ihrer Teilnehmer, Produkte oder Dienstleistungen gemeinsam zu nutzen, statt den Besitz individuellen Eigentums zu verfolgen. Die Sharing-Economy ist ein ökonomisches Modell zur Aufteilung oder Vernetzung von Talenten, Waren und Dienstleistungen, bei dem Technologie die Verbindungen zwischen Menschen, Gütern und Dienstleistungen häufig effizienter macht. Dies führt zu neuen Gemeinschaften, Organisationen und Geschäftsmodellen im öffentlichen und privaten Sektor. Der gemeinsame Schwerpunkt bei diesen Geschäftsmodellen und Strategien ist, dass nicht Verwendetes eingesetzt wird, wie z. B. Überkapazitäten (für Stunden unbenutzt abgestellte Autos, überschüssige Lebensmittel, Leerlaufzeiten in Fabriken, alte Mobiltelefone, ungenutztes geistiges Eigentum), die als verschwendete Ressourcen angesehen werden. Das Ziel ist, Technologien mit einer neuen kulturellen Sensibilität zu verbinden, um die wirtschaftlichen und sozialen Werte dieser Ressourcen zu nutzen. Die Vorteile sind eine höhere Effizienz, Erschwinglichkeit und erweiterte gemeinschaftliche Belastbarkeit bzw. Resilienz. In einer Studie zur Sharing Economy der Leuphana-Universität heißt es: „Ob Car-Sharing, Fahrrad-Ausleihe, Wohnungs- oder Gebrauchtwaren-Tausch zwischen Privatleuten - mit dem Internet haben sich die Möglichkeiten des Teilens und gemeinsamen Nutzens von Dienstleistungen oder Produkten in eine neue <?page no="306"?> 306 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Dimension bewegt“. Insbesondere jüngere Menschen mit höherer Bildung und höherem Einkommen seien es, die Verleihsysteme und das Internet nutzen, um Dinge zu kaufen und zu verkaufen oder Privatzimmer anzumieten oder zu vermieten. Überraschend waren die Antworten auf die Frage, was an Produkten und Dienstleistungen besonders wichtig ist. Während Qualität mit 97 % und Preis mit 89 % erwartungsgemäß häufig genannt wurden, rangierten Nachhaltigkeitsaspekte wie Umweltverträglichkeit und soziale Verantwortung des Unternehmens mit Werten von deutlich mehr als 80 % schon auf den nächsten Plätzen. „Die Daten zeigen, dass Formen und Funktionen des Konsums in Bewegung gekommen sind und alternative Besitz- und Konsumformen mehr sind als ein Nischen- oder Oberflächenphänomen“ (Leuphana 2013). Im Kontext von Sharing Economy und kollaborativem Konsum sind Entwicklungen wie Book oder Clothes Swapping, Car Sharing, Cohousing, Generationenhäuser, Gemeinschaftsgärten, Coworking, Crowdfunding, Garden Sharing und Home Exchange zu sehen. Sie sind Ausdruck des Wunsches nach einem gesteigerten Gemeinschaftsgefühl, wie es für postmaterielle Gesellschaften bzw. Gesellschaftsschichten als kennzeichnend beschrieben wird. Die Erforschung der angeführten Ansätze und Lebensstile hilft, die soziokulturellen Treiber eines Wertewandels zu verstehen und diesen dadurch zu befördern. <?page no="307"?> 9 307 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Felix Ekardt schreibt in diesem Zusammenhang in seinem Buch „Wir können uns ändern. Gesellschaftlicher Wandel jenseits von Kapitalismuskritik und Revolution“: „Es gibt also die brennende Notwendigkeit zum Wandel, und sowohl die Menschheit im Ganzen als auch wir im Alltag wissen sehr viel über das, was an Veränderung eigentlich nötig wäre. Und dennoch passiert wenig bis nichts. Insgesamt kommt die Transformation nur schleppend voran. Dabei ist Nachhaltigkeit, also ein dauerhaft und weltweit durchhaltbares Leben und Wirtschaften, vordergründig einfach (…) Nachhaltigkeit dürfte sogar volkswirtschaftlich günstiger sein als unser bisheriger Weg, wenn man die langfristigen gesellschaftlichen Kosten einbezieht… Eine Analyse der Voraussetzungen einer (letztlich welt-) gesellschaftlichen Transformation hin zur Nachhaltigkeit ist somit zwingend nötig“ (Ekardt (2017), S. 17 f.). Literatur Bertelsmann (2010) Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis. www.bertelsmann-stiftung.de/ bst/ de/ media/ xcms_bst_dms_ 32005_32006 _2.pdf Binswanger, H.C. (2009) Vorwärts zur Mäßigung. Hamburg. Felber, C. (2010) Die Gemeinwohl-Ökonomie - Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Erweiterte Neuausgabe. Zsolnay Verlag Wien. Georgescu-Roegen, N. (1971) The Entropy Law and the Economic Process. Cambrigde/ London. Gronemeyer, M. (1988) Die Macht der Bedürfnisse. Reinbek. Hueting, R. (1980) New scarcity and economic growth. Amsterdam. Illich, I. (1973/ 2011) Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. München. Jackson, T. (2017) Wohlstand ohne Wachstum - das Update: Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. oekom München. Kohr, L. (1957/ 2002) Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß. Salzburg. Latouche, S. (2006) Le pari de la décroissance. Paris. Leuphana (2013) Sharing Economy - Deutschland teilt. www. leuphana.de / news/ pressemitteilungen/ pressemitteilungenansicht/ datum/ 2013/ 03/ 08/ sharing-economy-deutschland-teilt.html Miegel, M. (2010) Exit - Wohlstand ohne Wachstum. Berlin. Mumford, L. (1967) Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt a.M. <?page no="308"?> 308 9 Nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle Paech, N. (2009): Die Postwachstumsökonomie - ein Vademecum, in: Zeitschrift für Sozialökonomie (ZfSÖ) 46/ 160-161, S. 28-31. Paech, N. (2012) Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. oekom München. Pallante, M. (2005) La decrescita felice. La qualità della vita non dipende dal PIL. Rom. Ruckert-John, J. (2013) Soziale Innovation und Nachhaltigkeit: Perspektiven sozialen Wandels (Innovation und Gesellschaft). Springer Berlin. Sakar, S. (2011) Die nachhaltige Gesellschaft. Eine kritische Analyse der Systemanalysen. Zürich. Schor, J. B. (2010) Plenitude. The New Economics of True Wealth. New York. Seidl, I./ Zahrnt, A. (Hrsg.) (2010) Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg. Victor, P. A. (2008) Managing Without Growth: Slower by Design, Not Disaster. Cheltenham. WWF (2016) Living Planet Report 2016. <?page no="309"?> 10 Fazit <?page no="310"?> 310 10 Fazit http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Climate change is not an environmental problem. It is a civilizational problem. Ross Gelbspan Das Problem: Business as usual ist keine Option Ein freier Markt kennt kein Gut und Böse. Dazu fehlen Mechanismen und Regeln der ethischen Bewertung und Kontrolle. Weiterhin begründet ein unhinterfragter Fortschritts- und Technikoptimismus die Strapazierung der natürlichen Ressourcen. Der Glaube an die unendliche Steigerung von Wachstum und Wohlstand hält sich, so aufgeklärt und fortschrittlich unsere Zivilisation sich auch sieht. Die Globalisierung fördert eine Polarisierung der Welt: einerseits sind da die „Veredelungswirtschaften“ in den Industrieländern und den Regionen, die von der Globalisierung profitieren; andererseits die „Verelendungswirtschaften“ in den armen und ärmsten Ländern, die als Verlierer aus der Ökonomisierung und dem Ausverkauf der Welt hervorgehen. Die Industrienationen lagern Umweltbelastungen in entfernte Regionen aus und übernutzen den globalen Umweltraum, für den Rest der Welt lassen sie wenig übrig. Der material- und energieintensive Konsum- und Lebensstil der Industrieländer geht auf Kosten ärmerer Länder. Die Schere geht auf - mit unabsehbaren Folgen für das wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Gleichgewicht weltweit. Ein Fortschritt, der global nicht gleichmäßig und gerecht verteilt ist, beschwört soziale Spannungen herauf; er verstärkt die Gegensätze. Der Modernisierungsprozess der Industriegesellschaft wird „sich selbst zum Thema und Problem“, sagt Ulrich Beck; der Soziologe Ralf Dahrendorf spricht von der „Orientierungslosigkeit in einer haltlosen Welt“; Klaus Töpfer meint: „Nachhaltige Entwicklung ist nicht nur karitativ und unsere ethische Verpflichtung, sondern eine Investition in eine friedliche Welt“. 76 Wir sind vom Weg abgekommen Die Natur verhandelt nicht. Wir können unsere Bedürfnisse anpassen, nicht aber die Gesetze der Natur ändern. Dass wir auf einen Irrweg mit unabsehbaren Risiken und Gefahren gelangt sind, wusste Rachel Carson schon 1962. Und trotzdem - der Konsens und Irrglauben eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums setzt sich fort. Wir ignorieren die ökologischen Grenzen, die Tragfähigkeit. Das Schlachtschiff Erde läuft bald auf Grund. Dabei dürfte einleuchten: Das ressourcenintensive westliche Wohlstandsmodell, das heute für eine Milliarde gilt, lässt sich nicht auf weitere Milliarden Menschen bis 2050 übertragen. 76 Siehe Beck, U. (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ M.; Ralf Dahrendorf (1992) Der moderne soziale Konflikt Essay zur Politik der Freiheit. DVA Stuttgart; Klaus Töpfer im Interview mit dem Hamburger Abendblatt, 30.06.2006. <?page no="311"?> 10 Fazit 311 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Was Ökologen und Systemtheoretiker schon lange wissen, muss Allgemeinwissen werden: Wir sprengen die biophysikalischen Grenzen des begrenzten, geschlossenen Systems Erde - mit unabsehbaren Folgen, sind die Abläufe doch komplex, vernetzt und eben teils unvorhersehbar. Zu spät wird erkannt, wenn kritische Grenzen und Schwellen überschritten werden. Unwissenheit schützt vor Schaden nicht. Und trotzdem sind es gerade Wissens- und Bewertungsprobleme, die die Umsetzung des Nachhaltigkeitsleitbilds erschweren. Für eine erfolgreiche Bewältigung globaler Krisenkomplexe aber ist entscheidend, dass sich diese experimentelle Situation, ihre Unvollständigkeit, Unzulänglichkeit und Unsicherheit nicht lähmend, blockierend, stagnierend auf Engagement, Ressourcenbereitstellung und Intensität auswirkt, sondern dass dabei möglichst viele Lernmöglichkeiten erschlossen werden. Vom Homo oeconomicus zum Homo sustinens Wir befinden uns in einem Zielkonflikt: einerseits erfordert nachhaltige Entwicklung einen radikalen Wandel; andererseits sind wir uns einig, dass das bestehende Gesellschaftssystem aufrechterhalten werden soll und praktisch nicht verhandelbar ist. Unhinterfragt wird die Sichtweise beibehalten, ein radikaler Systemwechsel sei nicht erforderlich, weil ökologische Ziele durch Anpassungen innerhalb der bestehenden Strukturen realisiert werden können. Karl Marx hat die Verselbständigung gesellschaftlicher Verhältnisse gegenüber den darin lebenden Menschen unter den Begriffen „Entfremdung“ und „Fetischcharakter der Ware“ als Merkmale des kapitalistischen Gesellschaftssystems beschrieben. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sprechen vom „gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang“. 77 Der Homo sustinens ist das Ziel, der Homo oeconomicus die Realität. Die Durchsicht bestehender Organisationen, Programme und Initiativen erweckt den Eindruck, es werde viel getan. Aber wird genug getan? Stehen die Bemühungen in Relation zur Bedeutung und Dringlichkeit des Themas - der Sicherung des auf dem Erhalt natürlicher Ressourcen basierenden Überlebens der Menschheit? Eine Reihe vormals nicht bestehender Einrichtungen ins Leben zu rufen, bedeutet nicht, dass diese ausreichen. Es besteht die Gefahr der Scheinsicherheit und des Irrglaubens, jene werden das Problem schon lösen, denn zu diesem Zwecke wurden sie begründet. Nur weil Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Nachhaltigkeitsrhetorik verwenden, heißt das nicht, dass ihr Handeln die erforderlichen Ergebnisse bewirkt. Ebenso wie die Gefahr besteht, dass hinter der Rhetorik die Machtverhältnisse nicht wirklich zugunsten von mehr Nach- 77 Marx, K. (1968) Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. Dietz Berlin. 1. Aufl. S. 510 ff sowie Marx, K. (1975) Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. S. 85 ff; Horkheimer, M.; Adorno, T.W. (1996) Dialektische Aufklärung. Fischer Frankfurt/ M. 16. Aufl. Dietz Berlin. 11. Aufl. S. 48. <?page no="312"?> 312 10 Fazit http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit haltigkeit verschoben werden. Tatsächliche Zeichen wären entsprechende Institutionen mit Wissen, Personal und Geld auszustatten oder der Aufbau einer sanktionierfähigen Weltumweltbehörde. Es ist daran, zu entscheiden, welche Zukunft die Menschheit will. Inwieweit sind wir bereit, stetige wirtschaftliche Prosperität für wenige einzutauschen gegen Gerechtigkeit in der Verteilung von Chancen und Wohlstand für alle? Sind Fortschritt und Lebensqualität allein abhängig vom jährlichen Zuwachs unseres Pro-Kopf-Einkommens? Wachsender Wohlstand bedeutet nicht wachsendes Glück, Wirtschaftswachstum ist nicht allein Maß für gesellschaftlichen Fortschritt. Solange wir der Meinung sind, dass die Beschränkungen durch diese Selbstbegrenzung den Nutzen nicht aufwiegen, wird sich keine Veränderung vollziehen. Die Lösung: umwelt- und sozialverträgliches Wachstum Keine blinde Opposition gegen Fortschritt, aber Opposition gegen blinden Fortschritt. Leitspruch der Umweltbewegung in den 1970er Jahren Bei dem Begriff der Nachhaltigkeit bzw. nachhaltigen Entwicklung handelt es sich um ein normatives Leitbild. Als gemeinschaftsstiftende Vision der Zukunft der Menschheit in einer endlichen Welt orientiert es sich dabei an einem Norm-, Soll- oder Idealzustand, der anleitenden Charakter für alle Beteiligten haben soll, um flächendeckend, global wirksam zu werden. Die gemeinsame Vision lenkt dabei einzelne Entscheidungen und Handlungen wie Projekte, die in ihrem Verbund auf das gemeinsame Ziel hinwirken sollen, integrativ, ganzheitlich, interdependent, lernend. Leitbild auch deshalb, weil künftig notwendige Maßnahmen heute noch nicht bekannt sind, aber deren Entstehen sich vor der Vergegenwärtigung des angestrebten Zustandes abzeichnen. Gerechtigkeit und Verantwortung bilden das Fundament. Sie sind die Grundprinzipien, an denen sich jede Entscheidung und Handlung zu messen hat. Gerechtigkeit für alle gegenwärtig lebenden Menschen wie alle künftig lebenden. Alle Akteure, individuell, kollektiv wie institutionell sind damit gefordert. Das macht Nachhaltigkeit zur planetaren Gestaltungsaufgabe. Acht Thesen zu einer nachhaltigen Entwicklung Mit dem Leitbild ist eine Gestaltungsaufgabe in einer Komplexität verbunden, die einmalig in der Menschheitsgeschichte ist. <?page no="313"?> 10 Fazit 313 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Es braucht einen Wandel, eine Umsteuerung, eine Transformation, Global Change. Die Zeit ist reif für diesen Wandel. Hierzu braucht es ein kollektives Verständnis von Integrativität, Ganzheitlichkeit, einen systemischen Blick aufs Ganze. Es braucht Wissen, Bildung, Forschung, Grundlagen und Rahmenbedingungen, die das Leitbild konkretisieren und stützen. Es braucht Institutionen, Ressourcen, Steuerung, Verrechtlichung, Freiwilligkeit, die es umsetzen. Das Leitbild muss umgesetzt werden, um wirksam zu sein; es braucht positive Beispiele, Vorbilder, Pioniere. Es gibt keine Alternative zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die Alternative zu einer nachhaltigen Entwicklung ist eine nicht-nachhaltige Entwicklung; diese aber mündet in eine Minderung der Überlebensfähigkeit der Menschheit; somit gibt es keine Alternative zur Nachhaltigkeit. Im Kern geht es darum: eine langfristig umweltverträgliche Ressourcennutzung, die die Basis produktiven Wirtschaftens und friedlichen Zusammenlebens darstellt, und das unter Bezugnahme auf moralisch-ethische Prinzipien. Abb. 77: Handlungsspielräume ohne und mit Nachhaltigkeit Weltweit besteht mittlerweile eine hohe Bekanntheit und zunehmende Akzeptanz des Leibildes Nachhaltigkeit. Der Versuch dagegen, den Begriff konsens- und umsetzungsfähig zu machen, nimmt erst Kontur an. Uneinigkeit herrscht, wie dies verwirklicht werden soll. Normativ liegt die Uneinigkeit darin begründet, was künftigen Generationen als Erbe zu hinterlassen ist. Denn kulturelle Heterogenität führt zu einer großen Vielfalt an Gerechtigkeitsverständnissen, bei der die Vorstellung der Industrieländer von Gerechtigkeit nicht generalisierbar ist. Um globale Probleme aber gemeinsam lösen zu können, braucht es ein gemein- <?page no="314"?> 314 10 Fazit http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit sames Gerechtigkeitsverständnis. Hier könnte die Lösung darin liegen, sich statt auf konkrete gemeinsame Inhalte, auf gerechte Verfahrensprozesse zu einigen. Praktisch besehen gibt es Beispiele, die das Nachhaltigkeitsleitbild erfolgreich angewendet haben. (So hat von Hauff die Nachhaltigkeitsstrategie für Rheinland-Pfalz schlüssig und nachvollziehbar erarbeitet, indem er jeden Schritt im Nachhaltigkeitsdreieck verortet und mit Zahlen, Koordinaten und Maßnahmen unterlegt hat.) Noch aber ist die konsequente, ganzheitliche, integrative Umsetzung die Ausnahme. Die Hoffnung bleibt, dass sich mit der Zunahme positiver Beispiele bzw. von Best Practices die Anzahl an Nachahmern erhöht. Die guten Beispiele und deren langfristige Positiveffekte dürften bzw. könnten diese Akzeptanz legitimieren und für mehr Manövrier- und Verhandlungsmasse sorgen. Wandel, Transition, Zukunftsfähigkeit Nachhaltige Entwicklung bedeutet Veränderung, Dynamik, gesellschaftlichen Wandel. Ihre flächendeckende und langfristige Umsetzung ist an eine fundamentale Transition gegenwärtiger Konsum-, Produktions- und Entscheidungsmuster gekoppelt. Hierzu braucht es eine Erneuerung der miteinander in Beziehung stehenden Bereiche Technologie, Wirtschaft, Institutionen, Verhalten, Kultur, Wertesysteme oder ökologischen Rahmenbedingungen. Es braucht einen kollektiven und kooperativen Versuch, nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel im Sinne flexibler und schrittweiser Prozesse zu fördern und die interaktive Dynamik sozioökonomischer Wechselbeziehungen, systemischer Innovation und sozialer Visionen zu nützen. Was Lösungen angeht, sind die Potenziale der in den Kapiteln genannten Ansätze zu hinterfragen. So sind die in Kapitel 1 angeführten Push- und Pull- Faktoren auszudefinieren, was Gründe gegen Nicht-Nachhaltigkeit sowie Anreize für mehr Nachhaltigkeit angeht. Ein Rekurrieren auf die Geschichte, wie in Kapitel 2, liefert Vorlagen, wie das Ursprungskonzept auf aktuelle Kontexte anzuwenden ist. Die Trends laut Kapitel 3 geben ein Gefühl für Entwicklungslinien, auf die bereits heute Bezug genommen werden kann durch technische oder soziale Innovationen. Die Systematik des Nachhaltigkeitskonzeptes (Kapitel 4) bietet Anknüpfungspunkte für Forschung und Wissenschaft, um die Theorie hinter Praxis und Umsetzung voranzutreiben, um dadurch die Operationalisierung zu erleichtern und zu verbessern. Wenn es an die Überführung des Konzeptes in die Umsetzung geht, stehen Politik, Unternehmen, Recht und Wissenschaft in der Pflicht. Für die Politik (Kapitel 5) gilt es, institutionelle Arrangements inhaltlich wie strukturell etwa durch Global Governance-Ansätze basierend auf dem Prinzip der Glokalität durchzusetzen, im Rahmen eines Mehrebenensystems, das auf eine integrative Problemlösung abzielt. Der größte Hebel und Beitrag von Unternehmen (Kapitel 6) liegt demgegenüber in der nachhaltigkeitsorientierten Reformierung von Wertschöpfungsketten, so dass das Thema im ganzen Unternehmen verankert und damit in höchstmöglicher Effizienz wirksam wird. Dem Recht kommt die Aufgabe zu, für verlässliche <?page no="315"?> 10 Fazit 315 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Rahmenbedingungen zu sorgen, die Nachhaltigkeitsengagement unterstützen, belohnen und absichern (Kapitel 7); und dies indem das Nachhaltigkeitsprinzip zunehmend auf den unterschiedlichen Ebenen verrechtlicht wird; begleitend hierzu sollte die Politik für das Spektrum freiwilliger Maßnahmen und deren Nutzen sensibilisieren. Die Wissenschaft ist aufgerufen, unter Bildungsperspektive die richtigen Rahmenbedingungen zu stellen, die Nachhaltigkeit in Forschung und Lehre befördern. Hier gilt es, Studierende so auszubilden, dass sie den Wissens- und Forschungsbedarf, der für einen globalgesellschaftlichen Wandel notwendig ist, erkennen und dass sie Probleme inter-, multi- und transdisziplinär erfassen, um ebensolche Lösungen zu erarbeiten (Kapitel 8). Die Postwachstumsökonomie und die Gemeinwohl-Ökonomie bieten Modelle, um das Gebot der Nachhaltigkeit im Wirtschafts- und Lebensalltag lebbar zu machen (Kapitel 9). „Vorausschauend denken und handeln“ Eine Zukunftsorientierung erfordert Prioritäten zu setzen, was die individuelle und kollektive Lebensgestaltung und den Nachhaltigkeitsdiskurs selbst angeht. Was es braucht, ist eine qualitative Reflexion und eine kritische Überprüfung des eigenen Handelns. Ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs muss dies auf drei Ebenen begleiten: Wissen, Bewertung und Reflexion; d.h. Welches Wissens bedarf es? Wie ist dieses zu bewerten? Und: Tun wir auch wirklich das Richtige? Eine wichtige Bedeutung kommt dabei zweifellos einer neuen Bildungskonzeption zu. Gebraucht werden Orientierungswissen und Konzepte, die in der Lage sind, den Transfer des Nachhaltigkeitsprinzips in Innovationen sicherzustellen. Notwendig ist auch die Vermittlung von Gestaltungskompetenzen wie „weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen“, „vorausschauend denken und handeln“ und „sich motivieren können, aktiv zu werden“. Ein solches Wissen muss bildungspolitisch verankert werden und Themen, die für die Zukunftsfähigkeit der Menschheit am wichtigsten sind, müssen dabei die höchste Priorität haben. Dies impliziert vor allem die Neuausrichtung der betriebswirtschaftlichen Ausbildung. Als „Verantwortungsökonomik“ muss sie den Blick der Manager von morgen für das Mensch-Umwelt-System und globale gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge schärfen, sowie sie ermutigen, sich aktiv für eine nachhaltige Wirtschaftsweise einzusetzen. Die Chancen stehen gut, falls heute noch gilt, was Meadows et al. 1972 schrieben: „Gegenwärtig, für einen kurzen Zeitraum in der Geschichte, besitzt der Mensch die wirksamste Kombination aus Wissen, technischen Hilfsmitteln und Rohstoffquellen, alles, was physisch notwendig ist, um eine völlig neue Form der menschlichen Gemeinschaft zu schaffen, die für Generationen Bestand hätte. Was noch fehlt, sind ein realistisches, auf längere Zeit berechnetes Ziel, das den Menschen in den Gleichgewichtszustand führen kann, und der menschliche Wille, dieses Ziel auch zu erreichen. Ohne dieses Ziel vor Augen, fördern <?page no="316"?> 316 10 Fazit http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit die kurzfristigen Wünsche und Bestrebungen das exponentielle Wachstum und treiben es gegen die irdischen Grenzen und in den Zusammenbruch.“ 78 Vielleicht liegt es an mangelnder Vorstellungskraft, wie eine Welt, die nach friedlicheren Regeln tickt als bisher, aussieht, es verlangt eine Vision, ein gemeinsames Ziel. Dass davon Gutes zu erwarten ist, sah John Stuart Mill bereits vor 150 Jahren. „Es scheint kaum notwendig, besonders zu betonen, dass ein Zustand konstanten Kapitals und gleichbleibender Bevölkerungszahl nicht mit einem stillstehenden Zustand menschlicher Erfindungsgabe gleichzusetzen ist. Es gäbe ebenso viel Spielraum für alle Arten geistiger Kultur, für moralischen und sozialen Fortschritt, genauso viel Möglichkeiten, die Lebensführung zu verbessern, und es wäre wahrscheinlicher, dass dies auch geschehen würde.“ 79 Abb. 78: Der Nachhaltigkeitstrichter Um auf die in der Einleitung angeführte Metapher des Nachhaltigkeitstrichters Bezug zu nehmen: Wie gestalten wir unsere Entwicklung, dass sie sich den erschwerten Rahmenbedingungen anpasst, oder vielmehr noch, dass die verengten Handlungskorridore künftig wieder erweitert werden? Die Tendenz ist klar, exakte Trends und genaue Zahlen aber haben wir nicht. Deshalb hat eine nach- 78 Meadows et al. (1972), S. 164. 79 Mill, J. S. (1857) Principles of Political Economy. In: The Collected Works of J. S. Mill. Toronto. <?page no="317"?> 10 Fazit 317 haltige Entwicklung etwas Experimentelles. Sie ist ein Experiment, das wohlüberlegt und sorgfältig zu durchdenken, das fachübergreifend zu erarbeiten und immer wieder zu reflektieren ist - und das auf einem Lösungsansatz beruhen muss, der lernfähig ist. Kurz, es gilt für eine möglichst gute Vorbereitung zu sorgen (z.B. durch Analysen, Kausalanalysen, durch Modellierung und Simulation der geplanten Maßnahmen), die von einer sorgfältigen Durchführung begleitet wird, um sodann die Folgen der Umsetzung zu beobachten (Monitoring) und mit den verfolgten Zielen zu vergleichen, damit auch die Ursachen der Abweichungen erkennbar sind. Eine nachhaltige Entwicklung in einem begrenzten Umweltraum ist nach dem bisher Gesagten nur unter zwei Bedingungen zu erreichen: Zum einen muss die Menschheit innerhalb der ökologischen Kapazität der Erde leben, um eine weitere Verschärfung der Ressourcenverknappung abzuwenden; zum anderen muss sie sich Gefahren wie der Bevölkerungsexplosion stellen, um zu vermeiden, dass sich das Problem der Verteilungsgerechtigkeit verschärft. Wollen wir das Nadelöhr passieren und die sich verengenden Gestaltungsspielräume für die, die nach uns kommen, erhalten, müssen alle Akteure, Ebenen, Bereiche mitmachen. Will die Weltgemeinschaft die sich verengenden Gestaltungsspielräume verbessern, gilt es das Nachhaltigkeitsprinzip konsequent, global und kollektiv mit Konsequenz und Dauerhaftigkeit zu befolgen. Dabei erfordert Nachhaltigkeit - verstanden als angestrebter Gleichgewichtszustand der Gesellschaft - eine neue Form der Debatte, und zwar eine Debatte, in der die grundständigen nachhaltigkeitsrelevanten Probleme als solche anerkannt, reflektiert und gedanklich verarbeitet werden, um dadurch das Fundament zu ihrer tatsächlichen Behandlung zu legen. Für einen langfristigen Erfolg des Nachhaltigkeitsleitbildes bedarf es einer Umorientierung in Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie die Postwachstums- oder Gemeinwohl-Ökonomie nahelegen. Die Nachhaltigkeitsdebatte muss ihren Weg von der Theorie zur Praxis beschreiten und vom Rahmenzum Kerngeschäft jeder Unternehmung vordringen. Sie muss eine Geschäftspraxis fördern, in der die Gesellschaft wichtigster Multi-Stakeholder und vitaler Bestandteil der Wertschöpfung ist, und nicht als Hindernis betrachtet wird. Nur so kann sich die Debatte von der Befriedung von Stakeholderinteressen zu einer umfassenden Integration in den Alltag von Unternehmen und Mitarbeitern, Politik und Individuen entwickeln, die es für den Wandel einer Wirtschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert braucht. Oder, um mit den Worten von Gil Scott-Heron zu sprechen: The revolution will not be televised. <?page no="319"?> http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Index 5 Ps 56 Agenda 2030 56 Agenda 21 52 Armut 43, 54, 254 Armutsbekämpfung 56 Artensterben 157 Baden-Württemberg 64 Bayern 157 Begriffsursprung 37 Bevölkerungsexplosion 47 Bewusstsein 38, 176, 277 Bildung für nachhaltige Entwicklung 272 Biobauernhof 202 Biodiversität 26, 38, 120, 122, 294 Blue Economy 198, 199 Bumerang-Effekt 127 BUND 151 Business Case 30 Ceta 151 Compliance 181, 250 Corporate Social Responsibility 118, 182, 262, 265 Corporate Sustainability 182 Cradle-to-Cradle-Zertifizierung 238 Cradle-to-Grave-Ansatz 233 Definition 42, 43 Dekarbonisierung 151 demografischer Wandel 80, 244 Desertec 68 DJSI 31 Dreidimensionalität 99, 100 Drei-Säulen-Modell 110 Earth Overshoot Day 29 Effektivität 184 Effizienz 184 Effizienz, Konsistenz, Suffizienz 227 Effizienz, Suffizienz, Konsistenz 194 Effizienzprinzip 126 Effizienzsteigerung 76 Elektroautos 152 EMAS 149 e-Mobilität 64 Energie- und Materialeffizienz 32 Entwicklungshilfe 169 Entwicklungsländer 28, 47 EPEA 238 Erneuerbare Energien 71, 76 Externalisierung 107 Fachkräftemangel 81, 102, 242 Faktor Fünf 127 Feminisierung 82 Flüchtlingspolitik 152 Gemeinwohl-Ökonomie 295, 297 Gerechtigkeit 24, 93, 254, 313 Gleichgewichtszustand 40 <?page no="320"?> 320 Index http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit Global Governance 171 Global Marshall Plan 51 globale Herausforderungen 27 Globalisierung 51, 122, 176, 180, 310 Glokalität 53, 116, 314 Glücksforschung 103 Glyphosat 151 Green Economy 198 Greenwashing 211 Homo oeconomicus 106 Innovation 30, 71, 85, 86, 181, 271, 273 Integrativität 100, 140 Internet 70, 72, 86, 177 Jevons’ Paradoxon 128 Kaffee 201 Kapitalarten 94, 95 Klettverschluss 205 Klimapolitik 77 Klimaschutzplan 2050 62 Klimawandel 44, 75, 107 Konsistenzprinzip 126 Konsistenz-Strategie 126 Kosten des Klimawandels 46 Kultur 219, 272 Kyoto-Protokoll 260 leave no one behind 56 Lebensqualität 102, 149, 312 Leitbild 24, 43, 50, 162, 170, 256 Living Planet Report 2016 137 LOHAS 71 Maden 203 Managementsysteme 211, 262 Meere 57 Megatrends 44, 70, 71, 74, 81 Millennium-Entwicklungsziele 53, 56, 168 Minimax-Prinzip 127 nachhaltiges Design 230 Nachhaltigkeitsberichterstattung 222 nachhaltigkeitsbezogene Wertschöpfungskette 206 Nachhaltigkeitsdreieck 112, 196. 222 Nachhaltigkeitsleitbild 273 Nachhaltigkeitsmodelle 110 Nachhaltigkeitsprinzipien 117, 259 Nachhaltigkeitsstrategie 152, 170, 194 Nachhaltigkeitsthemen 119 Nachhaltigkeitswissenschaft 271, 276 Naturkapital 30 Naturlehre 38 neoklassische Ökonomie 107 NGO 173, 175 Öko- und Sozioeffektivität 183 Öko- und Sozioeffizienz 183 Ökobilanz 267 Ökoeffektivität 185 Ökoeffizienz 188, 234 Ökologie und Ökonomie 39, 73, 99 <?page no="321"?> Index 321 http: / / www.uvk-lucius.de/ nachhaltigkeit ökologische Leitplanken 85 ökologischer Fußabdruck 30 ökosoziale Marktwirtschaft 51, 98 Ökosysteme 41, 101, 107, 109, 160 Ozeane 57 Pariser Klimakonferenz 61 Pariser UN-Klimaschutzabkommen 157 People, Profit, Planet 118 Postwachstumsökonomie 289, 290 Produktlebenszyklus 228 Prozessoptimierung 225 Querschnittsthema 24, 119, 206 REACH 253 Rebound-Effekt 127 Ressourcen- und Materialeffizienz 79 Ressourcenbasis 37 Ressourcenproduktivität 126 Rio-Konferenz 48, 50, 164 Roadmapping 85 Rohstoffe 24, 39, 78, 79 Rohstoffproduktivität 186 SBSC 210 Schadschöpfung 188 Sondermüllofen 186 soziale Probleme 26 Sozialkapital 97, 171 Sozialwirksamkeit 186 Sozioeffizienz 188 Stakeholder 111 Suffizienzprinzip 124 Suffizienz-Strategie 124 Sustainable Development Goals 55 System Erde 20 Systemtheorie 131, 134, 138 Szenarien 40, 83, 84 Szenario 87 technologischer Fortschritt 41 Theorien der Nachhaltigkeit 93 Transformation 146, 147, 255, 282 Transparency’s Corruption Perception Index 149 Treibhauseffekt 44, 166 Treibhausgasemissionen 62 Trend 70 TTIP 64, 151 Umwelt und Entwicklung 43, 48 Umweltprobleme 29 Umweltrecht 252 Umweltschutz 26 Umweltverschmutzung 39 Umweltverträglichkeit 32 Ungleichheiten 57 UN-Klimaschutzkonferenzen 164 Unsicherheit 107, 283 Verantwortung 220, 254, 255, 264 Verbraucherschutz 253 Wasser 57 Weltarmutskonferenz 55 Weltklimarat 27, 44, 166 Weltwirtschaft 28 Wertschöpfung 188 <?page no="322"?> Widerstände 32 WWF 137 ZERI 200 Zukunftsfähigkeit 32, 104, 277, 314, 315 Zukunftssicherung 54, 281 32 Index <?page no="325"?> Dieses Buch erklärt die wichtigsten Grundlagen inklusive wissenschaftlicher Methodik. Dies umfasst die betriebswirtschaftlichen Themen Bilanzierung, Kosten- und Leistungsrechnung, Controlling, Finanzierung, Personalwirtschaft, Marketing und Projektmanagement. Darüber hinaus die drei volkswirtschaftlichen Fächer Mikro- und Makroökonomie sowie Außenwirtschaft. Abgerundet wird das Werk mit den Kapiteln zur Statistik für Wirtschaftswissenschaftler und dem Wissenschaftlichen Arbeiten. Alle Kapitel beinhalten Fragen, Aufgaben und Lösungen. Ein Glossar mit zentralen Begriffserklärungen ist ebenfalls Bestandteil. Ein Buch, das jeder Erstsemesterstudent der Wirtschaftswissenschaften zum Studieneinstieg lesen sollte. Auch für alle geeignet, die mit wirtschaftswissenschaftlichen Themen in Berührung kommen und berufliche Quereinsteiger. F. X. Bea, B. Friedl, A. Hennig, P. v. d. Lippe, T. Petersen, G. Pilz, A. Rehborn, J. Wöltje Wirtschaftswissenschaften 12 Kernfächer mit Aufgaben, Lösungen und Glossar 2017, 744 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-779-3 Verständliche Einführung in die Wirtschaftswissenschaften www.uvk.de <?page no="326"?> www.uvk.de Überblick Die kompakten Bücher der 360°-Reihe geben einen Überblick über die wichtigsten Grundbegriffe des jeweiligen Fachbereichs. Der Autor legt besonderen Wert darauf, dass die 360 Begriffe kurz und knapp erklärt werden. Das handliche Format erleichtert ein unbeschwertes Lernen. Die Bücher gibt es zu den Themen: Bankwirtschaft Betriebswirtschaft Controlling Finanzierung Finanzmarkt Management Marketing Personalmanagement Rechnungswesen Unternehmensbewertung Volkswirtschaft Wirtschaftspolitik Wirtschaftswissenschaften 360°www.uvk.de <?page no="327"?> Neues Vertrauen schaffen Das Vertrauen in unsere Währungen sinkt: Die Zentralbanken fluten die Finanzmärkte mit billigem Geld. In Deutschland boomt die Wirtschaft, während in anderen Euro-Ländern hohe Arbeitslosigkeit und Staatspleiten drohen. Kann ein System mit Niedrigzins, Deflationsgefahr und geliehenem Wohlstand dauerhaft bestehen oder sollte eine Suche nach alternativen Geldsystemen beginnen? Schließlich haben Menschen seit jeher auch andere Tausch- und Finanzsysteme verwandt. Und: Heute sind Miles & More-Punkte, realer Warentausch oder digitale Währungen wie Bitcoins bereits Realität. Auch die Systemfrage stellt sich: Sollten allein Zentralbanken Geld ausgeben oder auch die Geldausgabe frei für Jedermann möglich sein? Lernen Sie durch das Buch mehr über das aktuelle Geldsystem und seine Alternativen in Form von Ersatz- oder Komplementärwährungen, die neues Vertrauen schaffen könnten. Ottmar Schneck, Felix Buchbinder Eine Welt ohne Geld Alternative Währungs- und Bezahlsysteme in einer immer turbulenteren Finanzwelt 2015, 250 Seiten, Flexcover ISBN 978-3-86764-601-7 19,99 € <?page no="328"?> Moderne Die Epoche der Moderne wurde inzwischen durch das digitale Zeitalter abgelöst. Nun ist es an der Zeit Bilanz zu ziehen: Wie kann die Moderne in ihrer Gesamtheit dargelegt werden? Welche Errungenschaften hat sie hervorgebracht? Sind die Werte, Ziele und Normen der Moderne im digitalen Zeitalter nun obsolet? Werner Heinrichs liefert die Antworten. Er beleuchtet alle kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Aspekte der Epoche auf spannende Weise. Damit unterscheidet sich der Ansatz dieses Buches deutlich von einschlägigen Kulturgeschichten des 20. Jahrhunderts, die die Moderne nur als eine Zeit der Entwicklung der Künste und gesellschaftspolitischer Veränderungen wahrnehmen. Es beinhaltet außerdem viele originelle und spannende Zitate berühmter Persönlichkeiten. Dieses Buch richtet sich an Studierende wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Studiengänge und eignet sich ebenfalls als Nachschlagewerk für Leser mit kulturellem und geschichtlichem Interesse. Werner Heinrichs Die Moderne Bilanz einer Epoche 2017, 510 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-808-0 Bilanz einer Epoche www.uvk.de <?page no="329"?> Iris Pufé Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit 3. A. Pufé Nachhaltigkeit ist in aller Munde, seit Fukushima noch viel mehr. Doch was versteht man eigentlich unter Nachhaltigkeit? Wie wird ein Konzept umgesetzt und mit welchen Instrumenten? Das Buch dient als systematisches und umfassendes Einstiegs- und Überblickswerk. Es macht mit allen relevanten Begriffen, Konzepten, Elementen und Themenfeldern von Nachhaltigkeit vertraut. Basierend auf einer geschichtlichen Herleitung des Konzeptes werden konkrete Schwerpunkte und Anwendungsbereiche vorgestellt. Durch die integrative Betrachtung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte wird damit der Vielschichtigkeit, Komplexität und dem großen Einsatzspektrum von Nachhaltigkeit Rechnung getragen. Die dritte Auflage wurde u. a. um die drei Leitstrategien der Nachhaltigkeit - Suffizienz, Konsistenz und Effizienz erweitert. Bei der Behandlung der Nachhaltigkeit in Unternehmen wurden die Abschnitte Ökoeffizienz und -effektivität sowie Sozioeffizienz und -effektivität ergänzt. Neben generellen Aktualisierungen der Inhalte wurden in der Neuauflage viele empfehlenswerte Links und Hinweise aufgenommen - wie etwa zu Verbraucherschutzportalen oder zu lehrreichen Videos. Wirtschaftswissenschaften Sozialwissenschaften ,! 7ID8C5-cihafe! ISBN 978-3-8252-8705-4 Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag UVK / Lucius. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 3. Auflage 87054 Pufé_Lgeb-4054.indd 1 12.07.17 16: 30