Methodenhandbuch der Betriebswirtschaft
0511
2020
978-3-8385-8761-5
978-3-8252-8761-0
UTB
Michael Nagel
Christian Mieke
Stephan Teuber
Das Steuern eines Unternehmens und seiner Bereiche erfordert nicht nur technische Kenntnisse und wirtschaftliches Gespür, sondern auch fundierte analytische und strategische Fähigkeiten. Die Betriebswirtschaftslehre hält geeignete Hilfsmittel dafür bereit. Aber welche Methoden und Werkzeuge sind wissenschaftlich anerkannt, haben sich im praktischen Einsatz bewährt und erweisen sich als wirkungsvoll? Und welcher Ansatz eignet sich in welcher Situation und für welche Aufgabenstellung?
Das Handbuch liefert die Antworten und bietet eine verständliche Anleitung zur Einordnung, Auswahl und Anwendung der wichtigsten Methoden zur Unterstützung betriebswirtschaftlicher Entscheidungen. Jede Methode wird kurz und präzise vorgestellt. Am Ende jedes Kapitels kann der Leser die Methode unmittelbar anwenden und gewinnbringend im Unternehmen einsetzen. So lassen sich komplexe Probleme strukturiert analysieren und bewerten sowie geeignete Verbesserungsmaßnahmen ableiten.
<?page no="0"?> Nagel | Mieke | Teuber Methodenhandbuch der Betriebswirtschaft Methodenhandbuch Betriebswirtschaft 2. A. Nagel | Mieke | Teuber Das Steuern eines Unternehmens und seiner Bereiche erfordert nicht nur technische Kenntnisse und wirtschaftliches Gespür, sondern auch fundierte analytische und strategische Fähigkeiten. Die Betriebswirtschaftslehre hält geeignete Hilfsmittel dafür bereit. Aber welche Methoden und Werkzeuge sind wissenschaftlich anerkannt, haben sich im praktischen Einsatz bewährt und erweisen sich als wirkungsvoll? Und welcher Ansatz eignet sich in welcher Situation und für welche Aufgabenstellung? Das Handbuch liefert die Antworten und bietet eine verständliche Anleitung zur Einordnung, Auswahl und Anwendung der wichtigsten Methoden zur Unterstützung betriebswirtschaftlicher Entscheidungen. Jede Methode wird kurz und präzise vorgestellt. Am Ende jedes Kapitels kann der Leser die Methode unmittelbar anwenden und gewinnbringend im Unternehmen einsetzen. So lassen sich komplexe Probleme strukturiert analysieren und bewerten sowie geeignete Verbesserungsmaßnahmen ableiten. Das Buch wendet sich an Studierende der Wirtschaftswissenschaften und verwandter Studiengänge. Es dient darüber hinaus Fach- und Führungskräften in allen Unternehmensbereichen als praktisches Nachschlagewerk. Betriebswirtschaftslehre ,! 7ID8C5-cihgba! ISBN 978-3-8252-8761-0 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2. Auflage 87617 Nagel_XLgeb-8761.indd 1 87617 Nagel_XLgeb-8761.indd 1 20.04.20 14: 17 20.04.20 14: 17 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 8564 <?page no="3"?> Michael Nagel, Christian Mieke, Stephan Teuber Methodenhandbuch der Betriebswirtschaft 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> Prof. Dr. phil. Michael Nagel, MBA ist Professor in der Fakultät Wirtschaft an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart und Leiter des Studiengangs BWL - International Business. Er studierte in Tübingen und Berlin und promovierte an der Universität Potsdam. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er seit vielen Jahren in der Unternehmensberatung aktiv. Zuletzt war er in einer der führenden Gesellschaften als Senior Manager in zahlreichen nationalen und internationalen Projekten tätig. Prof. Dr.-Ing. habil. Christian Mieke ist Inhaber der Professur ABWL, insbesondere Innovationsmanagement im Fachbereich Wirtschaft der Technischen Hochschule Brandenburg. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Ilmenau und an der TU Kreta, Chania (GR). Promotion und Habilitation erfolgten an der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus. Stephan Teuber ist Gründer und seit über 30 Jahren geschäftsführender Gesellschafter der Loquenz Unternehmensberatung GmbH für Personal- und Organisationsentwicklung sowie der Flowcon Holding GmbH. Er ist Diplom-Theologe und Diplom-Sportpädagoge. Zudem Certified Management Consultant (CMC/ BDU) und Lehrbeauftragter an der ISM Hochschule für Coaching und Konfliktmanagement und als Investor und Unternehmer im Fitness- und Gesundheitsmarkt aktiv. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlag München 2020 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5, 72070 Tübingen Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Cover-Illustration: © Pavel Timofeev - fotolia.com Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 72070 Tübingen info@narr.de www.narr.de UTB-Nr. 8564 ISBN 978-3-8252-8761-0 <?page no="5"?> Vorwort zur zweiten Auflage Solange Menschen die Geschicke in Unternehmen bestimmen und nicht Algorithmen oder lernende Maschinen, ist methodisches Wissen gefragt. Und selbst wenn Automatisierung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz dominierende Größen in marktwirtschaftlichen Organisationen werden, braucht es jemanden, der die dafür erforderlichen Prozesse, Strukturen und Strategien unter Berücksichtigung betriebswirtschaftlicher Methoden aufbaut, definiert und implementiert. Diesem praxisorientierten Verständnis folgend haben wir uns an die zweite Auflage des Methodenhandbuches gemacht, nachdem die erste Auflage im akademischen und unternehmerischen Umfeld sehr wohlwollend aufgenommen wurde. Hierfür möchten wir uns bei allen Leserinnen und Lesern sehr herzlich bedanken! Wir haben für die zweite Auflage alle Kapitel und Verzeichnisse überarbeitet und ergänzt, neue Kapitel aufgenommen und den Autorenkreis erweitert, um ein noch größeres Spektrum an betriebswirtschaftlichen Methoden - vor allem in den Bereichen Organisation und Personal - abzudecken. Dabei definieren wir betriebswirtschaftliche Methoden nach wie vor als theoretisch fundierte und praktisch erprobte Hilfsmittel, die zur Lösung eines in der unternehmerischen Praxis auftretenden leistungswirtschaftlichen Problems beitragen. Wir hoffen, dass wir die einzelnen Methoden verständlich und nachvollziehbar dargestellt haben, damit die Anwendung und Zielerreichung unmittelbar erfolgen kann. In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern viel Spaß und Erfolg beim Gebrauch. Herzlich danken möchten wir unserem Verleger, Herrn Dr. Jürgen Schechler, der das Projekt Methodenhandbuch zum wiederholten Male sehr professionell gefördert und begleitet hat. Stuttgart/ Brandenburg a.d.H./ Tübingen, im März 2020 Michael Nagel, Christian Mieke & Stephan Teuber E-Mail: michael.nagel@dhbw-stuttgart.de E-Mail: christian.mieke@th-brandenburg.de E-Mail: stephan.teuber@loquenz.de <?page no="6"?> Vorwort zur ersten Auflage Zielsetzung des Methodenhandbuches Unternehmen stehen in Zeiten intensiven und globalen Wettbewerbs vor großen Herausforderungen. Das Steuern eines Unternehmens und seiner Bereiche erfordert nicht nur technisches und wirtschaftliches Know-how, sondern auch Geschick und Weitsicht. Geeignete Hilfsmittel können hierbei Unterstützung leisten. Die Betriebswirtschaftslehre hält entsprechende Hilfsmittel bereit und entwickelt diese mit Blick auf veränderte Managementaufgaben und Managementumwelten weiter. Aber welche Werkzeuge, Instrumente oder Methoden sind tatsächlich bewährt und wirkungsvoll, und welcher Ansatz eignet sich in welcher Situation und für welche Aufgabenstellung? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Publikation. Ziel des Methodenhandbuches ist es, einen detaillierten, aber zugleich kompakten Überblick über die gängigen betriebswirtschaftlichen Problemlösungsansätze zu vermitteln, die in den primären, wertschöpfungsorientierten Unternehmensbereichen von Bedeutung sind. Das Buch bietet eine Anleitung zur Einordnung, Auswahl und Anwendung bewährter BWL-Methoden und schafft somit die Voraussetzungen zum Management der zentralen Unternehmensfunktionen. Der Fokus liegt dabei auf den leistungswirtschaftlichen Aufgaben, während finanz-, personal- oder informationstechnologische Aspekte unberücksichtigt bleiben. Letztere wären - in der Terminologie von Porter 1 - dem sekundären beziehungsweise dem unterstützenden Bereich zuzuordnen. Die ausgewählten Ansätze werden vielfach als Werkzeuge, Instrumente oder Tools bezeichnet. Ohne eine - sicherlich für andere Zwecke erforderliche - sprachliche und theoretische Abgrenzung dieser häufig synonym verwendeten Begriffe vorzunehmen, wird im vorliegenden Buch von betriebswirtschaftlichen Methoden gesprochen. Damit wird angezeigt, dass allen hier berücksichtigten Ansätzen die Idee der Planmäßigkeit und der Problem- und Ergebnisorientierung zugrunde liegt. Die Methoden tragen wie die Werkzeuge eines Handwerkers zur Lösung eines in der alltäglichen (Wirtschafts-)Praxis auftretenden Problems bei und stiften auf diese Weise konkreten Nutzen. Voraussetzung für die nutzenstiftende Funktion der Ansätze ist - um erneut die Metapher des Handwerkers zu verwenden -, dass stets das passende Werkzeug für die jeweils anstehende Aufgabe ausgewählt wird. Hierbei will das Methodenhandbuch Hilfestellung und Anleitung bieten. Diesem praxisorientierten Verständnis folgend wird im weiteren Verlauf ausschließlich von Methoden gesprochen, auch wenn der eine oder andere Aspekt als strategischer Ansatz oder Modell bekannt ist. Im hier verstandenen Sinne stellen betriebswirtschaftliche Methoden theoretisch fundierte und praktisch erprobte Hilfsmittel dar, die zur Lösung eines in der unternehmerischen Praxis auftretenden leistungswirtschaftlichen Problems beitragen. 1 Zur Idee der Wertkette beziehungsweise Wertschöpfungskette siehe Porter (2010). <?page no="7"?> Vorwort zur ersten Auflage 7 Zielgruppe und Nutzen des Methodenhandbuches Das Buch wendet sich an Studierende der Wirtschaftswissenschaften und verwandter Studiengänge. Es dient darüber hinaus Fach- und Führungskräften in allen Unternehmensbereichen als praktisches Nachschlagewerk. Dem angesprochenen Leserkreis soll das Methodenhandbuch eine Hilfe sein, die - aus Sicht der Autoren - wesentlichen Problemlösungsansätze der Betriebswirtschaftslehre zu verstehen und nutzbar zu machen, indem diese entlang der Wertkette theoretisch fundiert, klar strukturiert und zugleich praxisorientiert dargestellt werden. Zudem will das Buch Orientierungshilfe in Zeiten neuer Unübersichtlichkeiten 2 bieten, in denen alternativ auf weitgehend funktional oder bereichsspezifisch ausgerichtete Handbücher 3 , auf Strategie-Werkzeug-Übersichten 4 oder auf pragmatisch angelegte Managementtoolboxen 5 zurückgegriffen werden kann. Schließlich werden Methoden aus den Bereichen Innovationsmanagement, Beschaffung, Produktion oder Organisation vorgestellt, die in vergleichbaren Publikationen vielfach unberücksichtigt bleiben. Damit versucht das Buch dem Anspruch gerecht zu werden, einen gut gefüllten Werkzeugkasten für das Management der leistungswirtschaftlichen Bereiche bereitzustellen. Abbildung 1: Übersicht der berücksichtigten betriebswirtschaftlichen Methodenbereiche Dem gestiegenen Informationsbedarf von Studierenden und Entscheidern und dem Wunsch nach effizienter Verfügbarkeit der entsprechenden Inhalte trägt das Methodenhandbuch Rechnung, indem zentrale, im Text nicht näher spezifizierte Begriffe im 2 Das Schlagwort von der neuen Unübersichtlichkeit wird hier verwendet, um deutlich zu machen, dass die Literatur- und Informationslage vielschichtiger und komplexer geworden ist, wohl wissend, dass Habermas (1985) mit diesem Begriff in erster Linie die Kennzeichnung politischer Perspektivenlosigkeit im Visier hatte. 3 Siehe zum Beispiel Preißner (2010). 4 Siehe zum Beispiel Kerth, Asum & Stich (2011) oder Simon & von der Gathen (2010). 5 Siehe zum Beispiel Haunerdinger & Probst (2012) und Schawel & Billing (2011). <?page no="8"?> 8 Vorwort zur ersten Auflage Glossar aufgeführt sind. Diese Sammlung stellt eine Quelle für weiterführende Informationen dar und bietet die Möglichkeit, ergänzende Facetten der Betriebswirtschaftslehre und benachbarter Wissenschaften kennenzulernen. Struktur des Methodenhandbuches Die im Buch berücksichtigten und in Abbildung 1 dargestellten wertschöpfenden Bereiche sind: Forschung, Entwicklung, Innovationsmanagement, Beschaffung, Logistik, Produktion, Marketing und Vertrieb. Zudem werden die übergreifenden Bereiche Strategie, Organisation und Kontrolle thematisiert, da diesen eine wesentliche Steuerungsfunktion beim Management der Wertkette zugeschrieben werden kann. Je Bereich werden die wichtigsten Problemlösungsansätze nach folgendem Schema diskutiert: Zielsetzung der Methode, Beschreibung der Methode, Anwendungsbereich und Anwendungsprozess, weiterführende Hinweise. Entstehung und Autoren des Methodenhandbuches Das vorliegende Methodenhandbuch ist ein Gemeinschaftswerk, das auf der Basis von Erfahrungen in der akademischen und betrieblichen Praxis entstanden ist. Es bündelt bewährte betriebswirtschaftliche Methoden, die von verschiedenen Autoren im wissenschaftlichen Umfeld geschaffen und in der betrieblichen Praxis erprobt wurden. Wir hoffen, dass die Zusammenstellung und komprimierte Beschreibung der aus unserer Sicht relevanten BWL-Methoden Studierenden und Entscheidern die Orientierung auf dem Feld der Managementinstrumente und eine zielführende Auswahl erleichtern. Wir freuen uns, wenn das Methodenhandbuch beim Einsatz an Hochschulen und in Unternehmen und bei der Analyse, Konzipierung und Implementierung von Innovations-, Optimierungs- und Wachstumsaktivitäten mehr Fragen beantwortet als offenlässt. Herzlichen Dank möchten wir an dieser Stelle Herrn Professor Franz Xaver Bea für die freundliche Genehmigung zur Nutzung des BWL-QR-Glossars aussprechen. Unser Dank gilt auch Frau Juliane Rangnow und Herrn Christian Schminder für die Unterstützung bei der Manuskripterstellung und Herrn Stephan Teuber für die verlagsseitige Kontaktanbahnung. Ausdrücklich danken möchten wir schließlich unserem Verleger, Herrn Dr. Jürgen Schechler, für die professionelle Zusammenarbeit. Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser von unserem Methodenhandbuch profitieren werden. Hinweise und Verbesserungsvorschläge sind herzlich willkommen. Stuttgart/ Brandenburg a.d.H., im April 2014 Michael Nagel & Christian Mieke <?page no="9"?> Inhaltsübersicht Vorworte ..........................................................................................................................................5 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement ........................................... 15 2 Beschaffung und Logistik................................................................................................. 83 3 Produktion ......................................................................................................................... 153 4 Marketing und Vertrieb .................................................................................................. 219 5 Strategische Analyse ....................................................................................................... 277 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle ..................................................... 333 7 Organisation ...................................................................................................................... 373 8 Personal .............................................................................................................................. 407 Anhang........................................................................................................................................ 449 Glossar .................................................................................................................................... 451 Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 479 Stichwortverzeichnis........................................................................................................... 507 <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis Vorworte ..............................................................................................................5 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement......................... 15 1.1 Expertenbefragungen und Delphi-Studien ......................................................... 21 1.2 Publikations- und Patentanalysen......................................................................... 27 1.3 Brainstorming und Brainwriting........................................................................... 31 1.4 Morphologischer Kasten.......................................................................................... 36 1.5 Synektik....................................................................................................................... 40 1.6 TRIZ.............................................................................................................................. 44 1.7 Technologielebenszyklus und S-Kurve ................................................................ 49 1.8 Nutzwertanalyse........................................................................................................ 54 1.9 Technologie- und innovationsbezogene Portfolios........................................... 58 1.10 Szenariotechnik ......................................................................................................... 64 1.11 Roadmapping ............................................................................................................. 68 1.12 Meilensteintrendanalyse ......................................................................................... 74 1.13 Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse ....................................................................... 78 2 Beschaffung und Logistik...................................................................... 83 2.1 Make-or-Buy-Entscheidung.................................................................................... 88 2.2 Lieferantenaudit ........................................................................................................ 94 2.3 Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios............................................. 101 2.4 Lieferantenbewertung ............................................................................................ 111 2.5 Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung ....................................... 115 2.6 Standardisierung und Bündelung........................................................................ 120 2.7 Auktion...................................................................................................................... 124 2.8 Konzeptwettbewerb................................................................................................ 128 2.9 ABC-/ XYZ-Analyse ................................................................................................ 133 2.10 Prioritätsregeln ........................................................................................................ 138 2.11 Cross Docking.......................................................................................................... 142 2.12 Konsignationslager ................................................................................................. 146 2.13 Just in time................................................................................................................ 149 <?page no="12"?> 12 Inhaltsverzeichnis 3 Produktion ...........................................................................................153 3.1 Wertanalyse .............................................................................................................. 157 3.2 Variantenausprägungsportfolio ........................................................................... 162 3.3 FMEA .......................................................................................................................... 167 3.4 Schwachstellenanalytik.......................................................................................... 171 3.5 Wertstromanalyse und Wertstromdesign ......................................................... 176 3.6 Kanban ....................................................................................................................... 181 3.7 Postponement ........................................................................................................... 185 3.8 Retrograde Terminierung ...................................................................................... 189 3.9 REFA-Zeitstudien .................................................................................................... 193 3.10 Elemente des Toyota Produktionssystems ........................................................ 197 3.11 Total Productive Maintenance ............................................................................. 203 3.12 Qualifikationsmatrix ............................................................................................... 208 3.13 Betreibermodelle...................................................................................................... 214 4 Marketing und Vertrieb........................................................................219 4.1 4P des Marketings ................................................................................................... 223 4.2 Kundenanalyse ......................................................................................................... 229 4.3 Kundenwertanalyse ................................................................................................ 235 4.4 Conjoint-Analyse..................................................................................................... 242 4.5 Means-End-Analyse und Ladderingverfahren.................................................. 248 4.6 Kundenzufriedenheitsanalyse: Kano-Analyse .................................................. 252 4.7 Buying-Center-Analyse ......................................................................................... 259 4.8 Lösungsorientiertes Verkaufen: OPAL-Methode............................................. 265 4.9 Sachbezogenes Verhandeln: Harvard-Methode ............................................... 270 5 Strategische Analyse ...........................................................................277 5.1 Umweltanalyse: PESTEL-Analyse ....................................................................... 281 5.2 Branchenstrukturanalyse: Five-Forces-Analyse .............................................. 287 5.3 Wettbewerbsvorteilsanalyse ................................................................................. 293 5.4 Stakeholderanalyse.................................................................................................. 299 5.5 Benchmarking .......................................................................................................... 305 <?page no="13"?> Inhaltsverzeichnis 13 5.6 Wertkettenanalyse .................................................................................................. 311 5.7 7S-Modell .................................................................................................................. 317 5.8 Produktlebenszyklusanalyse................................................................................. 323 5.9 Erfahrungskurvenanalyse ..................................................................................... 328 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle ................................ 333 6.1 SWOT-Analyse ........................................................................................................ 335 6.2 Marktwachstum-Marktanteil-Portfolio: BCG-Matrix .................................... 340 6.3 Marktattraktivität-Wettbewerbsstärke-Portfolio: McKinsey-Matrix ......... 347 6.4 Wachstumsstrategien: Ansoff-Matrix ................................................................ 353 6.5 Internationalisierungsstrategien.......................................................................... 358 6.6 Gewinnschwellenanalyse ...................................................................................... 364 6.7 Balanced Scorecard ................................................................................................. 367 7 Organisation ....................................................................................... 373 7.1 Prozessmanagement ............................................................................................... 376 7.2 Changemanagement............................................................................................... 383 7.3 Change-Kommunikation ....................................................................................... 390 7.4 Lean Administration............................................................................................... 399 8 Personal .............................................................................................. 407 8.1 Feedback- und Feedforward-Gespräche ............................................................ 411 8.2 Onboarding ............................................................................................................... 416 8.3 Arbeitssituationsanalyse ....................................................................................... 421 8.4 Rückkehrgespräche................................................................................................. 425 8.5 Betriebliches Eingliederungsmanagement ........................................................ 432 8.6 Coaching.................................................................................................................... 437 8.7 Kollegiale Beratung ................................................................................................ 444 Anhang ......................................................................................... 449 Glossar ................................................................................................. 451 Literaturverzeichnis ............................................................................... 479 Stichwortverzeichnis.............................................................................. 507 <?page no="15"?> 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement <?page no="16"?> 16 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Forschung und Entwicklung (F&E) sowie Technologie- und Innovationsmanagement bilden zentrale unternehmerische Aktivitäten. Wettbewerbsvorteile basieren in der Regel auf neuen Leistungsangeboten oder veränderten Abwicklungsvorgängen in Unternehmen. Neue Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und Strukturen ergeben sich jedoch nicht von selbst, sondern müssen aktiv geschaffen werden. In technologieorientierten Branchen ist sowohl das Erzeugen neuer Ideen und die Ausarbeitung neuartiger technischer Lösungen als auch das Entwickeln verbesserter oder bislang nicht vorhandener Produkte und deren Test Aufgabe von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Auch diese Bereiche unterliegen der unternehmerischen Planung, Steuerung und Kontrolle und müssen die Forderungen nach Effektivität und Effizienz erfüllen. So sollen Innovationen einen signifikanten Neuerungsgrad aufweisen, Entwicklungszeiten nicht zu lang sein und aufgestellte Budgets eingehalten werden. Aus besagten Gründen kommen auch in diesem ingenieurdominierten Feld betriebswirtschaftliche Planungsansätze und Optimierungsmethoden zum Einsatz. Abbildung 2: Beziehung innovationsbezogener Managementfelder Die Bereiche Forschung und Entwicklung sowie Technologie- und Innovationsmanagement sind nicht deckungsgleich, überschneiden sich aber in weiten Teilen. 6 Abbildung 2 illustriert, wie die einzelnen Bereiche zueinanderstehen. Das Forschungs- und Entwicklungsmanagement als Schnittmenge aus Technologiemanagement und Innovationsmanagement ist auf die Erarbeitung und Erprobung neuer technologischer Lösungen ausgerichtet, 7 die in neue Produkte oder veränderte Leistungserstellungsprozesse Eingang finden. Das Technologiemanagement umfasst neben der Erzeugung neuartiger Lösungen auch die breitere Verwertung bestehender Technologien. Das Innovationsmanagement organisiert explizit die Schaffung und Durchset- 6 Zu verschiedenen Abgrenzungsansätzen vergleiche Specht, Beckmann & Amelingmeyer (2002, S. 16), Gerpott (2005, S. 56) und Brockhoff (1996, S. 6 f). 7 Vergleiche Zahn (1995, S. 15 f). <?page no="17"?> 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 17 1 zung von Neuerungen, beschränkt sich dabei allerdings nicht auf technische Artefakte. Es beleuchtet auch organisatorische, kulturelle und soziale Aspekte im Unternehmen. Kernbereiche, die durch eine anspruchsvolle Planung gekennzeichnet sind, dürften für viele Unternehmen die Technologieentwicklung sowie der Entwurf neuer Produkte und die Erarbeitung neuer Produktionsprozesse darstellen. Im Folgenden wird ein kurzer Einblick in die Phasen des Technologie- und Innovationsmanagements gegeben. Abbildung 3: Technologiearten 8 Gegenstand des Technologiemanagements sind Technologien. Technologien sind das Wissen über naturwissenschaftlich-technische Wirkungszusammenhänge zur Lösung technischer Probleme. 9 Damit bilden Technologien die Basis für die Entwicklung und Erstellung von Produkten und Verfahren. Technologien können nach unterschiedlichen Kriterien gegliedert werden. Abbildung 3 verdeutlicht einige Möglichkeiten der Kategorisierung. Das Technologiemanagement umfasst die Planung, Organisation, Führung und Kontrolle der Unternehmensprozesse, welche die Bereitstellung, die Durchsetzung des Einsatzes und die Verwertung von Technologien zum Inhalt haben. 10 Der Prozess des Technologiemanagements lässt sich in vier Phasen unterteilen, die in Abbildung 4 dargestellt sind. 8 Mieke (2006, S. 5). 9 Vergleiche Wolfrum (1994, S. 4). Zu den Beziehungen zwischen den Konstrukten Theorie, Technologie und Technik siehe Burr (2004, S. 19 f). 10 Vergleiche Gerpott (1999, S. 58 f). <?page no="18"?> 18 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Abbildung 4: Prozess des Technologiemanagements 11 Innerhalb der Technologiefrühaufklärung wird versucht, schwache Signale 12 , die auf bevorstehende technologische Veränderungen hindeuten, frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und hinsichtlich ihrer Bedeutung zu bewerten. Dazu werden technologische, aber auch ökonomische, gesellschaftliche, politische und rechtliche Tendenzen untersucht, die Auswirkungen auf die Technologieentwicklung vermuten lassen. 13 Dazu zählen etwa die Verfügbarkeit neuer technologischer Lösungen, verändertes Konsumentenverhalten, Verschiebung gesellschaftlicher Werte und Normen, gesetzliche Technologieverbote oder staatliche Förderung einzelner Technologien. Innerhalb der Technologieplanung werden vornehmlich Technologiestrategien entwickelt. Diese sollen unter Berücksichtigung der technologischen Situation des Unternehmens und der innerhalb der Frühaufklärung identifizierten technologischen Trends eine gute künftige technologische Positionierung des Unternehmens vorbereiten. Technologiestrategien legen etwa fest, ob eigene Technologieentwicklungen primär im Feld der Produkttechnologien angesiedelt sein oder auch das Feld der Prozesstechnologien umfassen sollen. Ferner weist die Technologiestrategie den Weg zur technologischen Leistungsfähigkeit: Soll ein technologischer Hochleistungsstand oder lediglich die Präsenz in einem Feld angestrebt werden? Die Technologiestrategie beantwortet auch die Frage nach den Technologiequellen. Grundsätzlich können Technologien durch externe Beschaffung wie Lizenznahme, Technologiekauf oder durch interne Forschung und Entwicklung verfügbar gemacht werden. Neben der Beschaffungsdimension definieren Technologiestrategien ferner den Verwertungsaspekt. Sie zeigen, ob Technologien in eigene Produkte und Verfahren Eingang finden oder durch Lizenzvergabe oder den Verkauf von Geschäftseinheiten vermarktet werden. Letztlich konkretisiert die Technologiestrategie auch das zeitliche Vorgehen: Will das Unternehmen als Pionier oder als Folger agieren? 14 Die Strategieumsetzung erarbeitet konkrete Maßnahmen zur Realisierung der Technologiestrategien. 15 Ein großer Anteil der Maßnahmen, wie etwa kreative Erfindertätig- 11 Mieke (2006, S. 11). 12 Vergleiche Ansoff (1976, S. 129 ff). 13 Vergleiche zur Vielfalt von Einflussfaktoren Wucherer (2004, S. 26). Koller & Hölzner (2009, S. 72 f) empfehlen ein gestuftes, auf unterschiedlichen Unternehmensebenen angesiedeltes System so genannter Radargruppen, die Informationen aufnehmen, beurteilen und selektieren. 14 Vergleiche Tschirky (1998, S. 296 f). 15 Vergleiche zur Verzahnung der Technologieplanung mit der Geschäftsfeld- und Produktplanung Behrens (2003, S. 69 f). <?page no="19"?> 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 19 1 keit, weist nicht den Charakter von Routinetätigkeiten auf. Daher werden zur Steuerung der Entwicklungsprojekte Verfahren des Projektmanagements eingesetzt. Das Technologie-Controlling verschafft dem Technologiemanagement durch Messen sowie Soll-Ist-Vergleiche rechtzeitig Informationen über Fehlentwicklungen, um Anpassungen im Planungs- und Durchführungsprozess zu ermöglichen. 16 Abbildung 5: Innovationsarten nach Innovationsgrad 17 Objekt des Innovationsmanagements sind Innovationen. Als Innovationen werden in die Anwendung überführte Neuerungen bezeichnet. 18 Innovationen können dabei sowohl technischer Natur wie Produkte und Technologien als auch sozialer Natur wie Organisationsstrukturen sein. Abbildung 5 zeigt, dass Innovationen hinsichtlich ihrer Einsatzfelder und ihres Neuheitsgrades erheblich voneinander abweichen. Das Innovationsmanagement zielt auf die Sicherung der wirtschaftlichen Erfolgsposition des Unternehmens und forciert dabei insbesondere den Aufbau, die Pflege und die Weiterentwicklung des unternehmensinternen Potenzials zur Innovationstätigkeit. Im Mittelpunkt stehen sowohl die Planung und Organisation als auch die Steuerung und Kontrolle von Innovationsprozessen. 19 Für den Innovationsmanagementprozess existiert eine Vielzahl von Phasenmodellen. 20 16 Vergleiche Brockhoff (1994, S. 334) und Tschirky (1998, S. 346). Zu negativen und positiven Wirkungen von Kontrolle in kreativen Bereichen siehe Schorb (1994, S. 110). 17 Modifiziert nach Billing (2003, S. 31 ff) und Mieke (2009, S. 11). 18 Vergleiche Corsten, Gössinger & Schneider (2006, S. 11). 19 Vergleiche Pleschak & Sabisch (1996, S. 44). 20 Eine Auswahl findet sich bei Vahs & Brem (2013, S. 231 ff). <?page no="20"?> 20 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Eine sehr eingängige Sichtweise beschreibt Thom. Der Innovationsprozess gliedert sich demnach in die in Abbildung 6 beschriebenen drei Phasen. 21 In der ersten Phase werden Suchbereiche abgegrenzt, Ideen generiert und Vorschläge ausgearbeitet. Die zweite Phase zielt auf das Prüfen der Ideen und die Erarbeitung von Plänen zur Realisierung der Ansätze sowie auf die Entscheidungsprozesse und Entscheidungsdurchsetzung einzelner Initiativen. Die dritte Phase umfasst die Konkretisierung und Umsetzung der ausgewählten Idee sowie die Überprüfung des Eintretens der gewünschten Effekte. Abbildung 6: Innovationsprozess 22 Forschung und Entwicklung sowie Technologie- und Innovationsmanagement sollten planvoll betrieben werden. Ungeachtet dieser Forderung finden sich in der Praxis immer wieder Beispiele, in denen Menschen ohne systematisch geleiteten Suchprozess bahnbrechende Erfindungen machen. Häufiger - allerdings auch weniger präsent - dürften jedoch Fälle sein, die deutlich machen, dass Unternehmen scheitern, da sie nicht zielgerecht nach Innovationen suchen und diese durchsetzen. Im Folgenden werden betriebswirtschaftliche Methoden vorgestellt, die wichtige Arbeitsfelder des Technologie- und Innovationsmanagements unterstützen. Sie fördern unter anderem das Aufspüren technologischer Trends, das Erzeugen von Ideen, die Bewertung neuartiger Konzepte und die Planung, Überwachung und Steuerung von innovationsbezogenen Strategien und entsprechender Maßnahmen. 21 Vergleiche Thom (1980, S. 53). 22 Modifiziert nach Thom (1980, S. 53). <?page no="21"?> 1.1 Expertenbefragungen und Delphi-Studien 21 1 1.1 Expertenbefragungen und Delphi-Studien Problemstellung: Erfassung technologischer Zukunftsinformationen zur Vorbereitung der Technologie-, F&E- und Innovationsplanung Zielgruppe: Technische Geschäftsführer, F&E-Leiter, Stabs- und Planungsabteilungsleiter, Fabrikplaner, Zukunftsforscher Voraussetzungen: Erfahrene Interviewer, Zugriff auf Expertennetz, Ressourcen für den Kontaktaufbau und Erfahrungen in Befragungsdurchführung und Befragungsauswertung Zielsetzung von Expertenbefragungen und Delphi-Studien Unternehmen greifen bei der Definition ihrer Forschungs- und Entwicklungsprogramme häufig auf Einschätzungen von Experten zurück. Die Experteneinschätzungen beziehen sich dabei nicht auf die Vorteilhaftigkeit eines etwaigen Forschungs- und Entwicklungsprogramms. Die Experten sollen vielmehr Informationen zur künftigen Ausgestaltung sozialer, ökonomischer, marktbezogener und technologischer Systeme und Umfelder bereitstellen. Für Unternehmen sind derartige Aussagen von großer Bedeutung, sollen sich doch die zu entwickelnden Produkte und Prozesse unter neuen Bedingungen bewähren und die gewünschten Wettbewerbsvorteile erzeugen. Gerade in Großunternehmen existieren Abteilungen, die Zukunftsforschung und Frühaufklärung betreiben. Dennoch werden die Mitarbeiter dieser Abteilungen nicht alle relevanten Trends aufspüren können und sind demnach auf das Know-how externer Experten angewiesen. Expertenbefragungen sollen daher: Schwache Signale, die veränderte Zukunftskonstellationen andeuten, explizieren und dem Unternehmen verständlich machen, Einschätzungen zu möglichen alternativen Entwicklungen abgeben, Aussagen zur Verfügbarkeit bestimmter hilfreicher Artefakte machen, Bewertungen von Objekten durchführen. Die Befragungen ermöglichen dem Unternehmen Zugriff auf intern nicht verfügbare Informationen und die Nutzung der Bewertungskompetenz von Experten. Ferner reduzieren sie die Unsicherheit des Managements, möglicherweise relevante Entwicklungsrichtungen übersehen zu haben. Die Informationen berücksichtigen die in Abbildung 7 dargestellten Triebkräfte Marktsog und Technologiedruck und finden Eingang in die strategische Planung des Unternehmens - insbesondere im Hinblick auf Technologien, Forschungsvorhaben und Innovationsprojekte. Beschreibung von Expertenbefragungen und Delphi-Studien Es haben sich verschiedene Formen von Expertenbefragungen entwickelt und in der betrieblichen Praxis bewährt. Man unterscheidet schriftliche Expertenbefragungen, mündlich durchgeführte Experteninterviews, Experten-Workshops und Delphi-Stu- <?page no="22"?> 22 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement dien. 23 Mit Hilfe all dieser Erhebungsformen versucht man, Informationen bezüglich des Untersuchungsobjektes zu erhalten. Teilweise können Experten darüber unkompliziert Auskunft geben, weil der zu ermittelnde Sachverhalt Gegenstand ihrer unmittelbaren Arbeit ist oder sie in den Diskussionsprozess eingebunden sind. 24 Häufig jedoch, insbesondere bei weit in die Zukunft zielenden Befragungen, werden Experten mit Fragen konfrontiert, worauf sie selbst erst nach einem systematisch angestoßenen Analyse- und Bewertungsprozess antworten können. Den Experten ist diese Analyse und Bewertung aufgrund der Vertrautheit mit dem Fachgebiet und den beeinflussenden Parametern eher möglich als Nicht-Experten. Abbildung 7: Treiber technologischer Entwicklung 25 Einzelbefragungen von Experten - ob in schriftlicher oder mündlicher Form - zielen darauf ab, möglichst valide Zukunftsinformationen zu erhalten. Die Experten sollen sich durch Abwesenheit anderer Experten in ihrem Urteil frei fühlen. Die Informationen der unterschiedlichen Experten werden durch die Befragenden zusammengeführt, ausgewertet und zu einem Gesamtbild verarbeitet. Die schriftliche Befragung ermöglicht es den Experten, bei der Beantwortung Hilfsmittel zu verwenden und längere Auswertungsprozesse vorzunehmen, bevor eine Einschätzung abgegeben wird. Die mündliche Form gestattet Nachfragen der Experten, die Präzisierung der Frage durch den Interviewer und das Formulieren weiterer Fragen, die sich erst durch die Beantwortung vorheriger Fragen ergeben. Gemeinsame Befragungen mehrerer Experten werden durchgeführt, um die Prozesseffizienz der Erhebung zu erhöhen. Durch das Zusammenbringen verschiedener Ex- 23 Vergleiche Specht & Möhrle (2002, S. 51 f). 24 Vergleiche Geschka (1995, S. 631). 25 Modifiziert nach Lauglaug (1993, S. 79) und Mieke (2006, S. 8). <?page no="23"?> 1.1 Expertenbefragungen und Delphi-Studien 23 1 perten an einem Ort zur gleichen Zeit, möchte man vor allem den Befragungsaufwand reduzieren. Ferner wird in diesem Format darauf gesetzt, dass Experten durch die Anwesenheit von Fachkollegen zu qualitativ hochwertigen Aussagen animiert werden. 26 Auch das Aufgreifen und Weiterentwickeln einer Kollegenaussage und die gegenseitige Anregung und Motivation sind angepeilte Effekte von Gruppenbefragungen. Die Delphi-Studie stellt eine besondere Form der Expertenbefragung dar und versucht, die Vorteile der erläuterten Ansätze zu vereinen. Ruhe, Bedenkzeit und ausgewogene Informationen der schriftlichen Einzelbefragung werden durch das Rückspielen aller Befragungsergebnisse an alle Teilnehmer erreicht. Experten erhalten Gelegenheit, durch das Studium der Aussagen anderer Experten ihre eigene Einschätzung zu ergänzen und solcherart zu einem modifizierten Urteil zu gelangen. 27 Durch dieses aufwändige Verfahren erhoffen sich Befragende bessere Aussagen zu neuartigen oder unstrukturierten Problemfeldern. Abbildung 8 fasst die Besonderheiten der verschiedenen Befragungsformen zusammen. Abbildung 8: Expertenbefragungsformen 26 Aufgabe des Interviewers oder Moderators ist es, Konformitätstendenzen auszuschließen und auch abweichende Meinungen aufzunehmen (siehe dazu Staehle 1994, S. 286). 27 Vergleiche Krystek & Müller-Stewens (1993, S. 228 f). <?page no="24"?> 24 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Expertenbefragungen finden vor allem im Rahmen der Technologievorausschau und in der Technologie- und Innovationsplanung Anwendung. Hier sollen Informationen aus unterschiedlichen Quellen Berücksichtigung finden, um eine solide Entscheidungs- und Planungsgrundlage entwickeln zu können. Expertenbefragungen sind eine - wenn auch nicht auf den ersten Blick erkennbar - aufwändige Erhebungsmethode. Die Ergebnisqualität hängt unter anderem davon ab, inwiefern geeignete Experten gefunden und zur Mitwirkung bewegt werden können, es gelingt, die für das Erkenntnisfeld richtigen Fragen zu stellen, eine Fokussierung auf den Zeithorizont vorgesehener Planung zu erreichen ist, abweichende Expertenmeinungen in geeigneter Weise gedeutet werden können. Abbildung 9: Expertenbefragungsprozess Der in Abbildung 9 skizzierte Prozess einer Expertenbefragung beginnt mit der Formulierung der Themen-, Aufgaben- und Problemstellung. Eine klare Themenabgrenzung bildet eine Voraussetzung zum Finden geeigneter Experten. Als externe Experten im Planungsbereich des Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsmanagements sind insbesondere Forscher und Entwickler aus industriellen Forschungslabors, Hochschulen und Großforschungseinrichtungen einzustufen. Auch technologieorientierte Lieferanten und Kunden können Impulse geben, wenngleich der Vorschauhorizont bei Letzteren typischerweise nicht so weit in die Zukunft reicht wie bei Ersteren. Es schließt sich die eigentliche Suche nach geeigneten Experten für das Untersuchungsfeld an. Häufig werden hier Recherchen in Publikationslisten, Tagungsverzeichnissen und Verbandsregistern durchgeführt, um versierte Experten zu identifizieren. Diese werden danach angefragt, ob sie zur Mitwirkung bereit sind. In <?page no="25"?> 1.1 Expertenbefragungen und Delphi-Studien 25 1 der Praxis dürfte die gesamte Bandbreite an Reaktionen auftreten: von strikter Ablehnung bis erfreuter Zusage. Ablehnungen resultieren häufig aus der Sorge der Experten, geheime Informationen preisgeben zu müssen, oder aus der Unwilligkeit, den Aufwand der Fragenbeantwortung ohne eigenen Nutzen tragen zu sollen. Gerade die letztgenannte Barriere kann durch die Zusage reduziert werden, dass entweder sämtliche oder ausgewählte Studienergebnisse nach Abschluss der Erhebung kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Zustimmung kommt häufig von Experten, die intrinsisch motiviert an ihrem Forschungsfeld arbeiten und sich durch das Gespräch selbst weitere Informationen erhoffen oder erfreut über die durch die Anfrage zum Ausdruck kommende Anerkennung ihrer Leistungen sind. 28 Danach erfolgt die Erarbeitung eines Fragebogens oder Gesprächsleitfadens. Hinsichtlich des Umfangs der Befragung sind die konkurrierenden Ziele Knappheit und Prägnanz einerseits und umfassende Informationserfassung andererseits auszubalancieren. Kurze Befragungen erhöhen die Mitwirkungsbereitschaft der Experten und ermöglichen unter Umständen die Befragung von mehreren Experten. Allerdings erfordern zu knappe, unvollständige Befragungen gegebenenfalls eine weitere Erhebungsrunde. Dies wirkt sich in der Regel negativ auf die Befragungsprozesseffizienz und auf die Dauer der Studienerstellung aus. Es schließt sich die Auswertung der Befragungsergebnisse an. In der Regel wird es sich weniger um statistische Auswertungen großer Datenmengen als vielmehr um das Zusammenführen und Deuten einer überschaubaren Anzahl von verbalen Experteneinschätzungen handeln, die unter Verwendung verschiedener Fachsprachen und Fachbegriffe abgegeben werden. Dieser Vorgang ist kaum automatisierbar und erfordert Erfahrung sowie Vertrautheit mit dem Untersuchungsgegenstand und mit der Studienmethode. Werden hier Informationen nicht berücksichtigt oder fehlgedeutet, können daraus erhebliche Planungsfehler resultieren. Immer wieder stehen Auswerter vor dem Problem, mit abweichenden oder sich widersprechenden Expertenurteilen umgehen zu müssen, da Mehrheitsmeinungen nicht zwangsläufig den Gang der zukünftigen Entwicklung widerspiegeln. Im Rahmen von Delphi-Studien werden die Ergebnisse der Expertenbefragung den Befragungsteilnehmern zugänglich gemacht und die Teilnehmer zur erneuten Abgabe von Beurteilungen des Untersuchungsgegenstandes aufgefordert. Dieses Vorgehen zieht in der Regel weitere Auswerteprozeduren nach sich. Weiterführende Hinweise Expertenbefragungen und Delphi-Studien sind bewährte Methoden, um technologische Zukunftsinformationen zur Vorbereitung der Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsplanung zu erfassen. Allerdings sollte man vor der Durchführung von Expertenbefragungen und Delphi-Studien berücksichtigen, dass eine zu enge Auslegung des Expertenkreises dazu führen kann, dass trotz aufwändiger Befragungsrunden zukunftsbestimmende Trends nicht erfasst werden. Betraut man interne 28 Vergleiche zur Mitwirkungsmotivation von Experten Mieke (2006, S. 26). <?page no="26"?> 26 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Experten mit der Befragung externer Experten, führt dies unter Umständen eher zu Positionierungswettbewerben als zu belastbaren Ergebnissen. Bei unzureichender inhaltlicher und methodischer Vorbereitung dürfte man die Chance vergeben, bislang nicht explizierte Sachverhalte und Informationen aufzudecken beziehungsweise zugänglich zu machen. Zudem verhindert das einfache Ausblenden oder durch Mittelwertbildung erfolgende Relativieren von Extrem- und Außenseitermeinungen oftmals das Entwickeln eines Gefühls für die Unbestimmtheit und Ungewissheit der Zukunft. Die Nichtzusendung der versprochenen Studienauswertungen an die befragten Experten erschwert schließlich künftige Expertenbefragungen. Insofern sollte man in der Praxis ergänzende Informationserfassungsmethoden nutzen, um nicht nur Ausschnitte, sondern um möglichst alle planungsrelevanten Informationen zu erhalten. <?page no="27"?> 1 Problemstellung: Erkennen von Zukunftstechnologien sowie Identifikation von technologischen Wirkprinzipien und technologischen Verknüpfungen Zielgruppe: F&E-Manager, Innovationsplaner, Technologiefrühaufklärer und Koordinatoren von Forschungsnetzen Voraussetzungen: Zugang zu relevanten Datenbanken, Recherche- und Analysekompetenz und technisches Grundverständnis Zielsetzung von Publikations- und Patentanalysen Publikations- und Patentanalysen sollen eine qualitativ hochwertige Technologievorausschau ermöglichen. Die Vorausschau deckt künftig in Produkten und Verfahren zur Anwendung kommende Technologien auf, weist auf in der Zukunft verfügbare und nutzbare technologische Lösungen hin und unterstützt somit eine umfeldgerechte Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsplanung. Publikations- und Patentanalysen setzt man auch zur Stimulierung der Kreativität bei der Erzeugung neuartiger Lösungen ein. Sie sollen schließlich auch die Verletzung etwaiger Schutzrechte anderer durch das eigene Unternehmen verhindern. Beschreibung von Publikations- und Patentanalysen Zahlreiche technologische Informationen sind in frei zugänglichen Quellen wie Offenlegungsschriften von Patenten oder Fachzeitschriften dokumentiert. 29 Akteure, die für ihre Planungen relevante Informationen aus der oft beklagten Informationsflut herausfiltern, werden in die Lage versetzt, sich einen Vorsprung gegenüber Wettbewerbern zu erarbeiten. Publikationen, etwa in Form von Zeitschriften- oder Tagungsbandbeiträgen, enthalten oftmals sehr aktuelle Forschungsergebnisse - häufig so aktuell, dass Effekte, Wirkungszusammenhänge und technologische Verfahren beschrieben werden, ohne dass eine Anwendung beispielsweise in Form konkreter Funktionen von Produkten unmittelbar bevorstünde. Die vorgestellten Ergebnisse sind in der Regel Resultat von Forschungsaktivitäten, gelegentlich aus geförderten Forschungsprojekten mit Publikationspflicht. Da Publikationen die „Währung der Wissenschaft“ darstellen, sind Wissenschaftler meist mehr an der zügigen Veröffentlichung ihrer Ergebnisse als an einer unmittelbaren, durch sie initiierten und gesteuerten wirtschaftlichen Verwertung der Ergebnisse interessiert. Die entsprechenden Informationsquellen sind frei verfügbar, und die Auswerte- und Recherchekompetenz des Informationssuchenden bestimmen den Grad des Vorteils, den man aus diesen Informationen ziehen kann. Patente werden erteilt, um Erfindern die wirtschaftliche Nutzung der kreierten Lösungen für eine bestimmte Zeit exklusiv zuzugestehen. Zu diesem Zweck werden neuartige technische Lösungen detailliert beschrieben, um andere Personen vor einer ver- 29 Vergleiche Wurzer (2003, S. 49). 1.2 Publikations- und Patentanalysen 27 1.2 Publikations- und Patentanalysen <?page no="28"?> 28 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement sehentlichen Nutzung einer patentierten Lösung zu schützen, aber auch um unbefugten Nutzern gezielten Missbrauch nachweisen zu können. Das in der Patentschrift ausführlich dargelegte neue technische Prinzip gewährt anderen Akteuren jedoch auch - abseits einer Missbrauchsabsicht - Einblicke in die Ergebnisse industrieller Forschungstätigkeit, zum Beispiel auch von Konkurrenten, und erlaubt im Zuge von Lizenzierungsbestrebungen, die Verwendung der Technologie anzupeilen. In jedem Fall kann man durch systematische Patentanalysen die technologische Zukunft mittelfristig greifbar machen. Schätzungen besagen, dass Patente im Schnitt vier bis sieben Jahre vor der ersten marktbezogenen Verwertung der Lösung angemeldet werden. 30 Ferner wird davon ausgegangen, dass etwa drei Viertel des gesamten technischen Wissens exklusiv in Patentschriften festgehalten ist. 31 Diese Angaben verdeutlichen das Potenzial fundierter Patentanalysen im Rahmen der Technologievorausschau und mit Blick auf die Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsplanung von Unternehmen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Vorrangiges Anwendungsfeld von Publikations- und Patentanalysen dürften technologische Planungen sein. Wenngleich auch die Patentierungsbestrebungen von Geschäftsmodellen und Geschäftsprozessen zunehmend in den Fokus rücken. 32 Abbildung 10: Patentanalyseprozess 33 Eine Publikations- und Patentanalyse lässt sich, wie in Abbildung 10 dargestellt, in sieben Schritte gliedern: 34 Zunächst legt man den Untersuchungsbereich fest. Die Annahme, dass drei Viertel des technischen Wissens exklusiv in Patenten verfügbar ist, vermittelt ein Gespür für den Aufwand, der mit der Durchführung von Patentanalysen verbunden sein kann. Insofern sollte man sich fokussieren, allerdings unter Berücksichtigung hinreichender, auch auf Substitutionstechnologien abstellende Recherchen. Im zweiten Schritt erfolgt die Wahl der Recherchemedien: Welche Publikationen, bei welchen Patentämtern, in welchen Datenbanken sollen geprüft werden? Im 30 Vergleiche Gerpott (1999, S. 108). 31 Vergleiche Faix (1998, S. 43). 32 Vergleiche Walter & Möhrle (2009, S. 41 ff). 33 Mieke (2006, S. 130). 34 Vergleiche Specht & Mieke (2004a, S. 22). <?page no="29"?> 1.2 Publikations- und Patentanalysen 29 1 Folgenden definiert man Stichworte, mit deren Hilfe mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit die interessierenden technologischen Lösungen entdeckt werden können. An dieser Stelle ist häufig das Spielen mit und das Umformulieren von Suchbegriffen hilfreich, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Es schließt sich die eigentliche Recherche an. 35 Relevante Patente und Veröffentlichungen werden herausgefiltert und einer Grobeinschätzung zugeführt. Die Grobeinschätzung bildet die Grundlage für die anschließende Klassifizierung der gefundenen Lösungen. Die Klassifizierung kann nach unterschiedlichen Rastern erfolgen: Produktversus Prozesstechnologie, Querschnittsversus spezielle Technologie, Kernversus ergänzende Technologie oder Systemversus Komponententechnologie. Hier bestimmen der Untersuchungsgegenstand und das Analyseinteresse sowie der Planungsgegenstand die Art der Klassifizierung. Die Klassenbildung ermöglicht im Weiteren eine Priorisierung bei der detaillierten Analyse der Patente. Hier werden die in den Patenten beschriebenen technologischen Lösungen präzise erfasst, ihr Leistungspotenzial eingeschätzt und ihre Vernetzung mit anderen Technologien untersucht. Dabei hat sich die Nutzung von Formblättern bewährt 36 - wie in Abbildung 11 dargestellt -, um die Erkenntnisse aus der Analyse jedes einzelnen Patents zu dokumentieren. Schließlich werden jene Patente und die entsprechenden technologischen Lösungen selektiert, die auf der Basis weiterer Recherchen ausführlicher beschrieben und untersucht werden sollen. Abbildung 11: Beispiel eines Formblattes zur Informationsspeicherung bei Patentanalysen 37 35 Der Rechercheerfolg wird wesentlich durch das Beherrschen verschiedener Zugriffsarten auf die abgelegten Fachinformationen bestimmt (vergleiche Suhr 2000, S. 396). 36 Vergleiche Mieke (2006, S. 147). 37 Mieke (2006, S. 147). <?page no="30"?> 30 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Weiterführende Hinweise Publikations- und Patentanalysen sparen im Vergleich zu Expertenbefragungen Reisekosten, werden jedoch hinsichtlich des Recherche- und Analyseaufwands häufig unterschätzt. Ungeübte oder technologisch nicht versierte Personen finden meist nicht alle relevanten und nutzenstiftenden Hinweise. Eine isolierte Publikations- und Patentanalyse versperrt die Möglichkeit der Einbeziehung bislang nicht explizierter Einschätzungen, beispielsweise seitens ausgewiesener Experten. Patentanalysen werden noch zu häufig ausschließlich im Rahmen der Überlegungen zu Schutzrechtsverletzungen und zu wenig für die Technologievorausschau und Technologieplanung eingesetzt. <?page no="31"?> 1 Problemstellung: Kreative Erzeugung von Ideen und Problemlösungsansätzen möglichst abseits bekannter Lösungsvarianten Zielgruppe: Technologieplaner, F&E-Mitarbeiter, Geschäftsfeldplaner, Produktmanager, Kreativgruppen Voraussetzungen: Kreatives Umfeld, interdisziplinäre Gruppe und Abwesenheit dominanter Vorgesetzter Zielsetzung des Brainstormings und Brainwritings Die Methoden Brainstorming und Brainwriting zählen zu den etablierten Kreativitätstechniken, wobei man unter Kreativität die Fähigkeit versteht, etwas Neues, Nützliches oder Unerwartetes zu schaffen. Inwiefern diese menschliche Fähigkeit durch eine Methode angeregt, erhöht oder zum gewünschten Zeitpunkt in erhoffter Weise erzeugt werden kann, ist eine viel diskutierte Frage. Einerseits lassen sich zahlreiche Beispiele finden, die belegen, dass Menschen ohne Anwendung etablierter Kreativitätstechniken kreativ in ihrem Denken und Handeln sein können. Andererseits zeigt die Praxis, dass es Menschen gibt, die nur über unterdurchschnittlich ausgeprägte kreative Fähigkeiten verfügen. Inwiefern Kreativitätstechniken in diesen Fällen Nutzen stiften, kann nicht abschließend beantwortet werden. Allerdings ist davon auszugehen, dass in Unternehmen zahlreiche Mitarbeiter beschäftigt sind, die sich selbst als nicht besonders kreativ einstufen, die jedoch über ein Kreativitätspotenzial verfügen, das durch den Einsatz entsprechender Methoden aktiviert werden kann. Mit Hilfe von Kreativitätstechniken will man abseits bisheriger Problemlösungswege neue Pfade anlegen und in bislang nicht bearbeitetes Terrain vordringen. Sie finden vielfach Anwendung, werden jedoch gelegentlich zu unsystematisch und zu oberflächlich eingesetzt, was teilweise zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Kreativitätstechniken kommen immer dann zum Einsatz, wenn Neuartiges hervorgebracht werden soll - neue Geschäftsideen, neue Produkte, neue Technologien, neue Prozesse oder neue Organisationsformen. Sie zielen weniger auf eine analytisch-systematische Problemlösung als vielmehr auf die Stimulierung des kreativen Potenzials von Mitarbeitern. Abbildung 12 macht die Abgrenzung von Kreativitäts- und analytischen Problemlösungstechniken deutlich. Bei der Anwendung von Brainstorming und Brainwriting in Gruppen soll ein kreativer Fluss durch Kopplung verschiedenartiger Denk- und Lösungsweisen initiiert werden. Man erhofft sich Vorschläge, die von aktuellen Lösungsmustern abweichen. Gerade in Unternehmen, die sich in dynamischen Umfeldern und Wettbewerbssituationen befinden, sind radikale Innovationen oft Voraussetzung für die langfristige Überlebenssicherung der Organisation. Aber auch Unternehmen in vermeintlich stabilen Umgebungen und traditionellen Branchen sollten die Gefahr von Substitutionsprodukten nicht unterschätzen und daher permanent nach neuen Lösungen suchen. 1.3 Brainstorming und Brainwriting 31 1.3 Brainstorming und Brainwriting <?page no="32"?> 32 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Abbildung 12: Problemlösungstechniken Beschreibung des Brainstormings und Brainwritings Die Methoden Brainstorming und Brainwriting sind Kreativitätstechniken, die aus methodischer Sicht keine hohen Anforderungen an die Teilnehmer stellen. 38 Dies ermöglicht ihren schnellen Einsatz auch bei Mitarbeitern, die bislang nicht mit der Erzeugung von Neuprodukt- oder Neuprozessideen befasst waren. Allerdings hat sich in der Praxis gezeigt, dass die Techniken nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn einige Regeln bei der Durchführung beachtet werden: So empfiehlt sich der Einsatz eines mit der Methode vertrauten Moderators, der auf die Einhaltung der formalen Vorgaben drängt. Bei diesem Hinweis regt sich gelegentlich Widerstand: Kann Kreativität durch die Einhaltung starrer Regeln befördert werden, oder wird sie dadurch nicht gerade eingeschränkt? Der Moderator soll und kann keinen einheitlichen Weg zur Kreativität beschreiben und soll auch keinen Teilnehmer auf einen bestimmten Pfad zwingen. Vielmehr sorgt er für eine Atmosphäre, die das Entstehen von Kreativität unterstützt. Ein derartiges Klima ist beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass keine Kritik an den artikulierten Vorschlägen geübt, keine Bewertung oder Priorisierung von Ideen vorgenommen und keine Reputationswettbewerbe ausgetragen werden. 39 Es soll zu einem freien Äußern von Gedanken aller Teilnehmer kommen, wobei Äußerungen anderer Teilnehmer als Ausgangspunkte für eigene, weitere kreative Überlegungen genutzt werden können. Zahlreiche 38 Brainstorming wurde durch Osborn (1963) der wissenschaftlichen Diskussion zugeführt. 39 Vergleiche Schlicksupp (1992, S. 103 f). <?page no="33"?> 1.3 Brainstorming und Brainwriting 33 1 Ideen werden in der artikulierten Form nicht durchführ- oder umsetzbar sein. Aber gerade das Ausblenden der Machbarkeitsforderung lässt für gewöhnlich Ideen entstehen, die ein hohes Maß an Neuartigkeit aufweisen und die unter Umständen leicht modifiziert realisiert oder durch nachgeschaltete Anpassungsprozesse in eine ausführbare Form gebracht werden können, was möglicherweise zunächst gar nicht so eingeschätzt worden war. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Bei der Erzeugung neuer Leistungsangebote, also beim Entwickeln neuer Produkte und Dienstleistungen, nutzen Unternehmen immer wieder Kreativitätstechniken. Diese werden in unterschiedlichen Gruppen und Teams eingesetzt: Vielfach bittet man Anwender und Kunden um Impulse für neue Produktfunktionen oder fordert Mitarbeiter aus dem Produktionsbereich auf, Vorschläge für die Neuproduktgestaltung zu unterbreiten - beispielsweise mit dem Ziel einer erhöhten Produktionsgerechtigkeit. In anderen Fällen kommen Forschungs- und Entwicklungsmitarbeiter oder crossfunktionale Teams aus Forschung und Entwicklung, Marketing, Produktion oder Controlling zusammen, um neue Produktideen zu kreieren. Diesen Prozess des Brainstormings kann man in sechs Phasen gliedern, die in Abbildung 13 dargestellt sind. Abbildung 13: Phasen des Brainstormings Zu Beginn eines Brainstormingbeziehungsweise Brainwriting-Vorhabens steht die Abgrenzung des Arbeitsgegenstandes und die Entwicklung einer Aufgabenstellung: Wofür wird eine neue Lösung gesucht? Eine klare Problemeingrenzung hilft dabei, gute Lösungen für die zentrale Herausforderung zu finden. Benötigt ein Automobilhersteller Ideen für ein neues Antriebskonzept, sollte er nicht formulieren: „Wie sieht das Auto der Zukunft aus? “ Dies könnte zu durchaus innovativen Ideen in Bezug auf Bremssysteme, Bedienungssystemanordnung oder Einstiegsunterstützung führen, <?page no="34"?> 34 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement unter Umständen aber keinen neuen Ansatz für die Hauptherausforderung „Antriebskonzept“ hervorbringen. Nach der Definition der Aufgabenstellung erfolgt die Auswahl der Teilnehmer. Eine heterogene Teilnehmerschaft entwickelt in der Regel eine Vielzahl an Lösungsansätzen und verhindert das Verbleiben in traditionellen Lösungskorridoren. So können etwa Biologen durch ihre Kenntnis der Fortbewegungsmechanismen von Lebewesen innovative Ansätze für Automobilantriebe einbringen. Auch wenn Interdisziplinarität und Heterogenität der Teilnehmer Voraussetzungen zur Entwicklung zielführender Ansätze darstellen, scheint die Einbeziehung von Personen ohne jeglichen Bezug zur Thematik nicht zielführend. Das heißt, man wird in der Praxis eher nicht auf Finanzmarktexperten oder Juristen zurückgreifen, um Ideen für innovative Automobilantriebskonzepte zu erhalten. Insofern sind bei der Gruppenzusammensetzung stets beide Kriterien in den Blick zu nehmen: Heterogenität und Themenbezug. Daran anknüpfend wird man die Zusammenkunft der Teilnehmer organisieren, den Moderator bestimmen - gelegentlich werden bei überwiegend unerfahrenem Teilnehmerfeld vorbereitende Übungen eingeflochten - und den Workshop unter Einhaltung kreativitätsfördernder Regeln durchführen. 40 Abbildung 14 enthält einen Auszug bewährter Regeln. Das Festhalten der in der Kreativsitzung erzeugten Ideen erleichtert die spätere Bewertung. Das Protokollieren der Ideen im Rahmen einer Brainstormingsitzung kann an Moderationswänden durch Mindmaps oder durch Videoaufzeichnungen erfolgen. Beim Brainwriting werden die Ideen nicht ausgesprochen, sondern aufgeschrieben, so dass hier eine gesonderte Aufnahme im Moment der Artikulation nicht erfolgt. Allerdings ist beim Brainwriting die Archivierung der Ideenblätter für die spätere Verarbeitung der Ansätze von großer Bedeutung. Abbildung 14: Verhaltenshinweise für Brainstorming-Sitzungen Eine besondere Form des Brainwritings stellt die Methode 6-3-5 dar. Hier beteiligen sich sechs Akteure an der kreativen Ideenfindung. Sie schreiben je drei Lösungs- 40 Vergleiche Majaro (1993, S. 176). <?page no="35"?> 1.3 Brainstorming und Brainwriting 35 1 ansätze auf, bevor die formulierten Ansätze an den jeweils benachbarten Teilnehmer weitergereicht werden, der die Ideen des Vorgängers aufgreift und durch eigene Ideen anreichert. Die Weitergabe der Ideenblätter erfolgt fünfmal, so dass jeder Teilnehmer jedes Ideenblatt einmal bearbeitet. 41 Der Name 6-3-5 umfasst die wesentlichen Charakteristika der Methode: sechs Teilnehmer, drei Ideen, fünfmalige Weitergabe. Weiterführende Hinweise Unterschiedliche Fächerkulturen, aber auch ungleiche Herkunft und Verschiedenartigkeit hinsichtlich Alter und Geschlecht können die Kreativitätsentstehung positiv beeinflussen, wenn es gelingt - und darauf muss oft aktiv hingewirkt werden -, Vorurteile und Denkbarrieren abzubauen. Aus der Praxis ist allerdings auch bekannt, dass die Zusammenführung von Personen unterschiedlicher Hierarchiestufen eines Unternehmens negative Effekte auf die Ergebnisse haben kann. Denn es kann einerseits passieren, dass Vorgesetzte Brainstorming- oder Brainwriting-Sitzungen dominieren und - explizit oder implizit - deutlich machen, dass sie keine abweichenden Meinungen dulden. Andererseits könnten Mitarbeiter Lob bei Artikulation von Ideen erwarten, die in das Weltbild des Chefs passen, oder Sanktionen befürchten, wenn sie unpopuläre Ansichten vertreten. Alle Gedanken dieser Art behindern die Entfaltung von Kreativität, da sie berechnend und nutzenorientiert sind und eher unternehmensinterne Strukturen und Verhaltensweisen widerspiegeln, als den zur Diskussion stehenden Sachverhalt in den Mittelpunkt zu rücken. 41 Vergleiche Rohrbach (1971, S. 84 f). <?page no="36"?> 36 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.4 Morphologischer Kasten Problemstellung: Erarbeitung neuer Problemlösungen und Entwicklung alternativer Produkt- oder Verfahrensvarianten auf analytischem Weg Zielgruppe: F&E-Mitarbeiter, Produktionsprogrammplaner, Geschäftsfeldleiter, Stabsmitarbeiter, Produktmanager Voraussetzungen: Analytisches Geschick, kreatives Umfeld, interdisziplinäre Gruppe und Abwesenheit dominanter Vorgesetzter Zielsetzung des morphologischen Kastens Der morphologische Kasten wird im Rahmen der Ideenerzeugung im Innovationsmanagement eingesetzt. Die Methode zählt zur Gruppe der analytischen Problemlösungstechniken. Es sollen - ähnlich wie bei den Kreativitätstechniken - neue Produkte oder Prozesse erarbeitet werden, die eine Marktpositionierung erlauben, die sich deutlich von denen der Wettbewerber unterscheidet. Im Fall neuer Produkte erhofft man sich, zu erhöhter Wahrnehmung, gesteigerter Nachfrage und vergrößerter Zahlungsbereitschaft seitens aktueller und potenzieller Kunden zu gelangen. Die Liste der mit dieser Methode verbundenen Erwartungen lässt schon vermuten, dass umfangreiche Neuerungen im Leistungsangebot erforderlich sind und nicht nur geringe Modifikationen oder Designänderungen. Der morphologische Kasten unterstützt die neuartige Gestaltung des Leistungsangebotes in mehreren Dimensionen und zielt nicht auf die isolierte Veränderung eines einzelnen Subsystems. Beschreibung des morphologischen Kastens Der morphologische Kasten 42 zerlegt ein Objekt, beispielsweise ein reales oder ein in Planung befindliches Produkt, in seine Bestandteile. Diese Bestandteile können Module, Komponenten oder Funktionen sein. Für jede einzelne Funktion werden verschiedenartige technische Ausgestaltungsmöglichkeiten aufgenommen. So entsteht ein morphologischer Kasten mit vielen Zeilen. In jeder Zeile findet sich eine Funktion, während in den entsprechenden Spalten die jeweiligen Ausgestaltungsalternativen aufgeführt werden. Die Anzahl der Spalten kann zwischen den Zeilen variieren. Das zu entwerfende Produkt soll alle verzeichneten Funktionen aufweisen - also alle Zeilen berücksichtigen. Die Alternativen unterscheiden sich hinsichtlich der Nutzung der konkreten Ausführungsmöglichkeiten, die durch die Spalten repräsentiert werden. Vielfach werden zu diesem Zweck Profillinien durch den morphologischen Kasten gelegt, die anzeigen, auf welche Ausprägungsalternativen einzelner Dimensionen die konkrete Produktvariante zugreift. Abbildung 15 enthält einen morphologischen Kasten für das Beispiel „Uhr“ und illustriert verschiedene Produktalternativen und entsprechende Profillinien. 42 Die Entwicklung zu einem schlüssigen Ansatz erfolgte durch Zwicky (1966). <?page no="37"?> 1.4 Morphologischer Kasten 37 1 Abbildung 15: Beispiel eines morphologischen Kastens Der Nutzen des morphologischen Kastens besteht darin, dass man sehr unterschiedliche und auch sehr innovative Produktalternativen erzeugen und gedanklich durchspielen kann. Dabei wird nicht originär auf Kreativität, sondern auf analytische Zerlegung und systematische Kombination von Merkmalsausprägungen gesetzt, um neuartige Objekte zu kreieren. 43 Insofern verfolgt man mit dem morphologischen Kasten ähnliche Ziele wie mit den Kreativitätstechniken, schlägt aber einen anderen Weg der Entwicklung von Lösungen ein. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Der morphologische Kasten wird häufig in technischen Entwicklungsbereichen und in der Produktplanung eingesetzt. Das Instrument unterstützt sowohl das Erzeugen neuer Produkte als auch das Hervorbringen modifizierter Varianten oder die Weiterentwicklung bestehender Leistungsangebote. Vor allem Ingenieure, die in analytischsystematischem Denken geschult sind, empfinden die Methode als effizient und zielführend. Ihnen fällt es häufig leicht, komplexe Konstrukte in ihre Dimensionen zu zerlegen und Ausgestaltungsalternativen für jede Merkmalsebene zu erzeugen. Auf diese Art und Weise können komplexe Objekte auch für Nicht-Techniker verständlich gemacht werden. Das Durchkombinieren von Merkmalsausprägungen ist in der Regel ohne größeren Zeitaufwand möglich. Somit stellt sich vielfach das Gefühl ein, mit dieser Methode schneller voranzukommen, als mit dem gegebenenfalls in abgehobenen Sphären schwebenden Brainstorming. 43 Vergleiche Henderson & Clark (1990, S. 10 ff). <?page no="38"?> 38 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement In der Praxis werden beide Ansätze auch parallel genutzt. Vor allem unter Zeitdruck versuchen Unternehmen durch Beauftragung mehrerer Teams - zum Beispiel eines mit kreativem, eines mit analytisch-systematischem Ansatz -, die Trefferwahrscheinlichkeit der Bemühungen zu erhöhen. Allerdings verschwimmen in der Realität immer wieder die Grenzen zwischen den einzelnen Verfahren. So nutzt man Kreativitätstechniken zur Erzeugung eines morphologischen Kastens, wenn man verschiedene Merkmalsausprägungen für einzelne Merkmalsebenen sucht und dabei nicht nur auf bekannte, sondern auch auf neue Lösungen abzielt. Das Vorgehen der Methode gliedert sich in fünf Schritte, die in Abbildung 16 im Überblick dargestellt sind. Abbildung 16: Vorgehensweise zur Erstellung eines morphologischen Kastens Wie bei den meisten Verfahren, muss man zunächst das zu behandelnde Objekt abgrenzen und beschreiben. Dann sollte eine Arbeitsgruppe aus technischen und Marktbeziehungsweise Anwendungsexperten gebildet werden. Diese zerlegen das Objekt in seine Funktionen beziehungsweise Merkmale und beschreiben anschließend eine hinreichende Anzahl von Merkmalsausprägungen. Daran anknüpfend werden die Objektausprägungsalternativen durch Kombination von Ausprägungen der Merkmalsebenen erzeugt. Abschließend erfolgt eine Bewertung und Priorisierung der Objektalternativen. Im Rahmen der Bewertung beleuchtet man technische, marktbezogene und organisatorische Aspekte. Das heißt, man prüft beispielsweise, ob eine bestimmte Variante kurzfristig produzierbar ist, ob weitere Entwicklungen auf Komponenten oder Systemebene erforderlich sind oder ob ausreichend Kompetenzen oder Kooperationspartner zur Realisierung der Entwicklungen zur Verfügung stehen. <?page no="39"?> 1.4 Morphologischer Kasten 39 1 Weiterführende Hinweise Der morphologische Kasten kann seine Unterstützungswirkung beim Finden einer Problemlösung, beispielsweise eines Vorschlags für ein neues Produkt, nur dann ausreichend entfalten, wenn alle relevanten Merkmalsebenen, Dimensionen und Funktionen des Objektes ausgewiesen werden, eine mit Blick auf aktuelle oder zukünftige Lösungen adäquate, vollständige und umfassende Darstellung potenzieller Merkmalsausprägungen gelingt, eine große Zahl von Merkmalsausprägungen kombiniert wird und diese Merkmalskombinationen als Objektalternativen zur Wahl stehen. Ähnlich wie bei den Kreativitätstechniken werden vor allem dann gute Ergebnisse erzielt, wenn der morphologische Kasten in interdisziplinären Arbeitsgruppen eingesetzt und entwickelt wird. <?page no="40"?> 40 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.5 Synektik Problemstellung: Erarbeitung unkonventioneller Lösungen und Ausbrechen aus bislang genutztem Lösungsraum Zielgruppe: Technologieentwickler, Innovationsmanager, F&E-Projektleiter, Produkt- und Prozessmanager Voraussetzungen: Vertrautheit mit Kreativitätstechniken, erfahrener Moderator und hinreichende Ressourcenausstattung Zielsetzung der Synektik Die Synektik soll die Ideenfindung - beispielsweise bei der Technologieentwicklung und Produktplanung, aber auch bei Prozessinnovationen - unterstützen. Oftmals gelingt es Mitarbeitern in Innovationsprojekten nicht, radikale Neuerungen hervorzubringen, da sie sich zu stark im traditionellen beziehungsweise gewohnten Lösungsraum bewegen. Sie sind gewissermaßen Gefangene ihrer fachlichen Prägung und ihrer Erfahrungen. Daher erzeugen sie Lösungen für gestellte Herausforderungen, die häufig nicht optimal sind. An diesem Punkt setzt die Synektik als anspruchsvolle Kreativitätstechnik an. Mittels Synektik sollen der Lösungsraum erweitert und Neuerungen gefunden werden, die man im Vorfeld nicht erkennt beziehungsweise nicht erkennen kann. Beschreibung der Synektik Der Grundansatz der Synektik 44 liegt im Verständnis kreativer Prozesse begründet: Vielen Menschen ist die Situation vertraut, dass in Phasen angestrengter Überlegung - gegebenenfalls auch in Arbeitsgruppen - keine überzeugenden oder neuartigen Ideen zustande kommen, während einige Zeit später - bei der Gartenarbeit, beim Joggen oder Tennisspielen - geniale Ideen oder adäquate Lösungsmöglichkeiten entstehen. Diese Erfahrungen decken sich mit den Ergebnissen umfangreicher Analysen. 45 Es scheint ein typisches Kennzeichen für Kreativabläufe zu sein, dass zunächst eine intensive Auseinandersetzung mit der Herausforderung erfolgt, anschließend eine Entfernung vom Problem stattfindet - durch andere Tätigkeiten oder Ortswechsel - und schließlich unwillkürlich eine Lösungsidee aufkommt. 46 Dieses kognitive Grundmuster greift die Synektik auf und will den ansonsten eher zufälligen Vorgang methodisch herbeiführen. Bekanntes soll verfremdet und Fremdes soll vertraut gemacht werden. Die Verfremdung - durchaus mehrstufig angelegt - soll das gedankliche Verlassen des angestammten Lösungsraumes ermöglichen und somit die beschriebene Entfernung vom zu bearbeitenden Problem unterstützen. Die aus 44 Vergleiche Gordon (1961). 45 Vergleiche Vahs & Brem (2013, S. 272). 46 Vergleiche Corsten, Gössinger & Schneider (2006, S. 111). <?page no="41"?> 1.5 Synektik 41 1 dem erweiterten Lösungsfeld stammende Idee überträgt man schließlich auf das Ursprungsproblem. Dieses Grundprinzip und die entsprechenden Prozessstufen der Synektik illustriert Abbildung 17. Abbildung 17: Grundprinzip der Synektik Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Synektik kann man in vielen Bereichen einsetzen, insbesondere dort, wo es um die Erzeugung unkonventioneller Lösungen geht. Dies ist vor allem im Technologie- und Innovationssowie im Forschungs- und Entwicklungsmanagement gefordert. Sie wird beispielsweise bei der Suche nach neuartigen Produktfunktionen, bei der Entwicklung revolutionärer technologischer Mechanismen oder beim Design von Alternativen für bestehende Prozesse genutzt. Die Synektik eignet sich vor allem, wenn extrem andersartige Lösungen, abseits bestehender Lösungsmuster gefragt sind. Zur Initiierung kontinuierlicher Verbesserungen und inkrementeller Weiterentwicklungen von bewährten und geschätzten Lösungen ist sie weniger geeignet. Abbildung 17 macht deutlich, dass die Bildung von Analogien im Rahmen der Synektik breiten Raum einnimmt. Die Bildung von Analogien 47 erweist sich als erfolgskritischer Aspekt. Gelingen adäquate Analogiebildungen nicht, wird man kaum gute Ergebnisse erzielen, da erst durch Analogien die Verfremdung gesteuert werden kann. Es sind unterschiedliche Formen von Analogien denkbar. Häufig werden die in Abbildung 18 dargestellten Analogiearten benannt. 48 Bei der Form der persönlichen Analogie steht die Identifikation des einzelnen Individuums mit den Einzelheiten des Prob- 47 Vergleiche zur Vielseitigkeit der Einsatzmöglichkeiten der Analogiemethode Horton & Görs (2017, S. 15 ff). 48 Vergleiche Geschka & Lantelme (2005, S. 292 f). <?page no="42"?> 42 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement lems im Mittelpunkt. Daraus soll sich eine gefühlsmäßige Projektion ergeben. Bei der direkten Analogie steht das Finden von Gemeinsamkeiten zwischen dem Problem und anderen Erscheinungen im Fokus des Problemlösers. Die symbolische Analogie versucht, in der ästhetischen und poetischen Sphäre Vergleichsobjekte aufzuspüren. Bei der Analogie durch Phantasie wird von der Annahme ausgegangen, dass Kunstschaffende aktiv sind, um in ihren Werken eigene Bedürfnisse - hier in verfremdeter Weise - zu befriedigen. Abbildung 18: Analogiearten In der Praxis - insbesondere im technologischen Umfeld - versucht man bei der Analogiesuche recht häufig, Phänomene in der Natur zu berücksichtigen, die als Impulsgeber für neue Lösungen dienen können. So wird ein bekanntes Objekt oder Problem zunächst in seine Funktionen zerlegt, bevor man für die einzelnen Funktionen in der Natur oder in anderen Technikbereichen nach Lösungsmöglichkeiten sucht. Die gefundenen Lösungsansätze werden dann in ihrer grundsätzlichen Wirkungsweise beschrieben und das Grundprinzip auf die zu lösende Aufgabe übertragen und so angepasst, dass das Betrachtungsobjekt schließlich über das gewünschte Merkmal verfügt. Zahlreiche Beispiele sind bekannt, die auf diesem Weg zu technischen Neuerungen und Verbesserungen geführt haben: So lässt man sich bei Schiffsrumpfgestaltungen von Fischformen oder bei schmutzunempfindlichen Gebäudefassadengestaltungen von Wüstenpflanzen und deren spezifischen Oberflächen inspirieren. Weiterführende Hinweise In der Praxis sehen sich Moderatoren von Synektikgruppen häufig mit der Forderung nach schnellen Lösungen konfrontiert. Dies kann die Synektik in der Regel nicht leisten. Auch gelingt es typischerweise nicht, im Vorhinein anzudeuten, aus welchem Bereich eine potenzielle Lösung stammen könnte, um das Management in die Lage zu versetzen, etwaige Vorbereitungen bereits zu treffen. Die Methode beansprucht eine gewisse Zeit, sollte durch erfahrene Personen umgesetzt werden, bedingt die Beach- <?page no="43"?> 1.5 Synektik 43 1 tung förderlicher Regeln - zum Beispiel keine Kritik an den Ideen während der Sitzung - und ist ergebnisoffen. Die Analogiebildung nimmt eine Schlüsselrolle im gesamten Verfahren ein. Misslingen die mehrstufige Analogiebildung und das schrittweise Verlassen des ursprünglichen Lösungsraumes, werden keine innovativen Ideen erzeugt. Auf diese Grundlogik müssen Synektik-Gruppen und Synektik-Moderatoren immer wieder verweisen. Das frühzeitige Adaptieren naheliegender, vielleicht auch machbarer Lösungen, sollte nicht vorschnell erfolgen, da eine detaillierte Suche in der Regel bessere Lösungen erzeugt. Allerdings sind dafür Ressourcen - Zeit, Personal und gegebenenfalls Sachmittel - bereitzustellen, da die Analyse von Wirkungsweisen und Wirkungsmechanismen in der Natur durchaus aufwändig sein kann. <?page no="44"?> 44 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.6 TRIZ Problemstellung: Lösung komplexer, vorwiegend technologischer Probleme mittels systematischer Erfindertätigkeit Zielgruppe: Technologieplaner, Innovationsmanager, F&E-Mitarbeiter, F&E- Leiter, Produktmanager Voraussetzungen: Vertrautheit mit Kreativitätstechniken, hinreichende Methodenkenntnis, gute analytische Fähigkeiten und präzise Problembeschreibung Zielsetzung von TRIZ TRIZ ist eine Methode zum erfinderischen Problemlösen oder zum planmäßigen Erfinden. Sie kombiniert analytische und intuitive Elemente und zielt auf die Lösung bedeutsamer Probleme ab. Für einfache Herausforderungen, die keiner originären Erfindung bedürfen, ist die Methode nicht geeignet. Ebenso stiftet TRIZ im Bereich der Grundlagenforschung keinen Nutzen, in dem es auf die Entdeckung grundlegender naturwissenschaftlicher Zusammenhänge ankommt. Sie ist vielmehr auf die klassische Erfindungstätigkeit ausgerichtet. Die Methode unterstützt Ingenieure, aber auch andere Problemlöser bei der Erzeugung innovativer Ansätze. TRIZ bietet ein Repertoire an Lösungswegen, das die Entwicklung von Neuartigem unterstützen soll. Dabei steht nicht die Kreativität im Mittelpunkt, sondern die Überzeugung, dass technische Entwicklungen - egal aus welchem Fachgebiet oder mit welchem Neuerungsumfang - einer gewissen Logik folgen und dass man die dieser Logik zugrundeliegenden Prinzipien auch auf andere Probleme anwenden und damit Neuartiges hervorbringen kann. Der Erfinder wird mit Hilfe der Methode inspiriert, in bestimmte Lösungsräume vorzudringen und spezielle Lösungsansätze zu erproben, um schließlich konkrete Lösungen selbst zu kreieren. In TRIZ geschulte Mitarbeiter können in der Praxis sehr effektiv und effizient Erfindungen hervorbringen. Beschreibung von TRIZ Die Bezeichnung TRIZ wurde aus dem Russischem übertragen: TRIZ steht für das Akronym ТРИЗ und dieses für теория решения изобретательских задач, was so viel wie Theorie des erfinderischen Problemlösens bedeutet. TRIZ verbindet ein systematisches Vorgehen mit kreativen Elementen, ermöglicht in gewissem Maße die Schul- und Erlernbarkeit von Erfindungstätigkeit und verhindert ein unkoordiniertes Herumstochern im vermeintlichen Lösungsraum durch Versuch und Irrtum. Die Methode geht auf den russischen Ingenieur und Wissenschaftler Genrich Saulowitsch Altschuller zurück. Durch umfangreiche Patentanalysen - die auch nach Altschuller Fortsetzung fanden - kam er zu dem Schluss, dass sich technische Systeme erstens gemäß bestimmter verallgemeinerbarer Muster entwickeln, dass Erfindungen zweitens immer wieder die Auflösung von Widersprüchen innewohnt und dass drit- <?page no="45"?> 1.6 TRIZ 45 1 tens ein vergleichsweise geringer Umfang abstrakter Lösungsprinzipien genügt, um eine Vielzahl von Erfindungen zu erklären. 49 Offenkundig waren diese Erkenntnisse dazu geeignet, eine Art Algorithmus für erfolgreiche Erfindertätigkeit abzuleiten. Altschuller formulierte acht Gesetze der Entwicklung von technischen Systemen, die es erlauben, technologische Entwicklungen nachzuvollziehen und auch vorauszudenken. Sie bilden gewissermaßen Evolutionsmuster technischer Systeme. Im Folgenden sind die acht Gesetze angeführt: 50 [1] Gesetz zur Vollständigkeit der Teile eines technischen Systems, [2] Gesetz zur energetischen Leitfähigkeit eines technischen Systems, [3] Gesetz zur Rhythmik der Teile eines technischen Systems, [4] Gesetz zur Erhöhung des Grades der Idealität eines technischen Systems, [5] Gesetz zur Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Teile eines Systems, [6] Gesetz zum Übergang in ein Obersystem, [7] Gesetz zum Übergang von der Makroebene zur Mikroebene, [8] Gesetz zur Erhöhung des Anteils von Stoff-Feld-Systemen. So besagt etwa das erste Gesetz, dass ein technisches System nur lebensfähig ist, wenn es über alle seine Hauptbestandteile verfügt und mindestens eine minimale Funktionsfähigkeit aufweist. Das vierte Gesetz beschreibt, dass technische Systeme in ihrer Entwicklung zu einem Ideal hinstreben - sie werden ohne Beeinflussung ihrer Grundfunktionalität beispielsweise in Richtung geringer Energiebedarf und geringerer Bauraum entwickelt. Das fünfte Gesetz macht deutlich, dass die Entwicklungsgeschwindigkeiten der Teile eines Systems in der Regel unterschiedlich ausfallen. Das sechste Gesetz geht von der Erkenntnis aus, dass bei Erreichen der Entwicklungsgrenze eines Systems dieses in ein Obersystem integriert wird und die Weiterentwicklung auf Obersystemebene erfolgen kann. Gesetz sieben zeigt, dass sich Entwicklungen zuerst auf der Makro- und später auf der Mikroebene vollziehen. Die unvollständige Beschreibung der Gesetze verdeutlicht schon den Leitgedanken, grundlegende und allgemeingültige Entwicklungsmuster aufdecken zu wollen. Die Relevanz dieser Gesetze lässt sich aufgrund ihrer unmittelbaren Verständlichkeit und mit Bezug auf individuelle Erfahrungen problemlos erklären: Technologische Innovationen, deren Peripherie noch nicht entwickelt ist, bleibt die Anwendung versagt (Gesetz 1) - ohne leistungsfähige Energiespeicher und schnelle Lademöglichkeiten entwickelt sich der Elektroautoabsatz nur langsam. Bekannte technologische Systeme wie Fahrzeuge, Kühlschränke oder Waschmaschinen werden auf geringeren Energieverbrauch getrimmt (Gesetz 4). Die Sensortechnik - wie auch viele andere Bereiche des Maschinenbaus - entwickelte sich im Makroumfeld und findet seit einiger Zeit verstärkte Anwendung durch Miniaturisierungsanforderungen (Gesetz 7). 49 Vergleiche Pannenbäcker (2001, S. 195 ff). 50 Vergleiche Altschuller (1984, S. 124 ff). <?page no="46"?> 46 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Anwendungsbereich und Anwendungsprozess TRIZ-Anwendungsfelder sind insbesondere im Rahmen der Ideenerzeugung und der Innovationsschöpfung zu sehen. Die Methode lenkt den Blick in gegebenenfalls zuvor nicht bekannte Richtungen. Aber auch im Rahmen von Technologieanalysen wie in der Technologievorausschau kann TRIZ Einsatz finden. Wird doch in der Technologievorausschau versucht, die künftige technologische Entwicklung vorherzusehen. Zu diesem Zweck werden verschiedene Informationsquellen ausgewertet und schwache Signale gesucht und interpretiert, also Indizien, die auf eine bestimmte Entwicklung hindeuten. Häufig gelingt es nicht, ausreichend viele und zuverlässige Quellen für schwache Signale aufzuspüren und zu nutzen. In dieser Situation kann man mittels TRIZ vorausdenken und antizipieren, welche Entwicklungsrichtungen der Technologien möglich wären. Häufig wird der Analytiker damit nicht ganz verkehrt liegen, weil auch Entwickler TRIZ zur Realisierung ihrer Entwicklungstätigkeit nutzen. In der Unterstützung der Entwicklungstätigkeit in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen besteht das Hauptanwendungsfeld der Methode, wie in Abbildung 19 verdeutlicht. Abbildung 19: Einsatzfelder der TRIZ-Methode In Theorie und Praxis existieren Vorgehensmodelle zur Problemlösung mit TRIZ, die als zentralen Ansatz die Überwindung von Widersprüchen nutzen. Dabei geht man von der Annahme aus, dass Neuerungen konflikt- und widerspruchsgeladen sind. Zur Überwindung der Widersprüche wird ein mehrstufiges Umformungssystem bereitgehalten, das 40 Verfahrensprinzipien zur Lösung technischer Widersprüche umfasst. 51 Diese vierzig Prinzipien entstammen intensiver Patentanalyseaktivitäten. Die Sichtung und Durchdringung einer Vielzahl von Patentoffenlegungsschriften führten zu der Erkenntnis, dass immer wieder ähnliche Prinzipien der Entwicklung genutzt werden, 52 wobei die Grundsätze durch Abstraktion allgemein formuliert werden konnten. 51 Vergleiche Altschuller (1984, S. 86 ff). 52 Vergleiche Möhrle (2002, S. 131). <?page no="47"?> 1.6 TRIZ 47 1 Eine Widerspruchsmatrix enthält zum einen verschiedene standardisierte Parameter, welche die Entwicklungsaufgabe kennzeichnen können. Zum anderen unterstützt sie die Auswahl der geeigneten Verfahrensprinzipien - vom ersten Prinzip der Zerlegung bis zum vierzigsten Prinzip der Nutzung zusammengesetzter Stoffe - in Abhängigkeit von der jeweils vorliegenden Situation. Besteht zum Beispiel die technische Herausforderung darin, ein langes Objekt sehr stabil auszuführen, ist dies unter Umständen nicht leicht möglich. Beispielhaft sei eine transportable, lange und dünnwandige Rohrleitung genannt. Bei diesem Objekt besteht die Gefahr, dass sie während des Transports knickt. Das heißt, Länge eines beweglichen Objektes (Parameter 3) und Stabilität der Zusammensetzung eines Objektes (Parameter 13) können einen Widerspruch bilden wie in Abbildung 20 dargestellt. Der Entwickler steht vor der Herausforderung, dieses Problem zu lösen. Die Verfahrensprinzipien 1 und 5 - „Prinzip der Zerlegung“ und „Prinzip der Kopplung“ - können dabei helfen. Die Rohrleitung wird nicht aus einem Stück gefertigt, sondern in koppelbare Segmente zerlegt. Somit kann man sehr lange Leitungen durch Aneinanderkoppeln einer Vielzahl von Rohrsegmenten herstellen. Während des Transports ist die Stabilität des Objektes nicht gefährdet, da die Segmente vorher entkoppelt werden und dadurch nicht der Knickgefahr unterliegen. Abbildung 20: TRIZ-Widerspruchsmatrix Durch das Beschreiben der Situation mittels der Parameter und unter Anwendung der empfohlenen Verfahrensprinzipien lassen sich verschiedene Problemlösungen finden. Das Verfahrensprinzip legt dabei noch nicht die vollständige Lösung offen, sondern stimuliert die Kreativität, welche die konkrete Ausgestaltung der Problemlösung hervorbringen soll. <?page no="48"?> 48 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Weiterführende Hinweise Vor dem Hintergrund der durch TRIZ-basiertes Erfinden erzielten Erfolge werden gelegentlich sehr hohe, teilweise unrealistische Forderungen an die Methode gestellt. TRIZ kann die Problemlösung im technischen Bereich unterstützen, aber nicht das Finden einer optimalen Lösung garantieren. Auch die Forderung, betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte innerhalb des Entwicklungsprozesses zu berücksichtigen, kann TRIZ nicht erfüllen, da es nicht das primäre Ziel dieser Methode ist, Kosten- und Nutzenaspekte in ein optimales Verhältnis zu bringen. Die unterschiedlichen Verfahrensprinzipien bilden einerseits einen großen Raum an verschiedenen Lösungsmodellen und dürften damit die vom Erfinder gesehenen Lösungsmöglichkeiten erweitern. Andererseits beschränken sie möglicherweise durch das Aha-Erlebnis, wie unerwartet groß der Lösungsraum durch TRIZ ist, das Denken in andere Richtungen. Wie bei nahezu jeder betriebswirtschaftlichen Methode können nur geschulte und im Umgang mit dem Instrument erfahrene Anwender das Potenzial der Methode zur Gänze nutzen. Dies scheint insbesondere für TRIZ zuzutreffen. Allerdings besteht bei umfassenden Methoden wie TRIZ die Tendenz zur Abgeschlossenheit. Geschulte TRIZ-Anwender verstehen sich häufig als TRIZianer und als Apostel dieses Ansatzes und schotten sich gegenüber anderen Lösungsansätzen und Vorgehensweisen ab. Hierin liegt eine Gefahr für Unternehmen. Denn diese sollen nicht nur innovative Produkte und Verfahren, sondern auch die betriebswirtschaftliche Planung und den Innovationsprozess betreffende Neuerungen hervorbringen. Einer möglichen retardierenden Wirkung der Fangemeinde einer einzelnen Problemlösungstechnik sollte man durch methodische Heterogenität im Innovationswesen begegnen. <?page no="49"?> 1 1.7 Technologielebenszyklus und S-Kurve 49 1.7 Technologielebenszyklus und S-Kurve Problemstellung: Bewertung von Gegenwarts- und Zukunftstechnologien, Zuweisung von F&E-Projektbudgets und Bewertung von Produktprogrammen Zielgruppe: F&E-Leiter, Produktprogrammmanager, Produktionstechnologen, Fabrikplaner, Technologie-Controller Voraussetzungen: Möglichkeit zur objektiven Bewertung der Leistungsfähigkeit von Technologien und Beschaffung von Daten zu F&E-Aufwendungen Zielsetzung des Technologielebenszyklus und der S-Kurve Lebenszyklusmodelle haben sich in vielen Bereichen der strategischen Analyse und Planung als hilfreiche Instrumente etabliert. 53 In der Produktplanung wird mit Hilfe des Gedankenmodells und der dazugehörigen Darstellung vom Produktlebenszyklus verdeutlicht, in welcher Lebensphase sich ein Produkt befindet. Wie in Kapitel 5.8 erörtert wird, lassen sich daraus spezielle Marketingmaßnahmen, aber auch die Anforderungen an die Produktentwicklung für zum Beispiel Nachfolgemodelle der aktuellen Produkte ableiten. Auch ganze Unternehmen, Märkte, Branchen oder Kooperationen können unter dem Blickwinkel des Lebenszyklus betrachtet werden. Somit stellt sich auch bei aktuellem Wachstum eines Objektes die Erkenntnis ein, dass Höhenflüge von Planungsgegenständen endlich sind. Das Lebenszyklusmodell stammt nicht aus der Betriebswirtschaftslehre, sondern wurde der Biologie entlehnt. Der Gedanke war so griffig, verständlich und leicht kommunizierbar und erwies sich als auf betriebswirtschaftliche Planungsgegenstände übertragbar, dass die Adaption und Ausbreitung innerhalb der Betriebswirtschaftslehre zu Selbstläufern wurden. Auch im Rahmen des Technologie- und Innovationsmanagements haben sich Lebenszyklusmodelle durchgesetzt. Ihr primäres Ziel liegt in der Sensibilisierung von Mitarbeitern für die Endlichkeit der Nutzungsdauer von Objekten wie einer Technologie. Die Methode schärft den Blick, dass man nach Fertigstellung des aktuellen Entwicklungsprojektes schon die Entwicklungsaufgabe der nächsten Produkt- oder Technologiegeneration initiieren sollte. Lebenszyklusmodelle unterstützen Akteure in Entscheidungssituationen, die Ressourcenzuweisungen für verschiedene Entwicklungsprojekte zum Gegenstand haben. Soll etwa ein bestimmter Geldbetrag in die Weiterentwicklung und Perfektionierung einer bekannten, in der Anwendung befindlichen Technologie investiert werden, oder sollten diese Mittel für die Entwicklung einer anderen, völlig neuen Technologie Verwendung finden? Beschreibung des Technologielebenszyklus und der S-Kurve Technologielebenszyklen treten in unterschiedlichen Formen auf und nutzen verschiedene Messgrößen. So werden mit dem Begriff des Technologielebenszyklus so- 53 Vergleiche Höft (1992, S. 74 ff). <?page no="50"?> 50 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement wohl Modelle des Technologielebenszyklus im engen Sinne als auch die so genannte S-Kurve umschrieben. Als Technologielebenszyklus im engen Sinne bezeichnet man üblicherweise den Grad der Technologieausbreitung im Zeitablauf. 54 Abbildung 21 illustriert diesen Gedanken. 55 Abbildung 21: Technologielebenszyklus 56 Dabei wird deutlich, dass neue Technologien zu Beginn in der Regel geringe Wachstumsraten aufweisen, da sie beispielsweise noch sehr teuer sind und noch nicht die vollständige Anwendungsreife und geforderte technische Perfektion erreicht haben, oder da die benötigte technische Peripherie noch nicht bereitsteht. Häufig breiten sich überlegene Technologien anschließend mit hohen Wachstumsraten aus. Diese werden bei Erreichen eines hohen Sättigungsgrades abflachen und schließlich in einen Rückgang der Ausbreitung münden. Der Rückgang des Ausbreitungsgrades wird durch das Aufkommen von Konkurrenztechnologien und durch die Verdrängung alter durch neue Technologien befördert. In Abhängigkeit von der Lebenszyklusphase kann man auf verschiedene Normstrategien zurückgreifen und diese für die Bereiche Patentierung, Marketing oder Produktentwicklung nutzen. 54 Vergleiche Specht & Möhrle (2002, S. 356). 55 Vergleiche zum diffusionsbezogenen Lebenszyklusmodell Ford & Ryan (1981, S. 120) und zum wettbewerbspotenzialbezogenen Ansatz Michel (1990, S. 67). 56 Modifiziert nach Ford & Ryan (1981, S. 120). <?page no="51"?> 1.7 Technologielebenszyklus und S-Kurve 51 1 Die Technologie-S-Kurve stellt nicht auf die Verbreitung einer Technologie oder erzielbare beziehungsweise erzielte Erlöse ab, sondern zeigt die Entwicklung der technologischen Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit vom eingesetzten, kumulierten Forschungs- und Entwicklungsaufwand. 57 Der Verlauf nimmt häufig eine dem Buchstaben „S“ ähnliche Form an. Abbildung 22 stellt diesen Zusammenhang schematisch dar. Abbildung 22: S-Kurve 58 Das S-Kurven-Modell macht deutlich, dass zu Beginn des Lebenszyklus vergleichsweise hohe Aufwendungen erforderlich sind, um geringe Fortschritte zu erzielen. Ist einmal eine kritische Schwelle überschritten, führen weitere Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten pro eingesetzter F&E-Aufwands-Geldeinheit zu deutlich höheren Zuwächsen der technologischen Leistungsfähigkeit. Ab dem Wendepunkt weisen die Leistungszuwächse immer noch eine beträchtliche Höhe auf, nehmen aber wieder ab. Nahe der naturwissenschaftlich-technischen Leistungsfähigkeitsgrenze, der sich die reale Leistungsfähigkeit asymptotisch annähert, sind hohe Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen zur Erzielung kleinster Leistungssteigerungen erforderlich. Die S-Kurve verdeutlicht Entscheidern im Technologie- und Innovationsmanagement, dass die Bereitstellung von Ressourcen zur Weiterentwicklung bereits ausgereifter Technologien im Hinblick auf deren Leistungsfähigkeit nur noch sehr geringe Verbesserungen hervorrufen wird. Alternativ können diese finanziellen Mittel bei anderen, neuen Technologien - die möglicherweise noch deutlich unter dem Leistungsniveau der etablierten oder alten Technologie liegen - zu einer Leistungssteigerung, ja 57 Vergleiche Krubasik (1982, S. 29). 58 Modifiziert nach Krubasik (1982, S. 29). <?page no="52"?> 52 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement womöglich zur leistungsseitigen Überflügelung der alten Technologie führen. Die S- Kurve dürfte häufig dazu animieren, den Mut zur Fokusverschiebung beziehungsweise zum Technologiewechsel aufzubringen. Knappe Ressourcen können vor dem Hintergrund der entsprechenden Erkenntnisse effektiver eingesetzt werden. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Technologielebenszyklus und S-Kurve werden vor allem in der Technologiefrühaufklärung, der Technologieplanung und dem Technologie-Controlling eingesetzt. Innerhalb der Technologiefrühaufklärung helfen sie bei der Bewertung von Technologien und unterstützen gegebenenfalls auch bei der Einordnung in Technologie-Roadmaps. In der Technologieplanung stiften sie Nutzen bei der Erstellung des F&E-Projektportfolios, wobei hier folgende Frage im Mittelpunkt steht: Welche Forschungs- und Entwicklungsvorhaben sollen in nächster Zeit verfolgt und welche nicht weiterbearbeitet werden? Auch im Technologie-Controlling kann weniger planerisch denn überwachend nach dem effektiven und effizienten Mitteleinsatz gefragt werden. Die S-Kurve kann hier zum Teil Aufschluss geben. Abbildung 23: S-Kurven-Analyseprozess Der in Abbildung 23 beschriebene Prozess zur Erstellung von Technologie-S-Kurven, die vermutlich eine noch größere Verbreitung haben als die Technologielebenszyklen im engen Sinne, beginnt mit der Abgrenzung der einzubeziehenden Technologien. Grundsätzlich kann für alle derzeit in Entwicklung und Nutzung befindlichen Technologien wie auch für die von anderen Institutionen entwickelten und für das eigene Unternehmen interessant erscheinenden Technologien eine S-Kurven-Analyse und eine S-Kurven-Betrachtung erfolgen. Allerdings kann man aufgrund methodischer und ressourcenbedingter Restriktionen nicht alle Technologien untersuchen. Insofern muss man in der Praxis eine Auswahl treffen. Daran anknüpfend werden die Daten zu den erbrachten Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen und zu den erreichten Leistungsniveaustufen für die selektierten Technologien erfasst, zugeordnet und in eine S-Kurven-Darstellung überführt. Im Rahmen dieser Analysen werden zunächst Messkriterien für die technologische Leistungsfähigkeit benannt und anschließend vorhandene beziehungsweise zugängliche Daten zusammengetragen oder durch eigene Versuche erzeugt. Zudem gilt es, die naturwissenschaftlich-technische Leistungsgrenze der einzelnen Technologien zu ermitteln oder wenigstens abzuschätzen. Daran schließen sich die strategischen Ableitungen beispielsweise zur Ressourcenallokation an. <?page no="53"?> 1.7 Technologielebenszyklus und S-Kurve 53 1 Weiterführende Hinweise Lebenszyklus- und S-Kurven-Modelle sind sehr hilfreiche Methoden. Allerdings kann ihre isolierte Anwendung zu Fehlentscheidungen führen. Innerhalb der S-Kurven-Logik kann es sinnvoll sein, keine Forschungs- und Entwicklungsressourcen mehr in die Weiterentwicklung einer Technologie zu investieren, die sich nahe an ihrer Leistungsgrenze befindet. Unter Umständen wäre es aber rational, diese Investition zu tätigen. Beispielsweise dann, wenn durch die zusätzliche Forschungs- und Entwicklungstätigkeit eine Leistungsfähigkeit erreicht würde, die es erst ermöglicht, diese Technologie auch in bisher nicht genutzte Anwendungsfelder einzubringen und damit den Querschnittscharakter der Technologie zu erhöhen und unter Umständen eine breitere Basis an Objekten zu erzeugen, die für finanzielle Rückflüsse sorgen könnten. Das Vorgehen wäre insbesondere dann zu empfehlen, wenn die Konkurrenztechnologie trotz höherer Leistungsgrenze nur ein sehr eingeschränktes Anwendungsgebiet besäße. Der kombinierte und ausgewogene Einsatz verschiedener Planungsinstrumente erweist sich in der Regel als erfolgreich. Ferner ist die Erstellung von S-Kurven retrospektiv leicht möglich. Allerdings ist die exakte Erfassung des aktuellen Standes einer Technologie auf ihrer S-Kurve recht schwierig. Dies liegt insbesondere an der im Voraus häufig nicht genau bestimmbaren Leistungsgrenze der Technologie wie auch der schwierigen Vorhersagbarkeit des künftigen Kurvenverlaufs - eher steil oder eher flach, weniger oder mehr S-förmig. 59 Es handelt sich bei der S-Kurve insofern nicht um einen naturgesetzlichen Zusammenhang, der immer in gleicher Form auftritt, sondern um ein Phänomen, das in der Praxis in verschiedenen Varianten beobachtet werden kann. Daher kann diese betriebswirtschaftliche Methode allenfalls Orientierung geben, aber keine exakten Prognoseergebnisse liefern. 59 Vergleiche zu Kurvenverläufen Wissema (1982, S. 27 ff). Beispiele finden sich auch bei Foster (1986, S. 135). <?page no="54"?> 54 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.8 Nutzwertanalyse Problemstellung: Bestimmung einer vorteilhaften Alternative aus mehreren Lösungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung verschiedener Zielsetzungen Zielgruppe: Technologie- und Innovationsmanager, F&E-Leiter, Produktionsoptimierer, Fabrikplaner, Portfolio- und Produktprogrammmanager Voraussetzungen: Klarheit über das Zielsystem des Unternehmens oder Unternehmensbereiches, Verfügbarkeit von Mess- und Transformationsvorschriften und Bewertungs-Know-how Zielsetzung der Nutzwertanalyse Die Nutzwertanalyse ist ein mehrdimensionales Bewertungsverfahren. Sie unterstützt die Auswahl des für den Beurteilenden vorteilhaftesten Objektes aus einer Menge alternativer Konstrukte. Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsplanung sollen in einem ersten Schritt stets mehr Vorschläge für innovative Vorhaben erarbeiten, als aufgrund von Budgetrestriktionen im Weiteren realisierbar sind. Bei nahezu jeder systematischen Problemlösung und Planung wird davon ausgegangen, dass verschiedene Vorschläge erzeugt werden müssen, aus denen im weiteren Planungsfortgang in einem separaten Bewertungsschritt die beste Lösung bestimmt wird. Durch die Anwendung von Kreativitätstechniken oder analytischen Problemlösetechniken - wie das in Kapitel 1.3 beschriebene Brainstorming oder der in Kapitel 1.4 vorgestellte morphologische Kasten - werden viele unterschiedliche Möglichkeiten für Produkt- oder Prozessinnovationen aufgezeigt. Die Nutzwertanalyse unterstützt die Auswahl der besten Variante, so dass diese der eigentlichen Forschungs- und Entwicklungstätigkeit zugeführt werden kann. Beschreibung der Nutzwertanalyse Die Nutzwertanalyse zählt zur Gruppe der mehrdimensionalen und qualitativen Bewertungsmethoden. Mehrdimensional heißt, dass sie sich bei ihrer Bewertung nicht nur an einer Bewertungsgröße orientiert, sondern verschiedene Kriterien zur Beurteilung der Alternativen nutzt. Qualitativ meint, dass auch nicht unmittelbar quantifizierbare Merkmale über die Transformation in ein Skalensystem als Bewertungskriterien herangezogen werden können. Beide Aspekte - mehrdimensional und qualitativ - zielen darauf, eine möglichst umfassende, alle relevanten Aspekte berücksichtigende Beurteilung zu erhalten. Dabei verfolgt man mit der Nutzwertanalyse nicht das Ziel, die allgemeingültig beste Alternative zu erkennen. Man setzt sie vielmehr ein, um die Vorteilhaftigkeit einer Option zu bestimmen, die auf individuelle Bedürfnisse und Präferenzen des Bewertenden verweist. Diese individualisierte Bewertung wird durch die freie Bestimmung der einzubringenden Alternativen, die Festlegung der gewünschten Bewertungskriterien und die Zuweisung verschiedener Gewichtungen für unterschiedliche Bewertungskriterien erreicht. 60 Das bedeutet, dass die Bewertung einer 60 Vergleiche zum Aufbau der Nutzwertanalyse Zangemeister (1971, S. 159). <?page no="55"?> 1.8 Nutzwertanalyse 55 1 Anzahl identischer Objekte durch zwei verschiedene Anwender der Nutzwertanalyse zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen kann, wenn beide Personen unterschiedliche Präferenzen und Anforderungen haben. Das ist keine Schwäche der Methode, wie häufig hervorgehoben wird, sondern vielmehr ihre Stärke. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Nutzwertanalyse kann in vielen Bereichen Anwendung finden: bei Investitionsentscheidungen in der bestehenden Produktion, bei Fabrikplanungsprojekten oder bei Standortentscheidungen, aber auch bei Entscheidungen über zu verfolgende Forschungs- und Entwicklungsprojekte und zu etablierende Technologiestrategien. Gerade im Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsmanagement, wo man häufig Alternativen bewertet, deren Eigenschaften schwer quantifizierbar sind, spielt die Nutzwertanalyse ihre Stärken aus und empfiehlt sich als umfassende und gut strukturierte Entscheidungsunterstützung, die bei ausführlicher Dokumentation der einzelnen methodischen Schritte auch für an der Entscheidungsfindung nicht beteiligte Akteure nachvollziehbar ist. Abbildung 24: Beispielhafte Beurteilungskriterien und Beurteilungszielsysteme Wie die meisten betriebswirtschaftlichen Methoden, gliedert sich auch die Nutzwertanalyse in mehrere Stufen. 61 Zunächst muss man die zu bewertenden Alternativen aufnehmen. Diese können aus vorgelagerten Recherchen, Kreativitäts-Workshops oder Verfahren der analytischen Problemlösung stammen. Im Weiteren wird man die relevanten Bewertungskriterien definieren. Wie in Abbildung 24 verdeutlicht, muss man auf die Bereitstellung operationalisierbarer Größen hinwirken. Häufig sucht man in diesem Zusammenhang griffige Subkriterien, die eine präzise und unmissverständ- 61 Vergleiche Specht & Möhrle (2002, S. 196). <?page no="56"?> 56 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement liche Bewertung zulassen. Dies ist erforderlich, da anderenfalls keine valide Messung möglich ist. Bei der Kriteriensuche und Kriterienauswahl sollte man auch einen Abgleich mit dem Zielsystem des Unternehmens und Unternehmensbereiches beziehungsweise mit der Abteilung und mit den in die Zukunft gerichteten Strategien vornehmen. In Großunternehmen handelt es sich dabei im Allgemeinen um eine Gruppenleistung, da es für einzelne Mitarbeiter kaum möglich ist, Strategien anderer Bereiche aufzunehmen und zu deuten. Im nächsten Schritt erfolgt die Gewichtung der als relevant eingestuften Bewertungskriterien. Dies ist in der Praxis ein aufwändiger und teilweise auch konfliktträchtiger Abstimmungsprozess zwischen den Beteiligten, in dem sich der Einsatz eines neutralen Moderators, beispielsweise aus einer Stabs- oder Steuerungsabteilung des Unternehmens, als förderlich erweisen kann. Anschließend werden Transformationsvorschriften entwickelt, die es erlauben, sowohl qualitative als auch quantitative Merkmale in ein Skalensystem zu überführen. Letzteres illustriert Abbildung 25. Abbildung 25: Beispiel einer Transformationsfunktion Auf diesen Schritten aufbauend erfolgt die eigentliche Bewertung. Die zu bewertenden Objekte werden schrittweise begutachtet, 62 und ihnen wird durch Anwendung der relevanten Transformationsvorschrift ein Wert zugewiesen, der mit der Gewichtung des Kriteriums multipliziert wird. Der solcherart gewichtete Wert wird zum Teilnutzwert des Objektes im Hinblick auf das einzelne Bewertungskriterium. Dieses Vorgehen wiederholt man für alle Bewertungskriterien. Am Ende dieser Phase sind alle zu bewertenden Objekte für jedes Bewertungskriterium mit einem Teilnutzwert versehen. Die Addition aller Teilnutzwerte ergibt den Gesamtnutzwert eines Objektes wie in Abbildung 26 dargestellt. Der Vergleich der Gesamtnutzwerte aller Alternativen 62 Gegebenenfalls kann durch Hinzuziehung von Experten die Bewertungsobjektivität erhöht werden (vergleiche Krallmann, Bobrik & Levina 2013, S. 162). <?page no="57"?> 1.8 Nutzwertanalyse 57 1 führt zum Erkennen der vorteilhaftesten Variante, wobei man in der Praxis üblicherweise das Objekt mit dem höchsten Gesamtnutzwert präferiert. Abbildung 26: Berechnungsmuster Nutzwertanalyse Weiterführende Hinweise Die Gesamtnutzwerte werden quantitativ ausgewiesen. Anwender der Nutzwertanalyse dürfen nicht der Versuchung erliegen, Alternativen mit nur marginal höheren Werten als die Vergleichsobjekte zu Gewinnern zu küren. Dicht beieinanderliegende Alternativen sollten einer weiteren Prüfung - gegebenenfalls mit Hilfe einer anderen betriebswirtschaftlichen Methode - unterzogen werden. Diese Empfehlung basiert auf der Erkenntnis, dass bei der Durchführung von Nutzwertanalysen immer wieder nicht-quantifizierbare Aspekte in Skalen überführt und dabei große Einordnungsspielräume genutzt werden. Bei nur unwesentlich anderer Verwendung dieser Spielräume können die Ergebnisse der Rangreihung anders ausfallen, weshalb mit geringen Unterschieden im Gesamtnutzwert versehene Alternativen als gleichwertig einzustufen sind. Führungskräften im betrieblichen Management, die eine Entscheidungsfindung mittels nutzwertanalytischer Bewertung anregen, aber den Prozess nicht selbst steuern oder begleiten, ist anzuraten, nicht nur die Ergebnisse der Nutzwertanalyse als Entscheidungsgrundlage zu verwenden, sondern auch die Berechnungen im Detail nachzuvollziehen. Das Ergebnis der Nutzwertanalyse ist manipulationsanfällig, insbesondere durch die Nichtberücksichtigung relevanter Objektalternativen oder durch die Wahl unzutreffender Bewertungskriterien. Aber auch die Nutzung von Gewichtungen, welche die Organisationsziele nicht widerspiegeln, oder die unpräzise Bewertung einzelner Merkmalsausprägungen und der Rückgriff auf unscharfe Transformationsvorschriften führen zu schlechten Resultaten. <?page no="58"?> 58 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.9 Technologie- und innovationsbezogene Portfolios Problemstellung: Auswahl von F&E-Projekten und Planung und Strategiebildung im Technologie- und Innovationsbereich Zielgruppe: F&E-Leiter, Innovationsmanager, Produktionsleiter, Technischer Geschäftsführer, Stabsmitarbeiter, Technologie-Controller Voraussetzungen: Vertrautheit mit Portfoliomethoden und Zugang zu den erforderlichen Daten Zielsetzung der technologie- und innovationsbezogenen Portfolios Technologie- und innovationsbezogene Portfolios unterstützen die Planung im Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsbereich. 63 Sie dienen der Strukturierung von Entscheidungsprozessen, zielen auf die mehrdimensionale Fundierung von Planungsvorgängen und wollen die planungsinhärente Komplexität beherrschbar und dabei schwierige Zusammenhänge durch Visualisierung aggregierter Größen für Akteure anschaulich machen. In Portfolios - die im Ergebnis Objekte in einem zumeist zweidimensionalen Koordinatenkreuz abbilden - können beispielsweise Technologien oder Forschungs- und Entwicklungsprojekte positioniert werden. Dabei kann man eine angestrebte Position in der Zukunft abbilden. Ebenso kann man im Zeitablauf erreichte Ist-Positionen darstellen und ein Vergleich mit Soll-Positionen vornehmen. Ziel von Portfolios ist eine objektive und nachvollziehbare Entscheidungsfindung innerhalb der Planung, wobei insbesondere in interdisziplinären Planungsgruppen durch Visualisierung eine Erleichterung der Kommunikation zwischen den Beteiligten angestrebt wird. Beschreibung der technologie- und innovationsbezogenen Portfolios Zweidimensional angelegte Portfolios betrachten in der Regel eine durch das Unternehmen beeinflussbare und eine nicht-beeinflussbare Größe. 64 Im Bereich technologie-, forschungs-, entwicklungs- und innovationsorientierter Portfolios haben sich verschiedene Portfolioarten herausgebildet: beispielsweise das Technologieportfolio, das Innovationsportfolio, das Erfinderportfolio, das Patentportfolio und das F&E-Programmportfolio. Das Technologieportfolio spannt die Dimensionen Technologieattraktivität und Ressourcenstärke auf. 65 Technologieattraktivität ist die externe, durch das Unternehmen kaum beeinflussbare Größe. Ressourcenstärke ist die durch das Unternehmen steuerbare interne Größe. Das Technologieportfolio unterstützt unter anderem die Planung 63 Vergleiche zur Nutzung von Portfoliokonzepten im Bereich der strategischen Planung Hahn (1990, S. 225 ff). 64 Vergleiche Specht & Möhrle (2002, S. 235). 65 Vergleiche Pfeiffer & Dögl (1990, S. 259). <?page no="59"?> 1.9 Technologie- und innovationsbezogene Portfolios 59 1 der Investitionsentscheidungen in einzelnen Technologiefeldern, aber auch Überlegungen zu Kooperationen mit anderen Unternehmen oder Technologiekäufen und Unternehmensakquisitionen. Das Innovationsportfolio beleuchtet die Größen Innovationsfeldattraktivität und Innovationsfeldstärke. Es stellt dabei nicht primär auf Technologien, sondern auf Innovationen im Allgemeinen wie Produktneuheiten ab. Damit schlägt es als Planungsinstrument eine Brücke von der technologielastigen Forschungs- und Entwicklungsplanung zur produkt- und kundenorientierten Marketing- und Geschäftsfeldplanung. 66 Das Erfinderportfolio weist Patentaktivität und Patentqualität jeweils in den Ausprägungen „niedrig“ und „hoch“ aus. Somit lassen sich auf verschiedenen Aggregationsebenen Klassifikationen unterschiedlich kreativer Akteure anlegen. 67 Das Portfolio kann als Instrument des Personalmanagements innerhalb von Technologieentwicklungs- oder Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zur Anwendung kommen und zeigt, welche Erfinder mit welchem Aktivitätsniveau gute beziehungsweise weniger gute Ergebnisse erzeugen. Aber auch auf der Ebene von Entwicklungsteams oder Entwicklungsabteilungen kann die Messung und Einordnung vollzogen werden. Patentportfolios ordnen nach relativer Patentposition und Technologieattraktivität auf Abszisse und Ordinate. 68 Als dritte Dimension in Form der Kreisgröße der in das Koordinatenkreuz eingezeichneten Objekte wird die Technologiebedeutung abgebildet. Dieses Portfolio unterstützt die Einschätzung der eigenen Forschungs- und Entwicklungsstärke im Vergleich zu anderen Unternehmen - beispielsweise Wettbewerbern - in Form der relativen Patentposition. 69 Technologieattraktivität setzt das Wachstum der Patentanmeldungen im betrachteten Technologiefeld zum durchschnittlichen Wachstum aller betrachteten Felder ins Verhältnis. Die Technologiebedeutung zeigt, wie stark die eigene Patentierungstätigkeit in diesem Technologiefeld zur gesamten eigenen Patentierungstätigkeit ausgeprägt ist. Das Portfolio unterstützt beispielsweise im Rahmen der strategischen Planung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, aber auch bei der Ressourcenallokation im Forschungs- und Entwicklungsbereich. Das F&E-Programmportfolio sortiert Technologien und Entwicklungsvorhaben nach den Triebfedern technologischer Innovation, die mit den Begriffen Technologiedruck und Marktsog gekennzeichnet werden. 70 Technologiedruck ergibt sich beispielsweise aus vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Technologie, hohen technischen Standards und Neuigkeitsgraden und aufgrund der Passfähigkeit mit anderen Technologien und Projekten. Marktsog entwickelt sich zum Beispiel durch hohe Umsatz- und Marktanteilspotenziale, gegebenenfalls gekoppelt mit einem ausgeprägten Marktwachstum 66 Vergleiche Michel (1990, S. 191). 67 Vergleiche Vitt (1998, S. 60 ff) und Ernst, Leptien & Vitt (1999, S. 91 ff). 68 Vergleiche zu Patentportfolios Ernst (1998, S. 279 ff). 69 Die Größe Patentposition dürfte weniger Interpretationsspielräume eröffnen als die Größe Ressourcenstärke beim Technologieportfolio (vergleiche Ernst 2002, S. 215). 70 Vergleiche Möhrle (1999, S. 82 f). Zum Technologievorteil-Kundennutzen-Portfolio vergleiche Hsuan & Vepsäläinen (1999, S. 55). <?page no="60"?> 60 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement und einem deutlichen Vorteil vor etwaigen Konkurrenten. 71 Die Einordung der Technologieentwicklungsprojekte erfolgt anhand beider Kriterien. Dadurch ergeben sich eine Kategorisierung und resultierend daraus eine Priorisierung. Projekte mit hohem Technologiedruck und hohem Marktsog, so genannte Renner, sollten mit Nachdruck weiter vorangetrieben werden. Technologien mit spiegelbildlicher Ausprägung, so genannte Schläfer, sollte man hingegen kritisch überprüfen und unter Umständen nicht weiterverfolgen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Das Hauptanwendungsfeld von Portfolios liegt im Bereich der Planung. Häufig werden im Rahmen der Portfoliotechnik Normstrategien empfohlen, die dem Management konkrete Handlungsmöglichkeiten unterbreiten. Ebenso sind Portfolios im Controlling einsetzbar. Es kann mit ihrer Hilfe nachvollzogen werden, ob angestrebte Ziele erreicht werden konnten. Der Schwerpunkt ihres Einsatzes liegt in Unternehmen, die über mehrere Entwicklungsprojekte und ein Bündel an Technologien verfügen. Wenn hingegen nur ein unternehmenseigenes Objekt in die Betrachtung eingeht, können Portfolios ihre Wirksamkeit nicht vollständig entfalten. Die Vorgehensweise der Portfoliotechnik wird im Folgenden und in Abbildung 27 anhand des weit verbreiteten Technologieportfolios dargestellt. Abbildung 27: Vorgehensweise Portfoliotechnik In einem ersten Schritt werden die zu betrachtenden Objekte zusammengestellt und abgegrenzt. Im Folgenden werden die Dimensionen mit messbaren Kriterien hinterlegt, die Aggregationsweise zur Hauptgröße beschrieben und die Skalierung der Achsen festgelegt. Bei dem in Abbildung 28 dargestellten Technologieportfolio nach Pfeiffer werden die 71 Vergleiche Möhrle (1988, S. 13 ff). <?page no="61"?> 1.9 Technologie- und innovationsbezogene Portfolios 61 1 Dimensionen Technologieattraktivität und Ressourcenstärke verwendet. 72 Technologieattraktivität setzt sich aus den bedarfsseitigen Größen „Anwendungsbreite“ und „Diffusionsverlauf“ sowie den potenzialseitigen Faktoren „Weiterentwicklungspotenzial“ und „Kompatibilität“ zusammen. Die Ermittlung der Ressourcenstärke erfolgt durch Erhebung und Zusammenführung des Wissensbeziehungsweise Know-how-Standes und dessen Stabilität als auch durch Budgethöhe und Budgetkontinuität. Die Analyse dieser Beschreibungsgrößen erfordert unternehmensexterne und unternehmensinterne Recherchen und Bewertungsprozesse. Diese werden in der Regel nicht durch einen Akteur, sondern in Arbeitsgruppen - häufig interdisziplinär, gelegentlich unter Hinzuziehung externer Berater und Experten - vorgenommen. Im Weiteren erfolgt ein Abgleich mit den Planungsvorgaben aus übergeordneten Ebenen des Unternehmens. Eine Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsplanung kann zwar auch Anregungen für neue Unternehmensziele und Strategien geben, wird sich aber letztlich an deren Vorgaben orientieren müssen. Danach werden die Analyseergebnisse und Planungen in der Portfoliodarstellung visualisiert und einer Vollständigkeits- und Konsistenzprüfung unterzogen. Im abschließenden Schritt erfolgt das Zuweisen der Normstrategieempfehlungen - Investieren, Selektieren oder Desinvestieren -, um daraus pragmatische, die Unternehmensziele unterstützende Strategien abzuleiten. Abbildung 28: Technologieportfolio 73 72 Vergleiche Pfeiffer & Weiß (1995, S. 674). 73 Modifiziert nach Pfeiffer & Weiß (1995, S. 674). <?page no="62"?> 62 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Weiterführende Hinweise Portfolios sind aufgrund ihrer einfachen Darstellung und Vorgehensweise in der betrieblichen Praxis sehr beliebt. Allerdings ist bei der Portfolioanwendung darauf zu achten, dass geeignete Dimensionen im Portfolio genutzt werden. Sind diese nicht wissenschaftlich abgesichert, basieren weitreichende Entscheidungen auf gegebenenfalls unzulänglichen Kriterien. Vielfach wird der Aufwand und die Notwendigkeit gründlicher und umfassender Recherche- und Bewertungstätigkeit unterschätzt. Möglicherweise suggeriert die übersichtliche finale Darstellungsform, dass auch der Erstellungsprozess sehr übersichtlich abhandelbar wäre. Aber auch hier gilt: Die Ergebnisse der Planung können nur so gut sein wie die Datenqualität und die Datenbewertung. Normstrategien verleiten dazu, diese als methodeninhärente Empfehlungen konsequent zu befolgen. Von unreflektierter Umsetzung empfohlener Normstrategien ist hingegen abzuraten, da sie nur Handlungshinweise darstellen. Insofern ist beispielsweise zu prüfen, inwiefern man die Technologieattraktivität oder die Ressourcenstärke durch eigene Aktivitäten beeinflussen kann, wodurch sich gegebenenfalls ein anderes Bild ergeben würde. Abbildung 29: Szenarienfundierte Portfolios 74 74 Mieke (2013, S. 69). <?page no="63"?> 1.9 Technologie- und innovationsbezogene Portfolios 63 1 Immer wieder beklagen operativ ausgerichtete Führungskräfte den Methodenpluralismus. Für einzelne Managementprobleme existieren jeweils spezielle Methoden. Managemententscheidungen sind aber häufig durch hohe Komplexität, Multidimensionalität und Mehrstufigkeit gekennzeichnet. Dies erfordert in der Praxis die Anwendung einer Vielzahl von Methoden. Die Notwendigkeit zum Methodenpluralismus kann zum einen Probleme bei der Datentransformation zwischen den einzelnen Instrumenten oder Werkzeugen schaffen. Zum anderen kann es zu Entscheidungsdilemmas kommen, wenn verschiedene Methoden für den gleichen Planungsgegenstand unterschiedliche Strategien nahelegen. Hierauf wurde in jüngster Vergangenheit mit der Zusammenführung verschiedener Einzelmethoden zu einer integrativen Gesamtmethode reagiert - beispielsweise durch die Integration von Portfoliotechnik und Szenariotechnik 75 , wie in Abbildung 29 dargestellt, oder durch die Verknüpfung von Portfoliotechnik und Roadmapping 76 . Ob die entsprechenden Integrativmethoden von den in der Unternehmenspraxis tätigen Entscheidern angenommen und genutzt werden, muss sich erst noch zeigen. 75 Vergleiche Mieke (2013, S. 66 ff). 76 Vergleiche Mieke (2012b, S. 14 ff) und Mieke (2012c, S. 37 ff). <?page no="64"?> 64 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.10 Szenariotechnik Problemstellung: Analyse in der Zukunft liegender Entwicklungen und Erfassung und Abbildung verschiedenartiger Zukunftszustände Zielgruppe: Strategieplaner, Geschäftsfeldplaner, Geschäftsführer, Technologiefrühaufklärer Voraussetzungen: Methodenkenntnisse, Ressourcen für Informationserfassung und Informationsauswertung und Fähigkeit zum Querdenken Zielsetzung der Szenariotechnik Die Szenariotechnik unterstützt den Blick in die Zukunft. Sie wird vor allem bei weit in die Zukunft reichenden Analysen und Planungen genutzt. Vorschauzeiträume von zehn bis zwanzig Jahren sind keine Seltenheit - sogar dreißig Jahre kann man in der Praxis finden. Der Einsatzschwerpunkt der Szenariotechnik liegt in der Vorausschau und Frühaufklärung, aber teilweise auch in der Planung. 77 Ihre Nutzung ist nicht auf die Bereiche des Technologie- und Innovationsmanagements begrenzt. Auch Zukunftsbilder ganzer Kontinente, Länder, Märkte oder Branchen können damit aufgezeigt werden. 78 Ziel der Szenariotechnik ist weniger im vermeintlichen Anspruch einer sicheren Zukunftsprognose, als vielmehr im Aufzeigen alternativer, stark voneinander abweichender, jedoch jeweils möglicher Zukunftszustände zu sehen. 79 Sie erhöht dadurch die Sensibilität für die Unvorhersagbarkeit der Zukunft und für verschiedene, realistisch mögliche Zukunftszustände. In der Regel werden Entscheider zur Erarbeitung flexibler oder alternativer Pläne, wie auch zum aktiven Einwirken auf zukunftsbestimmende Parameter motiviert. Dadurch ergeben sich für gewöhnlich positive Aspekte auf die organisationale Flexibilität. Beschreibung der Szenariotechnik Mit Hilfe der Szenariotechnik kann man die gegenwärtige Lage eines Untersuchungsfeldes analysieren und Zukunftsbilder - mindestens zwei - zur künftigen Situation des Untersuchungsbereiches entwickeln. Weil sich die Szenariotechnik mit ihrer Vorherbeschreibung auf einen weit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt bezieht und nicht von der Existenz der Zeitstabilitätshypothese - vereinfacht gesagt: alles bleibt so wie es ist - ausgegangen werden kann, nutzt sie nicht die Ansätze der Trendextrapolation und einfachen Fortschreibung von Vergangenheitsentwicklungen. Sie untersucht vielmehr die künftigen Einfluss- und Störfaktoren, analysiert deren Entwicklung und Interdependenzen und etwaige Reaktionen von Akteuren. Auf diese Art werden ver- 77 Vergleiche Geschka & Hammer (1990, S. 314). 78 Vergleiche Bonnet & Olson (1998) und Druwe (1992). 79 Vergleiche Gausemeier, Fink & Schlake (1996, S. 90) und Reibnitz (1997, S. 403). <?page no="65"?> 1.10 Szenariotechnik 65 1 schiedene, häufig diametral angeordnete Extremszenarien entworfen. Sie bilden gewissermaßen die Pole, zwischen denen die reale Entwicklung vermutlich liegen wird. Die Szenariotechnik stellt nicht darauf ab, mit ihrer Zukunftsprognose nah an der zum späteren Zeitpunkt real eintretenden Entwicklung zu liegen. Sie zeigt vielmehr den Raum der Möglichkeiten und sensibilisiert für mögliche Ausprägungen der Zukunft und für die Verschiedenartigkeit potenzieller künftiger Entwicklungen. Abbildung 30: Szenariotrichter - Denkmodell der Szenariotechnik 80 Ein umfangreicher schriftlicher Bericht stellt in der Regel das Ergebnis einer Szenariostudie dar. Dies ist in der Regel ein Textdokument. Darin wird das Untersuchungsfeld vorgestellt, die methodische Herangehensweise dargelegt und die Szenarien im Detail beschrieben. Ein Schaubild wie das in Abbildung 30 dargestellte abstrakte Denkmodell der Szenariotechnik findet sich darin häufig nicht. Allerdings etablieren sich in der Praxis zunehmend Formen der Visualisierung der Ergebnisse, etwa in Form des Zukunftsraum-Mappings. Dies ist der Forderung nach einer Aufbereitungsform geschuldet, welche die leichtere Verständlichkeit komplexer Sachverhalte unterstützt. Das Ergebnis - mindestens zwei Zukunftsbilder - beschreibt mögliche Zukunftszustände zu einem definierten Zeitpunkt. Die Entwicklung dorthin, etwaige Zwischenschritte und Zwischenzustände sind in der Regel nicht originärer Bestandteil der Studie. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Szenarioanalysen werden im Rahmen des Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsmanagements in erster Linie zur Frühaufklärung eingesetzt. Häufig wählt man dabei keinen engen technologischen Fokus, sondern nimmt eine weiter gesteckte, eher gesellschaftlich ausgerichtete, branchenbezogene oder technologiefeldgeleitete Perspektive ein. Teilweise erstellen Unternehmen diese Studien selbst. 80 Modifiziert nach Geschka & Hammer (1990, S. 315). <?page no="66"?> 66 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Häufig werden Beratungs- oder Forschungsinstitute beauftragt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass umfangreiche Recherche- und Analysetätigkeiten in einer Vielzahl von Bereichen vorzunehmen sind, die gegebenenfalls außerhalb des Aktions- und Erfahrungsraumes der beauftragenden Unternehmung liegen. Gelegentlich finden sich auch verschiedene Organisationen zusammen und erstellen entsprechende Studien im Rahmen von Kooperationen. Auch eine Veröffentlichung der Studie ist nicht unüblich. Viele, vor allem kleinere Unternehmen greifen für ihre Vorausschauaktivitäten auf bestehende Szenariostudien zurück und binden diese in ihre Analyseprozesse ein. Dadurch vermeiden sie in erheblichem Umfang die Entstehung von Kosten, müssen allerdings die der Sekundärforschung generell anhaftenden Nachteile tragen. Das Vorgehen der Szenariotechnik kann man unterschiedlich abgrenzen. Eine weit verbreitete und in Abbildung 31 skizzierte Phaseneinteilung unterscheidet acht Bereiche, die wiederum vier Ebenen zugeordnet werden. 81 Abbildung 31: Vorgehen bei der Szenariotechnik 82 Zunächst muss man das Untersuchungsfeld eingrenzen und strukturieren. Ohne klare Abgrenzung werden Analysen nicht zielgerichtet erfolgen können und Ressourcen nur ineffizienten Einsatz finden. Die Untersuchung von Einflussfaktoren und die Analyse des Umfeldes bilden wesentliche Aspekte für die Qualität der Vorausschau. Werden hier Zusammenhänge nicht detailliert aufgedeckt, kann dies zu unvollständigen oder gar unzutreffenden Zukunftsbildern führen. Für die Einflussgrößen werden Zukunftsprojektionen erarbeitet - durchaus mit alternativen Ausprägungen. Nachfolgend werden diese zu konsistenten Bündeln zusammengefasst. Nicht jede Ausprägung 81 Vergleiche Geschka (2002, S. 320). 82 Geschka (2002, S. 320). <?page no="67"?> 1.10 Szenariotechnik 67 1 ist beliebig mit jeder Ausprägung eines anderen Faktors kombinierbar - manche schließen sich aus. Im Folgenden werden Zukunftsbilder erarbeitet. Diese werden in einer Iterationsschleife mit möglichen Störereignissen konfrontiert und gegebenenfalls angepasst. Letztlich erfolgt die Beschreibung der Auswirkungen aus den sich ergebenden Szenarien. Szenariostudien verlangen nach umfassender Datenbasis, wobei nicht alle Daten in quantitativer und valider Form vorliegen müssen. Häufig werden Annahmen getroffen und qualitative Ansätze genutzt. Neben der Datenverfügbarkeit ist eine profunde Kenntnis von Interdependenzen und potenziellen Auswirkungen erforderlich. In der Regel ist die Einbeziehung verschiedener Experten förderlich. Szenariostudienprojekte werden häufig in Experten-Workshops bearbeitet, die ein interdisziplinäres Wissensspektrum widergeben. Der achte Schritt der Szenariotechnik, die Lösungswahl und Umsetzung, ist von Bedeutung, wenn die Szenariotechnik als Planungswerkzeug eingesetzt wird. Findet sie als Vorausschaumethode Anwendung, ist dieser Schritt unter Umständen nur allgemein ausgeprägt oder gar nicht vorhanden. Weiterführende Hinweise Die Szenariotechnik ist ein leistungsfähiges Werkzeug der Zukunftsvorausschau. Ihre Aussagekraft hängt von der Mitwirkung ausgewiesener Experten und der Integrationsfähigkeit abweichender Ansichten ab. Dennoch stellen umfassende Analysen und die Einbindung von Experten notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für eine gute Szenariostudie dar. Das Berücksichtigen von Fachleuten, deren Meinungen vom so genannten Mainstream abweichen, kann sich als vorteilhaft erweisen. Allerdings darf das in die Zukunft schauen nicht zu einem unsystematischen „Spinnen“ verkommen. Die Balance zu wahren, ist Aufgabe erfahrener Moderatoren und Projektleiter. Zur Durchführung einer gehaltvollen Studie, sind finanzielle Ressourcen und zeitliche Freiräume einzuplanen, da man den Analyse- und Bewertungsaufwand nicht unterschätzen sollte. Finden die Ergebnisse der Studie in etwaigen Planungen Berücksichtigung, sollte man in einer später erfolgenden Rückschau nicht dem Irrglauben erliegen, dass die Szenariostudie schlecht gewesen sei, wenn sich die Zukunft nun doch nicht in einer der prognostizierten Extremformen eingestellt hat. Vielmehr sollte man erkennen, dass mit der Szenariotechnik zum einen der Raum der Möglichkeiten lediglich aufgezeigt und die - zugegebenermaßen nicht sonderlich wahrscheinlichen - Randpunkte verdeutlicht werden sollten. Zum anderen führt die Extremdarstellung im Allgemeinen zu Planungen, die ordnend auf die Entwicklung einwirken und somit Gestaltungswirkung entfalten und eine andere Zukunft entstehen lassen können. <?page no="68"?> 68 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.11 Roadmapping Problemstellung: Sichtbarmachen technologischer Entwicklungslinien für Zukunftsvorausschau und Planung Zielgruppe: Technologiefrühaufklärer, Technologie- und Innovationsplaner, F&E-Leiter, F&E-Controller, Geschäftsführer, Produktionsleiter Voraussetzungen: Bereitschaft zur Befassung mit unsicheren Zukunftsentwürfen, Recherche- und Analysekompetenz und Zugriff auf Informationsquellen Zielsetzung des Roadmapping Das Roadmapping zeigt Pfade in die Zukunft. Die Methode strukturiert in Form visueller Darstellungen - den so genannten Roadmaps - den Verlauf komplementärer oder auch konkurrierender Zukunftsverläufe. Als Objekte, deren Entwicklung visualisiert wird, kommen die verschiedensten Planungsgegenstände in Frage wie Technologien, Produkte, Prozesse, Projekte oder Kompetenzen. Ziel ist die fokussierte Abbildung von Trends in einem Untersuchungsbereich. Die Darstellung soll nicht nur das Ergebnis einer Entwicklung offenbaren, sondern auch die Zwischenschritte detailliert aufzeigen, 83 wobei Verfügbarkeitszeitpunkte ausgewiesen werden. 84 Das Roadmapping unterstützt dadurch Planungen für unterschiedliche Zeithorizonte. Durch die universelle Anwendbarkeit der Methode lassen sich Brüche zwischen verschiedenen Planungsfeldern reduzieren - etwa zwischen Geschäftsfeldplanung einerseits und Technologieplanung andererseits 85 - und komplexe Transformationsvorschriften minimieren. Beschreibung des Roadmapping Roadmaps visualisieren als Entwicklungspläne die Wege zu einem avisierten Zielzustand - ähnlich einer Straßenkarte. 86 Die Methode entwickelte sich als planungsbezogenes Werkzeug innerhalb des Technologie- und Innovationsmanagements. Aufgrund ihrer Fähigkeit, Zwischenstufen von Entwicklungen ausweisen zu können, wurde sie jedoch rasch auch in der Technologievorausschau eingesetzt. Ihr zeitraumbezogener Betrachtungsfokus passt häufig besser zu den Herausforderungen betrieblicher Planer als der zeitpunktbezogene Ansatz der Szenariotechnik. Roadmaps - wie in Abbildung 32 dargestellt - bilden das Ergebnis eines strukturierten Such- und Analyseprozesses mit intuitiven und kreativen Elementen. 83 So wird auch technologische Evolution sichtbar (vergleiche Bucher, Mitterdorfer & Tschirky 2002, S. 28). 84 Vergleiche Specht, Behrens & Kahmann (2000, S. 42). 85 Vergleiche Behrens (2003, S. 69 f). 86 Vergleiche Vinkemeier (1999, S. 18). <?page no="69"?> 1.11 Roadmapping 69 1 Abbildung 32: Technologie-Roadmap 87 Roadmaps zeigen zum Beispiel für den Bereich der Technologievorausschau welche Technologien künftig verfügbar sein werden, wie diese miteinander in Beziehung stehen und zu welchem Zeitpunkt sie genutzt werden können. Diese Aspekte bilden Kernbereiche eines systematischen Technologie- und Innovationsmanagements. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Vorrangige Anwendungsfelder liegen sowohl in den Bereichen Technologievorausschau und Technologieplanung als auch in der Produkt- und Geschäftsfeldplanung. Ob sich eine vermehrte Anwendung auch in anderen Planungsfeldern durchsetzt, bleibt abzuwarten. Der Prozess des Roadmapping variiert deutlich nach Anwendungsgebiet und spezieller Ausführungsvariante, wodurch sich in letzter Zeit verschiedene Formen des Roadmapping entwickelt haben. Eine häufig empfohlene Grundform bildet das einfache Roadmapping, das sich in vier Phasen gliedert, die in Abbildung 33 aufgeführt sind. 88 Im ersten Schritt werden die zu untersuchenden Objekte wie zum Beispiel Technologien eingegrenzt. Dabei ist eine Balance zwischen starker Eingrenzung des Umfangs der zu untersuchenden Technologien und weiter Auslegung des Suchfeldes zu finden. Ein knapper Zuschnitt des Untersuchungsfeldes wird durch die Forderung nach effizienten Suchprozessen und detaillierten Analysen der einbezogenen Objekte beför- 87 Modifiziert nach Specht, Behrens & Kahmann (2000, S. 42). 88 Vergleiche Specht & Behrens (2008, S. 153). <?page no="70"?> 70 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Abbildung 33: Prozess des Roadmapping 89 dert. Für eine weite Auslegung des Suchraumes spricht insbesondere das Ziel der vollständigen Abbildung des relevanten Betrachtungsbereiches zur fundierten Planung und Risikoabwehr. Da regelmäßig große Gefahren von Konkurrenztechnologien ausgehen, die oftmals zu spät entdeckt werden, um auf sie angemessen und planvoll reagieren zu können, dürfte bei der Suchraumabgrenzung häufig nicht die technologische Wirkungsweise und deren Weiterentwicklungsmöglichkeiten das Suchfeld definieren, sondern das zu lösende technische Problem als Abgrenzungskriterium zum Einsatz kommen. Somit wird es möglich, auch auf anderen Wirkprinzipien basierende, aber auf die gleiche Problemstellung zielende Technologien zu erkennen und zu berücksichtigen. Im zweiten und dritten Schritt werden Bedarf und Potenzial der Technologien analysiert und prognostiziert. Hier finden auch die beiden Triebkräfte technologischer Entwicklung, Marktsog und Technologiedruck, Eingang in die Untersuchung. Fordern Nachfrager beispielsweise bestimmte Produktfunktionen, die man durch Technologien realisieren könnte, so löst dies einen Bedarf nach derartigen Technologien und unter Umständen auch nach weiteren Technologien aus, die das Zusammenwirken dieser mit anderen Technologien in einem technischen System organisieren. In vielen Fällen, gerade bei radikalen Neuerungen, können Anwender ihre Wünsche nicht technologiebezogen formulieren, da ihnen der Überblick über die technischen Möglichkeiten fehlt. Hier müssen Technologiebewerter das technische Potenzial erkennen und auch für die Zukunft abschätzen. Der vierte Schritt führt die im zweiten und dritten Schritt untersuchten Technologien in einer Roadmap zusammen. Es werden technologische Abhängigkeiten, Entwicklungsfolgebeziehungen und Verfügbarkeitszeitpunkte aufgedeckt und benannt. Hier- 89 Specht & Behrens (2008, S. 153). <?page no="71"?> 1.11 Roadmapping 71 1 bei werden auch Interdependenzen noch einmal genauer untersucht. Gelegentlich finden sich in dieser Phase noch weitere Technologien, die in die Roadmap-Studie einzubeziehen sind. In diesem Fall werden die Schritte zwei und drei erneut durchlaufen und in Schritt vier überführt, um in der Gesamtschau alle relevanten Technologien und Abhängigkeiten vollständig darzustellen. Im fünften und letzten Schritt überprüft man die Angaben in der Roadmap auf Vollständigkeit und Konsistenz. Die Erfahrung zeigt, dass nach analytischen und kreativen Prozessen eine Evaluation und Bewertung sinnvoll ist, die deutlich von den vorangegangenen Phasen abgegrenzt ist. Durch zeitlichen Versatz, andere Gruppenkonstellationen und veränderte Sichtweisen auf den Bearbeitungsgegenstand soll eine unabhängige und unvoreingenommene Überprüfung der Arbeitsergebnisse erreicht werden. Werden Lücken oder Unstimmigkeiten aufgedeckt, sollte man diese durch Rücksprung in die Vorphasen beheben. Die Erstellung von Roadmaps obliegt in der Regel nicht einzelnen Bearbeitern. Vielmehr werden dazu Teams gegründet - vor allem, wenn noch keine Roadmaps vorliegen. Im Rahmen der Technologieanalyse wendet man weitere Instrumente des Technologie- und Innovationsmanagements an: Expertenbefragungen, Delphi-Studien, Publikations- und Schutzrechtsanalysen und teilweise auch Conjoint-Analysen befördern die Informationserzeugung. TRIZ 90 , Lebenszyklusansätze und weitere Bewertungstechniken unterstützen die Interpretation, Beurteilung und Anreicherung der gewonnenen Informationen. Zur Einbindung weiterer Informationskanäle, zur Einbeziehung unterschiedlicher Beurteilungsschemata und zur Aufteilung von Kosten für den Technologievorausschauprozess führen Unternehmen Roadmapping-Projekte zunehmend auch in technologieorientierten Gruppen und Kooperationen durch. Dies ermöglicht ihnen, auch kooperative Forschungs- und Entwicklungsvorhaben anzubahnen und Vertrauen zu etwaigen Partnern aufzubauen. Eine große Sorge der Unternehmen in kooperativen Arrangements ist auf die Konsequenzen eines möglicherweise auftretenden und ungewollten Wissensabflusses gerichtet. 91 Hier wurden für die betriebliche Praxis in der jüngeren Vergangenheit jedoch einige Hilfsmittel entworfen und erprobt, die diese Gefahr deutlich entschärfen. Weiterführende Hinweise Roadmaps sehen häufig sehr einfach aus. Dies ist beabsichtigt. Sie sollen komplexe Sachverhalte übersichtlich darstellen. Daraus sollte man nicht ableiten, dass der Erstellungsprozess wenig aufwändig und intuitiv möglich sei. Die strukturierte Vorgehensweise, der Zugang zu relevanten Informationskanälen und das Geschick bei der Informationsauswertung und Informationszusammenführung ermöglichen erst übersichtliche, aber eben auch stichhaltige Roadmaps. Roadmapping wurde immer mehr zu einer Meta-Methode entwickelt, die weite Teile des Technologiemanagements wie auch der Innovationsprozesse überspannen kann. Dies vermindert aufwändige Trans- 90 Vergleiche etwa Großerüschkamp (2014, S. 52 f). 91 Vergleiche Specht & Mieke (2006, S. 275). <?page no="72"?> 72 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement formationsprozesse und ermöglicht effiziente Anpassungsvorgänge. Es finden sich sogar Ausweitungen auf andere Managementfelder. So existieren mittlerweile neben Technologie-Roadmaps etwa auch Produkt-Roadmaps für die Geschäftsfeldplanung, Kompetenz-Roadmaps im Personalentwicklungsbereich, Projekt-Roadmaps im Forschungs- und Entwicklungsmanagement und Prozess-Roadmaps für die strategische Produktionsprozess- und Produktionspotenzialplanung. Dadurch kann man den Integrationsgrad betrieblicher Planung erhöhen und etwaige Reibungsverluste verringern. Abbildung 34: Szenariobasierte Roadmap Gelegentlich wird beklagt, dass bei aller Vorteilhaftigkeit des Roadmapping einige für Unternehmen relevante Aspekte nicht in Roadmaps ersichtlich sind. So wird zum Beispiel kritisiert, dass zukunftsinhärente Unsicherheiten nicht berücksichtigt oder Technologiecharakteristika wie Marktsog oder Technologieattraktivität nur ungenügend integrativ dargestellt werden. Auf diese Anregungen wurde mit einer Weiterentwicklung der Ursprungsmethode reagiert. Man findet nun auch angereicherte Roadmap- Formen wie szenariobasierte Roadmaps 92 oder portfoliogestützte Roadmaps 93 , wie sie in Abbildung 34 beziehungsweise Abbildung 35 aufgeführt sind. 92 Vergleiche Mieke (2006, S. 120 ff) und Geschka & Hahnenwald (2009, S. 686 ff). 93 Vergleiche Mieke (2012b, S. 14 ff) und Mieke (2012c, S. 37 ff). <?page no="73"?> 1.11 Roadmapping 73 1 Abbildung 35: Portfoliogestützte Roadmap 94 94 Modifiziert nach Mieke (2012c, S. 40). <?page no="74"?> 74 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.12 Meilensteintrendanalyse Problemstellung: Frühzeitiges Erkennen von Zeitverzögerungen und rechtzeitiges Gegensteuern in F&E-Projekten Zielgruppe: F&E-Projektleiter, Projekt-Controller, F&E-Controller, Innovationsteamleiter Voraussetzungen: Detaillierte Projektplanung, projektbegleitende Arbeitsfortschrittskontrolle und Kontrolldisziplin Zielsetzung der Meilensteintrendanalyse Die Meilensteintrendanalyse wird zur begleitenden Überwachung der Prozessdauer eingesetzt. Sie ermöglicht den Abgleich mit Planungsvorgaben und sensibilisiert für Konsequenzen von Verzögerungen im Prozess auf den avisierten Projektabschlusstermin. Die Methodik ermuntert durch das frühzeitige Aufdecken von Zeitabweichungen zu Eingriffen, die es erlauben, die ursprüngliche Projektzeitplanung einzuhalten. Gerade für Entwicklungsprojekte besitzt dieser Aspekt hohe Relevanz. 95 Treten doch hier aufgrund des im Vorhinein nur schwer zu spezifizierenden Arbeitsspektrums häufig Verzögerungen auf, die zu Verlängerungen der Entwicklungsphase führen. Dies ist betriebswirtschaftlich nachteilig. Durch verzögerte Markteintrittszeitpunkte von innovativen Leistungsangeboten können Umsätze und Gewinne nicht wie gewünscht realisiert werden. Die Höhe des Schadens ist meist deutlich größer als etwa die Kosten, die sich aufgrund zusätzlich zur Verfügung gestellter Ressourcen zur Projektbearbeitung ergeben würden. 96 Die Meilensteintrendanalyse unterstützt Projektleiter und Projekt-Controller bei der frühzeitigen Intervention auf zeitliche Abweichungen und reduziert die aus Zeitverzögerungen resultierenden Schäden. Beschreibung der Meilensteintrendanalyse Die Meilensteintrendanalyse ist ein Verfahren, das die Termineinhaltung von Projekten unterstützt. 97 Sie bezieht sich auf die zeitliche Dimension der Projektsteuerung. Mit Hilfe der Methode werden Zwischenergebnisse eines Projektes - so genannte Meilensteine, die definierte Ergebnisse zu vorgegebenen Zeitpunkten beschreiben - zeitlich überwacht. Die Leitfrage lautet: Wurde der Meilenstein zum geplanten Zeitpunkt erreicht oder nicht? Da große und komplexe Projekte unter Umständen über viele Zwischenstationen zu einem geplanten Endergebnis führen, will man Zeitabweichungen in Teilvorhaben zeitnah aufdecken und analysieren. Dadurch kann man vermeiden, dass sich kleine Verzögerungen fortpflanzen und kumulieren und dadurch den geplanten Fertigstellungszeitpunkt des Gesamtprojektes gefährden. Der ständige 95 Daher wird die Meilensteintrendanalyse mitunter auch den Methoden des F&E-Projekt-Controllings zugeordnet (vergleiche Specht & Mieke 2002, S. 55). 96 Vergleiche Vahs & Brem (2013, S. 10 f). 97 Vergleiche Schröder (1996, S. 494). <?page no="75"?> 1.12 Meilensteintrendanalyse 75 1 Abgleich von Soll-Zeitpunkt und Ist-Zustand des Arbeitspaketes, das zu einem bestimmten Meilenstein führen soll, ermöglicht auch ein simulationsartiges Fortschreiben und Ermitteln der Konsequenzen für das Gesamtvorhaben. Durch die integrative Sicht zeigen sich unter Umständen Möglichkeiten für Ressourcenumschichtungen zwischen verschiedenen Teilprojektteams oder andere Maßnahmen, welche die Rückkehr der Projektrealisierung auf den Planungspfad unterstützen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Anwendungsbereiche für die Meilensteintrendanalyse lassen sich viele aufzeigen - auch außerhalb des Technologie- und Innovationsmanagements. Die Methode kommt beispielsweise bei komplexen Planungsaufgaben wie Fabrikneuplanungen oder Organisationsentwicklungsvorhaben zum Einsatz. Innerhalb des Technologie-, Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsmanagements kann man die Meilensteintrendanalyse überall dort verwenden, wo in mehrstufigen Vorgängen an der Erzeugung von Endergebnissen gearbeitet wird und wo vor Projektstart eine Abgrenzung, zeitliche Strukturierung und Planung der Einzelschritte möglich ist. Dies bezieht sich sowohl auf die Felder der Ideenerzeugung und -umsetzung als auch auf die Einführung von Neuerungen in der Anwendung. Produktentwicklungs- und Markteinführungsprozesse sind klassische Anwendungsfelder der Meilensteintrendanalyse. Der Anwendungsprozess gliedert sich in zwei Hauptphasen: Zu Beginn steht die Aufteilung des Gesamtvorhabens in Teilprozesse, die Zuweisung von Fertigstellungsterminen für die einzelnen Arbeitspakete und die Betrachtung der logischen Abhängigkeiten der Teilprozesse. Diese können sequenziell oder teilparallelisiert erfolgen. Dieser erste Schritt bildet gewissermaßen den vorbereitenden planerischen Akt des Projektmanagements. Im zweiten Abschnitt der Methodenanwendung wird während der Ausführung der Projektteilschritte wiederholt überwacht, wann diese voraussichtlich und tatsächlich fertiggestellt werden - (a) vor dem geplanten Meilensteintermin [Zeitpunkt 5 statt 6], (b) exakt zum geplanten Zeitpunkt [Zeitpunkt 4] oder (c) später beziehungsweise wie viel später als geplant [Zeitpunkt 9 statt 7]. Diese Angaben werden, wie in Abbildung 36 dargestellt, für alle Teilprojekte in einer Art Koordinatenkreuz visualisiert. 98 Dieses Vorgehen erlaubt auch Personen, die nicht in den Projektplanungs- und Projektsteuerungsprozess eingebunden sind, ein schnelles Erfassen etwaiger bedrohlicher Abweichungen und animiert zum Gegensteuern. Eine Maßnahme im vorliegenden Beispiel könnte sein, frühzeitig nichtbenötigte Ressourcen aus Projekt A in das kritische Projekt C umzulenken. Aufgrund der einfachen Handhabung und der eingängigen Darstellung eignet sich dieses Instrument auch in hervorragender Weise zur Selbststeuerung von Entwicklerteams oder auch von Einzelakteuren. Dies ist umso bedeutender, als sich Mitarbeiter in kreativen Bereichen häufig nur schlecht und auch sehr ungern überwachen lassen. Stellt ein Unternehmen hingegen wirksame Werkzeuge zur Projektsteuerung bereit, nutzen die Entwickler diese gern, und der Eingriffsbedarf reduziert sich erheblich. 99 98 Vergleiche Kuster, Huber, Lippmann, Schmid, Schneider, Witschi & Wüst (2008, S. 315). 99 Vergleiche Schorb (1994, S. 110). <?page no="76"?> 76 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Abbildung 36: Diagramm Meilensteintrendanalyse Weiterführende Hinweise Die Einführung der Meilensteintrendanalyse verleitet gelegentlich zu der Annahme, dass aufgrund der eingängigen Systematik, des frühen Anzeigens von Abweichungen und der damit verbundenen Aufforderung des Gegensteuerns künftig keine Verzögerungen bei der Fertigstellung von Gesamtprojekten mehr auftreten werden. Dies ist in der Realität nicht der Fall. Grundvoraussetzung für die Wirkungsweise der Meilensteintrendanalyse ist - wie bei allen betriebswirtschaftlichen Methoden - die sorgfältige Planung der zu unterstützenden Vorgänge und die gewissenhafte Erfassung und Abbildung der jeweiligen Ist-Zustände. Selbst wenn dies geschieht und theoretische Auswege aus den Verspätungszuständen aufgezeigt werden, kann die Methode nicht sicherstellen - hier endet ihr Aufgabenbereich -, dass adäquate Maßnahmen tatsächlich zeitnah ergriffen werden. Zum Teil werden auch äußere Umstände mögliche Reaktionen verhindern. Insofern bildet die Meilensteintrendanalyse durch ihre Erfassungs- und Darstellungsfunktion eine Art Grundvoraussetzung zur dezentralen terminbezogenen Prozesssteuerung. Sie kann den Erfolg jedoch nicht isoliert herbeiführen. Häufig muss man Forschungs- und Entwicklungsmitarbeiter von der Notwendigkeit des Einsatzes dieser oder ähnlicher Methoden überzeugen. Insofern befinden sich Technologie- und Innovationsmanager in einem Dilemma: Erfassen sie als Führungskräfte entsprechende Daten, fühlen sich Entwickler und Projektbearbeiter häufig überwacht. Dies kann bei Projekten mit hohen kreativen Anteilen, die nicht routinemäßig abzuhandeln sind, zu einer Art Schockstarre führen. Immer wieder werden angstfreie Räume mit wenig Überwachung gefordert, um das kreative Potenzial zu stimulieren. Andererseits müssen zeitliche Vorgaben Beachtung finden. Übergeben Technologie- und Innovationsmanager die Überwachungsaufgabe mittels Meilen- <?page no="77"?> 1.12 Meilensteintrendanalyse 77 1 steintrendanalyse den Entwicklern selbst, reagieren diese gelegentlich mit Abwehrhaltung und der Begründung, dass für noch mehr administrative Tätigkeiten keine Zeit vorhanden sei und dass die zusätzliche Tätigkeit Ressourcen erfordere, die für die zügige Projektbearbeitung nötig wären. Häufig können Entwickler zur Nutzung der Methode ermuntert werden, wenn verdeutlicht wird, dass die Einhaltung der Plantermine von großer Bedeutung ist, diese in die Beurteilung der Entwicklungsleistung einfließt und die Verantwortung hierfür beim Entwicklungsteam liegt. <?page no="78"?> 78 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement 1.13 Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse Problemstellung: Überwachung von Projektleistung, Projektkosten und Projektlaufzeit zum Ermöglichen frühzeitiger Korrekturen Zielgruppe: F&E-Projektleiter, Projekt-Controller, F&E-Controller, Innovationsteamleiter Voraussetzungen: Fundierte Projektplanung und projektbegleitende Datenerhebung Zielsetzung der Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse Zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte beanspruchen mehr Entwicklungszeit und verursachen höhere Kosten als ursprünglich vorgesehen. Verspätet und teurer als angesetzt zum Abschluss gebrachte Entwicklungsvorhaben werden häufig zu einem wirtschaftlichen Misserfolg. Mit Blick auf solche Fälle stellt sich die Frage, ob durch gezielte Kontrolle zentraler Projektgrößen und durch geschickte Lenkung des Projektes der Erfolg herstellbar gewesen wäre. Die Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse ist eine betriebswirtschaftliche Methode, die eine integrative Überwachung der Projektkosten und der Projektleistung während der Projektlaufzeit ermöglicht. Sie bildet ein Controlling-Instrument, welches dem Projektleiter Hinweise gibt, in welcher Weise Eingriffe erforderlich sind. Das Ziel der Methode besteht darin, Abweichungen frühzeitig erkennen und durch Korrekturen die Erreichung des geplanten Zustandes ermöglichen zu können. Der integrative Ansatz erlaubt es auch, Abweichungsursachen zu bestimmen. Beschreibung der Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse Projekte werden hinsichtlich ihrer Ziele, ihres Umfangs, des zeitlichen Ausmaßes sowie ihrer kostenseitigen Dimension geplant. Forschungs- und Entwicklungsprojekte beanspruchen in der Regel längere Zeiträume als andere Vorhaben und verursachen - je nach Branche - typischerweise hohe Kosten. Unternehmen im Allgemeinen und Forschungs- und Entwicklungsverantwortliche sowie Projektleiter im Besonderen sind vor allem daran interessiert, den Projektfortschritt im Auge zu behalten. Dabei soll sowohl der Fortschritt auf technischer Seite als auch die Entwicklung der Termin- und Kostensituation berücksichtigt werden. Die Überschreitung von Entwicklungszeiten führt gewöhnlich zu verspäteten Markteinführungen und unter Umständen zu sinkenden finanziellen Rückflüssen. Möglicherweise wird durch den verzögerten Markteintritt auch die Umsetzung einer bestimmten Strategie - zum Beispiel einer Pionierstrategie - erschwert. Eine Überschreitung der angesetzten Kosten senkt die Rentabilität des Projektes und schmälert den Spielraum, weitere Entwicklungsprojekte angehen zu können. Für ein in Zielstellung, Umfang und Struktur definiertes Projekt werden Plankosten angesetzt. Diese werden nicht nur der Höhe nach bestimmt. Vielmehr definiert man, <?page no="79"?> 1.13 Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse 79 1 in welchen Zeiträumen welche Kosten anfallen werden. Handelt es sich etwa um einen linearen Kostenverlauf über die gesamte Projektlaufzeit oder fallen in den ersten Perioden höhere Kosten als in späteren an oder umgekehrt? Diese Plankostenkurve sollte zu Projektbeginn verfügbar sein. Die Projektstruktur wird Kontrollzeitpunkte vorsehen, zu denen dann jeweils ermittelt wird, welche Kosten bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich angefallen sind. Der Vergleich dieser Ist-Kosten mit den Plankosten gibt Aufschluss darüber, in welchem Verhältnis Plan- und Ist-Kosten zueinanderstehen. Es können sich drei Fälle einstellen: [1] Beide Kostenpositionen stimmen überein - alles scheint in Ordnung zu sein. [2] Die Ist-Kosten übersteigen die Plankosten - dies bildet ein Warnsignal, ist hier mit einer Verteuerung des Projektes zu rechnen? [3] Die Ist-Kosten liegen unter den Plankosten - möglicherweise konnten die bisherigen Projektschritte aufwandsärmer als ursprünglich angesetzt ausgeführt werden. Die angedeuteten Schlussfolgerungen sind in allen drei Fällen allerdings nur Vermutungen und nicht hinreichend belastbar, da man bislang nur die Kostenseite und nicht die Leistungsseite betrachtet hat. Das heißt, dass im Fall [1] zwar zeitpunktbezogen die Kosten übereinstimmen können, dass der leistungsmäßige Ist-Projektstand aber hinter dem Plan-Projektstand zurückliegen könnte. Man hat beispielsweise in zwei Monaten - wie geplant - 500.000 Geldeinheiten Einwicklungskosten verbraucht, aber die erwarteten Entwicklungsergebnisse in Form fertig konstruierter Komponenten nicht vorgelegt. Insofern kann man das Projekt keineswegs als plankonform und in Ordnung einstufen. Auch im Fall [2] benötigt der Betrachter eine Aussage über den Leistungsstand. Ansonsten können die höheren Ist-Kosten einerseits kritisch als Ressourcenmehrverbrauch interpretiert werden oder andererseits als unkritisch gelten, wenn ein größerer Projektfortschritt als anfänglich für diesen Zeitpunkt vorgesehen erreicht wurde. Schließlich kann man die höheren Ist-Kosten auch als überkritisch verstehen, wenn mehr Ressourcen als geplant verbraucht wurden, aber kein für die Plankostenhöhe zum Kontrollzeitpunkt vorgesehener Projektfortschritt erkennbar ist. Klarheit könnte man herstellen, indem man in einem extra Diagramm mit einer gesonderten Messgröße den Fortschritt des Projektes abbildet und in der Gesamtschau des Projektfortschrittsdiagramms und des Kostenverlaufsdiagramms einen Überblick erhält. Die Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse geht jedoch einen anderen Weg. Diese Methode basiert nicht auf der Erstellung eines zweiten Diagramms, sondern integriert die Leistungssicht in das Kostenverlaufsdiagramm. Auf diese Weise kann man die Gesamtsituation quasi auf einen Blick erfassen. Wie kann nun aber die Leistungssicht in ein Kostendiagramm eingetragen werden? Hierzu wird der Begriff der Soll-Kosten eingeführt. Soll-Kosten weisen die Plankosten für die erreichte Ist-Leistung zum Kontrollzeitpunkt aus. 100 Abbildung 37 zeigt die drei Kostengrößen Plan-Projektkosten, Ist-Projektkosten und Soll-Projektkosten. Die Plankostenkurve markiert den vorgesehenen Kostenverlauf bis 100 Vergleiche Friedl (2013, S. 67). <?page no="80"?> 80 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement zum Projektende. Ist- und Soll-Kosten können immer nur bis zum Kontrollzeitpunkt ermittelt werden. Im vorliegenden Beispiel ist zu sehen, dass die Ist-Kosten zum Kontrollzeitpunkt höher liegen als die Plankosten. Es wird durch die Soll-Kosten abgebildet, ob der für diesen Zeitpunkt T K vorgesehene Leistungsstand erreicht wurde. Im hier dargestellten Fall wurde der für diesen Zeitpunkt avisierte Leistungsstand noch nicht erreicht, sondern erst der Leistungsstand des Zeitpunktes T K-2 . Das heißt, das Projekt hätte gemessen am technischen Projektstand erst die Kostenhöhe der Plankosten aus dem Zeitpunkt T K-2 erreichen dürfen. Für den Betrachter werden insbesondere drei Sachverhalte deutlich sichtbar: Es besteht eine Leistungsabweichung ΔL. Das Projekt hat noch nicht den gewünschten technischen Stand erreicht. Es gibt eine Terminabweichung in Höhe von ΔT. Das Projekt ist verzögert. Es existiert zum Kontrollzeitpunkt eine Kostenabweichung zwischen real entstandenen und vorgesehenen Kosten für den erreichten Leistungsstand von ΔK. Das Projekt ist tendenziell unwirtschaftlich. Abbildung 37: Beispielhafte Kostenverlaufskurven und Abweichungen einer integrierten Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse 101 Die Leistungsabweichung wird durch die Differenz aus Soll-Projektkosten und Planprojektkosten - beide zum Kontrollzeitpunkt - greifbar. Die Kostenabweichung - gelegentlich auch als Verbrauchsabweichung bezeichnet - manifestiert sich in der Differenz aus Ist-Projektkosten und Soll-Projektkosten. 101 Modifiziert nach Bea, Scheurer & Hesselmann (2011, S. 303). <?page no="81"?> 1.13 Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse 81 1 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse kann man in unterschiedlichen Bereichen durchführen. Gerade für langfristige und kostenintensive Projekte kann die Methode zu einer wirksamen Kontroll- und Steuerungshilfe werden. Die Errichtung neuer Fertigungsstätten, die Umplanung von Werkhallen oder die Entwicklung neuer Produkte und Verfahren bilden potenzielle Einsatzfelder. Das Vorgehen der Projekt-Kosten- Leistungs-Analyse gliedert sich in fünf Schritte: 102 Ermittlung und Abbildung der Plankosten, Erhebung und Darstellung der Ist-Kosten, Erfassung und Abbildung der Soll-Kosten, Bewertung der Ergebnisse, Abschätzung der weiteren Entwicklung. Die Plankostenkurve bildet die Orientierungslinie für die anderen Kostenkurven. Sie wird in ihrem Verlauf vor Projektbeginn festgelegt. Dies sollte keine willkürliche Festlegung sein. Vielmehr können vergleichbare, bereits abgeschlossene Projekte, die Erhebung von Eigen- und Fremdleistungskosten und -anteilen sowie der Einsatz von Schätzverfahren helfen, eine realitätsnahe Plankostenkurve zu bestimmen. 103 Eine Veränderung der Plankostenkurve während des Projektverlaufes ist im Normalfall nicht vorgesehen. Einzig die Erneuerung von Projektzielen und die Umgestaltung des Projektzuschnitts können einen derartigen Schritt erforderlich werden lassen. Die Erhebung der Ist-Kosten setzt voraus, dass alle Kosten erfasst wurden, die im Zusammenhang mit der Bearbeitung des Projektes stehen. In Forschungs- und Entwicklungsprojekten werden dies regelmäßig auch hohe Personalkosten sein. Arbeiten Entwickler an unterschiedlichen Projekten, müssen die Aufwände den Projekten separat zurechenbar sein. Zeitaufschreibungs- und -erfassungsansätze 104 , die allerdings in F&E-Abteilungen regelmäßig auf Widerstände stoßen, unterstützen diese Zuschlüsselung. Ist keine kontinuierliche, das Projekt begleitende Ist-Kostenerfassung vorgesehen, wird der Schritt der Ist-Kostenabbildung sehr aufwändig sowie fehler- und manipulationsanfällig. Die Erfassung der Soll-Kosten erfordert eine inhaltlich-technische Bewertung des Projektfortschrittes, in deren Mittelpunkt vor allem die Beurteilung des erreichten Sachstandes steht. Hier dürfte in der Regel die Einschätzung eines Technikers hilfreich sein. Durch die Feststellung des technischen Sachstandes wird mit Blick auf die Projektplanung sichtbar, zu welchem Zeitpunkt mit welchen Kosten dieser Stand hätte erreicht werden sollen. Die geplanten Kosten für die erreichte Ist-Leistung zum Kontrollzeitpunkt werden angegeben. Es folgt die Eintragung in das Kostenverlaufsdiagramm. 102 Vergleiche Bea, Scheurer & Hesselmann (2011, S. 303 ff). 103 Vergleiche Specht & Mieke (2002, S. 55). 104 Vergleiche beispielhaft Hauschildt & Salomo (2011, S. 313). <?page no="82"?> 82 1 Forschung, Entwicklung und Innovationsmanagement Sind Plan-, Ist- und Soll-Kosten erhoben und abgebildet, nimmt man eine Beurteilung vor. Man prüft, ob die verschiedenen Kostenverlaufskurven voneinander abweichen und in welchem Umfang Leistungs-, Termin- und Kostenabweichungen bestehen. Auch hier ist das quantitative Ausweisen der Abweichungshöhe erforderlich. In dieser Phase sollte man Ursachen für etwaige Abweichungen identifizieren: Waren etwa die Plankosten zu niedrig angesetzt, weil keine Vergleichswerte vorlagen? Konnte das Team nicht planmäßig mit dem Projekt starten? Gibt es Probleme in der Zusammenarbeit - beispielsweise in interkulturellen oder interdisziplinären Teams? Wurden immer weitere Anforderungen an Projektergebnis und -qualität formuliert, die anfangs nicht bestanden haben? Die Kenntnis der Ursachen und der Abweichungshöhen erlaubt Prognosen zum weiteren Projektverlauf. Am Beispiel der Kostenprognose wird dies deutlich. Geht man davon aus, dass keine Gegenmaßnahmen eingeleitet würden und die Abweichungsursache auch für kommende Projektphasen relevant ist und in gleichem Maße wirksam werden dürfte, dann ergäbe sich ein neuer Wert für die Gesamtkosten des Projektes: 𝐾𝐾 𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔,𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔ℎä𝑔𝑔𝑡𝑡𝑔𝑔 = 𝐾𝐾 𝑃𝑃𝑃𝑃𝑃𝑃𝑃𝑃,𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔𝑔 ∗ 𝐾𝐾 𝐼𝐼𝐼𝐼𝐼𝐼,𝐼𝐼 𝐾𝐾 𝐾𝐾 𝐼𝐼𝑆𝑆𝑃𝑃𝑃𝑃,𝐼𝐼 𝐾𝐾 Nach diesen fünf analysedominierten Schritten wird man im Bedarfsfall einen Maßnahmenkatalog entwickeln. Die einzelnen Aktivitäten zielen darauf ab, ungewünschte Abweichungen auszugleichen, um den Fort- und Ausgang des Projektes erfolgreich zu gestalten. Weiterführende Hinweise Die Projekt-Kosten-Leistungs-Analyse bietet die Möglichkeit, projektbegleitend Abweichungen zu erkennen und das Projekt durch zielgerichtete Eingriffe auf die Erfolgsspur zurückzuführen. Allerdings wird die Methode keine Hilfe sein, wenn Plankosten schlecht geschätzt wurden, die Erhebung der Ist-Kosten nicht präzise erfolgt und Projektpläne keine technischen Projektfortschritte und Zeitpunkte ausweisen. Auch die nachträgliche Korrektur der Plankosten - der man in der betrieblichen Praxis immer wieder begegnet - schafft für die reale Situation keine Abhilfe. Fehlt es an Kreativität und Durchsetzungskraft beim Einbringen von Korrekturmaßnahmen, dann entfaltet die Methode keinen praktischen Nutzen, denn die Kenntnis einer misslichen Lage allein genügt nicht, um etwas zu verbessern. <?page no="83"?> 2 Beschaffung und Logistik <?page no="84"?> 84 2 Beschaffung und Logistik Beschaffung und Logistik sind betriebliche Funktionen, die anders als die Produktion nicht als originär wertschöpfend gelten. Sie ermöglichen jedoch durch ihr Wirken erst effektive und effiziente Wertschöpfungsprozesse. Die alte Kaufmannsweisheit „im Einkauf liegt der Gewinn“ erhält angesichts sinkender Wertschöpfungstiefen in zahlreichen Branchen zunehmende Bedeutung. 105 Metatrends wie Individualisierung, Globalisierung und Innovationswettbewerb haben zu verstärkter Professionalisierung der Einkaufsaktivitäten und zur Perspektivenerweiterung geführt. Die Unternehmensfunktionen Beschaffung oder Einkauf organisieren die Versorgung des Unternehmens mit Objekten, die das Unternehmen nicht selbst erzeugt. 106 Im weitesten Sinne kann auch die Beschaffung von Mitarbeitern und Kapital dazu gerechnet werden, wenngleich üblicherweise die Versorgung mit Produktionsmaterial - also mit Rohstoffen, Hilfsstoffen und Vorprodukten - als Kernaufgabe der betrieblichen Beschaffung gesehen wird. Ergänzend fallen sowohl Investitionsgüter wie Maschinen und Anlagen als auch Betriebsstoffe und produktionsnahe Dienstleistungen sowie Rechte in den Aufgabenbereich. Die Unternehmensfunktion Logistik befasst sich mit der Planung, Steuerung und Überwachung der Material-, Personen-, Energie- und Informationsflüsse in Systemen. 107 Als Systeme werden Werkhallen und Unternehmen, aber auch ganze Lieferketten verstanden. Das Hauptaugenmerk dürfte bei produzierenden Unternehmen auch im Bereich der Materialflüsse liegen. Unternehmensintern betrachtet man beispielsweise, auf welche Art Materialien von einer Bearbeitungsstation zur nächsten gelangen und an welchen Orten Lagerplätze vorgehalten werden. Hierfür muss man zum Beispiel geeignete Transport- und Transporthilfsmittel bereitstellen. Unternehmensübergreifend wird der Austausch von Waren organisiert - Beschaffungsobjekte müssen von den Lieferanten zum weiterverarbeitenden Unternehmen gelangen, Fertigwaren sollen zu Händlern oder Kunden gebracht werden. Dafür plant die Logistikabteilung geeignete Verkehrsmittel und Routen. Wegen der Unterschiedlichkeit der Anforderungen der Logistikobjekte und daraus resultierender spezifischer Konzepte wird die Logistik für gewöhnlich in Beschaffungs-, Produktions-, Distributions- und Entsorgungslogistik gegliedert, 108 wenngleich das Grundverständnis und die jeweiligen Zielgrößen nahezu identisch sind. Den Aktivitäten der Beschaffungslogistik gehen die Einkaufstätigkeiten voraus. Die Einkaufsabteilung beobachtet Beschaffungsmärkte, die alle Anbieter eines zu beschaffenden Gutes und Anbieter für Substitutionsprodukte des zu beschaffenden Gutes umfassen. 109 Aufkommende Trends wie Verknappungstendenzen, Preisveränderungen, Anbieterkonzentrationen oder das Entstehen von Substituten müssen analysiert und hinsichtlich der Bedeutung für das eigene Unternehmen bewertet werden. Ebenso 105 Vergleiche zur Hebelwirkung des Einkaufs Hahn & Kaufmann (2003, S. 255) und Kuhl (1999, S. 15). 106 Vergleiche Arnold (1997) und Kaufmann (2001, S. 39 f). 107 Vergleiche Jünemann (1989, S. 11). 108 Vergleiche zu Klassifikationsmöglichkeiten Wittig (2005, S. 19) und Zillig (2001, S. 137). 109 Vergleiche Arnold (1997). <?page no="85"?> 2 Beschaffung und Logistik 85 2 muss der Einkauf unternehmensintern Beschaffungsbedarfe ermitteln. In Abstimmung mit den Forschungs- und Entwicklungs-, Produktions-, Logistik-, Qualitätssicherungs- und Controlling-Abteilungen werden Beschaffungsanforderungen wie Art und Qualität des Materials, Lieferfähigkeit des Lieferanten, Beschaffungsvolumina und weitere Größen definiert. Schließlich erarbeitet die Beschaffungsabteilung ein Bündel von Beschaffungsoptionen, das bestehende Quellen absichert, neue einbezieht und dem Unternehmen adäquate Marktmacht im Beschaffungskontext verschafft. 110 Eine wichtige Aufgabe besteht in der Definition von Beschaffungsstrategien, die als Handlungskorridore auf dem Weg zur Zielerreichung dienen. Abbildung 38 macht deutlich, dass sich Beschaffungsstrategien im Allgemeinen auf mehrere Dimensionen beziehen. 111 Abbildung 38: Beschaffungsstrategien Die Strategie zur Definition des Trägers der Wertschöpfung umfasst Entscheidungen, für welche Bauteile und Baugruppen man Eigenerstellung und für welche Fremdbezug anstrebt. Diese Entscheidung trifft die Beschaffungsabteilung nicht isoliert, sondern in enger Abstimmung mit der Unternehmensleitung und der Produktionsabteilung. Dabei wird man insbesondere strategische Aspekte sowie Kosten und Risiken berücksichtigen. Bei den Überlegungen zur Festlegung der Anzahl von Bezugsquellen für einzelne Beschaffungsobjekte müssen Bündelungseffekte und langfristiger Vertrauensaufbau einerseits sowie Risikostreuung und Erhalt der eigenen Marktmacht andererseits gegeneinander abgewogen werden. Hinsichtlich der Komplexität des Inputs prüft der Einkauf, ob es vorteilhafter ist, Einzelteile zu beschaffen oder vorgefertigte Module vom Lieferanten zu beziehen. Bei den Strategien zur Bereitstellungsart besteht die Wahl zwischen Beschaffung auf Lager oder Just-in-time-Beschaffung. Hinsichtlich der Größe des Marktraumes wählt der Einkauf zwischen lokaler, regionaler, nationaler oder globaler Beschaffung der Rohstoffe und Vorprodukte. Durch die Entscheidungen des Einkaufs und die strategischen Rahmenbedingungen werden wesentliche Restrik- 110 Vergleiche Scheuring (1986). 111 Vergleiche Arnold (1997) und Wannenwetsch (2010, S. 163). <?page no="86"?> 86 2 Beschaffung und Logistik tionen für die Beschaffungslogistik gesetzt. 112 Beschafft ein deutsches Unternehmen im Rahmen einer global angelegten Beschaffungsstrategie Vorprodukte zum Beispiel in Asien, hat die Logistik die Überbrückung großer Distanzen unter Nutzung verschiedener Verkehrsmittel zu organisieren. Eine andere Situation würde sich ergeben, wenn der Lieferant im Nachbarort beheimatet wäre. Vorgefertigte Module erfordern andere Transporthilfsmittel als Einzelteile. Eine Beschaffung auf Lager bedingt die Verfügbarkeit von Lagerplatz und lagertechnischer Infrastruktur, während die Realisierung von Just-in-time-Beschaffung sichere Transportketten voraussetzt. Diese Beispiele zu möglichen Auswirkungen der Beschaffungsstrategien auf die Logistik verdeutlichen die Kernaufgaben und primären Zielgrößen der Logistik, die sich insbesondere mit dem Transport, dem Umschlag und der Lagerung von Objekten befasst. Abbildung 39: Lieferkette Das bedeutet, dass man neben den bereits angesprochenen Transportaktivitäten auch die Lagerplanung und Lagerbewirtschaftung und das Umschlagen und Kommissionieren von Waren berücksichtigen muss - häufig als TUL-Logistik abgekürzt. 113 Wie in Abbildung 39 dargestellt, obliegt der Logistik wegen ihrer Kopplungsfunktion zwischen Systemen zunehmend auch die Koordination von Aktivitäten ganzer Lieferketten im Rahmen des so genannten Supply Chain Managements. Der Ansatz des Supply Chain Managements zielt auf die Verbesserung der Versorgung, auf die Erhöhung der 112 Vergleiche zu den noch viel weiter reichenden Auswirkungen der Beschaffungsstrategien auf Wettbewerbsstrategien und Absatzmarkterfolge Amman & Essig (2011, S. 11 f). Zu auf Start-up- Unternehmen ausgerichteter Beschaffungslogistik vergleiche Hietschold & Fottner (2018, S. 33 ff). 113 Vergleiche Klaus & Krieger (2008, S. 585). <?page no="87"?> 2 Beschaffung und Logistik 87 2 Kundenorientierung, auf die Reduktion der Bestände und auf die Ausweitung des Flexibilitätsniveaus durch abgestimmte Planung und passfähiges Agieren der Mitglieder in einer Wertschöpfungskette. 114 Dabei ist in der Regel nicht von einer Ketten-, sondern eher von einer Netzstruktur auszugehen. Daher wird gelegentlich - wie in Abbildung 40 illustriert - vom so genannten Demand Net Management gesprochen. Die Logistik beansprucht zunehmend - obwohl innerhalb der Unternehmensfunktionen eindeutig eine Sekundär- und Unterstützungsfunktion - eine Führungsrolle. 115 Abbildung 40: Demand Net Management 116 Beschaffung und Logistik benötigen betriebswirtschaftliche Methoden, die es ihnen erlauben, Einkaufspreisreduktionen und Kostensenkungen zu initiieren, Versorgungssicherheit herzustellen, fähige Lieferanten zu finden und aufzubauen, Innovationsimpulse aus dem Beschaffungsmarkt zu organisieren und durch flexible Beschaffungsquellen die Anpassungsfähigkeit des Unternehmens zu optimieren. 114 Vergleiche Kuhn & Hellingrath (2002, S. 10). Böhnke, Pointner & Ramsauer (2017, S. 556 ff) verweisen auf die Bedeutung der Robustheit von Lieferketten. 115 Vergleiche dazu die Entwicklungsstufen der Logistik bei Zillig (2001, S. 112). 116 Modifiziert nach Arndt (2005, S. 46). <?page no="88"?> 88 2 Beschaffung und Logistik 2.1 Make-or-Buy-Entscheidung Problemstellung: Entscheidung über Eigenfertigung oder Fremdbezug von Bauteilen im Rahmen von Überlegungen zur Konzentration auf Kernkompetenzen und Kostensenkungen Zielgruppe: Geschäftsführer, Produktionsleiter, Beschaffungsleiter, Logistiker Voraussetzungen: Kenntnis der Unternehmensstrategie, Informationen über Kosten der Eigenerstellung und des Fremdbezugs und Übersicht über verfügbare Ressourcen Zielsetzung der Make-or-Buy-Entscheidung In Make-or-Buy-Entscheidungsprozessen soll analysiert werden, welche Variante der Verfügbarmachung bestimmter Artefakte vor dem Hintergrund der Unternehmensziele und der konkreten Umfeldbedingungen die betriebswirtschaftlich sinnvolle Alternative darstellt. Diese Entscheidungen werden üblicherweise nach Neuproduktentwicklungen, aber auch vor dem Hintergrund der Produktionsoptimierung und der damit verbundenen Festlegung der Wertschöpfungstiefe, wie auch im Beschaffungswesen im Kontext von Kostenreduktionsbemühungen und der Schaffung einer sicheren Versorgungssituation getroffen. Die Grundfrage lautet: Sollen bestimmte Komponenten, Module oder Systeme, die in ein Produkt des Unternehmens eingehen, selbst produziert oder bei Zulieferunternehmen gekauft werden? 117 Prinzipiell muss man diese Frage für jedes Bauteil und jede Baugruppe wie auch für die Montage des Gesamtproduktes beantworten. Im einen Extremfall können Make-or-Buy-Entscheidungen dazu führen, dass Unternehmen nicht mehr selbst produzieren, da der Zukauf der Gesamtprodukte die günstigste Lösung darstellt. In der Praxis findet man immer wieder Unternehmen, die ihre Kernkompetenzen im Bereich der Produktentwicklung und Produktvermarktung haben und demnach die Produktion zur Gänze einstellen. Im anderen Extremfall - wenn alle Fragen mit „Make“ beantwortet werden - entstehen Unternehmen mit ausgeprägter Fertigungstiefe, die alle Produktionsschritte selbst ausführen und möglicherweise lediglich Rohstoffe von Gewinnungsunternehmen beziehen. Die meisten Unternehmen weisen eine mittlere Fertigungstiefe mit gewissen Tendenzen zur Verringerung auf. Sie kaufen Vorprodukte und verarbeiten diese zu Endprodukten weiter. Insgesamt zielen gewinnorientierte Unternehmen darauf ab, die für sie optimale Balance aus Zukauf und Eigenerstellung zu ermitteln. Beschreibung der Make-or-Buy-Entscheidung Häufig ist zu hören, dass bei der Ermittlung von Eigenerstellung oder Fremdbezug die kostengünstigste Variante gesucht wird. Diese Sichtweise beleuchtet einen wichtigen Aspekt, greift aber insgesamt zu kurz. Die Entscheidung sollte man von einer Vielzahl 117 Vergleiche Ramser (1979, Sp. 435). <?page no="89"?> 2.1 Make-or-Buy-Entscheidung 89 2 von Kriterien abhängig machen, die häufig nicht vollständig monetarisierbar, dennoch aber von hoher Relevanz sind. So sollte man neben der Kostenhöhe 118 beispielsweise auch folgende Kriterien berücksichtigen: 119 Art der Kernkompetenzen, Höhe der Produktionskapazität, Höhe des Kapitalbedarfs, Regelmäßigkeit des Bedarfs der Objekte, Verfügbarkeit potenzieller Lieferanten, Verhandlungsposition am Markt, Abhängigkeit von etwaigen Lieferanten. Diese Kriterienliste verdeutlicht die dem Entscheidungsproblem innewohnende strategische Dimension. So wird man Unternehmen nicht empfehlen, trotz geringerer Kosten, die Zukaufvariante zu wählen, wenn sie sich dadurch in eine einseitige Abhängigkeit von einem Lieferanten begeben, wenn keine Alternativlieferanten existieren und wenn das zu beschaffende Bauteil eine Kernkomponente des zu erstellenden Produktes darstellt. In dieser Situation wird der Lieferant seine starke Stellung ausnutzen und - vielleicht mit etwas Zeitverzögerung - Preise und Konditionen diktieren. Das beschriebene Szenario macht die Risiken deutlich und zeigt die Relevanz einer ganzheitlich angelegten Bewertung aller Alternativen, die durch einen strukturierten Make-or-Buy-Entscheidungsprozess Berücksichtigung finden können. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Das Beschaffungsmanagement wird immer wieder prüfen, ob für eigenerstellte Komponenten auch Beschaffungsmöglichkeiten am Markt bestehen und wie sich diese gegenüber der Eigenproduktion darstellen. Einkaufsabteilungen leisten damit einen wichtigen Beitrag zur strategischen Positionierung des Unternehmens. Vom strategischen Einkauf wird erwartet, dass dieser Impulse für Veränderungen wertschöpfungsbezogener Aktivitäten gibt. Ohnehin ist derzeit in zahlreichen Unternehmen ein Bedeutungszuwachs der Funktion Beschaffung zu verzeichnen. Der Grund liegt insbesondere darin, dass die Materialintensitäten in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen sind und Unternehmen in der Einkaufsfunktion nicht mehr den Abwickler von Bestellungen sehen. Vielmehr operiert die Beschaffung als integrativ analysierender und handelnder Akteur an der Schnittstelle zum Beschaffungsmarkt, der auch versucht, Beschaffungsmarktstrukturen im Sinne der Unternehmensinteressen zu beeinflussen. 118 Das Kostensenkungsmotiv steht an erster Stelle der Beweggründe für Fremdbezug bislang eigenerstellter Objekte (vergleiche Kremic, Tukel & Rom 2006, S. 471). 119 Vergleiche Mikus (1998, S. 17 f). <?page no="90"?> 90 2 Beschaffung und Logistik Abbildung 41: Schritte im Make-or-Buy-Entscheidungsverfahren Make-or-Buy-Entscheidungen werden, wie in Abbildung 41 dargestellt, in einem mehrstufigen Verfahren getroffen. 120 Zunächst wird gefragt, ob die Produktion des betreffenden Objektes zu den Kernkompetenzen des Unternehmens zählt. Dadurch wird der Blick auf die Fähigkeiten der Organisation gelenkt. Je weniger die Zuordenbarkeit zu den Kernkompetenzen gegeben ist, desto eher spricht dies für die weitere Prüfung der Beschaffungsoption. Danach wird ein Bündel von Nebenbedingungen untersucht: zum Beispiel vorhandene Produktionskapazitäten, eventuelle Ausbaumöglichkeiten der Produktionsressourcen, die Verfügbarkeit des benötigten Kapitals und die Regelmäßigkeit des Bedarfs an dem entsprechenden Untersuchungsgegenstand. Je schwächer diese Kriterien ausgeprägt sind, desto stärker rückt die Beschaffungsvariante in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ferner wird untersucht, ob es sich um ein bedeutsames Vorprodukt mit zentraler Stellung im Gesamtsystem und dem Potenzial zu hoher wettbewerblicher Differenzierungswirkung handelt. Je weniger man eine wettbewerbliche Differenzierungswirkung vermutet, desto eher wird man weitere Prüfungen in Richtung Zukauf vornehmen. Daran anknüpfend erfolgen Recherche und Bewertung, um zu bestimmen, ob überhaupt eine hinreichende Verfügbarkeit der Komponenten oder Baugruppen auf den Beschaffungsmärkten gegeben ist. Je höher die Verfügbarkeit, desto eher wird die Zukaufmöglichkeit in Frage kommen. In diesem Kontext sind auch die Größen Zuverlässigkeit von Lieferanten und Lieferketten, das Qualitätsniveau von Erzeugnissen und die Prozesse der Lieferanten zu analysieren. Durch die Höhe der Verfügbarkeit am Markt werden auch die Kriterien Autonomie und Marktmacht bestimmt. Bei hoher Verfügbarkeit dürften Autonomieausmaß und Marktmacht des potenziell beschaffenden Unternehmens hinreichend aufrechterhalten werden können. Strategische Bedeutung des Untersuchungsobjektes und Verfügbarkeit am Markt werden häufig in einer Portfoliodarstellung zusammengefasst, die als Ergebnis der ersten Phase des Make-or-Buy-Entscheidungsprozesses gilt. 120 Einen Überblick verschiedener Ansätze gibt Irle (2011, S. 29 ff). <?page no="91"?> 2.1 Make-or-Buy-Entscheidung 91 2 Abbildung 42: Make-or-Buy-Portfolio Aus der in Abbildung 42 illustrierten Portfoliodarstellung kann man Normstrategien ableiten, die als Hinweise zu verstehen sind, in welche Richtung Entscheidungen ausfallen können. Allerdings unter dem Vorbehalt, dass auch die auf den Wirtschaftlichkeitsvergleich zielende Kostenbetrachtung zu einem ähnlichen Resultat führen wird. Das Portfolio empfiehlt bei hoher strategischer Bedeutung der untersuchten Bauteile und Baugruppen gekoppelt mit geringer Verfügbarkeit der Objekte am Markt die Eigenerstellung. Bei geringer strategischer Bedeutung und hoher Verfügbarkeit wird Fremdbezug angeregt. Sind beide Merkmale gleich stark ausgeprägt, ist keine klare Normstrategie vorgesehen, sondern die Entscheidung nur unter Berücksichtigung weiterer Entscheidungskriterien zu treffen. In der zweiten Phase steht die Analyse der Kostenverläufe der Alternativen im Vordergrund. Es wird erfasst und beispielsweise in Kostenverlaufsdiagrammen visualisiert, welche Kosten je Alternative bei bestimmten Bedarfsmengen von Objekten anfallen. Darauf aufbauend kann man Mengenbereiche ermitteln, innerhalb derer Fremdbezug vorteilhaft wäre und Mengenbereiche, in denen man bei gleichem Objekt Eigenfertigung empfehlen würde. In der Regel dürfte bei niedrigem Bedarf die Beschaffung der Objekte geringere Kosten aufweisen als die Eigenfertigungsvariante - fallen bei letzterer doch häufig hohe Fixkosten an, die bei kleinen Stückzahlen durch geringere variable Kosten als bei der externen Beschaffung kaum zu kompensieren sein dürften. Sind hohe Stückzahlen geplant, wird bei der kostenbasierten Sichtweise häufig die Eigenfertigungslösung in den Vordergrund treten. Ein schematisches Kostenverlaufsdiagramm enthält Abbildung 43. <?page no="92"?> 92 2 Beschaffung und Logistik Abbildung 43: Kostenverlaufsdiagramm In der betrieblichen Praxis zeigt sich immer wieder, dass die Erfassung der Kosten zur Durchführung des Alternativenvergleiches aufwändig ist. Der Aufwand bezieht sich dabei weniger auf die Verfügbarmachung der Kosten für die externe Beschaffung der Objekte. Hier kann man durch Anfrage beim Lieferanten in der Regel sehr unkompliziert die Höhe zu zahlender Preise für unterschiedliche Mengen ermitteln. Für die Eigenfertigung sind die Kosten für Rohstoffe und für die eigene Produktion auszuweisen - hier fallen etwa Maschinenkosten, Personalkosten der Produktionsmitarbeiter und weitere Gemeinkosten an. Diese sind teilweise kaum exakt zu quantifizieren, wenn noch keine Erfahrungen in der Produktion derartiger Objekte vorliegen oder noch gar keine entsprechenden Mitarbeiter und benötigten Maschinen im Unternehmen vorhanden sind. Zur Sicherung der Make-or-Buy-Entscheidungsqualität sollten jedoch erforderliche Datenerhebungen realisiert und Schätzverfahren angewendet werden. Weiterführende Hinweise Make-or-Buy-Entscheidungen liefern nur dann gute Ergebnisse, wenn sie die Vielschichtigkeit der Entscheidung in den Bewertungsprozess integrieren. Einfache Ansätze, die nur die momentane Fähigkeitsausstattung des Unternehmens, nur die Lieferantenverfügbarkeit oder nur den Kostenvergleich in den Mittelpunkt rücken, sind zwar in der betrieblichen Praxis immer wieder anzutreffen, verkürzen das Problem aber unzulässig und dürften häufig zu Fehlentscheidungen führen. Auch eine statischpassive Sichtweise kann zu Fehlsteuerungen beitragen. Die aktuelle Einschätzung von Marktverhältnissen und Lieferantenfähigkeiten ist nicht für die Zukunft festgeschrieben. Lieferanten können aus Märkten ausscheiden, ihre Schwerpunkte verändern oder von Konkurrenten übernommen werden. Die Personen, die Make-or-Buy-Entscheidungen treffen und ausführen, können allerdings auch systembeeinflussend wirken. Insbesondere können sie eigene Fähigkeiten und Machtpositionen verändern, aber <?page no="93"?> 2.1 Make-or-Buy-Entscheidung 93 2 auch durch gezielte Lieferantenförderung und Lieferantenentwicklung Zulieferer befähigen, Produktionsaufgaben zu übernehmen. Auch die Kosten der Eigenfertigung können durch Technologieentwicklungen beeinflusst werden. Entscheider sollten daher für verschiedene Situationskonstellationen die Betrachtungen und Berechnungen ausführen und in gewissen Abständen für die gleichen Objekte wiederholen - können doch Veränderungen bei einzelnen Variablen, die entweder selbst herbeigeführt oder durch das Umfeld getrieben werden, ein Umschwenken nahelegen. <?page no="94"?> 94 2 Beschaffung und Logistik 2.2 Lieferantenaudit Problemstellung: Beurteilung eines neuen Lieferanten und Analyse seiner Fähigkeiten zur Risikominimierung vor Abschluss von Lieferverträgen Zielgruppe: Einkäufer, Materialgruppenmanager, Logistiker, Qualitätsmanagementmitarbeiter, Lieferantenentwickler Voraussetzungen: Mitwirkungsbereitschaft des Lieferanten, interdisziplinäre Herangehensweise und Know-how im Bereich Prozess- und Produktionsanalyse Zielsetzung des Lieferantenaudits Das Lieferantenaudit ist eine Methode der Lieferantenanalyse und Lieferantenbewertung und dient dem Abnehmer von Waren zur Erhebung von Primärdaten. Im industriellen Beschaffungswesen werden Einkaufsvorgänge nicht bei jedem auftretenden Bedarf vollständig neu angestoßen. Baut ein Automobilhersteller in seine Fahrzeuge üblicherweise Schaltgetriebe, auf Kundenwunsch aber auch Automatikgetriebe ein, so wird das Unternehmen nicht bei jeder Bestellung eines Automatikfahrzeuges erneut auf Lieferantensuche gehen. Vielmehr wird der Automobilhersteller Kooperationen mit Lieferanten eingehen, die in der Regel einen Vertrag über einen großen Teil oder über die gesamte Laufzeit der Produktion des aktuellen Modells erhalten und bei denen der Hersteller die benötigten Getriebe in vereinbarter Spezifikation und zu vereinbarten Preisen bei Bedarf abrufen kann. Für die reibungslose Funktionsweise des Ansatzes ist es von großer Bedeutung, dass man zuverlässige Lieferanten ausgewählt hat. Die Zuverlässigkeit und Fähigkeit möglicher Lieferanten wird das Unternehmen im Vorhinein prüfen wollen. Zahlreiche Informationen kann der potenzielle Lieferant dem Kunden in schriftlicher Form vorlegen. Weitere Informationen wird der Kunde selbst einholen wollen, da er gegebenenfalls ein Manipulationsinteresse seitens des Lieferanten vermutet oder weil die Einstufung, ob eine bestimmte Qualifikation vorliegt, intersubjektiv sehr unterschiedlich ausfallen kann. Zu diesem Zweck kommen Lieferantenaudits zum Einsatz. Sie liefern sehr detaillierte Informationen 121 für eine begrenzte Anzahl von in die engere Wahl genommenen Lieferanten. 122 In den entsprechenden Audits muss der Lieferant nachweisen, dass er beispielsweise die Kapazitäten oder Qualifikationen und die prozessual-organisatorischen Fähigkeiten besitzt, die geforderten Leistungen zu erbringen. Für gewöhnlich kommen zur Überprüfung dieser Aspekte Auditoren in das Unternehmen des Lieferanten und fordern Einsicht in und Stellungnahmen zu Produktionsprozessen, Anlagen, Prüfinstrumenten oder Qualitätsmanagementprozessen. Der Auditor möchte sich ein Bild machen, ob der Lieferant den gesetzten Anforderungen 121 Vergleiche Wagner (2003, S. 709 f). 122 Vergleiche Brunner & Wagner (2008, S. 31). <?page no="95"?> 2.2 Lieferantenaudit 95 2 genügt. 123 Im Ergebnis kann die Ausstellung eines Zertifikates stehen, welches das Vorhandensein des geforderten Fähigkeitenausmaßes seitens des Lieferanten dokumentiert. Der Lieferant wird sich dieser Prozedur unterziehen, da er vielfach nur hierdurch die Möglichkeit erhält, Lieferant des potenziellen Abnehmers zu werden und gelegentlich auch, um Anregungen zur Verbesserung der eigenen Vorgehensweisen von einem unternehmensexternen Gutachter zu erhalten. Beschreibung des Lieferantenaudits Das Lieferantenaudit kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn Abnehmer weitreichendere Informationen über Lieferanten benötigen, die man auch durch Nachweise oder die Lieferung von Musterteilen nicht erhält. Die Kunden der Lieferanten wollen bestimmte Fähigkeiten prüfen. Dazu wollen sie Prozesse, Strukturen, Ressourcen und gelegentlich auch die Unternehmenskultur untersuchen. In der Praxis hat sich gezeigt, dass andere Evaluationsvarianten vielfach zu Fehlschlägen führen. Auch wenn Zulieferer durch die Zusendung von nach Vorgaben des Kunden gefertigten Musterteilen belegen, dass sie die gewünschten Ergebnisse erzeugen können, wird für den Abnehmer beispielsweise nicht sichtbar, ob es sich hierbei um arbeitsintensiv erzeugte Teile handelt - mit besonderer Zuwendung etwa in Handarbeit - oder ob der Lieferant diese Fähigkeit auch für hohe Stückzahlen mit wechselnden Anteilen einzelner Varianten termingetreu bereitstellen kann. Die Verfügbarkeit stabiler Prozesse, robuster produktionstechnologischer Anlagen und logistischer Flexibilität beim Lieferanten bestimmen jedoch wesentlich den Erfolg des Unternehmens auf der nachfolgenden Wertschöpfungsstufe. Muss dieses Unternehmen mit Lieferverzögerungen, hohen Ausschussraten oder mangelnder Umstellungsgeschwindigkeit auf andere Varianten beim Lieferanten kämpfen, werden bei ihm als Abnehmer der Vorprodukte erhebliche Aufwendungen und gegebenenfalls auch beträchtliche Schäden - etwa in Form von Terminverzögerungen, Produktionsstillstand, Nacharbeit oder Prüfungen - entstehen. Das Audit - also das Prüfen der Fähigkeiten des Lieferanten in dessen Betriebsstätte - soll dem Abnehmer ein differenziertes Bild von der Leistungsfähigkeit des Lieferanten verschaffen, einen passgenauen Zuschnitt von Lieferaufträgen erlauben, gegebenenfalls Entwicklungspotenziale aufdecken und möglicherweise auch das Vorhalten von Ausgleichsmechanismen, beispielsweise in Form temporär höherer Lagerbestände für Vorprodukte, bei Kunden auslösen. Ähnlich wie das Assessment-Center im Personalmanagement zur Beurteilung von Bewerbern angewendet wird, um neben Zeugnisnoten und Bewerbungsunterlagen auch die außerhalb der fachlichen Sphäre liegenden Kompetenzen zu prüfen, so ist das Lieferantenaudit bemüht, ein umfassenderes Bild eines möglichen Kooperationspartners zu zeichnen. Auf dieser Grundlage kann man unter anderem eigene Planungen wie beispielsweise die Verlagerung von Produktionsschritten zum Lieferanten im Rahmen von Make-or-Buy-Entscheidungen absichern. Zur Durchführung von Lieferantenaudits werden zahlreiche Kriterien herangezogen - man spricht in diesem Zusammenhang daher von einem multikriteriellen Vorgehen. Das heißt, es wird nicht nur eine wichtige Eigenschaft geprüft, sondern der Versuch 123 Audits werden nie allumfassend sein können, sondern immer einen speziellen Fokus aufweisen, etwa System-, Prozess- oder Produktaudit (vergleiche Large 2009, S. 198 f). <?page no="96"?> 96 2 Beschaffung und Logistik unternommen, hinsichtlich vieler bedeutender Faktoren Informationen zu erhalten, die zu einer Gesamtschau zusammengeführt werden. Abbildung 44 enthält Beispielkriterien für ein innovationsbezogenes Lieferantenaudit. 124 Abbildung 44: Beispielkriterien für ein innovationsbezogenes Lieferantenaudit 125 Welche Prüfkriterien als wichtig angesehen werden, kann man unter Berücksichtigung der Anforderungen des Abnehmers und der Art des Lieferanten bestimmen. 126 Bei einem Lieferanten von Standardteilen werden andere Prüfungen im Vordergrund stehen, als bei einem Zulieferer für speziell zugeschnittene Systeme. Da man verschiedene Merkmale prüft, variieren auch die Prüfverfahren. Diese reichen von Probeläufen einer Presse mit einem seriennahen Werkzeug über eine definierte Zeit bis hin zu organisatorischen Regelungen für etwaige Störfälle. In der Praxis werden auch intensive Gespräche mit Mitarbeitern des Lieferanten geführt, um deren Fähigkeiten in relevanten Feldern einzuschätzen. Gerade vor dem Hintergrund, dass sich viele Lieferanten zu Forschungs- und Entwicklungspartnern verändern, gewinnen weiche Faktoren an Gewicht. Es zählen nicht mehr nur harte, produktionsrelevante Aspekte wie Qualitätsniveau, Anlagenkapazität oder Logistikprozesse, sondern zunehmend auch Entwicklungskompetenz, Problemlösungsbegabung, Innovationsfähigkeit und Innovationsbereitschaft. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Lieferantenaudits können von unterschiedlichen Funktionsbereichen des Abnehmers gefordert werden. Im Allgemeinen wird das Beschaffungswesen diese anstoßen. Aber 124 Vergleiche Mieke (2009, S. 154 ff). 125 Mieke (2009, S. 155). 126 Zu Kriterien zur Bewertung von Lieferanten vergleiche Arnold (1997, S. 75 ff). <?page no="97"?> 2.2 Lieferantenaudit 97 2 auch Qualitätsmanagement-, Produktions-, Logistik- oder Forschungs- und Entwicklungsabteilungen fungieren als Initiatoren. Wenn etwa multitechnologische Innovationen in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung geplant sind und einige Kompetenzfelder durch externe Partner abgedeckt werden sollen, dann sucht diese Abteilung in Abstimmung mit der Einkaufsabteilung nach geeigneten Unternehmen und wird das Lieferantenaudit nutzen, potenzielle Kandidaten zu überprüfen. Nach Make-or- Buy-Entscheidungen suchen Einkauf und Produktion nach Lieferanten, die bislang intern beim Abnehmer ausgeführte Produktionsschritte übernehmen. Nach Global Sourcing-Planungen - meist zur Suche eines kostengünstigeren Lieferanten für ein Bauteil in einem Niedriglohnland - wird die Beschaffungsabteilung die Fähigkeit des neuen Lieferanten begutachten wollen, bevor etwaige Verträge geschlossen und Verbindungen mit bestehenden Lieferanten gekündigt werden. Insgesamt werden Lieferantenaudits insbesondere dann durchgeführt, wenn: eine längere Partnerschaft mit dem Lieferanten angestrebt wird, bislang nur wenige Informationen vorliegen, notwendige Informationen nur schwer ermittelbar sind, Leistungen vom Lieferanten erbracht werden sollen, die vom Standard abweichen, der Erfolg des Unternehmens durch schlechte Leistungen des Lieferanten in erheblichem Maße beeinflusst wird. Abbildung 45: Vorgehen des Lieferantenaudits 127 127 Mieke (2009, S. 154). <?page no="98"?> 98 2 Beschaffung und Logistik Das Verfahren zur Durchführung von Lieferantenaudits bildet ein mehrstufiges Vorgehen, wie in Abbildung 45 dargestellt. Zunächst werden Lieferanten festgelegt, bei denen man Audits durchführen möchte. Handelt es sich hier um eine größere Anzahl, erscheint es sinnvoll, eine Priorisierung vorzunehmen. Anschließend wird ein Auditteam zusammengestellt, das in der Regel crossfunktional ist und Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen und Abteilungen umfasst wie Mitglieder der Beschaffung, der Produktion, des Qualitätsmanagements und des Controllings. Danach erfolgt die Abstimmung mit dem potenziellen oder schon bestehenden Lieferanten hinsichtlich der Auditdurchführung und der terminlichen Koordination. 128 Dann wird das Audit vom Auditteam vorbereitet. Ein wichtiges Feld bildet die Festlegung der Prüfbereiche und Prüfverfahren. In diesem Zusammenhang werden möglicherweise weitere Informationen vom Lieferanten angefordert, die etwaige Prüfungen verkürzen können oder die zur zielgerichteten Vorbereitung erforderlich sind. Es folgt die Durchführung des Audits in der Betriebsstätte des Lieferanten. Die einzelnen Aktivitäten der Auditdurchführung beschreibt Abbildung 46. Abbildung 46: Aktivitäten der Auditdurchführung 129 Das Vorgehen verlangt nach einer konstruktiven Mitwirkung des untersuchten Unternehmens. Gewährt dieses keinen Zugang zu bestimmten Fertigungsabschnitten, hält Informationen zurück, verhindert Gespräche mit relevanten Mitarbeitern oder führt Probearbeiten nicht aus, kann man keine aussagekräftigen Lieferantenauditergebnisse erzielen. Einerseits kann man vermuten, dass Lieferanten daran interessiert 128 Vergleiche zum Ablauf von Lieferantenaudits Mieke (2009, S. 153 ff). 129 Mieke (2009, S. 156). <?page no="99"?> 2.2 Lieferantenaudit 99 2 sind, möglichst viele Aspekte nicht preiszugeben - und in der Tat passiert es immer wieder, dass Audits wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft des Auditierten durch das Auditteam abgebrochen werden. Andererseits wissen Lieferanten, dass sie lukrative und langfristige Lieferaufträge nur dann erhalten, wenn sie das Audit zulassen und aktiv mitgestalten. Daher wird das Audit im Normalfall vom Lieferanten unterstützt. Nach der Auditdurchführung beim Lieferanten nimmt das Auditteam die Auswertung vor. Mögliche Ergebnisse können sein, dass die Anforderungen entweder voll, teilweise oder nicht beziehungsweise nicht hinreichend erfüllt werden. Im Fall der Erfüllung von Anforderungen können - wenn man mit dem durchgeführten Audit alle relevanten Bereiche abgedeckt hat - Verhandlungen über die Belieferung mit entsprechenden Komponenten oder Systemen beginnen. Im Fall der teilweisen Erfüllung von Anforderungen und im Fall der Nicht-Erfüllung von Anforderungen kann es bei Verfügbarkeit von besser positionierten Alternativlieferanten zum Abbruch der Kooperationsanbahnung kommen. Bei Nichtvorhandensein geeigneter anderer Lieferanten werden Maßnahmen erarbeitet und zur Umsetzung empfohlen, die bei konsequenter Implementierung eine Verbesserung der Lieferantenleistung in den nicht anforderungsgerechten Merkmalsebenen erwarten lassen. Die Maßnahmen werden häufig gemeinsam mit dem Lieferanten entworfen. Ein Vorgeben von Maßnahmen durch das auditierende Unternehmen führt oftmals zu Abwehrhaltungen seitens des Lieferanten und kollidiert möglicherweise mit bestehenden, funktionsfähigen Abläufen oder Systemen des Lieferanten. Eine alleinige Erarbeitung von Veränderungsmaßnahmen durch den Lieferanten weist typischerweise nicht ausreichend Optimierungspotenzial auf. Gemeinsam erarbeitete Lösungswege sind in der Regel gut geeignet, festgestellte Defizite abzubauen, da sie durch die externe Sichtweise des Auditors genügend Neuerungspotenzial aufweisen und durch die Detailkenntnis des Lieferanten bestehende Bedingungen und Restriktionen berücksichtigen. Häufig kommen Ansätze der Lieferantenentwicklung und -förderung zur Anwendung. Gegebenenfalls erfolgt nach der Maßnahmenumsetzung ein erneutes Lieferantenaudit. Weiterführende Hinweise Lieferantenaudits sind gut geeignet, schnell und umfassend einen Eindruck vom Leistungspotenzial eines Lieferanten zu erhalten. Sie bedürfen allerdings umfassender Vorbereitungen und erzeugen erheblichen Aufwand. Nur interdisziplinäre und eingespielte Teams vermögen, im Verborgenen liegende Schwächen zielsicher aufzudecken. Allerdings bilden Audits kein Allheilmittel. Die Durchführung ändert meist noch nicht viel. Erst das konsequente Erarbeiten und Einführen von Verbesserungsmaßnahmen führt den Lieferanten auf den gewünschten Pfad. Im internationalen Kontext können weitere Probleme auftreten - insbesondere dann, wenn Partner unterschiedlichen Kulturkreisen entstammen. Dann müssen Auditteams gegebenenfalls die Art ihres Vorgehens anpassen, um alle relevanten Informationen zu erhalten. In der Praxis kommt es beispielsweise aus folgenden Gründen häufig zu Irritationen auf beiden Seiten: Wird eine zu genaue Prüfung als Vertrauensentzug gewertet? <?page no="100"?> 100 2 Beschaffung und Logistik Ist die direkte Ansprache von Produktionsmitarbeitern hierarchieübergreifend durch Abteilungsleiter des auditierenden Unternehmens möglich? Werden bohrende Fragen als vernichtende Kritik aufgefasst und geht damit ein Gesichtsverlust des Befragten einher? Sind zugesagte Verbesserungsmaßnahmen und entsprechende Termine wortgenau zu verstehen oder lediglich als Zeichen des guten Willens zu interpretieren? Diese und weitere Fragen sollte man im Vorfeld eines internationalen Lieferantenaudits klären und die Methode gemäß der jeweiligen kulturellen Bedingungen anpassen. Nur so kann es gelingen, Vertrauen als Basis für eine nutzenstiftende Kooperation zu schaffen und eine Win-win-Situation herzustellen. <?page no="101"?> 2 2.3 Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios 101 2.3 Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios Problemstellung: Planung von Beschaffungsoptionen und Erarbeitung von Beschaffungs- und Logistikstrategien Zielgruppe: Einkäufer, Risikomanager, Logistiker, Supply Chain Manager, Controller Voraussetzungen: Zugang zu allen beschaffungs- und logistikrelevanten Informationen Zielsetzung der beschaffungs- und logistikorientierten Portfolios Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios sollen Bewertungen, Entscheidungen und Planungen innerhalb des strategischen Beschaffungs- und Logistikmanagements fundieren. Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios unterstützen die mehrbeziehungsweise zweidimensionale Betrachtung unterschiedlicher Planungsgegenstände. Ferner erlauben sie durch ihre prägnante und eingängige Darstellung eine unkomplizierte Einbindung weiterer Experten in die Planungsaufgabe und eine unmissverständliche Kommunikation der Planungsergebnisse an andere Bereiche oder Hierarchieebenen. Die Zielrichtungen der verschiedenen Portfolios sind sehr unterschiedlich. Sie erstrecken sich unter anderem auf folgende Bereiche: Planung des Auftretens auf dem Beschaffungsmarkt, Untersuchung von aktuellen oder potenziellen Kooperationen im Bereich der Beschaffung und Logistik, Analyse der Logistikkostendimensionen, Prüfung der Strukturen in Lieferketten, Betrachtung von Risikosituationen, Evaluation der Lieferantenstruktur. Die Portfolios bilden nur das Ergebnis eines umfassenden Analyse-, Bewertungs- und Planungsprozesses. Insofern verfolgt man mit ihnen auch das Ziel, den Analyse- und Planungsfokus der Organisationsmitglieder auf wesentliche Aspekte zu lenken, diese sowohl gründlich zu erfassen und zu validieren als auch kontinuierlich zu beobachten und immer wieder neu zu beurteilen. Beschreibung der beschaffungs- und logistikorientierten Portfolios Das Einkaufsportfolio zur Planung des Auftretens am Beschaffungsmarkt ist eine Methode zur Unterstützung der Beschaffungsstrategiewahl. Es enthält Merkmale zur Beschreibung des Beschaffungsmarktes und spannt die Dimensionen Nachfragemacht und Lieferantenmacht auf. 130 Dabei bezeichnet das Merkmal Nachfragemacht die ei- 130 Vergleiche Kraljic (1985, S. 11). <?page no="102"?> 102 2 Beschaffung und Logistik gene relative Machtposition. Die Lieferantenmacht zeigt die relative Stärke des Zulieferers, wie in Abbildung 47 illustriert. Abbildung 47: Einkaufsportfolio 131 Die Durchführung der Analyse wird pro Beschaffungsobjekt oder pro Materialgruppe vollzogen. So können sich für einzelne Objektklassen unterschiedliche Empfehlungen ergeben. 132 Nach der Einordnung der objektbezogenen Daten in das Portfolio kann man Empfehlungen für Normstrategien ableiten, die es dem Beschaffungsmanagement erleichtern sollen, eine konsequente strategische Ausrichtung zu finden. Der durch das Koordinatenkreuz aufgespannte Raum gliedert sich in drei Segmente: hohe Nachfragemacht/ geringe Lieferantenmacht, geringe Nachfragemacht/ hohe Lieferantenmacht, gleichlautende Ausprägung beider Dimensionen. Bei hoher Nachfragemacht und geringer Lieferantenmacht werden typischerweise strategische Richtungen und Handlungen empfohlen, die auf das Einfordern von Vorteilen in der Nachfrager-Lieferantenbeziehung gerichtet sind, etwa in Form von Preisabschlägen oder abnehmergerechten Liefer- und Zahlungsbedingungen. Das fordernde Auftreten resultiert aus einem geringen Lieferrisiko, wobei man berücksichtigen sollte, dass die vorliegende Situation nicht statisch ist. Treten Nachfrager zu forsch auf, können Lieferanten die Tätigkeit in diesem Geschäftsfeld als unattraktiv einstufen, sich umorientieren und damit eine Situation schaffen, in der die Nachfragemacht des Abnehmers sinkt und die Lieferantenmacht der verbleibenden Liefe- 131 Modifiziert nach Kraljic (1985, S. 11). 132 Vergleiche Schulte (2009, S. 280). <?page no="103"?> 2.3 Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios 103 2 ranten steigt. Derartige Aspekte sollte man im Blick haben, während man die Kräfteverhältnisse zugunsten des Abnehmers zu nutzen versucht. Bei geringer Nachfragemacht und hoher Lieferantenmacht kommen häufig keine Verhandlungen zustande, in denen der Abnehmer seine Wünsche bezüglich der Konditionen durchsetzen kann. Gelegentlich sind diese Fälle derart sensibel, dass Abnehmer um Lieferanten werben und sich selbst als attraktive Abnehmer präsentieren müssen, um überhaupt mit Lieferungen bedacht zu werden. Bei einigen Rohstoffen sind Vorräte temporär so knapp, dass Lieferanten auswählen können, an wen sie zu welchem Zeitpunkt liefern. Gelegentlich macht kleineren Abnehmern die Tatsache zu schaffen, dass seitens der Lieferanten Mindestabnahmemengen vorgegeben werden, die für den Abnehmer zu hoch angelegt sind und immense Lagerhaltungs- und Kapitalbindungskosten erzeugen würden. In derartigen Konstellationen können Abnehmer Kooperationen anstreben, um Bedarfe zu bündeln und um ihre Machtposition auszubauen. Ebenso erscheint es sinnvoll, durch Lieferantenförderung vonseiten der Abnehmer, gezielt Lieferanten aufzubauen, die bislang noch nicht in dem bearbeiteten Feld aktiv sind, aber das Potenzial zur Bearbeitung dieses Bereiches aufweisen. Dadurch kann man die hohe relative Macht der bisherigen Lieferanten unter Umständen senken. Auch die vermehrte Suche nach anderen Lieferanten - beispielsweise außerhalb des bisherigen Aktionsraumes, etwa in anderen Ländern oder auf anderen Kontinenten - oder das Erarbeiten alternativer technischer Lösungen, welche besagte Vorprodukte nicht mehr benötigen und damit eigene Bedarfe auf andere Beschaffungsmarktsegmente verlagern oder auch das Verbünden mit oder der Kauf von Lieferanten, stellen mögliche Reaktionsmuster dar. Bei gleichartiger Ausprägung beider Machtdimensionen erscheint ein ausgewogenes Vorgehen ratsam, welches vorsichtig tastend Aktionsräume auslotet, ohne durch aggressives Vorgehen Vergeltung zu provozieren. Abbildung 48: Kooperationsportfolio 133 133 Modifiziert nach Otto (2002, S. 303). <?page no="104"?> 104 2 Beschaffung und Logistik Das in Abbildung 48 dargestellte Kooperationsportfolio rückt die Optimierung von Partnerschaften in den Mittelpunkt - sei es in Form von Beschaffungs- oder Logistiknetzen - und zielt auf die Größen Kooperationsbedarf und Kooperationsqualität. Es unterstützt die Untersuchung, ob für unterschiedliche Klassen von Beschaffungsobjekten eine Einführung oder Fortführung von kooperativem Handeln geboten erscheint. Der Bedarf kann sich dabei aus der eigenen, geringen Machtposition am Beschaffungsmarkt oder aufgrund fehlender Zugänge zu Beschaffungsquellen ergeben. Die Kooperationsqualität bildet unter anderem Intensität und Reziprozität der Kooperation ab. Sind Bedarf und Qualität der Kooperation hoch, wird ein Fortführen der Partnerschaft angeraten. Sind beide Merkmale gering ausgeprägt, ist die weitere Kooperation in der Regel nicht lohnend. Die für die Kooperation eingesetzten Ressourcen, zum Beispiel für Abstimmungsvorgänge, können an anderer Stelle unter Umständen mit höherem Nutzen eingesetzt werden. Bei geringer Ausprägung des Bedarfs, aber hoher Ausprägung der Qualität kann man den Versuch unternehmen, die sachliche Ausrichtung der Netzwerkaktivitäten in einen Bereich zu lenken, in dem intern höherer Kooperationsbedarf besteht. Gelingt dies nicht, dürfte eine weitere Kooperation trotz hoher Qualität nicht rational sein. Bei hohem Bedarf und geringer Kooperationsqualität sollte man auf die Veränderung der Qualität hinwirken. Diese könnte etwa durch das Einbringen anderer Koordinationsmechanismen, die Veränderung der Netzwerkkultur oder die Implementierung neuer Abstimmungsmechanismen und Kommunikationstechnologien beeinflusst werden. Abbildung 49: Frachtkosten-Bestandskosten-Portfolio 134 134 Modifiziert nach Werner (2013, S. 260). <?page no="105"?> 2.3 Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios 105 2 Das Frachtkosten-Bestandskosten-Portfolio zur Analyse der Logistikkosten visualisiert die Höhe von Frachtkosten und Bestandskosten - zwei wichtige Bestandteile der Logistikkosten. Diese in Abbildung 49 beschriebenen Aspekte stehen häufig in einer konfliktären Beziehung zueinander. 135 Gelingt es, Frachtkosten zu senken, etwa durch Bündelung von zeitlich unterschiedlich anfallenden Bedarfen und durch eine damit verbundene Reduktion von Transportvorgängen, dann steigen die Lagerkosten in der Regel an, weil zu früh angeliefertes Material im Unternehmen gelagert werden muss. Wird demgegenüber die Senkung der Lagerkosten angestrebt, so führt dies üblicherweise zur Erhöhung der Bestellfrequenz und zur Verringerung der Bestellmenge. Häufige Lieferungen kleiner Mengen sind die Folge, wodurch Lagerkosten sinken, aber Transportkosten steigen. Die jeweiligen Veränderungen sind für gewöhnlich nicht gleich groß. Das heißt, die Senkung der Transportkosten kann beispielsweise höher ausfallen als der Anstieg der Lagerkosten. Das Frachtkosten-Bestandskosten-Portfolio versucht, diese Zusammenhänge abzubilden, eine Einordnung vorzunehmen und auch im Vergleich zu anderen Unternehmensstandorten aufzuzeigen, ob das Unternehmen bei der konkreten Ausgestaltung seiner Liefer- und Lagermengen einem Gesamtoptimum nahe ist. Dabei unterscheidet man typischerweise vier Bereiche: Best-Practice-Unternehmen, die im Allgemeinen in beiden Dimensionen geringe Kosten aufweisen. Just-in-time-Lover, die Bestandskosten minimieren und steigende Frachtkosten in Kauf nehmen. Den Security Fan, der Frachtkosten minimiert und Bestandskosten in großer Höhe akzeptiert sowie den Loser, der sowohl bei Frachtals auch bei Bestandskosten ein vergleichsweise hohes Niveau aufweist. 136 In der Praxis wird man den Best-Practice-Fall präferieren, wenngleich man diesen kurzfristig kaum erreichen kann. In Abhängigkeit vom Status quo eines Unternehmens, sind Maßnahmen in die gewünschte Richtung einzuleiten. Operiert ein Unternehmen beispielsweise mit verderblichen Gütern, die einen unregelmäßigen Abgang aufweisen, dürfte das Just-in-time-Lover-Konzept vorteilhaft sein. Nutzt das Unternehmen Vorprodukte, für die eine geringe Versorgungssicherheit besteht, erscheint es besser, die Security-Fan-Position einzunehmen. Für beide gilt jedoch, dass sie durch Produktanpassung, Veränderung der Lieferantenstruktur oder durch eine Modifikation der Lieferkette die Best-Practice-Position anstreben sollten. Das Beanspruchungs-Belastungs-Portfolio und die Supply Chain Map unterstützen die Strukturprüfung einer industriellen Lieferkette. Unternehmen versuchen, sich in Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen stärker zu vernetzen, Informationen intensiver auszutauschen, gemeinsame Ziele zu entwerfen und einheitliche Steuerungsalgorithmen zu nutzen. Sie wollen dadurch beispielsweise schneller auf Veränderungen von Kundenpräferenzen reagieren, die Lieferleistung erhöhen und Bestandskosten senken. Zu diesem Zweck formen sie Lieferketten beziehungsweise so genannte Supply Chains, die sie nach vereinbartem Muster steuern. Das Bild der Lieferkette verdeutlicht, dass die Leistungsfähigkeit der Gesamtkette wesentlich von der Leistungsfähigkeit seiner 135 Vergleiche Werner (2013, S. 258). 136 Vergleiche Werner (2013, S. 260). <?page no="106"?> 106 2 Beschaffung und Logistik schwächsten Mitglieder bestimmt wird. In der Supply Chain Map werden die Verknüpfungen zwischen den Kettengliedern visualisiert. Im Beanspruchungs-Belastungs-Portfolio erfolgt die Einordnung jeder Beziehung, also jeder Koppelstelle beziehungsweise jedes Kettengliedes hinsichtlich der beiden Merkmale Beanspruchung und Belastbarkeit. 137 Die Belastbarkeit stellt eine Potenzialgröße dar und zeigt, wie stark diese Stelle der Lieferkette ist. Die Beanspruchung verdeutlicht, welche Nutzung dieses Kettenbereiches in der Realität gegeben ist. Abbildung 50: Supply Chain Map und Beanspruchungs-Belastungs-Portfolio 138 Durch die in Abbildung 50 dargestellte Skalierung „gering“ und „hoch“ beider Achsen ergibt sich die für Portfolios typische quadrantenartige Struktur. Sind beide Dimensionen etwa gleich ausgeprägt, wird von einer situationsgerechten Dimensionierung der Kette ausgegangen. Sind beide Merkmale unterschiedlich ausgeprägt, kann man Veränderungsmöglichkeiten ableiten. Sind in einem Kettenabschnitt hohe Beanspruchung und geringe Belastbarkeit kombiniert, stellt dieser Bereich ein erhebliches Risiko für die gesamte Kette dar. An dieser Stelle sollte man die Verstärkung des Kettengliedes forcieren - etwa durch Lieferantenförderung oder indem man den schwachen Partner durch einen neuen Lieferanten ersetzt. Sind andere Koppelstellen stark belastbar, allerdings nur wenig beansprucht, sollte man prüfen, ob man hier durch Abspecken Kostensenkungen realisieren kann. Innerhalb des Beschaffungs- und Logistikmanagements nimmt die Analyse und Steuerung von Risiken breiten Raum ein. Unternehmen nutzen Beschaffungsquellen - auch wenn diese weit entfernt liegen -, um sicher versorgt zu werden. Sie benötigen Rohstoffe und Vorprodukte zur Herstellung ihrer Erzeugnisse. Bleiben Lieferungen 137 Vergleiche Kaufmann & Germer (2001, S. 184 ff). 138 Modifiziert nach Bacher (2004, S. 179). <?page no="107"?> 2.3 Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios 107 2 aus, kann die Produktion nicht erfolgen, und es entsteht erheblicher Schaden. Daher werden in Beschaffung und Logistik auch Risikoportfolios eingesetzt. Das Risikoportfolio zerlegt Risiken in die beiden wesentlichen Beschreibungsgrößen: Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit. 139 Durch die multiplikative Verknüpfung beider Größen kann man die Risikohöhe ermitteln. Die Zerlegung von Risiken in die relevanten Bestandteile erlaubt es Akteuren, gezielt auf die Parameter einzuwirken und damit die Risikohöhe zu beeinflussen. Zur Bestimmung der Parameterausprägung sind umfassende Analysen erforderlich. So muss man beispielsweise prüfen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Vorprodukt eines asiatischen Lieferanten nicht zum geplanten Zeitpunkt verfügbar sein wird. Beeinflussende Faktoren können die Lieferleistung des Lieferanten, die Unwägbarkeiten des Seeverkehrs, die (Un-)Zuverlässigkeit der Verlader und der Landtransport sein. Überall kann es zu Verzögerungen, Beschädigungen oder gar zum Verlust der Ware kommen. Insofern sollte man präzise Wahrscheinlichkeiten ermitteln. Die Schadenshöhe wird beispielsweise durch etwaige Produktionsausfälle, zu zahlendende Vertragsstrafen des Produzenten an dessen Kunden und Mehraufwendungen bei Nutzung alternativer Versorgungsquellen bestimmt. Abbildung 51: Risikoportfolio Aus dem in Abbildung 51 dargestellten Risikoportfolio können erneut Normstrategien für unterschiedliche Risikoklassen abgeleitet werden. Für Risiken mit geringer Schadenshöhe und geringer Eintrittswahrscheinlichkeit wird häufig das Tragen der Risiken empfohlen. Sie treten vermutlich selten auf, und der Schaden ist gering und nicht existenzbedrohend. Risiken mit großer Schadenshöhe und hoher Eintrittswahrscheinlichkeit stellen demgegenüber eine Bedrohung für das Unternehmen dar. In diesen Fällen besteht akuter Handlungsbedarf. Unternehmen sollten Möglichkeiten prüfen, um die Risiken zu vermeiden oder abzuschwächen. Vermeidung könnte etwa durch 139 Vergleiche zur Risk Map Schulte (2009, S. 697 f). <?page no="108"?> 108 2 Beschaffung und Logistik einen Wechsel des Lieferanten oder durch Eigenfertigung der Vorprodukte oder durch einen Aufbau weiterer Bezugsquellen erfolgen. Bestehen diese Möglichkeiten nicht, wäre eine Abschwächung des Risikos durch das Vorhalten höherer Sicherheitsbestände im Lager erreichbar. Mittlere Risiken ergeben sich, wenn beide Parameter durchschnittlich oder wenn ein Parameter hoch und der andere gering ausgeprägt ist. In diesen Fällen wird ein Überwälzen der Risiken empfohlen. Die Versicherung von Risiken stellt zum Beispiel ein derartiges Überwälzen dar. Allerdings erscheint es häufig geboten, Möglichkeiten der Risikobeeinflussung zu initiieren. In der Regel bestehen Möglichkeiten, auf Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe einzuwirken. Abbildung 52: Materialstrukturportfolio 140 Auch die Materialstruktur beeinflusst die Vorgehensweise des Beschaffungsmanagements. Materialstrukturportfolios geben Hinweise für situationsgerechte Beschaffungstaktiken. In ihnen werden, wie in Abbildung 52 aufgeführt, die benötigten Rohstoffe und Vorprodukte nach Beschaffungsvolumen und Beschaffungsrisiko beziehungsweise Beschaffungskomplexität geordnet. Das Beschaffungsvolumen umschreibt dabei den monetären Wert der Materialien. Standardmaterialien, die in die Gruppe geringes Beschaffungsvolumen und geringes Beschaffungsrisiko fallen, sollten durch sehr aufwandsarme Prozesse wie die Bestellabwicklung über Online-Kataloge eingekauft werden. Bei hoher Ausprägung beider Dimensionen sollte man die Abnehmer-Lieferanten-Beziehung durch Lieferkettenoptimierung oder durch gemeinsame Entwicklungen für die strategischen Materialien stärken. Für Engpassmaterialien mit hohem Risiko und geringem Beschaffungsvolumen empfiehlt das Portfolio, die Senkung der Versorgungsrisiken anzustreben. Mit Blick auf die so genannten Hebelmaterialien mit hohem Beschaffungsvolumen und geringem Versorgungsrisiko 140 Modifiziert nach Arnold (2004, S. 95). <?page no="109"?> 2.3 Beschaffungs- und logistikorientierte Portfolios 109 2 sollte man das Marktpotenzial ausschöpfen und durch Beschaffungspreisoptimierung und Auktionen die für den Abnehmer günstige Lage nutzen. Lieferantenportfolios gliedern sich ebenfalls - wie Materialstrukturportfolios - nach Beschaffungsvolumen und Versorgungsrisiko. Sie unterscheiden nicht nach einzelnen Materialien, sondern nutzen eine Lieferantensicht. 141 Ihr Vorgehen wird im Folgenden stellvertretend für die beschriebenen beschaffungs- und logistikorientierten Portfolios erörtert. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Das Beschaffungsmanagement hat die Aufgabe, Beschaffungsstrategien zu entwickeln, auszuwählen und umzusetzen. Beschaffungsstrategien beschreiben die Leitplanken, die den Akteuren einen handlungsleitenden, aber flexiblen Rahmen vorgeben, um angestrebte Beschaffungsziele zu erreichen. Beschaffungsstrategien sind in mehreren Dimensionen zu bestimmen. Gemäß eines in der Unternehmenspraxis vielfach genutzten Grundansatzes, umfassen Beschaffungsstrategien folgende Dimensionen: 142 Träger der Wertschöpfung (Make or Buy: Eigenerstellung oder Fremdbezug), Anzahl der Bezugsquellen (Single, Double oder Multiple Sourcing), Komplexität des Inputs (Unit Sourcing oder Modular Sourcing), Bereitstellungsart (Stock Sourcing oder Just-in-time-Sourcing), Größe des Marktraumes (Local, Domestic oder Global Sourcing). Unternehmen müssen für jede dieser Strategieebenen entscheiden, welchem strategischen Muster sie folgen wollen. Allerdings ist es nicht erforderlich, pro Ebene unternehmensweit nur eine Strategie zu nutzen - diese kann in Abhängigkeit bestimmter Merkmale variieren. So ist es üblich, die Strategien für die jeweiligen Materialgruppen zu konfigurieren. Das Lieferantenportfolio unterstützt eine lieferantenindividuelle Strategiewahl. In einem ersten Schritt werden die Beschaffungsmaterialien und Beschaffungsvolumina erfasst, den Lieferanten zugewiesen und die Versorgungsrisiken bestimmt. Danach kann man durch eine Verknüpfung der Daten und deren integrative Beurteilung die lieferantenorientierte Strategiewahl vornehmen. Während die ersten beiden Aspekte in der Regel problemlos erfassbar sind, bereitet die Bestimmung des Versorgungsrisikos in der Praxis gelegentlich Probleme. Die Ermittlung der Risikohöhe ist meist nicht auf Exaktheit angelegt, sondern soll ein Gespür für die Größenordnung der bestehenden Risiken geben. Von einer rein intuitiven Globalschätzung ist jedoch abzuraten. Das Aufgliedern der Risiken in Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit und die an der Realität und an Erfahrungswerten orientierten Schätzungen der einzelnen Bestandteile für jedes Risiko führen meist zu realistischen Risikowerten. Bei der Schätzung der Risiken sollte man auch - sofern vorhanden - Daten der Lieferan- 141 Die Verknüpfung von Materialstruktur- und Lieferantenportfolio unterstützt die Bildung von Beschaffungsstrategien (vergleiche dazu Essig 2008, S. 65). 142 Vergleiche hierzu auch Abbildung 38 auf Seite 85. <?page no="110"?> 110 2 Beschaffung und Logistik tenbewertung und Ergebnisse von Lieferantenaudits berücksichtigen. Abbildung 53 zeigt die Aufteilung aller Lieferanten in vier Gruppen und die zu jeder Gruppe gehörende Normstrategie des Lieferantenportfolios. Hieraus können sich Impulse für Anpassungen in der Lieferantenstruktur oder zur Förderung einzelner Lieferanten ergeben. Abbildung 53: Lieferantenportfolio mit Strategieempfehlungen 143 Weiterführende Hinweise Portfolios sollen Komplexität in Entscheidungssituationen reduzieren. Sie wollen von eindimensionalen Entscheidungsverfahren wegleiten, andererseits die Multidimensionalität durch Zusammenfassung vieler Subkriterien begrenzen und die Vorgehensweise durch die Beschränkung auf Kernaspekte handhabbar machen. Das eine, empfehlenswerte beschaffungs- und logistikorientierte Portfolio existiert indes nicht. Vielmehr haben sich Variationen herausgebildet, die jeweils einen anderen Schwerpunkt setzen. Insofern muss man in der betrieblichen Praxis das für die jeweilige Situation oder für einen speziellen Aufgabenzuschnitt einer Beschaffungs- oder Logistikabteilung passende Portfolio auswählen oder auch mehrere Portfolios parallel anwenden, um eine ausgewogene Entscheidungsunterstützung zu erreichen. Aus einem Portfolio lassen sich nur Anregungen für die Strategiewahl entnehmen - abnehmen kann und soll es dem Manager die Entscheidung nicht. Einer falschen Methodenhörigkeit sollte im betrieblichen Alltag entgegengetreten werden. Denn die Aussagekraft der Strategieempfehlungen ist begrenzt - vor allem, wenn eingeordnete Objekte dicht an der Grenze eines Sektors liegen, das Portfolio nicht alle entscheidungsrelevanten Dimensionen abbildet oder die Einordung auf nur wenigen belastbaren Daten basiert. 143 Arnold (2004, S. 102). <?page no="111"?> 2.4 Lieferantenbewertung 111 2 2.4 Lieferantenbewertung Problemstellung: Erfassung des Lieferservice bestehender Lieferanten, Erstellung von Zeitreihenanalysen zur Bewertung der Lieferleistungsentwicklung und Vergleich von Lieferanten Zielgruppe: Einkäufer, Qualitätsmanagementmitarbeiter, Logistikmanager, Produktionsleiter, Materialgruppenmanager Voraussetzungen: Datenerhebungs-, Datenspeicherungs- und Datenauswertungssysteme, kontinuierliche Datenerfassung und Verzicht auf kurzfristige Veränderungen der Erfassungslogik Zielsetzung der Lieferantenbewertung Lieferanten versorgen Produzenten mit Rohstoffen und Vorprodukten, aber auch mit Hilfs- und Betriebsstoffen oder Dienstleistungen, welche die Produzenten für ihre Wertschöpfungsprozesse benötigen, aber nicht selbst erzeugen. Produzenten sind insofern bemüht, geeignete Lieferanten zu identifizieren, auszuwählen und an sich zu binden. Zu diesem Zweck analysieren Unternehmen Lieferanten, zum Beispiel im Rahmen eines so genannten Lieferantenaudits, das in Kapitel 2.2 beschrieben wird. Allerdings werden die Produzenten die einmal getroffenen Lieferantenentscheidungen nicht ungeprüft auf alle Ewigkeit bestehen lassen. Sie sind an einer permanenten Leistungsmessung der Zulieferer interessiert. Hierzu kann man auf die Methode der Lieferantenbewertung zurückgreifen. Mit ihrer Hilfe werden Kernleistungsparameter in einer bestehenden Lieferbeziehung gemessen. Steht beim Lieferantenaudit eher das Leistungspotenzial des Lieferanten im Vordergrund, so beurteilt die Lieferantenbewertung die realisierte Lieferleistung. Ziel der Methode ist es, Einblicke in die reale Leistung der Lieferanten zu erhalten und basierend auf den periodenübergreifend erfassten Leistungsdaten unter anderem folgende Maßnahmen einzuleiten: 144 Lieferanten zur Verbesserung anhalten, Lieferanten fördern, Lieferanten austauschen, Lieferanten höhere Liefervolumina oder weitere Aufgabenbereiche übertragen, Eigenerstellung von Zulieferteilen initiieren. Beschreibung der Lieferantenbewertung Die Lieferantenbewertung ist darauf ausgelegt, Lieferantenleistungen quantitativ auszudrücken, vergleichbar zu machen und reale Lieferungen anhand von Messgrößen zu beurteilen, die im Voraus definiert werden. 145 Sie liefert die Basis zur Steuerung 144 Vergleiche Knapp, Durst & Bichler (2000, S. 42). 145 Vergleiche zu unterschiedlichen methodischen Ausprägungen quantitativer und qualitativer Art Janker (2008, S. 102 ff). <?page no="112"?> 112 2 Beschaffung und Logistik von Lieferanten und zum Treffen von Lieferantenentscheidungen. 146 Die Bewertung erfordert kontinuierliche Datenerfassung, Datenaggregation und Datenauswertung. Viele Unternehmen sind dazu übergegangen, verschiedene, mit Lieferungen verbundene Parameter aufzunehmen und systematisch auszuwerten. 147 Gängige Schemata berücksichtigen vor allem folgende Dimensionen: Qualität, Zeit, Preis, Service. Das Kriterium Qualität erfasst, ob die eingehenden Lieferungen den definierten Anforderungen entsprechen: Ist die Lieferung vollständig? Erfüllen alle gelieferten Teile - erfasst durch Vollerhebung oder Stichprobenprüfung - die technischen Parameter wie Maße beziehungsweise Toleranzen, Funktionsfähigkeit oder Festigkeit? Das Kriterium Zeit misst Lieferfähigkeit und Liefertreue. Das heißt, inwiefern konnte der Lieferant den gewünschten Liefertermin zusagen und in welchem Maß wurde der zugesagte Termin eingehalten beziehungsweise von diesem abgewichen. Das Kriterium Preis bildet ab, ob der Lieferant ursprünglich vereinbarte Preise über die Perioden stabil hält, geforderten Preissenkungen nachkommt und zur Einkaufskostenreduktion des Herstellers beizutragen vermag. Das Kriterium Service berücksichtigt in verschiedenen Unternehmen sehr unterschiedliche Beurteilungsgrößen. Einige Beschaffungsabteilungen sehen hier primär die Änderungsflexibilität des Lieferanten, andere fassen hierunter das Informationsverhalten des Lieferanten, wieder andere das Innovationsverhalten und das Einbringen neuartiger Produkt- und Prozessideen in die Lieferanten-Abnehmer-Beziehung. Es steht Unternehmen frei, je nach Interesse, Zielsetzung oder Branche Kriterien zu definieren und zur Bewertung heranzuziehen. Auch können sich bei Veränderung der eigenen Absatzmärkte oder des Leistungsspektrums neue Anforderungen an Lieferanten ergeben, die im Allgemeinen zu einer Modifikation der Lieferantenbewertungskriterien führen. Allerdings ist von mehrfachen, kurzfristig aufeinander folgenden Änderungen der Bewertungskriterien abzuraten, da ein nicht unerheblicher Nutzen der Lieferantenbewertung in der Betrachtung von Zeitreihen besteht - also in der periodenübergreifenden Analyse der Entwicklung des Leistungsniveaus hinsichtlich einzelner Kriterien für die verschiedenen Lieferanten. Derartige Zeitreihenanalysen kann man in der Praxis nicht mehr durchführen, wenn man die Kriterien zu häufig ändert. Ein Vergleich zwischen Lieferanten ist nur möglich, wenn alle Lieferanten mit Hilfe identischer Kriterien und Bewertungsmaßstäbe beurteilt werden. 148 Eine Messung 146 Der Hauptnutzen der Lieferantenbewertung liegt beim Bewertenden. Allerdings kann eine Lieferantenbewertung auch für den bewerteten Lieferanten positiv wirken, wenn diesem Veränderungspotenziale aufgezeigt werden, die bei zügiger Umsetzung zu einer Verbesserung der Wettbewerbsposition führen (vergleiche Harting 1994, S. 63). 147 Zu Kriterien siehe Glantschnig (1994, S. 97 ff) und Muschinski (1998, S. 88 f). 148 Vergleiche Pfohl, Gareis & Stölzle (1999, S. 5) und Strub (1998, S. 122). <?page no="113"?> 2.4 Lieferantenbewertung 113 2 nach dem Prinzip, wir messen jeweils nur das, wo der einzelne Lieferant die größten Probleme bereitet, ist nicht ratsam. Das heißt auch, dass man Größen erfassen sollte, die aktuell als unproblematisch eingestuft werden. Dies erzeugt Datenerfassungsaufwand und wird daher teilweise kritisch gesehen. Allerdings ermöglicht dieses Vorgehen sowohl den systematischen Vergleich zwischen Lieferanten und die Auswertung von Zeitreihen als auch die objektive Beurteilung des Leistungsniveaus von Lieferanten und das Erkennen sich schleichend aufbauender Leistungsabweichungen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Methode der Lieferantenbewertung kann man in allen Bereichen des Zukaufs externer Leistungen einsetzen, wobei die Kriterien üblicherweise zwischen Beschaffungswesen, Qualitätssicherung und Logistikabteilung abgestimmt werden. 149 Gelegentlich wird man auch weitere Abteilungen wie Produktion, Forschung und Entwicklung oder Controlling einbeziehen, um entweder deren Lieferantenanforderungen aufzunehmen und zu berücksichtigen oder um von deren Kompetenzen in der Messung und Auswertung von Leistungsparametern zu profitieren. Die primäre Zielsetzung der Methode dürfte in der Messung und Bewertung von Produktionsmateriallieferanten liegen. Aufgrund der erheblichen Reduktion von Vormateriallagerbeständen in vielen Branchen haben sich sowohl die Zahl der Belieferungen und Wareneingänge als auch die Bedeutung pünktlicher Belieferung erhöht. Für Unternehmen mit geringer Fertigungstiefe, komplexen Produkten, unterschiedlichen Fertigungsstätten und geringen Lagerbeständen sind Lieferantenbewertungen besonders wichtig. Abbildung 54: Prozess der Lieferantenbewertung Nach der Definition der Leistungskriterien - möglicherweise in crossfunktionaler Abstimmung - erfolgen der Aufbau des Datenerfassungs- und Datenauswertungssystems und die Schulung der Mitarbeiter. Es wird eine Datenbank entwickelt oder ein Bereich im ERP-System genutzt, um die Erfassung und Auswertung der Daten zu gewährleisten. Wareneingangsmitarbeiter werden unterrichtet, welche Kriterien sie erfassen und wie sie diese messen sollen. In diesem Zusammenhang muss man unter 149 Vergleiche die empirischen Befunde bei Janker (2008, S. 161). <?page no="114"?> 114 2 Beschaffung und Logistik Umständen geeignete Prüf- und Messmittel zur Verfügung stellen. Es ist empfehlenswert, die IT-Unterstützung so zu konfigurieren, dass Daten, die bereits an anderer Stelle erfasst werden, auch der Lieferantenbewertung zur Verfügung stehen, um Redundanzen und Doppelerhebungen zu vermeiden. Die betriebliche Praxis hält leider viele Beispiele bereit, die zeigen, dass identische Daten in unterschiedlichen Unternehmensbereichen parallel erhoben werden, ohne dass die betroffenen Abteilungen hiervon Kenntnis haben. In der Beschaffungs- und Logistikabteilung ist schließlich zu definieren, in welchem Turnus die nicht im Wareneingang zu prüfenden Kriterien - wie Innovationsleistung des Lieferanten - beurteilt werden sollen. Nach dieser Definitions- und Einführungsphase kommt das in Abbildung 54 aufgeführte System zur Anwendung. Hierbei ist vor allem auf eine konsequente und vollständige Datenerhebung zu achten. Unvollständige Daten erlauben keine zuverlässigen Aussagen und lassen das gesamte System obsolet werden. Die Nutzung der Daten wird durch die Beschaffungsabteilung insbesondere dann sehr intensiv sein, wenn zum Beispiel Jahrespreisverhandlungen anstehen, einzelne Abteilungen Lieferantenwechsel fordern, neue Teile zur Ausschreibung gebracht oder Lieferantenförderung und Lieferantenentwicklung geplant werden. Weiterführende Hinweise Die Lieferantenbewertung ist im einfachsten Fall eine multikriterielle Punktbewertung verschiedener Personen, wobei die Bewertungskriterien in der Regel von Unternehmen zu Unternehmen differieren. Besondere Gegebenheiten können auch durch unterschiedliche Gewichtungen der verschiedenen Kriterien Berücksichtigung finden. Eine gute Bewertung kann viele Lieferantenentscheidungen vereinfachen und in Zeiten, in denen schnelles Handeln gefragt ist, Unternehmen von der Last befreien, erst im Bedarfsfall Daten zu erfassen oder im Blindflug weitreichende Entscheidungen treffen zu müssen. Stimmt man die Kriterien innerhalb des Unternehmens nicht im Detail ab, können interne Reibereien und fehlende Synergien die Folge sein. Daher empfiehlt sich eine umfassende Abstimmung im Vorfeld der Einführung. Trotz immer wieder propagierter Dezentralisierungstendenzen in Konzernen, erscheint auch eine zentrale Vorgabe - unter Berücksichtigung der dezentralen Anforderungen - der Lieferantenbewertungsmethode und Datenerfassungssystematik ratsam. Können doch auf diese Weise konzernintern sehr pragmatisch Vergleiche vorgenommen, für einzelne Werke neue, aber im Unternehmen schon erprobte Lieferanten erschlossen und die Beurteilungsbasis für Lieferanten ausgeweitet werden. <?page no="115"?> 2 2.5 Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung 115 2.5 Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung Problemstellung: Aufbau von Lieferanten, die den Anforderungen des Unternehmens hinsichtlich Lieferqualität, Lieferfähigkeit, Lieferflexibilität, Liefertreue und Innovationsleistung entsprechen Zielgruppe: Einkäufer, Lieferantenentwickler, Materialgruppenmanager, Prozessoptimierer, Qualitätsmanager Voraussetzungen: Kooperative Lieferanten, Lieferantenentwicklungs-Knowhow und personelle und finanzielle Ressourcen Zielsetzung der Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung sollen die Zuliefererbasis eines Unternehmens stärken. Wenn bestehende Lieferanten die gewünschte Leistung nicht erbringen - nachgewiesen zum Beispiel durch schlechte Beurteilungen in der Lieferantenbewertung -, ergibt sich für das beschaffende Unternehmen Handlungsbedarf. Der Hersteller wird zunächst versuchen, mit dem Lieferanten in Kontakt zu treten 150 und gegebenenfalls durch Maßnahmen der Lieferantenerziehung - zum Beispiel durch Gewährung von Leistungsanreizen, durch Vertragsstrafen oder durch die Drohung, die Geschäftsbeziehung aufzulösen - eine Steigerung der Lieferantenleistung zu bewirken. Wenn dies nicht gelingt, dann bleibt häufig nur die Möglichkeit des Lieferantenwechsels. Was ist jedoch zu tun, wenn keine adäquaten Wechselalternativen zur Verfügung stehen? Dann kann man auf die Methode der Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung zurückgreifen. Mit Hilfe der Lieferantenentwicklung kann man potenzielle Lieferanten außerhalb des gegenwärtig bestehenden Lieferantenpools des Unternehmens aufspüren, die noch nicht das gewünschte Leistungsvermögen aufweisen, denen aber ein Entwicklungspotenzial zugesprochen wird, das zum gewünschten Leistungsniveau führen kann. In diesen Fällen wird eine Zusammenarbeit zwischen Lieferant und Kunde vereinbart, und der Hersteller wird versuchen, die erforderlichen Fähigkeiten beim Lieferanten systematisch aufzubauen. 151 Diese fokussierte Hilfestellung ist auch Gegenstand der Lieferantenförderung. Allerdings werden im Rahmen der Lieferantenförderung keine neuen Lieferanten gesucht, sondern bestehende Lieferanten in ihrer Leistungsverbesserung durch den Hersteller unterstützt. In der Unternehmenspraxis werden die Begriffe Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung nicht einheitlich gemäß der hier gewählten Abgrenzung verwendet, gelegentlich werden auch beide Methoden als Lieferantenentwicklung bezeichnet. 152 150 Münch (2018, S. 53 f) zeigt das Beispiel eines Unternehmens, das in einer Cloud-basierten Plattform Ansätze des Reklamationsmanagements und der Lieferantenentwicklung koppelt. Somit können unter Umständen auch Kommunikationsprozesse schlanker gehalten werden. 151 Vergleiche Lasch & Janker (2008, S. 1004). 152 Vergleiche Durst (2011, S. 18). <?page no="116"?> 116 2 Beschaffung und Logistik Beschreibung der Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung Die Ansätze der Lieferantenentwicklung und der Lieferantenförderung sind identisch. Bei der Lieferantenentwicklung sind lediglich die Lieferantensuche und gegebenenfalls ein Lieferantenaudit vorgeschaltet. Danach läuft die Lieferantenentwicklung wie die Lieferantenförderung ab und nutzt folgende Maßnahmen: 153 technische Beratung des Lieferanten durch Experten des Herstellers, Überlassung von Produktionsfaktoren, gemeinsame Durchführung von Wertanalyseprozessen, Personalschulungen und Lieferantentage. Die technische Beratung des Lieferanten durch Experten des Herstellers bezieht sich häufig auf Produktions- oder Logistikprozesse. Vielfach sind Hersteller mit dem Qualitätsniveau der gelieferten Baugruppen und Einzelteile unzufrieden oder monieren schlechte Lieferleistungen aufgrund verspäteter Anlieferungen. Finden Lieferanten selbstständig keinen Weg zur Optimierung, treten Spezialisten auf den Plan, die den Lieferanten bei der Wahl und Integration neuer Produktionstechnologien unterstützen oder leistungsfähige Betriebsmittel für Logistikprozesse empfehlen. In einigen Branchen sind Zulieferer deutlich kleiner als Hersteller. Insofern verfügen Zulieferer vielfach nicht über eine ausreichende Zahl an Experten in relevanten Technologiegebieten und müssen daher auf die Expertise der Hersteller zugreifen. Die Überlassung von Produktionsfaktoren kommt häufig nach Auslagerungsvorgängen der Hersteller zum Tragen. Trifft ein Hersteller im Rahmen von Make-or-Buy-Überlegungen die Entscheidung, bestimmte Produktionsschritte nicht selbst auszuführen, sondern diese an einen Lieferanten zu übertragen, können sich im Verlauf der Produktion Qualitätsprobleme einstellen, selbst wenn der Lieferant alle erforderlichen Kompetenzen besitzt, um die Aufgabe zu realisieren. Qualitätsprobleme können auf nicht leistungsfähigen Betriebsmitteln basieren, die beispielsweise die präzisionalen Anforderungen nicht wiederkehrend erfüllen. In diesen Fällen kann der Hersteller seine nicht mehr benötigten Maschinen und Anlagen dem Lieferanten zur Verfügung stellen, um diesem eine höhere Produktqualität zu ermöglichen und um selbst eine unkomplizierte Weiterverarbeitung von Vorprodukten vornehmen zu können. Wertanalyseprozesse wird man insbesondere dann gemeinsam durchführen, wenn seitens der Hersteller deutliche Einkaufspreissenkungen angestrebt werden. Viele Hersteller machen die Erfahrung, dass in ersten Preissenkungsrunden - bei entsprechender Verhandlungsführung - in der Tat deutliche Kosteneinsparungen möglich sind. Allerdings lassen sich diese in den Folgejahren im Allgemeinen nicht wiederholen. Preisverhandlungen, Mengenbündelungen, Lieferantenwechsel, Global Sourcing und andere primär kaufmännisch ausgelegte Beschaffungsmethoden stoßen an ihre Grenzen. Durch geschickte technische Veränderungen von Produkten und Prozessen lassen sich oftmals erhebliche Kostensenkungspotenziale erschließen, worauf die Wertanalyse abzielt. Da hierfür umfangreiches technisches Wissen, Kreativität und 153 Vergleiche Durst (2011, S. 96 f) und Corsten & Gössinger (2008, S. 482). <?page no="117"?> 2.5 Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung 117 2 Auswirkungsanalysen über den eigenen Bereich hinaus erforderlich sind, versprechen gemeinsame Wertanalyseprojekte von Hersteller und Lieferant besonderen Erfolg. Eine Übersicht über mögliche wertanalytische Ausprägungsformen und Einsatzfelder enthält Abbildung 55. 154 Abbildung 55: Einsatzfelder der Wertanalyse 155 Personalschulungen und Lieferantentage zielen darauf ab, den Kenntnisstand des Lieferanten zu erhöhen. Mitarbeiterschulungen des Lieferanten - oft auch in der Fabrik des Herstellers - erhöhen die Kompetenzen und versetzen Lieferanten in die Lage, Herstelleranforderungen zu erfüllen. Die Analyse, Planung und Verbesserung von Kompetenzen kann man schließlich mit Hilfe des in Abbildung 56 aufgeführten Kompetenzklassendiagramms unterstützen. 156 Lieferantentage dienen dem Austausch zwischen den Akteuren, der Stärkung persönlicher Beziehungen zwischen den Angehörigen verschiedener Unternehmen, aber auch dem Strategieausblick seitens des Herstellers. Dieser gibt Auskunft über seine künftigen Ziele und ermöglicht es dadurch Lieferanten, sich auf anstehende Veränderungen einzustellen und eigene Planungen daran auszurichten. 154 Vergleiche Specht & Mieke (2005a, S. 182 ff). 155 Mieke (2009, S. 18). 156 Vergleiche Mieke (2006, S. 209). <?page no="118"?> 118 2 Beschaffung und Logistik Abbildung 56: Kompetenzklassendiagramm 157 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung erfordern erheblichen Kapazitätseinsatz des Herstellers. Diesen Einsatz wird der Hersteller nur erbringen, wenn kostengünstigere Alternativen nicht verfügbar oder nicht erfolgversprechend sind. Der Aufwand kann sich jedoch lohnen, wenn dadurch Fehlerkosten, erhöhte Logistikkosten oder Kosten für Produktionsausfälle vermieden werden. Großunternehmen haben in den Beschaffungsabteilungen Lieferantenentwicklungsteams etabliert, die meist Fertigungstechnologie- und Prozessexperten umfassen. Sie suchen teils selbst nach potenziellen Lieferanten, die sie dann aufbauen können. Häufiger werden sie hingegen von Materialgruppenverantwortlichen in den Einkaufsabteilungen hinzugezogen, wenn diese ihre kaufmännischen Ansätze ausgeschöpft haben oder für neuartige Produkte keine passfähigen Zulieferer finden können. In der Regel startet der Prozess mit der Kontaktaufnahme mit dem Lieferanten. Formen der Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung und Grundsätze der Zusammenarbeit werden gemeinsam festgelegt. Dann folgt eine Analysephase, in der Defizite des Lieferanten herausgearbeitet und mit Blick auf die entsprechenden Ursachen detailliert beschrieben werden. Schließlich werden Maßnahmen entwickelt, die zur Leistungsniveauerhöhung des Lieferanten führen sollen. Auch die Implementierungsphase wird regelmäßig von den Lieferantenentwicklern des Herstellers begleitet - verfügen sie doch in der Regel sowohl über Fachwissen etwa bezüglich der neu einzuführenden produktionstechnischen Lösungen als auch über Erfahrung bei der Umsetzung von Veränderungsprozessen. Denn selbstverständlich wollen sie den Umset- 157 Mieke (2006, S. 209). <?page no="119"?> 2.5 Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung 119 2 zungserfolg befördern. Ihr Einsatz hätte keinen Sinn, wenn neuartige Lösungen zwar erarbeitet, aber nicht zur Anwendung gebracht werden. Weiterführende Hinweise In einigen Branchen sind die Lieferantenentwicklungsteams der Hersteller bei den Lieferanten gefürchtet. Sie werden den Lieferanten vorgesetzt, die sich kooperativ und motiviert zeigen müssen. Anderenfalls droht die Streichung von der Lieferantenliste. Die Lieferantenentwicklungsteams fordern viele Einblicke in das Zulieferunternehmen - auch in vermeintliche Betriebsgeheimnisse - und setzen Veränderungen um, die den Herstellern Vorteile versprechen. Ein aggressives Vorgehen kann bei Lieferanten zu Widerständen führen, da sie sich entmündigt und durch die Informationsbeschaffungspolitik des Herstellers auch weniger gut für künftige Verhandlungen gerüstet fühlen. Auch müssen Veränderungsmaßnahmen nicht immer für alle Geschäftsbereiche des Lieferanten von Vorteil sein, was die Bilanz aus Sicht der Lieferanten zusätzlich trüben kann. Wenn ein zu rigides Vorgehen die Lieferanten-Hersteller-Beziehung langfristig belastet, ist es unter Umständen nicht möglich, Vorteile mit der Methode zu erzielen. Insofern sollte man die Lieferantenförderung als partizipativen Prozess anlegen. Ungeachtet dessen kann es auch Lieferanten geben, die eigene Bemühungen bewusst drosseln und sich auf gewinnversprechende Optimierungsmaßnahmen des Herstellers verlassen und dieses Wissen auch für andere Geschäftszweige nutzen. Aus Sicht des Herstellers stellen Lieferantenentwicklung und Lieferantenförderung sehr wirksame Methoden dar, da sie an den Ursachen von Problemen ansetzen und eine Gestaltung in Richtung eigener Zielsysteme ermöglichen. Allerdings verursachen sie auch einen erheblichen Aufwand, der durch die erarbeiteten Vorteile zumeist kompensiert wird, in der entsprechenden Periode jedoch vorfinanziert werden muss. <?page no="120"?> 120 2 Beschaffung und Logistik 2.6 Standardisierung und Bündelung Problemstellung: Realisierung von Kostensenkungen und Reduktion komplexitätsbedingter Aufwände Zielgruppe: F&E-Leiter, Einkäufer, Materialgruppenleiter, Produktionsleiter, Produktionsoptimierer, Global Sourcing Manager Voraussetzungen: Passfähigkeit verschiedener technischer Komponenten in unterschiedliche technische Systeme und Verfügbarkeit leistungsfähiger Lieferanten Zielsetzung der Standardisierung und Bündelung Mittels Standardisierung und Bündelung wollen Unternehmen primär Kostensenkungen realisieren. Durch die zunehmende Individualisierung und Variantenbildung und den durch die Globalisierung beförderten Aufbau weltweit verteilter Produktionsstätten haben sich das Spektrum zu beschaffender Rohstoffe und Vorprodukte und die Zahl der Bezugsquellen deutlich erweitert. Dies führt zu kleinen Beschaffungsvolumina bei einzelnen Beschaffungsobjekten und Lieferanten, was wiederum verhindert, Mengenrabatte auf die Einkaufspreise in Anspruch nehmen zu können. Die beschriebene Situation erzeugt zudem hohe Komplexitätskosten. So müssen etwa alle Vorproduktvarianten im Warenwirtschaftssystem angelegt und gepflegt werden. Für verschiedenartige Ausprägungen sind gegebenenfalls unterschiedliche Prüfanweisungen oder Messmittel bereitzuhalten. Zahlreiche Lieferanten müssen einer Auditierung unterzogen werden, und man muss mit ihnen separate Verhandlungen führen und ihre Stammdaten einzeln pflegen. Diese Aktivitäten verursachen Kosten, die Unternehmen durch Standardisierung und Bündelung zu reduzieren versuchen. Beschreibung der Standardisierung und Bündelung Standardisierung ist primär auf die technische Dimension der Zusammenführung ausgerichtet. Sie wird im Allgemeinen von der kaufmännischen Funktion Einkauf angestoßen. Mit Hilfe der Standardisierung möchte man trotz Erhöhung der Variantenanzahl der Endprodukte eines Herstellers - was aus Sicht des Marketings möglicherweise die Gewinnung neuer Kunden befördert - die Art und Zahl der Vorprodukte begrenzen. Daher muss man prüfen, welche Einzelteile und Baugruppen in gleicher Ausführung in unterschiedlichen Varianten einsetzbar sind, weil sie aus Sicht des Kunden keine wettbewerbsrelevanten Differenzierungsmerkmale darstellen. So mögen Eigentümer von Oberklassefahrzeugen Wert darauflegen, dass sie eine stärkere Motorisierung oder höherwertige Materialien in der Mittelkonsole ihres Fahrzeuges finden als im Mittelklassemodell des gleichen Automobilherstellers. Muss man jedoch auch den Bedienhebel für das Blinklicht oder den Antriebsmotor für den elektrischen Fensterheber andersartig gestalten oder kann man hier die gleiche Ausführung wie beim Mittelklassewagen verwenden? In vielen Fällen dürfte die Antwort lauten, dass <?page no="121"?> 2.6 Standardisierung und Bündelung 121 2 man die gleichen Bauteile und Baugruppen einsetzen kann. Oftmals finden sich aber unterschiedliche Lösungen. Dafür gibt es zahlreiche Gründe: Möglicherweise ist es für den Konstrukteur leichter und mit weniger Aufwand verbunden, ein Bauteil im CAD- System neu zu entwerfen, als ein geeignetes Teil aus einem Katalog herauszusuchen. Oder das Problembewusstsein bezüglich der durch Variantenvielfalt entstehenden Kosten ist nicht vorhanden. Oder getrennte organisatorische Zuständigkeiten erschweren abgestimmtes Handeln. Standardisierungsbemühungen müssen derartige Themenstellungen adressieren und zeigen, dass durch Vereinheitlichung einerseits keine Nachteile für die Funktionsfähigkeit des technischen Systems, andererseits aber wirtschaftliche Vorteile entstehen. Unter Bündelung versteht man die betriebswirtschaftlich ausgerichtete Zusammenfassung von Objekten. Der Ausbau des Produkt- und Produktionsprogramms, die Ausweitung von Produktionskapazitäten und die Tendenz zur Dezentralisierung - mit der man das Ziel verfolgt, entstehende Probleme vor Ort ohne bürokratische Prozesse einer Zentrale zu lösen -, führen häufig zu Ineffizienzen. Das heißt, Produktlinienverantwortliche und Einkaufsabteilungen verschiedener Werke beschaffen zum Teil gleiche Vorprodukte bei unterschiedlichen Lieferanten. Dies kann sinnvoll sein, wenn lokale Lieferanten im Hinblick auf die Einhaltung von Local Content-Anforderungen oder bezüglich der Flexibilität die beste Alternative darstellen. Greifen diese Anforderungen jedoch nicht, können durch die Aufteilung der Einkaufsvolumina keine Größeneffekte erzielt werden. Gelingt die Bündelung der Bedarfe und das Aushandeln von Verträgen für die Gesamtmenge mit möglicherweise nur einem oder zwei Lieferanten, kann man zum Teil erhebliche Einkaufspreissenkungen realisieren und Prozesskosten im Bereich der Lieferantenbetreuung einsparen. Vielfach ist der Anstieg der damit verbundenen Logistikkosten weit weniger bedeutsam als die entsprechende Kostensenkung. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Standardisierung und Bündelung als Optimierungsmethoden im Beschaffungswesen nutzen vor allem Unternehmen, die über ein breites Produktspektrum mit vielen Varianten verfügen und die bislang ihre Vorprodukte in verteilten Werken dezentral beschaffen. Für diese Unternehmen lohnt es sich, ihre Objekte unter dem Gesichtspunkt der Standardisierung und Bündelung zu untersuchen. Zur Umsetzung von Standardisierungsbemühungen müssen technische Bereiche einbezogen werden. Zwar kann der Impuls aus dem Beschaffungswesen kommen, die Implementierung wird jedoch ohne Entwicklungs- und Konstruktionsabteilung und gegebenenfalls auch ohne die Einbeziehung der Produktion nicht möglich sein. Im Rahmen der Bündelung richtet sich der Fokus der crossfunktionalen Zusammenarbeit der Einkaufsabteilung weniger auf die Entwicklungs- und Konstruktionsabteilung als vielmehr auf Produktion, Qualitätsmanagement und Logistik. Abbildung 57 verweist auf Möglichkeiten der Zusammensetzung crossfunktionaler Teams, die im Rahmen von Bündelungsbemühungen erfolgversprechend sind. <?page no="122"?> 122 2 Beschaffung und Logistik Abbildung 57: Zusammensetzung crossfunktionaler Teams Zunächst analysiert man, welche Standardisierungs- und Bündelungspotenziale das aktuelle Produkt- und Produktionsprogramm aufweisen. Dies kann als Vorstudie vom Beschaffungswesen betrieben werden, während in einer zweiten Stufe Entwicklung und Konstruktion detaillierte Analysen durchführen müssen. Dabei werden Gleichteile identifiziert, die von verschiedenen Lieferanten bezogen werden und Teile lokalisiert, die identische technische Funktionen ausüben, jedoch keine Gleichteile darstellen. In diesem Stadium können auch Wertanalysen zum Einsatz kommen. Man prüft, welche Vereinheitlichungsmöglichkeiten existieren und mit welchen Konsequenzen diese verbunden sind. Konsequenzen können beispielsweise sein: Anpassungskonstruktionen, Umkonstruktionen der technischen Peripherie eines Bauteils, Einsatz anderer Produktionsmittel zur Weiterverarbeitung der vereinheitlichten Bauteile in einer von der Veränderung betroffenen Produktionslinie, Etablierung neuer Logistikstrukturen oder Lieferantenförderung zur Realisierung der gewünschten Mengen. Die potenziellen Konsequenzen sind hinsichtlich Realisierbarkeit, Zeitbedarf, Kosten und avisiertem Einspareffekt zu spezifizieren. In Abhängigkeit von den konkreten Konsequenzen werden Teams gebildet, die eine Konzeptionierung und Realisierung der Veränderungen vorantreiben. Ferner ist neben der aktuellen Umstellungsmöglichkeit, auch auf eine in die Zukunft gerichtete Beachtung der Standardisierungs- und Bündelungszielsetzungen hinzuwirken. Das heißt, dass man bei künftigen Neuproduktentwicklungen und bei der Nutzung neuer Beschaffungsquellen auf Vereinheitlichung achtet. Prominente Beispiele aus der Automobilindustrie wie Plattform- und Baukastenstrategie rufen immer wieder in Erinnerung, dass auf diesen Ansätzen große Erfolge basieren können, wenn sie systematisch geplant und konsequent umgesetzt werden. Hierzu sind die Unterstüt- <?page no="123"?> 2.6 Standardisierung und Bündelung 123 2 zung und Förderung durch die Unternehmensleitung erforderlich, da entsprechende Initiativen bei auftretenden Schwierigkeiten - und Standardisierung und Bündelung sind auch mit Hindernissen und Herausforderungen verbunden - anderenfalls an Fahrt verlieren und nicht mehr als handlungsleitende Maßgaben fungieren. Insbesondere werden die Sensibilität und der Informationsstand bezüglich der Effekte an verschiedenen Stellen im Unternehmen zu erhöhen sein und die Ziel- und Anreizsysteme Anpassungen erfahren müssen. Weiterführende Hinweise Das konsequente Bemühen zur Umsetzung der häufig banal erscheinenden Standardisierung und Bündelung löst in der Unternehmenspraxis in der Regel Widerstände aus. Neben den realen technischen Problemen oder organisatorischen Herausforderungen, die durch das Vorgehen hervorgerufen werden, sind aus Sicht des Unternehmens auch irrationale Gründe zu berücksichtigen. Produktlinien- oder Werkleiter werden in ihrer Autonomie eingeschränkt, wenn ihnen die Verwendung bestimmter Einzelteile oder der Zugriff auf spezielle Lieferanten vorgeschrieben wird. Diese Beschränkungen werden oftmals als Beschneidung der Befugnisse und als Machtverlust empfunden. Umso wichtiger ist es, die Vorteile der Veränderung herauszustellen und die Betroffenen an den gewünschten Verbesserungen zu beteiligen. Häufig bedingen die entsprechenden Aktivitäten auch die Abkehr von gewohnten Handlungsmustern und Denkwelten. Sie erfordern somit Lernen und das Ausführen neuer Vorgehensweisen, was zunächst mit zusätzlichem Aufwand verbunden ist und daher zu Abwehrreaktionen führt. Durch die Bereitstellung geeigneter Hilfsmittel gelingt es, entstehenden Aufwand zu begrenzen und Abwehrhaltungen zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. <?page no="124"?> 124 2 Beschaffung und Logistik 2.7 Auktion Problemstellung: Erzielung günstiger Preise für zu beschaffende Güter unter Nutzung des Wettbewerbsmechanismus zwischen Lieferanten bei geringen Prozesskosten für den Hersteller Zielgruppe: Einkäufer, Materialgruppenmanager, Logistiker, Produktionsleiter Voraussetzungen: Exakte Beschreibung der zu beschaffenden Leistung und Verfügbarkeit qualifizierter und mitwirkungsbereiter Lieferanten Zielsetzung der Auktion Auktionen sind Verfahren zur Vergabe von Aufträgen. Unternehmen haben ein Interesse daran, nicht selbst produzierte Vorprodukte von externen Anbietern in bester Qualität und zu günstigen Preisen zu beziehen und dann weiterzuverarbeiten. Das klassische Verfahren in Unternehmen, um Produzenten von Vorprodukten auszuwählen, ist die Ausschreibung. Die zu beschaffenden Leistungen - eine Beratungs- oder Baudienstleistung oder ein Vorprodukt - werden in den Ausschreibungsunterlagen möglichst genau spezifiziert, um einerseits die Anforderungen deutlich zu machen und um andererseits eine seriöse Preiskalkulation der Lieferanten zu ermöglichen. Die Anbieter geben Auskunft, ob, in welcher Menge und zu welchen Preisen sie die entsprechenden Güter liefern können. In der Regel schließen sich Lieferantenaudits und Preisverhandlungen an. Dies ist für den Hersteller des Gesamtproduktes, der ein Vorprodukt nachfragt, ein vergleichsweise aufwändiges Verfahren. Insbesondere der Verhandlungsteil setzt gute Vorbereitung, das Vorhandensein mehrerer Angebote und Verhandlungsgeschick voraus. An diesem Punkt setzt das Konzept der Auktion an. Warum soll der Nachfrager der Leistung eigentlich den Prozess der Preisverhandlung steuern? Durch die Schaffung von Transparenz würden sich konkurrierende Lieferanten unter Umständen selbst unterbieten, während der Bezieher der Leistung abwartet und dem günstigsten Anbieter den Auftrag erteilt. Dies kann sowohl zu attraktiven Einkaufspreisen als auch zu optimierten Prozesskosten im Unternehmen führen. 158 Von einer Auktion verspricht man sich insofern, eine konsequente Nutzung des Marktmechanismus, das Finden des günstigsten Preises bei gleichzeitig reduziertem Aufwand durch den Leistungsbezieher. Der Fokus liegt demnach eindeutig auf der Kostensenkung im Beschaffungswesen. Beschreibung der Auktion Auktionen setzen voraus, dass eine detaillierte Leistungsbeschreibung für das zu beschaffende Gut vorliegt. Anderenfalls können Anbieter ohne weiteres andere unterbieten, indem sie einfach einen geringeren Leistungsumfang offerieren. Grundvoraussetzung einer Auktion ist insofern Transparenz, die wiederum Vergleichbarkeit der 158 Vergleiche Eichstädt (2008, S. 28). <?page no="125"?> 2.7 Auktion 125 2 Angebote in technischer Hinsicht erfordert. Auktionen sind keine neue Erfindung. Sie stellen vielmehr ein altes Prinzip der Preisfindung dar. Bekannter ist die Variante, dass der Verkäufer einer knappen Ware eine Auktion ansetzt, um den höchsten Preis für das zu verkaufende Gut zu erhalten - im englischsprachigen Kontext als Forward Auctions geläufig. Die Interessenten sollen sich gegenseitig überbieten. Im Beschaffungswesen ist demgegenüber charakteristisch, dass der Käufer einer Leistung vielen Anbietern gegenübersteht, die ein Interesse daran haben, den Auftrag zu erhalten und sich deshalb - bis zu einer gewissen Preisuntergrenze - gegenseitig unterbieten. Diesen Prozess bezeichnet man im englischsprachigen Kontext als Reverse Auctions. 159 Das Verfahren funktioniert nur, wenn das Erlangen des Auftrages für potenzielle Leistungserbringer attraktiv ist, etwa eine gewisse Größe aufweist, langfristige Lieferungen ermöglicht oder wenn das Geschäft ein gewisses Prestige besitzt. Ferner müssen unterschiedliche Anbieter vorhanden sein. Existiert nur ein geeigneter Anbieter, macht eine Auktion keinen Sinn. Dieser Fall tritt in der Praxis vor allem bei speziellen technologischen Lösungen ein. In diesem Zusammenhang wird immer wieder das Beispiel von Eisenbahnbremsanlagen genannt. Abbildung 58: Auktionsarten Das hier beschriebene Modell mit hoher Transparenz und gegenseitigem Unterbieten der Lieferanten spiegelt das Modell der Englischen Auktion wider, die neben weiteren Auktionsarten in Abbildung 58 dargestellt ist. 160 Der in der Regel online bereitgestellte Auktionsraum ist für eine gewisse Zeit geöffnet. Alle Lieferanten sehen die Gebote ihrer Mitbieter und können mehrfach Angebote unterbreiten. Das niedrigste Gebot erhält den Zuschlag. 161 In der Praxis kommen auch noch die weniger eingesetzten Formen der verdeckten Auktion und das Holländische Modell zur Anwendung. Bei der verdeckten Auktion gibt jeder Bieter nur ein Gebot ab und sieht die anderen Ge- 159 Vergleiche zu Auktionsformen Müller (1999, S. 222 ff). 160 Sie bildet die in diesem Kontext am häufigsten eingesetzte Auktionsart (vergleiche zur Einsatzhäufigkeit dieser und anderer Auktionsarten Eichstädt 2008, S. 118). 161 Emiliani & Stec (2002) weisen darauf hin, dass jenes durch den niedrigen Einkaufspreis erhoffte Einsparvolumen nicht vollständig realisiert wird, da beim billigsten Anbieter logistische oder qualitätsseitige Probleme auftreten können, die wiederum Kosten erzeugen. <?page no="126"?> 126 2 Beschaffung und Logistik bote nicht. Der Lieferant mit dem niedrigsten Gebot erhält den Auftrag. Bei dieser Variante wird das Preissenkungspotenzial des gegenseitigen sukzessiven Unterbietens möglicherweise nicht hinreichend genutzt, andererseits werden strategisch gesetzte hohe Einstiegsgebote und ein lediglich zur Schau gestelltes Unterbieten vermieden. Bei der Holländischen Auktion setzt der Nachfrager der Leistung einen sehr niedrigen Einstiegspreis und erhöht diesen schrittweise. Der erste Lieferant, der den Preis akzeptiert - es gibt demnach nur ein Gebot - erhält den Zuschlag. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Auktionen lassen sich für die unterschiedlichsten Beschaffungsobjekte realisieren. Sie eignen sich sowohl für Dienstleistungen als auch für Hilfs- und Betriebsstoffe und für Produktionsmaterialien und Vorprodukte. Voraussetzung ist allerdings, dass die Objekte gut beschrieben werden können. In Innovationsprojekten, in deren Rahmen man die Ergebnisse vorher kaum spezifizieren kann, wird dieses Verfahren weniger angewendet. Die Verfügbarkeit moderner Informationstechnologien hat den Einsatz von Auktionen im Beschaffungswesen insgesamt befördert. Abbildung 59: Auktionsbasiertes Auftragsvergabeverfahren Zu Beginn eines auktionsbasierten Vergabeverfahrens nimmt man - wie Abbildung 59 verdeutlicht - die Definition der Leistung vor. Hier ist eine exakte Beschreibung und Abgrenzung erforderlich. In Branchen mit technisch komplexen Gütern werden regelmäßig intensive Vorgespräche mit den Lieferanten geführt, die zum Gegenstand haben, alle beteiligten Akteure auf den gleichen Informationsstand zu bringen. Man versucht zu vermeiden, dass etwaige Interpretationsspielräume entstehen. Alle technischen Parameter und alle logistischen Leistungsbestandteile müssen definiert und allen beteiligten Lieferanten verständlich gemacht werden. Erst dann entfaltet die Methode der Auktion ihre Wirkung, da im Verlauf der Auktion ausschließlich auf das Kriterium Preis fokussiert wird. Anschließend wird auf einem virtuellen Marktplatz - einer internetbasierten Plattform - die Auktion angestoßen. Die Auktion kann man für alle interessierten Unternehmen zugänglich machen oder nur das Einloggen eines vorher bestimmten Kreises von Unternehmen zulassen. Dann werden die Auktionsbedingungen bekanntgegeben und die Auktion eröffnet. Zum geplanten Zeitpunkt wird die Auktion beendet und der Zuschlag an das Unternehmen mit dem geringsten Preisgebot erteilt. <?page no="127"?> 2.7 Auktion 127 2 In der Regel - vor allem, wenn erst wenige Erfahrungen mit Auktionen vorliegen - empfiehlt sich eine Nachlese, in der man die Erfahrungen aus der Auktion bewertet und versucht, diese für künftige Auktionen nutzbar zu machen. Folgende Leitfragen können für die Auktionsevaluation herangezogen werden: Waren die Auktionsbedingungen allen Beteiligten klar? War die angesetzte Zeit ausreichend, oder war sie gegebenenfalls zu groß bemessen? War der Bieterkreis angemessen? War das Auktionsverfahren für das definierte Beschaffungsproblem passend? Welches Bieterverhalten war zu erkennen? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem beobachteten Bieterverhalten? Weiterführende Hinweise Auktionen erfreuen sich im Beschaffungswesen großer Beliebtheit, bieten sie doch ein geeignetes Mittel, günstige Einkaufspreise zu realisieren und einen effizienten Beschaffungsprozess zu unterstützen. Allerdings muss man im Detail prüfen, ob für die avisierten Objekte und die damit verbundenen Beschaffungsmarktstrukturen eine Auktion tatsächlich das leistungsfähigste Vergabeverfahren darstellt. Auch ein nachträgliches Verändern des Leistungsumfangs unter Beibehaltung des Preises verbietet sich. Ebenso darf man nicht der Versuchung erliegen, dem Anbieter mit dem niedrigsten Gebot doch nicht den Zuschlag zu erteilen, da man gegebenenfalls Qualitätsmängel vermutet. Derartige Verfahrensweisen schmälern das Vertrauen in den Leistungsbezieher. Auf den schnellen, einmaligen Erfolg folgen im Allgemeinen Nachteile in der Zukunft. Auch das Überstrapazieren dieser Methode im Sinne eines zu häufigen Einsatzes kann bei Lieferanten Unmut hervorrufen, ebenso wie das Involvieren offenkundig nicht hinreichend qualifizierter Bieter oder auch das Manipulieren des Bieterwettbewerbs. 162 Auch kann das standardmäßige Anwenden von Auktionen dazu führen, dass innovative Anbieter Normalaufträge nicht mehr erhalten und ihnen somit eine solide Grundfinanzierung wegbricht. Damit würde ihnen die Basis entzogen, Innovationsprojekte zu initiieren, die dem Leistungsbezieher gegebenenfalls wichtig gewesen wären. Insofern scheint ein umsichtiger Umgang mit der Methode geboten. 162 Zu unethischem Verhalten vergleiche Jap (2002, S. 521 f). <?page no="128"?> 128 2 Beschaffung und Logistik 2.8 Konzeptwettbewerb Problemstellung: Identifizierung des innovativsten Lieferanten mit der passfähigsten Lösung für eine technische Aufgabenstellung Zielgruppe: Einkäufer, Materialgruppenverantwortliche, Innovations- und Technologiemanager Voraussetzungen: Innovationspotenzial bei Lieferanten, präzise Zielbeschreibung, Offenlegung der Entscheidungskriterien und Einhaltung aufgestellter Verfahrensregeln Zielsetzung des Konzeptwettbewerbs Konzeptwettbewerbe zielen auf Bereiche, in denen Hersteller nach leistungsfähigen Lieferanten mit innovativen Konzepten suchen. 163 Im Unterschied zur Auktion, steht hier nicht der Preis im Mittelpunkt der Bewertung, sondern die technische Ausführung, wobei auch wirtschaftliche Parameter Berücksichtigung finden. Das Grundprinzip des Konzeptwettbewerbs stammt aus dem Bereich der Architektur. Architekten stellen sich in einem Wettbewerb mit ihren Entwürfen potenziellen Auftraggebern vor, die dann dem aus ihrer Sicht besten Ansatz den Zuschlag erteilen. Der Konzeptwettbewerb gewinnt in der industriellen Praxis an Bedeutung, da Lieferanten neben der Übernahme weiterer Wertschöpfungsanteile durch die Produktion ganzer Module und Systeme zunehmend auch Innovationsaufgaben ausführen sollen. 164 Bei den Lieferanten liegt viel innovationsrelevantes Wissen, das Hersteller stärker nutzen wollen. Mit Hilfe von Konzeptwettbewerben versucht man, die Auswahl geeigneter System- und Modullieferanten 165 für Innovationskooperationen zu unterstützen und den Entscheidungsprozess methodisch zu unterfüttern. Konzeptwettbewerbe bilden somit eine Koppelstelle zwischen Beschaffungs- und Innovationsmanagement. Mit Konzeptwettbewerben verfolgt man das Ziel, Vergabeprozesse für Beschaffungsvorgänge im Bereich komplexer Güter und Entwicklungsprojekte effizienter ablaufen zu lassen und Unternehmen bei der Verwirklichung ihrer Innovationspionier- oder Folgerstrategie zu unterstützen. 166 Beschreibung des Konzeptwettbewerbs Bei einem Konzeptwettbewerb werden Lieferanten vom Hersteller aufgefordert, Realisierungspläne für eine bestimmte Aufgabenstellung unter Beachtung gesetzter Restriktionen zu bearbeiten und einzureichen. Die Lieferanten gehen in Vorleistung und erarbeiten Lösungsansätze für die vom Auftraggeber formulierte Problemstellung. 163 Vergleiche Hug (2001, S. 286 f). 164 Vergleiche Wildemann (2006, S. 243). 165 Vergleiche Hickel (2011, S. 167). 166 Vergleiche Wildemann (2006, S. 243). <?page no="129"?> 2.8 Konzeptwettbewerb 129 2 Andere Lieferanten erarbeiten ebenfalls Lösungsmöglichkeiten, so dass ein Lieferantenwettbewerb entsteht und schließlich nur ein Lieferant den Auftrag zur Ausarbeitung seines Ansatzes und zur späteren Belieferung des Herstellers erhält. Der Auftraggeber erlangt auf diese Weise gute Einblicke in die Innovationsfähigkeit der Lieferanten und ermuntert diese zur intensiven Auseinandersetzung mit der gestellten Problematik. Die Motivation zur Mitwirkung seitens der Lieferanten entspringt unter anderem folgenden Gründen: Hoffnung auf einen Serienproduktionsauftrag für das zu entwickelnde Modul, Verknüpfung von komplementärem Know-how zwischen Hersteller und Lieferant, Erlangung einer starken Stellung mit schwerer Ersetzbarkeit, Informationen aus der Innenperspektive des Herstellers, Fertigungsgerechte Konstruktion und somit reibungslose und günstige Produktion. Es existieren aber auch beträchtliche Risiken für die teilnehmenden Lieferanten. So haben sie umfangreiche Vorleistungen zu erbringen, die ihnen bei Nichterhalt des Auftrages unter Umständen nicht ersetzt werden. Selbst wenn sie den Auftrag erhalten, haben sie einen großen Teil der Entwicklungsüberlegungen vorfinanziert und somit Kosten zu tragen. Durch die Erarbeitung und Einreichung des Konzeptes kann es zu einem Wissensabfluss vom Lieferanten zum Hersteller kommen. Vor allem für Lieferanten, die vom Auftraggeber nicht berücksichtigt werden, ist dieser Umstand ärgerlich, da der Hersteller in die Lage versetzt wird, die Ansätze der im Konzeptwettbewerb unterlegenen Lieferanten für sich zu nutzen. Ferner zeigt sich in der Praxis recht häufig, dass in Konzeptwettbewerben etablierte Lieferanten einen strukturellen Vorteil gegenüber neuen Lieferanten haben, da es den Etablierten aufgrund ihres Informationsvorteils vielfach gelingt, auch auf durch den Auftraggeber im Rahmen des Wettbewerbs nicht geäußerte, aber dennoch bestehende Anforderungen einzugehen und dadurch unter Umständen passfähigere Konzepte abliefern zu können. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Konzeptwettbewerbe kommen insbesondere in Industriebereichen zur Anwendung, in denen Unternehmen komplexe Produkte erstellen, in denen vergleichsweise kurze Produktlebenszyklen vorherrschen und Lieferanten daher in einem Innovationswettbewerb stehen und in denen mehrere konkurrierende Lieferanten über Innovationsfähigkeit und Innovationsbereitschaft sowie Entwicklungskompetenz verfügen. Der Anwendungsprozess des Konzeptwettbewerbs umfasst 4 Hauptphasen, die in Abbildung 60 verdeutlicht werden. 167 In der ersten Phase bereitet man den Konzeptwettbewerb vor. Dazu gehören unter anderem die Erstellung von Ablaufplanung und Terminplanung und die Entwicklung des Kommunikationskonzeptes. In der Ablaufplanung werden die erforderlichen Schritte festgelegt, benötigte Ressourcen abgeschätzt und Ansprechpartner definiert. Die Terminplanung umfasst die Taktung der Termine des eigentlichen Wettbewerbs 167 Vergleiche im Überblick Wildemann (o.J., S. 3 ff). <?page no="130"?> 130 2 Beschaffung und Logistik und die Vernetzung mit den Aktivitäten des Gesamtinnovationsprojektes. Im Kommunikationskonzept werden durch den Hersteller unter anderem die Bedeutung des Vorhabens und das Wettbewerbsobjekt erklärt, die Ablaufplanung dargestellt und die Kontaktart angegeben, um sicherzustellen, dass interessierten Lieferanten alle erforderlichen Informationen zur Verfügung stehen. Abbildung 60: Phasen des Konzeptwettbewerbs In der zweiten Phase werden die Konzeptanforderungen festgelegt. In einem zu erstellenden Lastenheft spiegeln sich Anforderungen, Vorgaben und Spezifikationen wider. Ferner werden aus den bekannten Lieferanten diejenigen mit bewährter Entwicklungskompetenz ausgewählt und um weitere ergänzt, die man zum Beispiel im Rahmen einer gesonderten Lieferantensuche identifiziert. Die Einladung der vorgesehenen Teilnehmer bildet den Abschluss der zweiten Phase. Der dritte Schritt umfasst die Durchführung des Konzeptwettbewerbs. In einem Auftakttreffen - beispielsweise auch in Form eines Lieferantentages - werden die Anforderungen diskutiert und sichergestellt, dass alle Teilnehmer über den gleichen projektbezogenen Informationsstand verfügen. Danach arbeiten die Lieferanten Konzepte aus, und der Hersteller reagiert nur bei Nachfragen. Üblicherweise findet nach einigen Wochen die Konzeptvorstellung statt. Dazu werden Einzel-Workshops zwischen Hersteller und jeweils einem Lieferanten organisiert. Daran anknüpfend erfolgt die Konzeptauswertung. In der vierten Phase stehen die detaillierte Bewertung der Konzepte und die finale Auswahl des besten Lieferanten an. Häufig wird hierbei ein integrativer Entscheidungsansatz gewählt, der nach dem Muster der Nutzwertanalyse eine multikriterielle Konzept- und Lieferantenbewertung umfasst. Konzepte und Lieferanten werden anhand der gleichen Kriterien bewertet. Für das Konzept kommen beispielsweise sowohl die Kriterien Konstruktion, Technologiereife und Differenzierungspotenzial als auch Material-, Prozess-, Werkzeug-, Logistik- und Folgekosten in Betracht. Zur Bewertung des Lieferanten werden Standardkriterien aus der Lieferantenbewertung wie Qualität, Termintreue, Preis und Service genutzt. Anschließend nimmt man die in Abbildung 61 illustrierte Verknüpfung beider Bewertungen vor. Lieferanten, die in beiden Dimensionen schwache Ausprägungen aufweisen, scheiden aus. Die Wunschkonstellation ist, einen Lieferanten mit deutlich positiver Konzeptbewertung und überlegener Lieferantenbewertung zu identifizieren. Weist keiner der Teilnehmer die Idealausprä- <?page no="131"?> 2.8 Konzeptwettbewerb 131 2 gung auf, wird man zusätzlich zur Bewertung der Fähigkeiten des Lieferanten eine Potenzialbewertung durchführen. Der Hersteller wird abschätzen, welche Lieferanten - gegebenenfalls begleitet durch eine systematische Lieferantenförderung - am effektivsten Schwächen abbauen werden. Zudem wird der Hersteller reflektieren, ob er auf eine beim Lieferanten nicht vorhandene Kompetenz verzichten kann, weil sie bei ihm selbst vorliegt. Abbildung 61: Bewertungsschema Nicht mehr unmittelbar zum Vorgehen des Konzeptwettbewerbs zählt man die Auswahlevaluation. Allerdings sollte auch der Erfolg der auf dem Konzeptwettbewerb basierenden Entscheidungen kontrolliert werden. Aus der betrieblichen Praxis ist bekannt, dass insbesondere in den Feldern Entwicklungszeitverkürzung, Fertigungskostensenkung und Vermeidung von Konstruktionsänderungen erhebliche Verbesserungen erzielt werden können. Weiterführende Hinweise Konzeptwettbewerbe stellen eine leistungsfähige Methode zur Identifikation innovativer Lieferanten dar, wenn man das Instrument unter Berücksichtigung beider Interessenlagen einsetzt und wenn die Beschaffungsmethoden aufeinander abgestimmt sind. Das heißt: Wurden Lieferanten über Jahre ausgepresst und wurden ihnen Preissenkungen abgerungen, kann dies zu einem Klima führen, das es Lieferanten und auch Herstellern erschwert, im Rahmen von Konzeptwettbewerben in den Kooperationsmodus umzuschalten. Auch das vermeintlich kluge Abgreifen und Nutzen vieler Ideen <?page no="132"?> 132 2 Beschaffung und Logistik von den Wettbewerbsteilnehmern - auch von den nicht zum Zuge kommenden Kandidaten - wird langfristig zur Senkung der Teilnahmebereitschaft fähiger Lieferanten an Wettbewerben dieses Herstellers führen. Die zu erzielenden Erfolge lassen in vielen Beschaffungsabteilungen diese betriebswirtschaftliche Methode als sehr attraktiv erscheinen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass man für Vorbereitung und Durchführung des Konzeptwettbewerbs sorgfältig planen und einen erheblichen Aufwand einkalkulieren muss. <?page no="133"?> 2.9 ABC-/ XYZ-Analyse 133 2.9 ABC-/ XYZ-Analyse Problemstellung: Senkung von Lagerkosten, Entwicklung einer adäquaten Bestellstrategie und Sicherung der Versorgung von Unternehmen Zielgruppe: Einkäufer, Lagerleiter, Produktionsleiter, Logistiker, Materialgruppenmanager Voraussetzungen: Möglichkeiten zur Erfassung und Prognose von Materialwerten und Verbrauchsbedingungen Zielsetzung der ABC-/ XYZ-Analyse Die ABC-/ XYZ-Analyse wird innerhalb der Materialwirtschaft unter anderem zur Lageroptimierung und zur Wahl geeigneter Bestellstrategien für nicht selbst erzeugte Objekte genutzt. Sie kommt auch immer dann zum Einsatz - häufig im Verbund mit anderen Methoden -, wenn es gilt, die Summe aus Lager- und Frachtkosten zu minimieren. Lagerbestände von zu verarbeitenden Vormaterialien weisen einige Vorteile auf. Besitzen Hersteller diese, können sie beispielsweise sehr flexibel unterschiedliche Fertigungsaufträge erfüllen und zeitnah ihre Kunden beliefern. Allerdings verursachen hohe Bestände auch Lagerkosten wie Miete oder Abschreibungen. Zu nennen sind auch Betriebskosten, Personalkosten, Kosten für die Lagerinfrastruktur und die Kapitalbindung. Kapitalbindung bedeutet, dass Geld in Sachgütern gebunden ist und somit nicht anderweitig Einsatz finden und keine Erträge erwirtschaften kann. Möglicherweise muss man auf dieses Kapital noch Zinszahlungen an den Kapitalgeber leisten. Unternehmen sind daher bemüht, ihre Bestände so weit wie möglich abzusenken und alternative Belieferungskonzepte wie Just in time zu nutzen. Mit Hilfe der ABC-/ XYZ-Analyse versucht man herauszufinden, für welche Materialien, welche Beschaffungsart und welcher Lagerumfang angestrebt werden soll. Beschreibung der ABC-/ XYZ-Analyse Die ABC-/ XYZ-Analyse ist eine Kategorisierungsmethode. Die Kategorisierung schafft Vergleichsmaßstäbe und Transparenz und unterstützt das Finden von Rationalisierungsschwerpunkten. Die Methode untergliedert einerseits in A-, B- und C-Materialien und andererseits in X-, Y- und Z-Materialien. Innerhalb einer Kategorisierungsdimension kann jedes Material genau einer Gruppe zugewiesen werden. Ein Material kann also nur A-, B- oder C-Material sein. In der zweiten Dimension wird das gleiche Material - quasi durch eine andere Brille betrachtet - genau einer der Gruppen X, Y oder Z zugewiesen. Diese Zuweisung ist unternehmens- oder betriebsstättenbezogen und nicht universell. Das gleiche Material kann demnach in einem Unternehmen zum X-Material, in einem anderen zum Z-Material gehören. Die ABC-Kategorisierung erfolgt durch Ordnung nach den Kriterien Wert des Materials und Menge oder Volumen des Materials. Die Angabe von Wert- und Mengengrenzen, welche die Klassengrenzen vorschreiben, differieren in der Literatur und Unter- 2 <?page no="134"?> 134 2 Beschaffung und Logistik nehmenspraxis stark. A-Teile weisen einen geringen Mengen-, aber einen hohen Wertanteil auf - sie verursachen dadurch eine hohe Kapitalbindung. Etwa 20 Prozent der Materialien umfassen rund 70 Prozent des Gesamtmaterialwertes. 168 B-Teile haben bei mittlerem mengenmäßigen Anteil auch einen mittleren Wertanteil, und C-Teile verfügen bei hohem mengenmäßigen Anteil nur über einen äußerst geringen Wertanteil, wie aus Abbildung 62 ersichtlich. 169 Bezogen auf ein Traktorenwerk könnte dies bedeuten, dass wenige Vorprodukte wie beispielsweise Motoren - denn jeder Traktor benötigt davon nur einen - einen hohen Wert ausmachen und daher A-Teile wären. Demgegenüber weisen viele Verbindungselemente wie Schrauben oder Nieten - von denen im Vergleich zu Motoren ungleich mehr in die Produktion eingehen - nur einen geringen Wert auf und bilden deshalb C-Teile. Abbildung 62: Abgrenzung von A-, B- und C-Materialien Die XYZ-Kategorisierung, früher häufig als RSU-Analyse bezeichnet, gliedert die Materialien nach der Regelmäßigkeit ihres Verbrauchs. X-Materialien werden regelmäßig benötigt, Y-Materialien weisen einen schwankenden Bedarf auf und Z-Materialien sind durch einen unregelmäßigen Verbrauch gekennzeichnet. 170 Daraus resultiert auch eine unterschiedliche Vorhersagbarkeit. Ist der Bedarf an X-Gütern gut prognostizierbar, so ist dies für Z-Güter nur sehr schwer möglich. Beide Kategorisierungsansätze sind in der ABC-/ XYZ-Analyse miteinander verzahnt. Diese weist unter Umständen folgende Güterkategorien aus: AX, AY, AZ, BX, BY, BZ, CX, CY, CZ. Für die unterschiedlichen Materialklassen ergeben sich verschiedenartige Beschaffungs- und Lagerhaltungsempfehlungen, die in Abbildung 63 dargestellt sind. 168 Vergleiche Günther & Tempelmeier (2005, S. 177 f). 169 Vergleiche Fortmann & Kallweit (2000, S. 37). 170 Vergleiche Schulte (2009, S. 311 f). <?page no="135"?> 2.9 ABC-/ XYZ-Analyse 135 2 Abbildung 63: Beschaffungshinweise aus der ABC-/ XYZ-Analyse 171 CZ-Materialien mit hohem Mengen-, aber geringem Wertanteil und unregelmäßigem Verbrauch sollten eingelagert werden. Sie weisen einen geringen Wert auf, woraus eine nur marginale Kapitalbindung resultiert. Es handelt sich in der Regel um Kleinteile, daher beanspruchen sie nur wenig Lagerplatz. Sie sind hinsichtlich ihres Bedarfs schlecht vorhersagbar, werden möglicherweise unerwartet benötigt und würden bei Beschaffung im Bedarfsfall und bei nicht sofortiger Verfügbarkeit möglicherweise den Produktionsprozess verzögern und vergleichsweise hohe Transportkosten erzeugen. AX-Materialien hingegen sollten bedarfsgerecht beschafft werden. Sie weisen einen hohen Wert auf und verursachen bei Lagerung hohe Kapitalbindung. Bei Beschaffung im Bedarfsfall kann diese umgangen werden. Ferner ist - selbst bei lieferantenseitig längeren Lieferzeiten - durch die gute Vorhersagbarkeit des Bedarfs und der damit verbundenen Möglichkeit der frühzeitigen Bestellung auch eine punktgenaue Anlieferung zum Verbrauchstermin realisierbar. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die ABC-/ XYZ-Analyse ist eine Methode des Beschaffungsmanagements und der Materialwirtschaft und wird primär zur Anpassung von Lagerbeständen eingesetzt. Die Kategorisierungslogik der ABC-Analyse ist so eingängig, gut handhabbar und attraktiv, dass sie auch in anderen betriebswirtschaftlichen Bereichen und unternehmerischen Funktionen zum Einsatz kommt. So nutzen beispielsweise auch Marketing und Vertrieb eine ABC-Einteilung der im Produktprogramm befindlichen Produkte gemäß folgender Logik: Mengenmäßig wenige Produkte erzeugen einen großen Teil des Umsatzes (A-Produkte), und mengenmäßig viele Produkte realisieren nur einen geringen 171 Modifiziert nach Werner (2013, S. 235). <?page no="136"?> 136 2 Beschaffung und Logistik Teil des Gesamtumsatzes (C-Produkte). 172 Diese absatzmarktbezogene ABC-Logik wirkt aber in der Regel nicht auf die Materialwirtschaft. Die Durchführung der materialwirtschaftlichen ABC-/ XYZ-Analyse umfasst die in Abbildung 64 aufgeführten acht Schritte. Abbildung 64: Schritte der ABC-/ XYZ-Analyse Bei der Festlegung des Analyseobjektes wird der Untersuchungsbereich abgegrenzt: Wird die ABC-Analyse für einen Lagerstandort, eine Produktlinie oder einen Geschäftsbereich, eine Fabrik oder ein ganzes Unternehmen durchgeführt? Danach erfasst man Daten. Für jede Artikelnummer werden Mengen-, Einkaufspreis- und Verbrauchsangaben ermittelt. In der Regel ist dies mit Hilfe der zur Verfügung stehenden ERP-Systeme unkompliziert möglich, gelegentlich müssen aber Datenverknüpfungen organisiert beziehungsweise Schnittstellen zwischen den Systemen geschaffen werden. Etwa dann, wenn verschiedene Standorte unterschiedliche Artikelnummern für das gleiche Vormaterial nutzen oder separate Rechnersysteme in Verwendung sind. Danach errechnet man die Wertgrößen durch Multiplikation von Menge und Einkaufspreis pro Vorprodukt, es sei denn, diese Daten werden durch das ERP-System automatisiert bereitgestellt. Anschließend erfolgt die Sortierung der Vorprodukte nach ihrem Wert, die Untergliederung in A-, B- und C-Materialien, die Berechnung der relativen Anteile der gebildeten Kategorien am Gesamtwert und die abschließende Erarbeitung einer Gesamtübersicht in Form einer Tabelle oder einer Grafik, wie sie Abbildung 62 enthält. 172 Die Logik kann man sowohl auf Produkte als auch auf Kunden beziehen, im Sinne von: Wenige Kunden verantworten einen großen Teil des Umsatzes (vergleiche Esch, Herrmann & Sattler 2008, S. 401 f). Zur ABC-Analyse im Bereich des Marketings siehe Kapitel 4.3. <?page no="137"?> 2.9 ABC-/ XYZ-Analyse 137 2 Weiterführende Hinweise Die ABC-/ XYZ-Analyse ist ein robustes Verfahren zur Lageroptimierung, auch wenn man weitere Kriterien berücksichtigen kann, wozu im Einzelfall auch geraten wird. Dennoch schärft die Methode den Blick für die wesentlichen Dimensionen und ist ohne großen Aufwand durchführbar. Die Praxis zeigt allerdings auch, dass die Verwendung von ABC-Kategorisierungen in verschiedenen betriebswirtschaftlichen Funktionsbereichen und Disziplinen Verwirrung stiftet. So gibt es Unternehmen, die ihre abzusetzenden Produkte nach ABC-Produkten gliedern und anschließend - in der Annahme die ABC-Analyse würde automatisch zur Lageroptimierung führen - alle Materialien, die in A-Endprodukte eingehen, als A-Materialien einstufen und alle Materialien, die in C-Produkte eingehen, als C-Materialien klassifizieren. Darauf aufbauend wird die aus Marketingsicht möglicherweise erfreuliche Direktive ausgegeben, alle A-Materialien ständig im Lager vorzuhalten, um somit bei den eigenen Star-Produkten stets lieferfähig zu sein. Diese Strategie führt unweigerlich zu hohen Lager- und hohen Kapitalbindungskosten. Sie verursacht ferner Lieferprobleme bei C-Produkten, die bislang noch nicht zu hohen Umsätzen beitragen, weil es sich gegebenenfalls um neue, innovative und erst noch zu etablierende Produkte handelt. Eine wachsende Verankerung im Markt dürfte durch Lieferengpässe jedoch behindert werden. Es ist insofern wichtig, die ABC-/ XYZ-Analyse richtig anzuwenden, da sie ansonsten keinen Nutzen stiftet und im Worst Case sogar Schaden hervorrufen kann. Schließlich sollte man in der betrieblichen Praxis darauf achten, die ABC-/ XYZ-Kategorisierung nicht nur einmalig durchzuführen und die Ergebnisse fortzuschreiben. Vielmehr sollte sie permanent mitlaufen, um sowohl Verschiebungen in der Nachfrage nach Materialien zu verdeutlichen als auch um eine situationsadäquate Lagerhaltung zu gewährleisten. Die Festlegung der Lagerhaltungs- und Bestellstrategie ist für einzelne Materialien jedoch nicht automatisierbar. Manuelle Korrekturen und Eingriffe sind dann erforderlich, wenn neu einzuführende Produkte gefertigt werden, für die noch keine Verbrauchswerte vorliegen. Allerdings sollte die Korrekturnotwendigkeit nicht als Einfallstor für willkürliche Manipulationen der ABC-/ XYZ-Analyse und ihrer Empfehlungen dienen. <?page no="138"?> 138 2 Beschaffung und Logistik 2.10 Prioritätsregeln Problemstellung: Bestimmung einer zielführenden und vorteilhaften Reihenfolge für um Produktionsressourcen konkurrierende Aufträge Zielgruppe: Arbeitsvorbereiter, Disponenten, Fertigungsplaner, Fertigungssteuerer, Produktionsleiter, Logistikleiter Voraussetzungen: Entscheidungs- und Steuerungsfreiheit und Zugang zu erforderlichen Daten Zielsetzung der Prioritätsregeln Logistik organisiert und steuert Warenflüsse in und zwischen Unternehmen. Sie übernimmt dabei wichtige Transformationsfunktionen und trägt durch ihr Handeln dazu bei, dass beispielsweise Produktionsaufträge termin-, kosten- und qualitätsgerecht ausgeführt werden. Als Sekundärfunktion ist die Logistik darauf bedacht, die eigenen, nicht-wertschöpfenden Prozesse ohne großen Aufwand zu realisieren. Dabei kann im Logistiksystem - wie auch in der Produktion selbst - das Dilemma der Ablaufplanung auftreten, also der Zielkonflikt aus hoher Kapazitätsauslastung und geringen Durchlaufzeiten. 173 Verschiedene Aufträge konkurrieren um begrenzte Ressourcen und der Planer oder Disponent hat zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die Aufträge abgearbeitet werden sollen. Dabei müssen Aufträge termingerecht ausgeführt werden, und Ressourcen sollten keine Leerzeiten ausweisen. Zur Lösung dieses Problems werden Heuristiken eingesetzt, die es ermöglichen, näherungsweise ein gutes Ergebnis zu bestimmen. Prioritätsregeln gehören zu diesen Verfahren und werden aufgrund ihrer Verständlichkeit und Praktikabilität in der Unternehmenspraxis häufig eingesetzt. Gemäß dieser Methode werden nach unterschiedlichen Verfahren Prioritätskennziffern für Aufträge einer bestehenden Warteschlange vergeben, die anzeigen, in welcher Reihenfolge die Aufträge zu bearbeiten sind. Die Herausforderung für den Planer besteht darin, die eigenen Ziele zu ermitteln, zu strukturieren und zu ergründen, welche Prioritätsregel die Erreichung eines hohen Zielerfüllungsgrades unterstützt. Ist die passende Prioritätsregel gefunden, kann durch ihre Anwendung ein sehr effizienter Planungsprozess entstehen. Beschreibung der Prioritätsregeln Es existiert eine Vielzahl von Prioritätsregeln. Jede nutzt ein anderes Kriterium oder auch nur eine alternative Ausprägung eines schon bekannten Kriteriums. Die Wirksamkeit der Regel in Bezug auf die erwähnten Ziele der Durchlaufzeitminimierung und der Kapazitätsauslastungsmaximierung hängt von der Passfähigkeit der Regel für die vorliegende Situation ab. Daher kann in einem Unternehmen die Anwendung einer bestimmten Prioritätsregel zu großen Verbesserungen führen und in einem anderen nichts bewirken oder sogar ursächlich für eine Verschlechterung sein. 173 Vergleiche Gutenberg (1979, S. 216). <?page no="139"?> 2.10 Prioritätsregeln 139 2 Bekannte Prioritätsregeln sind: 174 FCFS (First-Come-First-Serve): Der zuerst eintreffende Auftrag wird als Erster ausgeführt. KOZ (Kürzeste Operationszeit): Der Auftrag mit der betriebsmittelbezogen kürzesten Operationszeit wird zuerst ausgeführt. LOZ (Längste Operationszeit): Der Auftrag mit der betriebsmittelbezogen längsten Operationszeit wird als erster ausgeführt. KGB (Kürzeste Gesamtbearbeitungszeit): Der Auftrag mit der kürzesten Gesamtbearbeitungszeit über alle Stationen und Betriebsmittel wird zuerst ausgeführt. GGB (Größte Gesamtbearbeitungszeit): Der Auftrag mit der längsten Gesamtbearbeitungszeit über alle Stationen und Betriebsmittel wird als Erster ausgeführt. FFT (Frühester Fertigstellungstermin): Der Auftrag mit dem zeitnahesten Fertigstellungstermin wird zuerst ausgeführt. KRB (Kürzeste Restbearbeitungszeit): Der Auftrag mit der zum Zeitpunkt der Belegung kürzesten verbleibenden Arbeitszeit in allen benötigten Stationen wird als Erster ausgeführt. GRB (Größte Restbearbeitungszeit): Der Auftrag mit der zum Zeitpunkt der Belegung größten verbleibenden Arbeitszeit in allen benötigten Stationen wird zuerst ausgeführt. WAA (Wenigste auszuführende Arbeitsschritte): Der Auftrag mit den wenigsten noch auszuführenden Arbeitsschritten wird als Erster ausgeführt. MAA (Meiste auszuführende Arbeitsschritte): Der Auftrag mit den meisten noch auszuführenden Arbeitsschritten wird zuerst ausgeführt. SZ (Schlupfzeitregel): Der Auftrag mit der geringsten Differenz zwischen Liefertermin und verbleibender Ausführungszeit wird als Erster ausgeführt. WR (Wertregel): Der Auftrag mit dem höchsten Produktendwert wird zuerst ausgeführt. DWR (Dynamische Wertregel): Der Auftrag mit dem höchsten Produktwert vor Ausführung des nächsten Arbeitsschrittes wird als Erster ausgeführt. ZUF (Zufallsregel): Die durch einen Zufallsgenerator ermittelten Zufallszahlen bilden die Prioritätszahlen der Aufträge. In Abhängigkeit von der jeweiligen Regel werden den Aufträgen nach einem bestimmten Muster Prioritätszahlen zugewiesen - man erkennt nicht nur, welcher der erste, sondern auch welcher der zweite, dritte oder vierte Auftrag sein soll. Im Ergebnis liegt eine sortierte Liste mit einer abzuarbeitenden Auftragsreihenfolge vor. Treten im Zeitablauf neue Aufträge hinzu, wird das Vorgehen mit den verbliebenen alten und den dazugekommenen neuen Aufträgen erneut durchlaufen und liefert wieder eine aktuelle Auftragsreihenfolge. 174 Vergleiche Berg (1979, Sp. 1427 f) und Wannenwetsch (2010, S. 570). <?page no="140"?> 140 2 Beschaffung und Logistik Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Prioritätsregeln finden Anwendung in der Festlegung der Bearbeitungsreihenfolge von Aufträgen in der Produktion von Güterherstellern. Die Logistik nimmt die Reihenfolgen auf und realisiert die aus den Fertigungsaufträgen resultierenden Transportaufträge - möglicherweise in der gleichen Reihenfolge. Es ist auch denkbar, dass aufgrund andersartiger logistischer Prozesse und Bedingungen alternative Reihenfolgen vorteilhaft sind und keine starre Orientierung an den produktionsseitig geprägten Sortierungen erfolgt. In diesen Fällen wird die Logistik als Unternehmensfunktion oder als Dienstleister eigene Reihenfolgen mittels Prioritätskennzahlen bilden. Prioritätsregeln sollen Planern und Disponenten pragmatische Entscheidungshilfen an die Hand geben. Daher wird die zum Einsatz kommende Prioritätsregel nicht ständig variiert, sondern nur dann modifiziert, wenn dies aufgrund von Veränderungen der Situation - Installation zusätzlicher Maschinen oder Veränderung der Unternehmenszielsetzung - geboten erscheint. Aus diesem Grund kommt der Auswahl der zu nutzenden Prioritätsregel vor deren Verwendung große Bedeutung zu. 175 Es ist zu hinterfragen, welche Ziele bestehen, in welcher Rangfolge sich diese befinden und welche Prioritätsregel die Erreichung der Ziele am besten unterstützt. Die Prioritätsregeln weisen jeweils einen sehr unterschiedlichen Fokus auf. So kann die KOZ-Regel darauf abstellen, in einem Unternehmen mit hohem Auslastungsgrad viele Aufträge abzuarbeiten und damit Kunden durch zeitnahe Belieferung zufrieden zu stellen, ohne dass ein Auftrag zu lange ein Betriebsmittel belegt und dadurch andere Aufträge erst sehr viel später zur Bearbeitung gelangen. Die DWR-Regel versucht, Aufträge mit schon erzeugtem, hohen Produktwert weiterzubearbeiten und schnell fertigzustellen und damit aus dem Produktions- und Logistiksystem zu entlassen. Würden diese Halbfertigprodukte lange auf die Weiterbearbeitung warten, entspräche dies einer Lagerung werthaltiger Güter, was hohe Kapitalbindung mit sich brächte, welche mittels Anwendung der DWR-Regel vermeidbar wäre. Die Wirksamkeit einzelner Regeln hinsichtlich möglicher Ziele zeigt Abbildung 65. 176 Ist die passende Regel gefunden, wird der Planer die Aufträge zusammentragen, hinsichtlich der relevanten Kriterien analysieren und anschließend in die entsprechende Reihenfolge bringen. Gelegentlich muss er weitere Restriktionen prüfen, beispielsweise ob das für einen zuerst auszuführenden Auftrag benötigte Material vorliegt. Oftmals dürften die Erfassung, Analyse und Sortierung der Aufträge nach der präferierten Regel ohne großen Aufwand mit Hilfe datenverarbeitungstechnischer Unterstützung realisiert werden. 175 Vergleiche zu Simulationsmodellen zur Unterstützung der Auswahl geeigneter Prioritätsregeln Günther & Tempelmeier (2005, S. 225 ff). 176 Vergleiche Schulte (2009, S. 407), der auf Hoss (1965) verweist und damit zeigt, dass die Nutzung derartiger Regeln schon lange Zeit etabliert ist. <?page no="141"?> 2.10 Prioritätsregeln 141 2 Abbildung 65: Beurteilung einzelner Prioritätsregeln 177 Weiterführende Hinweise Die Hoffnung, mit der Anwendung von Prioritätsregeln ein optimales Ergebnis der Reihenfolgeplanung zu erzielen, wird in der betrieblichen Praxis nicht immer erfüllt. Ungeachtet dessen stiftet diese Methode Nutzen, da sich bei der Auswahl der richtigen Regel gute Ergebnisse einstellen. In Theorie und Praxis wird allerdings beklagt, dass eine einzelne Regel meist auf die Erfüllung eines einzelnen Ziels abstellt, in der Unternehmenspraxis jedoch häufig ein Kanon verschiedener Ziele adressiert werden muss. Der Gedanke, verschiedene Prioritätsregeln zu verbinden, indem die durch unterschiedliche Regeln ermittelten Prioritätszahlen pro Auftrag addiert oder multipliziert werden, um somit eine neue Prioritätszahl zu kreieren, die integrativ die Zielsetzung der genutzten Regeln verknüpft, erscheint zwar unter Umständen machbar, liefert für gewöhnlich jedoch keine guten Ergebnisse - häufig verstärken sich sogar die unerwünschten Effekte der einzelnen Regeln. 178 177 Modifiziert nach Schulte (2009, S. 407). 178 Vergleiche dazu die Aussagen bei Schulte (2009, S. 407). <?page no="142"?> 142 2 Beschaffung und Logistik 2.11 Cross Docking Problemstellung: Optimierung von Transportvorgängen und Realisierung einer bedarfsgerechten Belieferung von Abnehmern Zielgruppe: Logistiker, Transportplaner, Materialwirtschaftler, Supply Chain Manager Voraussetzungen: Vorhandensein einer adäquaten Infrastruktur und Beschaffung erforderlicher Transportmittel Zielsetzung des Cross Docking Cross Docking ist ein Aktivitätenbündel zur Auflösung und bedarfsgerechten Neukommissionierung von Warenladungen in einem Konzentrationspunkt eines mehrstufigen Logistiksystems. Der Ansatz zielt auf die Verkürzung von Lieferzeiten, die Reduktion von Frachtkosten und die Verringerung von Lagerbeständen. Insbesondere auf der Stufe von Herstellerzu Händlerfilialunternehmen findet dieses Konzept Anwendung und kann hier seine Stärken ausspielen, obgleich der Einsatz nicht an diese Stufe einer Lieferkette gebunden ist. Auch zwischen Lieferanten und Herstellern kann man die Methode einsetzen. Wesentliche Vorteile werden in der Reduktion der Anzahl und Länge von Transportwegen gesehen. Den Warenempfängern werden auf ihre Bedürfnisse ausgelegte Warenpakete geliefert. 179 Dadurch verringern sich sowohl Lagerhaltungsvolumina und die Anzahl der Wareneingänge als auch die benötigten Andockstellen und Kommissionierflächen in den jeweiligen Betriebsstätten. Beschreibung des Cross Docking Beliefern viele Lieferanten jeweils zahlreiche und gegebenenfalls identische Abnehmer, ergibt sich ein komplexes Beziehungsnetz und eine hohe Anzahl von Transporten, wie in Abbildung 66 illustriert. Soll die Anzahl der Fahrten und insbesondere die Anzahl der Leerfahrten reduziert werden, kann man größere Transportmittel mit höherer Transportkapazität einsetzen und durch Rundfahrten - also durch Fahrten ohne viele einzelne Rückfahrten - die zahlreichen Abnahmestellen beliefern. Dies führt jedoch zu hohen Fahrtanteilen mit wenig ausgelasteten Transportmitteln wie Abbildung 67 verdeutlicht. Cross Docking reduziert die Anzahl der Transportbeziehungen und erlaubt den Einsatz unterschiedlich großer Transportmittel, was zu höherer Effizienz im Transportprozess beiträgt. Diesen Zusammenhang stellt Abbildung 68 dar. 180 Große Lastkraftwagen können jeweils sortenrein aus den Produktionsstätten der Vorproduzenten die Waren anliefern. In der Cross Docking-Station werden sie entladen, und die Güter stellt man nun so zusammen, dass die Bedarfspunkte jeweils die von 179 Vergleiche Werner (2013, S. 136 f). 180 Allerdings weisen Stephan & Boysen (2011, S. 130) auch darauf hin, dass durch Cross Docking zusätzliche Handlingvorgänge und Fixkosten erzeugt werden. <?page no="143"?> 2.11 Cross Docking 143 2 ihnen benötigten Güter in der richtigen Menge in einer Lieferung zusammengefasst erhalten und somit nur einen - möglichweise auch nur durch einen kompakten Stadtlieferwagen realisierten - Transport empfangen müssen, um alle bestellten Waren zu erhalten. Abbildung 66: Transportwege bei normaler Belieferung Abbildung 67: Transportwege bei Kreisverkehren <?page no="144"?> 144 2 Beschaffung und Logistik Abbildung 68: Transportwege im Cross Docking-Modell Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Cross Docking ist in unterschiedlichen Stufen der Lieferkette einsetzbar. Der Schwerpunkt der typischen Anwendung liegt in der Kopplung zwischen Endproduzenten und Händlern. Es ist eine Methode der zwischenbetrieblichen Logistik. Der Wunsch zur Einführung von Cross Docking setzt eine Analyse voraus, in der man prüft, ob Transport- und Lagerkosten in unerwünschter Höhe vorliegen, ob eine Situation besteht, in der viele Transportbeziehungen zwischen gleichen Akteuren existieren und somit das Cross Docking in der Lage wäre, einen Verbesserungsbeitrag zu leisten. Darüber hinaus werden sich die Mitglieder der Lieferkette darüber verständigen müssen, wer die zu errichtende Cross Docking-Station betreibt und wie Investitions- und Betriebskosten verteilt werden. Oftmals werden Planung und Betrieb in die Hände eines Logistikdienstleisters gelegt, der nicht in die Wertschöpfungsprozesse der Supply Chain eingebunden ist, der aber eine wichtige Kopplungsfunktion zwischen den Partnern übernimmt. In der Praxis äußern Logistikdienstleister immer wieder Interesse daran, neben den klassischen Kernfunktionen der Logistik wie Transport, Umschlag und Lagerung - üblicherweise mit TUL abgekürzt - auch weitergehende Planungs- und Optimierungstätigkeiten zu übernehmen und gegebenenfalls sogar in Randbereiche der wertschöpfenden Tätigkeiten vorzudringen, wie sie beispielsweise einfache Montagen im Kontext der Kontraktlogistik darstellen. Dies würde es Logistikdienstleistern erlauben, ihre Stellung im wettbewerbsintensiven Logistikmarkt zu festigen, Alleinstellungsmerkmale aufzubauen, längerfristige Kundenbindungen zu erreichen und margenreiche Tätigkeitsfelder zu erschließen. Cross Docking kann in verschiedenen Formen ausgeführt werden. 181 Eine Variante stellen beispielsweise die artikelreine Anlieferung von Paletten durch die Hersteller 181 Vergleiche zu Cross Docking-Varianten Kotzab (1997, S. 167). <?page no="145"?> 2.11 Cross Docking 145 2 und die filialgenaue Kommissionierung sowie der unmittelbare Weiterversand an die Handelsfilialen dar. Eine andere Form umfasst neben der Anlieferung auch die Zwischenlagerung in der Kommissionierzone der Cross Docking-Station. Der reibungsfreie Betrieb einer Cross Docking-Station und das Erreichen der avisierten Ziele setzen voraus, dass die Akteure miteinander informationstechnisch vernetzt sind. In der Regel werden über so genannte Electronic Data Interchangebeziehungsweise EDI-Verbindungen notwendige Informationen ausgetauscht. Weiterführende Hinweise Cross Docking-Stationen können sehr unterschiedlich ausgestattet sein. So variieren sie beispielsweise hinsichtlich ihres Automatisierungsgrades: Erfolgt maschinelles Sortieren und Kommissionieren oder sind in hohem Maße manuelle Arbeitsanteile vorgesehen? Die Antwort auf die Frage des angemessenen Automatisierungsgrades richtet sich auch hier nach dem Standort und der jeweiligen Lohnkostenhöhe. Auch hinsichtlich der informationsseitigen Koppelung lassen sich verschiedene Ausprägungsgrade ermitteln. Besonders elegant scheinen Stationen arbeiten zu können, wenn eine hohe Informationsdichte und ausreichend Kapazität zur Informationsverarbeitung vorliegen. So können etwa durch Vorankündigung von in Kürze eingehenden Lieferungen erforderliche Bedingungen geschaffen und die organisatorischen Abläufe gestrafft werden. <?page no="146"?> 146 2 Beschaffung und Logistik 2.12 Konsignationslager Problemstellung: Sicherung hoher Versorgungssicherheit bei niedrigen Lagerhaltungskosten aufseiten des Warenabnehmers Zielgruppe: Logistiker, Einkäufer, Materialwirtschaftler, Supply Chain Manager, Geschäftsführer, Produktionsleiter, Fabrikplaner Voraussetzungen: Ausreichend Lagerplatz am Ort des Abnehmers Zielsetzung der Konsignationslager Unternehmen stellen darauf ab, Lagerbestände zu reduzieren, um Lager- und Kapitalbindungskosten gering zu halten. Andererseits wollen sie das benötigte Material zum Bedarfszeitpunkt verfügbar haben. In einigen Lieferketten erweist sich die zeitpunktgenaue Belieferung als anfällig, und verspätet eintreffende Lieferungen können Produktionsstillstände verursachen. Diese Situation versuchen Unternehmen zu vermeiden. Das Konsignationslager bietet die Möglichkeit, beide Anforderungen zu verbinden: hohe Materialverfügbarkeit und minimale Lagerkosten. Es verschafft dem Verarbeiter von Vormaterialien Sicherheit bezüglich des Vorhandenseins von Material, vermeidet teure Sondertransporte und stärkt den Kooperationsgrad zwischen Lieferant und Hersteller. Zudem bietet es Lieferanten die Chance, Kundenbeziehungen zu intensivieren und die Kundenbindung zu erhöhen. Beschreibung der Konsignationslager Konsignationslager sind echte Lager. Das heißt, anders als bei Cross Docking-Stationen, in denen primär das Kommissionieren realisiert wird, erfüllen Konsignationslager eine reale Lagerungsfunktion. Daher entstehen in diesem Fall auch Lager- und Kapitalbindungskosten. Die Besonderheit ist, dass die Lager- und Kapitalbindungskosten für Vorprodukte nicht beim Hersteller auftreten, der die Vorprodukte weiterverarbeitet, obgleich dieser jederzeit auf das Lager zugreifen kann. Diese für den Hersteller vorteilhafte Situation ergibt sich dadurch, dass der Lieferant zum Aufbau und Betrieb eines Lagers auf dem Werksgelände des Herstellers motiviert wird. Das heißt, der Zulieferer fertigt Vorprodukte, transportiert diese zur Betriebsstätte des Herstellers und lagert sie dort ein, während der Hersteller bei Bedarf dieses Lager nutzt und die benötigten Vorprodukte entnimmt. Erst durch die Entnahme wird ein Kauf realisiert, in dessen Folge der Hersteller die entsprechende Rechnung begleichen muss. Der Vorteil dieser Methode ist darin zu sehen, dass der Hersteller jederzeit benötigte Vorprodukte im Lager sehen kann, sie aber erst bei Entnahme bezahlt. Lagerort- und Eigentumsübergang fallen insofern auseinander: Die Ware ist beim Hersteller, aber er bezahlt sie erst bei Nutzung. 182 182 Vergleiche Koch (2012, S. 130). <?page no="147"?> 2.12 Konsignationslager 147 2 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Konsignationslager kommen vorwiegend in industriellen Lieferketten zwischen Produzenten verschiedener Wertschöpfungsstufen zum Einsatz und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Für Hersteller liegen die Vorteile auf der Hand. Diese vermeiden durch den verzögerten Eigentumsübergang eine hohe Kapitalbindung, 183 während das Bestandsrisiko der Lieferant trägt. 184 Durch die Lagerung des Materials auf seinem Werksgelände profitiert der Hersteller als Materialempfänger von höherer Versorgungssicherheit. Ferner ermöglicht der schnelle Zugriff auf Material dem Produzenten, kurzfristige Modifikationen des Produktionsplans vorzunehmen und somit Vorteile hinsichtlich Rüstzeitminimierung und Durchlaufzeitverkürzung zu realisieren. Abbildung 69: Abläufe in einem Konsignationslager 185 Anfangs vornehmlich durch Druck des meist mächtigeren Herstellers zur Einrichtung von Konsignationslagern gezwungen, sehen aber auch Lieferanten zunehmend Vorteile in diesem Ansatz. So können sie die Lagerhaltung am eigenen Produktionsstandort reduzieren und auf den Erwerb weiterer Grundstücke und die Ausweitung von Lagerkapazitäten verzichten. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen, die sich in vollständig bebauten Mischgebieten befinden, erweist sich dieser Aspekt als Vorteil. Durch die Lagerungsmöglichkeit des Lieferanten beim Hersteller muss der Lieferant nicht mehr einzelauftragsbezogen produzieren. Er kann größere Produktionslose auflegen und dadurch Größenvorteile in der Produktion nutzen, welche die 183 Konsignationslager zählen zu den erfolgreichsten logistischen Maßnahmen (vergleiche dazu die Studienergebnisse bei Göpfert & Braun 2012, S. 34). 184 Vergleiche Heß (2008, S. 58). 185 Modifiziert nach Werner (2013, S. 250). <?page no="148"?> 148 2 Beschaffung und Logistik entstehenden Lagerkosten unter Umständen überkompensieren. 186 Schließlich kann das Abschöpfen eines Aufgeldes für den erhöhten Servicegrad für den Hersteller wirtschaftlich interessant sein. Den Ablauf in einem Konsignationslager illustriert Abbildung 69. Hersteller sollten die Einrichtung eines Konsignationslagers in Betracht ziehen, wenn sie mit langen Versorgungswegen, anfälligen Lieferketten und hohen Lagerkosten konfrontiert sind. Allerdings empfiehlt sich eine Abstimmung mit den Lieferanten. Eine auf Druck des Herstellers basierende Errichtung von Konsignationslagern durch die Lieferanten kann zwar kurzfristig die erhofften Erfolge erzeugen, aber langfristig die Beziehung zwischen Hersteller und Lieferant belasten. Da sich Lieferanten immer häufiger zu Produktions- und Innovationspartnern wandeln, kann ein zu dominantes und auf einseitige Vorteilsnahme bedachtes Handeln zur Schmälerung der Innovationsleistung und zu einer Verschlechterung der Gesamtleistung führen. Weiterführende Hinweise Konsignationslager sollen zur Erhöhung der Versorgungssicherheit und zur Senkung von Kosten beim Hersteller führen. Dabei sollte man beachten, dass die Kostensenkungen in der Regel nicht im theoretisch ermittelten Umfang eintreten. Der Hersteller wird dem Lieferanten für das Betreiben des Konsignationslagers ein Entgelt entrichten müssen. Wenn die entsprechenden Zahlungen nicht direkt erfolgen, werden die Kosten vermutlich auf die zu beschaffenden Vorprodukte umgelegt, wodurch sich der Beschaffungspreis der einzukaufenden Komponenten erhöht. Dies muss jedoch kein Nullsummenspiel sein. Aus den genannten Gründen können sich tatsächlich Kostensenkungen ergeben, die beiden Partnern Vorteile versprechen. Die isolierte Betrachtung des Konsignationslagers als rein logistisches Instrument ist von seiner Anlage her möglich, allerdings sollte die Wirkung eines aufgezwängten Konsignationslagers nicht unterschätzt werden. Nutzen starke Hersteller ihre Macht zu einseitig, kann dies zu Ausweichmanövern der Lieferanten in andere Branchen oder zu anderen Kunden führen. Gerade bei innovationsstarken Systemlieferanten erscheint die Erarbeitung gemeinsamer Vorgehensweisen geboten. Ungeachtet dessen sollten Hersteller natürlich bestrebt sein, ihre Vormachtstellung zur Erhöhung der Gesamteffizienz in einer Lieferkette zu nutzen. 186 Auch der entstehende Kundenbindungseffekt ist nicht zu unterschätzen (vergleiche Koch 2012, S. 130). <?page no="149"?> 2 2.13 Just in time 149 2.13 Just in time Problemstellung: Erreichen einer Situation mit geringen Vormateriallagerkosten und hoher Lieferflexibilität Zielgruppe: Produktionsleiter, Einkäufer, Logistiker, Supply Chain Manager, Risikomanager Voraussetzungen: Just-in-time-fähige Produktionsanlagen, Just-in-time-fähige Lieferanten und geringe örtliche Distanz zwischen Lieferant und Abnehmer Zielsetzung des Just in time Just in time, häufig mit JIT abgekürzt, ist eine prominente Form der produktionssynchronen Beschaffung. 187 Hersteller wollen Bestände werthaltiger Güter gering halten, um keine hohe Kapitalbindung tragen zu müssen. Andererseits wollen sie den Aufwand von Einzelbeschaffungen im Bedarfsfall, damit einhergehende Mehrkosten und Planungsaufwendungen sowie Unsicherheiten reduzieren. An diesem Punkt setzt die Methode der produktionssynchronen Beschaffung an. Diese beinhaltet längerfristige Verträge zwischen Lieferant und Hersteller über die Belieferung mit spezifizierten Materialien und die bedarfsbeziehungsweise termingerechte Belieferung des Herstellers durch den Lieferanten. Der Materialbedarf in der Produktion löst die Materialanlieferung aus, wobei die Lagerhaltung auf ein Minimum reduziert werden soll. Wird Just-in-time-Belieferung bereits in der Planungsphase einer Fabrik als Beschaffungsprinzip vorgesehen, so lassen sich durch die Berücksichtigung der produktionssynchronen Beschaffung bei der Standort-, Bereichs-, Layout-, Transportmittel- und Materialflussplanung weitere Effizienzgewinne erzielen. Umfangreiche Lager muss man insofern nicht mehr aufbauen. Materialflusssysteme und Wegenetze können auf diese spezielle Belieferungssituation hin ausgelegt werden, um Warte- und innerbetriebliche Transportzeiten zu verringern. Die Auswirkungen des JIT-Ansatzes können so weit reichen, dass die Partner 188 vereinbaren, dass der Lieferant in der Nähe des Herstellers ein Werk errichtet, in dem die zu liefernden Komponenten oder Baugruppen produziert werden. Sind dann noch Behälterkonzepte abgestimmt und Prüfpläne und Prüfroutinen gemeinsam erarbeitet, können prozessverlängernde Zwischenschritte wie Umpacken und Doppelprüfungen eliminiert werden. Beschreibung des Just in time Mit Hilfe von Just in time plant man, eine produktionssynchrone Belieferung des Herstellers mit Vorprodukten zu erreichen. In Theorie und Praxis existieren verschiedene Varianten von Just in time. Die theoretisch ideale Situation ist - vor dem Hintergrund 187 Vergleiche Koch (2012, S. 132 f) und Heß (2008, S. 233). 188 Das Vorhandensein einer partnerschaftlichen Beziehung ist eine von mehreren Voraussetzungen. Weitere sind hohe Prognosesicherheit und hoher Servicegrad (vergleiche Werner 2013, S. 171). <?page no="150"?> 150 2 Beschaffung und Logistik der JIT-Zielsetzung - eine Produktion ohne Bestände. Gelingt die Anlieferung der erforderlichen Materialien in exakt der Reihenfolge der Produktionsaufträge, für welche die Materialien benötigt werden, spricht man von Just in sequence. Unabdingbar für das Funktionieren dieses Ansatzes ist die Verfügbarkeit eines leistungsfähigen Informationssystems, das den Datenaustausch zwischen den Akteuren erlaubt und die Bereitschaft zur umfassenden Datenweitergabe beinhaltet. Allerdings ist bei bedarfssynchroner Belieferung davon auszugehen, dass die Anzahl der Transporte steigt und die Transportlose kleiner werden. Offenkundig dürfte auch eine höhere Anzahl von Leerfahrten entstehen. Häufig wird davon berichtet, dass man die Lagerung auf die Straße verschiebt. Nebeneffekte sind auch, dass Verkehre von der Schiene auf die Straße verlegt werden und die Anfälligkeit der Belieferung zunimmt - insbesondere bei größeren Distanzen zwischen Lieferant und Hersteller. Einige dieser Nebenwirkungen sind sowohl unter ökonomischen als auch unter den in der Logistik zunehmend Beachtung findenden ökologischen Gesichtspunkten bedenklich. Die Nachteile der Methode kann man durch Kopplung mit anderen Ansätzen abmildern. Einzelne Just-in-time-Ausprägungen geben selbst schon Antworten auf die benannten Herausforderungen. Kernelement der betriebswirtschaftlichen Methode des Just in time ist, dass zwischen zwei Akteuren mindestens ein Lager und eine Qualitätsprüfung entfallen sollen - in der Regel beim Empfänger der Ware. In traditionellen Logistikbeziehungen produziert ein Lieferant die Vorprodukte, prüft sie nach der Fertigstellung und lagert sie dann bei sich ein. Der Hersteller bestellt die Vorprodukte, lässt sie anliefern, unternimmt eine Wareneingangsprüfung und lagert sie erneut bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Vorprodukt in der Produktion des Herstellers benötigt wird. Durch Just in time werden Lagerung und Eingangsprüfung beim Empfänger eingespart, da die Ware punktgenau zum Bedarfszeitpunkt angeliefert wird. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Just in time kommt insbesondere in der Industrielogistik zur Anwendung. Beziehungen zwischen Wertschöpfungspartnern verschiedener Stufen industrieller Lieferketten werden auf diese Weise miteinander verbunden. Ferner ist das Konzept am ehesten dort zu finden, wo aufgrund hoher Variantenvielfalt, hoher Produktionsvolumina, komplexer Güter, schwankender Nachfragehöhen und werthaltiger Vorprodukte Lagerhaltung sehr teuer ist. Im Wesentlichen lassen sich drei Ausführungs- und Ablaufarten des Just-in-time-Konzeptes ausmachen. 189 Sollen Prüf- und Lagerungsvorgänge beim Abnehmer wegfallen, so wird der Lieferant Vorprodukte für den Hersteller produzieren, in sein eigenes Ausgangslager einlagern und der Hersteller bei Vorliegen von in der Regel kundenbasierten Produktionsaufträgen direkt daraus abrufen und nach Eintreffen in der Produktion nutzen; 189 Vergleiche Wannenwetsch (2010, S. 181 f). <?page no="151"?> 2.13 Just in time 151 2 der Lieferant produzieren und in das Lager eines in die JIT-Abwicklung involvierten Spediteurs einlagern, in dem auch kommissioniert und dann beim Hersteller angeliefert wird; in diesem Kontext wird auch von gemeinsamer Bestandsführung gesprochen; der Lieferant produzieren und prüfen. Er liefert ohne Zwischenlagerung direkt an den Hersteller, der die Vorprodukte benötigt, was insbesondere bei dicht beieinanderliegenden Produktionsstätten von Lieferant und Hersteller funktionieren kann. Abbildung 70: Schritte der Just-in-time-Einführung In der Regel erfordert die Einführung eines Just-in-time-Konzeptes die Existenz fähiger Lieferanten, die man gegebenenfalls weiterqualifiziert und mit denen man ein mehrstufiges Planungssystem etabliert. Wie in Abbildung 70 dargestellt, wird das Planungssystem in erster Ebene eine Rahmenvereinbarung umfassen, das die Anforderungen an die zu liefernden Güter enthält, eine Bedarfsprognose einschließt und typischerweise eine einjährige Laufzeit hat. In zweiter Ebene werden quartalsweise Rahmenaufträge stehen, die beim Lieferanten die Materialbeschaffung auslösen, um die zur Erstellung der Vorprodukte benötigten Werkstoffe zu erhalten. In dritter Ebene wird der Direktabruf des Herstellers realisiert, der auf der Basis der im Rahmenauftrag geplanten Mengen eine konkrete Variante in bestimmter Stückzahl zu einem festgelegten Termin anfordert. Weiterführende Hinweise Die Implementierung einer produktionssynchronen Beschaffung ist an einige Rahmenbedingungen geknüpft. Sind diese nicht gegeben, stellen sich die Vorteile in der Praxis nicht ein. Sowohl der Lieferant als auch der Hersteller müssen ihre Vorgehensweisen und beschaffungsmarktseitigen Prozesse umstellen beziehungsweise verändern. Derartige Anpassungen wird man nur realisieren, wenn man von einer längerfristigen Lebensdauer des neuen Modells ausgeht. Mehrjährige Vertragsdauern sind daher üblich. Häufig erscheint es auch sinnvoll, nicht nur die Steuerung einer Lieferanten-Abnehmer-Beziehung nach dem JIT-Konzept zu gestalten, sondern weitere Vorstufen mit einzubeziehen. Die Installation informationstechnischer Voraussetzungen ermöglicht den zeitnahen Datenaustausch. Gelingt die Belieferung mit der vereinbarten Ware nicht termingerecht, greifen in den Verträgen fixierte Konventional- <?page no="152"?> 152 2 Beschaffung und Logistik strafen. Ferner bilden eindeutige Spezifikationen der zu liefernden Teile, exakte Prüfvorschriften und Vereinbarungen über Messmittel wichtige Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf innerhalb der JIT-Beziehung. Die Preise werden in der Regel für ein Jahr festgesetzt und danach neu verhandelt. Vielerorts finden sich Preisgleitklauseln für den Rohstoffpreisanteil am Wert des Vorproduktes. <?page no="153"?> 3 Produktion <?page no="154"?> 154 3 Produktion Der betriebliche Funktionsbereich Produktion bildet den Ort der Wertschöpfung im Unternehmen. Hier werden die Leistungen, insbesondere die zu vertreibenden Produkte, hergestellt. Ohne Produktion würden Unternehmen nicht über Leistungen verfügen, mit deren Hilfe sie Umsätze und Einnahmen erwirtschaften. Die Produktion veredelt die durch die Beschaffung verfügbar gemachten Rohstoffe und Vorprodukte gemäß geltender Vorgaben der Forschungs- und Entwicklungsabteilung - wie Konstruktionspläne in der Stückgutfertigung und Rezepturen in der Verfahrensindustrie - zu absetzbaren Produkten. 190 Abbildung 71 beschreibt die Grobstruktur von Produktionssystemen. 191 Die Qualität der produzierten Erzeugnisse und die Kosten der Produktion sowie Flexibilitätspotenziale und Schnelligkeit der Auftragsbearbeitung beeinflussen in erheblichem Maße die betriebliche Wettbewerbsfähigkeit. Abbildung 71: Ein- und Ausgangsgrößen von Produktionssystemen 192 Im Rahmen der produktionswirtschaftlichen Planung muss man das Produktionsprogramm festlegen, das Produktionspotenzial ausgestalten und die Produktionsprozesse definieren. Die Programmplanung legt die Output-Dimension des Produktionsprozesses fest. Die Definition der herzustellenden Produkte nach Art, Menge und Form orientiert sich insbesondere an den Vorgaben des Absatzmarktes, aber auch an den intern verfügbaren Kompetenzen und Ressourcen. Die Produktionsprogrammplanung umfasst auch die Entscheidung über Eigenerstellung oder Fremdbezug der Produktkomponenten, 193 die in einem frühen Stadium gemeinsam mit der Beschaffungsabteilung getroffen wird. Die Potenzialplanung zielt auf die Sicherstellung der Leistungsbereitschaft des Produktionssystems. Zur Erstellung der im Produktionsprogramm aufgeführten Güter bedarf es des Einsatzes von Produktionsfaktoren. Durch die Kombination der in Abbildung 72 dargestellten Potenzial- und Repetierfaktoren versucht man, das angestrebte Produktionsergebnis zu erreichen. Betriebsmittel werden aufgrund ihrer generellen technischen Eignung, ihrer quantitativen und qualitativen Kapazität sowie ihrer Verfügbarkeit und Kompatibilität mit anderen Betriebsmitteln und Faktorarten für die Erstellung von Gütern bereitgestellt und weiterentwickelt. Zu ihnen 190 Vergleiche Corsten (2004, S. 2). 191 Vergleiche Fandel (1996, S. 32), Haak (1982, S. 119) und Kern (1976, S. 758 ff). 192 Mieke (2009, S. 4). 193 Vergleiche Nebl (2004, S. 62). <?page no="155"?> 3 Produktion 155 3 zählen etwa Maschinen, Werkzeuge, Transportmittel oder Einrichtungen. 194 Ziel der produktionswirtschaftlichen Personalarbeit ist es, die Ergiebigkeit menschlicher Ressourcen zum Beispiel durch den Einsatz adäquater Führungs- und Anreizsysteme oder durch Kompetenzprofilverbesserungen zu erhöhen. Abbildung 72: Produktionsfaktoren Die Prozessplanung im Produktionsbereich erstreckt sich auf den Entwurf von Ordnungen, die den Ablauf von Produktionsprozessen in Raum und Zeit vorgeben. 195 Zu Beginn wird die grundsätzliche Struktur der Abläufe - insbesondere die Gestaltung von Layout und Materialflusskonzept - bestimmt. Danach erfolgt die Auslegung der Prozesse hinsichtlich Reihenfolge und terminlicher Planung. Eine wichtige Beurteilungsgröße im Rahmen von Produktionsprozessen ist die Durchlaufzeit. Sie ergibt sich im Wesentlichen aus Rüst-, Bearbeitungs-, Kontroll-, Transport- und Liegezeiten. Diese Größen werden in erheblichem Maße durch andere Objekte - wie Betriebsmittel oder Qualifikationen und Fähigkeiten von Mitarbeitern, die Verfügbarkeit von Material, die logistischen Prozesse und die Qualität der Auftragseintaktung - und deren Planungen beeinflusst. Obwohl der Produktionsbereich als der Ort der Wertschöpfung eine zentrale Rolle einnimmt, kann man diesen nicht ohne Abstimmung mit den vorgenannten Funktionsbereichen Forschung und Entwicklung sowie Beschaffung und Logistik steuern. Zahlreiche Verflechtungen erfordern intensive Kommunikation und Koordination, die in eine harmonisierte Planung münden sollten. Forschung und Entwicklung definieren das zu erstellende Produkt. Dabei werden Werkstoffe, Fertigungsverfahren, Montageschritte, Variantenvielfalt, Einsatz von Standard- oder Normbauteilen festgelegt. Die entsprechenden Entscheidungen wirken sich unter anderem auf Beschaffungsaspekte wie Lieferantenwahl oder Möglichkeiten zur Erzielung von Mengeneffekten 194 Vergleiche Kern (1992, S. 196). 195 Vergleiche Kern (1992, S. 255). <?page no="156"?> 156 3 Produktion aus. Ebenso bestimmen die forschungs- und entwicklungsbezogenen Aspekte den Produktionsbereich - zum Beispiel bei der Wahl der Produktionsprozesse, beim Maschineneinsatz oder bei der Gestaltung des Automatisierungsgrades. Die Beschaffung wiederum legt durch ihre Lieferantenauswahl die Zuverlässigkeit der Produktion fest. Können Lieferanten die benötigten Vorprodukte nicht in vereinbarter Qualität und Menge zum definierten Zeitpunkt bereitstellen, entziehen sie der Produktion die Grundlage. Obwohl die nachgelagerten Bereiche von den Ergebnissen der vorgelagerten abhängen, haben auch die nachgelagerten wie Produktion, Marketing oder Vertrieb Einfluss auf die Leistungen der Vorstufen. So kann zum Beispiel die Beschaffung Restriktionen oder Anforderungen benennen, die wiederum in den Planungen und Entscheidungen der vorgelagerten Bereiche berücksichtigt werden müssen. 196 In der Produktion wird man bei avisierter Nutzung bestehender Fabriken für neue Produkte bestimmte Fertigungsverfahren gegenüber der Forschungs- und Entwicklungsabteilung ausschließen oder auf einfache Geometrien von Bauteilen oder auf Montagegerechtigkeit drängen. Viele Herausforderungen wie die Individualisierung von Leistungen, die Verkürzung von Auftragsbearbeitungszeiten, die Senkung von Kosten oder die Erhöhung von Produktqualitäten wird der Produktionsbereich nicht allein absichern können. Allerdings stehen erprobte betriebswirtschaftliche Methoden zur Verfügung, um den produktionsspezifischen Anteil abzudecken. Die wichtigsten Ansätze werden im Folgenden diskutiert. 196 Vergleiche Porter (2010, S. 62) und Picot, Dietl & Franck (2005, S. 285). <?page no="157"?> 3 3.1 Wertanalyse Problemstellung: Senkung der Kosten von Produkten oder Prozessen unter Beibehaltung der Funktionen beziehungsweise Erhöhung des Nutzens von Produkten oder Prozessen ohne Mehrkosten Zielgruppe: Produktionsleiter, F&E-Leiter, F&E-Mitarbeiter, Lieferantenentwickler, Materialgruppenverantwortliche, Prozessoptimierer Voraussetzungen: Verfügbarkeit der relevanten Funktionskosten Zielsetzung der Wertanalyse Die Wertanalyse ist eine Methode, mit deren Hilfe Funktionsstrukturen eines Betrachtungsobjektes offengelegt, durchdrungen und bewertet werden können. Die Elemente des Objektes sollen grundsätzlich in Richtung Wertsteigerung beeinflusst werden. 197 Die Wertanalyse lässt sich sowohl zur Kostensenkung als auch zur Nutzensteigerung von Objekten anwenden. Die Wertanalyse hinterfragt, inwiefern einzelne Elemente eines Systems zur Erfüllung des Systemzwecks erforderlich sind, wobei ein System ein Produkt, aber auch ein Prozess sein kann. Möglicherweise lassen sich einzelne Elemente eliminieren. Hierfür finden sich häufig nur begrenzte Möglichkeiten. Allerdings sind viele vorhandene Funktionen andersartig ausführbar als im betrachteten Fall. So treten die Suche, Analyse und Ausgestaltung technologischer Substitutionsmöglichkeiten in den Vordergrund. Beschreibung der Wertanalyse Die Durchdringung der Objekte, beispielsweise der Produkte, geschieht im Rahmen der Wertanalyse nicht durch Zerlegung in Einzelteile, sondern durch Zerlegung in Funktionen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Durch die Zerlegung in Funktionen erschließt sich im Allgemeinen ein größerer Lösungsraum, um alternative Ausführungsvarianten zu bestimmen, als durch die Zerlegung in Einzelzeile. Folgendes Beispiel illustriert diesen Sachverhalt: Zerlegt man ein Fahrrad in seine Einzelteile bis zum Kettenglied, dann stellt sich die Frage, ob das Kettenglied, ein Zahnrad oder der Stift, der die Kettenglieder verbindet, eliminiert werden können. Die Antwort dürfte in der Regel negativ ausfallen, da das System in der Folge nicht mehr in gewünschter Weise funktionieren würde. Lenkt man den Blick weg von den Einzelteilen, hin zu den Funktionen des Fahrrades, etwa auf Antrieb, Kraftumformung oder Richtungsänderung, dann fällt auf, dass diese einzelnen Funktionen häufig aus einem Zusammenspiel verschiedener Einzelteile und Baugruppen resultieren. Manche Einzelteile und Baugruppen sind in die Realisierung mehrerer Funktionen eingebunden. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kommen neue Optionen in Betracht. Zur Kraftumformung und Kraftübertragung kann man statt Kettengetriebe etwa ein Reibrad-, ein Rie- 197 Vergleiche DIN 69910. 3.1 Wertanalyse 157 <?page no="158"?> 158 3 Produktion men-, ein Zahnradgetriebe oder eine Kardanwelle einsetzen. Unter Umständen sind diese Alternativen ebenso tauglich, die Funktion zu erfüllen und lassen sich möglicherweise kostengünstiger produzieren. Durch die Ermittlung überflüssiger Systembestandteile und die Erarbeitung neuartiger Lösungsmöglichkeiten ergeben sich - bei Zielstellung der Kostensenkung - mehrere Kosteneinsparpotenziale. Zum einen können womöglich Beschaffungskosten gesenkt werden. Zum anderen fallen unter Umständen Fertigungs- und Montageschritte weg, und Produktionskosten lassen sich senken. Schließlich ist durch eine Neuausrichtung der Make-or-Buy- und der Lieferantenentscheidung sowie durch eine Restrukturierung der Lieferkettenmitglieder eine Senkung von Koordinationskosten möglich. Wertanalysen erfordern üblicherweise interdisziplinäre Teams, da man sowohl technische Lösungen analysieren, Kosten zuweisen, neue Lösungsmöglichkeiten erarbeiten und Kostenwirkungen prognostizieren als auch die marktbezogene Akzeptanz abschätzen und die Verfügbarkeit fähiger Lieferanten erkennen muss. Gelingt die Zusammenstellung schlagkräftiger Wertanalyseteams - häufig ein Verbund aus Konstrukteuren, Fertigungsplanern, Einkäufern, Controllern und Produktplanern -, so können diese oftmals Kostensenkungen in beträchtlichem Umfang herausarbeiten. Die Wertanalyse beschränkt sich nicht nur auf Produkte, sondern sie analysiert auch Produktions- und administrative Prozesse. Mit dem der Wertanalyse eigenen Blick auf Funktionen kann man auch Effizienzsteigerungsmöglichkeiten in betrieblichen Abläufen identifizieren. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Abbildung 73: Anwendungsfelder der Wertanalyse 198 198 Mieke (2009, S. 18). <?page no="159"?> 3.1 Wertanalyse 159 3 Die Wertanalyse kommt für ganz unterschiedliche Untersuchungsobjekte und auch an ganz verschiedenartigen Orten im Unternehmen zum Einsatz. Abbildung 73 fasst typische Anwendungsfelder zusammen. Es zeigt sich, dass schon im Stadium der Konstruktion, wenn das Produkt noch nicht realisiert ist, wertanalytische Betrachtungen sinnvoll sein können. 199 Bestehen doch in dieser Phase die größten Freiheitsgrade der Gestaltung bei geringsten Änderungskosten. Aber auch in der laufenden Serienproduktion können durch auf der Wertanalyse basierende Veränderungen beträchtliche Einsparungen erreicht werden. Der Anstoß für wertanalytische Untersuchungen kann aus verschiedenen Bereichen kommen. Das Beschaffungswesen mahnt die Anwendung des Verfahrens in der Regel dann an, wenn Preisverhandlungen, Mengenbündelungen, Global Sourcing und ähnliche Aktivitäten nicht mehr die avisierten Einkaufspreissenkungen erzielen. In der Produktion sucht man häufig nach effizienten Fertigungsmöglichkeiten, die sich durch die Anwendung von Wertanalysen stützen lassen. Das Vorgehen der Wertanalyse kann man in sechs Phasen gliedern, 200 die in Abbildung 74 aufgeführt sind. 201 Abbildung 74: Wertanalyseprozess Im Rahmen der Projektvorbereitung werden der Analysebereich definiert, Ziele abgesteckt und Teammitglieder bestimmt. Innerhalb des Teams sollten alle erforderlichen fachlichen Kompetenzen und methodischen Fähigkeiten im Hinblick auf Wertanalysen und Problemlösungstechniken verfügbar sein. Die Arbeitsgruppe entwickelt dann eine Ablaufplanung. In der zweiten Phase erfolgt die Zerlegung des zu untersuchenden Objektes. In der Regel dürfte sich das Ordnen der Funktionen nach Haupt-, Neben- und unwichtigen 199 Vergleiche Freidank (2001, S. 619). 200 Vergleiche Hesse (1990, S. 332). 201 Vergleiche Specht & Mieke (2005a, S. 182 ff). <?page no="160"?> 160 3 Produktion Funktionen als sinnvoll erweisen. 202 In diese Phase fällt auch die Ermittlung der Funktionskosten. Die Funktionskostenmatrix unterstützt die Zuweisung der Kosten der Elemente auf die einzelnen Funktionen. Die dritte Phase richtet sich auf die Konkretisierung der Zielzustände. Mit den Kenntnissen aus Phase zwei dürften sich diese nun präziser beschreiben lassen. Die Gesamtleistungsfähigkeit des Objektes wird durch die Summe zu beschreibender Soll-Funktionen repräsentiert. Ihnen lassen sich Kostengrößen zuordnen. Hier wird eine Parallele zum Controlling-Konzept des Target Costing sichtbar, obgleich dieses weniger technisch, sondern eher marktseitig orientiert ist. Im Mittelpunkt der vierten Phase steht die Entwicklung neuartiger Ansätze zur Ausführung der Funktionen des Systems. Dabei werden sowohl vorhandene Ideen gesammelt als auch neue Ideen erzeugt. Dies ist die Phase, in der auch analytische Problemlösungstechniken wie der morphologische Kasten und Kreativitätsmethoden wie Synektik oder Brainstorming zum Einsatz kommen - auch das Inspirieren durch Benchmarking kann stattfinden. Eine Verdichtung der Ansätze zu ganzheitlichen Lösungsansätzen schließt diesen Schritt ab. Im fünften Schritt leitet man aus den bestehenden Zielstellungen Bewertungskriterien für die erzeugten Lösungen ab und beurteilt die gefundenen Ergebnisse. Multikriterielle Bewertungsverfahren wie die Nutzwertanalyse erfüllen diese Aufgabe besonders gut. 203 Sie werden um Wirtschaftlichkeits- und Investitionsrechenverfahren ergänzt, um eine monetäre Bewertung zu gestatten. Die wesentliche Herausforderung in dieser Phase dürfte die Kostenprognose für die verschiedenen Lösungsprinzipien sein, die unter Umständen sehr neuartig und kostenseitig schwer spezifizierbar sind. Die abschließende sechste Phase richtet sich auf die Überführung der gefundenen Lösung in die Realität. Es ist zu planen, in welchen Schritten und zu welchem Zeitpunkt die Umstellung erfolgen soll, welche weiteren Akteure man einbinden und welche Rahmenbedingungen man noch schaffen muss. Schließlich erhält die letzte Phase den Charakter eines Projekt-Controllings, das die Realisierung überwacht und steuert. Weiterführende Hinweise Wertanalysen können aufwändig sein. Es sind crossfunktionale Wertanalyseteams zu bilden, die nicht immer konfliktfrei funktionieren. Die Durchdringung von Objekten nach Funktionsstrukturen erfordert - zumindest bei nicht technisch ausgebildeten Teilnehmern - etwas Übung. Die Spezifizierung von Kosten erweist sich häufig als problematisch. Mitglieder von Konstruktionsabteilungen haben in der Praxis nicht immer großes Mitwirkungsinteresse, stehen sie doch unter dem Druck, Neuprodukte entwickeln zu müssen, anstatt an aktuellen Modellen Veränderungen vorzunehmen. Und dennoch: Der Aufwand lohnt sich. Durch Wertanalysen gelingt es immer wieder, einen Schub zu erzeugen, der wesentliche Verbesserungen mit sich bringt. Insofern 202 Funktionsstrukturbäume können hier unterstützen (vergleiche Schröder 1994, S. 155). 203 Vergleiche zu verschiedenen Bewertungsverfahren Lenk (1994, S. 33 ff). <?page no="161"?> 3.1 Wertanalyse 161 3 kann man empfehlen, Wertanalysen regelmäßig durchzuführen, insbesondere dann, wenn die Methode in einer Organisation bereits bekannt und Mitarbeiter mit der entsprechenden Anwendung und Umsetzung vertraut sind. Dann ist der Boden für systematische Optimierungen bereitet, die eine Voraussetzung für die langfristige Überlebenssicherung von Unternehmen darstellen. <?page no="162"?> 3.2 Variantenausprägungsportfolio Problemstellung: Auswahl der für das Unternehmen nützlichen Varianten bei zunehmender Variantenanzahl Zielgruppe: Produktionsleiter, F&E-Leiter, Geschäftsfeldleiter, Produktmanager Voraussetzungen: Verfügbarkeit der Kosten und Nutzengrößen von Standard- und Variantenausführungen Zielsetzung des Variantenausprägungsportfolios Zunehmende Variantenvielfalt bei Produkten stellt die Produktion vor große Herausforderungen. Es sind - häufig an getakteten Fließbandproduktionen - verschiedene Ausführungen eines Produktes zu fertigen, womit sich erhebliche Herausforderungen in den Bereichen Materialversorgung, Logistik, Kapazitätsauslastung und Durchlaufzeitminimierung ergeben. Daher wird der Produktionsbereich auf eine Begrenzung der Variantenvielfalt drängen, wobei man unter Varianten Gegenstände ähnlicher Form oder Funktion mit in der Regel hohem Anteil gleicher Bauteile versteht. 204 Demgegenüber wollen Marketingverantwortliche das Variantenspektrum ausdehnen, um mit zusätzlichen Varianten die Präferenzstruktur potenzieller Käufer besser treffen und deren Kauf- und Zahlungsbereitschaft stimulieren zu können, was ohne eine spezielle zusätzliche Variante vermeintlich nicht gelingen würde. Zusätzliche Varianten versprechen insofern höhere Umsätze, verursachen aber auch steigende Kosten. 205 In der Praxis führen die unterschiedlichen Anforderungen, zum Beispiel von Produktion und Marketing, zu einem Konflikt. Das Variantenausprägungsportfolio mit seiner Variantenausprägungskennzahl will die Entscheidung objektivieren, welche Varianten in der Gesamtschau für das Unternehmen vorteilhaft sind. Es ist eine Methode, welche die Auswahl von zu fertigenden Varianten aus einem Fundus möglicher Varianten unterstützt. Beschreibung des Variantenausprägungsportfolios Das Variantenausprägungsportfolio visualisiert eine in ihren Grundzügen vergleichsweise einfache Berechnung. Der Grundgedanke besteht darin zu ermitteln, wie hoch der relative Nutzen einer Variante ist, also der Nutzen im Vergleich zur Standardausführung, wie hoch die relativen Kosten einer Variante liegen, also die Kosten im Vergleich zur Standardausführung. 206 204 Vergleiche Lingnau (1994, S. 23 f). 205 Vergleiche Hentschel & Hofstetter (2008, S. 198). 206 Vergleiche im Überblick Heina (1999). 162 3 Produktion <?page no="163"?> 3.2 Variantenausprägungsportfolio 163 3 Kosten- und Nutzenzuwächse von Varianten im Vergleich zur Standardausführung fallen nicht zwingend gleich hoch aus. Anders formuliert: Steigende Kosten führen nicht zwingend zu einem höheren Nutzen und umgekehrt. Das Entscheidungskriterium zur Aufnahme einer Variante in das Produkt- und Produktionsprogramm lautet: Übersteigt der relative Nutzen die relativen Kosten - anders gesprochen: ist der Quotient aus relativem Nutzen und relativen Kosten größer 1 -, so ist es vorteilhaft, die Variante in das Programm aufzunehmen. Beide Dimensionen, relativer Nutzen und relative Kosten, können auf den Achsen eines Koordinatenkreuzes abgetragen werden. Auf diese Weise visualisiert das Portfolio, wie und in welchen Abständen verschiedene potenzielle Varianten zueinanderstehen. Abbildung 75 verdeutlicht diesen Zusammenhang. Bei Vorhandensein vieler Varianten und beschränkter Ressourcen und Realisierungsmöglichkeiten können gezielt jene Alternativen ausgewählt werden, die nicht nur eine Ausprägungskennzahl größer 1, sondern im Sinne einer Reihung die höchsten Werte aufweisen. 207 Abbildung 75: Variantenausprägungsportfolio 208 Das Variantenausprägungsportfolio bietet ähnlich wie andere Portfoliodarstellungen nicht nur einen Überblick über die Betrachtungsobjekte, sondern hält für die Quadranten Empfehlungen in Form von Normstrategien bereit. Für Varianten, die sich im 207 Naefe (2012, S. 152 f) weist darauf hin, dass erfolgreiche Unternehmen häufig über eine übersichtliche Anzahl an Produkt-, Baugruppen- und Teilevarianten verfügen. 208 Achtung! Hier wurde eine vom kartesischen Koordinatensystem abweichende Quadrantenbezeichnung gewählt. <?page no="164"?> 164 3 Produktion ersten Quadranten befinden - ihre relativen Kosten übersteigen den relativen Nutzen -, lautet die Empfehlung, sie zu eliminieren. Sie sollten nicht weiter produziert beziehungsweise nicht in das Programm aufgenommen werden. Demgegenüber bilden Varianten des vierten Quadranten den angestrebten Zustand. Sie weisen bei geringen relativen Kosten einen hohen relativen Nutzen auf. Dabei handelt es sich in gewisser Weise um Idealvarianten. Sie sollten ins Programm aufgenommen werden beziehungsweise dort verbleiben. Die entsprechenden Varianten sollten auch im Rahmen von Verkaufsförderungsmaßnahmen und in der Kommunikationspolitik besondere Berücksichtigung erfahren, da es gewinnbringend sein dürfte, die Aufmerksamkeit potenzieller Interessenten vor allem auf diese, für das Unternehmen sehr vorteilhaften Varianten zu lenken. Für die Quadranten II und III wird ein selektives Vorgehen empfohlen. Hier ist genauer zu prüfen, an welchen Stellen in den Quadranten die Varianten platziert sind. Varianten des Bereiches IIa mit einer Variantenausprägungskennzahl leicht unter 1 wird man entweder aus dem Programm entfernen oder den Versuch unternehmen, bei gleichbleibenden relativen Kosten den relativen Nutzen zu erhöhen. Liegen ausreichend Varianten in Quadrant IV vor, wird man sich eher für das Eliminieren entschließen. Verfügt das Unternehmen über wenige Varianten mit einer Variantenausprägungskennzahl größer 1, treten Bemühungen zur Nutzenerhöhung auf den Plan. Bei der Suche nach Möglichkeiten zur Erhöhung des relativen Nutzens können Methoden wie Wertanalysen, Brainstorming, Synektik und der morphologische Kasten Anwendung finden. Varianten im Quadrant IIb mit einer Variantenausprägungskennzahl größer 1 werden üblicherweise im Programm belassen. Varianten des Quadranten IIIa mit einer Variantenausprägungskennzahl kleiner 1 sollte man weiter produzieren, wenn es gelingt, die relativen Kosten deutlich zu senken. Sie verfügen aufgrund ihres hohen relativen Nutzens über eine gute Ausgangsposition, wenngleich sie ohne deutliche Kostensenkungen für das Unternehmen langfristig nicht vorteilhaft sind. Hier können Make-or-Buy-Entscheidungen, Lieferantenförderung, Wert- und Schwachstellenanalysen oder Auktionen als auf Kostensenkung fokussierte Methoden helfen. Die Kostensenkung kann dabei - das deutet der Hinweis auf die verschiedenen Methoden schon an - in unterschiedlichen Bereichen wie Materialkosten oder Produktionskosten erreicht werden. Varianten des Quadranten IIIb mit einer Variantenausprägungskennzahl größer 1 verbleiben im Programm. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Das Variantenausprägungsportfolio findet sowohl in der Produktplanung als auch in der Produktionsoptimierung Anwendung. Es bezieht sich traditionell auf Produktvarianten. Die Anwendung der Methode unterstützt die Entscheidung, welche möglichen Produktvarianten Eingang in das Produkt- und Produktionsprogramm finden sollen. Damit beeinflusst es in hohem Umfang die Bereiche Produktion, Materialwirtschaft und Marketing. Allerdings kann man das Variantenausprägungsportfolio nicht nur zur Beurteilung von Produktvarianten, sondern beispielsweise auch bei der Bewertung von Prozessvarianten nutzen. Unternehmen werden in dynamischen und <?page no="165"?> 3.2 Variantenausprägungsportfolio 165 3 wettbewerbsintensiven Umfeldern unter Umständen auch verschiedene Prozessentwürfe erarbeiten und zum Einsatz bringen. Welche Varianten sich für das Unternehmen als vorteilhaft erweisen, könnte eine auf Prozesse angepasste Methode des Variantenausprägungsportfolios bewerten. 209 In der klassischen Anwendung des Variantenausprägungsportfolios - für Produktvarianten - ist die Methode mit folgendem Vorgehen verknüpft: Unternehmen werden im Rahmen eines Variantenmanagements planen, wie umfangreich ihr Sortiment im Hinblick auf Varianten ausgestaltet sein soll. In diesem Zusammenhang werden umfangreiche Analysen sowohl in den Abteilungen Marketing, Entwicklung und Konstruktion als auch in den Bereichen Produktion und Beschaffung erstellt und bewertet. Das Marketing muss beantworten, welche Nutzungspräferenzen, welche Funktionswünsche und welche Zahlungsbereitschaften bei den Kunden für potenzielle Leistungsangebote vorliegen. Entwicklung und Konstruktion müssen bestimmen, ob etwaige Änderungswünsche der Grundvariante und die damit verbundene Entstehung weiterer Varianten technisch möglich sind. Die Produktion hat zu prüfen, ob hinreichende Produktionskapazitäten vorliegen, welche zusätzlichen Betriebsmittel notwendig werden und welche Kostenwirkungen durch die Variantenproduktion entstehen. Die Beschaffungsabteilung eruiert schließlich, welche Auswirkungen auf die Lieferantenstruktur und auf Beschaffungsmengen und Beschaffungspreise entstehen und ob qualifizierte Lieferanten für benötigte Zukaufteile verfügbar sind. Durch Aggregation der Kosten und eine Abschätzung des Nutzens kann man ein Variantenausprägungsportfolio erstellen und die Variantenausprägungskennzahlen berechnen. Nach der Zusammenführung der Analysen weisen die strategischen Stoßrichtungen im Rahmen der Produktentstehungsphase entweder in Richtung Variantenerzeugung oder Variantenvermeidung. 210 Dabei muss nicht nur eines der Grundmuster zum Einsatz kommen. Vielmehr kann es für ein Produkt ratsam sein, keine oder wenige Varianten neben der Standardausführung zu entwickeln. Für andere Produkte kann die Schaffung mehrerer, möglicherweise gar einer Vielzahl von Varianten sinnvoll sein. Während der Marktphase richten sich in Abhängigkeit von den Analyseergebnissen die Aktivitäten auf die Beherrschung der Varianten oder auf die Reduktion der Variantenvielfalt. Bei der Gestaltung der Varianten werden Unternehmen versuchen, den Variantenentstehungspunkt innerhalb des Wertschöpfungsprozesses weit hinten anzusiedeln - also vom Standardprodukt abweichende Merkmale erst in den letzten Produktionsschritten zu erzeugen. Dies ermöglicht über weite Teile des Fertigungs- und Montageprozesses eine Produktionsweise, als handelte es sich um gar kein Variantenprodukt, wodurch man typischerweise Größenvorteile erzielen kann. Allerdings hängt diese Möglichkeit in großem Maße vom Ideenreichtum und Willen der Entwickler und 209 Vergleiche Mieke (2012a, S. 49 f). 210 Zu Strategien des Variantenmanagements vergleiche Raubold (2011, S. 29 ff). <?page no="166"?> 166 3 Produktion Konstrukteure ab. Lenken diese ihren Blick nicht auf die beschriebene Herausforderung, können Varianten unter Umständen sehr teuer werden. Mit fortschreitendem Einsatz generativer beziehungsweise additiver Fertigungsverfahren - Stichwort: 3D- Druck - dürfte eine Entschärfung dieses Problems eintreten. Weiterführende Hinweise Die Einführung zusätzlicher Varianten kann unter Marketinggesichtspunkten ratsam sein. Es finden sich viele Ansätze, Varianten günstig zu erzeugen. Allerdings müssen Verantwortliche auch jeweils prüfen, ob Varianten tatsächlich den gewünschten Nutzen stiften, oder ob deren Produktion nur propagiert wird, weil man dadurch das Produktprogramm einer bestimmten Sparte aufblähen und somit für die Verantwortlichen und Mitarbeiter dieses Bereiches Arbeitsplatzsicherheit schaffen, größere Budgets beanspruchen oder im innerbetrieblichen Machtgefüge eine bessere Positionierung erreichen kann. Diese Problematik verweist auf eine weitere Herausforderung. Die zuverlässige Quantifizierung von Kosten und Nutzenwerten ist unter Umständen nicht immer einfach und bedingt die Anwendung von Schätzverfahren. Hier sind fundierte Analysen und gewissenhafte Verfahrensanwendungen sowie die Offenlegung der anhaftenden Unsicherheiten notwendig, um zielführende Entscheidungen treffen zu können. In Einzelfällen kann es sinnvoll sein, eine andere Strategie zu verfolgen, als jene, die man im Anschluss an die Berechnung der Variantenausprägungskennzahl durch das Variantenausprägungsportfolio ableiten kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich bei der speziellen Variante um ein strategisches Produkt handelt. Damit werden Leistungen beschrieben, die Kunden typischerweise im Verbund mit Weiteren erwerben. Kunden erwarten insofern, dass sie alle Produkte bei einem Unternehmen beziehen können, auch die strategischen, die für das Unternehmen gegebenenfalls Verlustbringer darstellen. Wird diese für das Unternehmen nicht vorteilhafte Variante gestrichen, kann es sein, dass auch die Umsätze der als vorteilhaft eingestuften Varianten zurückgehen. Derartige Effekte sind im Vorhinein zu untersuchen, wenngleich nicht jede durch den Vertrieb angeführte strategische Produktkonstellation sich in der Realität als eine solche herausstellen dürfte. Das Variantenausprägungsportfolio wird für Produktvarianten angewendet. In der Vergangenheit lag der Fokus des Variantenmanagements vor allem auf Produkten. Für die Zukunft ist denkbar, dass Unternehmen aufgrund der zunehmenden Dynamik des Wettbewerbsumfeldes schneller und gegebenenfalls mit maßgeschneiderten Lösungen für unterschiedliche Branchen, Regionen oder Kunden reagieren müssen und dass diese Anpassungen verschiedenartige Organisations-, Steuerungskonzept- und Technologievarianten erfordern, die wiederum mit Hilfe geeigneter betriebswirtschaftlicher Methoden zu bewerten sind. <?page no="167"?> 3.3 FMEA 167 3 3.3 FMEA Problemstellung: Risikovermeidung bei neuen Produkten und Verfahren Zielgruppe: Produktionsleiter, Prozessoptimierer, Qualitätsmanager, Konstrukteure, Risikomanager, Produktmanager, Einkäufer Voraussetzungen: Verfügbarkeit von Fehlerkosten und Risikodaten und Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit Zielsetzung der FMEA Das Akronym FMEA steht für Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse, die im englischsprachigen Kontext als Failure Mode and Effects Analysis bezeichnet wird. 211 Die FMEA unterstützt die Erreichung der Ziele des magischen Dreiecks, das sich aus Qualität, Kosten und Zeit zusammensetzt. Im Mittelpunkt stehen dabei Qualität und die aus mangelhafter Qualität resultierenden Kosten. Mit Hilfe der Methode versucht man, Risiken zu bestimmen und zu analysieren und deren Eintritt durch Veränderung der eingesetzten technischen Lösungen zu verhindern. 212 Die FMEA kann man auf verschiedene Objekte anwenden. Es haben sich insbesondere Produkt-FMEA und Prozess- FMEA herausgebildet. 213 Diese kann man unabhängig voneinander oder auch gekoppelt einsetzen - etwa zunächst Produkt-FMEA im Rahmen der Konstruktionsphase und anschließend Prozess-FMEA während des Entwurfes des Produktionsprozesses. Durch die Anwendung der FMEA schon innerhalb der Konstruktionsphase eines Produktes können etwaige Fehler, Qualitätsprobleme oder Kosten vermieden werden. Dabei geht man von der Erkenntnis aus, dass die Beseitigung eines Fehlers in der Auslieferungsphase an den Kunden unter Umständen um den Faktor 1.000 höhere Kosten erzeugt, als die Vermeidung des Fehlers in der Konstruktionsphase gekostet hätte. Im Mittelpunkt steht die Erzeugung robuster und funktionsfähiger Artefakte, die gut produzierbar sind und nicht aufgrund anfälliger Produktionsverfahren bei Auslieferung verdeckte Fehler aufweisen. Innerhalb des Produktionsbereiches kann man die FMEA auch einsetzen, wenn das Produktionsprogramm unverändert bleibt, aber Neuerungen in den Bereichen Produktionspotenziale oder Produktionsprozesse vorgenommen werden. So unterstützt die FMEA das Aufspüren möglicher Fehler bei der Einführung neuer Fertigungstechnologien oder modifizierter Produktionssysteme. Gelingt es, mittels FMEA Fehler im Vorhinein zu erkennen, kann man Schadensereignisse vermeiden und die Entstehung fehlerbasierter Kosten verhindern. Fehlerkosten umfassen sowohl Nacharbeitskosten und Schadensersatzansprüche künftiger Anwender der produzierten und nicht funktionsfähigen Güter als auch Opportunitätskosten 211 Vergleiche Werdich (2012, S. 1). 212 Vergleiche Kamiske & Brauer (2003, S. 74). 213 Vergleiche Werdich (2012, S. 13 ff). <?page no="168"?> 168 3 Produktion in Form von Umsatzrückgängen durch Imageverluste, aber auch Kosten, die aus Produktionsstillständen resultieren. In diesen Bereichen können schon durch kleine Mängel große Schäden hervorgerufen werden. Brechende Bolzen an Bremspedalen von Autos und daraus resultierende Unfälle mit Todesfolge verdeutlichen die verheerenden Folgen eines Fehlers bei einem bezogen auf das Gesamtsystem Automobil fast unscheinbaren Einzelteil. Derartige Fehlerquellen will man unter Verwendung einer FMEA frühzeitig erkennen, berechnen und vermeiden. Beschreibung der FMEA Die FMEA entstand im Umfeld der Luft- und Raumfahrtbranche. Insbesondere in diesem Hochtechnologiebereich haben kleine Fehler große Auswirkungen. Dies hat man erkannt und eine Methode entwickelt, um Fehler aufzuspüren und zu vermeiden. Die entsprechende Methode wurde nach ihrer Entwicklung in andere Bereiche mit ähnlichen Situationscharakteristika übertragen. Zur Aufdeckung möglicher Fehler und zur Abarbeitung des FMEA-Prozesses werden üblicherweise crossfunktionale Arbeitsgruppen gebildet. Die unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen ermöglichen eine umfassende und detaillierte Analyse des Betrachtungsobjektes und das Erkennen verschiedenster Fehlerursachen sowie die Ableitung von Fehlerfolgen. Die FMEA basiert auf der Annahme, dass alle Fehler prinzipiell im Voraus erkennbar sind. Dieser Gedanke mag auf den ersten Blick schlüssig erscheinen: Wenn man die Analysen systematisch und aus verschiedenen Blickwinkeln gestaltet, müssen doch alle potenziell denkbaren Mängel erfassbar sein. Allerdings ist dieser Idealzustand in der Realität trotz ausgefeilter Methoden und versierter Arbeitsgruppenteilnehmer kaum erreichbar. So ist es zum Beispiel bei hochgradig innovativen Systemen schwierig, neben den einzelnen Fehlerursachen und deren Wirkungen auch die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen den Elementen vollständig zu erfassen und daraus resultierende Probleme in ihrem Ausmaß zur Gänze abzubilden. Ferner geht die FMEA davon aus, dass die Methodenanwender benennen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit Fehler auftreten. Eine exakte Berechnung von Wahrscheinlichkeiten ist in der praktischen Anwendung jedoch schwierig. Die FMEA-Durchführung wird in der Regel durch Formblätter unterstützt. Sie dienen der Steuerung des Vorgehens und zur gleichartigen Bewertung aller Artefakte sowie als Verständigungsgrundlage zwischen den beteiligten Akteuren und als Dokumentationsinstrument. 214 Abbildung 76 zeigt ausschnittsweise den Aufbau eines derartigen Formblattes. Das Formblatt teilt sich in die Hauptbereiche Risikoanalyse, Risikobewertung und Verbesserungen. 214 Vergleiche zu Problemen und Grenzen von FMEA-Leitfäden und FMEA-Software etwa die Hinweise aus der Unternehmenspraxis von Bartolic (2018, S. 27) sowie Kymal & Gruska (2018, S. 39 ff). <?page no="169"?> 3.3 FMEA 169 3 Abbildung 76: Beispiel eines FMEA-Formblattes Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Eine FMEA wird in unterschiedlichen Unternehmensbereichen eingesetzt, vornehmlich jedoch in der Entwicklung und Konstruktion sowie in der Produktion. Die Analysen beziehen sich auf Produkte, Prozesse und Systeme im Allgemeinen. Es wird insbesondere das Zusammenspiel von erzeugtem Gut und dessen Herstellung durchdrungen. Zur Durchführung der Methode finden sich in der Regel interdisziplinäre Teams zusammen, die ihr Wissen aus verschiedenen Fachrichtungen einbringen. Das Vorgehen der FMEA erfolgt analog der in Abbildung 77 dargestellten Schritte. Abbildung 77: Schritte des FMEA-Prozesses Zu Beginn des FMEA-Prozesses werden die Untersuchungsobjekte ausgewählt. In diesem Zusammenhang werden auch Teambildung, Abstecken des Zeithorizonts und organisatorische Vorarbeiten realisiert. Im zweiten Schritt beschreibt man die Funktio- <?page no="170"?> 170 3 Produktion nen des Analyseobjektes. Damit sind nicht nur die Hauptfunktionen gemeint - ein Auto soll seinen Fahrer von A nach B transportieren. Vielmehr sollte man alle Funktionen beschreiben - bei einem Auto also Fortbewegung, Bremsbarkeit, Richtungsänderung und andere. Prozesse werden ebenso in ihre Funktionen und in ihre Strukturen zerlegt. Diese Zerlegung bereitet die Analyse potenzieller Fehler vor. Ohne diesen Detailblick könnten einzelne Fehlerursachen von Einzelteilen oder auch potenzielle Schwächen im Zusammenspiel von Komponenten nicht erkannt werden. Es schließt sich die Risikoanalyse an. In diesem Rahmen werden alle möglichen Fehlerarten erfasst, ohne deren Eintrittswahrscheinlichkeiten in den Blick zu nehmen. Daran anknüpfend erfolgt die Ermittlung der Fehlerursachen. Im Beispiel des berstenden Bolzens eines Bremspedals in einem Auto könnte die Ursache im Produktionsprozess liegen, etwa verursacht durch Verunreinigungen am Werkzeug oder durch eine falsch eingestellte Maschine. Die Ursache kann aber auch eine Unterdimensionierung des Bauteils oder falsche Materialwahl im Konstruktionsprozess sein. Anschließend werden Fehlerfolgen aufgenommen - im skizzierten Beispiel das Bremsversagen - und aus Kundenbeziehungsweise Anwenderperspektive benannt. In diesem Zuge versucht man, die Entdeckungswahrscheinlichkeit eines möglichen Fehlers vor Übergabe des Produktes an den Kunden zu berechnen und die Prioritätszahl zu bestimmen. Die Risikoprioritätszahl RPZ ist das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit (Wert 1 = „niedrig“, Wert 10 = „hoch“), Bedeutung ( Wert 1 = „niedrig“, Wert 10 = „hoch“) und Entdeckungswahrscheinlichkeit (Wert 1 = „hoch“, Wert 10 = „niedrig“). 215 Der maximale Wert beträgt 10 x 10 x 10 = 1.000 und der minimale 1 x 1 x 1 = 1. An die Risikoanalyse und Risikobewertung schließen sich die Suche und Initiierung von Gestaltungsmaßnahmen zur Fehlervermeidung an. Es wird nach produktionstechnischen, produktgestalterischen oder prüftechnischen Maßnahmen gesucht. Die Dringlichkeit und die zulässige Kostenhöhe für eine alternative Ausgestaltung des fehleranfälligen Konstruktes werden durch die Prioritätszahl bestimmt. Hohe Prioritätszahlen weisen darauf hin, dass Lösungen zwingend erforderlich sind. Gelegentlich wird auch noch die Verfolgung der definierten Maßnahmen zur Fehlervermeidung dem FMEA-Ablauf zugeordnet. Weiterführende Hinweise Die Klassifizierung der Risiken nach Prioritätszahlen eignet sich zur Reihung möglicher Fehler innerhalb eines FMEA-Projektes. Immer wieder wird Kritik an der Berechnung der Prioritätszahlen anhand der drei Faktoren Eintrittswahrscheinlichkeit, Bedeutung und Entdeckungswahrscheinlichkeit geäußert. Unternehmen passen den Berechnungsprozess in der Praxis häufig an und operieren mit modifizierten Berechnungsgrundlagen. Insbesondere der Einfluss der Größe Entdeckungswahrscheinlichkeit führt zu intensiven Diskussionen. Eine Modifikation erscheint möglich, wobei wichtig ist, dass diese hinreichend begründet und von allen involvierten Abteilungen mitgetragen sowie einheitlich angewendet wird. 215 Vergleiche Syska (2006, S. 47). <?page no="171"?> 3.4 Schwachstellenanalytik 171 3 3.4 Schwachstellenanalytik Problemstellung: Frühzeitiges Lokalisieren von Schwachstellen durch Datenauswertung bei mehreren vergleichbaren Betriebsstätten Zielgruppe: Produktionsleiter, Qualitätsmanager, Prozessmanager Voraussetzungen: Betriebsdatenerfassungssysteme, Möglichkeit zur Bündelung dezentraler Daten und Schaffung gleicher Datenbeschreibungsformate Zielsetzung der Schwachstellenanalytik Die Schwachstellenanalytik unterstützt das systematische, segment- oder betriebsstättenübergreifende Aufdecken von Schwachstellen in Produktionsstätten mittels strukturierter Datenauswertung. Schwachstellen sollen durch Vernetzung von Daten und darauf aufbauenden Analysen früher identifiziert werden als dies durch eine isolierte Betrachtung von Objekten möglich wäre. Mit Hilfe dieser Methode plant man, an bestimmten Orten auftretende Schwachstellen zu erkennen und daraus Rückschlüsse für andere Bereiche zu ziehen, die unter ähnlichen Voraussetzungen operieren, in denen die Schwachstellen aber noch nicht aufgetreten sind. Durch vorbeugende Eingriffe kann das Eintreten eines Schadens aufgrund existierender Schwachstellen vermieden werden. Insbesondere in mechanisierten und automatisierten Produktionssystemen kann die konsequente Anwendung der Methode Kosten in hohem Umfang sparen. So können beispielsweise Stillstands- und Reparaturkosten von Produktionsanlagen begrenzt und die Anlagenverfügbarkeit erhöht werden. Beschreibung der Schwachstellenanalytik Die Schwachstellenanalytik entwickelte sich auf der Grundlage der Störstellenanalytik. Störstellen sind Orte innerhalb der Produktion, an denen Störungen auftreten, wie etwa ein Maschinenausfall aufgrund des Defekts eines Maschinenteils und ein daraus resultierender Produktionsstillstand. 216 Allerdings stellen nicht nur Störungen Schwachstellen dar. Abbildung 78 enthält Ereignisse, die mit dem Begriff der Schwachstelle umschrieben werden, und verdeutlicht, mit welchen Auswirkungen Schwachstellen behaftet sind. Störungen verursachen Ausfallzeiten und eine geringere Anlagenverfügbarkeit. Niedrige Standzeiten von Komponenten einer Produktionsanlage erfordern, dass Werkzeuge oder Baugruppen vorzeitig ausgetauscht werden müssen. Negative Leistungsdifferenzen bedeuten, dass die Ist-Leistung einer Anlage deutlich von der angegebenen Soll-Leistung abweicht. Das Auftreten derartiger Schwachstellen verursacht nicht nur organisatorischen Aufwand und führt zu Verzögerungen in den Produktionsprozessen, sondern lässt in erheblichem Maße zusätzliche Kosten entstehen. 216 Dies beeinflusst in erster Linie die Verfügbarkeit als wichtige Eigenschaft von Produktionssystemen (vergleiche Keßler & Uygun 2007, S. 68). <?page no="172"?> 172 3 Produktion Abbildung 78: Schwachstellenarten 217 Die Methode der Schwachstellenanalytik soll Störungen, niedrige Komponentenstandzeiten und negative Leistungsdifferenzen frühzeitig erkennen und lokalisieren sowie deren Ursachen erfassen, analysieren und bewerten und darauf aufbauend Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen, die insbesondere auch zu Kostensenkungen beitragen. 218 Zur Durchführung einer funktionsfähigen Schwachstellenanalytik bedarf es vor allem der Verfügbarkeit von Daten, die im Allgemeinen dezentral in den entsprechenden Anlagen erfasst werden. Von besonderem Interesse sind hierbei etwa Ausfallzeiten und Ausfallursachen, Instandsetzungszeiten, Materialverbrauch, Leistungsparameter und Komponentenstandzeiten. Die Erzeugung der Daten erfolgt auf zwei Wegen: Einerseits sind zahlreiche Daten automatisch, zum Beispiel per Maschinendatenerfassung, generierbar. Andererseits muss man Daten wie Ausfallursachen manuell erzeugen. Die Datenbestände müssen gespeichert, zusammengeführt und angereichert werden. Vor allem betriebswirtschaftliche Größen wie erhöhte Kosten und entgangene Gewinne komplettieren das Datengerüst. Werden die angegebenen Daten nach einheitlichem Muster erfasst, gebündelt und ausgewertet, können Unternehmen beispielsweise erkennen, dass der defekte Antrieb der Drehmaschine im Werk A kein zufälliger Fehler ist, da dieser Fehler gegebenenfalls auch in den Werken B und C auftritt. Entscheider können somit frühzeitig - vor dem erneuten Auftreten des Fehlers im Werk A - nach einer Lösung suchen, welche die Ursache eines offenkundig systematischen Fehlers beseitigt. Dass es sich hier um einen systematischen Fehler handelt, kann man erst durch die Zusammenführung der Daten aus den verschiedenen Werken erkennen. Eine isolierte beziehungsweise dezentrale Betrachtung würde dies zu einem frühen Zeitpunkt nicht ermöglichen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Schwachstellenanalytik - vor allem mit dem weit über Störungen hinausgehenden Schwachstellenbegriff - kann man an verschiedenen Stellen einsetzen. Der klassische 217 Mieke (2009, S. 68). 218 Vergleiche Specht, Mieke & Lutz (2004, S. 614 f). <?page no="173"?> 3.4 Schwachstellenanalytik 173 3 Einsatzort ist die industrielle Produktion. Weiterhin kann man sie im Bereich von Logistiksystemen gewinnbringend nutzen. Aber auch eine Ausweitung auf administrative Bereiche oder auf Unternehmensnetzwerke ist denkbar. Der Ort der Durchführung der Schwachstellenanalytik wird dann von der Produktionszur Organisationsabteilung wechseln. Der Prozess der Schwachstellenanalytik lässt sich in fünf Schritte gliedern, die in Abbildung 79 skizziert sind. 219 Abbildung 79: Prozess der Schwachstellenanalytik 220 Zunächst muss man Daten erfassen, zusammenführen und aufbereiten. Teilweise müssen diese noch in ihren Beschreibungsformaten harmonisiert oder hinsichtlich einzelner Merkmalsebenen ergänzt werden. Insbesondere betriebswirtschaftliche Daten lassen sich nicht aus der Maschinendatenerfassung erzeugen, sondern erfordern eine Ergänzung. Teilweise kann man Kostengrößen nicht direkt erfassen oder exakt zuordnen. In diesen Fällen hilft der Einsatz von Schätzverfahren, die eine hinreichende Berücksichtigung fehlender Größen erlauben. Nach der Zusammenführung der Daten beginnt die eigentliche Analyse, die sich an folgenden Leitfragen orientiert: Wo treten gleiche Schwachstellen auf? Welche wirt- 219 Vergleiche Specht, Lutz & Mieke (2005, S. 274). 220 Mieke (2009, S. 71). <?page no="174"?> 174 3 Produktion schaftlichen Auswirkungen haben die einzelnen Schwachstellen? Nach Möglichkeit sollte eine Priorisierung der Schwachstellen nach der Höhe der verursachten Kosten vorgenommen werden. Vielfach wird man auch Schwachstellencluster bilden, also Gruppen, die entweder verschiedene Schwachstellen mit gleichen Ursachen oder gleiche Schwachstellen mit unterschiedlichen Ursachen zusammenfassen. Grafische Darstellungen der Ergebnisse erleichtern die schnelle Erfassung von Schwachstellen, 221 die einer zeitnahen Abstellung bedürfen. Möglicherweise gehen einzelne Ursachen noch nicht aus den Schwachstellenbeschreibungen hervor und müssen erst durch einen technisch orientierten Analyseprozess herausgearbeitet werden. Diese Daten sollte man in den Bestand nachpflegen und eine Klassifizierung und Priorisierung vornehmen. Abschließend werden für die Schwachstellen mit den größten negativen Wirkungen Verbesserungspotenziale erarbeitet. Derartige Verbesserungen können in der Beschaffung von höherwertigen Ersatzteilen aus anderen Beschaffungsquellen, aber auch in der technischen Weiterentwicklung einer Produktionsanlage oder der Suche nach alternativen Produktionstechnologien liegen. Die Ergebnisse der Schwachstellenanalytik sollten so aufbereitet, gespeichert und zugänglich gemacht werden, dass sie sowohl in der Anlagenoptimierung als auch bei der Neuplanung Berücksichtigung finden können. Weiterführende Hinweise Die Schwachstellenanalytik sollte zentral beschlossen und verortet werden. Zwar muss die Datenerfassung dezentral erfolgen. Allerdings kann man ohne zentrale und einheitliche Definition von Datenformaten und Fehlerkategorien keine rechnergestützten Auswertungen der Daten realisieren und somit auch kaum systematische Fehler frühzeitig erkennen. Die Definition von Ursachenkategorien kann ein langwieriger Prozess sein. Diese Erarbeitung wie auch die Disziplin der im Umgang mit etwaigen Formularen befassten Mitarbeiter bestimmen im Wesentlichen spätere Auswertungsmöglichkeiten. Gelingt es nicht, einen Zahnradbruch in einem Getriebe einheitlich als Fehlerursache „Zahnradbruch im Getriebe“ zu beschreiben, sondern wird der Fehler möglicherweise einmal als „Zahnrad defekt“, einmal als „Getriebeschaden“, einmal als „Zahn abgebrochen“ oder ein andermal als „Schaden an Getriebeverzahnung“ bezeichnet, kann keine automatisierte Erkennung und Zusammenführung der Schwachstellen erfolgen. Die Einbeziehung des Instandhaltungspersonals in die Definition der Fehlerursachen hat sich als erfolgversprechende Vorgehensweise herausgestellt. Zum einen verfügen die Mitarbeiter über großes Erfahrungswissen, das eine bessere Ursachenkategorienbildung ermöglicht. Zum anderen fällt ihnen die Anwendung einer selbst mitgestalteten Methode im späteren alltäglichen Einsatz in der Regel leichter. In vielen Unternehmen wurden in der Vergangenheit ganze Unternehmensbereiche ausgelagert. Das heißt, Unternehmensaufgaben wie die Instandhaltung wurden an 221 Vergleiche Wiendahl, Brückner & Lorenz (1999, S. 24 f). <?page no="175"?> 3.4 Schwachstellenanalytik 175 3 Dienstleister übertragen. In den Aufbau einer Schwachstellenanalytik sollten diese externen Instandhaltungsdienstleister einbezogen werden. Möglicherweise sind sie über modifizierte Anreiz- und Vergütungssysteme zur Mitwirkung zu motivieren. Dabei sollte man ihnen vor allem die Sorge nehmen, dass sie sich bei intensiver Beteiligung an der Schwachstellenanalytik als Instandhaltungsdienstleister selbst überflüssig machen. <?page no="176"?> 3.5 Wertstromanalyse und Wertstromdesign Problemstellung: Analyse von Produktions- und Logistikprozessen mit dem Ziel der Schaffung einer verschwendungsfreien Fabrik Zielgruppe: Produktionsleiter, Fabrikplaner, Logistikplaner, Prozessoptimierer, Lieferantenentwickler Voraussetzungen: Methodisch erfahrenes und geschultes Team Zielsetzung der Wertstromanalyse und des Wertstromdesigns Die Wertstromanalyse und das Wertstromdesign stellen darauf ab, eine Fabrik zu gestalten, in der keine Verschwendung auftritt, 222 in der das Schlankheits- oder Lean- Prinzip verfolgt wird und in der die Produktion am Kunden orientiert ist. Zu diesem Zweck untersucht die Wertstromanalyse die Prozesse beziehungsweise Flüsse in der Fabrik nach einem bestimmten Muster. So werden etwa Produktionsströme und Logistikprozesse sowie informationelle Flüsse deutlich voneinander abgegrenzt. Die Aufnahme der Ist-Situation und die Abbildung mittels einer symbolreichen Darstellungsweise sollen als Kommunikationsgrundlage dienen und die Identifikation von Problemstellen innerhalb des Wertschöpfungssystems erleichtern. Das Wertstromdesign stellt erprobte, aufeinander abgestimmte Prinzipien bereit, auf deren Grundlage der angestrebte, schlanke Zustand sichergestellt werden soll. Die erarbeiteten Maßnahmen sollen durch Standardisierung Eingang in die Produktion und in das Tagesgeschäft erfahren, wobei die Wertstromanalyse und das Wertstromdesign keine einmaligen Optimierungsmaßnahmen darstellen. Mit Hilfe dieser Methoden sollte die Produktion immer wieder durchleuchtet und angepasst werden, um eine kontinuierliche Verbesserung zu erzielen. Beschreibung der Wertstromanalyse und des Wertstromdesigns Wertstromanalyse und Wertstromdesign unterstützen die Schaffung einer schlanken Produktion, die im englischsprachigen Kontext als Lean Production bezeichnet wird. Verschwendungsursachen werden beseitigt und komplexe Fabriken transparent gemacht. Die Wertstromanalyse bildet die Wertströme jeweils für ein Produkt oder eine Produktfamilie ab. Daher müssen Unternehmen als Grundlage für die Anwendung dieser Methode zunächst eruieren, welche Produkte eine Produktfamilie bilden. Dies werden häufig nicht nur zusammengefasste Varianten sein, sondern ähnliche Produkte, die möglicherweise die gleichen Rohstoffe nutzen und in gleicher technologischer Folge auf den gleichen Maschinen bearbeitet werden. In einer Möbelfabrik könnten etwa Tische und Stühle eine Produktfamilie bilden und Kleiderschränke und Kommoden eine andere. Die Erhebung der Wertströme realisiert man in der Fabrik. Ein Team erfasst die Wertströme beginnend an der Senke, also am Prozessende. Das Ent- 222 Vergleiche Rother (2004, S. 3 ff). 176 3 Produktion <?page no="177"?> 3.5 Wertstromanalyse und Wertstromdesign 177 3 nehmen von Informationen aus Dokumenten und die Überführung in die Notation der Wertstromanalyse sind nicht zielführend. Nur eine Aufnahme der realen Situation ermöglicht das Erkennen von Verschwendung. Zur Analyse gehört die Erstellung einer Wertstromdarstellung mit den Symbolen der Wertstromanalyse. In diese Darstellung werden - vom Grundansatz ähnlich einer mehrdimensionalen Prozessdarstellung - weitere Größen eingetragen. So finden sich etwa tabellenartige Elemente, die einzelne Produktionsschritte hinsichtlich bedeutender Charakteristika wie Rüstzeiten, Bearbeitungszeiten, Verfügbarkeiten oder Nacharbeitsquoten näher beschreiben. In Bezug auf Materialflüsse werden etwa Lagerbestände und Reichweiten der Bestände ausgewiesen. Zudem zeigt man Wertschöpfungs- und Durchlaufzeiten. 223 Auch Informationsflüsse finden sich in der gleichen Darstellung. Die gemeinsame Abbildung von Wertschöpfungsprozessen, Materialflüssen und Informationsströmen sollen eine ganzheitliche Sichtweise und Analyse unterstützen. Die Zusammenführung unterschiedlicher Dimensionen in einer übersichtlichen Darstellung erfordert die Verwendung klar definierter und farblich gestalteter Symbole. 224 Hier hat sich eine wertstromanalyse-spezifische, wenig wissenschaftlich anmutende, aber sehr eingängige Notation herausgebildet, die auch Betrachtern einen schnellen Zugang ermöglicht, die nicht mit der Methode vertraut sind. Abbildung 80 illustriert diesen Gedanken anhand ausgewählter Beispiele. Abbildung 80: Notation Wertstromanalyse 223 Die Methode begnügt sich nicht mit der Darstellung von Abläufen, sondern weist „Abweichungen von Prinzipien der Schlanken Produktion unmissverständlich“ aus (Syska 2006, S. 176). 224 Zur Symbolübersicht vergleiche Erlach (2010, S. 384 f). <?page no="178"?> 178 3 Produktion In der Abbildung werden mit Blitzen jene Stellen markiert, an denen Schwächen auftreten. Mögliche Verschwendungen sind etwa im Bereich der Produktionsflüsse nicht erforderliche Prozessschritte, im Bereich des Logistiksystems unnötig hohe Bestände oder im Feld der Informationsflüsse die Mehrfachdatenerfassung. Wertstromdesigns nutzen die gleiche Notation wie die Wertstromanalyse. Auf deren Basis modelliert man ein verbessertes System ohne die zuvor benannten Schwächen. Insofern dürften die entsprechenden Darstellungen keine Blitze mehr enthalten. Vielfach wird nicht nur eine lokale Veränderung an der unmittelbaren Problemstelle vorgenommen, sondern im Anschluss an die Ursachensuche eine grundsätzliche Neugestaltung ganzer Prozessabschnitte durch Fehlerbeseitigung angestrebt. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Der primäre Anwendungsbereich der Wertstromanalyse und des Wertstromdesigns liegt in der industriellen Stückgutproduktion. Die Art des Stückgutes spielt dabei keine Rolle - es kann eine Büroklammer oder eine Lokomotive sein. In jüngster Zeit finden sich auch Adaptionen und Modifikationen für weitere Bereiche etwa mit stärkerer Orientierung auf logistische Belange. Abbildung 81: Ablauf der Wertstromanalyse Der Prozess gliedert sich im Wesentlichen in vier Schritte, die in Abbildung 81 beschrieben sind. 225 In der ersten Phase werden die vorbereitenden Tätigkeiten wie die 225 Vergleiche die leicht abweichend strukturierte, aber auch in vier Schritte untergliederte Vorgehensweise bei Erlach (2010, S. 36). <?page no="179"?> 3.5 Wertstromanalyse und Wertstromdesign 179 3 Abgrenzung des Untersuchungsbereiches, die Auswahl der Teammitglieder, die Bildung der Produktfamilien oder die Erarbeitung eines Projektplans ausgeführt. Daran schließt sich die eigentliche Wertstromanalyse an. Die Mitglieder des Wertstromanalyseteams durchlaufen die Produktion entgegen der Wertschöpfungsrichtung. Dieses Vorgehen unterstützt die Wahrnehmung der Wertschöpfungsergebnisse und Wertschöpfungsprozesse aus Kundensicht. Es werden charakteristische Größen zur Beschreibung der Prozesse ermittelt. Die Erhebung erfolgt als Momentaufnahme - umso wichtiger ist es, dass die Analyse in einem Zeitraum durchgeführt wird, der als repräsentativ gelten darf. Es wird eine Visualisierung der Wertströme wie in Abbildung 82 vorgenommen, in der einige Schwächen wie zu lange Durchlaufzeiten oder eine nicht optimale Auslastung der Betriebsmittel gekennzeichnet sind. Anschließend werden in der Phase des Wertstromdesigns die Materialflüsse klarer strukturiert, wobei man zumeist einer produktfamilienorientierten Segmentierung folgt. Ferner werden die Prozesse neugestaltet und die Produktionsplanungs- und Produktionssteuerungssystematik angepasst. Die Empfehlungen reichen bis zur Gestaltung eines flussorientierten Fabriklayouts. 226 Der letzte Schritt beinhaltet die Ausarbeitung von Implementierungshinweisen. Diese machen deutlich, wie der Übergang vom Ist-Zustand zum neu konzipierten Soll-Zustand erfolgen kann. Abbildung 82: Beispiel einer Wertstromdarstellung 226 Es existieren zwischenzeitlich Lösungen, die sowohl die Modellierung der Wertströme als auch die Erprobung angepasster Wertströme mittels Simulation per App auf dem Tablet-Rechner ermöglichen. Siehe dazu beispielhaft Meudt, Kaiser, Metternich & Spieckermann (2017, S. 866 ff). <?page no="180"?> 180 3 Produktion Weiterführende Hinweise Viele Unternehmen berichten von Erfolgen durch die Anwendung von Wertstromanalysen und Wertstromdesigns. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass auch diese Methode kein Allheilmittel darstellt - gelegentlich werden unübersichtliche oder zu wenig detaillierte Darstellungen beklagt. 227 Mit dieser Methode kann man nicht alle Probleme beheben, und auch andere Methoden sind in der Lage, zumindest einen Teil der aufgedeckten Schwächen zu lokalisieren. Ungeachtet dieser Kritik ist die Wertstromanalyse aufgrund ihrer klaren und pragmatischen Verfahrenshinweise sowie dank ihrer verständlichen Darstellungsform und ihres ganzheitlichen Ansatzes gut geeignet, Problemfelder zu identifizieren und die Definition von Veränderungsmaßnahmen zu unterstützen. Wie so oft, hängt der Erfolg auch hier von der Teamzusammenstellung und der Unterstützung der Leitungsebene ab. Denn selbst die leistungsfähigste Methode bleibt ohne Wirkung, wenn die zur Anwendung und Umsetzung erforderlichen Mitarbeiter nicht zur Verfügung stehen. 227 Vergleiche Becker (2005, S. 124). <?page no="181"?> 3 3.6 Kanban Problemstellung: Veränderung der Produktionssteuerung mit dem Ziel der Erhöhung der Liefertermintreue und der Begrenzung der Bestandshöhe Zielgruppe: Produktionsleiter, Produktionsplaner, Produktionssteuerer, Materialwirtschaftsleiter, Logistikleiter, Arbeitsvorbereiter Voraussetzungen: Fertigung vergleichbarer Güter mit ähnlicher Produktionsweise Zielsetzung von Kanban Kanban ist ein Ansatz zur Produktionssteuerung wie auch die Belastungsorientierte Auftragsfreigabe oder das Fortschrittzahlensystem, die mit BOA beziehungsweise FZ abgekürzt werden. Mit Hilfe von Kanban verfolgt man das Ziel, eine effiziente Ablaufgestaltung in der Produktion zu erreichen. Die Aufträge für die Produktion sollen durch die aktuelle Nachfrage und durch aktuelle Bestände ausgelöst werden. Das heißt, es soll nur das produziert beziehungsweise nachproduziert werden, was durch die Folgestufen verbraucht wird, um somit Verschwendung in Form von Überproduktion zu vermeiden. 228 Unternehmen, die ein Kanban-System erfolgreich etabliert haben, zeichnen sich unter anderem aus durch eine bedarfsgerechte Produktion, eine verbesserte Einhaltung von Lieferterminen und eine höhere Motivation und Problemlösungsbereitschaft der Mitarbeiter. Beschreibung von Kanban Kanban steht im Japanischen für Karte. Es ist ein System, das weitgehend auf Selbststeuerung setzt. Die Produktion wird nicht durch eine zentrale Instanz im Detail gesteuert, sondern realisiert die Steuerung im Sinne eines autopoietischen Systems. Das Mittel bilden Karten, welche die notwendigen Informationen enthalten. 229 Sie fungieren koordinierend zwischen Verbrauchern beziehungsweise nächsten Bearbeitungsstationen und Bereitstellern beziehungsweise vorgelagerten Bearbeitungsstationen in einer Produktion. Kurzfristige Steuerungsfunktionen übernehmen die Mitarbeiter selbst. Es ist keine leitende Instanz dafür nötig. Im Kanban-System ist das Hol-Prinzip und nicht das sonst übliche Bring-Prinzip verankert. Auf der Kanban-Karte - siehe hierzu Abbildung 83 - werden zur Steuerung wichtige Informationen hinterlegt: 230 Teilebezeichnung und Identifikationsnummer, produzierende Stelle oder Abteilung, verbrauchende beziehungsweise weiterbearbeitende Stelle oder Abteilung, Menge und Losgröße, Zeitpunkt der Lieferung. 228 Vergleiche Lödding (2005, S. 178). 229 Vergleiche Nyhuis, Wiendahl, Fiege & Mühlenbruch (2006, S. 342). 230 Vergleiche Lödding (2005, S. 179). 3.6 Kanban 181 <?page no="182"?> 182 3 Produktion Abbildung 83: Beispiel einer Kanban-Karte Die Kanban-Karte als Signalgeber und Informationsträger entwickelte sich in einer Zeit, in der elektronische Informations- und Kommunikationstechnologien in Unternehmen noch nicht im Einsatz waren. Heute funktioniert dieses System zwar immer noch, wenngleich eine Umstellung von physischen Karten auf andere Informationsträger sinnvoll erscheint. So kann man statt Karten etwa akustische oder optische Signalgeber einsetzen. Anzeigetafeln oder auch Computerbildschirme können statt physischer Karten die Aufträge und deren Bearbeitungsreihenfolge anzeigen, und die Informationsübermittlung kann auf elektronischem Wege erfolgen. 231 Der Verbraucher wird die Entnahme von Vorprodukten zur weiteren Bearbeitung kenntlich machen, während bei Unterschreitung eines definierten Mindestbestandes ein Kanban-Auftrag zur Nachproduktion der entnommenen Vorprodukte an die vorgelagerte Bearbeitungsstation übermittelt und bei dieser auf dem Bildschirm angezeigt wird. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Anwendungsfeld der Kanban-Steuerung ist vor allem die industrielle Stückgutproduktion von Standarderzeugnissen mit Varianten, die vorzugsweise in Linien- oder Gruppenfertigung, teilweise auch in Werkstattfertigung, realisiert wird. Soll diese Art der Produktionssteuerung eingeführt werden, muss man zunächst Rahmenbedingungen schaffen, welche die Funktionsweise der Kanban-Steuerung ermöglichen und unterstützen. Wildemann benennt in diesem Zusammenhang folgende Voraussetzungen: 232 Standardisierung von Teilen und Bildung von Teilefamilien mit dem Ziel, einen gleichmäßigen Teileverbrauch zu fördern und den Anteil wiederkehrender Tätigkeiten zu steigern. Angestrebt werden den Tagesbedarf unterschreitende Produktionslose, die in ihrem Umfang fix sind und bei veränderter Nachfrage weniger oft oder aber häufiger produziert werden. Ablauforientierte Anordnung der Betriebsmittel innerhalb der Fabrik und Harmonisierung der Produktionskapazitäten der durch den Ablauf miteinander gekoppel- 231 Vergleiche Wildemann (2008, S. 24). Zu Funksensorlösungen siehe beispielhaft Schenk (2018, S. 25). 232 Vergleiche Wildemann (1984, S. 38 ff). <?page no="183"?> 3.6 Kanban 183 3 ten Anlagen zur Angleichung von Arbeitsgeschwindigkeiten und Arbeitstakten und eine damit einhergehende Verringerung oder gar Abschaffung von Pufferlagern. Erarbeitung von Lösungen, die geringe Rüstzeiten und hohe Anlagenverfügbarkeit befördern, um Störungen und deren Auswirkungen gering zu halten und ferner ein hohes Maß an Flexibilität für etwaige quantitative oder auch qualitative Veränderungen des Bedarfs bereithalten zu können. Etablierung von Produktionsweisen und Qualitätssicherungsmaßnahmen, die eine geringe Ausschussrate garantieren. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, werden die Pufferlager mit ihren Bestandshöhen und den Meldebeständen definiert. Diese hängen unter anderem von den Bereitstellungszeiten für das nächste fertige Produktionslos ab. Anschließend werden die ermittelten Voraussetzungen physisch bereitgestellt und eine Umstellung von meist zentraler Push-Produktionssteuerung auf die weitgehend dezentral orientierte Pull-Steuerung mit Kanban vorgenommen. In dieser Logik befinden sich auch Pufferlager zwischen den Stationen, die mit den von der nächsten Produktionsstufe benötigten Vorprodukten ausgestattet sind. Entnimmt die in Materialflussrichtung dahinterliegende Bearbeitungsstation benötigte Teile, wird geprüft, ob der definierte Meldebestand erreicht ist. Ist dies nicht der Fall, erfolgt keine Meldung. Ist der Meldebestand unterschritten, erfolgt eine Übergabe der Kanban-Karte - oder aber eine elektronische Meldung - an die vor dem Pufferlager liegende Bearbeitungsstation. Diese interpretiert die Karte als Fertigungsauftrag und hat nun dafür zu sorgen, dass das gewünschte Material in auf der Karte verzeichneter Menge produziert und durch Lieferung - nebst Kanban-Karte - im nachgelagerten Pufferlager der verarbeitenden Station verfügbar gemacht wird. Die nachgelagerte, verarbeitende Station nutzt die bereitgestellten Teile, und bei Erreichen des Meldebestandes beginnt der beschriebene Zyklus von Neuem. Auf diese Weise werden in Abhängigkeit von der aktuellen Bedarfs- und Bestandssituation nur die tatsächlich benötigten Erzeugnisse erstellt. Die zentrale Instanz fungiert nicht mehr als operativer Steuerer. Dennoch wird weiterhin eine zentrale Produktionsplanung erforderlich sein, welche die strategische Programmplanung und die taktische Kapazitäts- und Materialplanung ausführt. Ein Kennzeichen der Kanban-Steuerung ist, dass auf operativer Ebene die Abstimmung direkt und dezentral zwischen den beteiligten Akteuren stattfindet. Eine Kommunikation über die zentrale Instanz zur Produktionssteuerung ist - wie in Abbildung 84 dargestellt - nicht mehr vorgesehen. 233 In der Einführungsphase wird man genau beobachten und gegebenenfalls nachjustieren, ob die vorgegebenen Mengen in den Pufferlagern adäquat bemessen, die Produktionszeiten und Kapazitäten der Bearbeitungsstationen hinreichend harmonisiert und die Mitarbeiter bedarfsgerecht qualifiziert sind. 233 Vergleiche Schulte (2009, S. 426). <?page no="184"?> 184 3 Produktion Abbildung 84: Vergleich zentrale Produktionssteuerung und Kanban-Steuerung 234 Weiterführende Hinweise Die Kanban-Steuerung ist nur eine Art der Produktionssteuerung und kann nicht jeder Produktion empfohlen werden. Sie wird hier stellvertretend angeführt, um deutlich zu machen, dass die Art der Produktionssteuerung wesentlich die Erreichung produktionswirtschaftlicher Zielstellungen beeinflusst. Eine Erfassung der Produktionscharakteristika und die Umstellung auf die am besten geeignete Steuerungsart kann erhebliche Fortschritte bringen - jedoch nur, wenn die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Unabhängig davon kann man die Kanban-Steuerung in vielen stückguterzeugenden Branchen gewinnbringend einsetzen. Allerdings haben sich die Akteure innerhalb der Produktion an einige Grundregeln zu halten: Der Produzent der weiterzuverarbeitenden Güter darf nicht mehr produzieren als angefordert, darf Güter nur nach Bestellung fertigen und keine Ausschussteile weitergeben. Der nachfragende Weiterverarbeiter darf erst dann Vorprodukte ordern, wenn diese benötigt werden, also der Meldebestand unterschritten ist. Die Produktionssteuerer sollten eine Steuerung mit wenigen Karten in den Regelkreisen bei gleichmäßiger Auslastung anstreben. Die Grenzen der Anwendung dieser betriebswirtschaftlichen Methode liegen in Unternehmen, die auf die Produktion kundenindividueller Erzeugnisse ausgerichtet sind. Hier ändern sich einige Bedingungen wie Produktkonfiguration, benötigte Vorprodukte und technologische Folge. Für diese Bedingungen bietet das Kanban-System keine adäquate Steuerungssystematik. Auch Baustellenfertigung oder Fließbandproduktion stellen keine primären Einsatzfelder dieser Produktionssteuerungsart dar. 234 Modifiziert nach Schulte (2009, S. 426). <?page no="185"?> 3.7 Postponement 185 3 3.7 Postponement Problemstellung: Hohe Lagerbestände nicht gefragter Varianten und Lieferengpässe bei stark nachgefragten Varianten sowie schwierige Vorhersage der Nachfrageverteilung Zielgruppe: Produktionsleiter, Logistikleiter Voraussetzungen: Benötigte Zeit für verbleibende Produktionsschritte ist kleiner als die vom Kunden akzeptierte Lieferzeit Zielsetzung des Postponement Kunden fordern immer häufiger individualisierte Produkte. Produkte in Einheitsfarbe, Einheitsgröße und Einheitsausstattung sind in vielen Märkten kaum mehr absetzbar. Gerade bei Konsumgütern beeinflussen schnelllebige, teils schwer vorhersagbare Trends die Nachfragepräferenzen der Kunden. Zahlreiche Produkte verfügen jedoch über längere Produktionszeiten als versprochene Lieferzeiten. Dies führt in der Regel dazu, dass verschiedene Varianten der Produkte vorproduziert und gelagert werden. Geht dann ein Auftrag ein, kann man die gewünschten Produkte versenden. In der Praxis wird immer wieder beklagt, dass einige dieser Varianten einer nicht klar prognostizierbaren Nachfrage unterliegen, während andere keinen Absatz finden und zum Ladenhüter werden. In dieser Gemengelage haben Unternehmen hohe Lagerkosten, Wertvernichtung und gegebenenfalls Abwanderung von Kunden zu verzeichnen. Postponement ist eine betriebswirtschaftliche Methode der Verzögerung, welche darauf abzielt, die Lager- und Kapitalbindungskosten zu verringern sowie Kunden mit den gewünschten Ausführungen innerhalb der angegebenen Lieferzeit zu versorgen und somit an das Unternehmen zu binden. Beschreibung des Postponement Postponement hat zum Ziel, Produkte erst dann fertig zu produzieren, wenn Kundenaufträge vorliegen. Es wird nicht basierend auf den Planzahlen des Absatzbereiches gefertigt und montiert, sondern kundenauftragsbezogen produziert. Gelegentlich kann man den Erstellungsvorgang vollständig nach Eingang des Kundenauftrages durchführen. Dies erfordert, dass die Durchlaufzeit durch die Produktion geringer ist als die angekündigte oder vereinbarte Lieferzeit. Demnach müssen Rüstvorgänge schnell durchführbar und auch kleine Mengen effizient produzierbar sein. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, kann durch Vorproduktion der Erzeugnisse bis zu einem definierten Fertigstellungsgrad ein Vorrat an Standard-Vorprodukten geschaffen werden. Diese kann man nach Eingang eines Auftrages mittels letzter Produktionsschritte nach Kundenwunsch ausführen. Es handelt sich insofern um eine späte Variantenbildung. 235 Diese späte Variantenbildung ist an Voraussetzungen wie etwa Modularisie- 235 Vergleiche Melzer-Ridinger (2007, S. 35). <?page no="186"?> 186 3 Produktion rung und Standardisierung gebunden, die nachstehend erläutert werden. Anwendung findet das Postponement vor allem im Produktionsbereich, wobei man diese Methode auch mit einer Logistiksichtweise verknüpfen und dadurch einen breiteren Möglichkeitsraum schaffen kann. Abbildung 85 zeigt verschiedene Postponement-Vorgehensweisen. Abbildung 85: Postponement-Arten 236 Im Rahmen des Postponement werden eine Produktions- und eine Distributionssicht unterschieden, die man wiederum nach den Ausprägungsmöglichkeiten Lager und Kundenauftrag differenzieren und miteinander verschränken kann. Die Logistiksicht ist insbesondere dann interessant, wenn keine Direktbelieferung des Kunden durch den Hersteller erfolgt, sondern ein Händler oder ein mehrstufiges Distributionssystem genutzt wird. Fall 1 ist kein Postponement. Hier werden Produktion und Distributionslogistik basierend auf Absatzprognosen gesteuert. Fall 2 umfasst ein logistikseitiges Postponement. Die Ware ist vollständig erzeugt, wird aber nicht in hoher Stückzahl nach einem festen Verteilungsschlüssel einzelnen Verkaufsstätten zugewiesen. Vielmehr verbleiben die Produkte an einer zentralen Stelle und werden je nach Nachfrage zu den unterschiedlichen Distributionspunkten verteilt. Somit werden Transport- und Lagerkosten gesenkt, weil nur die Produkte zum jeweiligen Verkaufspunkt gelangen, die dort nachgefragt werden. Fall 3 ist auf den ersten Blick ungewöhnlich - Lieferung lagerbasiert aber Produktion kundenauftragsbezogen. Hier werden Produkte nahezu fertig produziert - beispielsweise Glückwunschkarten in unterschiedlichen Formaten und Farben - und anschließend verteilt und gelagert. Durch Ausführung eines letzten Schrittes erfolgt die kundenbezogene finale Ausgestaltung des Produktes - Aufkleben eines Kleeblattes oder Aufdruck eines Herzens auf besagte Glückwunschkarten -, die ohne spezielle Produktionsanlagen am Vertriebs- oder Lagerort stattfinden kann. Fall 4 bildet als auftragsbezogene Fertigung und Lieferung die Reinform des Postponement. 236 Vergleiche Werner (2013, S. 159). <?page no="187"?> 3.7 Postponement 187 3 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Postponement stiftet vor allem dort Nutzen, wo mehrstufig zu erzeugende Güter in verschiedenen Ausführungsvarianten zur Verfügung gestellt werden sollen. Während bei Investitionsgütern stärker auf auftragsbezogene Erstellung gesetzt wird, bietet der zunehmende Individualisierungstrend im Konsumgüterbereich gute Ansatzpunkte für Postponement. Die Anwendungsfelder erstrecken sich von Glückwunschkarten über Kleidungstücke bis hin zu Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik. Mit Hilfe des klassischen Postponement versucht man, den Variantenentstehungspunkt innerhalb des mehrstufigen Produktionsprozesses möglichst weit nach hinten zu verlagern. Auf diese Weise können große Teile des Wertschöpfungsprozesses ohne ausgeprägte Rüstzeitanteile und somit effizient realisiert werden. In der betrieblichen Praxis sind hierzu folgende vier Maßnahmenpakete zu berücksichtigen: 237 Anpassung der Reihenfolge der Produktionsschritte, Schaffung einer weitgehend einheitlichen technischen Basis der Produkte, Modularisierung von Produkten, Standardisierung der Leistungsangebote. Soll der Variantenentstehungspunkt erst weit hinten im Produktionsprozess liegen, muss man untersuchen, ob die Umstellung des Produktionsprozesses und eine veränderte Reihenfolge der Produktionsschritte oder gar das Umstellen auf alternative Produktionsverfahren das Erreichen dieses Zustandes befördert. Als Paradebeispiel wird für diesen Aspekt immer wieder angeführt: Müssen zuerst Wolle oder Garne gefärbt und daraus anschließend Kleidungsstücke gefertigt werden, oder ist es nicht klüger - und damit konform mit der Methode des Postponement - ungefärbte Wolle und Garne zu Kleidungsstücken zu verarbeiten und diese kundenwunschbezogen zu färben und zu liefern? Derartige Umstellungen wären zu prüfen. Gelingt es, große Übereinstimmung bezüglich der technischen Basis der Produkte herzustellen, dann können Varianten effizienter erzeugt und Postponement konsequenter betrieben werden. An dieser Stelle suchen Produktmanager und Produktentwickler gemeinsam nach Lösungen. Modular aufgebaute Produkte - die schon im Konstruktionsprozess modular angelegt sind - können aus vielen gleichartigen und wenigen andersartig gestalteten Modulen bestehen. Durch die wenigen andersartigen Module individualisiert der Kunde sein Produkt. So können etwa Gehäuse in unterschiedlichen Formen und Farben ein weitgehend standardisiertes technisches Innenleben umschließen. Man kann auch an modular aufgebaute Produkte kundenwunschbezogen Zusatzmodule anstecken und somit den Funktionsumfang erweitern, ohne die Produktionsweise nachhaltig zu ändern. Schließlich unterstützt die Standardisierung von Produkten eine erfolgversprechende Postponement-Umsetzung. Hierbei ist zu prüfen, inwiefern man die Herstellung von 237 Vergleiche Arndt (2008, S. 178 ff) und Schulte (2009, S. 375). <?page no="188"?> 188 3 Produktion ein breites Funktionsspektrum abdeckenden Standardprodukten mit der Möglichkeit zur Individualisierung von Funktionen effizient verknüpfen kann. Weiterführende Hinweise Postponement widerspricht dem Ansatz, auf jeden Wunsch der Kunden gut vorbereitet zu sein und sofort liefern zu können. Die Methode zielt bei wachsender Variantenvielfalt darauf, Lagerkosten zu reduzieren und die Produktion zu entlasten. Die Fertigstellung nach erfolgtem Kundenauftrag erfordert, dass Kunden eine Lieferzeit akzeptieren und nicht auf Sofort-Mitnahme bestehen. Auch werden Verschiebungen der Variantenentstehungspunkte nicht immer leicht zu erreichen sein. Kunden wünschen sich zunehmend eine echte Individualisierung. Das heißt, eine bloße Anpassung im letzten Produktionsschritt ist bei zahlreichen Gütern nicht ausreichend. Es stellt eine große Herausforderung dar, sowohl Produktionstechniker und Produktentwickler, als auch Logistiker auf diesem Weg mitzunehmen und zielgerichtet zu koordinieren. Das isolierte Vorgehen eines funktionalen Bereiches wird nicht zum Ausschöpfen aller Verbesserungspotenziale führen. Zudem bietet es sich an, diesen Ansatz mit weiteren betriebswirtschaftlichen Methoden zu verknüpfen. Beispielsweise kann sich die kombinierte Anwendung von Postponement und Cross Docking als sinnvoll herausstellen. <?page no="189"?> 3 3.8 Retrograde Terminierung Problemstellung: Verbesserung der Termintreue und Steigerung der Auslastung kapitalintensiver Ressourcen Zielgruppe: Produktionsleiter, Laborleiter, Fertigungsplaner, Disponent, Arbeitsvorbereiter, F&E-Leiter, Projektmanager, Geschäftsfeldleiter Voraussetzungen: Angaben zu Ausführungszeiten verschiedener Bearbeitungsschritte unterschiedlicher Aufträge Zielsetzung der retrograden Terminierung Die retrograde Terminierung ist eine Methode der zentralen Grobsteuerung der Produktion. Im Mittelpunkt stehen die Felder Kapazitätsauslastung und Termintreue. Das Ziel der retrograden Terminierung besteht darin, trotz unterschiedlicher Auftragsvolumina und verschiedenartiger Beanspruchungen der Produktionsressourcen termingerechte Auslieferungen aller Aufträge realisieren zu können und dies nach Möglichkeit, ohne unnötig hohe Bestände in Kauf nehmen zu müssen. Orientiert an diesen Zielgrößen entwickelt die retrograde Terminierung die Auftragsreihenfolge für die einzelnen Steuereinheiten. Steuereinheiten können dabei Fertigungsabschnitte, einzelne Bearbeitungszentren oder Prüflabore sein. Beschreibung der retrograden Terminierung Die retrograde Terminierung wird vor allem vom zentralen Fertigungsplaner oder Disponenten genutzt, um für Steuereinheiten Auftragsreihenfolgen vorzuschlagen. Dabei wird in der Regel nur auf sehr grober Ebene, wie Vorgaben auf Tagesebene, operiert. 238 Zu welcher Stunde der einzelne Auftrag auf die Bearbeitungsanlage aufgelegt wird, bleibt eine dezentrale Entscheidung in den Steuereinheiten. Die retrograde Terminierung wird als rollierende Planung ausgeführt. Das heißt, nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne wird unter Berücksichtigung verbliebener, noch nicht fertiggestellter Aufträge und neu hinzugetretener Aufträge neu geplant. Die retrograde Terminierung ist eine Heuristik und wird in einem mehrstufigen, in der Regel dreistufigen Verfahren vollzogen. Retrograd bedeutet, dass die Methode Möglichkeiten zur Eintaktung in die Steuereinheiten vom Ende des Wertschöpfungsprozesses betrachtet. Der Grund für die rückwärtsgerichtete Planung liegt in der Zielstellung der Vermeidung von Lagerbeständen. Wenn man vom aktuellen Zeitpunkt vorwärts terminiert, kann die Situation eintreten, dass mehrere Aufträge deutlich vor dem durch den Kunden gewünschten Liefertermin fertiggestellt werden und man hoch veredelte Güter lagern muss. Damit wären hohe Lager- und auch Kapitalbindungskosten verbunden. Erfahrungen in Unternehmen zeigen, dass neben diesen zu früh fertiggestellten Aufträgen, andere Aufträge zu spät abgearbeitet werden. Um diese Situation zu vermeiden, greift man auf die retrograde Terminierung zurück. 238 Vergleiche Vahrenkamp (2008, S. 341). 3.8 Retrograde Terminierung 189 <?page no="190"?> 190 3 Produktion Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die betriebswirtschaftliche Methode der retrograden Terminierung kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn Aufträge mit sehr unterschiedlichen Durchlaufzeiten, mit gegebenenfalls differierenden technologischen Folgen und unterschiedlichem Umfang bearbeitet werden müssen. Im Allgemeinen treten derartige Merkmale bei auftragsbezogener Werkstattfertigung auf, 239 die vor allem im Maschinenbau anzutreffen ist. Mittels retrograder Terminierung kann man aber auch entwicklungsnahe Aufträge in Dienstleistungsunternehmen etwa in Testlaboren steuern. Der Ablauf der retrograden Terminierung vollzieht sich in vier wesentlichen Schritten, die in Abbildung 86 aufgeführt sind. 240 Abbildung 86: Ablauf der retrograden Terminierung Abbildung 87: Belegungspläne im Verlauf der retrograden Terminierung 239 Vergleiche Adam (1990, S. 823) und Adam (1992, S. 17). 240 Vergleiche Vahrenkamp (2008, S. 342 ff). <?page no="191"?> 3.8 Retrograde Terminierung 191 3 Vor dem eigentlichen Start - als erster Schritt des Vorgehens - sind alle vorliegenden Aufträge zu erfassen. Man muss ermitteln, in welcher technologischen Folge die Aufträge jeweils die Steuereinheiten beanspruchen - zum Beispiel Arbeitsplätze - und mit welcher Beanspruchungszeit pro Steuereinheit zu rechnen ist. Diesen Aspekt verdeutlicht der linke Bereich von Abbildung 87. Hier sind drei Aufträge [X; Y; Z] mit je zwei Arbeitsschritten zu sehen. Die erforderlichen Informationen bezüglich Dauer und Arbeitsplatz können aus Arbeitsplänen abgeleitet werden. Ferner muss man die festgelegten Fertigstellungstermine ausweisen. Sie werden in der Regel zwischen Unternehmen und Kunden abgestimmt. Im zweiten Schritt der Methode werden alle Aufträge von ihrem jeweiligen Fertigstellungszeitpunkt aus retrograd entsprechend ihrer technologischen Folge den einzelnen Steuereinheiten zugewiesen. In diesem Schritt werden kapazitative Beschränkungen noch nicht berücksichtigt. Vielmehr wird darauf abgestellt, dass etwaige Lagerzeiten und Verzögerungen minimal ausfallen. Es werden möglichst späte Starttermine ermittelt. Als Ergebnis der ersten beiden Schritte ergeben sich in der Regel unzulässige Belegungspläne, wie die Doppelbelegung von Arbeitsplatz B am Tag 7 in der oberen Belegungssituation von Abbildung 87 (a) verdeutlicht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Kapazitäten in der Produktion nicht, wie vereinfachend angenommen, unendlich sind. Die Pläne enthalten oft nicht realisierbare Doppelbelegungen - zur gleichen Zeit sollen etwa zwei Aufträge auf derselben Maschine bearbeitet werden. Im dritten Schritt werden komplexe Arbeitsgänge priorisiert und dem Prinzip der Vorwärtsterminierung folgend eingeordnet, um zulässige Arbeitspläne zu entwerfen. Durch diesen Schritt erhöht sich der Realitätsgrad der Planung, da man Kapazitätsbeschränkungen berücksichtigt und Doppelbelegungen von Steuereinheiten nicht mehr vornimmt. Häufig führt dieser Schritt dazu, dass mehrere Aufträge vor dem gewünschten Auslieferungstermin und andere zu spät fertig werden. Die mittlere Belegungssituation in Abbildung 87 (b) zeigt, dass die Aufträge X und Y zu früh abgearbeitet werden, während Auftrag Z hingegen zu spät fertig wird. Zu früh ausgeführte Aufträge sind deshalb nicht günstig, weil hoch veredelte Güter gelagert werden müssen und somit Lager- und Kapitalbindungskosten entstehen. Zu spät fertiggestellte Aufträge verärgern Kunden und ziehen gegebenenfalls Vertragsstrafen nach sich. Beide Konstellationen sollte man in der Praxis vermeiden. Im vierten Schritt werden in einer partiellen Rückwärtsterminierung die in Schritt 3 verfrüht fertiggestellten Aufträge retrograd den Steuereinheiten zugewiesen und anschließend die verbliebenen und verspätet fertiggestellten Aufträge per Vorwärtsterminierung in den erarbeiteten, partiellen Plan ergänzt. Im Ergebnis erhält man einen zulässigen Belegungsplan ohne Doppelbelegungen. Dieser weist zum einen Aufträge aus, die in der Mehrzahl exakt zum gewünschten Termin fertiggestellt werden wie die Aufträge X und Y. Zum anderen enthält er einzelne Aufträge, die vor dem gewünschten Termin abgeschlossen werden - wie Auftrag Z in der unteren Darstellung von Abbildung 87 (c). Gegebenenfalls werden die Schritte 3 und 4 mehrfach durchlaufen, um ein optimales Resultat zu erzielen. In Summe liegt schließlich die unter den realistischen Bedingungen beste Lösung vor. Es werden keine Vertragsstrafen nötig, und etwaige Lager- und Kapitalbindungskosten fallen nur in geringem Maße an. <?page no="192"?> 192 3 Produktion Weiterführende Hinweise Der Disponent hat die Möglichkeit, durch mehrmaliges Durchlaufen der Schritte 3 und 4 und aufgrund der Variation von Parametern in einer Art Sensitivitätsanalyse oder Simulation herauszufinden, welches die vorteilhafteste Belegung ist. Auch sein Erfahrungswissen kann er in diesen Prozess einbringen. Dieses Planungsverfahren stärkt in der Regel die Stellung des Disponenten. Die retrograde Terminierung ermöglicht auch die Berücksichtigung variierender Kapazitäten und verschiedener Effizienzniveaus von Mitarbeitern. <?page no="193"?> 3 3.9 REFA-Zeitstudien Problemstellung: Definition realistischer Vorgabezeiten für Arbeitsschritte und Bestimmung des Optimierungspotenzials für Prozesszeitsenkungen Zielgruppe: Produktionsleiter, Arbeitswissenschaftler, Fabrikplaner, Arbeitsvorbereiter, Prozessanalytiker, Lieferantenentwickler Voraussetzungen: Eignung zu betrachtender Arbeitsschritte und Zustimmung des Betriebsrates Zielsetzung der REFA-Zeitstudien Zeitstudien werden aus verschiedenen Gründen durchgeführt: Einerseits, um Soll-Zeiten für Arbeitsschritte in Form von Vorgabezeiten abzuleiten und Ist-Zeiten zu messen und mit Soll-Zeiten zu vergleichen. Andererseits, um Arbeitsunterweisungen zu stützen, Lohndifferenzierungen zu ermöglichen und um die Arbeitsgestaltung zu fundieren. 241 REFA-Zeitstudien kommen insbesondere im Rahmen von Bemühungen zur Effizienzsteigerung in der industriellen Produktion zum Einsatz. Die Messung von Zeiten bei der Variation von Arbeitsfolgen unterstützt die Identifikation der kürzesten Ausführungsmöglichkeit eines Arbeitsschrittes oder eines ganzen Prozesses und befördert damit die Optimierung von Durchlaufzeiten und die Chance, Produktionskosten zu senken. Beschreibung der REFA-Zeitstudien Die REFA-Zeitstudien wurden von der Institution REFA erarbeitet und verfeinert, bei der es sich ursprünglich um den Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung handelte. Im Rahmen von REFA hat man Vorgehensweisen zur Zeitermittlung zusammengefasst und einen bedeutenden Beitrag im Hinblick auf Systematisierung und Vereinheitlichung des Zeitstudienwesens geleistet. Durch die Verfügbarkeit von Zeiten ergibt sich die Möglichkeit, die genannten Zielsetzungen zu verfolgen. Die Existenz realer Zeiten für produktionsbezogene Vorgänge verbessert auch die Datengrundlage für weitere betriebliche Planungsfelder, da erfasste Zeiten etwa verbesserte Kalkulationsmöglichkeiten in Unternehmen gestatten. Die Zeitstudien haben ihren Ursprung in den Studien von Taylor und Gilbreth und dem daraus entstandenen Scientific Management. Zeit- und Bewegungsstudien sollten zur Produktivitäts- und Leistungssteigerung von in der Handarbeit tätigen Personen führen. In der Belegschaft kam es zu Widerständen, da die Mitarbeiter eine Ausbeutung durch eine immer detailliertere Überwachung und eine Erhöhung des Arbeitspensums befürchteten. Allerdings ging mit dem vermehrten Einsatz von Zeitstudien auch die Überlegung einher, welche Hilfsmittel Arbeiter in ihren Verrichtungen unterstützen könnten. Arbeitswissenschaftliche Ansätze zu Ergonomie, zu hilfreichen Vorrichtungen und zu verbesserten Umfeldbedingungen am Arbeitsplatz machten 241 Vergleiche Langner (2007, S. 145). 3.9 REFA-Zeitstudien 193 <?page no="194"?> 194 3 Produktion schnellere Arbeitsprozesse möglich, ohne dass damit zwangsläufig eine Erhöhung des individuellen Anstrengungsniveaus des Arbeiters einherging. REFA schuf ein System, in welchem ausgewiesen wurde, welche Zeiten bei der Bearbeitung eines Auftrages anfallen und welche Zeiten seitens des Mitarbeiters und seitens der Maschinen 242 zur Verfügung stehen. Durch die in Abbildung 88 aufgeführte REFA-Systematik wurden Zeiten einheitlich kategorisiert und Vergleiche innerhalb von Betrieben, aber auch zwischen Betriebsstätten möglich, da erstmalig ein quasi genormtes Raster zur Ausweisung von Zeiten zur Verfügung stand. Die Systematik enthält die Zeitkategorien für einen Mitarbeiter des Unternehmens. Die Zeit-Systematik unterstützt damit verschiedene Bereiche der produktionswirtschaftlichen Planung wie die Potenzial- und Prozessplanung oder die Prozesssteuerung. Abbildung 88: REFA-Zeitschema 243 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess REFA-Zeitstudien nutzt man vorwiegend in der industriellen Produktion. 244 Vor allem die Stückgutherstellung stellt ein zentrales Einsatzfeld dar, wobei sich die Nutzung 242 Vergleiche Aggteleky (1990, S. 56). 243 Schulte-Zurhausen (2010, S. 134). 244 Bigga & Seelig (2017, S. 384 f) vergleichen REFA-Instrumentarium und Lean Production-Ansatz und erkennen Überschneidungsbereiche sowie Integrationsmöglichkeiten. <?page no="195"?> 3.9 REFA-Zeitstudien 195 3 auch auf die Serienproduktion erstreckt. Eine systematische Zeiterfassung ist sinnvoll, wenn man Arbeitsschritte in den Blick nimmt, die auch in Zukunft immer wieder in der gleichen Weise ablaufen sollen. Ferner muss sichergestellt werden können, dass die Bedingungen, unter denen die Prozesse ausgeführt werden, vergleichbar sind. Schließlich müssen die Zeiten messbar und Arbeitsschritte exakt voneinander abgrenzbar sein. Das Vorgehen einer Zeitstudie umfasst die in Abbildung 89 skizzierten acht Stufen. 245 Abbildung 89: Schritte zur Erstellung von REFA-Zeitstudien Hat man die Entscheidung zur Durchführung einer REFA-Zeitstudie getroffen, werden die Ziele der Datenerhebung bestimmt. Im Rahmen der Entscheidung, eine derartige Studie durchzuführen und die Daten für bestimmte Zwecke zu nutzen - etwa zur Ableitung von Vorgabezeiten -, sollte man unter rechtlichen Gesichtspunkten gegebenenfalls auch Vertreter der Arbeitnehmer einbeziehen. Nach Abschluss dieser Vorarbeiten wird man die eigentliche Zeiterfassung planen, da möglicherweise Vorgabezeiten für die Produktion eines neu entwickelten Produktes bestimmt werden sollen. Ist dies der Fall, wird man zunächst die notwendigen Arbeitsschritte zur Erzeugung des Gutes benennen und alle technischen Hilfsmittel festlegen. Im Weiteren wird die Art des Messverfahrens definiert. So ist es etwa möglich, Einzelzeiten oder Fortschrittszeiten zu erfassen und auszuweisen. Es ist darüber hinaus zu bestimmen, mit Hilfe 245 Zur Darstellung, Erläuterung und Diskussion vergleiche Schlick, Bruder & Luczak (2010, S. 672 ff). <?page no="196"?> 196 3 Produktion welcher technischen Messinstrumente die Zeit aufgenommen wird: zum Beispiel mit einer automatischen oder einer manuell zu bedienenden Uhr. So könnte etwa ein Arbeiter durch seine Bewegung, beispielsweise durch den Griff nach einem Werkstück, die sensorgesteuerte Zeitmessung auslösen. Andererseits könnte ein Beobachter eine Stoppuhr manuell starten und nach Beendigung der jeweiligen Arbeitsschritte wieder anhalten. In beiden Fällen - im zweiten noch mehr als im ersten - sollte man wiederholte Messungen vornehmen und nicht das Ergebnis einer Messung als repräsentativ und somit als Endergebnis betrachten. Darauf aufbauend wird man die Art der Zeitaufnahme festlegen. Dabei muss man entscheiden, ob man erst mehrfach an einer Arbeitsstation die gleichen Arbeitsschritte und danach wiederholt die nächsten Arbeitsschritte messen möchte - so genannte reihenweise Erfassung -, oder ob man die Messungen prozessbegleitend nach folgendem Muster gestalten will: Erst misst man jeweils einmal jeden Prozessschritt des gesamten Prozesses, um danach erneut jeden Prozessschritt des gesamten Prozesses zu erfassen - so genannte zyklische Erfassung. Zudem ist es denkbar, beide Prinzipien im Sinne einer wechselnden Ablauffolge nach dem Muster zu kombinieren, dass man zunächst mehrfach Schritt 1 und dann mehrere Schritte des gesamten Prozesses einfach misst, um schließlich mehrfach die Zeiten des ganzen Prozesses zu bestimmen. Die festgelegte Vorgehensweise wird auf Formularen vermerkt. In diese Zeitaufnahmebögen werden im weiteren Verlauf die Messwerte eingetragen. Doch zuvor sind noch die Messpunkte exakt zu definieren. Das heißt, man muss festlegen, wann ein Arbeitsschritt, zum Beispiel „Loch bohren“, endet und welches Ereignis die Messung auslöst wie zum Beispiel die Tätigkeit „Bohrung gebohrt“, „Werkstück ausgespannt“ oder „Werkstück abgelegt“. Nur eine genaue Beschreibung des Messpunktes und eine akkurate Ausführung liefern verwertbare Ergebnisse. Sind diese Schritte absolviert, erfolgen die eigentlichen Messungen unter Speicherung der Werte. Anschließend werden die Daten ausgewertet und beurteilt. Weiterführende Hinweise Die REFA-Methode eignet sich für Tätigkeiten, deren Arbeitsschritte eindeutig abgrenzbar sind und deren Handlungen wiederholt exakt gleichartig ausgeführt werden. In vielen Produktionsumgebungen treffen diese Bedingungen nur auf sehr wenige Tätigkeiten zu, da durch zunehmende Individualisierungsmöglichkeiten von Produkten gleichartige Arbeitsfolgen abnehmen. Auch neuere Fertigungsorganisationsformen wie die Gruppenarbeit zielen auf die selbstständige Arbeitsorganisation seitens der Werker, während starre Vorgaben nur sehr begrenzt zu diesen Ansätzen passen. Zudem sollte man beim Einsatz von REFA-Zeitstudien berücksichtigen, dass hier von Einzelmessungen ausgehend langfristig gültige Vorgaben mit Allgemeingültigkeitsanspruch abgeleitet werden. Dies kann unter Umständen problematisch sein. Unbeantwortet bleibt dabei zum Bespiel, wie man veränderte Bedingungen, Lerneffekte oder Qualifikationsunterschiede sinnvoll berücksichtigen kann. <?page no="197"?> 3.10 Elemente des Toyota Produktionssystems 197 3 3.10 Elemente des Toyota Produktionssystems Problemstellung: Erhöhung von Qualität und Effizienz der Produktionsprozesse Zielgruppe: Produktionsleiter, Technischer Geschäftsführer, Lieferantenentwickler Voraussetzungen: Bereitschaft zur Übertragung von Verantwortung an Mitarbeiter, hinreichende Mitarbeiterqualifikation und Unterstützung durch die oberste Führungsebene Zielsetzung der Elemente des Toyota Produktionssystems Das Toyota Produktionssystem vereint verschiedene Ansätze zur Führung einer industriellen Produktion mit dem vorrangigen Ziel, Verschwendung zu vermeiden. 246 Verschwendungsquellen wie Überproduktion, Wartezeiten, überflüssige Transporte, Herstellung fehlerhafter Teile, überhöhte Lagerhaltung, ineffiziente Bewegungsabläufe oder ungeeignete Herstellungsprozesse finden sich in vielen Produktionsbereichen. 247 Dabei soll die Produktion als wertschöpfender Bereich so agieren, dass Leistungen hoher Qualität und gemäß den Forderungen der Anwender erzeugt werden. Die Art der Güterproduktion wird so organisiert, dass man Verschwendungsquellen systematisch eliminieren kann. Auf diese Weise soll die Herausforderung der kostengünstigen Erzeugung qualitativ hochwertiger Güter gemeistert werden. 248 Das System setzt dabei auf eine umfangreiche Einbindung der Produktionsmitarbeiter. Die Zielerreichung wird als Gemeinschaftsaufgabe verstanden, wobei Mitarbeiter, Kultur und Rahmenbedingungen so eingebunden, ausgerichtet und gestaltet werden, dass sich die gewünschten Effekte ergeben. Beschreibung der Elemente des Toyota Produktionssystems Das Toyota Produktionssystem wurde im vergangenen Jahrhundert erarbeitet und insbesondere nach 1945 durch Ohno und Shingo ausformuliert. Auslöser der Bemühungen war die schwierige wirtschaftliche Lage der japanischen Automobilindustrie. Die innerjapanische Nachfrage lag am Boden und die Verfügbarkeit wichtiger Produktionsfaktoren wie Kapital und Material war nicht in hinreichendem Maße gegeben. Insofern wollte man ein Gesamtsystem schaffen, das verschiedene Elemente zur wirksamen Hervorbringung von nachfragegerechten Gütern unter Erzeugung geringer Kosten kombiniert. Die Elemente des Toyota Produktionssystems sind - wie der ganzheitliche Ansatz zeigt - auf verschiedene Bereiche ausgerichtet. Die Begründer waren sich der Tatsache bewusst, dass nur breit angelegtes und abgestimmtes Han- 246 Vergleiche Ohno (1993, S. 19). 247 Vergleiche Becker (2006, S. 280 f). 248 Vergleiche Oeltjenbruns (2000, S. 30 ff). <?page no="198"?> 198 3 Produktion deln Wirksamkeit entfalten kann. Das Toyota Produktionssystem bildet keine geschlossene Theorie, sondern bündelt verschiedene Konzepte, die aber ein hohes Maß an Passfähigkeit aufweisen, sich zielgerichtet ergänzen und das Hinwirken auf das Gesamtziel Verschwendungsreduktion unterstützen. Im Folgenden werden die wesentlichen Elemente des Systems kurz beschrieben. Abbildung 90: Beispiel einer Andon-Tafel Andon ist eine Tafel, die über den Zustand des Systems informiert. Anzeigetafeln sind Teil des visuellen Managements und signalisieren allen in einem Fertigungsabschnitt oder in einer Produktionslinie tätigen Mitarbeitern, dass beispielsweise eine Störung aufgetreten ist oder dass die Ist-Produktionsmenge von der Soll-Produktionsmenge abweicht, wie in Abbildung 90 verdeutlicht. Derartige Anzeigen folgen der Auffassung, dass informierte Mitarbeiter Probleme erkennen und durch Anpassung ihres Verhaltens reagieren können. Wird ihnen beispielsweise bewusst, dass die produzierte Güteranzahl deutlich hinter der avisierten Soll-Stückzahl zurückliegt, werden sie ihre Anstrengungen zur Erreichung der Soll-Stückzahl erhöhen. Wegen der unmittelbaren Sichtbarkeit wird die Zeitverzögerung durch die Vorgänge Erfassung der Situation, Meldung an das Management, Formulierung einer Anweisung und Kommunikation der Anweisung an die Mitarbeiter nahezu eliminiert. Dies setzt voraus, dass die Mitarbeiter motiviert sind, eigene Anstrengungen ohne direkte Anweisung zu unternehmen, und genügend Gestaltungsspielraum besitzen und über Handlungskompetenz verfügen. Die auf der Anzeigetafel sichtbaren Daten sollten nicht manuell erfasst, transformiert und eingespielt, sondern automatisiert aus dem Betriebsdatenerfassungs-, Produktionsplanungs- und Steuerungssystem gezogen und zeitnah übermittelt werden - wünschenswert wäre in Echtzeit. <?page no="199"?> 3.10 Elemente des Toyota Produktionssystems 199 3 Heijunka beschreibt eine ausbalancierte Produktion. Darunter versteht man, dass die Gesamtproduktionsmenge einer längeren Periode in kleinere Lose - etwa Tageslose - aufgeteilt wird und dass man jeweils die Erzeugnisse erstellt, die man kurzfristig absetzen kann. Dieses Vorgehen führt zu einer bedarfsgerechten Produktion. Schwankende Nachfrage nach einzelnen Varianten findet angemessen Berücksichtigung. Ressourcen werden bestmöglich genutzt, 249 und es werden keine Lagerbestände produzierter Güter angehäuft, die erst mit erheblichem Zeitversatz verkauft werden können. Die Situation des Nichtofferierens absetzbarer Leistungen bei gleichzeitiger Produktion nicht absetzbarer Güter soll vermieden werden. Just in time bildet ein - in Kapitel 2.13 näher erläutertes - Konzept der bedarfsgerechten Versorgung der Produktion mit benötigten Materialien und Vorprodukten. Die erforderlichen Werkstoffe werden zu jenem Zeitpunkt geliefert, zu dem ihre Weiterverarbeitung in der Produktion ansteht. Dies verhindert das Anlegen umfassender Vormaterialbestände, die Lagerkapazität beanspruchen und Kapitalbindung erzeugen. Just-in-time-Konzepte bedingen sowohl eine enge Abstimmung mit Lieferanten und die Verfügbarkeit verlässlicher Partner für die Produktion der Vormaterialien als auch eine entsprechende Logistik. Kaizen bezeichnet die kontinuierliche Verbesserung installierter Lösungen und ausgeführter Prozesse in der Produktion und in anderen Bereichen. 250 Mitarbeiter sollen ihre Arbeitsvorgänge reflektieren und beim Entdecken von ineffizienten Vorgehensweisen Verbesserungsmöglichkeiten erarbeiten und zur Anwendung bringen. Das Schaffen von Neuem wird hier nicht exklusiv den Mitgliedern aus den Forschungs-, Entwicklungs- und Planungsabteilungen zugewiesen. Vielmehr sollen das Wissen, die Problemkenntnis und das Lösungsvermögen der Mitarbeiter vor Ort zur Erzeugung von Verbesserungen genutzt werden. Häufig entstehen dadurch keine radikalen Neuerungen, sondern inkrementelle Veränderungen. Die Summe der vielen kleinen Schritte kann einen erheblichen Verbesserungseffekt begründen. Kanban ist ein dem Zieh-Prinzip verschriebenes Konzept der Produktionssteuerung, das in Kapitel 3.6 erläutert wird. Kanban zielt darauf ab, innerhalb der Produktion die Auftragsreihenfolge verschiedener Bearbeitungsstationen an den Bedarfen ihrer Folgestation zu orientieren, um somit produktionsinterne Pufferlagerbestände als auch produktionsinterne Planungs- und Abstimmungsaufwände zu reduzieren. Als Mittel werden Kanban-Karten - heute auch in elektronischer Form - verwendet. Sie zeigen dem Bereitsteller weiterzubearbeitender Güter, welche spezielle Variante benötigt wird. Genau diese wird er in definierter Form und festgelegter Anzahl herstellen und dem Weiterverarbeiter zur Verfügung stellen. Eine zentrale Produktionsplanung und Produktionssteuerung finden auf dieser Detailebene nicht mehr statt. Die Mehrmaschinenbedienung stellt darauf ab, Mitarbeiterkapazität umfassend zu nutzen. Mehrere Maschinen werden durch einen Werker bedient. Dies erfordert, 249 Eine hohe Kapazitätsauslastung führt typischerweise zur Steigerung der Profitabilität (vergleiche Becker 2006, S. 298 ff). 250 Vergleiche Bellmann & Haak (2007, S. 7) und Haak (2007, S. 201). <?page no="200"?> 200 3 Produktion dass die Maschinentakte aufeinander abgestimmt sind und dass die räumliche Anordnung der Maschinen ihre Bedienung durch denselben Mitarbeiter ohne aufwändige Ortswechsel ermöglicht. One-Piece-Flow mahnt die Weitergabe einzelner Stücke an die weiteren Prozessschritte an. 251 Werden immer nur umfangreiche Losgrößen gefertigt und im Ganzen weitergereicht, so entstehen große Mengen an zwischengelagerten Teilen in der Produktion. Häufig kommt es in der Folge zu Prozessverzögerungen und teilweise auch zu unausgelasteten Produktionsmitteln an Folgebearbeitungsstationen, da diese auf das Material aus den Vorprozessen warten. Durch Einführung eines One- Piece-Flow-Ansatzes soll dies verhindert werden. Single Minute Exchange of Die, häufig mit SMED abgekürzt, soll Werkzeugwechselvorgänge beschleunigen. Das Rüsten von Produktionsanlagen kann viel Zeit beanspruchen und erheblichen Aufwand erzeugen. Wenn ein Produktionssystem darauf abzielt, bedarfsgerecht zu produzieren, dann kann dies häufiges Umrüsten erfordern. Das erscheint allerdings nur dann wirtschaftlich, wenn rasche Umrüstvorgänge möglich sind. In diesem Zusammenhang sind meist technische Lösungen gefragt wie automatische Werkzeugwechselsysteme oder Werkzeugrevolver. Sie beschleunigen das Umrüsten der Maschine oder Anlage mit dem benötigten Werkzeug. Single Minute Exchange of Die fordert, den Umrüstvorgang im einstelligen Minutenbereich ausführen zu können. Das 5S-Konzept verfolgt das Ziel, Ordnung und Sauberkeit an den Arbeitsplätzen in der Produktion und in anderen Bereichen zu begünstigen. Die fünf „S“ sind die Anfangsbuchstaben der Worte Seiri, Seiton, Seiso, Seiketsu und Shitsuke. 252 Diese bilden Verhaltensgrundsätze und ermahnen Mitarbeiter, bestimmte, auf Sauberkeit zielende Verrichtungen regelmäßig durchzuführen. Die Empfehlungen umfassen vor allem: Aufräumen, Ordnen, Reinigung, Sauberkeit und Disziplin. Diese Leitlinien vermitteln Eltern zwar schon ihren Kindern. Die Grundsätze scheinen aber in Unternehmen - möglicherweise aufgrund der hohen Spezialisierung - vielfach aus dem Blick einzelner Mitarbeiter zu geraten. Das Propagieren und Kontrollieren der 5S rücken diese Prinzipien wieder in den Mittelpunkt. Dadurch werden beispielsweise belegte Flächen wieder frei und für den Wertschöpfungsprozess nutzbar. Zudem zeigt sich in der Praxis, dass die Arbeitsleistungen der Mitarbeiter in einem aufgeräumten Umfeld höher sind. Die Fokussierung auf diese Prinzipien führt oft auch zu präventivem Handeln und lässt Unordnung und die damit einhergehende Verschwendung erst gar nicht entstehen. Die beschriebenen Maßnahmen zielen alle darauf ab, Verschwendung im Unternehmen zu reduzieren. Sie unterstützen ein Vorgehen, das die zur Produktion eingesetzten Ressourcen, Maschinenkapazitäten, Materialien, Betriebsflächen oder Mitarbeiter möglichst optimal nutzt. Die Elemente müssen nicht zwangsläufig gemeinsam installiert werden. Der größte Effekt wird jedoch durch einen kombinierten Einsatz erzielt. 251 Vergleiche die Gegenüberstellung bei Becker (2006, S. 284). 252 Vergleiche Haak (2007, S. 206). <?page no="201"?> 3.10 Elemente des Toyota Produktionssystems 201 3 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Der ursprüngliche Anwendungsbereich war die industrielle Serienproduktion. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Toyota zu jener Unternehmenskategorie zählt, welche die Serienproduktion populär gemacht hat. Es zeigte sich jedoch schnell, dass man viele der Elemente auch in anderen Bereichen, etwa jenen, die Unterstützungs- oder Steuerungsaufgaben wahrnehmen, anwenden kann. So dient das Toyota Produktionssystem einigen Unternehmen als grundlegende Philosophie zur Organisation und Abwicklung ihres Geschäftsbetriebes. Die Elemente werden für den spezifischen Einsatzbereich jeweils angepasst und entfalten dann auch dort ihre Wirkung. Der Anwendungsprozess lässt sich im Fall der Elemente des Toyota Produktionssystems nur schwer in ein Phasenschema gliedern. Entscheidet sich ein Unternehmen, die Einführung des Toyota Produktionssystems zu prüfen, wird zuerst eine Untersuchung erforderlich sein, ob die Zielstellung des Unternehmens und die Ausrichtung der Elemente des Toyota Produktionssystems harmonieren. Ferner ist zu eruieren, welche Voraussetzungen man schaffen muss, um einen effizienten Einsatz sicherzustellen. So könnte es etwa sein, dass man das Produktionslayout verändern muss, da sonst eine Mehrmaschinenbedienung nicht möglich ist. Oder Lieferanten müssen neu gesucht oder bestehende qualifiziert werden, da diese mit Just-in-time-Belieferung noch nicht vertraut sind. Anpassungen des Produktionsplanungs- und Produktionssteuerungsbeziehungsweise des Enterprise Ressource Planning-Systems müssen gegebenenfalls vorgenommen werden, wenn die Kanban-Steuerung eingeführt werden soll. Mitarbeiter sind unter Umständen weiterzubilden, weil man ihnen mehr Verantwortung und ein breiteres Aufgabenfeld bis hin zur Erzeugung von Verbesserungen überträgt. Bereiche, in denen sie möglicherweise erst methodisches Wissen aufbauen müssen. Auch einzelne Investitionen können erforderlich sein, etwa von der Anzeigetafel bis zum automatischen Werkzeugwechselsystem, wenngleich die Elemente des Toyota Produktionssystems nicht primär die Realisierung umfangreicher Investitionen zur Voraussetzung haben. Vielmehr ist die dahinterstehende Grundidee der konsequenten Vermeidung von Verschwendung und der sachgerechten Nutzung vorhandener Ressourcen in die Organisation zu tragen und zu verankern. Sind diese Voraussetzungen geschaffen, kann die Umstellung auf das neue System erfolgen. 253 Gemäß dem Kaizen-Ansatz darf man in einem ersten Schritt nicht die Implementierung einer perfekten Lösung erwarten. Das Produktionssystem und die installierten Elemente können durch Erfahrungen, die man während ihrer Nutzung macht, modifiziert oder ergänzt werden. Auf diese Weise unterliegt auch das Toyota Produktionssystem selbst einer permanenten Anpassung. Weiterführende Hinweise Das Toyota Produktionssystem verdankt seine Popularität der Tatsache, dass man mit vergleichsweise einfachen Maßnahmen beträchtliche Erfolge erzielen kann. Überra- 253 Die Einführung von Einzelmaßnahmen führt zu geringeren Erfolgen als die Implementierung mehrerer aufeinander abgestimmter Elemente (vergleiche Syska 2006, S. 159). <?page no="202"?> 202 3 Produktion schend waren der Paradigmenwechsel - etwa bei der konsequenten Orientierung auf das Zieh-Prinzip - und der abgestimmte Einsatz der Instrumente sowie die umfangreiche Einbindung der Produktionsmitarbeiter in die Steuerung des Produktionsbereiches und die Weiterentwicklung von Produktionsvorgängen. Trotz aller Erfolge, vermag auch das Toyota Produktionssystem nicht alle Probleme in der Produktion zu lösen. Nicht in allen Bereichen entfaltet es die erhoffte Wirkung und dies nicht zuletzt, da die Gegebenheiten einen wirkungsvollen Methodeneinsatz erlauben müssen. Ohne das Vorhandensein einer Unternehmenskultur, die den Mitarbeitern entsprechende Mitwirkung einräumt, diese honoriert und befördert, fehlt die Triebfeder für den Erfolg des Konzeptes. Auch eine zu konsequente - in Form einer Ersatzreligion ausgeführte - Umsetzung des Toyota Produktionssystems kann zu Misserfolgen führen, da diese in der Praxis üblicherweise zur Abwehrhaltung der beteiligten Akteure führt. <?page no="203"?> 3 3.11 Total Productive Maintenance Problemstellung: Erhöhung der Anlagenverfügbarkeit und Anlagenproduktivität durch Reduktion technischer Störungen Zielgruppe: Produktionsleiter, Produktionsmitarbeiter, Instandhaltungsleiter, Anlagenmanager Voraussetzungen: In Instandhaltungsaufgaben geschulte Maschinenbediener und ausreichend verfügbare Zeit für neue Aufgaben bei Maschinenbedienern Zielsetzung der Total Productive Maintenance Total Productive Maintenance soll eine Steigerung der Produktivität von Produktionsanlagen bewirken und die verfügbare Kapazität von Produktionsmitarbeitern zielgerichtet nutzen. Dazu wird dem Produktionspersonal die Anlagenverantwortung übertragen. Die Mitarbeiter an den Maschinen haben dafür zu sorgen, dass sich diese in einem Zustand befinden, der eine reibungslose Produktion der festgelegten Güter ermöglicht. Es soll ausgeschlossen werden, dass im Fall von Produktionsstörungen, die in einigen Produktionsumgebungen zum Beispiel durch starke Verschmutzung und mangelnde Pflege der Produktionsanlagen entstehen, die Verantwortung der Instandhaltungsabteilung zugewiesen wird. Man geht von der Grundüberzeugung aus, dass Maschinenbediener ein höheres Verantwortungsgefühl für ihre Anlagen entwickeln, wenn ihnen auch Aufgaben der Pflege und Instandhaltung übertragen werden. Dadurch reduziert sich die Anzahl an Störungen, und die Produktionsmengen pro Anlage können aufgrund der höheren Verfügbarkeit gesteigert werden. Die Pflege und Reinigung der Betriebsmittel, aber auch ihre Inspektion und Wartung werden in diesem Konzept als Tätigkeiten der Produktionsmitarbeiter aufgefasst, die erforderlich sind, um die gesetzten Produktionsziele zu realisieren. Beschreibung der Total Productive Maintenance Um eine Erhöhung der Anlagenproduktivität zu erreichen, integriert das Total Productive Maintenance-Vorgehen verschiedene Ansätze, mit deren Hilfe man vor allem: 254 den verantwortungsvollen und umsichtigen Umgang mit den Maschinen erwirken, die Maschinenbediener zu gründlicher Reinigung animieren, eine gewissenhafte Inspektion und Wartung - in einer Mischung aus vorbeugenden und zustandsorientierten Instandhaltungsmaßnahmen - durch die Produktionsmitarbeiter initiieren 255 und Anlagenmodernisierungen anregen und einführen möchte. 254 Vergleiche zu den Elementen und zur Aufgabenaufteilung zwischen Produktionsmitarbeitern und Instandhaltungsabteilung Al-Radhi (1996, S. 28 ff). 255 Vergleiche Schulz-Kratzenberg (1993, S. 63). 3.11 Total Productive Maintenance 203 <?page no="204"?> 204 3 Produktion Die Bemühungen zielten ursprünglich vor allem auf die Erhöhung der Verfügbarkeit durch eine Reduktion der Störungshäufigkeit. Die Verfügbarkeit wird zusätzlich gesteigert, wenn die Instandhaltungsmaßnahmen in verbesserter Abstimmung mit den terminierten Produktionsaufträgen ausgeführt werden. Die Produktionsmitarbeiter kennen die zeitlichen Lücken, haben selbst Kapazitäten verfügbar und müssen nicht auf andere Organisationsbereiche wie die Instandhaltungsabteilung zugreifen. Ferner kann durch verbesserte Reinigung und Wartung der Maschinen in der Regel eine Erhöhung der Präzision und eine damit einhergehende Verringerung der Ausschussproduktion erreicht werden, die sich positiv auf die Zahl der produzierten Gutteile auswirkt. Einigen Unternehmen gelingt es im Rahmen von Total Productive Maintenance, Rüstzeiten zu verringern und dadurch mehr Zeit für die Gütererstellung verfügbar zu machen. Schließlich kann bei entsprechender Qualifikation und Erfahrung der Mitarbeiter auch die an den Bedürfnissen der Maschinenbediener ausgerichtete Modifikation der Anlage zu einem Produktivitätszuwachs führen, da durch die Veränderung beispielsweise Nebenzeiten reduziert oder Bearbeitungsgeschwindigkeiten erhöht werden. Mögliche Säulen eines Total Productive Maintenance fasst Abbildung 91 zusammen. Aus der Praxis ist bekannt, dass man durch eine konsequente Einführung von Total Productive Maintenance Produktivitätssteigerungen bis zu 50 Prozent erreichen kann. Abbildung 91: Bestandteile des Total Productive Maintenance-Ansatzes Allerdings darf man nicht übersehen, dass diese Form der Erweiterung des Aufgabenspektrums der Produktionsmitarbeiter an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. Die Mitarbeiter sollten in einer Qualifikationsphase auf die neuen Arbeiten vorbereitet und mit den nötigen Informationen und Werkzeugen ausgestattet werden. Gele- <?page no="205"?> 3.11 Total Productive Maintenance 205 3 gentlich wird dieser Ansatz auch durch die Unternehmensleitung in den Blick genommen, um die Instandhaltungsabteilung schließen und damit kurzfristig messbare Kosteneinspareffekte erzielen zu können. Den Umfang der Instandhaltungsabteilung sollte man nach Einführung von Total Productive Maintenance einer Prüfung unterziehen, um zu ermitteln, ob die Reduktion oder die Auslagerung einzelner Aufgaben möglich sind. Im Vorhinein davon auszugehen, dass die Instandhaltungsabteilung zur Gänze überflüssig wird, dürfte sich in den meisten Fällen als Trugschluss erweisen. Reparaturen müssen weiterhin durch professionelle Instandhalter ausgeführt werden. Der Total Productive Maintenance-Ansatz zur Steigerung der Anlagenproduktivität und zur Erhöhung der Mitarbeiterverantwortung ist durch die Vertreter der verschiedenen Hierarchieebenen mitzutragen. Werden Beschaffungsanträge für Bauteile, die zur Anlagenmodernisierung benötigt werden, mehrfach abgelehnt, kann es sein, dass die Produktionsmitarbeiter den Eindruck gewinnen, der neue Ansatz sei nicht ernst gemeint. In der Folge werden sie sich auf ihre Ursprungsaufgaben zurückziehen. Demnach erscheint es sinnvoll, Anstöße der Motivationsförderung zu geben, damit das neuartige Vorgehen schnell Anwendung findet. Schließlich wird im Total Productive Maintenance eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern erforderlich sein, die man organisatorisch vorbereiten sollte. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Total Productive Maintenance wird insbesondere in mechanisierten und automatisierten industriellen Produktionsstätten eingesetzt. Für viele Unternehmen dürfte das Total Productive Maintenance-Konzept mit steigendem Automatisierungsgrad an Attraktivität gewinnen. In einer vollständig automatisierten Fabrik mit geringer Mitarbeiteranzahl greift dieser Ansatz nicht, da es schlicht an Maschinenbedienern mangelt. Der Einführungsprozess eines Total Productive Maintenance kann in vier Phasen untergliedert werden. 256 Wie in Abbildung 92 dargestellt, bestimmt man zunächst, in welchen Unternehmensbereichen die Voraussetzungen für die Einführung von Total Productive Maintenance gegeben sind. Dies kann in einer Fabrik oder einer Produktionslinie der Fall sein - beispielsweise in dem Bereich zur Erstellung von Serienfahrzeugen. In einem anderen Bereich, in dem mit handwerklichem Ansatz Sonderanfertigungen entstehen, könnte sich eine Implementierung demgegenüber als nicht zielführend erweisen. In dieser Phase werden auch die Produktivitätsziele benannt. Abbildung 92: Total Productive Maintenance-Einführungsprozess 256 Immer wieder wird auch auf den erforderlichen, in den vier Phasen zu akzentuierenden kulturellen Wandel hingewiesen (vergleiche Zielowski 2006, S. 190 ff). <?page no="206"?> 206 3 Produktion Im Mittelpunkt der zweiten Phase stehen Datenerhebungen und Datenanalysen. Sie sollen einen Eindruck darüber vermitteln, wie leistungsfähig der untersuchte Produktionsbereich ist und in welchen Abschnitten besonders hohe Defizite bestehen. In der dritten Phase erfolgt die Konzeption des Total Productive Maintenance-Systems. In diesem legt man fest, welche Instandhaltungsaufgaben dem Produktionspersonal übertragen werden und in welchen Zyklen unter Anwendung welcher Werkzeuge welche Aufgaben auszuführen sind. Zudem wird man die Instandhaltungsstrategie anpassen. Die Elemente der vorbeugenden und zustandsorientierten Instandhaltung müssen neu austariert und auf das Total Productive Maintenance-Modell hin justiert werden. In Phase 3 fallen auch der Zuschnitt von Anreizsystemen und die Erarbeitung von Weiterbildungsmaßnahmen für die Produktionsmitarbeiter. In der letzten Phase erfolgt die Einführung des entworfenen Konzeptes. Hierunter fällt insbesondere die Bekanntmachung und Durchsetzung des neuen Ansatzes sowie die Verfügbarmachung aller relevanten Unterstützungselemente. Gelegentlich kann es erforderlich sein, die in Kapitel 7.2 beschriebene Methode des Changemanagements einzusetzen, da das neue Konzept sowohl bei Produktionsmitarbeitern als auch bei Instandhaltern auf Widerstände stoßen kann. Denn aus der Praxis ist bekannt, dass sich Produktionsmitarbeiter nicht immer über die Erweiterung ihres Aufgabenspektrums freuen, sondern Ausbeutung befürchten. Instandhalter dürften Sorge vor einem Bedeutungsverlust oder einer Auslagerung haben und daher die Einführung bekämpfen. Ferner sollte man in dieser Phase auch ein Messsystem einrichten, das die Effekte der Total Productive Maintenance-Einführung dokumentiert und etwaiges Nachjustieren erleichtert. Weiterführende Hinweise Viele Unternehmen berichten, dass sie Erfolge in den Bereichen Produktivitäts- und Effizienzsteigerung erreichen konnten, auch wenn diese nicht immer in gewünschter Höhe oder Zeit eintraten. Das Total Productive Maintenance-Konzept kann jedoch auch Nachteile mit sich bringen. Wenn Unternehmen erkennen, dass ihre Instandhaltungsabteilungen über reichhaltiges Anlagenwissen verfügen, könnten sie den Instandhaltungsabteilungen Innovationsaufgaben zuweisen. 257 Warum soll ein Instandhalter, der sich vermutlich besser mit dem technischen Innenleben der Maschine auskennt als jeder andere Mitarbeiter im Unternehmen, nicht technische Weiterentwicklungen entwerfen und einführen? Verfolgt ein Unternehmen diesen Ansatz, können Instandhalter zu Innovationstreibern im Bereich der eingesetzten Maschinen und Anlagen werden. Diesen Grundgedanken illustriert Abbildung 93. 257 Gelegentlich wird die mangelnde Innovationsorientierung des Total Productive Maintenance- Ansatzes kritisiert (vergleiche Zielowski 2006, S. 185). Hier zeigen Specht & Mieke (2005b, S. 31 f) Wege auf, die zu einer Stärkung des Innovationsfokus beitragen können. <?page no="207"?> 3.11 Total Productive Maintenance 207 3 Abbildung 93: Instandhalter als organisationsinterne Prozessinnovatoren Allerdings ist fraglich, ob sie weiterhin über ausreichend Einblick, Erfahrungswissen und daraus resultierende Kompetenz verfügen, wenn Teile der originären Instandhaltungstätigkeit im Rahmen des Total Productive Maintenance-Ansatzes auf das Produktionspersonal übertragen werden. Für eine derartige Situation müsste man Ausgleichsmechanismen schaffen, die beide Ansätze parallel wirksam werden lassen. <?page no="208"?> 3.12 Qualifikationsmatrix Problemstellung: Auf produkt-, kunden- und anlagenbezogene Aspekte ausgerichtete Kompetenzprofile der Produktionsmitarbeiter Zielgruppe: Produktionsleiter, Arbeitswissenschaftler, Personalentwickler Voraussetzungen: Kenntnis derzeitiger und künftiger Qualifikationsanforderungen und Verfügbarkeit aktueller Kompetenzausprägungsniveaus Zielsetzung der Qualifikationsmatrix Die Qualifikationsmatrix ist eine Methode, welche die Kontrolle und Entwicklung von Fähigkeiten der Mitarbeiter des Produktionsbereiches unterstützt. Sie ist im Managementfeld Produktionspotenzialgestaltung verortet und ein produktionsfaktororientiertes Werkzeug. Erfolge in der Produktion kann man nicht realisieren, wenn allein leistungsfähige Prozesse und anforderungsgerechte Betriebsmittel vorhanden sind. Erst im Zusammenspiel mit leistungswilligen und adäquat qualifizierten Mitarbeitern werden sich erhoffte Verbesserungen einstellen. Mit Hilfe der Qualifikationsmatrix kann man vorliegende Qualifikationen der Gesamtbelegschaft aufnehmen, den Ort der Verfügbarkeit ausweisen und darstellen, ob das gewünschte Leistungsniveau bereits vorliegt oder ob die weitere Ausbildung bestimmter Fähigkeiten erforderlich ist. 258 Sie lenkt den Blick der Führungsebene des Produktionsbereiches - der wegen seiner hohen Kapitalintensität oftmals eher technologisch orientiert gesteuert wird - auf den bedeutenden Produktionsfaktor Mensch. Beschreibung der Qualifikationsmatrix Die Qualifikationsmatrix bildet gewissermaßen die Einstiegsmethode in ein personalorientiertes Produktionsmanagement. Sie unterstützt das Erkennen von Qualifikationsdefiziten und die in die Zukunft gerichtete Planung des Qualifikationsaufbaus. Form und Inhalt von Qualifikationsmatrizen sind nicht genormt. Daher finden sich in Unternehmen vielfältige Varianten. Einerseits sollen die Hauptinformationen enthalten sein und durch den Betrachter schnell erfasst werden können. Andererseits sollte man die Überfrachtung innerhalb einer Darstellung vermeiden. In einer typischen Qualifikationsmatrix finden sich häufig in der einen Dimension die Namen der Mitarbeiter beziehungsweise Abteilungen und in der anderen Dimension die benötigten Qualifikationen. Die in Abbildung 94 aufgeführten Symbole in den Zellen machen deutlich, in welchem Ausmaß, verglichen mit den jeweiligen Anforderungen, die Qualifikationen zum Gegenwartszeitpunkt vorliegen. Diese Darstellungsart unterstützt das schnelle Erfassen von Kernaspekten, wenngleich nicht alle denkbaren Facetten abgebildet werden. Mit der Qualifikationsmatrix können weitere Methoden verknüpft werden. So bieten Kompetenzklassendiagramme, Kompetenzportfolios und Kompetenz-Roadmaps die 258 Vergleiche Wickel-Kirsch, Janusch & Knorr (2008, S. 88 f). 208 3 Produktion <?page no="209"?> 3.12 Qualifikationsmatrix 209 3 Möglichkeit, Personalentwicklung unter dem Dach der Qualifikationsmatrix vielschichtiger zu gestalten. Kompetenzklassendiagramme ordnen Kompetenzen speziellen Vorhaben zu. Die für das Projekt erforderlichen Fähigkeiten lassen sich aus der Charakteristik eines jeden Vorhabens, wie Technologieentwicklung oder Geschäftsfelderweiterung, ableiten. Eine Kompetenz-Roadmap zeigt, auf welchem Qualifikationsweg die gewünschte Kompetenz erreicht werden kann, welche Zwischenschritte erforderlich und zu welchen Zeitpunkten definierte Qualifikationsniveaus erreichbar sind. 259 Abbildung 94: Beispielhafte Qualifikationsmatrix Der konsequente Einsatz dieser Methoden, der nicht im Personalbüro der Unternehmenszentrale, sondern in den Produktionsbereichen selbst erfolgen sollte, verschafft einen guten Einblick in die Qualifikationsstruktur und ermöglicht die rasche Beseitigung etwaiger Defizite. Alle betriebswirtschaftlichen Methoden setzen das Vorhandensein qualifizierter Mitarbeiter voraus. Insofern bildet die Qualifikationsmatrix nicht nur die Grundlage zur Verbesserung der Leistungen des Produktionsbereiches, sondern auch zur Optimierung der Leistungen des Gesamtunternehmens. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Qualifikationsmatrix kann man in den Produktionsbereichen eines Unternehmens einsetzen. Hier werden vielschichtige Qualifikationsprofile benötigt - insbesondere dann, wenn viele technologische Wertschöpfungsstufen im Unternehmen realisiert werden. So erfordert zum Beispiel das Trennen andere Qualifikationen als das Urformen, Umformen oder Fügen. Innerhalb des Fügens sind wiederum sehr unterschiedliche Qualifikationen in Abhängigkeit von den eingesetzten Fügeverfahren gefragt wie Schrauben, Nieten, Kleben, Löten oder Schweißen. Wenn darüber hinaus neue Fertigungstechnologien analysiert und eingeführt werden, erhöht sich die Notwendigkeit, 259 Vergleiche Specht & Mieke (2004b, S. 19 f). <?page no="210"?> 210 3 Produktion Mitarbeiter zielgerichtet zu entwickeln. Auch die Veränderung der organisatorischen Abwicklung von Wertschöpfungsprozessen in Lieferketten und internationalen Produktionsnetzwerken lässt möglicherweise Qualifikationsanforderungen aufkommen, die in der Vergangenheit nicht in gleichem Maße notwendig waren. Umso mehr müssen diese Kompetenzen Eingang in das Qualifikationsmanagement finden. Die Anwendung der Qualifikationsmatrix ist wie beschrieben nicht auf den Produktionsbereich beschränkt. Die Methode ist vielmehr in allen Bereichen einsetzbar, in denen vielschichtige Qualifikationen erforderlich sind wie in der Instandhaltung, in der Logistik oder in der Beschaffung. Abbildung 95: Erstellungsprozess für eine Qualifikationsmatrix Das in Abbildung 95 skizzierte Vorgehen zur Erstellung der Qualifikationsmatrix beginnt mit der Definition des Bereiches, für den die Matrix erstellt werden soll. Ein zu breiter Zuschnitt bläht die Matrix auf und reduziert die Übersichtlichkeit. Daher ist es empfehlenswert, gegebenenfalls mehrere Matrizen - für einzelne Werke oder einzelne Produktionssegmente - anzulegen. Dann sind die vorhandenen Mitarbeiter zu erfassen. Anschließend erfolgt die Benennung der Qualifikationen. Dazu muss man die bestehenden Aufgaben analysieren und erforderliche Fähigkeiten ableiten. 260 Die Fähigkeiten können auch eine Gliederung in unterschiedliche Gruppen erfahren, um beispielsweise fachliche, methodische oder soziale Fähigkeiten voneinander zu unterscheiden. 261 Außerdem erfasst man, welche Qualifikationen in der Zukunft potenziell 260 Hier muss vor einer Bedarfsinflation gewarnt werden (vergleiche Wickel-Kirsch, Janusch & Knorr 2008, S. 89). Priorisierungen erscheinen notwendig, werden jedoch durch die Qualifikationsmatrix kaum unterstützt. 261 Vergleiche Rösch (2004, S. 102). Buck & Witzgall (2012, S. 404 f) schlagen die Untergliederung in Aufgaben- und Prozesskompetenzen vor. <?page no="211"?> 3.12 Qualifikationsmatrix 211 3 erforderlich sein werden. 262 Diese kann man aus Geschäftsplänen und Strategiepapieren oder aus der Technologieplanung ableiten. In diesem Zusammenhang kann auch die Kontaktaufnahme zu anderen Abteilungen oder Instanzen notwendig werden. Sind Mitarbeiter sowie gegenwärtig und zukünftig benötigte Qualifikationen in ihrer Gesamtheit erfasst, muss man definieren, ob bestimmte Kompetenzen bei allen oder nur bei einzelnen Mitarbeitern vorliegen sollen. Ferner ist ein gegenwärtiges und künftig erforderliches Niveau der betrachteten Fähigkeiten zu benennen. Im Anschluss sollte mittels einer Qualifikationsanalyse evaluiert werden, in welchem Ausmaß die einzelnen Qualifikationen bei den verschiedenen Mitarbeitern vorliegen. Dazu lassen sich erste Indizien in Dokumenten wie Zeugnissen oder Zertifikaten finden. Weiterführende Einschätzungen können aus Beurteilungen von Arbeitsergebnissen und speziell auf die Qualifikationserfassung ausgerichteten personalwirtschaftlichen Prüfverfahren wie Assessment-Centern stammen. Anschließend werden die Ergebnisse in der Qualifikationsmatrix zusammengeführt. Damit ist der eigentliche Erstellungsvorgang der Qualifikationsmatrix abgeschlossen. Um das Ziel der Verfügbarmachung der benötigten Qualifikationen an der richtigen Stelle zum benötigten Zeitpunkt sicherzustellen, ist der Prozess systematisch fortzusetzen. Das heißt, man sollte sowohl mit weiteren Planungen wie der Erarbeitung einer Kompetenz-Roadmap, die abbildet, in welchen Schritten und zu welchen Zeitpunkten die erforderlichen Qualifikationen verfügbar gemacht werden können, als auch mit der Ableitung von Maßnahmen zeitnah beginnen. Abbildung 96 stellt schematisch eine Kompetenz-Roadmap dar. Abbildung 96: Kompetenz-Roadmap 263 262 Zur Vorteilhaftigkeit der Berücksichtigung von Branchentrends vergleiche Kortsch, Paulsen, Naegele, Frerichs & Kauffeld (2016, S. 16 ff). 263 Mieke (2006, S. 215). <?page no="212"?> 212 3 Produktion Decken die Qualifikationsmatrix oder die an sie gekoppelten Methoden Defizite auf, entscheidet das zuständige Management, wie diese geschlossen werden können. Denkbare Maßnahmen sind: Qualifizierung vorhandener Mitarbeiter durch Schulungen oder Job Rotation, Einstellung neuer Mitarbeiter mit gewünschten Qualifikationen, Aufbau strategischer Allianzen und Nutzung externer Ressourcen. Die Qualifikationsmatrix sollte regelmäßig aktualisiert werden, da es sich bei Qualifikationen um ein dynamisches Analyseobjekt handelt. Diese entwickeln sich bei Mitarbeitern durch die Übernahme neuer Aufgaben und die Teilnahme an Trainings sowie durch Aktivitäten in der außerberuflichen Sphäre. Der Verlust des Überblicks 264 über den jeweils aktuellen Zustand des Qualifikationsniveaus und über die unternehmensseitigen Anforderungen kann zu signifikanten Fehlsteuerungen führen. Weiterführende Hinweise Das Erstellen von Qualifikationsmatrizen sollte im Produktionsbereich verankert werden. Dies kann zu Konflikten führen, da sich die Personalabteilung gegebenenfalls in ihren Aufgaben und ihrem Einfluss beschnitten fühlt. Aus Sicht des Produktionsbereiches wird das Befassen mit personalwirtschaftlichen Aspekten möglicherweise Abbildung 97: Qualifikationsprofil 264 Qualifikationsmatrizen visualisieren sehr gut Qualifikationsbreite und Qualifikationshöhe der Mitglieder eines Systems (vergleiche Bühner 1997, S. 125 f). <?page no="213"?> 3.12 Qualifikationsmatrix 213 3 als zusätzlicher administrativer Aufwand und somit als unerwünschte Aktivität betrachtet. Für das verantwortliche Management des Produktionsbereiches würde es jedoch der Abgabe eines Steuerungshebels gleichkommen, wenn es entsprechende Planungen nicht machte. Insgesamt könnte die Erreichbarkeit etwaiger Ziele beeinträchtigt werden. Möglicherweise empfiehlt sich eine Abstimmung mit dem Personalwesen bei der Auswahl der konkreten Methoden. Arbeitet das Personalwesen etwa nicht mit Qualifikationsmatrizen, sondern beispielsweise mit den in Abbildung 97 aufgeführten Qualifikationsprofilen, sollte im Produktionsbereich identisch vorgegangen werden. Dadurch würde der Informationsaustausch, insbesondere aufgrund nicht benötigter Transformationsvorschriften, erleichtert. Gelegentlich stoßen Qualifikationserfassungen bei Mitarbeitern auf Misstrauen und lösen folgende Fragen aus: „Ich mache doch meine Arbeit, wozu wollt ihr das alles wissen? “ oder „Steht eine Entlassungswelle bevor und ihr wollt schnell die wertvollsten Mitarbeiter identifizieren und den Rest fallen lassen? “ Um solchen Sorgen vorzubeugen, die sich negativ auf den Arbeitseinsatz auswirken können, empfiehlt sich eine frühzeitige, offene und transparente Kommunikation. Erkennen die Mitarbeiter, dass bei sich verkürzenden Technologiezyklen, sich verändernden Kundenanforderungen und daraus resultierenden Prozessmodifikationen in der Produktion passende Qualifikationen von zentraler Bedeutung sind, werden sie ihre Mitwirkungsbereitschaft im Allgemeinen erhöhen. <?page no="214"?> 3.13 Betreibermodelle Problemstellung: Bedarf an kapitalintensiven Anlagen bei begrenzter Finanzkraft und Risikobereitschaft Zielgruppe: Geschäftsführer, Produktionsleiter, Finanzmanager, Risikomanager, Einkäufer Voraussetzungen: Anlagenlieferanten mit Bereitschaft, als Betreiber zu fungieren Zielsetzung der Betreibermodelle In Branchen, die sich durch eine kapitalintensive Produktion etwa in Form hoch automatisierter Fabriken auszeichnen, wird es für Unternehmen zunehmend schwierig, eine konsequente Wachstums- und Internationalisierungsstrategie zu verfolgen. Häufig stehen ihnen nicht hinreichend Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung, um in gewünschtem Umfang Investitionen realisieren zu können. Insofern sucht man nach Möglichkeiten, Risiken von Großprojekten aufzuteilen und nicht beim Unternehmen zu belassen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen haben sich Betreibermodelle entwickelt. Sie ermöglichen Unternehmen, zügig zu wachsen und parallel an verschiedenen Standorten neue Produktionskapazitäten zu schaffen, ohne dadurch die Relation der Kapitalpositionen der Bilanz aus dem Gleichgewicht zu bringen und etwa einen steigenden Verschuldungsgrad ausweisen zu müssen oder hohe Risiken zu tragen. 265 Beschreibung der Betreibermodelle Bei Betreibermodellen liefern Anlagenhersteller einem Produzenten von Gütern nicht mehr nur eine Produktionsanlage. Vielmehr erstellen sie eine Anlage, errichten diese und betreiben diese in der Folge, ohne den sonst üblichen Eigentumsübergang wie in Abbildung 98 dargestellt. Das heißt, sie werden von Betriebsmittellieferanten zu Dienstleistungslieferanten - der Abnehmer bezahlt die erbrachte Leistung. 266 Häufig sind die Anlagenlieferanten und nun die Betreiber auch für die Wartung und Instandsetzung der Anlagen im laufenden Betrieb zuständig. 267 Dies hat Auswirkungen auf die Entlohnung der Leistung. Betreiber werden nicht für die Lieferung einer Anlage bezahlt. Eine Vergütung erfolgt entweder für die bereitgestellte Nutzungszeit der Anlage oder für die Zahl der qualitätsgerecht produzierten Teile. Durch die Anwendung von Betreibermodellen erreichen Unternehmen in erheblichem Umfang die Flexibilisierung von Fixkosten. Sie können ferner eine Konzentration auf Kernkompetenzen wie zum Beispiel Entwicklung und Marketing vorantreiben. 265 Vergleiche zu den Wirkungen Beyer (2007, S. 240). 266 Vergleiche Österle & Senger (2006, S. 48). 267 Vergleiche Meier, Schramm, Werding & Zuther (2001, S. 37). 214 3 Produktion <?page no="215"?> 3.13 Betreibermodelle 215 3 Abbildung 98: Grundstruktur eines Betreibermodells Für die Anlagenhersteller bietet die Entwicklung hin zum Betreiber unter Umständen die Möglichkeit, eigenes Wachstum zu realisieren. Das Anbieten der zusätzlichen Leistungen und die Übernahme des Risikos werden möglicherweise auch vergütet, so dass eine lukrative Situation entstehen kann. Auch die Ausführung von Instandhaltungsleistungen an der Anlage und die Sicherstellung einer hohen Verfügbarkeit dürften aufgrund der vorhandenen Kompetenzen und der Vertrautheit mit der Anlage für den Betreiber in effizienterer Weise als für ein anlagenerwerbendes Produktionsunternehmen möglich sein. Allerdings sind mit dem Betreibermodell aus Sicht des Anlagenlieferanten und Betreibers auch Nachteile verbunden. Er wird ein höheres Risiko tragen und sich mit neuen Aufgabenfeldern befassen müssen, die vormals nicht zu seinen Kernaktivitäten zählten. Nicht immer übernehmen Anlagenhersteller die Betreiberrolle freiwillig, gelegentlich werden sie von ihren Abnehmern auch dazu gedrängt. Aber auch die Abnehmer der Leistung müssen systematisch prüfen, welche Form des Leistungsbezugs - Fremdbezug, Betreibermodell oder Eigenerstellung - die effizienteste Form darstellt. 268 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Der Anwendungsbereich liegt vornehmlich in der Güterproduktion und damit abseits der Betreiberkonzepte für Infrastruktur im öffentlichen Raum, wo staatliche Stellen privaten Unternehmen die Errichtung und das Betreiben von Infrastruktur beispielsweise in Form von Public Private Partnership-Modellen übertragen. Der Güterproduktionsbereich ist durch hohe Anlagenintensität und große Investitionssummen gekennzeichnet. Daher sollten Unternehmen prüfen, ob Betreibermodelle eine geeignete Organisationsmöglichkeit für ihre Produktion bieten. Dabei untersucht man zunächst, ob die Einführung eines Betreibermodells sinnvoll ist. Unternehmen analysieren in diesem Zusammenhang ihre eigene Situation vor allem im Hinblick auf die Anforderungen der Branche und des Marktes. Die Prüfung umfasst typischerweise vier Felder: Strategie, Technologie, Finanzen und Kosten. Aus strategischer Perspektive würde man das Installieren von Betreibermodellen unter anderem dann empfehlen, wenn folgende Bedingungen vorliegen: 268 Vergleiche Meier, Steven & Werding (2006, S. 282). <?page no="216"?> 216 3 Produktion Das Unternehmen strebt eine Konzentration auf Kernkompetenzen an, will jedoch die nicht zu den Kernkompetenzen zählenden Produktionsabschnitte nicht vollständig aus seiner Einflusssphäre entlassen. Der Produktionsbereich ist zu komplex. Die Steuerung wird durch vielfältige Abhängigkeiten erschwert. Eine Entflechtung und interne Neuorganisation gelingen nicht. Wichtige Maschinen- und Anlagenlieferanten sollen langfristig an das Unternehmen gebunden werden und ein Eigeninteresse an der Anlagenmodernisierung entwickeln, welche die Produktion innerhalb des vorgesehenen Lebenszyklus zu verbessern hat. Aus technologischer Sicht sprechen vor allem folgende Gründe für die Einführung eines Betreiberkonzeptes: Neue, leistungsfähigere Technologien können auf diese Weise schneller für die Produktion nutzbar gemacht werden. Technologische Verbesserungsideen werden generiert, da der Anlagenlieferant und Betreiber auch Einblicke in andere Unternehmen hat und Lösungen aus anderen Umfeldern für die Anlage im Betreiberkontext antizipiert. Das Spezial-Know-how des Anlagenlieferanten und Anlagenbetreibers bildet die Voraussetzung, dass bei Problemen, zum Beispiel bei kostenintensiven Produktionsstillständen, Störungen schneller als bei anderen Organisationsformen behoben werden. Innerhalb der finanzbezogenen Bewertungsdimension würde die Einführung eines Betreibermodells befördert, wenn zum Beispiel: Liquiditätsengpässe die Einführung wettbewerblich dringend benötigter neuer produktionstechnologischer Anlagen nicht zulassen. Die Bilanz des Produzenten einen vergleichsweise hohen Verschuldungsgrad aufweist und etwaige Fremdkapitalgeber signalisieren, dass weitere Fremdfinanzierung nicht möglich oder sehr teuer wäre. Der Anlagenhersteller eine vorteilhafte Finanzierungsmöglichkeit in Aussicht stellt, welche die alternativen Konditionen ins Abseits stellt. Aus der Kostenperspektive wird die Entscheidung für die Realisierung von Betreibermodellen positiv beeinflusst, weil unter anderem: hohe Fixkostenblöcke variabilisiert werden können, Kostenstrukturen transparenter und nachvollziehbarer werden, Skaleneffekte in Beschaffung und Instandhaltung möglich werden. Der Prozess zur Installation eines Betreibermodells gliedert sich in vier Phasen, die in Abbildung 99 dargestellt sind. 269 269 In der Literatur finden sich verschiedene Abgrenzungsansätze für die Phasen. Garrel, Dengler & Seeger (2009, S. 274 ff) unterscheiden fünf Phasen. Das Modell umfasst auch die Schlussphase Abwicklung, wobei die Abwicklungsmöglichkeiten in einer Übergabe der betriebenen Anlage <?page no="217"?> 3.13 Betreibermodelle 217 3 Abbildung 99: Phasen der Installation von Betreibermodellen In der ersten Phase werden die Vorarbeiten zu diesem Projekt realisiert. Dabei gilt es, zuerst das Untersuchungsfeld einzugrenzen. Für welchen Abschnitt der Produktion wird ein Betreibermodell in Erwägung gezogen? Aus welcher Motivlage heraus hat sich dieses Szenario ergeben? Welche Bewertungskriterien sind aus den Zielen ableitbar? Es wird ein Projektteam geformt, das Personen umfasst, die technische Aspekte benennen und beurteilen können. In Ergänzung werden Mitglieder mit wirtschaftlicher Bewertungskompetenz herangezogen. Eine der ersten Aktivitäten im Rahmen der Vorarbeiten ist das Erfassen und Selektieren potenzieller Partnerunternehmen. Hierbei muss man feststellen, ob bisherige Anlagenlieferanten bereit und in der Lage sind, in derartigen Betreibermodellkonstellationen mitzuwirken und ob weitere potenzielle Partner existieren. Die zweite Phase umfasst die Erarbeitung einer konzeptionellen Ausgestaltung des konkret zu errichtenden Betreibermodells. Gemäß dem bei Problemlösungen üblichen Verfahren werden verschiedene Alternativen des Betreibermodells entworfen und anschließend in Form von Simulationen hinsichtlich der definierten Ziel- und Bewertungskriterien getestet. Ein großer Teil der Arbeit liegt dabei im Bereich der Datenerhebung. Insofern muss man künftige Zahlungsströme erfassen beziehungsweise schätzen und auch etwaige Risiken taxieren. Ziele sind die Benennung etwaiger Vorteile, aber auch Gefahren und die Anpassung der Betreibermodellkonstellationen sowie die Auswahl der besten Alternative. In dieser Phase erfolgt bereits ein enges Zusammenwirken mit potenziellen Partnern, da das gemeinsame Entwickeln von Modellen am ehesten zu für beide Seiten akzeptablen Lösungen führen dürfte. Das Verfahren durch den Lieferanten oder Betreiber an den Kunden im Sinne eines Build-Operate-Transfer (BOT) oder im Verbleib der Anlage beim Betreiber im Sinne eines Build-Operate-Own (BOO) bestehen. <?page no="218"?> 218 3 Produktion kann in dieser Phase durch Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse zwar verlängert werden, dürfte dafür aber etwaige Verzögerungen im Gesamtprozess verhindern und eine solide Basis für den langfristigen Erfolg der Partnerschaft schaffen. Im dritten Schritt werden ein Modell aus den erzeugten Alternativen und der favorisierte Partner bestimmt. Dabei stehen technische Machbarkeit, betriebswirtschaftliche Vorteilhaftigkeit und Risikobegrenzung im Vordergrund. Es schließt sich eine Umsetzungsplanung an. Hierbei sind etwa Umsetzungsteams und Projektpläne unter anderem mit Arbeitspaketen, Verantwortlichkeiten und Budgetgrößen zu benennen. Der vierte Schritt beinhaltet die eigentliche Umsetzung als operative Aufgabe sowie die Kontrolle des Umsetzungsprozesses und die Installation eines Systems zur Ergebniskontrolle. Die Kontrollsysteme sollen erstens im Sinne kurzer Regelkreise ermöglichen, Aufschluss über den Umsetzungsprozess zu erhalten und bei Notwendigkeit zeitnah nachsteuern zu können und zweitens die Möglichkeit bieten, Erfahrungen aufzubauen, die in die Planung künftiger Betreibermodellvorhaben einfließen können. Weiterführende Hinweise Aus der Praxis sind zahlreiche Vorteile bekannt, die durch das Etablieren von Betreibermodellen erreicht werden wie die Steigerung der Termintreue von Lieferungen oder die Erhöhung von Renditen durch die Realisierung von Kostensenkungen. Allerdings sind mit diesem Modell auch Risiken verbunden. Insbesondere bei erstmaliger Implementierung eines Betreibermodells muss man mit Startschwierigkeiten rechnen, da bei der Planung noch nicht auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden kann, Partner unter Umständen noch nicht bekannt sind, oder weil das Abstimmungsverhalten zwischen den Partnern erst noch der neuen Arbeitsweise angepasst werden muss. Betreibermodelle sind eine spezielle Form der Auslagerung. Einige Leistungen werden durch einen externen Akteur, in der Regel aber am Ort des Auftraggebers erbracht. Die örtliche Nähe ermöglicht Einblicke in die Leistungserstellungsvorgänge des Betreibers und schafft damit aufgrund der spontanen Abstimmungsmöglichkeiten unter Umständen die Voraussetzung, Risiken deutlicher als beim klassischen Outsourcing zu reduzieren. Durch die Installation des Betreibermodells wird das Ausführen spezieller Prozesse aufgegeben, was zu Kompetenzverlust in diesem Feld und möglicherweise sowohl zu operativen als auch zu strategischen Abhängigkeiten vom Betreiber führt. Ferner können Verbesserungs- und Innovationspotenziale nicht mehr unmittelbar aus eigenen Erfahrungen im Umgang mit der Maschine abgeleitet werden. Gelingt es, einen systematischen Informations- und Erfahrungsaustausch zu etablieren, kann dieser Nachteil abgeschwächt werden. <?page no="219"?> 4 Marketing und Vertrieb <?page no="220"?> 220 4 Marketing und Vertrieb Die erfolgreiche Entwicklung und Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen kann nur gelingen, wenn Unternehmen sowohl die Markt- und Wettbewerbsbedingungen als auch die Anforderungen, Präferenzen und Verhaltensweisen von Kunden richtig einschätzen. Die Notwendigkeit, nahezu alle Unternehmensaktivitäten an externen Faktoren auszurichten, resultiert aus strukturellen Veränderungen der nationalen und internationalen Märkte, die sich vielfach zu wettbewerbsintensiven Käufermärkten gewandelt haben. Das heißt, in den meisten Branchen und Industrien liegt ein Überangebot an Waren unterschiedlicher Unternehmen vor, aus dem Konsumenten gemäß ihrer jeweiligen Kosten-Nutzen-Überlegungen das für sie beste Angebot auswählen können. Die Verhandlungsmacht liegt insofern immer häufiger bei den Abnehmern und immer seltener bei den Herstellern von Produkten oder den Anbietern von Dienstleistungen. Man stelle sich beispielsweise das mannigfaltige Sortiment eines Drogeriemarktes vor: Wenn man nicht bereits vor dem Kauf die Entscheidung getroffen hat, welchen Deo-Roller, welche Haarspülung oder welche Zahnpasta man kaufen möchte, wird sich der Auswahlprozess aufgrund der Fülle an Alternativprodukten recht zeitintensiv gestalten. In den absatzorientierten Unternehmensbereichen muss man demnach ein detailliertes Verständnis der externen Markt- und der internen Unternehmensfaktoren entwickeln, um für Kunden ein passgenaues Angebot erstellen zu können, das zielgruppengerecht kommuniziert und über geeignete Verkaufskanäle zu attraktiven Preisen vertrieben werden sollte. Die Analyse der beschriebenen Rahmenbedingungen, die Entwicklung einer darauf basierenden Strategie und die Planung entsprechender Aktivitäten und Kontrollmaßnahmen sind die wesentlichen Bestandteile des so genannten Marketingmanagementprozesses, der in Abbildung 100 im Überblick dargestellt ist. 270 Diesem Prozess kann man zahlreiche betriebswirtschaftliche Methoden zuordnen, wobei die wesentlichen in den folgenden Kapiteln erläutert werden. Der Marketingmanagementprozess beginnt mit grundlegenden Überlegungen zum Kaufverhalten von Konsumenten und Organisationen - hier als theoretische Perspektive bezeichnet. Es geht also um die Frage, wie Individuen und Unternehmen Informationen suchen, Alternativen bewerten, Kaufentscheidungen treffen und diese nachträglich beurteilen. Zur Erklärung des Verhaltens nehmen Marketingexperten unter anderem Einstellungen, Werthaltungen und Motive in den Blick. Zur Ermittlung der Beziehungen zwischen Einstellungen, Werthaltungen und Motiven eines Konsumenten und den Eigenschaften eines Produktes oder einer Dienstleistung kann man zum Beispiel auf die so genannte Means-End-Analyse und das damit verbundene Ladderingverfahren zurückgreifen. Interessiert man sich demgegenüber für das Kaufverhalten von Organisationen, würde sich die Buying-Center-Analyse als betriebswirtschaftliche Methode anbieten. Im Mittelpunkt der zweiten Phase des Marketingmanagementprozesses stehen die Marktforschung sowie das strategische und operative Marketing. Hier geht es unter anderem um die Identifikation, Analyse und Gruppierung relevanter Kunden, um die Ermittlung von Produktpräferenzen oder Zahlungsbereitschaften sowie um das Verständnis der Anforderungen von Kunden an Unter- 270 Zum Marketingmanagementprozess vergleiche Homburg (2017, S. 11 ff). <?page no="221"?> 4 Marketing und Vertrieb 221 4 nehmen. Die Kundenanalyse, die Conjoint-Analyse und die Kundenzufriedenheitsanalyse liefern die relevanten Informationen, die notwendig sind, um erfolgversprechende Marketingstrategien zu entwickeln. Wesentlicher Bestandteil des operativen Marketings ist schließlich der so genannte Marketingmix, der üblicherweise in die 4P, also in die Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitik unterteilt wird. Produkte müssen jedoch nicht nur entwickelt, sondern auch verkauft werden. Insofern sind zur erfolgreichen Umsetzung einer Marketingkonzeption auch die Aspekte des Verkaufens und Verhandelns in den Blick zu nehmen. Bewährt haben sich in diesem Zusammenhang die OPALbeziehungsweise die Harvard-Methode. Abbildung 100: Marketingmanagementprozess 271 Die dritte Phase des Marketingmanagementprozesses umfasst schließlich unternehmensinterne Aspekte: das Marketingcontrolling und die Marketingorganisation. Das Marketingcontrolling beschäftigt sich vorwiegend mit der Messung der Effektivität des Marketings. Das heißt, es geht um die Überprüfung der Ziele von Marketingaktivitäten wie die Steigerung der Markenbekanntheit eines Produktes, die Verbesserung des Unternehmensimages oder die Gewinnung und Bindung von Kunden. Als betriebswirtschaftliche Methode wird im Folgenden die Kundenwertanalyse erörtert, mit deren Hilfe die Profitabilität bestehender und das Umsatzpotenzial aktueller und zukünftiger Kunden bestimmt werden können. Fragen der Marketingorganisation beziehen sich schließlich auf das erforderliche Organisationssystem, das zur Durchsetzung einer marktorientierten Unternehmensführung entwickelt werden muss. Hierbei geht es sowohl um die Integration der Marketingaufgaben in die Aufbau- und Ablauforganisation eines Unternehmens als auch um die Koordination aller marketingrele- 271 Modifiziert nach Homburg (2017, S. 15). <?page no="222"?> 222 4 Marketing und Vertrieb vanten Bereiche wie Marktforschung, Produktentwicklung, Preisgestaltung oder Verkaufsförderung. Die organisatorische, prozessuale und personale Perspektive und die entsprechenden betriebswirtschaftlichen Methoden stehen im Mittelpunkt der Kapitel 7 und 8. <?page no="223"?> 4 4.1 4P des Marketings Problemstellung: Überprüfung bestehender und Entwicklung neuer Marketingmaßnahmen in den Bereichen Produkt, Preis, Vertrieb und Kommunikation Zielgruppe: Marketing- und Vertriebsverantwortliche, Produktmanager, Preismanager, Vertriebsmanager, Kommunikationsverantwortliche Voraussetzungen: Vorliegen einer definierten Unternehmens- und Marketingstrategie und daraus abgeleiteter Marketingziele sowie zusammenhängende Betrachtung und Gestaltung der vier Dimensionen Zielsetzung der 4P des Marketings Eine wohl durchdachte Marketingkonzeption befasst sich nicht nur mit den Erwartungen, Präferenzen und Anforderungen der Kunden, sondern auch mit den Wettbewerbern 272 und den unternehmensspezifischen Erfolgsfaktoren. Die im Rahmen der Marktforschung analysierten unternehmensexternen und unternehmensinternen Aspekte dienen als Informationsbasis für Entscheidungen über Marketingziele und Marketingstrategien, die schließlich mit Programmen umgesetzt werden. Dabei kommen Marketinginstrumente zum Einsatz, die der Gestaltung von Märkten beziehungsweise der Einflussnahme auf Märkten dienen. Die inhaltlich, zeitlich und räumlich aufeinander abzustimmenden Instrumente werden im Rahmen des Konsumgütermarketings in vier Bereiche - in die so genannten 4P - eingeteilt. 273 Diese bilden die Hauptelemente des Marketingmix, mit dessen Hilfe ein attraktives Angebot für aktuelle oder potenzielle Kunden erstellt wird. Die vier Instrumente des Marketingmix sind Product, Price, Place und Promotion, die im deutschsprachigen Kontext als Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitik bezeichnet werden. 274 Neben diesen 4P sind in den vergangenen Jahren weitere Instrumente entstanden, die vor allem im Dienstleistungsmarketing eine wichtige Rolle spielen. Insofern wird im Dienstleistungsbereich recht häufig eine Erweiterung des Marketingmix um folgende Komponenten vorgenommen: People, Processes und Physical Facilities, die auch mit den Begriffen Personalpolitik, Prozesspolitik und Ausstattungspolitik gekennzeichnet werden. Mit dem 7P-Ansatz wird den konstitutiven Merkmalen von Dienstleistungen 272 Trout (2004, S. 62) spricht in diesem Zusammenhang von „Marketing als Kriegsführung“ und weist darauf hin, dass viele Unternehmen die Kundenorientierung überbetonen und gleichzeitig den Blick auf die Konkurrenz vernachlässigen. 273 Der entsprechende Systematisierungsvorschlag geht auf McCarthy (1960) zurück. Siehe im Überblick zum Beispiel Becker (2018), Bruhn (2019), Homburg (2017), Kotler, Keller & Opresnik (2017), Meffert, Burmann, Kirchgeorg & Eisenbeiß (2019) und Sander (2011). 274 Vergleiche Meffert, Burmann & Kirchgeorg (2012, S. 22). 4.1 4P des Marketings 223 <?page no="224"?> 224 4 Marketing und Vertrieb Rechnung getragen wie der Immaterialität und Nichtlagerfähigkeit sowie der Kundenbeteiligung bei der Dienstleistungserstellung. 275 Im Sinne einer betriebswirtschaftlichen Methode dienen die im Folgenden näher beschriebenen 4P des Marketings zur Überprüfung bestehender und zur Konzipierung neuer Marketingmaßnahmen - insbesondere mit Blick auf die Faktoren Vollständigkeit, Konsistenz und inhaltliche Stimmigkeit. 276 Beschreibung der 4P des Marketings Das zentrale Element des Marketingmix ist das Produkt, also das konkrete, materielle oder immaterielle Angebot eines Unternehmens auf dem Markt. Die Produktpolitik umfasst alle Maßnahmen, die dem Aufbau, der Erhaltung und der Veränderung des Produktangebotes dienen. Insofern sind produktpolitische Entscheidungen in den Bereichen Produktinnovation, Produktvariation, Produktdifferenzierung und Produkteliminierung sowie mit Blick auf das Management von Marken zu treffen. Für die Existenz und die erfolgreiche Entwicklung eines Unternehmens ist die kunden- und konkurrenzorientierte Zusammensetzung des Angebotsprogramms von großer Wichtigkeit. Zudem haben sich die anderen Teilbereiche des Marketingmix an den im Absatzmarkt angebotenen Leistungen des Unternehmens zu orientieren. Preis-, Vertriebs- oder Kommunikationsentscheidungen sind nicht isoliert, sondern auf der Basis der mit dem Produkt verbundenen Nutzenversprechen und mit Blick auf die Erklärungsbedürftigkeit oder die Emotionalisierbarkeit des Produktes zu treffen. 277 Demnach erscheint es berechtigt, „die Produktpolitik als das Herz des Marketings zu bezeichnen“ 278 . Im Mittelpunkt der Preispolitik stehen Entscheidungen, die das zu entrichtende Entgelt für ein Produkt und mögliche Preisdifferenzierungen sowie Rabatte und Kredite umfassen. Grundsätzlich stellt der Preis ein vom Kunden zu erbringendes Opfer dar, das in Relation zur Produktleistung beziehungsweise dem damit verbundenen Nutzen gesetzt wird. Insofern ist der Preis eines Produktes nicht der einzige kaufentscheidende Faktor, sondern nur ein Element im Rahmen von Kosten-Nutzen-Vergleichen des Kunden. 279 Das Preismanagement ist eine vielfach vernachlässigte, aber zunehmend wichtiger werdende Kompetenz eines Unternehmens, da Preise mit Blick auf die Profitabilität einen bedeutsamen Stellhebel darstellen. 280 Letzteres trifft auch für Kosten zu. Die Unternehmenspraxis zeigt jedoch, dass Kosten über verschiedene Maßnahmen in den vergangenen Jahren - zum Teil mit Hilfe von Unternehmensberatern - optimiert wurden, während bei der Bestimmung und Festsetzung von Preisen häufig noch antiquierte Verfahren zum Einsatz kommen und potenzielle Margen verschenkt werden. 275 Vergleiche Meffert & Bruhn (2009, S. 243 f) und Pepels (2012, S. 1151 ff). 276 Vergleiche Schawel & Billing (2011, S. 218). 277 Vergleiche Homburg (2012b, S. 539 ff). 278 Froböse & Kaapke (2000, S. 171). 279 Vergleiche Kirsch & Müllerschön (2009, S. 155). 280 Vergleiche Rathnow (2010, S. 201). <?page no="225"?> 4.1 4P des Marketings 225 4 Ziel der Vertriebspolitik ist es, die Produkte eines Unternehmens im Markt, das heißt, am Ort und zum Zeitpunkt der Nachfrage, in der gewünschten Qualität und Menge zu angemessenen Konditionen verfügbar zu machen. Um dies zu gewährleisten, müssen zahlreiche Entscheidungen getroffen werden wie die Wahl der Vertriebskanäle und Vertriebspartner oder die Gestaltung der Marketinglogistik. Letzteres wird auch als physische Distribution bezeichnet und bezieht sich auf den Transfer der Güter vom Produzenten zum Konsumenten. 281 Im Unterschied zu preispolitischen Entscheidungen können vertriebspolitische Maßnahmen in der Regel nicht kurzfristig geändert werden, da die Beziehungen zu Vertriebspartnern und so genannten Key Accounts häufig strategischer Natur sind. Abbildung 101: Das marketingpolitische Instrumentarium Nachdem die Produkte konzipiert und produziert, Preise festgelegt und Vertriebsaktivitäten definiert wurden, kommt es nun darauf an, die Vorzüge der eigenen Leistung aktuellen und potenziellen Abnehmern bekannt zu machen. Dies geschieht im Rahmen der vierten Komponente des Marketingmix - der Kommunikationspolitik. Die auf den Markt gerichteten Botschaften sollen jedoch nicht nur informieren, sondern auch den Kaufprozess und die damit verbundenen Werte, Einstellungen und Präferenzen der Kunden zielgerichtet beeinflussen. Hierzu wird auf traditionelle Instrumente wie Werbung, Verkaufsförderung oder Öffentlichkeitsarbeit, aber auch auf neuere Formen wie Sponsoring, Product Placement oder Direktmarketing zurückgegriffen. 282 Die beschriebenen Elemente des Marketingmix sind in Abbildung 101 überblicksartig dargestellt und werden im Folgenden näher spezifiziert. 281 Vergleiche Homburg (2012b, S. 540) und Kirsch & Müllerschön (2009, S. 162). 282 Vergleiche Bruhn (2013a) und Schweiger & Schrattenecker (2009, S. 115 ff). <?page no="226"?> 226 4 Marketing und Vertrieb Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die operative Marketinggestaltung und Marketingumsetzung erfolgt im Anschluss an die strategische Unternehmens- und Marketingplanung und die daraus abgeleiteten Marketingziele. Orientiert an diesen Zielen und den Bedürfnissen der Kunden wird das Angebot im Rahmen der Produktpolitik gestaltet. Dabei sind zunächst Fragen nach der Marktpräsenz zu klären: Sollen neue Produkte entwickelt und in den Markt eingeführt werden, oder besteht die Notwendigkeit, etablierte Produkte zu variieren und zu differenzieren oder aufgrund rückläufiger oder negativer Deckungsbeiträge aus dem Produktprogramm zu eliminieren? Sofern eine Neuproduktentwicklung und Neuprodukteinführung geplant ist, kann auf etablierte Methoden des Innovationsmanagements zurückgegriffen werden. Zur Generierung von Ideen liegen eine Reihe von Kreativitätstechniken wie Brainstorming oder Brainwriting vor, während sich für eine Konkretisierung von Produktideen zum Beispiel die Conjoint-Analyse eignet. Steht im Mittelpunkt der Überlegungen zur Marktpräsenz die Anpassung des Angebotes, um beispielsweise mehr Kundennutzen zu stiften, kann zwischen Produktvariation, Produktdifferenzierung und Produkteliminierung unterschieden werden. Dabei werden entweder auf dem Markt etablierte Produkte unter Beibehaltung der Grundfunktionen verändert oder um verschiedene Ausführungsvarianten ergänzt. Im Gegensatz zur Produktvariation und Produktdifferenzierung werden bei der Produkteliminierung Produkte aus dem Markt genommen, die sich zum Beispiel am Ende des Produktlebenszyklus befinden oder sich als Flop erwiesen haben. Im Anschluss an die Entscheidungen zur Marktpräsenz ist zu bestimmen, wie die Produktgestaltung erfolgen soll. Diese umfasst insbesondere die Aspekte Qualität, Design, Verpackung und Markierung. Letztere zielt als Maßnahme der Markenpolitik darauf, durch die Verwendung von Wort- oder Bildmarken das Produkt unverwechselbar zu machen. Zudem ist bei der Produktgestaltung zu berücksichtigen, welchen Kernnutzen das Produkt bietet und wie dieser durch Zusatzeigenschaften aufgeladen werden kann, um ein Alleinstellungsmerkmal beziehungsweise eine Unique Selling Proposition - häufig mit USP abgekürzt - aufzubauen. 283 In Abstimmung mit den produktpolitischen Entscheidungen erfolgen die Preisfindung und die Gestaltung des Rabatt- und Bonussystems. Grundsätzlich sind die Marktform und die Marktbedingungen, die in einer Volkswirtschaft vorherrschen, maßgebend für die Preisbildung. Zudem ist die Wahl der Preisstrategie nicht autonom, sondern in Abhängigkeit von der Positionierung des entsprechenden Produktes zu treffen. Eine Promotionspreispolitik wird man für Massen- oder Standardprodukte verfolgen, die prinzipiell austauschbar sind und bei deren Kauf ein niedriger Preis der entscheidende Faktor ist. Bei der Wahl dieser Strategie besteht die Gefahr, dass Qualitätsirradiationen auftreten. Das heißt, der Käufer wird auf der Grundlage eines niedrigen Preises auf eine gleichermaßen niedrige Qualität schließen. 284 Insofern ist sicherzustellen, dass die Qualität der Produkte überprüfbar ist beziehungsweise mit Hilfe von Zertifikaten und Gütesiegeln bestätigt wird. Für Produkte mit einem überdurchschnittlichen 283 Vergleiche Homburg (2012b, S. 544 ff). 284 Zu Irradiationseffekten siehe Wiswede (2012, S. 287). <?page no="227"?> 4.1 4P des Marketings 227 4 Image und Qualitätsniveau kann eine Prämienpreispolitik gewählt werden, die durch dauerhaft hohe Preise gekennzeichnet ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der gesamte Marketingmix auf die Hochpreisstrategie abgestimmt werden muss, um Kunden ein kohärentes Bild zu vermitteln. Dies geschieht beispielsweise durch spezielle Werbeaktivitäten und Vertriebsmaßnahmen oder einen exklusiven Service. Weitere preisstrategische Alternativen beziehen sich auf die Frage, wie die Preise im Zeitablauf angepasst werden. Hierbei wird zwischen einer Abschöpfungsbeziehungsweise Skimmingstrategie und einer Durchsetzungsbeziehungsweise Penetrationsstrategie unterschieden. Das Skimming ist durch einen hohen Markteinführungspreis gekennzeichnet, um einen möglichst großen Teil der Konsumentenrente abzuschöpfen, bevor die Preise gesenkt und weitere Kundengruppen erschlossen werden. Demgegenüber wird mit der Penetrationsstrategie das Ziel verfolgt, Märkte mit zunächst niedrigen Preisen zu adressieren, um Marktanteile zu gewinnen. Neben diesen Preisabfolgestrategien und den oben skizzierten Preispositionierungsstrategien können noch Preisdifferenzierungsstrategien unterschieden werden. So ist beispielsweise festzulegen, ob Preise in Abhängigkeit vom Verkaufsort und Verkaufszeitpunkt oder mit Blick auf demografische Aspekte variieren sollen. Im Rahmen dieser Überlegungen steht ebenfalls das Kalkül im Mittelpunkt, unterschiedliche Zahlungsbereitschaften auszunutzen und möglichst maximale Gewinnpotenziale abzuschöpfen. 285 Zur Bestimmung des optimalen Vertriebsmix ist zunächst die Frage zu klären, ob unternehmensinterne oder unternehmensexterne Organe den Vertrieb übernehmen sollen. Unternehmensinterne Vertriebsorgane sind der aus eigenen Mitarbeitern bestehende Außen- und Innendienst, während unternehmensexterne Vertriebsorgane Vertragshändler und Franchisepartner oder Absatzhelfer und Absatzmittler sein können. Die Entscheidung für einen direkten oder indirekten Absatzweg ist an verschiedene Voraussetzungen der jeweiligen Branche und der berücksichtigen Produkte gekoppelt. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass Industriegüter typischerweise direkt und Konsumgüter zumeist indirekt vertrieben werden. 286 Neben der Festlegung der Vertriebsorgane und Vertriebswege ist zu entscheiden, ob, inwieweit und in welchen Bereichen mit Vertriebspartnern kooperiert werden soll. Schließlich ist die Vertriebsbeziehungsweise Marketinglogistik zu definieren, in deren Mittelpunkt Fragen der Absatzlagergestaltung und des Transportes stehen. Die entsprechenden Entscheidungen sind insofern von großer Relevanz, als sie die Liefer- und Servicebereitschaft eines Unternehmens maßgeblich bestimmen. 287 In Zeiten gesättigter Märkte und zunehmend homogener Produkte kommt den kommunikationspolitischen Maßnahmen eine immer größere Bedeutung zu. Die gestiegene Relevanz ist unter anderem ablesbar an den Werbeinvestitionen und den Daten zur Werbedynamik. 288 Mit Fragen der Mittelbereitstellung startet auch der kommunikationspolitische Planungsprozess, nachdem die entsprechenden Ziele und Zielgrup- 285 Vergleiche Homburg (2012b, S. 650 ff). 286 Zu den Besonderheiten des Industriegütermarketing siehe Kuhn & Zajontz (2011). 287 Vergleiche Homburg (2012b, S. 848 ff) und Homburg, Schäfer & Schneider (2010, S. 49 ff). 288 Siehe im Detail Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (2018a und 2018b). <?page no="228"?> 228 4 Marketing und Vertrieb pen definiert wurden. Daran anknüpfend wird der Kommunikationsauftritt gestaltet, der Kunden nicht nur aktivieren und interessieren, sondern zum Kauf animieren soll. Hierzu liegen zahlreiche Instrumente vor, die mit Blick auf die jeweils verfolgten Ziele auszuwählen sind und eine effiziente Ansprache der Zielgruppe ohne signifikante Streuverluste gestatten sollen. Schließlich sind Kennzahlen zur Erfolgsmessung der geplanten Maßnahmen zu entwickeln, um nach erfolgreicher Umsetzung die eingetretenen Effekte bestimmen zu können. Eine zielgerichtete Evaluation kann in Zeiten knapper Budgets wichtige Hinweise liefern, wie die Mittel mit dem größtmöglichen Nutzen eingesetzt werden können. 289 Weiterführende Hinweise Ob ein gewählter Marketingmix zum Erfolg führt oder nicht, entscheiden die Kunden und deren Wahrnehmung der Chancen und Risiken, die mit einem Produkt oder einer Dienstleistung verbunden sind. Insofern sollten sich Unternehmen als kundenschaffende und Kundenwünsche befriedigende Organisationen betrachten und nicht als Hersteller von Produkten. Zudem erscheint es erforderlich, die getroffenen Marketingentscheidungen in regelmäßigen Abständen durch Ergebniskontrollen hinsichtlich Sinnhaftigkeit und Zielführung zu prüfen, um bei Soll-Ist-Abweichungen neue Strategien festzulegen und verbesserte Maßnahmen zu ergreifen. Nur so können Unternehmen dauerhaft am Markt erfolgreich agieren. 289 Vergleiche Homburg (2012b, S. 746 ff) und im Überblick Bruhn (2018). <?page no="229"?> 4 4.2 Kundenanalyse Problemstellung: Identifizierung und Gruppierung potenzieller Kunden und Auswahl geeigneter Kundensegmente zur spezifischen Marktbearbeitung Zielgruppe: Marketing- und Vertriebsverantwortliche, Produktmanager, Produktentwickler, Preismanager, Kommunikationsverantwortliche Voraussetzungen: Beschaffung von Markt-, Kunden-, Wettbewerbs- und Unternehmensdaten auf der Basis von Primär- und Sekundäranalysen Zielsetzung der Kundenanalyse Die beschriebenen Elemente des Marketingmix - die Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitik - können einheitlich, das heißt zielgruppenübergreifend gestaltet werden. Dabei würde man von der Annahme ausgehen, dass Konsumenten durch vergleichbare Anforderungen, Präferenzen und Verhaltensweisen charakterisiert sind und demnach undifferenziert behandelt werden können. Gleichwohl sind die meisten Branchen durch heterogene Zielgruppen gekennzeichnet, die jeweils typische Motiv- und Konsumstrukturen aufweisen. Daraus resultiert die Notwendigkeit, den gesamten Marketingmix nicht standardisiert, sondern zielgruppenspezifisch auszurichten, um Unternehmen zum Erfolg zu führen. Für eine zielgruppenspezifische Gestaltung ist es erforderlich, die Kunden zu identifizieren und in homogene Gruppen einzuteilen, bevor diese mit differenzierten Angeboten angesprochen werden können. Dieses Ziel verfolgt die Kundenanalyse. Sie bildet den Ausgangspunkt aller Marketing- und Vertriebsaktivitäten und ist Voraussetzung für die erfolgreiche Positionierung von Unternehmen, Geschäftseinheiten, Produkten oder Marken. Eine systematische Positionierung erscheint insofern wichtig, als Marketing nicht nur ein Wettstreit der Produkte, sondern auch ein Wettstreit der Wahrnehmungen ist. Demnach ist nicht alleinentscheidend, der Beste auf dem Markt, sondern vielmehr „der Erste im Kopf der Verbraucher zu sein“ 290 . Beschreibung der Kundenanalyse Im Rahmen der Kundenanalyse werden folgende drei Fragen geklärt: Welche Zielgruppen können und wollen wir erreichen? Welche Kundensegmente sind die attraktivsten? Welche Kundengruppen sollen im Fokus unserer Marketingaktivitäten stehen? Die Beantwortung dieser drei Fragen steht im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen, während die Frage nach dem gezielten Einsatz der Marketinginstrumente für ein ausgewähltes Kundensegment ausgeklammert bleibt. Diese Frage fällt in den Bereich der Kundensegmentbearbeitung und nicht in jenen der Kundenanalyse. 290 Ries & Ries (2003, S. 369). Siehe auch Ries & Trout (2001, 2012). 4.2 Kundenanalyse 229 <?page no="230"?> 230 4 Marketing und Vertrieb Zur Beantwortung der ersten Frage - „Welche Zielgruppen können und wollen wir erreichen? “ -, ist zunächst eine Marktabgrenzung vorzunehmen. Das heißt, es ist der relevante Markt zu bestimmen, der mit Marketingaktivitäten bearbeitet werden soll. Hierzu können verschiedene Abgrenzungsmerkmale herangezogen werden wie der sachliche oder emotionale Nutzen eines Produktes, die Bedürfnisse und Wünsche von Kunden oder das Volumen und Risiko eines Marktes. Die Festlegung des relevanten Marktes auf der Basis der genannten Kriterien bildet die Grundlage für eine systematische Betrachtung der Kundengruppen. Dabei werden nicht nur ökonomische, sondern auch psychologische und demografische Merkmale mit dem Ziel berücksichtigt, die Gesamtheit der Kunden des relevanten Marktes in Gruppen einzuteilen und diese möglichst präzise zu beschreiben. Dies ist erforderlich, um im Anschluss an die Kundenanalyse die einzelnen Marketinginstrumente passgenau auszuwählen. Insofern sind die aktuellen und potenziellen Kunden so zu gruppieren, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gruppe möglichst gering sind, während die Unterschiede zwischen den Gruppen möglichst groß sein sollten. Anders ausgedrückt: Innerhalb einer Gruppe sollten zum Beispiel die Kaufeinstellungen und Konsumgewohnheiten sehr ähnlich sein, sich jedoch deutlich von den Kaufeinstellungen und Konsumgewohnheiten anderer Gruppen unterscheiden. Zur Bildung homogener Segmente, die untereinander möglichst heterogen sein sollten, können die in Abbildung 102 dargestellten Kriterien herangezogen werden. 291 Abbildung 102: Beispielhafte Segmentierungskriterien 292 Bei der Auswahl der für die Kundensegmentierung berücksichtigten Kriterien ist darauf zu achten, dass diese die folgenden methodischen Anforderungen erfüllen: 293 291 Vergleiche Kotler, Armstrong, Wong & Saunders (2011, S. 453). 292 Vergleiche Bruhn (2010, S. 60) und Homburg (2012a, S. 138). 293 Vergleiche Kuß & Tomczak (2007, S. 94) und Meffert, Burmann & Kirchgeorg (2012, S. 194). <?page no="231"?> 4.2 Kundenanalyse 231 4 Kaufverhaltensrelevanz: Die berücksichtigten Kriterien sollten in einem direkten Zusammenhang mit dem aktuellen oder zukünftigen Kaufverhalten stehen. Operationalisierbarkeit: Es sollten Kriterien ausgewählt werden, deren Messbarmachung möglich ist. Zeitliche Stabilität: Die Segmente sollten auf der Basis von Kriterien gebildet werden, die im Zeitablauf eine gewisse Konstanz aufweisen. Ansprechbarkeit: Die Kriterien sollten zu Segmenten führen, deren Mitglieder man prinzipiell erreichen und differenziert ansprechen kann. Wirtschaftlichkeit: Es sollten Kriterien zur Gruppenbildung herangezogen werden, die dazu beitragen, dass der Segmentierungsaufwand in einem sinnvollen Verhältnis zum Segmentierungsnutzen steht. Die Kundensegmentierung offenbart Chancen und Risiken für Unternehmen und zeigt auf, welche Möglichkeiten für standardisierte oder differenzierte Angebote existieren. Daran anknüpfend ist die Frage zu beantworten, welche Kundensegmente die attraktivsten sind und welche bearbeitet werden sollen. Bei der Bewertung und Auswahl der Segmente werden Kriterien wie Segmentgröße, Segmentpotenzial und Segmentwachstum sowie die Wettbewerbssituation, mögliche Synergieeffekte und die Zielsetzungen des Unternehmens berücksichtigt. Auf dieser Basis werden Zielkunden definiert, und es wird die dritte Frage der Kundenanalyse beantwortet und bestimmt, ob einzelne Kundengruppen in den Mittelpunkt der Marketingaktivitäten gerückt werden sollen, oder ob ein Angebot für den gesamten relevanten Markt unterbreitet wird. Bei einer differenzierten Vorgehensweise werden für die als attraktiv eingestuften Kundensegmente spezielle Programme beziehungsweise ein spezieller Marketingmix entwickelt. Demgegenüber ist eine undifferenzierte Kunden- und Marktbearbeitung dadurch gekennzeichnet, dass die Differenzen zwischen den einzelnen Zielsegmenten unberücksichtigt bleiben und Unternehmen ein standardisiertes Angebot vorlegen. Welche Vorgehensweise gewählt werden sollte, kann nicht grundsätzlich entschieden werden. Beide Strategien weisen Vor- und Nachteile auf, die im Einzelfall gegeneinander abzuwägen sind. So können bei einer differenzierten Marktbearbeitung in der Regel höhere Gesamtumsätze erzielt werden. Gleichwohl entstehen durch eine größere Produkt-, Service- und Vertriebsvielfalt auch höhere Kosten. Das Gegenteil ist bei der undifferenzierten Marktbearbeitung der Fall, die sich mit Blick auf die Kosten als vergleichsweise effizient erweist. Allerdings ist die Frage zu stellen, ob große Kundensegmente tatsächlich derart homogen sein können, dass ein standardisierter Marketingmix geeignet ist. 294 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Eine Kundenanalyse wird immer dann durchgeführt, wenn Unternehmen Informationen für Marketingentscheidungen benötigen. Dabei werden in einem ersten Schritt Segmentierungskriterien ausgewählt, mit deren Hilfe die aktuellen und potenziellen 294 Vergleiche Kotler, Keller & Bliemel (2008, S. 387 ff) und Runia, Wahl, Geyer & Thewißen (2011, S. 121 f). <?page no="232"?> 232 4 Marketing und Vertrieb Kunden in Gruppen unterteilt werden. Die Segmentierung in trennscharfe Gruppen wird allerdings immer schwieriger, da der „hybride Konsument“ 295 kaum noch präzise gefasst werden kann. Auf der Basis gesamtgesellschaftlicher Verschiebungen hat sich der typische Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Verortung, Habitus, Geschmack, Lebensstil und Kaufverhalten zunehmend aufgelöst, da insbesondere in den durch Bildungsexpansion und Wohlstandsanstieg breiter gewordenen Mittelschichten bislang als inkompatibel eingestufte Konsumkombinationen Realität geworden sind. Die Tatsache, dass Oper und Fußball, KaDeWe und Aldi oder Hugo Boss und C&A nicht mehr länger Gegensatzpaare, sondern die beiden Seiten derselben Medaille darstellen, kann mit dem Begriff der „Allesfresser-Hypothese“ 296 umschrieben werden. Damit wird angezeigt, dass immer mehr Bevölkerungsgruppen immer häufiger verschiedenartige Güter kombinieren. Lebens- und Konsumstile vermischen sich und die Grenzen verschwimmen, indem man sich beispielsweise nachmittags bei Currywurst und Pommes „cheap and common“ 297 gibt, jedoch abends im Sternerestaurant in die Welt der Schönen und Reichen abtaucht. 298 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, sind Segmentierungsvariablen mit Blick auf die bereits erwähnten methodischen Anforderungen zum Beispiel im Rahmen von Workshops und Experteninterviews auszuwählen und entsprechende empirische Daten zu erheben. Diese werden einer Clusteranalyse unterzogen, um homogene Zielsegmente zu erhalten. 299 Die einzelnen Cluster, die durch spezifische Merkmalskombinationen gekennzeichnet sind, werden in einem weiteren Schritt hinsichtlich der vorherrschenden Präferenzen, Werthaltungen und Anforderungen analysiert. Hierbei können verschiedene Methoden wie die Conjoint-, Means-End- oder Kano-Analyse zum Einsatz kommen, die in den Kapiteln 4.4, 4.5 und 4.6 ausführlich diskutiert werden. Darüber hinaus sind weitere Fragen an die Cluster zu richten, um in Erfahrung zu bringen, wie der Kaufprozess abläuft, wer diesen beeinflusst oder wer über den Kaufabschluss entscheidet. Informationsquellen können der Vertrieb oder das Key Account Management und Kundenbefragungen sein. Vor der Auswahl der lohnenden Kundensegmente werden deren Attraktivität und Eignung zum Beispiel anhand des Absatzpotenzials und des Segmentwachstums bewertet. Zudem werden der tatsächliche und der empfundene Kundennutzen eines Produktes oder einer Dienstleistung je Segment im Rahmen von empirischen Studien analysiert, um eine Einschätzung zu erhalten, in welcher Kundengruppe welche Art von Nutzen in welcher Höhe gestiftet wird. Auf der Basis von Wettbewerbsanalysen wird schließlich ermittelt, in welchen Segmenten vergleichsweise geringe Konkurrenz vorherrscht und in welchen der Wettbewerb sehr intensiv ist. Abbildung 103 illustriert den beschriebenen Segmentierungsprozess, an dessen Ende die Auswahl der Zielsegmente steht. Die Festlegung der Kundencluster ergibt sich 295 Holland (2009, S. 139). 296 Hartmann (1999, S. 128). 297 Neckel (1998, S. 210). 298 Zur Pluralisierung der Lebensstile und Lebensläufe vergleiche Nagel (2003, S. 91). 299 Vergleiche Bortz & Schuster (2010, S. 453). <?page no="233"?> 4.2 Kundenanalyse 233 4 durch eine integrative Betrachtung der einzelnen Prozessschritte. Das heißt, Entscheidungen für oder gegen die Bearbeitung eines Kundensegmentes werden nicht auf der Basis einer einzelnen Analyse getroffen. Segmente können zum Beispiel ein großes Absatzpotenzial und geringen Wettbewerb aufweisen und sich dennoch nicht für zielgerichtete Marketingmaßnahmen eignen. Andererseits müssen Cluster mit geringem Potenzial und Wachstum, aber intensivem Wettbewerb nicht zwingend unberücksichtigt bleiben. Entscheidend für eine geeignete Segmentauswahl ist vielmehr eine kombinierte Berücksichtigung der Kundenspezifika, der Segmentgröße, des Kundennutzens und der Wettbewerbssituation. 300 Abbildung 103: Prozess der Markt- und Kundensegmentierung Sind die Zielsegmente definiert, ist abschließend festzulegen, ob sich ein Unternehmen - zum Beispiel aufgrund begrenzter ökonomischer und personeller Ressourcen oder auf der Grundlage spezifischer Positionierungsüberlegungen - auf ein einzelnes Segment konzentrieren sollte. Die Strategie der Konzentration auf eine bestimmte Kundengruppe bietet den Vorteil, dass Arbeitsabläufe aufgrund der Spezialisierung effizient gestaltet und exklusive Kundenbeziehungen aufgebaut werden können. Nachteilig wirkt sich die Fokussierung auf eine Zielgruppe aus, wenn Kunden ihre Präferenzen ändern oder aufgrund neuer Technologien zu alternativen Produkten abwandern. Eine partielle Spezialisierung gleicht durch eine Bearbeitung mehrerer Zielsegmente diese Nachteile und die damit verbundenen Risiken aus. Der Wegfall einer Kundengruppe kann in diesem Fall durch die anderen kompensiert werden. Unternehmen haben auch die Möglichkeit, die Strategie der Produktspezialisierung zu verfolgen. Hierbei konzentrieren sich Anbieter auf die Vermarktung eines einzelnen Produktes an heterogene Zielgruppen. Schließlich können Unternehmen einen Markt und die entsprechenden Segmente auch zur Gänze abdecken, indem sie ihr marketingpolitisches Instrumentarium differenziert oder undifferenziert ausgestalten. 301 300 Vergleiche Kotler, Keller & Bliemel (2008, S. 387 ff). 301 Vergleiche Kotler, Keller & Bliemel (2008, S. 388). <?page no="234"?> 234 4 Marketing und Vertrieb Weiterführende Hinweise Eine Quelle nachhaltiger Wettbewerbsvorteile liegt in der Fähigkeit eines Unternehmens, seine Kunden genau zu kennen und die Angebote zielgruppenorientiert anzubieten. Zielgruppenorientierung bedeutet dabei, die optimale Anzahl an Kundengruppen effizient und anforderungsgerecht zu bearbeiten und nicht den Fehler einer „Übersegmentierung“ oder einer „Überkonzentration“ zu begehen. 302 Denn sowohl eine zu feine Untergliederung des Marktes als auch eine zu enge Ausrichtung des Marketingprogramms an zu wenigen Kunden birgt Risiken mit Blick auf die Profitabilität und die langfristige Überlebenssicherung eines Unternehmens. Eine entsprechende Balance ist demnach anzustreben. Hierbei bietet die Kundenanalyse und die damit verknüpften, weitergehenden Methoden zahlreiche Anhaltspunkte und Hilfestellungen, indem Kunden identifiziert, analysiert und gruppiert werden, bevor eine Festlegung der Wettbewerbsposition und des Leistungsprogramms erfolgt. 302 Lippold (2012, S. 81). <?page no="235"?> 4 4.3 Kundenwertanalyse Problemstellung: Bestimmung der Bedeutung aktueller und zukünftiger Kunden für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens Zielgruppe: Marketing- und Vertriebscontroller, Produktmanager, CRM-Verantwortliche, Vertriebsmitarbeiter, Key Account Manager Voraussetzungen: Präzise, zeitnahe und gut strukturierte Umsatz-, Deckungsbeitrags-, Kosten- und Potenzialinformationen je Kunde Zielsetzung der Kundenwertanalyse Das Konzept der marktorientierten Unternehmensführung 303 rückt den Kunden in den Mittelpunkt marketingstrategischer und marketingpolitischer Entscheidungen. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass der Kunde ein zentraler Erfolgsfaktor sei, da dieser mit seiner Entscheidung für oder gegen den Kauf einer Leistung den Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens maßgeblich bestimmt. Die Bedeutung der Kunden für den Unternehmenserfolg stellt keine neue Erkenntnis dar, sondern wurde bereits in zahlreichen Studien belegt. 304 Gleichwohl hängt das Wohl und Wehe eines Unternehmens nicht von einer möglichst großen Anzahl an Kunden, sondern von den richtigen Kunden ab. Demnach ist nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität entscheidend. An diesem Punkt setzt die Kundenwertanalyse an, die ursprünglich von Banken und Versicherungen zur Messung des Wertes von Kunden verwendet wurde. Mittlerweile zählen Kundenwertberechnungen als Bestandteil des Customer Relationship Managements - in der Regel mit CRM abgekürzt - in nahezu allen Branchen zum Methodenrepertoire von Produkt- oder Marketingmanagern. Ziel der Kundenwertanalyse ist die Bestimmung der Profitabilität bestehender und des Umsatzpotenzials aktueller und zukünftiger Kunden. Insofern dient die Methode sowohl der Berechnung des gegenwärtigen als auch des zukünftigen Kundenwertes. Dabei werden verschiedene Bestimmungsfaktoren berücksichtigt, die in monetäre und nicht-monetäre unterteilt werden können. Erstere umfassen Aspekte wie Umsätze, Deckungsbeiträge oder Kosten, während nicht-monetäre Determinanten des Kundenwertes zum Beispiel Entwicklungs-, Referenz- oder Kooperationspotenziale darstellen. Bei den letztgenannten, vor allem im Business-to-Business-Bereich berücksichtigten Kriterien handelt es sich um Potenzialmerkmale. Das heißt, es werden nicht bereits realisierte, sondern in Zukunft erwartete Wertbeiträge in den Blick genommen. Von Entwicklungspotenzialen ist die Rede, wenn von einem Kunden erwartet wird, dass dieser auf seinen bestehenden Absatzmärkten weiterwachsen und neue Märkte erschließen kann. Referenzpotenziale umfassen die Möglichkeiten eines Kunden, Weiterempfehlungen auszu- 303 Siehe zum Beispiel Homburg (2017), Meffert, Burmann, Kirchgeorg & Eisenbeiß (2019) oder Winkelmann (2013). 304 Bereits in den 1980er-Jahren haben sich Peters & Waterman (1982) auf die Suche nach den Gründen für unternehmerische Spitzenleistungen gemacht und die Wichtigkeit der Kunden herausgestellt. Siehe im Überblick auch Helm, Günter & Eggert (2017). 4.3 Kundenwertanalyse 235 <?page no="236"?> 236 4 Marketing und Vertrieb sprechen und diese breit zu streuen. Kunden weisen schließlich Kooperationspotenziale auf, wenn sie bereit und in der Lage sind, mit einem Hersteller zusammenzuarbeiten, um beispielsweise Synergien zu realisieren oder Innovationen anzustoßen. 305 Beschreibung der Kundenwertanalyse Zur Generierung von profitablem Wachstum ist es erforderlich, Kunden als Ertrags- und Kostentreiber zu betrachten, die mit Blick auf ihre jeweiligen Erfolgsbeiträge differenziert ausgewählt und behandelt werden sollten. Das heißt, nicht jeder Kunde ist es wert, akquiriert oder gebunden zu werden, und nicht allen Kunden ist ein identischer Service zu gewähren. Kundenwertanalysen geben zuverlässige und unverzichtbare Antworten auf die Frage nach den richtigen Kunden und schaffen die notwendigen Voraussetzungen für eine zielgruppenspezifische Gestaltung des Marketingmix. Zur Ermittlung des Kundenwertes stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung, die isoliert oder kombiniert angewendet werden können: Mit Hilfe der ABC-Analyse werden Kunden unter Berücksichtigung des Umsatzes oder des Deckungsbeitrages in Klassen eingeteilt. Die in den 1950er-Jahren entwickelte und auf der Pareto-Regel aufbauende Analyse unterscheidet Kunden gemäß ihrem Wertanteil in A-, B- und C-Kunden. Typischerweise zeigt sich dabei, dass A-Kunden 70 Prozent des Umsatzes generieren, obgleich sie nur 20 Prozent aller Kunden ausmachen. B-Kunden stehen für 25 Prozent des Umsatzes, während sie etwa 30 Prozent aller Kunden repräsentieren. Die verbleibenden 50 Prozent der Kunden erbringen schließlich nur 5 Prozent des Umsatzes. Die Analyse veranschaulicht, welche Kunden wirtschaftlich wichtig und welche weniger wichtig sind. Diese Erkenntnis wird beispielsweise zur Definition so genannter Service Level Agreements genutzt, in deren Rahmen Mindestbestellmengen, Lieferzeiten oder Preisdifferenzierungen festgelegt werden. Dabei ist zu beachten, dass eine reine Umsatzbetrachtung zu Fehlentscheidungen beim Kundenmanagement führen kann, da zum Beispiel A-Kunden aufgrund des größeren Betreuungs- und des daraus resultierenden erhöhten Kostenaufwands unprofitabel sein können. Insofern sollte man die Umsatzklassifikation um eine Profitabilitätsklassifikation ergänzen. 306 Eine weitere Möglichkeit zur Analyse des Kundenwertes stellen Kundendeckungsbeitragsrechnungen dar, die detaillierter und aussagekräftiger sind als ABC-Analysen. Dabei werden die von einem Kunden erzielten Erlöse den entsprechenden Kosten gegenübergestellt. Tabelle 1 illustriert das mehrstufige Vorgehen und zeigt, dass ein zunächst positiver Deckungsbeitrag I zum Beispiel durch häufige Bestellungen von kleinen Mengen zu einem negativen Deckungsbeitrag II führen kann. Als Reaktion könnten das Marketing- und Vertriebscontrolling beispielsweise Mindestbestellmengen oder Preisaufschläge für geringe Absatzvolumina festlegen. 307 305 Vergleiche Helm & Günter (2006, S. 5 ff). Weitere Hinweise finden sich bei Tomczak & Rudolf- Sipötz (2006, S. 130 ff). 306 Vergleiche Helm & Günter (2006, S. 15) und Homburg (2012, S. 1178 ff). 307 Vergleiche Helm & Günter (2006, S. 20). <?page no="237"?> 4.3 Kundenwertanalyse 237 4 Kunden-Bruttoerlöse pro Periode − Erlösschmälerungen = Kunden-Nettoerlöse pro Periode − Kosten der vom Kunden bezogenen Produkte (variable Stückkosten laut Produktkalkulation, multipliziert mit den Kaufmengen) = Kundendeckungsbeitrag I − eindeutig kundenbedingte Auftragskosten (zum Beispiel Versandkosten) = Kundendeckungsbeitrag II − eindeutig kundenbedingte Besuchskosten (zum Beispiel Kosten der Anreise zum Kunden) − sonstige relative Einzelkosten des Kunden pro Periode (zum Beispiel Gehalt eines speziell zuständigen Key Account Managers, Mailing-Kosten, Werbekostenzuschüsse, Listungsgebühren) = Kundendeckungsbeitrag III Tabelle 1: Aufbau einer Kundendeckungsbeitragsrechnung 308 Der Customer Lifetime Value stellt eine zukunftsorientierte Wirtschaftlichkeitsbewertung dar, die allerdings nur bei langfristig angelegten Geschäftsbeziehungen sinnvoll angewendet werden kann. Dieses Verfahren betrachtet Kunden als Investitionsobjekte und prüft, inwiefern eine Kundenbeziehung über verschiedene Perioden erfolgsträchtig ist. Zur Bestimmung des Kundenlebenszeitwertes müssen Informationen über die erwarteten Einzahlungen und Auszahlungen einzelner Kunden vorliegen, die aufgrund des langen Planungshorizontes häufig schwer zu beschaffen und mit deutlichen Unsicherheiten behaftet sind. 309 In der Praxis erfreuen sich auch so genannte Punktbewertungsverfahren beziehungsweise Scoring-Modelle großer Beliebtheit. Dabei sind zunächst die für ein Unternehmen wesentlichen Kundenmerkmale auszuwählen, die sowohl quantitativer Natur wie Umsatz oder Deckungsbeitrag als auch qualitativer Natur wie Kaufhäufigkeit oder Kundenloyalität sein können. In einem zweiten Schritt werden für die ausgewählten Merkmale Gewichtungsfaktoren bestimmt, welche die relative Bedeutung der Kriterien für den Kundenwert zum Ausdruck bringen. Daran anknüpfend werden alle Kunden anhand der ausgewählten und gewichteten Merkmale bewertet und ein Gesamtscore gebildet. Dieser Gesamtscore - also die Summe der gewichteten Punkte pro Kunde - spiegelt den Kundenwert wider, der mit Blick auf die weitere Gestaltung der 308 Vergleiche Günter & Helm (2011, S. 279). 309 Vergleiche Homburg (2012, S. 1192). <?page no="238"?> 238 4 Marketing und Vertrieb Kundenbeziehung wichtige Anhaltspunkte bietet. 310 Eine modifizierte Form des Scoring-Modells stellt der RFMV-Ansatz dar, der vor allem im Handelsbereich verbreitet ist. Hierbei werden die Kriterien Recency, Frequency und Monetary Value zur Ermittlung des Kundenwertes herangezogen. Diese drei Merkmale - Zeitpunkt des letzten Kaufes, Häufigkeit des Einkaufes und erwarteter Umsatz - eignen sich vor allem im Business-to-Consumer-Bereich, in dem Kaufpräferenzen, Kaufzyklen und Kaufmengen in besonderem Maße durch zielgerichtete Marketingmaßnahmen beeinflusst werden können. 311 Zur Bewertung von Kunden kann schließlich auch auf die Portfoliomethode zurückgegriffen werden. Kundenportfolios sind zweidimensional aufgebaut, wobei sich eine Achse auf die Attraktivität der Kunden bezieht, während die andere zum Beispiel den kundenbezogenen Marktanteil repräsentiert. Sowohl die Erstellung als auch die Interpretation der Vier- oder Neun-Felder-Kundenportfolios erfolgt analog zu den bekannten BCG- 312 oder McKinsey-Matrizen, in deren Rahmen jeweils Geschäftseinheiten analysiert werden. Insofern sind die Betrachtungsobjekte - zum Beispiel Kunden, Produkte oder Geschäftseinheiten - eindeutig zu definieren und voneinander abzugrenzen, um Normstrategien isoliert ableiten zu können. 313 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die beschriebenen Verfahren zur Messung des Kundenwertes weisen sowohl Vorals auch Nachteile auf, die im Einzelfall gegeneinander abzuwägen sind. In der Praxis hat sich gezeigt, dass eine Kombination aus Scoring-Modell und Kundenportfolio sehr gute Ergebnisse liefert. Daher werden im Folgenden diese beiden Methoden in den Mittelpunkt gerückt, während die ABC-Analyse, die Kundendeckungsbeitragsrechnung und der Customer Lifetime Value unberücksichtigt bleiben. Zur Ermittlung der Attraktivität von Kunden kann zunächst auf das Scoring-Modell zurückgegriffen werden. Folgende Schritte werden dabei durchlaufen: 314 Zunächst ist zu bestimmen, welche monetären und nicht-monetären Kriterien zur Kundenbewertung berücksichtigt werden sollen. Die entsprechende Auswahl kann im Rahmen von Expertengesprächen oder Befragungen von Branchenkennern getroffen werden sowie in Anlehnung an die von Wettbewerbern verwendeten Merkmale. Dabei ist darauf zu achten, dass die Kriterien überschneidungsfrei sind und dass eine gewisse Anzahl nicht überschritten wird - empfehlenswert sind maximal zehn Merkmale, um die Modellkomplexität nicht unnötig in die Höhe zu treiben. 310 Vergleiche Helm & Günter (2006, S. 17). 311 Vergleiche im Überblick Homburg, Schäfer & Schneider (2010, S. 190 f) sowie Winkelmann (2010, S. 327). 312 Das Akronym BCG steht für Boston Consulting Group, eine der größten internationalen Managementberatungsgesellschaften. 313 Vergleiche Homburg (2012, S. 1180 f) und Winkelmann (2010, S. 328). 314 Vergleiche im Überblick Hungenberg (2010, S. 71 f). <?page no="239"?> 4.3 Kundenwertanalyse 239 4 Die Bewertungskriterien sind in einem nächsten Schritt zu gewichten. Die Gewichtungsfaktoren, deren Summe 1 beziehungsweise 100 Prozent ergeben muss, sollten gemäß der Relevanz des jeweiligen Merkmals und möglichst objektiv festgelegt werden. Das heißt, subjektive Vorlieben oder Entscheidungsmacht aufgrund der Über- oder Unterstellung in einer Unternehmenshierarchie sollten bei der Bestimmung sowohl der Kriterien als auch der Gewichtungsfaktoren keine Rolle spielen. Für alle Kriterien ist eine einheitliche Ratingskala zu erstellen und zu verwenden, die eine Bewertung der Kunden zum Beispiel anhand von fünf oder sieben Schritten gestattet. Dabei ist ebenfalls auf eine Auswertung im Team zu achten, um mögliche subjektive Verzerrungen zu vermeiden. Abschließend ist ein Gesamtwert je Kunde zu berechnen, der sich aus der Summation der einzelnen, mit dem Gewichtungsfaktor multiplizierten Kriterienbewertungen ergibt. Kunden mit den höchsten Scoring-Werten gelten als besonders attraktiv, während jene mit unterdurchschnittlichen Bewertungen als wenig bedeutsam eingestuft und gegebenenfalls aus dem Kundenportfolio eliminiert werden. Scoring-Modelle lassen sich relativ schnell erstellen und liefern wichtige Hinweise für die Gestaltung des Kundenmanagements. Gleichwohl stellen die Subjektivität bei der Auswahl und Bewertung der Kriterien und der Informationsverlust durch die Verdichtung der berücksichtigten Aspekte in einer Kennzahl nicht zu vernachlässigende Nachteile dar. Diese können durch eine Ergänzung des Scoring-Modells durch ein Kundenportfolio zumindest teilweise ausgeglichen werden. Das Kundenportfolio kann sowohl im Business-to-Consumerals auch im Business-to- Business-Bereich angewendet werden. In Abhängigkeit von der Anzahl der zu berücksichtigenden Kunden werden diese entweder einzeln oder in Gruppen analysiert. Typischerweise wird das Portfolio anhand der Dimensionen Kundenattraktivität und Anbieterposition aufgespannt, die aus mehreren Kriterien gebildet werden. Dabei werden die Merkmale Bedarfsvolumen, Wachstumspotenzial und Preisniveau sowie Referenz- oder Kooperationspotenziale und die strategische Bedeutung zur Kundenattraktivität verdichtet, während der so genannte Bedarfsdeckungsanteil Auskunft darüber gibt, wie stark die Position eines Herstellers oder Dienstleisters bei den Kunden ist. 315 Investiert ein Chemieunternehmen beispielsweise 5 Millionen Euro pro Jahr in Unternehmensberater, beläuft sich der Bedarfsdeckungsanteil einer Unternehmensberatung auf 10 Prozent, wenn diese pro Jahr Projekte im Wert von 500.000 Euro an das Chemieunternehmen verkauft. In diesem Fall wäre der kundenbezogene Marktanteil aus Sicht der Unternehmensberatung relativ gering, da das Chemieunternehmen 90 Prozent seines Bedarfs über andere Beratungsgesellschaften deckt. Welche Position das Chemieunternehmen im Kundenportfolio der Unternehmensberatung einnimmt und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, kann in folgenden Schritten bestimmt werden: 316 315 Vergleiche Homburg (2012, S. 1180 ff). 316 Vergleiche im Überblick Homburg, Schäfer & Schneider (2010, S. 193 ff). <?page no="240"?> 240 4 Marketing und Vertrieb Zur Aufstellung eines Kundenportfolios sind zunächst die Kundenbewertungskriterien festzulegen und zu operationalisieren. Die Merkmale können mit Gewichtungsfaktoren versehen werden, sofern diese - aus Sicht des Anbieterunternehmens - von unterschiedlicher Relevanz für die Kundenbewertung sind. Im zweiten Schritt werden die Kunden bewertet und die Koordinaten für die vertikale und horizontale Achse des Portfolios durch Addition der Einzelwerte für die Dimensionen Kundenattraktivität und Anbieterposition berechnet. Die Gesamtwerte dienen schließlich zur Aufstellung des Kundenportfolios, das Auskunft darüber gibt, welche Kunden Star-, Fragezeichen-, Ertrags- oder Mitnahmekunden sind und welche Strategien daraus resultieren. Abbildung 104: Kundenportfolio am Beispiel einer Unternehmensberatung Abbildung 104 zeigt das Kundenportfolio der erwähnten Unternehmensberatung, die folgende Normstrategien berücksichtigen kann: Starkunden sind intensiv zu betreuen und zu bearbeiten, um weitere Wachstumspotenziale zu realisieren. Ertragskunden sollten mit reduziertem Aufwand auf gleichbleibendem Niveau gehalten werden, während Mitnahmekunden keine besondere Wertschätzung erfahren und gegebenenfalls aus dem Portfolio verschwinden. Fragezeichenkunden sind schließlich differenziert zu bearbeiten. Aufgrund der vergleichsweise geringen Anbieterposition ist für jeden einzelnen Kunden zu prüfen, ob sich eine Investition in Marketingmaßnahmen lohnt und ob die Kunden zu Stars entwickelt werden können. Im positiven Fall dürften die Auf- <?page no="241"?> 4.3 Kundenwertanalyse 241 4 wendungen für Kundenbearbeitung, Kundenentwicklung und Kundenbetreuung in einer ähnlichen Größenordnung liegen wie bei Starkunden. 317 Eine Kombination aus Scoring-Modell und Kundenportfolio bietet eine mehrdimensionale Kundenbewertung, in die sowohl quantitative und qualitative als auch zukunftsbezogene Kriterien einfließen. Insgesamt wird damit die Grundlage geschaffen, Kundenbeziehungen wertschöpfend zu gestalten und begrenzte Marketing- und Vertriebsbudgets effizient einzusetzen. Weiterführende Hinweise Die Kundenwertanalyse ist ein wichtiges Steuerungsinstrument im Kundenmanagement, da mit ihrer Hilfe die Bedeutung von Kunden transparent gemacht werden kann. Dies ist insofern wichtig, als in der Praxis zum Teil unnötige Komplexität aufgebaut und an unprofitablen Kunden festgehalten wird. Dies geschieht teilweise aus Unwissenheit, teilweise aber auch bewusst, da man liebgewonnene oder selbst akquirierte Kunden ungern abstoßen möchte. In diesen und in weiteren Fällen bietet die Kundewertanalyse die Chance, unrentable Kunden zu identifizieren und Maßnahmen abzuleiten, wie die Profitabilität verbessert werden kann - zum Beispiel durch die Einrichtung eines Kundenservice-Centers als Ersatz für die Außendienstbetreuung von C-Kunden oder durch die elektronische Anbahnung und Abwicklung von Geschäften im Rahmen des E-Commerce. 317 Vergleiche Sander (2011, S. 834 f). <?page no="242"?> 4.4 Conjoint-Analyse Problemstellung: Bestimmung der Bedeutung einzelner Produkteigenschaften für das Zustandekommen einer Gesamtpräferenz aus Kundensicht und Messung entsprechender Zahlungsbereitschaften Zielgruppe: Marketingverantwortliche, Marktforscher, Produktentwickler, Produktmanager, Preismanager Voraussetzungen: Bekanntheit kaufrelevanter Merkmalsausprägungen, die vergleichbar, substituierbar und prinzipiell unabhängig voneinander sein müssen Zielsetzung der Conjoint-Analyse In den Augen der Kunden stellen Güter keine in sich geschlossenen Zweck-Mittel-Komplexe, sondern Bündel aus Merkmalskombinationen dar. Die einzelnen Produktmerkmale oder Produktattribute wie Marke, Design, Leistung, Qualität, Verpackung oder Preis stehen in einem Zusammenhang mit den Präferenzen der Konsumenten. Diese Präferenzen aufzudecken und für die Gestaltung der Produkt- oder der Preispolitik nutzbar zu machen, ist das Ziel der Conjoint-Analyse, die auch als „Trade-Off-Analyse, Verbundmessung oder konjunktive Analyse“ 318 bezeichnet wird. Dabei geht es weniger um die Ermittlung einer Globalpräferenz für ein Gesamtprodukt, sondern vielmehr um die Erkenntnis, wie aktuelle oder potenzielle Kunden einzelne Produktprofile beziehungsweise Produktalternativen bewerten und welchen Beitrag diese Einzelmerkmale zum Gesamtnutzen eines Produktes leisten. 319 Als eine Methode der indirekten Präferenzmessung eignet sich die Conjoint-Analyse vor allem mit Blick auf komplexe beziehungsweise extensive Kaufentscheidungssituationen, die durch „ein hohes kognitives und hohes emotionales Involvement“ 320 der Konsumenten gekennzeichnet sind. 321 Obgleich die Conjoint-Analyse zum Standardrepertoire der empirischen Markt- und Sozialforschung zählt, fristete sie in der Betriebswirtschaftslehre lange Zeit ein Schattendasein. Nach der Vorstellung der mathematischen Grundlagen des Conjoint-Measurements im Jahr 1964, 322 fand die Methode erst ab 1971 auch im Marketing und in der Marktforschung 323 zunehmende Verbreitung. Beschreibung der Conjoint-Analyse Die Conjoint-Analyse ist ein multivariates Verfahren zur Dekomposition globaler Präferenzurteile. Das heißt, Präferenzen werden im Rahmen der klassischen Conjoint- 318 Klein (2002, S. 7). 319 Vergleiche Homburg (2012b, S. 405), Sander (2011, S. 217), Teichert, Sattler & Völckner (2008, S. 653) sowie im Überblick Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber (2018). 320 Homburg (2012a, S. 40). 321 Vergleiche Bea, Helm & Schweitzer (2009, S. 286). 322 Siehe Luce & Tukey (1964). 323 Siehe Green & Rao (1971). 242 4 Marketing und Vertrieb <?page no="243"?> 4.4 Conjoint-Analyse 243 4 Analyse indirekt - also dekompositionell - erfasst. Dabei bewerten die Befragungsteilnehmer im Unterschied zu kompositionellen Verfahren nicht eine Eigenschaft isoliert, sondern ein bestimmtes Produkt ganzheitlich. Auf der Grundlage der Gesamtbeurteilung wird auf die Bedeutung der für das Produkt konstitutiven Eigenschaften und deren Ausprägungen geschlossen. Darauf lässt sich auch der Name des Verfahrens zurückführen, da die Produktbewertung beziehungsweise das Gesamtnutzenurteil auf die einzelnen Produktattribute dekomponiert werden. Der große Vorteil der dekompositionellen gegenüber den kompositionellen Verfahren besteht darin, dass Befragungsteilnehmer Eigenschaften in ihrer Wichtigkeit im Allgemeinen valider und realitätsadäquater einstufen. 324 Ein Beispiel: Die von Apple produzierten iPods zeichnen sich durch verschiedene Attribute aus. Die Geräte unterscheiden sich sowohl hinsichtlich Größe und Farbe, als auch mit Blick auf Design, Speicherkapazität und Preis. Dabei können die einzelnen iPod-Eigenschaften unterschiedliche Ausprägungen annehmen: Größe (iPod shuffle, iPod nano, iPod classic, iPod touch), Farbe (zum Beispiel schwarz, weiß, silber), Design (zum Beispiel kein Display, Display, Retina Display), Speicherkapazität (zum Beispiel 2 GB, 8 GB, 64 GB, 160 GB) und Preis (zum Beispiel 49 €, 129 €, 229 €, 389 €). Apple- Kunden entscheiden sich beim Kauf eines iPods für eine bestimmte Kombination dieser Merkmalsausprägungen - zum Beispiel für den iPod touch in schwarz mit Retina Display und einer Speicherkapazität von 64 GB für 389 €. Aus der Sicht von Apple könnte es nun von Interesse sein, wie sich die beschriebenen Ausprägungen der Produkteigenschaften Größe, Farbe, Design, Speicherkapazität und Preis im Rahmen des Kaufprozesses zueinander verhalten. Ist für den Kunden die Farbe entscheidend oder die Art des Displays, und werden zum Beispiel kleine Geräte positiver bewertet als große? Für solcherart Fragestellungen kann auf die Conjoint-Analyse zurückgegriffen werden. Denn auf der Grundlage der Annahme, dass sich der Gesamtnutzen eines Produktes als Summe der Nutzenwerte der berücksichtigten Eigenschaften ergibt, kann mit Hilfe der Conjoint-Analyse die aus Kundensicht optimale Zusammenstellung von Eigenschaftsausprägungen bestimmt werden. Üblicherweise kommt die Conjoint-Analyse im Marketing nicht nur bei der Entwicklung, Bewertung und Einführung von Produktkonzepten zur Anwendung, sondern auch bei Fragen des Preismanagements, um zum Beispiel Preis-Absatz-Funktionen zu schätzen oder um Zahlungsbereitschaften von Kunden zu ermitteln. 325 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Im Rahmen der Conjoint-Analyse werden Abhängigkeiten zwischen Variablen untersucht. Sie wird daher auch als dependenzanalytisches Verfahren bezeichnet. Die abhängige Variable wie der Gesamtnutzen eines iPods ist dabei in der Regel metrisch skaliert, wobei auch ein ordinales Skalenniveau möglich ist. Demgegenüber besteht hinsichtlich der unabhängigen Variablen wie Größe, Farbe, Design, Speicherkapazität 324 Vergleiche im Überblick Fiedler, Kaltenborn, Lanwehr & Melles (2017). 325 Vergleiche Sander (2011, S. 217). <?page no="244"?> 244 4 Marketing und Vertrieb und Preis eines iPods Flexibilität, da die unabhängigen Variablen sowohl nominal, ordinal als auch metrisch skaliert sein können. 326 Unabhängig vom Skalenniveau muss man vor der Durchführung einer Conjoint-Analyse die relevanten Produktmerkmale und deren Ausprägungen festlegen, wobei darauf zu achten ist, dass die Anzahl der berücksichtigten Eigenschaften nicht zu umfangreich ausfällt. Es wird empfohlen, „maximal 6 Attribute mit jeweils etwa 4 bis 5 Ausprägungen zu analysieren“ 327 . Anknüpfend an die Festlegung der Merkmale und Merkmalsausprägungen wird das Erhebungsdesign bestimmt, bevor die eigentliche Datenerhebung, die Schätzung der Nutzenwerte und die Interpretation der Ergebnisse erfolgen. Abbildung 105 illustriert den Ablauf einer Conjoint-Analyse. Abbildung 105: Ablauf einer Conjoint-Analyse 328 Bei der Festlegung des Erhebungsdesigns ist zunächst über die Art der verwendeten Stimuli zu entscheiden, die den Befragten zur Bewertung vorgelegt werden. Zur Auswahl stehen die Profilmethode und die Zwei-Faktor-Methode. Im Rahmen der Profilmethode werden die Probanden mit Produktprofilen konfrontiert, die eine Kombination der definierten Merkmale mit jeweils einer dazugehörigen Ausprägung darstellen. Ein Produktprofil wäre zum Beispiel ein iPod touch in schwarz mit Retina Display und einer Speicherkapazität von 64 GB für 389 €. Bei der auch als Trade-Off-Methode bezeichneten Zwei-Faktor-Methode bewerten die Probanden nicht Produktprofile, sondern alle Ausprägungen von zwei in Matrizen gegenübergestellten Attributen. So müssten beispielsweise die Apple-Probanden die Merkmale Größe und Farbe mit den 326 Vergleiche Grunwald & Hempelmann (2012, S. 82) und Klein (2002, S. 11). 327 Klein (2002, S. 14). 328 Vergleiche Homburg (2012b, S. 406) und Sander (2011, S. 217). <?page no="245"?> 4.4 Conjoint-Analyse 245 4 entsprechenden Ausprägungen in einer so genannten Trade-Off-Matrix beurteilen. 329 In der Praxis kommt nahezu ausschließlich die Profilmethode zur Anwendung, da diese präzisere Daten liefert und eine höhere externe Validität aufweist. 330 In einem nächsten Schritt ist zu bestimmen, wie die Stimuli den Befragten präsentiert werden. Für gewöhnlich erfolgt dies mit Hilfe von Profilkarten, wobei immer häufiger computergestützt vorgegangen wird. Die Verwendung von Bildern, Filmen und Geräuschen bietet den Vorteil, dass schwer beschreibbare Eigenschaften wie bestimmte Designaspekte auch zum Gegenstand der Bewertung gemacht werden können. 331 Die Schätzung der Nutzenwerte stellt den Kern der Conjoint-Analyse dar, da die globalen Präferenzurteile in Teilnutzenwerte für die einzelnen Merkmalsausprägungen dekomponiert werden sollen, um die Wichtigkeit der Attribute für die Generierung von Kundennutzen bestimmen zu können. Die Parameterschätzung kann über verschiedene Verfahren erfolgen, die im Ergebnis eine Schätzung der Teilnutzenwerte und der daraus resultierenden Gesamtnutzenwerte auf Gesamtstichproben-, Teilstichproben- oder Individualebene liefern. 332 Abbildung 106: Beispielhafte Teilnutzenwerte für einen Probanden Auf der Basis einer individuellen Auswertung erhält man Daten für jeden einzelnen Befragungsteilnehmer. Die in Abbildung 106 dargestellten Teilnutzenwerte lassen erkennen, welche Nutzenvariationen bestimmte Merkmalsausprägungen mit sich brin- 329 Vergleiche Homburg (2012b, S. 407 f). 330 Vergleiche Teichert, Sattler & Völckner (2008, S. 671 f). 331 Vergleiche Homburg (2012b, S. 408 f) und Klein (2002, S. 24). 332 Vergleiche Klein (2002, S. 25 ff) und Teichert, Sattler & Völckner (2008, S. 676 ff). <?page no="246"?> 246 4 Marketing und Vertrieb gen: So wird deutlich, dass für den Probanden die Ausprägung 8 GB einen höheren Nutzen stiftet als die Ausprägung 2 GB und sich ein weiterer Nutzenzuwachs bei einer Erhöhung auf 64 GB ergibt. Demgegenüber führt eine Steigerung der Speicherkapazität auf 160 GB zu keinem Nutzenzuwachs, sondern sogar zu einem deutlichen Nutzenrückgang. Die Teilnutzenwerte für die vier Produktmerkmale Größe, Farbe, Design und Speicherkapazität können nun zur Berechnung des Gesamtnutzenwertes eines Produktprofiles herangezogen werden: Für das Produktprofil iPod touch in schwarz mit Retina Display und einer Speicherkapazität von 64 GB würde sich zum Beispiel ein Wert von 11 + 5 + 35 + 30 = 81 Nutzeneinheiten ergeben. Die Bedeutung der Produktmerkmale für die Realisierung von Kundennutzen kann nicht direkt anhand der einzelnen Teilnutzenwerte abgelesen werden, da diese nicht normiert und somit inhaltlich bedeutungslos sind. Vielmehr müssen Vergleiche zwischen den einzelnen Ausprägungen eines Merkmals und deren Teilnutzenwerten angestellt werden, um die Wichtigkeit eines Attributes zu bestimmen. Hierzu wird auf die Spanne der Teilnutzenwerte zurückgegriffen, die Auskunft darüber gibt, ob aus der Änderung einer Ausprägung eine Variation des wahrgenommenen Gesamtnutzens resultiert. Eine geringe Spannweite der Teilnutzenwerte weist demnach auf eine geringe Wichtigkeit eines Attributes hin, während eine große Spannweite gegenteilig zu interpretieren ist. 333 Ein Beispiel: Für das in Abbildung 106 und in Tabelle 2 aufgeführte Merkmal Größe des iPods ergibt sich aus der Differenz des maximalen und des minimalen Teilnutzenwertes eine Spannweite von 13, während das Merkmal Design eine Spannweite von 32 aufweist. Merkmal absolute Wichtigkeit relative Wichtigkeit Größe 20 - 7 = 13 13 / 95 x 100% = 13,7% Farbe 34 - 5 = 29 29 / 95 x 100% = 30,5% Design 35 - 3 = 32 32 / 95 x 100% = 33,7% Speicherkapazität 30 - 9 = 21 21 / 95 x 100% = 22,1% Summe 95 100% Tabelle 2 : Absolute und relative Wichtigkeiten der iPod-Merkmale Um schließlich die relative Bedeutung der Produktmerkmale für eine Präferenzveränderung beim Kunden zu bestimmen, werden die einzelnen Spannweiten durch die über alle Attribute ermittelten Spannweitensummen dividiert. 334 Die Auswertung in Tabelle 2 zeigt, dass für den hier betrachteten Probanden sowohl das Design als auch die Farbe des iPods die wichtigsten Nutzenkomponenten darstellen. 333 Vergleiche Klein (2002, S. 28). 334 Vergleiche Klein (2002, S. 29). <?page no="247"?> 4.4 Conjoint-Analyse 247 4 Ein wesentlicher Nachteil der hier vorgestellten traditionellen Conjoint-Analyse ist, dass Befragungsteilnehmer nur eine überschaubare Anzahl kaufrelevanter Produktmerkmale bewerten können, obgleich die typischerweise für dieses Verfahren geeigneten extensiven Kaufentscheidungssituationen durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren gekennzeichnet sind. Um diesen und weitere Mängel der traditionellen Conjoint-Analyse auszugleichen, wurden neue Varianten und Methoden entwickelt wie die Hybride beziehungsweise die Adaptive und die Choice-based Conjoint-Analyse. 335 Weiterführende Hinweise Bei der Messung von Produktpräferenzen oder Zahlungsbereitschaften und der Ableitung von Maßnahmen ist zu berücksichtigen, dass diese von zahlreichen Faktoren determiniert werden. Kaufpräferenzen sind zum Beispiel in einem direkten Zusammenhang mit Kontextfaktoren, der Verfügbarkeit von Vergleichsprodukten, der Konfrontation mit Marketingbotschaften und zum Teil aber auch mit irrationalen Einschätzungen, Erwartungen, Emotionen und Abwägungen 336 zu sehen. Insofern sind allzu weitreichende Veränderungsmaßnahmen auf der Basis von Conjoint-Ergebnissen zumindest mit Vorsicht anzugehen. Denn ermittelte Präferenzen und daraus abgeleitete Wichtigkeiten für bestimmte Produktalternativen stehen nicht in einem kausalen Zusammenhang mit tatsächlichen Kaufentscheidungen. Kaufentscheidungen werden vielmehr in Abhängigkeit von ökonomischen, psychologischen und sozialen Einflussfaktoren getroffen, die kaum auf der Basis einer einzelnen Methode konzipiert und analysiert werden können. 335 Vergleiche im Überblick Fantapié Altobelli (2017) und Fiedler, Kaltenborn, Lanwehr & Melles (2017). 336 Siehe hierzu die verhaltensökonomischen Arbeiten von Ariely (2008, 2011, 2015), Kahneman (2016) und Thaler (2018). <?page no="248"?> 4.5 Means-End-Analyse und Ladderingverfahren Problemstellung: Analyse der Bedeutung persönlicher Ziele, Motive und Werte für das Kaufverhalten und deren Verknüpfung mit Produkteigenschaften Zielgruppe: Marketingverantwortliche, Marktforscher, Produktentwickler, Produktmanager Voraussetzungen: Erfahrung mit qualitativen Erhebungsmethoden, erfahrene und geschulte Interviewer und Vorhandensein ausreichender Ressourcen für Datengewinnung und Datenauswertung Zielsetzung der Means-End-Analyse und des Ladderingverfahrens Erfolge in wettbewerbsintensiven Käufermärkten erzielen nur jene Anbieter, die ihre Produkt- und Serviceleistung nachfrageadäquat ausgestalten. Dabei sind nicht nur einzelne Nutzenkomponenten eines Produktes, sondern auch Motive und Werthaltungen der Konsumenten zu berücksichtigen, die das Kaufverhalten nachhaltig beeinflussen. Die Bedürfnisse und Werte von Konsumenten sind jedoch nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen, die auf gesellschaftlicher Ebene mit Begriffen wie Individualisierung 337 , Postmodernisierung 338 oder schlicht Wertewandel 339 umschrieben werden. Zur Ermittlung der korrelativen Beziehungen zwischen den dynamischen Werthaltungen und Motiven eines Konsumenten und den Eigenschaften eines Produktes oder einer Dienstleistung kann auf die in der US-amerikanischen Markt- und Werbeforschung entwickelte Means-End-Analyse zurückgegriffen werden. 340 Der auf den Erkenntnissen der Kognitionspsychologie aufbauende und auf den Lerntheoretiker Tolman 341 zurückgehende Ansatz lässt sich empirisch greifbar machen, indem bestimmte Fragetechniken im Rahmen von Tiefeninterviews zur Anwendung kommen. Eine spezifische, qualitative Interviewform ist das Ladderingverfahren, mit dessen Hilfe die Ziel-Mittel-Beziehungen der Konsumenten aufgedeckt werden. Durch stufenweise präzisiertes Nachfragen wird ermittelt, warum bestimmte Produkteigenschaften für den Konsumenten wichtig sind und mit welchen Werten und Bedürfnissen diese zusammenhängen. Insofern eignet sich das Verfahren zur Kundensegmentierung, zur Bewertung von Produkten und Marken sowie zur Entwicklung und Analyse von kommunikationspolitischen Maßnahmen. 342 337 Siehe Beck (1983, 1986) und Beck & Beck-Gernsheim (1994, 2002). 338 Siehe Bauman (1995). 339 Siehe Inglehart (1995, 1998). 340 Vergleiche Homburg (2012b, S. 35 f) und im Überblick Reynolds & Olson (2001) und Walker & Olson (1991). 341 Siehe Tolman (1932). 342 Vergleiche Fantapié Altobelli (2011, S. 88 f), Fantapié Altobelli & Hoffmann (2011, S. 246 f) und Kroeber-Riel, Weinberg & Gröppel-Klein (2009, S. 183 ff). 248 4 Marketing und Vertrieb <?page no="249"?> 4.5 Means-End-Analyse und Ladderingverfahren 249 4 Beschreibung der Means-End-Analyse und des Ladderingverfahrens Kernelement des Means-End-Modells ist die Annahme, dass Konsumenten Produkt- oder Dienstleistungselemente als Mittel - also als Means - verwenden, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen oder Ziele - also Ends - zu erreichen. Die Aufdeckung dieser Ziel-Mittel-Verknüpfungen, die im Rahmen von Lernprozessen entstanden sind, ist bei der Gestaltung der Produkt- und der Kommunikationspolitik von zentraler Bedeutung. Denn auf der Basis der sichtbar gemachten inneren Strukturen wird deren hierarchische Anordnung deutlich, die in Form von Means-End-Ketten zum Beispiel bei der Konzipierung von Innovationen oder bei der Positionierung bestehender Produkte wertvolle Hinweise bietet. 343 Abbildung 107: Means-End-Modell am Beispiel eines Skischuhs 344 Bei der Repräsentation der kognitiven Strukturen in Form von Means-End-Ketten können sechs Kategorien unterschieden werden, welche die Eigenschaften des Produktes, dessen Nutzenkomponenten und die damit verknüpften Werthaltungen widerspiegeln. Wie in Abbildung 107 aufgeführt, werden die Eigenschaften eines Produktes in konkrete und abstrakte unterteilt. Ein Custom Fit Innenschuh eines Skistiefels wäre eine konkrete Eigenschaft, die objektiv beobachtbar ist und die physikalischchemisch-technische Beschaffenheit des Konsumartikels beschreibt. Eine gute Passform und ein ansprechendes Design stellen abstrakte Attribute dar, die rein gedanklich vorhanden sind und subjektiv wahrgenommen werden. Der funktionale Nutzen, zum Beispiel die Möglichkeit, schnell und sicher zu fahren, ergibt sich aus den physikalisch-chemisch-technischen Eigenschaften des Produktes. Demgegenüber werden Nutzenkomponenten wie schmerzfreie und entspannte Füße nach dem Training als sozial oder psychisch bezeichnet, sofern sie keine Rolle für die Funktionstüchtigkeit des Gutes spielen und vorwiegend die Psyche oder das Umfeld des Konsumenten tangieren. Schließlich wird zwischen instrumentalen und terminalen Werthaltungen beziehungsweise Zielen des Konsumenten unterschieden, welche den Kauf oder Nicht- 343 Vergleiche Homburg (2012b, S. 35). 344 Zu den Grundelementen des Means-End-Modells vergleiche Bauer & Huber (2008, S. 966) und im Überblick Walker & Olson (1991). <?page no="250"?> 250 4 Marketing und Vertrieb Kauf eines Produktes maßgeblich beeinflussen. Dabei verkörpern instrumentale Werte erstrebenswerte Verhaltensweisen wie körperliche Fitness und terminale Werte übergeordnete Lebensziele wie Selbstbewusstsein oder soziale Anerkennung. 345 Abbildung 107 illustriert die beschriebenen Zusammenhänge am Beispiel eines Skischuhs. Die aufgezeigten Beziehungen zwischen Produkteigenschaften und persönlichen Werthaltungen und Zielen können mit Hilfe der Methoden der qualitativen Marktforschung rekonstruiert und visualisiert werden. Dabei hat sich vor allem das auf den Arbeiten von Reynolds und Gutman basierende Ladderingverfahren bewährt, 346 das auch als Leitertechnik bezeichnet wird. Im Folgenden wird erläutert, wie mit Hilfe dieser Technik die Determinanten menschlichen Handelns entschlüsselt werden können. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Standardfrage, um „Landkarten der Kognition“ 347 sichtbar zu machen, lautet: „Warum ist das wichtig für Sie? “ Die Gründe, die dafür verantwortlich sind, dass eine Produkteigenschaft oder eine Nutzenkomponente für einen Konsumenten bedeutsam sind, werden iterativ aufgedeckt. Das heißt, im Rahmen von Interviews werden die Eigenschaften-Nutzen-Werte-Assoziationen schrittweise identifiziert, indem man wie auf einer Leiter zu den zentralen Bestimmungsgründen des Verhaltens hinaufsteigt. Üblicherweise läuft das Laddering-Verfahren in drei Schritten ab: 348 In einem ersten Schritt werden die zentralen Eigenschaften eines Produktes oder einer Dienstleistung und deren Relevanz mit Hilfe eines Fragebogens oder Interviews erfasst. Die ermittelten Produktmerkmale stellen den Ausgangspunkt für die sich anschließenden Laddering-Interviews dar. Um eine Reihung der Attribute zu realisieren, kommen Rankingverfahren zum Einsatz, in denen Probanden Eigenschaften benennen und Begründungen für die jeweilige Einstufung liefern. Auf der Grundlage der ermittelten Produkteigenschaften, werden in einem zweiten Schritt die mit den Attributen verbundenen Assoziationen hinterfragt. Ziel ist zu bestimmen, welche Erwartungen die Gesprächspartner mit der Nutzung eines Produktes verbinden und welche Werthaltungen hinter den erwarteten Nutzenkomponenten liegen. Bildlich gesprochen kann ein Laddering-Interview mit dem Schälen einer Zwiebel verglichen werden, indem man Schicht für Schicht zum Kern vordringt. 349 So würde ein Laddering-Interview zum Thema Skischuhe zum Beispiel mit der Frage beginnen: „Was ist Ihnen beim bevorstehenden Skistiefelkauf wichtig? “ Eine mögliche Antwort des Probanden könnte sein: „Ich möchte einen Skischuh, der bequem ist und gut aussieht.“ Der Interviewer würde fortfahren mit der Frage: „Was ist Ihnen sonst noch wichtig? “ Der Proband würde beispielsweise erwidern: „Er sollte mir die Möglichkeit 345 Vergleiche Bauer & Huber (2008, S. 966 f) und Gruber, Voss, Balderjahn & Reppel (2009, S. 571 f). 346 Siehe Reynolds & Gutman (1988). 347 Herrmann (1996, S. 11). 348 Vergleiche im Überblick Fantapié Altobelli (2011, S. 88 ff) und Liebel (2011, S. 480 f). 349 Die Zwiebel-Metapher stammt von Gengler, Mulvey & Oglethorpe (1999). <?page no="251"?> 4.5 Means-End-Analyse und Ladderingverfahren 251 4 bieten, jeden Tag ohne Schmerzen trainieren zu können.“ Auf die weitere Frage: „Warum ist Ihnen das wichtig? “, könnte geantwortet werden: „Damit ich meine Ausdauer und Kraft systematisch verbessern kann.“ Der Interviewer könnte mit folgender Frage in tiefere Schichten vordringen: „Warum ist es Ihnen wichtig, ausdauernd und kraftvoll zu sein? “ Weitere Antworten und Fragen würden folgen, bis die tiefste Antwortebene erreicht ist und die Hauptmotive offengelegt sind, die zu einer Kaufentscheidung beitragen. Der beschriebene Prozess des Tiefeninterviews kann Schwierigkeiten bei der Umsetzung aufweisen, da Probanden die Konsequenzen ihres Handelns zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht hinterfragt und somit nicht kognitiv präsent haben. Zudem setzen sehr persönliche Fragen eine große Antwortbereitschaft und Vertrauen zum Interviewer voraus. Insofern empfiehlt es sich, im Rahmen von Laddering-Interviews Konsumenten in die konkrete Produktnutzungssituation zu versetzen oder Fragen zu stellen, in deren Mittelpunkt nicht Begründungen für ein Handeln, sondern Hinweise stehen, warum etwas nicht getan wird. Fragen können auch in der dritten Person gestellt werden, um Antworthemmungen aufzulösen. Demnach würden vom Interviewer Antworten provoziert, die von Freunden oder Bekannten des Konsumenten gegeben werden könnten. Die Aufbereitung der idealtypischen oder mit Hilfe der oben genannten Techniken gewonnenen Ergebnisse erfolgt in einem dritten Schritt, um die Means-End-Ketten zu konstruieren. Auf der Basis einer qualitativen Inhaltsanalyse werden die Antworten strukturiert und kategorisiert und den einzelnen Bereichen des Means-End-Modells zugeordnet. Auf diese Weise wird der inhaltliche Zusammenhang zwischen konkreten Produktattributen und terminalen Werten beziehungsweise Bedürfnissen transparent. Weiterführende Hinweise Die Means-End-Analyse und das Laddering-Verfahren eignen sich, um Produkte zielgruppenspezifisch zu gestalten und zu positionieren. Die Aufdeckung von Motivationsstrukturen ermöglicht es Herstellern und Dienstleistern, Licht in das kognitive Netz von Konsumenten zu bringen, in dem Produkte, Marken und Botschaften über individuelle Assoziationen verankert sind. 350 Gleichwohl ist die Durchführung und Umsetzung in der Praxis sehr aufwändig und voraussetzungsreich. Ungeachtet dessen stellt das Verfahren - mittlerweile - eine Standardmethode in der Marktforschung dar, und es haben sich in jüngster Zeit neue Anwendungsbereiche und Spielarten entwickelt. Das Ladderingverfahren wird längst nicht mehr nur in Form von persönlichen Tiefeninterviews umgesetzt. Vielmehr kommen inzwischen auch Laddering-Fragebögen zur Anwendung, und es existieren Vorschläge und Beispiele, wie beide Verfahren online umgesetzt werden können. 351 350 Vergleiche Meffert, Burmann & Kirchgeorg (2012, S. 169 f). 351 Zum Online Laddering siehe im Überblick Gruber, Voss, Balderjahn & Reppel (2009). <?page no="252"?> 252 4 Marketing und Vertrieb 4.6 Kundenzufriedenheitsanalyse: Kano-Analyse Problemstellung: Bestimmung, Gruppierung und Bewertung kundenspezifischer Produktanforderungen und Messung des Einflusses der entsprechenden Anforderungen auf die Kundenzufriedenheit Zielgruppe: Marketing- und Vertriebsverantwortliche, Marktforscher, Vertriebsmitarbeiter, Key Account Manager Voraussetzungen: Erfahrung mit qualitativen und quantitativen Erhebungsmethoden und Verfügbarkeit einer repräsentativen Kundengruppe Zielsetzung der Kundenzufriedenheitsanalyse Kundenzufriedenheit entsteht in einem mehrstufigen, durch Marketingaktivitäten begleiteten Prozess, der als Erfolgskette 352 bezeichnet wird. Kunden sind vor allem dann zufrieden, wenn ihre Erwartungen erfüllt oder sogar übertroffen werden. Voraussetzung für die Erfüllung der Bedürfnisse und Wünsche der Kunden hinsichtlich der Produkt- oder Dienstleistungsqualität ist die Kenntnis der entsprechenden Erwartungen, die empirisch ermittelt werden können. Geht man davon aus, dass Kundenzufriedenheit die Differenz aus vom Kunden erwarteter und vom Hersteller beziehungsweise Dienstleister erbrachter Leistung ist, wird deutlich, dass eine adäquate Methode zur Kundenzufriedenheitsanalyse - wie in Abbildung 108 dargestellt - bei den Erwartungen der Kunden starten muss. Abbildung 108: Kundenerwartungen, Kundenzufriedenheit und Erfolg 353 Das Wissen über grundlegende Mechanismen, die das Maß an Zufriedenheit beziehungsweise Unzufriedenheit bei den Kunden bestimmen, schließt die Kenntnis mit ein, dass Erwartungen nicht statisch sind, sondern sich im Zeitverlauf verändern. Ein Service, der Kunden zu einem bestimmten Zeitpunkt begeistert hat, wird in der Fol- 352 Siehe im Überblick Bruhn & Homburg (2017). 353 Vergleiche Beutin (2008, S. 814) und Kordupleski, Rust & Zahorik (1994, S. 70). <?page no="253"?> 4.6 Kundenzufriedenheitsanalyse: Kano-Analyse 253 4 gezeit nicht mehr identische emotionale und kognitive Reaktionen auslösen. Der Kunde hat sich an die Leistung gewöhnt und setzt diese bei weiteren Konsumentscheidungen voraus. Insofern verwundert es, dass zahlreiche Kundenzufriedenheitsbefragungen und die dabei berücksichtigten Kriterien zum Teil über mehrere Jahre unverändert bleiben und somit wohl kaum zu validen empirischen Ergebnissen führen. Abbildung 109: Kano-Modell der Kundenzufriedenheit 354 Einen Ansatz zur Klassifikation der Anforderungen von Kunden an Unternehmen hat Kano 355 vorgelegt, der zwischen Basis-, Leistungs- und Begeisterungsfaktoren unterscheidet. Das Ziel der in Abbildung 109 aufgeführten Kano-Analyse besteht darin, den Einfluss von Produkt- oder Dienstleistungsmerkmalen auf die Kundenzufriedenheit zu ermitteln und hinsichtlich ihrer Bedeutung zu priorisieren. Mit dieser Differenzierung trägt Kano dem Umstand Rechnung, dass erfüllte Erwartungen nicht unmittelbar zu Zufriedenheit führen müssen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich um Aspekte handelt, die der Kunde zwingend voraussetzt und als Hygienefaktoren 356 betrachtet. Eine Erfüllung der Kundenanforderung führt hier lediglich zur Nicht-Unzufriedenheit. 354 Hinterhuber, Handlbauer & Matzler (2003, S. 17). 355 Siehe Kano (1984) und im Überblick Sauerwein (2000) und Sauerwein, Bailom, Matzler & Hinterhuber (1996). 356 Auf der Basis von Studien zur Arbeitsmotivation entwickelte Herzberg (1968) die Zweifaktorentheorie - auch Motivator-Hygiene-Theorie. Diese postuliert, dass Arbeitszufriedenheit nicht als ein Kontinuum zu betrachten ist, welches von den Extrempolen Unzufriedenheit und Zufriedenheit gerahmt wird. Vielmehr sind Faktoren zu unterscheiden, die lediglich zur Nicht-Unzufriedenheit beitragen - die so genannten Hygienefaktoren -, während andere - die so genannten Motivatoren - Zufriedenheit bedingen können (siehe auch Herzberg, Mausner & Snyderman 1993). <?page no="254"?> 254 4 Marketing und Vertrieb Beschreibung der Kundenzufriedenheitsanalyse Der angenommene Zusammenhang zwischen Kundenerwartungen und Kundenzufriedenheit wird mit Hilfe folgender Unterteilung erklärt: 357 Basisfaktoren stellen jene Produkt- oder Dienstleistungsattribute dar, die Unzufriedenheit auslösen, wenn sie nicht den Erwartungen entsprechend erfüllt beziehungsweise wahrgenommen werden. Die Erfüllung dieser Muss-Kriterien trägt hingegen nicht zur erhöhten Zufriedenheit bei, sondern führt lediglich zur Nicht-Unzufriedenheit. Ein aufgeräumtes und sauberes Zimmer oder ein freundlicher Empfang beim Einchecken dürften beispielsweise als Basisfaktoren von Hotelkunden betrachtet werden. Produkteigenschaften, die sowohl zu Zufriedenheit führen, wenn die Erwartungen des Kunden übertroffen werden, als auch zu Unzufriedenheit, wenn die Erwartungen des Kunden unerfüllt bleiben, bezeichnet Kano als Leistungsfaktoren. Qualitativ gutes Essen im Hotelrestaurant, schnelle Buchungsabwicklung, ein frei verfügbarer Internetzugang und die Möglichkeit, Bonuspunkte sammeln zu können, dürften dieser Kategorie zuzurechnen sein. Die Besonderheit von Begeisterungsfaktoren besteht darin, dass deren Nichterfüllung keine Unzufriedenheit auslöst. Gleichwohl stellt das Vorhandensein einen wichtigen Differenzierungsfaktor im „Hyperwettbewerb“ 358 dar, der von den Kunden jedoch nicht antizipiert und artikuliert wird und auch nicht als Ersatz für fehlende Basisfaktoren dienen kann. Begeisterung stellt sich erst bei Eintreten eines nicht erwarteten Service oder einer nicht erwarteten Produkteigenschaft ein und kann aufgrund der kognitiven Nicht-Präsenz im Voraus nur mit einigen methodischen Kniffen empirisch ermittelt werden. Hotelkunden dürften sich zum Beispiel über einen kostenlosen Gepäcktransport-Service zum Flughafen, über ein breitgefächertes Wellness- und Beauty-Angebot und über regelmäßige Upgrades in bessere Zimmerkategorien begeistert zeigen, in denen ihnen Getränke, Obst und weitere spezielle Angebote und Aufmerksamkeiten zur freien Verfügung stehen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Ausgangspunkt der Kano-Analyse sind Informationen zu den Stärken, Schwächen, Problemen und Verbesserungen eines Produktes oder einer Dienstleistung, die für gewöhnlich im Rahmen von teilstandardisierten Interviews bestimmt werden. Auf der Basis der ermittelten kaufentscheidenden Faktoren wird ein Fragebogen konstruiert, der für jede Eigenschaft mindestens eine funktionale und eine dysfunktionale beziehungsweise eine positiv- und eine negativ-gerichtete Frage enthält. Ein Beispiel: Kunden können im Rahmen einer systematischen Kundenzufriedenheitsanalyse einer international agierenden Hotelkette in funktionaler beziehungsweise positiver Form mit der Frage konfrontiert werden: „Wenn unser Hotel einen kostenlosen Gepäcktransport-Service zum Flughafen für alle Gäste zur Verfügung stellt, wie denken Sie darüber? “ Die Antwort eines Kunden lautet vielleicht: „Das würde mich sehr freuen.“ In dysfunktionaler beziehungsweise negativer Form könnte gefragt wer- 357 Vergleiche im Überblick Hinterhuber, Handlbauer & Matzler (2003, S. 16 f). 358 Siehe D’Aveni (1994) und Trout, Rivkin & Wied (2009). <?page no="255"?> 4.6 Kundenzufriedenheitsanalyse: Kano-Analyse 255 4 den: „Wenn unser Hotel keinen kostenlosen Gepäcktransport-Service zum Flughafen für alle Gäste zur Verfügung stellt, wie denken Sie darüber? “ Angekreuzt wird beispielsweise: „Das könnte ich eventuell in Kauf nehmen.“ 1. Fragebogen funktionale Form der Frage Wenn unser Hotel einen kostenlosen Gepäcktransport-Service zum Flughafen für alle Gäste zur Verfügung stellt, wie denken Sie darüber? Das würde mich sehr freuen. Das setze ich voraus. Das ist mir egal. Das könnte ich eventuell in Kauf nehmen. Das würde mich sehr stören. dysfunktionale Form der Frage Wenn unser Hotel keinen kostenlosen Gepäcktransport-Service zum Flughafen für alle Gäste zur Verfügung stellt, wie denken Sie darüber? Das würde mich sehr freuen. Das setze ich voraus. Das ist mir egal. Das könnte ich eventuell in Kauf nehmen. Das würde mich sehr stören. 2. Auswertungstabelle Produkteigenschaft dysfunktional 1 2 3 4 5 funktional 1 U B B B L 2 E I I I G 3 E I I I G 4 E I I I G 5 E E E E U 3. Ergebnistabelle Kategorie Produkteigenschaft B L G I E U Gepäcktransport 1 ... B = Begeisterungsfaktor, L = Leistungsfaktor, G = Grundfaktor, I = Indifferent, E = Entgegengesetzt, U = Unbrauchbar Tabelle 3 : Das Auswertungsprocedere der Kano-Analyse 359 359 Vergleiche Bailom, Tschemernjak, Matzler & Hinterhuber (1998, S. 54). <?page no="256"?> 256 4 Marketing und Vertrieb Aus der Kombination der Antworten in den Zeilen und Spalten der Auswertungstabelle von Tabelle 3 würde sich ein Eintrag in der Kategorie B ergeben, womit für das Hotelmanagement deutlich wäre, dass das Vorhandensein eines kostenlosen Gepäcktransport-Services zum Flughafen einen Begeisterungsfaktor darstellt. Fällt die Kombination der Antworten hingegen in die Kategorie L oder G, dann wäre die Eigenschaft ein Leistungsbeziehungsweise ein Grundfaktor 360 . Wenn sich aus der Auswertungstabelle die Kombination I ergibt, bedeutet dies, dass das Merkmal für den Kunden irrelevant ist. Aus der Kategorie E ist zu schließen, dass der Kunde die Eigenschaft nicht wünscht oder sogar das Gegenteil erwartet. Kategorie U steht schließlich für unbrauchbare Ergebnisse, die nur zustande kommen, wenn Fragen missverständlich gestellt wurden. 361 Gemäß dem beschriebenen und in Tabelle 3 illustrierten Procedere werden alle Antworten auf die funktional und dysfunktional formulierten Fragen in eine Auswertungs- und in eine Ergebnistabelle übertragen. Letztere kann sowohl absolute als auch relative Häufigkeiten enthalten und bietet einen ersten Überblick über die vom Kunden als relevant eingestuften Produkteigenschaften. In einem nächsten Schritt bestimmt man, welche der als Basis-, Leistungs- und Begeisterungsfaktoren klassifizierten Merkmale die Kundenzufriedenheit am stärksten beeinflussen. Hierbei wird auf ein Zufriedenheitsbeziehungsweise Unzufriedenheitsmaß zurückgegriffen, das für alle empirisch ermittelten Erwartungen die Anzahl der Nennungen, differenziert nach Grundbeziehungsweise Basis-, Leistungs-, Begeisterungs- und Indifferenzfaktoren in Beziehung setzt. Der positive Zufriedenheitskoeffizient kann Werte zwischen 0 und 1, der negative von 0 bis -1 annehmen. Zur Berechnung der beiden Koeffizienten werden die in der Ergebnistabelle von Tabelle 3 zusammengestellten absoluten Häufigkeiten und die Formel aus Tabelle 4 verwendet. Ausmaß der Zufriedenheitsstiftung Ausmaß der Unzufriedenheitsstiftung (B + L) / (B + L + G + I) (L + G) / (B + L + G + I) x (-1) B = Begeisterungsfaktor, L = Leistungsfaktor, G = Grundfaktor, I = Indifferenzfaktor Tabelle 4 : Das Zufriedenheits- und Unzufriedenheitsmaß 362 Hat die Frage nach dem kostenlosen Gepäcktransport-Service zum Flughafen zum Beispiel ergeben, dass die Antworten von 14 Probanden als B, von 3 Probanden als L und von 2 Probanden als G klassifiziert werden können, errechnen sich folgende Koeffi- 360 Der Begriff Grundfaktor wird hier und in den Auswertungs- und Ergebnistabellen synonym mit dem Begriff Basisfaktor verwendet und mit G gekennzeichnet, um die Basisfaktoren eindeutig von den Begeisterungsfaktoren B abzugrenzen. 361 Siehe im Überblick Bailom, Tschemernjak, Matzler & Hinterhuber (1998), Matzler, Sauerwein & Stark (2009) und Sauerwein, Bailom, Matzler & Hinterhuber (1996). 362 Vergleiche Sauerwein, Bailom, Matzler & Hinterhuber (1996, S. 322). <?page no="257"?> 4.6 Kundenzufriedenheitsanalyse: Kano-Analyse 257 4 zienten: Der Zufriedenheitswert beträgt rund 0,89, während das Unzufriedenheitsmaß bei etwa -0,26 liegt. Beide Werte dienen der grafischen Darstellung des Faktors kostenloser Gepäcktransport-Service zum Flughafen in Abbildung 110 und bestimmen dessen Bedeutung für die Kundenzufriedenheit im Vergleich zu den weiteren empirisch ermittelten Kriterien. Abbildung 110: Beispielhafte Darstellung der Zufriedenheits- und Unzufriedenheitsmaße Abbildung 110 illustriert an einem selbst gewählten Beispiel, welche Produktmerkmale in welchem Bereich liegen und welchen Einfluss sie auf die Zufriedenheit beziehungsweise Unzufriedenheit der befragten Kunden ausüben. Die Kriterien 1, 2 und 3 stellen Begeisterungsmerkmale dar. Alle anderen Kriterien sind Leistungsanforderungen - mit Ausnahme der Faktoren 6 und 15, die sich als Basisfaktoren erweisen. Weiterführende Hinweise Die Kano-Analyse bietet den großen Vorteil, nicht nur typische Kundenzufriedenheitskriterien zu überprüfen, sondern jene Faktoren zu isolieren, die in jedem Fall angeboten beziehungsweise den Erwartungen der Kunden entsprechend erfüllt werden müssen. Damit bietet die Kano-Analyse Anhaltspunkte, an welchen Stellen Unternehmen investieren sollten und an welchen gegebenenfalls Aufwand und Kosten reduziert werden können. Denn Basisfaktoren müssen nur erfüllt, nicht jedoch übererfüllt werden. Entscheidend für den Erfolg von Produkten oder Dienstleistungen und damit für die Generierung von Wachstum ist, inwiefern es in der Praxis gelingt, die identifizierten Faktoren mit Hilfe geeigneter Maßnahmepläne zu institutionalisieren. Zudem ist zu prüfen, ob bestimmte Produktattribute überhaupt angeboten werden können oder sollen. Der Schritt vom Ist-Zustand zum empirisch ermittelten Ideal erfordert <?page no="258"?> 258 4 Marketing und Vertrieb klare Ziele und Prioritäten, umgesetzt in einem Veränderungsbeziehungsweise Aktivitätenprogramm. Insofern stellt die Kano-Analyse die notwendige, die Implementierung und die Kontrolle der erforderlichen Maßnahmen jedoch die hinreichenden Bedingungen für Kundenzufriedenheit dar. <?page no="259"?> 4 4.7 Buying-Center-Analyse Problemstellung: Analyse des Kaufverhaltens einer Organisation und Identifikation aller damit verbundenen Personen, Rollen und Prozesse Zielgruppe: Marketing- und Vertriebsverantwortliche, Vertriebsmitarbeiter, Außendienstmitarbeiter, Key Account Manager, Business Development Manager und weitere Experten aus den jeweils relevanten Fachbereichen Voraussetzungen: Beschaffung von Daten zu Personen, Rollen und Prozessen der Zielorganisation auf der Basis von Kundennähe und Kundenvertrauen Zielsetzung der Buying-Center-Analyse Die Analyse von Kaufentscheidungen und damit verknüpften Bestimmungsfaktoren stellt einen zentralen Bereich der Marketingforschung dar. Eine Vielzahl von Studien im Business-to-Consumer-Bereich zeigt, in welche Phasen der Kaufprozess von Konsumenten eingeteilt werden kann und welche Einflüsse bedeutsam sind. Ausgangspunkt einer Kaufentscheidung ist ein Bedürfnis, das aus der Diskrepanz zwischen der aktuellen und der gewünschten Situation resultiert. Konsumenten machen sich vor diesem Hintergrund auf die Suche nach Informationen über Hersteller oder Produkte, um die Diskrepanz - zum Beispiel zwischen Immobilität und dem Wunsch nach Mobilität - aufzulösen. Bei der Suche nach einem Mobilitätsprodukt - zum Beispiel einem Auto, einem Fahrrad oder einer Jahreskarte für die Straßenbahn - stoßen sie auf eine Reihe von Alternativen, die sie bewerten und in eine Rangfolge bringen, bevor sie eine Kaufentscheidung treffen. Nach dem Kauf verarbeiten Konsumenten die Informationen und Erfahrungen im Sinne eines Soll-Ist-Vergleiches und nehmen eine Gesamtbewertung vor, die zukünftige Kaufentscheidungen beeinflusst. Im Unterschied zum Business-to-Consumer-Bereich werden im Business-to-Business- Bereich Kaufentscheidungen nicht von einzelnen Personen, sondern von Gruppen getroffen, und auch die Phasen des Kaufbeziehungsweise Beschaffungsprozesses unterscheiden sich. 363 Vor allem in neuartigen, komplexen oder sehr wichtigen Beschaffungssituationen sind mehrere Personen an einer Entscheidung - zum Beispiel der Auswahl eines Lieferanten oder Logistikdienstleisters - beteiligt. Diese Personen nehmen unterschiedliche Rollen ein, die in der Regel mit ihren jeweiligen Funktionen im Unternehmen korrespondieren. Ein solches Gremium aus verschiedenen Personen und Rollen wird als Buying-Center bezeichnet. Buying- oder Einkaufscenter sind in einer Unternehmensorganisation nicht formal und dauerhaft verankert, sondern bilden sich zeitlich befristet. Für den Verkäufer ergibt sich daraus die Schwierigkeit, nicht nur die Bedürfnisse und Wünsche eines Zielkunden ermitteln zu müssen, sondern sowohl die Besonderheiten der Beschaffungssituation und der Entscheidungsstrukturen als auch die heterogenen Präferenzen aller Buying-Center-Mitglieder im Blick zu ha- 363 Vergleiche im Überblick Scheed & Scherer (2019). 4.7 Buying-Center-Analyse 259 <?page no="260"?> 260 4 Marketing und Vertrieb ben. Dem Selling-Center als Gegenstück zum Buying-Center kommt demnach die wichtige Aufgabe zu, das Einkaufsgremium systematisch zu analysieren, um die eigenen Marketing- und Vertriebsmaßnahmen so auszurichten, dass sich ein Verkaufserfolg einstellt. Das Ziel der Buying-Center-Analyse besteht insofern darin, Informationen zu sammeln und zu verdichten, um die Strukturen und Prozesse der organisationalen Kaufentscheidung transparent und die Präferenzen und Motive der beteiligten Akteure verständlich zu machen. 364 Beschreibung der Buying-Center-Analyse Das Kaufverhalten von Organisationen und Konsumenten unterscheidet sich nicht nur hinsichtlich der Anzahl der am Kaufprozess beteiligten Personen, sondern auch mit Blick auf den Formalisierungsgrad. Das heißt, Kaufentscheidungen folgen in Organisationen zumeist klaren Regeln und Verfahrensvorschriften, deren Kenntnis für Verkäufer insofern von Bedeutung ist, als Angebote entsprechend gestaltet und vorgelegt werden müssen. Weitere Besonderheiten des organisationalen Kaufverhaltens sind in Abbildung 111 zusammengefasst. Neben den aufgeführten Merkmalen ist für das Verständnis des Buying-Centers vor allem die Kenntnis der Akteure und der Prozesse sowie der Kriterien wichtig, die Organisationen beim Kauf von Werkstoffen, Betriebsmitteln, Dienstleistungen oder anderen Gütern berücksichtigen. Abbildung 111: Typische Merkmale des organisationalen Kaufverhaltens 365 364 Vergleiche Vitale, Giglierano & Pfoertsch (2011, S. 56 f). 365 Vergleiche Homburg (2012, S. 140 ff). <?page no="261"?> 4.7 Buying-Center-Analyse 261 4 Einem Buying-Center gehören Personen und Teileinheiten einer Organisation an, die nach Webster und Wind die folgenden fünf Rollen einnehmen: 366 Als Nutzer bezeichnet man Personen, welche die Güter oder Dienstleistungen nach dem Kauf verwenden und daher häufig Initiatoren der Beschaffung sind. Die Rolle des Nutzers haben beispielsweise Marketing- oder Controllingleiter inne, wenn eine neue Software zur Analyse von Marktforschungsdaten beschafft beziehungsweise eine Beratungsgesellschaft zur Konzipierung und Implementierung einer Balanced Scorecard beauftragt wird. Organisationsmitglieder, die auf den Beschaffungsprozess einwirken, indem sie an der Produktspezifikation mitarbeiten oder alternative Lösungen vorschlagen, werden Beeinflusser genannt. In der Regel üben Entwicklungs- oder Produktionsingenieure, aber auch unternehmensexterne Personengruppen wie Berater einen Einfluss auf die Kaufentscheidung aus. Einkäufer sind befugt, Kaufverträge vorzubereiten und Lieferanten auszuwählen. Typischerweise handelt es sich hierbei um Personen aus der Beschaffungsabteilung. Von Entscheidern ist die Rede, wenn Personen über Machtbefugnisse verfügen, um Angebote auszuwählen und den Kauf abzuschließen. Wenn es sich um wichtige Investitionen oder Projekte handelt, übernimmt diese Rolle häufig ein Mitglied der Geschäftsführung. Mitglieder des Buying-Centers, die Informationen aufnehmen, filtern und steuern, werden Informationsselektierer genannt. Diese Gruppe kann aus Chefsekretärinnen, Assistenten von Entscheidungsträgern oder Mitarbeitern der Einkaufsabteilung bestehen, die darüber entscheiden, welche Informationen in welcher Form an wen weitergeleitet werden. Obgleich diese Personen häufig keine Leitungspositionen innehaben, ist deren Einfluss auf die Kaufentscheidung nicht zu unterschätzen. Marketing- und Vertriebsverantwortliche sollten nicht nur die beschriebenen Akteure, sondern auch die unternehmensinternen Prozesse des potenziellen Käufers kennen, um Marketingmix-Strategien entsprechend zu gestalten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kaufentscheidungen von Organisationen im Allgemeinen rationaler, systematischer und langwieriger sind als bei Konsumenten. Folgende Phasen können dabei im beschaffenden Unternehmen unterschieden werden: Zunächst erfolgt die Bedarfserkennung eines Unternehmens, die durch interne oder externe Anregungen initiiert wird, bevor Produkte oder Dienstleistungen und die damit verbundenen Leistungseigenschaften spezifiziert werden. Die Suche nach geeigneten Lieferanten und das Einholen von Angeboten schließt sich an. Danach wird eine Vorauswahl der Anbieter zum Beispiel mit Hilfe von Scoring-Modellen vorgenommen, auf deren Basis geeignete Kandidaten ausgewählt und zu Verhandlungen eingeladen werden. Die Verhandlungsphase schließt mit einem Vertrag ab, in dem die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung und Leistungsbewertung aufgeführt werden. 367 Jede dieser Phasen kann durch das anbietende Unternehmen mit entsprechenden Maßnahmen beein- 366 Vergleiche Webster & Wind (1972, S. 77 ff). 367 Vergleiche Lippold (2012, S. 60 f). <?page no="262"?> 262 4 Marketing und Vertrieb flusst werden. Wichtig für den Verkäufer ist, die beteiligten Personen je Prozessschritt, deren Rollen und die für die Entscheidungsfindung relevanten Kriterien des Businessto-Business-Kunden zu kennen. Insofern sind im Rahmen der Buying-Center-Analyse auch Aspekte wie Qualität, Kosten, Lieferbedingungen, Renommee oder Referenzen zu berücksichtigen und zu analysieren, welche Bedeutung den einzelnen Kriterien aus der Sicht des potenziellen Kunden zukommt. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Bei der Neukundengewinnung, der Akquisition von Projekten oder generell bei industriellen Absatzentscheidungen ist die Buying-Center-Analyse eine notwendige Voraussetzung für den Verkaufserfolg. Dabei gilt es, nicht nur den Einkäufer im Blick zu haben, sondern die verschiedenen Mitglieder des Buying-Centers mit ihren zum Teil recht unterschiedlichen Ansprüchen, Erwartungen und Motiven zu verstehen. Folgende Aspekte sind Bestandteil einer umfassenden Buying-Center-Analyse: Buying-Center-Mitglieder und Rollen bei der Entscheidungsfindung, konformes und non-konformes Rollenverhalten der Buying-Center-Mitglieder, Beziehungsnetz und Machtstrukturen des Buying-Centers, Entscheidungsfindungsprozess und Entscheidungsfindungsteilschritte, Beschaffungskriterien und Nutzenerwartungen, Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Anbieters durch das Buying-Center. Diese sechs Themenbereiche sind im Idealfall zur Gänze zu bearbeiten. Dies ist jedoch nicht immer möglich, da zum Beispiel bei großen oder komplex strukturierten Nachfrageorganisationen Informationen nur schwer beschafft oder Kontakte nur zu einer begrenzten Zahl an Buying-Center-Mitgliedern aufgebaut werden können. Die in Tabelle 5 aufgeführten, beispielhaften Leitfragen sollen dabei helfen, möglichst vielfältige Hinweise zu den skizzierten sechs Themenbereichen zu sammeln, um Buying- Center-Verhandlungen erfolgreich zu gestalten. Buying-Center-Mitglieder und Rollen bei der Entscheidungsfindung Welche Personen sind Teil des Buying-Centers und welche Rollen nehmen sie ein? Setzt sich das Buying-Center aus unternehmensinternen und -externen Personen zusammen? Welche Personen treffen die kaufmännische und welche die fachliche Entscheidung? Wer nutzt das Produkt beziehungsweise die Dienstleistung? Wer verfügt über das Budget? Konformes und non-konformes Rollenverhalten der Buying-Center-Mitglieder Welchen fachlichen Hintergrund haben die einzelnen Buying-Center-Mitglieder? Können sich die Rollen im Verlauf des Entscheidungsprozesses verändern? <?page no="263"?> 4.7 Buying-Center-Analyse 263 4 Welche Partikularinteressen verfolgen die einzelnen Buying-Center-Mitglieder? Welche Themen haben die einzelnen Personen aktuell auf ihrer Agenda? Welche Personen sind offen für geschäftliche und private Themen und welche nicht? Beziehungsnetz und Machtstrukturen des Buying-Centers Wie sind die Machtverhältnisse im Buying-Center? Welche Personen dominieren die Beschaffungsentscheidung? Warum? Sind die Mitglieder des Buying-Centers vernetzt? Kreuzen sich aktuell die Karrierepfade von einzelnen Personen des Buying-Centers? Entscheidungsfindungsprozess und Entscheidungsfindungsteilschritte Sind die Beschaffungsprozesse formalisiert? Welche Personen sind je Prozessschritt zu kontaktieren oder zu informieren? Müssen Genehmigungen zur Kontaktaufnahme mit Ansprechpartnern eingeholt werden? In welcher Phase des Prozesses treten die Mitglieder des Buying-Centers auf? Beschaffungskriterien und Nutzenerwartungen Existieren Preferred Supplier-Kriterien und wie lauten die Sollwerte? Welche Bedeutung kommt den Kriterien Qualität, Preis und Lieferbedingungen zu? Welche Basis-, Leistungs- und Begeisterungsfaktoren muss das Produkt erfüllen? Wie viele Wettbewerbsangebote werden eingeholt? Welche Qualität oder welche Preise bieten die Wettbewerber? Welchen fachlichen oder emotionalen Nutzen bietet der Anbieter den einzelnen Personen? Wie hilft der Anbieter den Personen, im eigenen Unternehmen gut dazustehen? Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Anbieters durch das Buying-Center Wie nehmen die Mitglieder des Buying-Centers die Leistung des Anbieters wahr? Wie wird die Leistung des Anbieters im Vergleich zum Wettbewerb beurteilt? Welche Personen treten als Förderer oder Befürworter des Anbieters auf? Welche Personen treten als Bremser oder Saboteure des Anbieters auf? Tabelle 5 : Leitfragen zur Buying-Center-Analyse 368 368 In Anlehnung an Homburg (2012, S. 1029 f). <?page no="264"?> 264 4 Marketing und Vertrieb Die Einkaufsgruppe dürfte sich je nach Ausschreibung oder Projekt immer wieder neu zusammensetzen, auch wenn es sich um einen identischen Kunden handelt. Insofern ist es empfehlenswert, Entscheidungen nicht auf der Basis zurückliegender Analysen zu treffen, sondern die aufgeführten Leitfragen zu nutzen, um vor jedem potenziellen Verkauf alle relevanten Informationen zu beschaffen, um die Käufer in Unternehmen und Organisationen vom eigenen Angebot zu überzeugen. Weiterführende Hinweise In einigen Arbeiten zum Industriegütermarketing wird auf die Unzulänglichkeiten der Buying-Center-Analyse hingewiesen, die den Anforderungen eines sich rasch wandelnden, internationalen Business-to-Business-Umfeldes nicht mehr gerecht werde. 369 In diesem Zusammenhang wird auf Strukturmodelle oder Interaktionsansätze verwiesen, die aufgrund ihrer Komplexität und ihres zum Teil heuristischen Charakters für praktische Vertriebsfragen allerdings nur begrenzt geeignet sind. Zudem ist fraglich, inwiefern der Soziologie entlehnte Milieu- oder Lebensstilansätze neue Erkenntnisse liefern, da diese letztlich auch in einer Beschreibung von Clustern beziehungsweise Typologien gipfeln, die freilich von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ausgeprägt sind, aber für den Praktiker nur einen bescheidenen Erkenntnisgewinn bei der Analyse eines industriellen Zielkunden bieten. Insofern bleibt es für Außendienstmitarbeiter oder Key Account Manager sowohl in der Akquisitionsphase, als auch bei der Kundenentwicklung und Kundenbindung unerlässlich, Kontakte zu einer Vielzahl von Ansprechpartnern in einem Unternehmen aus unterschiedlichen Bereichen zu pflegen und nicht aufgrund der jeweiligen Rolle oder Funktion ein bestimmtes Entscheidungsverhalten vorauszusetzen. Vielmehr ist hinter die Buying-Center-Rolle zu blicken, um im Sinne eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes konformes und nonkonformes Rollenverhalten zu identifizieren. In der Praxis sollten nicht wenige Personen eines Unternehmens sehr oft kontaktiert, sondern eine Vielzahl von potenziellen Buying-Center-Mitgliedern in das Besuchsmodell aufgenommen werden. Als wichtige Steuerungsgröße im Vertrieb wäre demnach die Anzahl der kontaktierten und im Detail analysierten Buying-Center-Mitglieder in Ergänzung zu den etablierten Kennzahlen 370 zu berücksichtigen. 369 Vergleiche zum Beispiel Kuhn & Zajontz (2011, S. 48 f). 370 Siehe hierzu Schneider & Hennig (2008). <?page no="265"?> 4 4.8 Lösungsorientiertes Verkaufen: OPAL-Methode Problemstellung: Kunden- und lösungsorientiertes Gestalten von Verkaufsgesprächen durch Identifikation kundenspezifischer Probleme, Wünsche und Nutzenerwartungen Zielgruppe: Vertriebsleiter, Vertriebsmitarbeiter, Außendienstmitarbeiter, Key Account Manager, Business Development Manager Voraussetzungen: Grundkenntnisse in professioneller Gesprächsführung Zielsetzung der OPAL-Methode Produkte und Dienstleistungen müssen nicht nur konzipiert und an den Bedürfnissen und Wünschen von Kunden ausgerichtet, sondern auch verkauft werden. Verkaufen heißt in der Praxis vielfach, aktuellen oder potenziellen Kunden das Produktportfolio eines Anbieters durch Vertriebsmitarbeiter vorzustellen und darauf zu hoffen, dass dieses Interesse weckt und die Kunden zum Kauf veranlasst. Insofern werden Kunden in Verkaufsgesprächen teilweise mit für sie irrelevanten Informationen konfrontiert, da es Verkäufer versäumen, Fragen zu stellen anstatt Produktkataloge zu illustrieren oder PowerPoint-Folien durchzuklicken. Erfahrungen aus der Vertriebspraxis belegen, dass selbst langjährige Außendienstmitarbeiter oder Key Account Manager mehr Aussagen treffen als Fragen stellen und damit einer Produktgegenüber einer Kundenorientierung den Vorzug geben. Gleichwohl sollte es das Ziel sein, das Gespräch durch Fragen zu führen und an Kundencharakteristika und Kundenproblemen auszurichten, um auf diese Weise alle für den Verkaufserfolg wesentlichen Informationen zu sammeln. Dies ist insofern bedeutsam, als Kunden - vor allem im Business-to-Business- Bereich - nicht nur auf sie zugeschnittene Produkte und Dienstleistungen, sondern auch eine individualisierte Ansprache im Akquisitionsbeziehungsweise Verkaufsgespräch erwarten. Der Mangel an Kundenorientierung und Kenntnissen über mögliche Probleme und Nutzenerwartungen der potenziellen Nachfrager kann durch zielgerichtete Frage- und Gesprächsführungsmethoden ausgeglichen werden. Ziel der im Folgenden skizzierten OPAL-Methode ist es, das Verkaufsgespräch kundenorientiert zu gestalten, indem auf der Basis von Orientierungs-, Problem- und Auswirkungsfragen mögliche Lösungen in den Mittelpunkt gerückt werden. Beschreibung der OPAL-Methode Kunden wollen in der Regel keine Produkte, sondern Lösungen erwerben. Insofern sollten Verkaufsgespräche zunächst Probleme aufdecken und Bedürfnisse wecken, bevor Produkte beziehungsweise Lösungen vorgestellt werden. Hierzu bietet sich eine von Rackham entwickelte Methode an, in deren Mittelpunkt so genannte SPIN-Fragen stehen, die im Verlauf des Verkaufsprozesses abgearbeitet werden. Das Akronym SPIN steht für Situation questions, Problem questions, Implication questions und Need 4.8 Lösungsorientiertes Verkaufen: OPAL-Methode 265 <?page no="266"?> 266 4 Marketing und Vertrieb payoff questions. 371 Im deutschsprachigen Kontext ist nicht von SPIN, sondern von OPAL die Rede. Die einzelnen Buchstaben verweisen auf O Orientierungsfragen, P Problemfragen, A Auswirkungsfragen, L Lösungsfragen. Diese vier Fragetypen werden angewendet, um Kunden durch einen systematischen und sequenziellen Reflexionsprozess zu leiten, an dessen Ende im Idealfall ein Verkaufserfolg steht. 372 Ein lösungsorientiertes Verkaufsgespräch eines IT-Dienstleisters beginnt mit Orientierungsfragen, die sowohl zur Kontaktanbahnung gestellt werden, als auch um Informationen über die aktuelle Situation des Kunden und das entsprechende Unternehmen zu erhalten. Fragen wie „Welche Software haben Sie im Einsatz? “, „Nutzen Sie elektronische Bestellplattformen? “ oder „Welche Wachstumsziele verfolgen Sie in Ihrem Bereich? “ geben dem Verkäufer erste Anhaltspunkte über mögliche Bedarfe des Kunden. Die entsprechenden Antworten bilden die Grundlage für weiterführende Problemfragen, die darauf abzielen, Schwierigkeiten oder Unzufriedenheiten des Kunden und implizite Bedürfnisse aufzudecken. Beispiele für Problemfragen sind: „Bietet Ihnen die Software alle erforderlichen Anwendungen? “, „Laufen die Programme stabil? “ oder „Wie zufrieden sind Sie mit dem Service Ihres IT-Dienstleisters? “ Vor dem Hintergrund der gegebenen Antworten begehen Verkäufer häufig den Fehler, Fragen zu den Konsequenzen der beschriebenen Probleme zu überspringen und umgehend Lösungen für den vermeintlichen oder tatsächlich artikulierten Bedarf anzubieten. Dabei übersehen sie, dass es sinnvoller und erfolgversprechender ist, Kunden zunächst die Tragweite von Problemen für das Unternehmen oder einen funktionalen Bereich selbst erkennen zu lassen und Bedürfnisse durch zielgerichtete Fragen zu verstärken. Insofern sollten nach der Aufdeckung von Problemen Auswirkungsfragen gestellt werden, die Informationen über mögliche Folgen von Kundenproblemen geben. So könnte beispielsweise gefragt werden: „Welche Kosten verursacht der Ausfall von Programmen? “, „Führen lange Anfahrtszeiten des Kundendienstes zum Ausfall von Maschinen und damit zu Produktionsengpässen? “ und „Was würde passieren, wenn diese Probleme nicht gelöst werden? “ Während Auswirkungsfragen dem Kunden helfen, Probleme präzise zu erfassen, zu durchdringen und deren Ernsthaftigkeit bewusst zu machen, rücken Lösungsfragen die Bedeutung und den Nutzen einer Lösung in den Mittelpunkt. „Würde eine andere Software stabiler laufen? “ oder „Könnte ein neuer IT-Dienstleister aktuelle Engpässe beseitigen? “ Die entsprechenden Antworten liefern Hinweise, inwiefern der Kunde offen für Änderungen ist und in welcher Form Angebote unterbereitet werden können. Zudem bietet diese Art der Gesprächsführung den großen Vorteil, dass der Kunde 371 Siehe Rackham (1988). 372 Vergleiche im Überblick Rentzsch (2008, S. 106 f). <?page no="267"?> 4.8 Lösungsorientiertes Verkaufen: OPAL-Methode 267 4 - durch Fragen geleitet - mögliche Lösungen und deren Nutzen selbst entwickelt und diese daher positiver bewertet, als wenn sie durch einen Verkäufer oder Berater präsentiert worden wären. Auch dieser psychologisch begründbare Umstand spricht für die beschriebene Frage- und Gesprächsmethode und gegen einen produktorientierten Verkaufsansatz, der Kunden bevormundet und diese nicht als Teil eines interdependenten Prozesses betrachtet. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Kunden kaufen nur, wenn sie mit Problemen konfrontiert werden, deren Lösung ökonomischen, sozialen oder psychischen Nutzen stiftet. Insofern sind im Rahmen eines Verkaufsgespräches Probleme und mögliche Nutzendimensionen zu identifizieren und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Der eigentliche OPAL-Prozess beginnt jedoch schon vor dem Akquisitionsgespräch, indem Informationen über den Zielkunden zusammengestellt werden. Die einzelnen Prozessschritte lauten demnach wie folgt: 373 Informationen über den Zielkunden sammeln, Orientierung über die Situation des Kunden verschaffen, Probleme des Kunden aufdecken und Problembewusstsein schärfen, Auswirkungen der Probleme bewusstmachen und Bedürfnisse verstärken, Lösungen beziehungsweise Produkte anbieten. Ein Beispiel: Ein international tätiger Kaffeeproduzent verwendet in seiner in Deutschland ansässigen Kaffeerösterei Maschinen, mit deren Hilfe Kaffeebohnen vor der Röstung von Unreinheiten und Fremdkörpern befreit werden. Ein Anbieter dieser Geräte beziehungsweise Anlagen möchte mit dem Produktionsleiter des Kaffeeunternehmens ins Gespräch kommen, um mögliche Verkaufsoptionen auszuloten. In einem ersten Schritt wird sich der Verkäufer einen Überblick über das Unternehmen verschaffen, indem er alle relevanten und verfügbaren Informationen sammelt und verdichtet, um das Gespräch optimal vorzubereiten. Darauf aufbauend wird er eine Gesprächsstrategie entwickeln und versuchen, mögliche Kundenprobleme, Auswirkungen und Nutzenerwartungen zu antizipieren. Zudem wird sich der Verkäufer geeignete Orientierungsfragen notieren, um das Gespräch beispielsweise wie folgt zu beginnen: − Verkäufer: Welche Mengen Kaffeebohnen werden an diesem Standort pro Tag gereinigt und verarbeitet? − Produktionsleiter: Unsere Reinigungsanlagen verarbeiten pro Tag etwa 20 Tonnen Rohkaffee. − Verkäufer: Welche Maschinen setzen Sie für die Reinigung ein? − Produktionsleiter: Wir haben uns vor einigen Jahren für einen asiatischen Hersteller entschieden. − Verkäufer: Wie erfolgen die Qualitätskontrollen? − Produktionsleiter: Im Anschluss an den Reinigungsprozess werden alle Kaffeebohnen über optische Sensoren kontrolliert und gegebenenfalls weitere Fremdkörper 373 Vergleiche im Überblick Rentzsch (2008, S. 98 ff). <?page no="268"?> 268 4 Marketing und Vertrieb aussortiert, bevor die Bohnen für den eigentlichen Röstvorgang vorbereitet werden. In einem nächsten Schritt sollte der Verkäufer versuchen, Kundenprobleme und damit verbundene Lösungsbedürfnisse zu identifizieren. Folgende Problemfragen könnten gestellt werden: − Verkäufer: Was passiert, wenn die Qualität nicht in Ordnung ist? − Produktionsleiter: Dann muss der Reinigungsprozess wiederholt werden oder die Ausschussmenge erhöht sich. − Verkäufer: Wie viel Ausschuss produzieren Sie denn pro Tag? − Produktionsleiter: Ich kann Ihnen keine exakte Zahl nennen. Aber es entstehen schon erhebliche Kosten. Der Verkäufer ist nun an einem Punkt angelangt, an dem er ein mögliches Problem - eine gegebenenfalls zu hohe Ausschussmenge - weiter vertiefen kann. Zudem sollte er in Erfahrung bringen, wie bedeutsam das Problem ist und ob daraus ein Kaufbedürfnis resultiert. Durch Auswirkungsfragen kann es dem Verkäufer gelingen, entsprechende Antworten zu provozieren und zu ermitteln, ob ein Bedürfnis existiert, wie groß dieses ist und ob der Nutzen einer neuen Maschine in den Augen des Produktionsleiters die damit verbundenen Kosten übersteigt. Damit würde die Möglichkeit für den Verkauf seines Produktes geschaffen. Der Verkäufer fragt weiter: − Verkäufer: Haben Sie durch den Ausschuss Probleme, Ihre Produktions- und Qualitätsziele zu erreichen? − Produktionsleiter: Bislang konnte ich diese immer erreichen, aber um unsere aggressiven Wachstumsziele zu realisieren, müssen wir uns hier verbessern. − Verkäufer: Würde es Ihnen helfen, wenn Sie eine Anlage zur Verfügung hätten, die den Reinigungsprozess deutlich zuverlässiger gestaltet? − Produktionsleiter: Damit wäre mir sicherlich geholfen. Die Reaktionen des Produktionsleiters lassen vermuten, dass der Verkäufer auf einem guten Weg ist, für seine Maschine einen neuen Kunden zu akquirieren. Die beispielhafte Antwort auf die Lösungsfrage „Würde es Ihnen helfen, wenn Sie eine Anlage zur Verfügung hätten, die den Reinigungsprozess deutlich zuverlässiger gestaltet? “ zeigt, dass der Produktionsleiter den Nutzen einer neuen Anlage erkennt und offen für eine weiterführende Diskussion ist. Die nächste Phase des Gespräches sollte der Verkäufer durch weitere Fragen steuern und versuchen, die Bedürfnislücke - also die Differenz zwischen Ist-Zustand und gewünschtem Ideal - dem Kunden noch bewusster zu machen und gegebenenfalls zu vergrößern. Sobald der Produktionsleiter sein Bedürfnis explizit macht, kann der Verkäufer seine Lösung anbieten, die Vorzüge des Produktes herausstellen und den Kunden überzeugen, dass ein Kauf sinnvoll ist. Die skizzierte OPAL-Methode eignet sich sowohl in einfachen als auch in komplexen Verkaufssituationen. Der Unterschied besteht darin, dass in einfachen Verkaufssituationen - zum Beispiel beim Kauf neuer Joggingschuhe - eine Lösung bereits angeboten werden kann, wenn der Kunde ein Bedürfnis andeutet. Demgegenüber kommt in <?page no="269"?> 4.8 Lösungsorientiertes Verkaufen: OPAL-Methode 269 4 komplexen Verkaufssituationen den Auswirkungs- und Lösungsfragen eine größere Bedeutung zu, da beispielsweise beim Kauf eines neuen Maschinenparks das explizit formulierte Bedürfnis vor der Produktdarbietung abgewartet werden sollte. Die Unterschiede der beiden Verkaufssituationen illustriert Abbildung 112. Abbildung 112: Die OPAL-Methode in einfachen und in komplexen Verkaufssituationen 374 Weiterführende Hinweise Kunden wollen zu einem Kauf nicht gedrängt, überredet oder verleitet werden, sondern Lösungen für ihre Probleme erhalten. Letztere sind Kunden teilweise nicht oder nicht in ihrer vollen Tragweite bewusst. Daher empfiehlt es sich, Kunden durch gezielte Fragen selbst erkennen zu lassen, welche Probleme sie haben, wie bedeutsam diese sind, welche Produkte sich zur Lösung eignen und welchen Nutzen diese stiften. Insofern folgt das lösungsbeziehungsweise kundenorientierte Verkaufen der Maxime: Probleme identifizieren und Bedürfnisse generieren statt Produkte präsentieren. Hierzu eignet sich insbesondere die OPAL-Methode als Gesprächs- und Fragetechnik, wobei die Anwendung keine Verkaufsgarantie bietet. Sie stellt lediglich ein Rahmenkonzept dar, das es ermöglicht, Kunden auf dem Weg zu einer Problemlösung schrittweise zu begleiten und Vertrauen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Kundenbeziehung zu schaffen. 374 Modifiziert nach Rentzsch (2008, S. 110). <?page no="270"?> 270 4 Marketing und Vertrieb 4.9 Sachbezogenes Verhandeln: Harvard-Methode Problemstellung: Partnerschaftliche Entwicklung eines fairen und als Win-win empfundenen Interessenausgleichs in Verhandlungssituationen Zielgruppe: Geschäftsführer, Einkaufsleiter, Einkäufer, Vertriebsleiter, Vertriebsmitarbeiter, Außendienstmitarbeiter, Key Account Manager, Business Development Manager Voraussetzungen: Grundkenntnisse in professioneller Gesprächsführung und die Fähigkeit zur empathischen und vorurteilsfreien Kommunikation Zielsetzung der Harvard-Methode Verhandlungssituationen sind Teil des privaten, geschäftlichen und politischen Alltags. Wir verhandeln mit Freunden oder Ehepartnern über das nächste Urlaubsziel und mit Vorgesetzten über Gehaltserhöhungen. Arbeitnehmervertreter verhandeln mit Arbeitgebern über die Gestaltung von Tarifverträgen, Ein- und Verkäufer über den angemessenen Produktpreis und die Euro-Finanzminister über die Aufstockung des Rettungsschirmes für krisengeschüttelte Mitgliedsländer. Im Kern geht es in diesen Verhandlungen um die Bündelung unterschiedlicher Interessen und Sichtweisen, mit dem Ziel, eine Übereinkunft zu erreichen, die für alle Beteiligten zufriedenstellend ist. Verhandlungen führen jedoch häufig zu keinen oder nur zu suboptimalen Ergebnissen, da Verhandlungspartner entweder versuchen, eigene Positionen durchzusetzen und kompromisslos zu verteidigen oder zu nachgiebig sind und eigene Interessen zurückstellen. Beide Verhandlungsarten - sowohl die „harte“ als auch die „weiche“ 375 - vergrößern Konflikte, da es jeweils Sieger und Besiegte gibt. Bei der Verfolgung einer Gewinn-Verlust-Strategie werden die Parteien so lange wettstreiten, bis ein Verhandlungspartner auf der Grundlage kommunikativer oder argumentativer Überlegenheit oder aufgrund von Macht oder Drohungen gewinnt. Zurück bleiben ein Verlierer und gegebenenfalls Rachegelüste. Bei der Verfolgung einer Verlust-Verlust-Strategie werden persönliche Konflikte vermieden und faule Kompromisse eingegangen, um die Beziehung nicht zu gefährden oder Harmonie sicherzustellen. Zurück bleiben zwei Verlierer, da faule Kompromisse in der Regel Nachteile für beide Verhandlungsseiten bieten. 376 Einen Weg aus dem Dilemma zwischen hartem und weichem Verhandeln - und den entsprechenden Mischformen - haben Fisher und Ury in ihrem Harvard-Konzept beschrieben, das auch als Methode des sachbezogenen Verhandelns bezeichnet wird. Ausgangspunkt der Methode war das in den 1980er-Jahren in den USA gestartete Harvard Negotiation Project, in dessen Mittelpunkt die Erforschung verbesserter Verhandlungs- 375 Vergleiche Fisher, Ury & Patton (2004, S. 20). 376 Vergleiche Fisher, Ury & Patton (2004, S. 19 ff). <?page no="271"?> 4.9 Sachbezogenes Verhandeln: Harvard-Methode 271 4 techniken und Verhandlungsstrategien stand. 377 Ziel der Methode des sachbezogenen Verhandelns ist es, auf der Basis einer Gewinn-Gewinn-Philosophie einen sach- und nutzenorientierten Interessenausgleich zwischen Verhandlungspartnern herzustellen, ohne persönliche Beziehungen oder partnerschaftliche Strukturen zu gefährden. Dabei wird davon ausgegangen, „dass Verhandlungspartner das beste Ergebnis erzielen, wenn sie die Interessen der jeweiligen Gegenseite verstehen und gemeinsam eine Lösung erarbeiten, die die Interessen beider Seiten so weit wie möglich beinhaltet“ 378 . Beschreibung der Harvard-Methode Verhandeln ist eine kommunikative Tätigkeit, in deren Rahmen Akteure versuchen, trotz unterschiedlicher Bedürfnisse, Sichtweisen und Meinungen zu einer gemeinsamen Lösung zu gelangen. Zwei wesentliche Charakteristika von Verhandlungssituationen sind Interdependenz und Interessendifferenz. Das heißt, Verhandlungspartner sind zum einen voneinander abhängig und aufeinander angewiesen, um ein Resultat zu erzielen. Zum anderen verfolgen die Verhandlungspartner häufig unterschiedliche Ziele, die zunächst offengelegt und verstanden werden müssen, bevor Möglichkeiten für eine Übereinkunft diskutiert werden können. Verhandlungen spielen sich insofern nicht nur auf einer Sach-, sondern auch auf einer Prozessebene ab, da es sowohl um die Frage des Gegenstandes als auch um die Frage geht, wie mit dem Gegenstand umgegangen werden soll. Letzteres kann positions- oder sachbezogen erfolgen. Beim positionsbezogenen Verhandeln nehmen die Verhandlungspartner klare Positionen ein und versuchen diese mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Ein- und Verkäufer verhandeln beispielsweise positionsbezogen, wenn der Einkäufer gleich zu Beginn des Gespräches einen Rabatt von 15 Prozent einfordert, während der Verkäufer im Gegenzug maximal 5 Prozent in Aussicht stellt. Dieses Feilschen um Positionen, das man von orientalischen Basaren kennt, ist im industriellen Umfeld oftmals ineffizient und verstellt den Blick für mögliche Lösungsalternativen, da sich das Ego der verhandelnden Person mit der vertretenen Position identifiziert und zu einem späteren Zeitpunkt - aufgrund der Gefahr des Gesichtsverlustes - kaum davon abweichen wird. 379 Sachbezogenes Verhandeln beziehungsweise Verhandeln nach der Harvard-Methode bietet gegenüber dem positionsbezogenen Verhandeln zahlreiche Vorteile und die Chance, eine Win-win-Situation für alle Beteiligten zu schaffen. Folgende Grundprinzipien sind kennzeichnend für das Harvard-Konzept: 380 Menschen und Probleme sind getrennt voneinander zu behandeln. Interessen und nicht Positionen sind in den Mittelpunkt zu stellen. Vor einer Entscheidung sind verschiedene Optionen zu entwickeln. Die Optionen und das Ergebnis sind anhand neutraler Kriterien zu bewerten. 377 Siehe hierzu Fisher & Ury (1982). 378 Fisher & Shapiro (2007, S. 8). 379 Vergleiche Fisher, Ury & Patton (2004, S. 25 ff). 380 Vergleiche im Überblick Fisher, Ury & Patton (2004, S. 43 ff). <?page no="272"?> 272 4 Marketing und Vertrieb Das erste Prinzip bezieht sich auf die Tatsache, dass Verhandlungspartner rationale und emotionale Wesen sind, die sowohl von Argumenten als auch von Gefühlen geleitet werden. Beide Aspekte werden in Verhandlungen häufig vermischt - mit dem Ergebnis, dass Beziehungsprobleme die zur Diskussion stehenden Sachprobleme überlagern. Daher sollten mögliche Beziehungsprobleme bearbeitet werden, bevor das objektive Sachproblem thematisiert wird, um eine vertrauensvolle Verhandlungssituation zu schaffen, auf deren Grundlage Verteilungskämpfe vermieden werden können, die im Allgemeinen mit Gewinn-Verlust-Resultaten enden. Wichtige Voraussetzungen zur Thematisierung von Beziehungsproblemen sind die wechselseitige Akzeptanz der Verhandlungspartner und eine effektive Kommunikation - also die Fähigkeit, verbale und nonverbale Botschaften richtig kodieren und dekodieren zu können. Der zweite Aspekt weist auf die Notwendigkeit hin, Verhandlungen nicht durch die Einnahme von Positionen in ihrem Verlauf und Ergebnis zu behindern. So dürfte beispielsweise die Verhandlung über den angemessenen Tagessatz eines Unternehmensberaters gleich zu Beginn ins Stocken geraten, wenn der Berater die Forderung „mindestens 1.500 Euro“ und der Einkäufer „höchstens 1.000 Euro“ formulieren würden. Sinnvoller wäre es, wenn die Verhandlungspartner die hinter Positionen liegenden Interessen aufdeckten: Warum ist es dem Einkäufer wichtig, einen bestimmten Tagessatz nicht zu überschreiten? Welche Interessen liegen hinter dieser Position? Welche Bedeutung hat das Erreichen dieses Zieles für den Einkäufer? Welche Interessen verfolgt der Unternehmensberater und warum? Bei der Aufdeckung von Interessen geht es nicht um das Ausräumen von Interessenkonflikten, die Gegenstand der meisten Verhandlungen sind, sondern um das Verstehen und Respektieren von Präferenzen und die Vorbereitung einer Diskussion über Wahlmöglichkeiten. Sachbezogenes Verhandeln versucht, einen Wettstreit der Argumente, Weltsichten und Glaubenssätze zu vermeiden, indem auf der Basis einer funktionierenden Verhandlungsbeziehung und divergierender Interessen Optionen entwickelt werden. Dieses dritte Prinzip setzt voraus, dass Verhandlungspartner bereit sind, Lösungsmöglichkeiten unverbindlich zu diskutieren und deren Nutzen abzuwägen. Dabei erkennen sie, dass der Verhandlungskuchen nicht begrenzt ist und zum Beispiel nicht durch die Summen 1.500 oder 1.000 Euro definiert wird, sondern dass Optionen wie eine langfristige Zusammenarbeit, eine an Erfolgskriterien gebundene Vergütung oder der Einsatz von Juniorberatern mögliche Verhandlungslösungen darstellen könnten. Das vierte Prinzip macht deutlich, dass Interessenkonflikte durch die Berücksichtigung neutraler Kriterien gelöst werden können. Das heißt, zur Bewertung der einzelnen Optionen werden allgemein gültige Normen, Rechtsgrundsätze oder Fairnessstandards herangezogen, die für alle Verhandlungspartner gültig und verbindlich sind. Auf diese Weise kann es gelingen, faire Lösungen zu entwickeln, die für beide Seiten Nutzen stiften, indem die jeweils zentralen Interessen befriedigt werden. Die Bewertung von Handlungsalternativen anhand von objektiven Kriterien bietet den Vorteil, dass Verhandlungspartner eine Lösung erarbeiten und nicht um eine Lösung feilschen, die zu Beginn des Gespräches zum Beispiel in Form von Positionen - 1.500 oder 1.000 Euro - artikuliert wird. Der Prozess des Erarbeitens von Lösungen ermöglicht es, „hart in der Sache, <?page no="273"?> 4.9 Sachbezogenes Verhandeln: Harvard-Methode 273 4 aber weich gegenüber den Menschen“ 381 zu sein. Diesem Grundsatz folgt das Harvard- Konzept, das sich in zahlreichen ökonomischen und politischen Verhandlungssituationen bewährt hat und im Folgenden an einem konkreten Beispiel dargestellt wird. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Ein promovierter Bereichsleiter eines internationalen Konsumgüterkonzerns plant, die Branche zu wechseln und seine Leidenschaft für Forschung und Lehre durch eine Bewerbung an einer renommierten privaten Hochschule umzusetzen. Die erste Phase des Bewerbungsprozesses und der Berufungsvortrag verlaufen vielversprechend. Lediglich die Gespräche über die zukünftige Vergütung führen sowohl aufseiten der Hochschulleitung als auch aufseiten des Bewerbers zu Irritationen. Ein abschließendes Treffen zwischen dem Hochschulpräsidenten und dem Bewerber aus der Industrie soll Klarheit bringen, ob beide Verhandlungspartner zu einer Lösung kommen oder ob eine Zusammenarbeit an den unterschiedlichen Gehaltsvorstellungen scheitert. Unter Berücksichtigung der Prinzipien der Harvard-Methode würde das Verhandlungsgespräch in folgenden, in Abbildung 113 skizzierten Schritten ablaufen: 382 Abbildung 113: Die sechs Elemente erfolgreicher Verhandlungen In einem ersten Schritt werden vor der Thematisierung des Sachproblems mögliche Beziehungsprobleme angesprochen, transparent gemacht und sofern möglich gelöst. Dies ist erforderlich, da die oben erwähnten wechselseitigen Irritationen die Diskussion über das Sachproblem überlagern würden. Der Bewerber kann dies vermeiden, indem er beispielsweise zu Beginn des Treffens seine Wahrnehmung der Situation mit folgender Aussage zum Ausdruck bringt: „In unseren zurückliegenden Gesprächen hatte ich den Eindruck, dass das Thema Gehalt zu Irritationen geführt hat. Hatten Sie 381 Fisher, Ury & Patton (2004, S. 21). 382 Vergleiche zu den einzelnen Prozessschritten Fisher & Shapiro (2007, S. 263 f). <?page no="274"?> 274 4 Marketing und Vertrieb einen ähnlichen Eindruck? “ Sollte der Hochschulpräsident bereit sein, die Frage zu beantworten und seine Wahrnehmung der Situation zu artikulieren, besteht die Möglichkeit, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu verstehen und auf dieser Basis gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Das Thematisieren von Beziehungsproblemen und Wahrnehmungen veranlasst Verhandlungspartner häufig zu positionsbezogenen Aussagen. So könnte der Hochschulpräsident die Meinung vertreten: „Sie müssen verstehen, dass Hochschulen ein anderes Gehaltsgefüge als Industrieunternehmen haben und daher gewisse Grenzen nicht überschreiten können.“ Der Bewerber würde zum Beispiel erwidern: „Ungeachtet dessen muss ich sicherstellen, dass meine Gehaltseinbußen bei der Annahme einer Professur möglichst gering bleiben.“ Ein Abdriften in einen positionsbezogenen Verhandlungsstil kann vermieden werden, indem die Verhandlungspartner in einem zweiten Schritt versuchen, hinter Positionen liegende Interessen zu erkennen und auszutauschen, um anschließend Lösungsmöglichkeiten für disparate Präferenzen zu erarbeiten. Der Hochschulpräsident dürfte beispielsweise daran interessiert sein, die Gehaltsstruktur seiner Hochschule nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, den Bewerber anhand von Leistungskriterien zu vergüten und sein Verlustrisiko möglichst gering zu halten. Hinter der Position des promovierten Bereichsleiters, Gehaltseinbußen zu minimieren, verbirgt sich unter Umständen nicht nur der Wunsch nach einer angemessenen Vergütung, sondern auch das Interesse an einer langfristigen Beschäftigungsperspektive und an Zusagen, die geplanten Lehr- und Forschungsaktivitäten durchführen zu können und hierfür gegebenenfalls Unterstützung durch einen Mitarbeiter zu erhalten. Auf der Grundlage aufgedeckter Interessen werden in einem dritten Schritt Optionen entwickelt, um sowohl die Interessen des Hochschulpräsidenten als auch jene des Bewerbers optimal - im Sinne einer Win-win-Situation - befriedigen zu können. Die einzelnen Handlungsalternativen werden in einem vierten Schritt anhand von Fairnessstandards bewertet, um sicherzustellen, dass wechselseitig akzeptierte, objektive Kriterien und nicht manipulative Gesprächsführungstechniken, Tricks oder Finten einer Verhandlungslösung zugrunde liegen. Verhandlungen müssen nicht zu einem positiven Ergebnis führen, denn beide Verhandlungsparteien haben das Recht, das potenzielle Verhandlungsergebnis mit verfügbaren Alternativen zu vergleichen und abzuwägen, wie entschieden werden soll. Der promovierte Bereichsleiter, der eine Professur an einer privaten Hochschule ergattern möchte, könnte die Verhandlungsübereinkunft mit dem Hochschulpräsidenten mit seiner besten Ausweichalternative vergleichen - zum Beispiel einer Professur an einer staatlichen oder einer ausländischen Hochschule -, bevor er eine Entscheidung trifft. Die Ausweichalternative, die im englischsprachigen Kontext als BATNA - als Best Alternative To a Negotiated Agreement - bezeichnet wird, sollte nicht zum Aufbau einer Drohkulisse genutzt werden. Mögliche Handlungsalternativen können aber zur Sprache kommen, um die Diskussion über Optionen neu anzuregen. <?page no="275"?> 4.9 Sachbezogenes Verhandeln: Harvard-Methode 275 4 Verhandlungspartner stimmen in einem letzten Schritt einer Verhandlungsübereinkunft zu, wenn die jeweils verfügbaren BATNAs schlechter sind und wenn das verhandelte Ergebnis realisierbar, verbindlich und für beide Seiten fair ist. Weiterführende Hinweise Die Methode des sachbezogenen Verhandelns kann prinzipiell in allen Verhandlungssituationen angewendet werden. Dabei hat es sich als sinnvoll erwiesen, bereits im Vorfeld einer Verhandlung die einzelnen Prozessschritte gedanklich durchzuspielen, um sich der eigenen Interessen und BATNAs bewusst zu werden und um die möglichen Interessen oder BATNAs der Verhandlungspartner zu antizipieren. Durch eine systematische und an den sechs Elementen erfolgreicher Verhandlungen orientierte Vorbereitung wird die Chance auf eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung vergrößert. Ungeachtet aller vorbereitenden Schritte und methodischen Reflexionen stößt man in der Praxis immer wieder auf schwierige Verhandlungspartner, die aus Furcht, Misstrauen oder falsch verstandenem Konkurrenzverhalten nicht kooperieren können oder wollen. Auch wenn es für diese schwierigen Verhandlungssituationen kein Patentrezept gibt, kann unter Berücksichtigung der zentralen Aspekte der Harvard-Methode eine Annäherung erzielt werden, indem man zum Beispiel die Wahrnehmungen und Interessen aufdeckt, die hinter einer Sieger-Verlierer-Mentalität stecken. Zudem kann man im Rahmen der Diskussion über Optionen den Versuch unternehmen, das Spiel der Gegenseite zu ändern und einen einheitlichen Rahmen und damit verbundene Regeln zu finden. Schließlich kann man auch die in Kapitel 4.8 diskutierte OPAL-Methode anwenden, um die Gegenseite beispielsweise erkennen zu lassen, welche Auswirkungen ein negatives Verhandlungsergebnis hätte. <?page no="277"?> 5 Strategische Analyse <?page no="278"?> 278 5 Strategische Analyse Strategien fallen nicht vom Himmel, sondern müssen entwickelt werden. 383 Sie sind wegweisend für die Zukunft eines Unternehmens, da sie beschreiben, was zu tun ist, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. Wie sollen beispielsweise traditionelle Automobilhersteller angesichts des wachsenden Umweltbewusstseins breiter Bevölkerungsschichten vorgehen, um weiterhin erfolgreich zu sein? Durch welche Strategie kann ein Computerhersteller sinkende Umsätze im Hard- und Softwaregeschäft ausgleichen und den Markt für Unterhaltungselektronik besetzen? Was sollte eine Hochschule tun, um die Organisation langfristig auf Erfolg auszurichten: den Fokus auf industrielle Forschung oder auf herausragende Lehre richten und eher Bachelor- oder Masterstudiengänge anbieten? All diese Fragen verweisen auf Maßnahmen zur Erreichung von Zielen und damit auf die Entwicklung und Veränderung von Unternehmen. Die Definition und Umsetzung möglichst zielgerichteter und koordinierter strategischer Aktivitäten basieren auf einem systematischen Analyse- und Planungsprozess. Im Rahmen dieses Prozesses wird die Ausgangssituation von Unternehmen bestimmt, indem man vor dem Hintergrund der Vision und Mission die Chancen und Risiken des Umfeldes sowie die Stärken und Schwächen des Unternehmens untersucht. Wie in Abbildung 114 dargestellt, bildet die Umfeldbeziehungsweise externe Analyse und die Unternehmensbeziehungsweise interne Analyse das Herzstück der Strategieentwicklung. Abbildung 114: Prozess der strategischen Analyse, Planung, Umsetzung und Kontrolle Die externe Analyse verfolgt das Ziel, alle relevanten Umweltbedingungen zu identifizieren, um Produkte, Dienstleistungen und Prozesse eines Unternehmens an die 383 Zur Kritik an der Vorstellung, dass Strategien Ergebnis eines rational-analytischen Entwicklungsprozesses sind, vergleiche zum Beispiel Mintzberg, Ahlstrand & Lampel (2012). <?page no="279"?> 5 Strategische Analyse 279 5 Markt-, Wettbewerbs- und Kundenspezifika anzupassen. Mit Hilfe der im Folgenden diskutierten Umwelt-, Branchenstruktur- oder Wettbewerbsvorteilsanalyse und der in Kapitel 4 beschriebenen Kundenanalyse kann man Chancen und Risiken sowie die Position eines Unternehmens im Markt, in der Branche und gegenüber Wettbewerbern und Kunden bestimmen. Welche Bedingungen man dabei als Chance und welche als Risiko klassifiziert, hängt unmittelbar von den internen Stärken und Schwächen eines Unternehmens ab. Stehen einer Organisation beispielsweise umfangreiche personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung, können gegebenenfalls Umweltrisiken ausgeglichen und existierende Chancen genutzt werden. Inwiefern dies möglich ist, zeigen die Ergebnisse der Unternehmensbeziehungsweise internen Analyse. Die interne Analyse nimmt Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen eines Unternehmens in den Blick, identifiziert Stärken und Schwächen und bietet die Chance, in Abstimmung mit den Umweltbedingungen Maßnahmen zur Verbesserung der strategischen Position abzuleiten. Die Wertketten-, Produktlebenszyklus- oder Erfahrungskurvenanalyse, die in der zweiten Hälfte dieses Kapitels vorgestellt werden, liefern die erforderlichen Informationen, um interne Probleme aufzudecken und deren Ursachen zu ermitteln. Die Methoden zeigen, welche Prozesse, Wertschöpfungsstufen oder Portfolioelemente im Vergleich zum Wettbewerb und mit Blick auf die Anforderungen von Kunden optimiert werden müssen. Die Ergebnisse der externen und internen Betrachtung werden mit einer SWOT-Analyse zusammengeführt und in strategische Handlungsoptionen übersetzt. Die SWOT-Analyse bildet insofern die Brücke zwischen strategischer Analyse, strategischer Planung und Strategieformulierung. Anknüpfend an die Entwicklung von Unternehmens-, Geschäftsbereichs- oder Funktionalstrategien sind diese umzusetzen und im Unternehmen zu implementieren. Das heißt, die Strategie muss in Teilstrategien und Einzelmaßnahmen zerlegt, die Organisation für die Implementierung vorbereitet und das erforderliche Personal bereitgestellt werden. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist dabei die adäquate Kommunikation der Strategie auf allen Unternehmensebenen, da man alle betroffenen Mitarbeiter mit den entsprechenden Zielen und Aktivitäten vertraut machen sollte, um Motivation und Veränderungswillen zu schaffen. Schließlich ist der Erfolg einer Strategie bereits im Verlauf der Umsetzung mit Hilfe geeigneter Methoden und Techniken zu überprüfen, um bei Fehlentwicklungen oder geänderten Marktbedingungen gegensteuern zu können. Die Erfahrungen mit der so genannten New Economy sowie mit der jüngsten Finanzkrise haben eindrucksvoll belegt, dass eine Durchführungs- und Prämissenkontrolle sowie eine kontinuierliche Kontrolle der strategischen Potenziale erforderlich sind, damit Unternehmen auf dem Weg von der Strategieentwicklung zur Strategieumsetzung nicht ins Stocken oder in Schieflage geraten. Insofern sollten alle vier Phasen des Strategieprozesses gleichermaßen berücksichtigt und mit Hilfe bewährter betriebswirtschaftlicher Methoden ausgestaltet werden: Zielbildung und strategische Analyse, Strategische Planung, <?page no="280"?> 280 5 Strategische Analyse Strategieumsetzung, Strategische Kontrolle. Im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels stehen Methoden, die der ersten Phase zugeordnet werden können, während Kapitel 6 Methoden der strategischen Planung, der Strategieumsetzung und der strategischen Kontrolle beinhaltet. <?page no="281"?> 5 5.1 Umweltanalyse: PESTEL-Analyse Problemstellung: Identifikation und Analyse aktueller und potenzieller Makrobedingungen und Trends zur Bestimmung der Attraktivität nationaler und internationaler Märkte Zielgruppe: Marketing- und Internationalisierungsverantwortliche, Marktforscher, Business Development Manager Voraussetzungen: Beschaffung von Primär- und Sekundärdaten zu politischen, ökonomischen, sozio-kulturellen und technologischen Einflussfaktoren Zielsetzung der Umweltanalyse In den zurückliegenden Jahren hat sich das wirtschaftliche Umfeld von Unternehmen verändert, indem eine nationale Grenzen überwindende Wirtschaftsordnung mit international vernetzten Märkten entstanden ist. Dieser Prozess, der mit Stichworten wie Globalisierung 384 und Internationalisierung charakterisiert wird, stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen. Insbesondere Exportnationen wie Deutschland sehen sich mit neuen Marktstrukturen und Marktteilnehmern konfrontiert, die längst nicht mehr nur national, sondern international und global miteinander konkurrieren. Insofern hängt der Unternehmenserfolg immer mehr davon ab, in den Boomregionen der Weltwirtschaft präsent zu sein und gleichzeitig die Wettbewerbsposition auf heimischen Märkten zu sichern. Voraussetzung für derartige Internationalisierungs- und Positionierungsstrategien ist die genaue Kenntnis der Chancen und Risiken der jeweiligen Zielmärkte sowie der ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Kräfte, die dort wirken. Ziel der Umweltbeziehungsweise der PESTEL-Analyse ist es, die Einflüsse eines Marktes und damit die Rahmenbedingungen eines Unternehmens auf einer Makroebene zu untersuchen. Die Informationen der globalen Umweltanalyse sind für die Wahl einer Strategie oder Strategienkombination relevant und dienen als erster Baustein bei der Strategieentwicklung. Neben der Analyse der Umwelt sind auch die internen Stärken und Schwächen eines Unternehmens in den Blick zu nehmen, die als zweiter Baustein der Strategieentwicklung Auskunft darüber geben, ob Unternehmen die Ressourcen besitzen, die selbst gesteckten Ziele in den jeweiligen Umwelten zu erreichen. 385 Hierzu kann zum Beispiel auf die in den Kapiteln 5.6 und 5.8 diskutierten Methoden der Wertketten- oder der Produktlebenszyklusanalyse zurückgegriffen werden. 384 Zu den Theorien der Globalisierung siehe zum Beispiel Rehbein & Schwengel (2008). 385 Vergleiche Müller-Stewens & Lechner (2011, S. 154 ff) sowie im Überblick Bea & Haas (2017) und Welge, Al-Laham & Eulerich (2017). 5.1 Umweltanalyse: PESTEL-Analyse 281 <?page no="282"?> 282 5 Strategische Analyse Beschreibung der Umweltanalyse Im Rahmen der strategischen Analyse versuchen Unternehmen, alle relevanten Informationen mit dem Ziel zu beschaffen, eine Strategie zu formulieren und auszuwählen, mit deren Hilfe eine Anpassung des Unternehmens an die Umwelt erzielt werden kann. Dieser so genannte Strategie-Fit stellt eine wesentliche Voraussetzung für die langfristige Überlebenssicherung von Organisationen dar. Damit dies gelingt, ist in einem ersten Schritt eine Umweltanalyse durchzuführen, die in zwei Stufen unterteilt werden kann: Auf der ersten Stufe ist die globale Umweltanalyse angesiedelt, die allgemeine Umweltfaktoren zum Gegenstand hat, während die spezifische Umweltanalyse auf der zweiten Stufe die so genannte Aufgabenumwelt eines Unternehmens wie Lieferanten, Kunden oder Wettbewerber in den Blick nimmt. Bei der PESTEL-Analyse handelt es sich um eine globale Umweltanalyse, in deren Rahmen das Umfeld von Unternehmen in die Bereiche Politik, Wirtschaft, Soziokultur, Technologie, Ökologie und Recht unterteilt wird, wobei sich das Akronym PESTEL aus den Anfangsbuchstaben der englischsprachigen Umfeldfaktoren Political, Economic, Sociocultural, Technological, Ecological und Legal ableitet. In der Praxis wird die Untersuchung des unternehmensrelevanten Umfeldes häufig nur als PEST-Analyse durchgeführt, wobei sich in vielen Fällen gezeigt hat, dass eine Erweiterung um ökologische und rechtliche Faktoren sinnvoll ist, um ein vollständiges Bild der Rahmenbedingungen und Trends zu erhalten, welche die Möglichkeiten der Geschäftstätigkeit von Unternehmen beeinflussen. 386 Die Faktoren der globalen Umweltanalyse bilden einen Handlungsrahmen, an den sich Unternehmen anpassen müssen, da dieser durch aktive Maßnahmen nur unwesentlich beeinflusst werden kann. Die einzelnen, von Farmer und Richman 387 in die Diskussion gebrachten und in Abbildung 115 aufgeführten PESTEL-Aspekte können wie folgt beschrieben werden: 388 Politische Umweltfaktoren beeinflussen Unternehmen auf vielfältige Weise und umfassen Aspekte wie die Stabilität eines staatlichen Systems und seiner Organe, politische Ideologien und wirtschaftspolitische Grundsätze. Bei der Analyse internationaler Handlungsumwelten stellen insbesondere die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der politischen Akteure, Organisationen und Institutionen wichtige Rahmenbedingungen dar, die den Erfolg oder Misserfolg einer Strategie mitbestimmen. Ökonomische Umweltfaktoren beschreiben die Bedingungen auf den Güter- und Faktormärkten, also den Märkten für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit. Um gesamtwirtschaftliche Entwicklungen zu bestimmen, werden Aspekte wie das Bruttoinlandsprodukt, die Bevölkerungsstruktur, die Inflationsrate, Wechselkurse, das Pro-Kopf-Einkommen, die Arbeitslosenquote, die Investitionsentwicklung und die öffentlichen Finanzen berücksichtigt. 386 Vergleiche Fink (2009, S. 251 ff) und Welge & Al-Laham (2012, S. 289 ff). 387 Siehe Farmer & Richman (1965). 388 Vergleiche Johnson, Whittington, Scholes, Angwin & Regnér (2018, S. 64 ff). <?page no="283"?> 5.1 Umweltanalyse: PESTEL-Analyse 283 5 Abbildung 115: Faktoren der globalen Umweltanalyse Soziokulturelle Umweltfaktoren können zum Teil direkt ermittelt, zum Teil jedoch nur indirekt erschlossen werden. Mit Hilfe empirischer Primär- oder Sekundäranalysen lassen sich beispielsweise die Konsumgewohnheiten, das Freizeitverhalten oder die Einstellungen gegenüber Produkten, Dienstleistungen oder Institutionen aufdecken. Demgegenüber entziehen sich Aspekte wie Werte, Normen und religiöse Überzeugungen oder Vorstellungen über Schönheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit einer direkten Bestimmung, da diese Faktoren - gemäß dem zur Erklärung kultureller Differenzen verwendeten Eisberg-Modell 389 - unsichtbar sind beziehungsweise unterhalb der Wahrnehmungsoberfläche liegen. Technologische Umweltfaktoren haben in der jüngeren Vergangenheit durch Innovationen in der Informations- und Kommunikationstechnologie an Bedeutung gewonnen und neue Möglichkeiten der Effizienzsteigerung geschaffen. Neben Veränderungen in der Mikroelektronik, der Biotechnologie, der Energiewirtschaft oder der Logistik üben auch Aspekte wie die Verfügbarkeit von Rohstoffen oder Infrastruktureinrichtungen und der Automatisierungs- und Technisierungsgrad eines Landes einen Einfluss auf die jeweilige Wertschöpfung von Unternehmen aus. Ökologische Umweltfaktoren spielten in der Vergangenheit für zahlreiche Unternehmen nur eine untergeordnete Rolle. Kriterien wie Umweltverschmutzung, Klimaveränderung oder Ressourcenverfügbarkeit sind jedoch in den Mittelpunkt des unternehmerischen sowie des privaten Interesses gerückt. Die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit dürften in Zukunft noch bedeutsamer werden und Unternehmen dazu bewegen, umweltfreundliche Herstellungsverfahren und Produkte zu entwickeln. Organisationen, denen es gelingt, mit der begrenzten Ressource Umwelt effizient umzugehen und die sich vor dem Hintergrund eines gestiegenen Umwelt- 389 Vergleiche zum Beispiel Rothlauf (2009, S. 25). <?page no="284"?> 284 5 Strategische Analyse bewusstseins als grünes Unternehmen positionieren, werden im nationalen und internationalen Kontext Wettbewerbsvorteile erzielen. Rechtliche Umweltfaktoren variieren national und international und stellen Restriktionen unternehmerischen Handelns dar. Dazu zählen beispielsweise Vorschriften, die bei der Unternehmensgründung und Unternehmensübernahme oder beim Unternehmenszusammenschluss berücksichtigt werden müssen. Weitere Aspekte werden durch die Steuer-, Tarif- und Beschäftigungsgesetze oder durch Wettbewerbsregelungen und Haftungsbestimmungen festgelegt. Bei der Durchführung einer Umweltanalyse ist darauf zu achten, dass die einzelnen Faktoren mit Blick auf ihre Bedeutung und Wirkung analysiert und nicht nur beschrieben werden. Denn eine systematische Analyse unterscheidet sich von einer oberflächlichen Beschreibung vor allem hinsichtlich der Nutzbarkeit für die Strategieentwicklung. Mit Blick auf die Strategieentwicklung und Strategieformulierung und die unternehmensinternen Ressourcen sollten zudem Datenfriedhöfe vermieden und nur die relevanten unternehmensexternen Faktoren berücksichtigt werden. Bei der Trennung in relevante und irrelevante Umweltaspekte können die Unternehmensziele als Filter dienen, indem für die einzelnen Faktoren geprüft wird, ob deren aktuelle oder zukünftige Ausprägungen die Sach- oder Leistungsziele einer Organisation beeinflussen. Ist dies der Fall, sind die entsprechenden Faktoren als bedeutsam zu klassifizieren und in die Analyse aufzunehmen. 390 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Immer mehr Unternehmen sind nicht nur auf heimischen Märkten, sondern grenzüberschreitend tätig. Zur Auswahl der richtigen Zielmärkte kann erfahrungs- oder marktforschungsorientiert vorgegangen werden. Bei einer marktforschungsorientierten Marktauswahl werden die attraktivsten Auslandsmärkte in einem mehrstufigen Prozess ermittelt, an dessen Anfang die Umweltbeziehungsweise PESTEL-Analyse steht. 391 Verfolgt beispielsweise ein Unternehmen das Ziel, neue Absatzmöglichkeiten außerhalb des Heimatmarktes zu erschließen, können in einem ersten Schritt alle relevanten Umweltfaktoren ausgewählter Zielländer ermittelt und bewertet werden, um darauf aufbauend eine Grobauswahl zu treffen. Dieses Vorgehen schafft eine objektive und valide Entscheidungsgrundlage für die Geschäftsführung. Die PESTEL-Analyse für ein Unternehmen könnte dabei in folgenden Schritten ablaufen: Bestimmung aller Umweltfaktoren, die das Unternehmen beeinflussen, Priorisierung der berücksichtigten Umweltfaktoren, Festlegung von Gewichtungsfaktoren für die wichtigsten Umweltfaktoren, Auswertung der Umweltfaktoren und Bestimmung der attraktivsten Zielländer. Im ersten Schritt werden alle PESTEL-Aspekte für die einzelnen Länder gesammelt, die aktuell oder in Zukunft einen Einfluss auf ein Unternehmen ausüben. Diese werden in einem zweiten Schritt priorisiert, um Komplexität zu reduzieren, aber auch, um 390 Vergleiche Welge & Al-Laham (2012, S. 289). 391 Vergleiche Neubert (2006, S. 90 ff). <?page no="285"?> 5.1 Umweltanalyse: PESTEL-Analyse 285 5 sicherzustellen, dass nur jene Faktoren Berücksichtigung finden, die den Unternehmenserfolg maßgeblich bestimmen. Die als wichtig klassifizierten Umweltfaktoren werden in einem dritten Schritt mit Gewichtungsfaktoren versehen, deren Summe 1 beziehungsweise 100 Prozent ergeben muss. Mit Hilfe der Gewichtungsfaktoren kann die Bedeutung der einzelnen Kriterien differenziert werden, da zum Beispiel soziokulturelle Aspekte für ein Unternehmen bedeutsam sein dürften, den Unternehmenserfolg jedoch nicht in gleicher Weise bestimmen wie ökonomische oder politische Faktoren. Die ausgewählten und mit Gewichtungsfaktoren versehenen PESTEL-Faktoren werden in einem letzten Schritt analysiert, um objektive Werte für die einzelnen Länder zu erhalten, die wiederum zur Bestimmung des attraktivsten Zielmarktes dienen. Kriterien G Land 1 Land 2 Land 3 Land N B G x B B G x B B G x B B G x B Politische Umweltfaktoren Handelshemmnisse … Wirtschaftliche Umweltfaktoren Marktpotenzial … Soziokulturelle Umweltfaktoren Kommunikation / Sprache … Technologische Umweltfaktoren Anzahl Logistikdienstleister … Ökologische Umweltfaktoren Emissionsregelungen … Rechtliche Umweltfaktoren Besteuerungsrichtlinien … G = Gewichtungsfaktor; B = Bewertung (zum Beispiel: 1 = sehr gut und 5 = sehr schlecht); G x B = gewichtete Bewertung Tabelle 6 : Beispielhafte PESTEL-Analyse zur Länderauswahl <?page no="286"?> 286 5 Strategische Analyse Tabelle 6 zeigt eine beispielhafte PESTEL-Analyse. Die aufgeführten Kriterien können weiter differenziert werden, indem man jeden Faktor beispielsweise in seiner aktuellen und in seiner prognostizierten Ausprägung betrachtet. Die PESTEL-Analyse bietet Unternehmen die Möglichkeit, eine Übersicht aller externen Einflussfaktoren zu erhalten. Zudem kann sie als Grundlage eines Marktinformationssystems dienen, welches im englischsprachigen Kontext als Market Monitoring System bezeichnet wird. Insofern ist es empfehlenswert, Umweltfaktoren aktueller und potenzieller Zielmärkte nicht nur bei Bedarf, sondern in definierten Zyklen zu erheben, zu dokumentieren und auszuwerten. Eine methodisch einheitliche und auf Kontinuität angelegte Erfassung markt- und wachstumsrelevanter Daten schafft die Voraussetzung für empirisch abgesicherte Länder- und Regionenvergleiche und damit die Chance, erfolgreiche Internationalisierungs- und Wachstumsstrategien zu entwickeln. Weiterführende Hinweise Die globale Umweltanalyse ist eine Methode, die typischerweise in Kombination mit weiteren Methoden zur Anwendung kommt, da eine isolierte Betrachtung der Makrodaten nur begrenzt aussagekräftig ist. Die Aussagekraft wird in der Praxis noch weiter eingeschränkt, wenn zu viele Faktoren berücksichtigt und oberflächlich ausgewertet werden oder wenn die Bewertung erfahrungs- und nicht datenorientiert erfolgt. Bei korrekter Durchführung bietet die PESTEL-Analyse wertvolle Hinweise zur strategischen Ausgangslage von Unternehmen - insbesondere, wenn sie um eine Branchenstruktur- und um eine Wettbewerbsvorteilsanalyse ergänzt wird, die im Mittelpunkt der Kapitel 5.2 und 5.3 stehen. <?page no="287"?> 5 5.2 Branchenstrukturanalyse: Five-Forces-Analyse Problemstellung: Identifikation und Analyse unternehmensexterner Einflussfaktoren zur Bestimmung der Attraktivität und Renditechancen einer Branche Zielgruppe: Marketing-, Vertriebs- und Internationalisierungsverantwortliche, Marktforscher, Business Development Manager Voraussetzungen: Beschaffung von Primär- und Sekundärdaten zu allen wettbewerbsrelevanten Aspekten eines abgegrenzten Geschäftsfeldes oder einer klar definierten Branche Zielsetzung der Branchenstrukturanalyse Wer sich in einem Markt erfolgreich positionieren will, darf das Augenmerk nicht nur auf die Kräfte des Makroumfeldes richten, die mit Hilfe der in Kapitel 5.1 diskutierten Umweltanalyse ermittelt werden können. Es sind auch die Kräfte des Mikroumfeldes wie Lieferanten, Kunden oder Wettbewerber zu untersuchen, welche die Attraktivität einer Branche maßgeblich bestimmen. Das heißt, vor der Entscheidung, in welchen Geschäftsfeldern ein Unternehmen tätig sein soll, ist zu klären, welche Rolle Lieferanten zukommt und ob diese in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stehen. Zudem ist zu prüfen, welchen Nutzen das Unternehmen für die Kunden stiftet und ob diese von dem Leistungsangebot Gebrauch machen werden. Die Möglichkeit, Gewinne zu erwirtschaften, hängt schließlich auch von der Art und Anzahl der Wettbewerber ab, die vergleichbare Produkte oder Dienstleistungen erstellen. Diese Faktoren - Lieferanten, Kunden und Wettbewerber - konstituieren die Branchenumwelt eines Unternehmens. Dabei wird unter einer Branche eine Gruppierung von Unternehmen verstanden, die Produkte herstellen, die aus Sicht des Kunden - wie in der Automobil- oder Elektronikbranche - einen ähnlichen Nutzen bieten und daher untereinander austauschbar sind oder - wie in der Chemie- oder Stahlbranche - vergleichbare Rohstoffe zur Produktion einsetzen. Das Ziel der Branchenstrukturanalyse besteht darin, die in einer Branche herrschenden Wettbewerbskräfte aufzudecken, um entscheiden zu können, in welchen Geschäftsfeldern ein Unternehmen, mit welchen Ressourcen und welcher Wettbewerbsstrategie vertreten sein will. 392 Beschreibung der Branchenstrukturanalyse Die bekannteste und wohl einflussreichste Methode zur Untersuchung der Branchenstruktur stammt von Porter, der fünf Kräfte - die so genannten Five Forces - unterscheidet: 393 die Verhandlungsmacht der Zulieferer, die Bedrohung durch neue Wettbewerber, die Verhandlungsmacht der Abnehmer, der Einfluss von alternativen Produkten - also von so genannten Substitutionsgütern - und der Konkurrenzdruck un- 392 Vergleiche Grant (2010, S. 64 ff) und Thommen (2008, S. 110). 393 Siehe Porter (2008). 5.2 Branchenstrukturanalyse: Five-Forces-Analyse 287 <?page no="288"?> 288 5 Strategische Analyse ter den vorhanden Wettbewerbern im Markt. Ausgangspunkt des in Abbildung 116 dargestellten Five-Forces-Modells ist die Frage, wie attraktiv eine Branche ist und welche Renditechancen diese bietet. Dabei wird auf Überlegungen der Industrieökonomik zurückgegriffen: Ein Unternehmen schafft Wert, wenn Kunden einen Preis zu zahlen bereit sind, der die Herstellungskosten übersteigt. Der erzielbare Mehrwert ist jedoch nicht mit dem erzielbaren Gewinn gleichzusetzen - es sei denn, es handelt sich um einen monopolistischen Markt. In nicht-monopolistisch strukturierten Märkten beziehungsweise Branchen sind die Höhe und die Aufteilung des Mehrwerts davon abhängig, wie intensiv der Wettbewerb ist. Existiert eine Vielzahl von Konkurrenten wird der Kunde den größten Teil des Mehrwerts als Konsumentenrente erhalten, während die Produzentenrente entsprechend geringer ausfällt. Anders formuliert: Ein einzelner Telekommunikationsanbieter kann in einem monopolistischen Markt einen höheren Preis erzielen als in einem liberalisierten, in dem zahlreiche Anbieter um die Gunst der Kunden werben. Die Branchenrendite ist jedoch nicht nur vom Wettbewerb und der Kundennachfrage abhängig, sondern auch von der Verfügbarkeit von Ersatzprodukten und der Machtposition der Lieferanten. 394 Porter nutzt diese Erkenntnisse und kombiniert die einzelnen Faktoren in einem Fünf-Kräfte-Modell, dessen Elemente wie folgt beschrieben werden können: 395 Abbildung 116: Five-Forces-Modell 396 Die Verhandlungsmacht der Zulieferer ist groß, wenn diese beispielsweise innovative Produkte oder Technologien anbieten, für die keine Substitute existieren. Eine gute 394 Vergleiche Grant & Nippa (2006, S. 100 f). 395 Vergleiche im Überblick Fink (2009, S. 177 ff) und Johnson, Scholes & Whittington (2011, S. 87 ff). 396 Modifiziert nach Porter (2004, S. 51). <?page no="289"?> 5.2 Branchenstrukturanalyse: Five-Forces-Analyse 289 5 Verhandlungsposition ergibt sich auch durch eine Konzentration der Lieferanten oder durch hohe Wechselkosten auf der Abnehmerseite. Demgegenüber steigen die Gewinnspielräume der Beschaffungsunternehmen mit der Verfügbarkeit von Alternativprodukten oder Alternativzulieferern, mit der Möglichkeit zur Rückwärtsintegration, indem unternehmerische Aktivitäten auf vorgelagerte Fertigungsstufen ausgedehnt und profitabel gestaltet werden oder durch einen Bedeutungsverlust der betroffenen Inputgüter im Rahmen der Wertschöpfung. Die Bedrohung durch neue Wettbewerber variiert mit der Höhe der Markteintrittsbarrieren und mit den erzielbaren Renditen in einer Branche. Das heißt, je geringer die Eintrittsbarrieren und je größer die Attraktivität einer Branche, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten neuer Anbieter. Markteintrittsbarrieren stellen insofern einen wirksamen Schutz vor Neuankömmlingen dar, durch deren Aktivität die durchschnittlichen Gewinne der einzelnen Branchenunternehmen sinken würden. Typische Eintrittsbarrieren sind Economies of Scale, die sich aus hohen Produktionskapazitäten ergeben, der Zugang zu Lieferanten- und Vertriebsnetzen, eine hohe Kundenzufriedenheit und Kundenloyalität oder die glaubhafte Drohung der bestehenden Konkurrenten, einen Markteintritt mit Preiskriegen oder aggressiven Marketingkampagnen zu beantworten. Eintrittsbarrieren können auch vom Gesetzgeber durch Patente oder Zölle geschaffen oder durch Deregulierung - wie in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland in den Bereichen Telekommunikation, Energie und Verkehr - abgebaut werden. Die Verhandlungsmacht der Abnehmer ergibt sich aufgrund ähnlicher Faktoren wie bei den Zulieferern: Der Gewinnspielraum von Unternehmen reduziert sich, wenn Abnehmer konzentriert auftreten und wenn Substitute verfügbar oder die Wechselkosten gering sind. Demgegenüber sinkt der Einfluss der Abnehmer, wenn Anbieter zum Beispiel Möglichkeiten der Vorwärtsintegration nutzen und ihre Wertschöpfungskette verlängern und sich in Richtung Endverbraucher bewegen können. Bei der Analyse der Abnehmermacht ist zu unterscheiden, ob es sich um Käufer auf einer Zwischenstufe der Branchenwertkette oder um Endverbraucher handelt. Letztere verfügen im Allgemeinen über weniger Verhandlungsmacht als Zwischenhändler oder weiterverarbeitende Unternehmen im Business-to-Business-Bereich. Die Industriegeschichte hält zahlreiche Beispiele bereit, die den Einfluss von alternativen Produkten verdeutlichen: So verdrängte beispielsweise die Compact Disc ab den 1980er-Jahren die Audiokassette, während die Umsätze von Compact Discs seit einigen Jahren aufgrund der zunehmenden Nutzung von Musik aus dem Internet im MP3- Format rückläufig sind. Die Bedrohung durch Substitutionsgüter ist besonders groß, wenn diese leicht zugänglich sind und einen vergleichbaren oder sogar einen höheren Kundennutzen bei ähnlichen Kosten aufweisen. Die Wettbewerbsrivalität beziehungsweise der Konkurrenzdruck unter den vorhandenen Wettbewerbern im Markt werden durch die beschriebenen und in Abbildung 116 mit Pfeilen versehenen Faktoren beeinflusst. Die Wettbewerbsrivalität wird zudem durch weitere Aspekte wie das Wachstum einer Branche oder die Kapazitätsauslas- <?page no="290"?> 290 5 Strategische Analyse tung bestimmt. Sind zum Beispiel die Wachstumsraten einer Branche gering, steigt der Wettbewerb. Preiskämpfe und sinkende Margen sind die Folge. Ähnliche Effekte können sich in schrumpfenden Branchen ergeben, in denen Kapazitäten frei werden und die Wettbewerbsdynamik verschärfen, da Unternehmen mit allen Mitteln versuchen, ihre Marktanteile zu verteidigen. 397 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Branchenstrukturanalyse als spezifische Umweltanalyse beantwortet die Frage, welche Branchen attraktiv sind und Gewinnpotenziale versprechen. Zur Bewertung der Attraktivität einer Branche kann in folgenden Schritten vorgegangen werden: Ermittlung der wettbewerbsbestimmenden Faktoren und der jeweiligen Treiber, Bewertung, Gewichtung und Priorisierung der Treiber, Bestimmung der Möglichkeiten zur aktiven Einflussnahme auf die Branchensituation, Gesamtbeurteilung der Branchenattraktivität und Ableitung von Konsequenzen. In einem ersten Schritt werden die Treiber der Porter’schen fünf Kräfte auf der Basis von zum Beispiel unternehmensinternen und unternehmensexternen Daten oder durch Kunden- und Expertengespräche ermittelt. Auf diese Weise erhält man einen Überblick über die Bestimmungsgründe der Branchenstruktur, die den Branchenwettbewerb beeinflussen, der wiederum dafür verantwortlich ist, welche Renditen in einer Branche erzielt werden können. Ein Unternehmen wird unter anderem die Gefahr der Vorwärtsintegration von Zulieferern, das Preis-Leistungs-Verhältnis von Ersatzprodukten, die Umstellungskosten der Abnehmer und absolute Kostenvorteile neuer Konkurrenten aus Niedriglohnländern sowie das Branchenwachstum und die strategischen Unternehmensinteressen der aktuellen Wettbewerber berücksichtigen. Die genannten Treiber werden in einem nächsten Schritt anhand von Kriterien bewertet, gewichtet und priorisiert, um aus den vielfältigen und umfassenden Informationen die relevanten als Entscheidungsgrundlage für das Unternehmen auszuwählen. Branchenstrukturen sind nicht starr, sondern können durch gezielte Maßnahmen der einzelnen Akteure verändert werden. Insofern sind in einem dritten Schritt die Einflussmöglichkeiten eines Unternehmens in den Blick zu nehmen und zu entscheiden, welche Wettbewerbskräfte in welcher Form durch die Nutzung interner Stärken und durch den Abbau interner Schwächen modifiziert werden können. Hierbei wird auf Methoden und Daten der Unternehmensanalyse zurückgegriffen, die in den Kapiteln 5.6 bis 5.9 erörtert werden. Aus den gewonnenen Erkenntnissen kann schließlich die 397 Der ehemalige CEO von Intel, Andrew Grove, erweiterte das Five-Forces-Konzept um eine weitere Kraft: die Stärke von Komplementärprodukten. Grove war der Auffassung, dass Branchenstruktur und Branchenrentabilität auch von den Anbietern von Komplementärprodukten bestimmt würden, da diese aufgrund ihrer wertstiftenden Funktion zur Befriedigung von Kundenbedürfnissen beitragen (vergleiche Jones & Hill 2013, S. 60). <?page no="291"?> 5.2 Branchenstrukturanalyse: Five-Forces-Analyse 291 5 Attraktivität einer Branche abgeleitet und bestimmt werden, unter welchen Bedingungen das Erzielen von Wettbewerbsvorteilen möglich ist. Die Five-Forces-Analyse bietet den großen Vorteil, die Struktur und Stärke des Wettbewerbs in einer Branche und damit die Chancen und Risiken eines Marktes transparent zu machen. Ein Nachteil der Methode ist, dass sie nur in Ergänzung mit weiteren Umwelt- und Unternehmensanalysen zu tragfähigen Aussagen für die Strategieentwicklung und Strategieformulierung führt. Denn „sie liefert … lediglich eine Momentaufnahme der aktuellen Situation der untersuchten Wettbewerbskräfte“ 398 . Zur umfassenden Beurteilung der Wettbewerbsbedingungen und zur Ableitung von Konsequenzen für die zukünftigen Branchenaktivitäten eines Unternehmens muss die Five- Forces-Analyse um Methoden erweitert werden, mit deren Hilfe die Dynamik von Branchen abgebildet werden kann. Hierzu eignen sich beispielsweise Lebenszyklusmodelle, welche die Phasen Entstehung, Wachstum, Reife, Sättigung und Degeneration von Branchen unterscheiden und die Möglichkeit bieten, Wettbewerbsstrukturen im Zeitablauf zu bestimmen und zukünftige Bedingungen zu antizipieren. Allerdings erweist sich die Anwendung des Branchenlebenszykluskonzeptes in der Praxis als schwierig, da Entwicklungsphasen in der Realität keinem idealtypischen Muster folgen und sowohl Sprünge als auch Verzögerungen aufweisen. Das heißt, eine Branche kann vor Erreichen der Reifephase verschwinden oder durch eine verlängerte Wachstumsphase mit verschiedenen Wellenbewegungen gekennzeichnet sein. 399 Einen Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma zwischen statischer Betrachtung einerseits und Lebenszyklusmodellierung andererseits bietet die komparative Branchenstrukturanalyse, die auf eine Einteilung in Lebensphasen verzichtet, aber dennoch dynamische Aspekte der Wettbewerbsstruktur berücksichtigt. Ein Beispiel: Abbildung 117 zeigt die Entwicklung einer Branche, in der zum Zeitpunkt t 1 die Wettbewerbskräfte gering und das Renditepotenzial gut ausgeprägt sind - ablesbar an der großen Fläche, die von der durchgezogenen Linie zwischen den Achsen gebildet wird. Zum Zeitpunkt t 2 , der beispielsweise drei Jahre in der Zukunft liegt, wird von einer Veränderung der Triebkräfte des Wettbewerbs ausgegangen. Die Prognose zeigt, dass sowohl die Macht der Zulieferer und Abnehmer als auch die Wettbewerbsrivalität und die Bedrohung durch neue Konkurrenten zunehmen werden, während die Attraktivität der Branche - zum Beispiel für Neueinsteiger - abnimmt. Die von der gestrichelten Linie umschlossene Fläche illustriert das deutlich gesunkene Gewinnpotenzial im Vergleich zum Zeitpunkt t 1 und das damit verbundene Risiko für Unternehmen, Ressourcen in dieser Branche einzusetzen. 400 Die komparative Five-Forces-Analyse erweitert die statische Betrachtung von Wettbewerbsstrukturen in einer Branche um eine Lebensverlaufsperspektive. Sie vermeidet jedoch die methodischen Fallstricke, die mit einer Lebensphaseneinteilung und den daraus resultierenden strategischen Implikationen verbunden sind. Obgleich der 398 Fink (2009, S. 179). 399 Vergleiche Fink (2009, S. 179 f). 400 Vergleiche Johnson, Scholes & Whittington (2011, S. 100 f). <?page no="292"?> 292 5 Strategische Analyse Abbildung 117: Dynamische Analyse der Branchenstruktur 401 prognostische Wert der komparativen Five-Forces-Analyse überschaubar ist, bietet die Methode wertvolle Anhaltspunkte, welche Chancen und Gefahren im Umfeld existieren und wie sich diese im Zeitablauf verändern. Weiterführende Hinweise Unternehmen sind in eine Makro- und in eine Mikroumwelt eingebettet, die im Rahmen der strategischen Analyse mit ihren jeweiligen Bedingungen, Strukturen und Kräften in den Blick genommen werden. Die Branchenstrukturanalyse im Sinne der Five Forces von Porter bietet die Möglichkeit, die Wirkungszusammenhänge einzelner Branchenfaktoren aufzudecken und Wettbewerbsstrategien zu entwickeln. So können Unternehmen zum einen die Rahmenbedingungen als gegeben hinnehmen und Nischen- oder Spezialstrategien verfolgen. Zum anderen können sie versuchen, Einfluss auf die Wettbewerbskräfte zu nehmen und deren Gleichgewicht zu verschieben. Unternehmen können schließlich Veränderungen der Kräfteverhältnisse prognostizieren und Maßnahmen darauf ausrichten. Auf diese Weise können sie strategische Lücken im Umfeld nutzen, die von Konkurrenten noch nicht beachtet werden. Kim und Mauborgne sprechen in diesem Zusammenhang von „blauen Ozeanen“ 402 - also von Markt- oder Branchensegmenten mit wenig Wettbewerb, die darauf warten, erschlossen zu werden. 401 Modifiziert nach Johnson, Scholes & Whittington (2011, S. 100). 402 Siehe Kim & Mauborgne (2005) sowie weiterführend Kim & Mauborgne (2018). <?page no="293"?> 5 5.3 Wettbewerbsvorteilsanalyse Problemstellung: Untersuchung und Verbesserung der strategischen Position eines Unternehmens oder eines Geschäftsbereiches Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichs- und Abteilungsleiter, Marketing- und Vertriebsverantwortliche, Marktforscher Voraussetzungen: Zugang zu Markt-, Kunden-, Wettbewerbs- und Kompetenzdaten im Rahmen von Primär- und Sekundäranalysen Zielsetzung der Wettbewerbsvorteilsanalyse Eine freie oder soziale Marktwirtschaft lebt und profitiert vom Wettbewerb. Dieser trägt unter anderem dazu bei, dass bedarfsgerechte Produkte angeboten, Produktionsfaktoren optimal genutzt und Innovationen gefördert werden. Die kontinuierlich voranschreitende „schöpferische Zerstörung“ 403 - womit die Verdrängung alter durch neue ökonomische Strukturen gemeint ist - zwingt Unternehmen zur Flexibilität und zur Anpassung eigener Produkte und Prozesse an die Erfordernisse des Marktes. Bei der Verfolgung des Zieles, wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben, rücken vor allem die Betrachtung und Bewertung von Konkurrenzunternehmen und deren Stärken und Schwächen in den Mittelpunkt. Im Rahmen einer Konkurrentenanalyse werden die Ziele, Strategien und Ressourcen von Wettbewerbern anhand von Checklisten untersucht, um die strategische Position der Konkurrenten zu bestimmen. Diese Form der Wettbewerbsbetrachtung liefert wie die in Kapitel 5.2 vorgestellte Branchenstrukturanalyse wichtige Daten über die Aufgabenumwelt beziehungsweise die spezifische Umwelt eines Unternehmens. Die Wettbewerbsanalyse bietet allerdings keine Anhaltspunkte, welche Vorteile das eigene Unternehmen gegenüber den wichtigsten Konkurrenten besitzt. Hierzu muss die isolierte Betrachtung des Wettbewerbs um eine Betrachtung des Marktes und der unternehmensinternen Kompetenzen erweitert werden. Das ist das Ziel der Wettbewerbsvorteilsanalyse, die insofern eine Kombination aus Markt-, Wettbewerbs- und Kompetenzanalyse darstellt. Sie geht über die Betrachtung des Wettbewerbs hinaus, indem sie unter Berücksichtigung der Anforderungen des Umfeldes die Stärken und Schwächen von Konkurrenten ins Verhältnis zu den Stärken und Schwächen des eigenen Unternehmens setzt. Auf der Basis der ermittelten Vor- und Nachteile eines Unternehmens oder einer Geschäftseinheit können Veränderungsmaßnahmen definiert und die Positionierung verbessert werden. 404 Beschreibung der Wettbewerbsvorteilsanalyse Die Wettbewerbsvorteilsanalyse ist eine betriebswirtschaftliche Methode, welche die Ergebnisse verschiedener Instrumente nutzt, um Aussagen über strategische Vor- und 403 Zu Begriff und Konzept der „schöpferischen Zerstörung“ siehe Schumpeter (2006). 404 Vergleiche Bea & Haas (2013, S. 125 f) und Welge & Al-Laham (2012, S. 348 ff). 5.3 Wettbewerbsvorteilsanalyse 293 <?page no="294"?> 294 5 Strategische Analyse Nachteile zu treffen. Dabei wird unter einem Wettbewerbsvorteil eine Leistung eines Unternehmens verstanden, die zum einen vom Kunden wahrgenommen und von diesem als bedeutsam eingestuft wird und zum anderen besser als die Leistung der Konkurrenz und möglichst dauerhaft, das heißt, nicht kurzfristig imitierbar ist. Zur Ermittlung von Wettbewerbsvorteilen reicht es gemäß dieser Definition nicht aus, Profile von Konkurrenten anhand von Kriterien wie Umsatz, Marktanteil, Profitabilität, Qualität oder Bekanntheit zu erstellen. Vielmehr sind neben den zentralen Wettbewerbern auch die Besonderheiten des Marktes und die Anforderungen der Kunden sowie die unternehmensspezifischen Kompetenzen in den Blick zu nehmen. Denn erst die systematische Verknüpfung externer und interner Potenziale ermöglicht es, die Position des eigenen Unternehmens präzise zu bestimmen. Dieses Vorgehen schützt vor strategischen Fehlschlüssen, die sich in der Praxis dadurch ergeben, dass von einer objektiv überlegenen Produktqualität - die zum Beispiel durch Produkttests unabhängiger Institute bestimmt werden kann - fälschlicherweise auf einen Wettbewerbsvorteil geschlossen wird. Ein Blick in die Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten von Unternehmen und Produkten der jüngeren Vergangenheit zeigt, dass der Markt beziehungsweise die Kunden und nicht das Unternehmen oder Gütesiegel bestimmen, was als Vorteil und was als Nachteil zu werten ist. Erst wenn Kunden eine Leistung erkennen und schätzen, besteht die Möglichkeit, einen Vorsprung zu erzielen und zu nutzen. Der erste Teil der Wettbewerbsvorteilsanalyse besteht demnach darin, die Anforderungen des Marktes zu ermitteln. Dabei kann beispielsweise auf vorliegende Ergebnisse von Kundenzufriedenheitsanalysen zurückgegriffen werden, die Auskunft darüber geben, welche Eigenschaften besonders wichtig und welche weniger wichtig sind. Leistungskriterien können zum Zweck der Durchführung einer Wettbewerbsvorteilsanalyse auch in einer eigenständigen empirischen Studie erhoben und aus Sicht der Kunden bewertet werden. Hierbei sind zunächst die relevanten Markt- und Kundensegmente festzulegen und entsprechend geeignete Stichproben zu ziehen. Als Ergebnis von Primärerhebungen erhält man eine Liste von Erfolgsfaktoren beziehungsweise Anforderungen des Marktes, deren Rangfolge aus Kundensicht festgelegt werden sollte. Auf diese Weise wird man dem Anspruch gerecht, nur jene Faktoren beim Vergleich des eigenen Unternehmens mit dem Wettbewerb zu betrachten, die in der Wahrnehmung der Kunden erfolgskritisch sind. Neben der Bestimmung und Bewertung der Anforderungen des Marktes werden die relevanten Wettbewerber identifiziert und hinsichtlich ihrer Bedeutung klassifiziert. Dabei kann sowohl auf Primärals auch auf Sekundärquellen zurückgegriffen werden. Primärquellen stellen zum Beispiel Branchenverbände, Messen, gemeinsame Lieferanten oder Kunden dar. Sekundärquellen - also bereits vorhandene und nicht erst neu zu beschaffende Informationen - können vorliegende Studien, Internetseiten von Unternehmen, Jahresberichte oder Daten statistischer Bundes- und Landesämter sein. Neben den aktuellen Konkurrenten sollten auch zukünftige Wettbewerber in die Analyse einbezogen werden, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse das relevante Konkurrenzumfeld widerspiegeln. Die relative Bedeutung der berücksichtigten Konkurrenten ergibt sich aus den Einzelergebnissen für die im ersten Schritt ermittelten An- <?page no="295"?> 5.3 Wettbewerbsvorteilsanalyse 295 5 forderungen des Marktes. Das heißt, für alle Wettbewerber werden Daten für alle Erfolgsfaktoren ermittelt, um anschließend das eigene Unternehmen mit dem jeweils besten Konkurrenten je Kriterium vergleichen zu können. Der dritte Teil der Wettbewerbsvorteilsanalyse besteht schließlich darin, die Leistungen des eigenen Unternehmens gegen die Marktanforderungen zu bewerten. Dies sollte aus Sicht der Kunden und nicht im Rahmen von unternehmensinternen Experteninterviews oder Workshops erfolgen. Letztere Variante kann gewählt werden, wenn Kundendaten nicht zur Verfügung stehen. Gleichwohl sind im Rahmen einer rein internen Bewertung die mangelnde Objektivität und gegebenenfalls auch die mangelnde Reliabilität der Ergebnisse zu beachten. Auf dieser Datenbasis sollte die Formulierung von Strategien daher nur mit Vorsicht erfolgen. Insofern sollten Unternehmen alle erforderlichen Anstrengungen unternehmen, um die eigene Position markt-, kunden- und wettbewerbsorientiert zu bestimmen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Wettbewerbsvorteilsanalyse kommt immer dann zur Anwendung, wenn die strategische Position eines Unternehmens oder eines Geschäftsbereiches untersucht und verändert werden soll. Obgleich sie den Methoden der Umweltanalyse zuzuordnen ist, erfordert ihre Durchführung auch einen Rückgriff auf Daten, die im Rahmen der Unternehmensanalyse gewonnen werden. So müssen neben Marktdaten zum Beispiel Informationen über interne Stärken und Schwächen beziehungsweise zentrale Kompetenzen vorliegen. Am Beispiel der Wettbewerbsvorteilsanalyse zeigt sich idealtypisch, dass betriebswirtschaftliche Methoden nicht nur isoliert zu betrachten und anzuwenden sind, sondern in der Praxis häufig erst kombiniert den gewünschten Nutzen stiften. Folgende Schritte sind bei einer Wettbewerbsvorteilsanalyse zu berücksichtigen: Bestimmung der Erfolgsfaktoren beziehungsweise Anforderungen des Marktes, Identifikation der gegenwärtigen und potenziellen Wettbewerber, Bewertung der Leistung des eigenen Unternehmens aus Kundensicht, Bewertung der Leistungen der Wettbewerber aus Kundensicht, Ermittlung der relativen Unternehmensleistung. Die Wettbewerbsvorteilsanalyse beginnt mit einer empirischen Bestimmung der wichtigsten Erfolgsfaktoren aus Marktsicht. Dabei ist zu prüfen, welche Anforderungen Kunden an die entsprechenden Produkte stellen. Diese können Preis-, Qualitäts-, Service-, Design- oder Imageaspekte sein. Die Daten sollten im Markt, also primär erhoben werden - idealerweise über schriftliche Fragebögen, persönliche Interviews oder Online-Surveys -, um subjektive Verzerrungen zu vermeiden, die bei unternehmensintern erstellten Anforderungslisten vielfach auftreten. Die Bedeutung der Merkmale wird mit Hilfe einer Likert-Skala gemessen, die zum Beispiel in sechs Stufen von „sehr wichtig“ bis „sehr unwichtig“ reicht. Auf diese Weise erhält man aus einer Vielzahl von Merkmalen eine Liste der wesentlichen Erfolgsfaktoren, welche die Basis für die sich anschließenden Vergleiche bildet. Bei Bedarf kann man auch mehr als die in Abbildung 118 aufgeführten Eigenschaften berücksichtigen. Allerdings sollte man be- <?page no="296"?> 296 5 Strategische Analyse achten, dass die Komplexität der Methode mit zunehmender Anzahl an Merkmalen steigt, während gleichzeitig Übersichtlichkeit und Trennschärfe abnehmen. Abbildung 118: Durchführung einer Wettbewerbsvorteilsanalyse 405 Im zweiten Schritt werden die wichtigsten gegenwärtigen und potenziellen Wettbewerber identifiziert. Dabei sollte man nur jene Konkurrenten in die Analyse einbeziehen, die vergleichbare Produkte, Zielgruppen und Strategien aufweisen, um den Arbeitsaufwand überschaubar zu halten und um die relative Leistungsbewertung auf ähnlich positionierte Unternehmen zu beschränken. An die Identifikation der wichtigsten Wettbewerber schließt sich die Bewertung der Leistungskriterien für das eigene Unternehmen an. Wie in Abbildung 118 aufgeführt, prüft man empirisch, wie das Unternehmen oder einzelne Geschäftsbereiche hinsichtlich der Eigenschaften 1 bis 6 auf einer Skala von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ abschneiden. Im vorliegenden Beispiel zeigt die Bestimmung der absoluten Wettbewerbsleistung aus Marktsicht, dass die Eigenschaften 1 und 3 sehr positiv bewertet werden, während Eigenschaft 5 im Negativbereich liegt. Diese Daten geben erste Anhaltspunkte über die Leistungsfähigkeit des eigenen Unternehmens, lassen den Wettbewerb jedoch unberücksichtigt und sind daher wenig aussagekräftig. Demzufolge sind in einem vierten Schritt die Leistungen der Wettbewerber mit Blick auf die berücksichtigten Eigenschaften zu analysieren. Auf diese Weise erhält man für alle relevanten Konkurrenten Vergleichsdaten und kann zudem bestimmen, welches Unternehmen bei welchem Merkmal die Benchmark darstellt. Diese Informationen sind für den letzten Schritt der Wettbewerbsvorteilsanalyse erforderlich, in dem die relative Unternehmensleistung berechnet wird. Ein Beispiel: Abbildung 118 zeigt, dass Eigenschaft 1 - beispielsweise die Qualität der Produkte - den befragten Kunden mit einem Wert von 4,5 sehr wichtig ist. Zudem illustriert der mittlere Teil der Abbildung, dass die Bewertung der Produktqualität des eigenen Unternehmens mit einem Wert von 4 405 Siehe hierzu auch das Comstrat-System von Simon & von der Gathen (2010, S. 210). <?page no="297"?> 5.3 Wettbewerbsvorteilsanalyse 297 5 sehr positiv ausfällt. Die relative Leistung für die Produktqualität wird schließlich ermittelt, indem die Leistung des eigenen Unternehmens mit der Leistung des besten Wettbewerbers - der so genannten Benchmark - verglichen wird. Im hier gewählten Beispiel ergibt sich für Eigenschaft 1 eine relative Leistung mit dem Wert 2 gemäß folgender Formel: Bewertung des eigenen Unternehmens minus Bewertung des besten Wettbewerbers gleich Wettbewerbsposition. Die im rechten Teil von Abbildung 118 dargestellte Matrix verknüpft insofern die Wichtigkeit eines Merkmals mit der relativen Leistung eines Unternehmens oder Geschäftsbereiches. Die Wichtigkeit der Produktqualität legt mit einem Wert von 4,5 den y-Achsenabschnitt fest, während die relative Leistung mit einem Wert von 2 den x-Achsenabschnitt bestimmt. Auf vergleichbare Weise können alle Erfolgsfaktoren in eine Matrix mit vier Quadranten eingeordnet und Normstrategien für das betrachtete Unternehmen abgeleitet werden. Abbildung 119: Bewertung der Wettbewerbsvorteilsanalyse 406 Die in Abbildung 119 skizzierten Ergebnisse der Wettbewerbsvorteilsanalyse lassen sich wie folgt interpretieren: Hinsichtlich der Merkmale 1 und 3 verfügt das betrachtete Unternehmen über einen strategischen Wettbewerbsvorteil. Das heißt, die Leistung ist aus Kundensicht wichtig und besser als die Benchmark. Das Unternehmen sollte daher versuchen, diese Anforderungen auch in Zukunft zu erfüllen, um weiterhin wettbewerbsfähig zu sein. Zudem sollte das Unternehmen strategische Wettbewerbsnachteile ausgleichen - also jene Kriterien optimieren, die Konkurrenten besser erfüllen und die den Kunden wichtig sind, wie beispielsweise Merkmal 2. Bei den Merkmalen 4, 5 und 6 handelt es sich um Anforderungen des Marktes, die den Kunden weniger wichtig sind. Dennoch sind auch für diese Kriterien Maßnahmen zu ergreifen: Die auf das Merkmal 6 bezogenen Aufwendungen können entweder reduziert werden, da ein Overperforming nicht zu strategischen Wettbewerbsvorteilen führt, oder sie sind zu erhöhen, um zum Beispiel mit Hilfe kommunikationspolitischer Aktivitäten die Bedeutung des Kriteriums in der Wahrnehmung der Kunden zu steigern. Die Leistung hinsichtlich der Merkmale 4 und 5 ist schließlich zu stabilisieren. 406 Modifiziert nach Simon & von der Gathen (2010, S. 214). <?page no="298"?> 298 5 Strategische Analyse Zudem sollte der Markt kontinuierlich mit Blick auf Veränderungen analysiert werden, da Verschiebungen auf der Wichtigkeitsskala bei gleichbleibender relativer Leistung zu Wettbewerbsnachteilen des eigenen Unternehmens führen. Weiterführende Hinweise Die Wettbewerbsvorteilsanalyse stellt eine Methode dar, mit deren Hilfe sowohl unternehmensexterne als auch unternehmensinterne Informationen zusammengefasst und in einer Matrix verdichtet werden können. Dieses Vorgehen, Wettbewerbsmerkmale aus Kundensicht nach Wichtigkeit und Leistungsfähigkeit zu differenzieren, bietet die Chance, aktuelle oder zukünftige Geschäftsaktivitäten nutzenorientiert zu gestalten und sicherzustellen, dass ein Unternehmen mindestens einen Wettbewerbsvorteil aufweist. Die üblicherweise in Anschlag gebrachten Normstrategien sind einfach zu visualisieren und zu interpretieren. Allerdings sollte bei der Anwendung der Wettbewerbsvorteilsanalyse berücksichtigt werden, dass eine Verdichtung von Informationen in einer Matrix stets mit Komplexitätsreduktion und einer vereinfachten Abbildung der Wirklichkeit einhergeht. Zudem sollte man den Aufwand bei der Datenerhebung nicht unterschätzen. Die erforderlichen Ressourcen, Instrumente und Stichproben sind daher sorgfältig zu planen und auszuwählen. <?page no="299"?> 5 5.4 Stakeholderanalyse Problemstellung: Umfassende Analyse der Unternehmens-, Geschäftsbereichs- oder Projektumwelt und Identifikation zentraler Interessengruppen Zielgruppe: Geschäftsbereichs- und Abteilungsleiter, Marktforscher, Projektleiter, Projektmitarbeiter Voraussetzungen: Kenntnis aktueller und potenzieller Interessengruppen und Beschaffung von Informationen zu deren Ansichten, Erwartungen und Einflussmöglichkeiten Zielsetzung der Stakeholderanalyse Die Umwelt von Unternehmen lässt sich in verschiedene Segmente unterteilen, die man je nach Erkenntnisinteresse mit Hilfe der PESTEL-, der Branchenstruktur- oder der Wettbewerbsanalyse untersuchen kann. 407 Neben globalen Umweltfaktoren, Branchenkräften und Konkurrenten kann man weitere Gruppierungen und Akteure berücksichtigen, die ebenfalls einen wesentlichen Einfluss auf den unternehmerischen Planungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozess ausüben. Dabei handelt es sich um so genannte Interessen- oder Anspruchsgruppen, die auch als Stakeholder 408 bezeichnet werden: Aktionäre, Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten oder Banken, Finanzbehörden und Umweltverbände beeinflussen den Erfolg eines Unternehmens, indem sie die Realisierung von Zielen unterstützen, behindern oder boykottieren können. Ziel der Stakeholderanalyse ist es, die Beziehungen des Unternehmens zu diesen Gruppierungen zu untersuchen, deren Macht zu bestimmen und Interessenkonflikte aufzudecken, um tragfähige Strategien im Umgang mit den wesentlichen Stakeholdern zu entwickeln. 409 Ein systematisches Stakeholdermanagement setzt insofern voraus, dass man eine breitere Perspektive als bei anderen betriebswirtschaftlichen Methoden einnimmt und die Unternehmensumwelt zunächst mit einem Weitwinkel- und nicht mit einem Teleobjektiv betrachtet. Der Stakeholderansatz kommt jedoch nicht nur bei der strategischen Analyse und Planung, sondern auch im Projekt- oder Changemanagement zum Einsatz, um die erfolgskritischen Akteure zu identifizieren und diese in den unternehmensbezogenen Wachstums- und Veränderungsprozess einzubeziehen. Beschreibung der Stakeholderanalyse Stakeholder sind Gruppen oder Individuen, die berechtigte Ansprüche an Unternehmen stellen. Diese können sehr heterogen sein, da interne Stakeholder wie Eigentümer oder Mitarbeiter und externe Stakeholder wie Fremdkapitalgeber oder Kunden 407 Zu den einzelnen Methoden siehe die Kapitel 5.1, 5.2 und 5.3. 408 Zur Entwicklung des Stakeholderansatzes siehe vor allem Freeman (1984). 409 Vergleiche Bea & Haas (2013, S. 112 f). 5.4 Stakeholderanalyse 299 <?page no="300"?> 300 5 Strategische Analyse verschiedenartige Interessen verfolgen und betriebliche Entscheidungen daher in unterschiedlichem Maße beeinflussen können. So streben zum Beispiel Anteilseigner nach Verzinsung des eingesetzten Kapitals, Mitarbeiter nach Arbeitsplatzsicherheit, Banken nach vertragsgemäßer Tilgung und Kunden nach Produkten mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis. 410 Als offene, dynamische und marktgerichtete soziale Systeme stehen Unternehmen mit ihrer Umwelt in wechselseitigem Austausch und müssen zur langfristigen Überlebenssicherung die Interessenpluralität der zentralen Bezugsgruppen ausgleichen. Das heißt, die einzelnen Gruppen müssen mit ihren disparaten Interessen identifiziert, untersucht und bewertet werden, um darauf aufbauend geeignete Maßnahmen abzuleiten. Das ist die Aufgabe der Stakeholderanalyse. In deren Mittelpunkt steht die Frage, welche Umweltaspekte man bei der Wahl und Umsetzung der Unternehmensstrategie berücksichtigen sollte und wie bedeutsam die Einflussmöglichkeiten der Bezugs-, Interessen- und Anspruchsgruppen im Einzelnen sind. Abbildung 120: Beispielhafte Stakeholder einer Hochschule 411 Abbildung 120 illustriert am Beispiel einer Hochschule ein typisches Stakeholdernetz. Die einzelnen Gruppierungen werden hinsichtlich der Kategorien Beziehungsintensität und Bedeutung kategorisiert, indem man jene Stakeholder nahe des Zentrums platziert und mit großen Kreisen versieht, deren Beziehung zur Hochschule eng und deren Bedeutung groß ist. Diese Einteilung versetzt die Hochschulleitung in die Lage, be- 410 Vergleiche Wöhe & Döring (2013, S. 51). 411 Modifiziert nach Kreuzer (2005, S. 19). <?page no="301"?> 5.4 Stakeholderanalyse 301 5 grenzte Mittel und Kapazitäten zielgerichtet zu allokieren, um die Ansprüche der wesentlichen Bezugsgruppen zu erfüllen. Welche Stakeholder jeweils berücksichtigt werden, ist abhängig von der Betrachtungsebene: So können die strategische Analyse und Planung aus der Perspektive des gesamten Unternehmens oder mit Blick auf einzelne Geschäftsbereiche oder funktionale Einheiten wie Beschaffung oder Vertrieb erfolgen. Zudem kann es vor Beginn oder im Verlauf von Projekten sinnvoll sein, interne Einflussnehmer zu identifizieren und deren Machtpotenzial zu bestimmen, um Aktivitäten für den Projekterfolg abzuleiten. Insgesamt haben die Anzahl und Komplexität der internen und externen Stakeholder in den letzten Jahren zugenommen. Vor allem global agierende Unternehmen sehen sich mit einer Vielzahl von nationalen und internationalen Anspruchsgruppen konfrontiert, die zum Teil länderübergreifend koordiniert werden müssen. Daraus resultiert nicht nur die Notwendigkeit zu detaillierter Analyse, sondern auch die Herausforderung, adäquat mit neuen Interessengruppen zu interagieren und entsprechende Kommunikationsinstrumente auszuwählen beziehungsweise zu entwickeln. 412 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Ermittlung des Einflusses von internen und externen Stakeholdern auf die Unternehmensführung und die Analyse der Erwartungshaltungen und Besonderheiten sowie des entsprechenden Beziehungsgeflechtes laufen in folgenden Schritten ab: 413 Zunächst werden die innerhalb und außerhalb des Unternehmens existierenden Gruppen identifiziert, die als interne und externe Stakeholder bezeichnet werden. Interne Stakeholder wie Anteilseigner oder Mitarbeiter üben einen direkten Einfluss auf den unternehmerischen Zielbildungs-, Planungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozess aus. Demgegenüber ist der Einfluss von externen Stakeholdern wie Banken, Lieferanten oder Gewerkschaften meist nur indirekt. Die direkten und indirekten Einflussmöglichkeiten und die entsprechenden Beziehungen werden aufgedeckt, um diese in einer Stakeholderlandkarte oder einem Stakeholdernetz zu visualisieren. Veränderungen im Unternehmensumfeld werden in einem nächsten Schritt in den Blick genommen. So kann sich zum Beispiel das Beziehungsnetz einer Hochschule aufgrund demografischer Entwicklungen oder aufgrund des Trends zu internationalen und praxisorientierten Studiengängen ändern. Mögliche Konsequenzen der aufgedeckten Umweltveränderungen werden in einem dritten Schritt analysiert und prognostiziert. So könnte die Anzahl von Studienbewerbern aufgrund sinkender Geburtenraten zurückgehen oder die Bedeutung von Partnerhochschulen und Wirtschaftsunternehmen angesichts der zunehmenden Internationalisierung von Bachelor- und Masterprogrammen und der verstärkten 412 Vergleiche zum letztgenannten Aspekt Bruhn (2013a, S. 587 ff). 413 Vergleiche Bea & Haas (2013, S. 113). <?page no="302"?> 302 5 Strategische Analyse Nachfrage nach Theorie und Praxis integrierenden Bildungsangeboten zunehmen. Zudem könnte der Einfluss von Eltern auf Duale Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten steigen, sofern immer häufiger Abiturienten aufgrund verkürzter Schulzeiten ein Studium noch vor Erreichen der Volljährigkeit beginnen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in einem letzten Schritt genutzt, um Chancen und Risiken - zum Beispiel für die hier betrachtete Hochschule - zu bestimmen. Eine systematische Chancen-Risiken-Betrachtung bildet schließlich die Basis für die Suche, Entwicklung und Implementierung geeigneter Strategien im Umgang mit den relevanten Stakeholdern. Interne und externe Anspruchsgruppen sind sowohl für Unternehmen und Geschäftsbereiche erfolgskritisch, als auch für Veränderungsmaßnahmen und Projekte in Organisationen. Insofern kann eine Stakeholderanalyse nicht nur im Rahmen des strategischen Managements zur Anwendung kommen, sondern auch wenn es um die Einführung eines neuen IT-Systems, die Entwicklung innovativer Produkte oder die Eingliederung akquirierter Unternehmen im Rahmen von M&A-Projekten geht. Auch in diesen Fällen ist es wichtig, Interessen und Einflussmöglichkeiten jener Akteure zu erfassen, die von den beschriebenen Entscheidungen betroffen sind und diese durchsetzen oder blockieren können. Die Vorgehensweise einer Stakeholderbetrachtung im Rahmen des Change- oder Projektmanagements orientiert sich ebenfalls an den Aspekten Identifikation, Analyse, Prognose und Bewertung. Die Durchführung weist allerdings einige Besonderheiten auf, die im Folgenden beschrieben werden: Die internen und externen Projektstakeholder werden in einem ersten Schritt identifiziert. Das heißt, es werden Akteure bestimmt, welche die Initiierung, Durchführung und Umsetzung von Projekten beziehungsweise Projektergebnissen beeinflussen können. Dabei sind vor allem jene Stakeholder in den Blick zu nehmen, die einem geplanten Projekt kritisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Abbildung 121: Stakeholdertypisierung <?page no="303"?> 5.4 Stakeholderanalyse 303 5 Das Commitment der relevanten Projektstakeholder sowie deren Interessen und Motivstrukturen werden in einem zweiten Schritt - zum Beispiel im Rahmen von explorativen oder teilstandardisierten Interviews - aufgedeckt. Dabei zeigt sich, dass es Saboteure, Pessimisten, Unbeteiligte, Veränderungsverantwortliche oder Meister des Wandels - so genannte Change Champions - gibt. Abbildung 121 illustriert mögliche Stakeholdertypen, die sich hinsichtlich ihres Aktivitätsniveaus unterscheiden: Demnach sind Saboteure aktiver in der Durchsetzung ihrer Interessen als beispielsweise stille Zweifler oder Optimisten und daher - im positiven wie im negativen Sinne - bedeutsamer für den Projekterfolg. Im dritten Schritt werden die typisierten Stakeholder anhand der Kriterien Betroffenheit und Einflussmöglichkeit in eine Matrix eingeordnet und danach differenziert, welchem Typ sie aktuell entsprechen beziehungsweise in Zukunft entsprechen sollten. Ein Beispiel: Abbildung 122 zeigt, dass Stakeholder 1 aufgrund seiner hierarchischen Position über großen Einfluss verfügt und von den geplanten Veränderungen in hohem Maße betroffen wäre. Ferner ist erkennbar, dass er dem Projekt aktuell pessimistisch gegenübersteht, es aber mit Blick auf den Projekterfolg wichtig wäre, ihn in die Position eines positiv agierenden Veränderungsverantwortlichen zu entwickeln. Abbildung 122: Stakeholdermatrix Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse werden schließlich Maßnahmen abgeleitet und Aktivitätenpläne für alle relevanten Stakeholder erstellt, um diese in die gewünschten Soll-Positionen zu bringen, womit die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Projekt geschaffen werden. <?page no="304"?> 304 5 Strategische Analyse Ein systematisches und aktives Stakeholdermanagement ist sowohl im Kontext eines Projektes als auch mit Blick auf die Entwicklung von Unternehmens- oder Geschäftsbereichsstrategien erforderlich. Denn der Erfolg eines Projektes oder eines Unternehmens hängt in hohem Maße davon ab, inwiefern es den Führungskräften gelingt, Einstellungen und Erwartungen der Interessenträger zu priorisieren und auszubalancieren, um Austauschbeziehungen nutzenstiftend zu gestalten. 414 Weiterführende Hinweise Die Entwicklung von Unternehmens- und Projektstrategien und entsprechenden Kommunikationsmaßnahmen setzt die Kenntnis der Stakeholdererwartungen voraus. Die Bedeutung dieser Erwartungen für die Unternehmensführung hat in den vergangenen Jahren insofern zugenommen, als das System Wirtschaft in zunehmendem Maße mit den Systemen Politik, Recht oder Wissenschaft gekoppelt ist und auf der Basis neuer Kommunikationstechnologien vor großen Herausforderungen steht. Zentrale Bedürfnisse der Stakeholder sind demnach nicht nur zu analysieren, sondern auch zu antizipieren, um für Worst-Case-Szenarien vorbereitet zu sein, wie sie BP, Toyota, Siemens oder VW aufgrund von Unfällen, Fertigungsmängeln, Schmiergeldzahlungen oder aufgrund des Dieselskandals in den vergangenen Jahren erlebt haben. Unternehmen sollten sich daher nicht nur auf ihre Kunden konzentrieren, sondern auch ein aktives Stakeholdermanagement praktizieren, um ein erfolgreiches Fortbestehen von Unternehmen und Marken zu gewährleisten. 414 Vergleiche Thommen & Achleitner (2012, S. 58). <?page no="305"?> 5 5.5 Benchmarking Problemstellung: Identifikation und Umsetzung von Verbesserungsmöglichkeiten auf der Basis eines systematischen Vergleiches von Geschäftsfeldern, Funktionsbereichen, Prozessen oder Produkten mit Spitzenunternehmen Zielgruppe: Geschäfts- und Funktionsbereichsleiter, Marktforscher und Experten aus den jeweils betroffenen funktionalen Bereichen Voraussetzungen: Zugang zu Funktions-, Prozess-, Methoden- oder Produktinformationen ausgewählter Referenzunternehmen und eindeutige Abgrenzbarkeit des Untersuchungsobjektes Zielsetzung des Benchmarkings Die Ermittlung von Stärken und Schwächen eines Unternehmens stellt einen wichtigen Bestandteil des strategischen Analyseprozesses dar. Hierzu kann auf eine Vielzahl von Methoden zurückgegriffen werden - zum Beispiel auf die Wertketten-, Lebenszyklus- oder Produktdeckungsbeitragsanalyse. Allerdings reicht es nicht aus, den Fokus auf das eigene Unternehmen zu richten und Stärken und Schwächen zu ermitteln, sondern Ressourcen und Kompetenzen einer Organisation müssen auch mit jenen des Wettbewerbs verglichen werden, um Anhaltspunkte für erforderliche Veränderungen zu erhalten. Eine Methode, die es ermöglicht, die eigene Marktposition und mögliche Leistungsdefizite durch einen systematischen Vergleich zu bestimmen, ist das Benchmarking. Dabei werden betriebliche Funktionen, Prozesse, Methoden und Produkte mit den Branchenbesten beziehungsweise mit Weltklassestandards verglichen, um auf der Basis von Leistungsdifferenzen Aktivitäten und Maßnahmen mit dem Ziel zu definieren, selbst die Benchmark - also der Beste der Besten - zu werden. 415 Beschreibung des Benchmarkings Der Begriff Benchmark bezeichnet einen Referenzpunkt der besten Industriepraktiken, der als Zielgröße für Verbesserungsmaßnahmen herangezogen werden kann, während Benchmarking den Prozess des Vergleichens mit erfolgreichen Wettbewerbern oder Marktführern unter Berücksichtigung der als relevant eingestuften Referenzwerte kennzeichnet. Als betriebswirtschaftliche Methode ist das Benchmarking etwa seit den 1980er-Jahren etabliert, nachdem der US-amerikanische Kopiergerätehersteller Xerox diesen Ansatz nach schwierigen Jahren der Marktanteilsverluste auf seinem Weg zurück an die Branchenspitze im eigenen Unternehmen etablierte und zum wesentlichen Bestandteil der Unternehmenskultur ausbaute. Xerox ermittelte im Wettbewerbsumfeld ähnliche Prozesse und Methoden und suchte nach besten Werten, um sich mit diesen zu vergleichen. Das Benchmarking hatte dabei drei Zielrichtungen, die auch heute noch relevant für entsprechende Vergleichsstudien sind: Zum einen wur- 415 Vergleiche Welge & Al-Laham (2012, S. 402 f) sowie im Überblick Bea & Haas (2017). 5.5 Benchmarking 305 <?page no="306"?> 306 5 Strategische Analyse den alle kundennahen Prozesse und Dienstleistungen sowie die jeweiligen Produktqualitäten in den Blick genommen. Zum anderen standen die Verbesserung des Unternehmenswertes und der Profitabilität zum Beispiel durch Kostensenkungen und Umsatzsteigerungen im Mittelpunkt. Schließlich wurden Zielwerte herangezogen, um die Innovationskraft des Unternehmens durch ein optimiertes Management der Ideenentwicklung und Ideenumsetzung zu erhöhen. 416 Benchmarking-Objekte Funktionen Prozesse Methoden Produkte Benchmarking-Zielgrößen Kosten Qualität Zeit Kundenzufriedenheit Benchmarking-Formen internes Benchmarking konkurrenzorientiertes Benchmarking brancheninternes Benchmarking branchenübergreifendes Benchmarking Tabelle 7: Benchmarking-Objekte, Benchmarking-Zielgrößen und Benchmarking-Formen Vor der Durchführung einer Benchmarking-Studie muss man zunächst Entscheidungen hinsichtlich der Benchmarking-Objekte, der Benchmarking-Zielgrößen und der Benchmarking-Formen treffen. Tabelle 7 zeigt, dass die Benchmarking-Objekte Funktionen, Prozesse, Methoden oder Produkte des Unternehmens sein können. Typischerweise werden jene Objekte ausgewählt, die Leistungsdefizite aufweisen und denen eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Wettbewerbsvorteilen zukommt. Benchmarking-Zielgrößen sind zum Beispiel Personal-, Material- und Produktionskosten oder Qualitätsaspekte wie Ausschuss- und Reklamationsquoten. Die Zielgröße Zeit umfasst Prozesskennzahlen wie Durchlauf-, Bearbeitungs-, Liege- und Wartezeiten oder die Termintreue, während kundenbezogene Ziele die Kundenzufriedenheit oder die Wiederkaufsrate darstellen können. Unternehmen ziehen zu Vergleichszwecken recht häufig eigene Unternehmensbereiche oder Tochtergesellschaften heran. Diese als internes Benchmarking bezeichnete Form bietet den Vorteil, dass die Datenerhebung effizient und kostengünstig erfolgt. Allerdings werden hierbei oft keine optimalen Lösungen und echte Best Practices gefunden, da die interne Überprüfung von Leistungsstandards eine Variante des Qualitätsmanagements und keine zielgerichtete Wettbewerbsanalyse ist. Eine weitere Benchmarking-Form stellt der Vergleich mit externen Partnern dar, wobei entweder direkte Konkurrenten beziehungsweise beste Wettbewerber oder im Rahmen des brancheninternen Benchmarking Standards eines Unternehmens mit der gesamten Branche verglichen werden. Branchenübergreifendes Benchmarking stellt die Leistung eines Unternehmens den besten Organisationen verschiedener Branchen und Märkte gegenüber, um auf diese Weise nicht nur Ver- 416 Vergleiche im Überblick Zairi (1998, S. 5 ff). <?page no="307"?> 5.5 Benchmarking 307 5 besserungspotenziale, sondern auch Innovationsmöglichkeiten durch einen Blick über den Tellerrand zu ermitteln. 417 Die Wahl der richtigen Benchmarking-Form kann anhand verschiedener Kriterien getroffen werden. Je nach Zeitrahmen, Informationsbedarf und Ergebniserwartung eignen sich entweder das interne oder die verschiedenen Formen des externen Benchmarkings. Müssen beispielsweise in kurzer Zeit Ergebnisse vorgelegt werden, ist ein internes Benchmarking einem branchenübergreifenden vorzuziehen, da Letzteres bei detaillierter Durchführung mehrere Monate in Anspruch nehmen kann. Werden vielfältige und vor allem wettbewerbsbezogene Informationen benötigt, sind externe Formen zu präferieren. Schließlich können die einzelnen Formen mit Blick auf die zu erwartenden Ergebnisse differenziert werden: Das interne Benchmarking bietet Anhaltspunkte für Detailverbesserungen, während das konkurrenzorientierte und das brancheninterne Benchmarking Wege aufzeigen, wie ein Unternehmen zu den Besten der Branche aufschließen kann. Das branchenübergreifende Benchmarking bietet darüber hinaus Anregungen, die zur Änderung der Regeln der Wertschöpfung und des eigenen Marktauftritts genutzt werden können. 418 So hat beispielsweise Henry Ford die Idee der modernen Fließbandfertigung im Automobilbau wohl auch verschiedenen Besuchen in einer Großschlachterei zu verdanken, in der er beobachtete, wie an Haken fixierte Schweinehälften von Arbeiter zu Arbeiter weitergeschoben wurden. 419 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Benchmarking ist keine isolierte Methode, sondern Teil einer Managementphilosophie, in deren Mittelpunkt das ständige Streben nach Verbesserungen steht. Die Anwendung des Benchmarkings und die Umsetzung der Benchmarking-Ergebnisse setzen eine flexible Organisation und Veränderungsbereitschaft voraus. Zudem ist es erforderlich, dass valide Daten vorliegen, die mit angemessenem Aufwand erhoben werden können. Grundsätzlich vollziehen sich Benchmarking-Studien in den in Abbildung 123 illustrierten fünf Phasen: 420 In der Planungsphase werden die generelle Zielsetzung und die weiteren Rahmenbedingungen des Benchmarkings definiert. Das heißt, es werden die Benchmarking-Objekte und die Benchmarking-Zielgrößen ausgewählt und festgelegt, welche Benchmarking-Partner als Vergleichsgruppe dienen sollen. Im Mittelpunkt von Benchmarking-Projekten stehen häufig Unternehmensbereiche mit großem Verbesserungspotenzial oder mit erfolgskritischen Prozessabläufen wie sie in den kundennahen Wertkategorien Marketing, Vertrieb und Service zu finden sind. Zur Auswahl der Benchmarking-Objekte und der Benchmarking-Formen wird vielfach auf das Konzept der Wertkette zurückgegriffen. So hat Xerox zur Festlegung und Systematisierung der 417 Vergleiche Alter (2011, S. 139 ff). 418 Vergleiche zu den einzelnen Formen im Überblick Harrington & Harrington (1996). 419 Vergleiche Siebert & Kempf (2008, S. 10). 420 Vergleiche zu den einzelnen Phasen im Überblick Fiedler & Gräf (2012, S. 264 ff) und Welge & Al-Laham (2012, S. 404 ff). <?page no="308"?> 308 5 Strategische Analyse Abbildung 123: Prozessschritte einer Benchmarking-Studie Benchmarking-Objekte primäre und sekundäre Wertschöpfungsaktivitäten 421 unterschieden und den einzelnen Bereichen Benchmarking-Partner zugeordnet. Die primären Aktivitäten Marketing, Vertrieb und Ausgangslogistik wurden beispielsweise mit den Unternehmen Procter & Gamble und L.L. Bean verglichen, während in den sekundären Bereichen Rechnungswesen und IT-Infrastruktur American Express und Deere als Vergleichsmaßstab dienten. In der Praxis werden nicht immer Vergleichspartner mit Weltklassestatus herangezogen, da diese oft nicht zugänglich und deren Daten schwer zu beschaffen sind. Wichtig ist jedoch, dass die ausgewählten Partner hinsichtlich der zentralen konstitutiven Merkmale wie Größe oder Rechtsform vergleichbar sind und mit Blick auf die zu analysierenden Ziele wie Kosten oder Qualität ein höheres Leistungsniveau als das eigene Unternehmen aufweisen. In der zweiten Phase eines Benchmarking-Projektes werden die erforderlichen Daten zunächst intern erhoben, um die Basis für sich anschließende Vergleiche zu schaffen. 422 Bei der Ermittlung der Leistungsgrößen für das eigene Unternehmen ist darauf zu achten, dass die Daten verfügbar, aktuell und nachvollziehbar sind, um diese bei Bedarf replizieren zu können. Daten des Benchmarking-Partners lassen sich sowohl über Beratungsunternehmen und Marktforschungsinstitute beziehen als auch über verschiedene Erhebungsmethoden selbst beschaffen. Hierbei eignen sich sowohl die bekannten Verfahren der Primärforschung wie persönliche Interviews oder Fragebögen als auch Sekundäranalysen von Jahresberichten oder Branchenreports. 421 Vergleiche hierzu Kapitel 5.6, in dem die Wertkettenanalyse von Porter erläutert wird. 422 Gelegentlich steht die Erhebung von Kenngrößen im Mittelpunkt von Benchmarking-Studien. Eine zu starke Fokussierung auf Kennzahlen verstellt jedoch den Blick auf Prozesse und Abwicklungsarten des Unternehmens, das als Vergleichspunkt gewählt wurde. Durch das Abschauen und anschließende Anpassen alternativer Ablaufformen können allerdings Wettbewerbsvorteile entstehen, die auf andere Weise kaum zu erzeugen gewesen wären. <?page no="309"?> 5.5 Benchmarking 309 5 Die Phase der Datenauswertung gliedert sich in einen deskriptiven und in einen analytischen Teil. Zunächst werden die Messergebnisse einander gegenübergestellt, um Leistungslücken des eigenen Unternehmens zu erkennen. Die Werte des Benchmarking-Partners können dabei als zu erreichende Sollwerte festgelegt und hinsichtlich ihrer Bedeutung in eine Rangfolge gebracht werden. An die Beschreibung beziehungsweise Deskription der Daten schließt sich die Analyse der Gründe für die entsprechenden Differenzen an, deren Kenntnis erst eine sachgerechte Interpretation der Ergebnisse und eine Ableitung von Maßnahmen ermöglicht. Das ausgewertete Zahlenmaterial dient als Ausgangspunkt für einen schrittweisen Abbau von Leistungsdefiziten, indem realistische Ziele und Maßnahmen definiert und gemäß ihrer Wichtigkeit und Dringlichkeit priorisiert werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die geplanten Verbesserungen messbar sind und anhand von Kennzahlen bewertet werden können. Neben der Notwendigkeit zur Erstellung eines Kennzahlensystems ist die Umsetzungsphase auch durch Veränderungsmaßnahmen auf Mitarbeiterebene gekennzeichnet. Diese sind in den Prozess zu integrieren, um Akzeptanz als Voraussetzung für die Initiierung und Implementierung von Veränderungen zu schaffen. In einem letzten Schritt unterzieht man die durchgeführten Aktivitäten einer Erfolgskontrolle, um daraus Rückschlüsse für erforderliche Anpassungen abzuleiten. Demnach ist Benchmarking keine Methode, die einmal angewendet und wie ein Projekt abgeschlossen wird. Benchmarking ist vielmehr ein permanenter Prozess des Vergleichens und Messens, in dessen Mittelpunkt die Schaffung und Erhaltung von Wettbewerbsvorteilen steht. Bei der Durchführung von Benchmarking-Studien sind bestimmte Verhaltensregeln einzuhalten, die unter anderem das International Benchmarking Clearinghouse des American Productivity and Quality Center aufgestellt hat. Diese sehen zum Beispiel vor, dass Daten legal beschafft und nur für unternehmensinterne Zwecke verwendet werden sollen. Weitere Elemente des so genannten Code of Conduct sind Vertraulichkeit und Gegenseitigkeit, womit angezeigt wird, dass die Benchmarking-Partner keine Informationen an Dritte weitergeben und untereinander vergleichbare Daten austauschen sollen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass kein Projektpartner durch Datenmissbrauch oder durch das Zurückhalten von Informationen geschädigt beziehungsweise benachteiligt wird. 423 Weiterführende Hinweise Der Vergleich mit den Besten bietet zahlreiche Anhaltspunkte, wie Produkte, Prozesse oder Methoden ausgestaltet werden können. Allerdings sollten Unternehmen der Versuchung widerstehen, erfolgreiche Praktiken zu kopieren oder sich an Zielgrößen zu orientieren, die den eigenen Ressourcen und Fähigkeiten nicht entsprechen. Vielmehr kommt es darauf an, Stärken aus- und zentrale Schwächen abzubauen, ohne die Veränderungsmaßnahmen dem Diktat der Benchmark zu unterwerfen. So wie es für einen 423 Vergleiche Stapenhurst (2009, S. 276 ff). <?page no="310"?> 310 5 Strategische Analyse schlechten Mathematikschüler wenig zielführend ist, sich an dem Klassen- oder Jahrgangsbesten in Mathematik auszurichten, so wenig erfolgversprechend ist es für Unternehmen, Benchmarking-Daten als handlungsbestimmende und unbedingt zu erreichende Sollwerte zu betrachten. Die Ergebnisse von Benchmarking-Projekten bieten die Möglichkeit, von anderen zu lernen und die Ursachen der Leistungsunterschiede im Lichte der eigenen Stärken und Schwächen und vor dem Hintergrund der Bedürfnisse und Erwartungen der Kunden zu analysieren. In diesem Sinne sollten Unternehmen Benchmarking-Ergebnisse als Informations-, Orientierungs- und Lerngröße betrachten 424 und nicht als generellen Erfolgsmaßstab oder zu kopierende Praxis. 424 Zur Thematik des Benchmarkings als Initialzündung für Innovationsprozesse und zum Themenfeld der Kopplung von Benchmarking und Kreativitätstechniken vergleiche Mieke & Wikarski (2011). <?page no="311"?> 5 5.6 Wertkettenanalyse Problemstellung: Analyse aller Funktionen und Aktivitäten eines Unternehmens zur Bestimmung der jeweiligen Wertbeiträge und Wettbewerbsvorteile und entsprechender Verbesserungspotenziale Zielgruppe: Geschäfts- und Funktionsbereichsleiter, Controller und Experten aus den jeweils betroffenen funktionalen Bereichen Voraussetzungen: Sachlogische Untergliederung der Gesamtleistung eines Unternehmens in wertschöpfende und unterstützende Teilleistungen Zielsetzung der Wertkettenanalyse Wettbewerbsvorteile entstehen, wenn Unternehmen den Abnehmern Produkte und Dienstleistungen bieten, die unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten jenen der Konkurrenz überlegen sind. Damit Produkte und Dienstleistungen erfolgreich am Markt platziert werden können, sind sowohl Kunden und Wettbewerber als auch Stärken und Schwächen eines Unternehmens zu betrachten. Insofern ist die Umweltanalyse, die unter Rückgriff auf die PESTEL-, Branchenstruktur-, Wettbewerbsvorteils- und Stakeholderanalyse durchgeführt werden kann, durch eine Unternehmensanalyse zu ergänzen. Während die in Kapitel 5.5 diskutierte Methode des Benchmarking Umwelt- und Unternehmensaspekte verbindet, richtet die Wertkettenanalyse den Blick zunächst nach innen - auf die strategischen Fähigkeiten eines Unternehmens. Gemäß dem ressourcenorientierten Ansatz 425 sind es eben jene internen Fähigkeiten und Kompetenzen und deren effiziente Kombination, welche die Wettbewerbsfähigkeit und damit den Unternehmenserfolg bestimmen. Eine Methode zur Aufdeckung und systematischen Betrachtung von internen Stärken und Schwächen einer Organisation ist die Wertkettenanalyse. Sie liefert wichtige Informationen für die strategische Analyse und Planung, indem sie aufzeigt, welche unternehmensinternen Aktivitäten Wert stiften und damit zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen beitragen. Dabei wird unter einem Wettbewerbsvorteil eine im Vergleich zur Konkurrenz überlegene Leistung verstanden, die vom Kunden wahrgenommen und als relevant eingestuft wird und dauerhaft, das heißt nicht-imitierbar ist. Die Wertkettenanalyse bietet darüber hinaus Anhaltspunkte, wie die Ressourcen und Kompetenzen eines Unternehmens entwickelt beziehungsweise verbessert werden können, um den Kunden mehr Wert zu liefern. Schließlich hilft sie auch, die Frage nach der betriebswirtschaftlich sinnvollen Wertschöpfungstiefe zu beantworten und zu entscheiden, welche Funktionen oder Bereiche im Unternehmen gehalten, welche integriert und welche ausgelagert werden sollen. 426 425 Der ressourcenorientierte Ansatz, auch als Resource-Based-View bezeichnet, wurde von Wernerfelt (1984) in die Diskussion gebracht. Im Gegensatz dazu sieht der marktorientierte Ansatz, auch Market-Based-View genannt, den Erfolg von Unternehmen vor allem durch externe Faktoren begründet. Siehe hierzu auch Hieke (2009) und Rothfuss (2009). 426 Vergleiche Grant (2010, S. 131 ff) und Müller-Stewens & Lechner (2011, S. 201 f). 5.6 Wertkettenanalyse 311 <?page no="312"?> 312 5 Strategische Analyse Beschreibung der Wertkettenanalyse Die Wertkette beziehungsweise Wertschöpfungskette bringt alle Funktionen und Aufgaben eines Unternehmens in eine geordnete Abfolge, die im Allgemeinen mit der Bereitstellung des Ausgangsmaterials beginnt und beim Kundenservice endet. Diese sachlogische und prozessuale Unterteilung der betrieblichen Transformationsschritte bietet die Möglichkeit, jede Teilfunktion auf ihren Wertschöpfungsbeitrag und auf mögliche Wettbewerbsvorteile hin zu untersuchen. Dieser Grundgedanke wurde insbesondere von Porter entwickelt, 427 der in seinen Arbeiten darauf hingewiesen hat, dass die Ursachen von Wettbewerbsvorteilen erst deutlich werden, wenn die Gesamtleistung eines Unternehmens in Teilleistungen untergliedert wird. Insofern schlägt er zur Analyse der Wertkette vor, primäre und sekundäre Aktivitäten zu unterscheiden. Die auch als Kern- und Unterstützungsfunktionen bezeichneten und in Abbildung 124 dargestellten Tätigkeiten können wie folgt beschrieben werden: 428 Abbildung 124: Wertkette nach Porter Zu den primären Aktivitäten zählen die Bereiche Eingangslogistik, Produktion, Ausgangslogistik, Marketing, Vertrieb und Kundenservice. Diese Aktivitäten tragen zur eigentlichen Leistungserstellung bei, indem die Waren zunächst erhalten, gelagert und verteilt werden, bevor im Rahmen der Produktion die Umwandlung der Ausgangsstoffe in Produkte oder Dienstleistungen erfolgt. Die Ausgangslogistik umfasst Tätigkeiten wie die Lagerung und Weiterleitung der fertigen Produkte, während die Bereiche Marketing, Vertrieb und Kundenservice unter anderem für die Gestaltung des Marketingmix, den Verkauf und die Wartung von Anlagen oder Geräten verantwortlich sind. Die sekundären Aktivitäten unterstützen die Erstellung von Produkten oder Dienstleistungen und gewährleisten das unternehmerische Handeln, ohne jedoch selbst eine Wertschöpfung zu bewirken. Sie umfassen laut Porter die Beschaffung, die Entwicklung 427 Siehe hierzu Porter (2010). 428 Vergleiche im Überblick Macharzina & Wolf (2012, S. 311). <?page no="313"?> 5.6 Wertkettenanalyse 313 5 von Technologien, die Personalwirtschaft und die Unternehmensinfrastruktur. Bei der Beschaffung handelt es sich um Tätigkeiten, welche die Primäraktivitäten mit allen erforderlichen Ressourcen versorgen, während die Technologieentwicklung zum Beispiel durch produktbezogene Forschungsleistungen oder die Entwicklung von IT-Systemen gekennzeichnet ist. Die Personalwirtschaft und die Unternehmensinfrastruktur sind im Allgemeinen nicht nur mit einzelnen, sondern mit allen primären Wertschöpfungsaktivitäten verbunden, indem Mitarbeiter rekrutiert, eingestellt, vergütet, entwickelt und betreut sowie typische Managementaufgaben wie Planung, Führung und Kontrolle übernommen oder das Finanz- und Rechnungswesen bereitgestellt werden. In der Praxis entsprechen die Wertketten in den seltensten Fällen dem in Abbildung 124 aufgeführten generischen Modell von Porter, da zum Beispiel die sekundären Aktivitäten in Abhängigkeit von den primären festgelegt werden, die sich wiederum von Unternehmen zu Unternehmen und von Branche zu Branche unterscheiden können. Gleichwohl stellt die Wertkettenanalyse eine etablierte Methode dar, um den Beitrag der jeweils relevanten Unternehmensaktivitäten zur Wertschöpfung zu ermitteln. Dabei wird unter Wertschöpfung der von einem Unternehmen geschaffene Wertzuwachs verstanden, der sich aus der Differenz aus dem Wert des Endproduktes und dem Wert der Eingangsgrößen ergibt. Die Ergebnisse der Wertkettenanalyse können genutzt werden, um Bereiche mit Defiziten in Bezug auf Kosten oder Wert zu optimieren oder um Überlegungen anzustellen, welche Aktivitäten ein- oder ausgegliedert werden sollen. Abbildung 125: Beispielhaftes Wertschöpfungsnetz einer Branche Die Wertschöpfungskette eines Unternehmens ist nicht nur isoliert, sondern auch im Verbund mit den Wertschöpfungsketten vor- und nachgelagerter Organisationen zu betrachten. Denn die Wertkette eines einzelnen Unternehmens umfasst in der Regel nicht alle Aktivitäten von der Rohstoffgewinnung bis zur Auslieferung an den Endkunden. Vielmehr bilden mehrere Unternehmen ein so genanntes Wertschöpfungsnetz, in dem Produkte und Dienstleistungen durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von Organisationen erstellt werden. 429 Wie in Abbildung 125 verdeutlicht, ist es für 429 Vergleiche Corsten & Corsten (2012, S. 86) und Kotler, Armstrong, Wong & Saunders (2011, S. 78 f). <?page no="314"?> 314 5 Strategische Analyse Unternehmen entscheidend, nicht nur die innerhalb der eigenen Grenzen durchgeführten Aktivitäten zu analysieren, sondern die gesamte Industriebeziehungsweise Branchenwertkette zu verstehen und abzuleiten, wie die eigene Position in diesem Netz verbessert werden kann. Denn innerhalb eines Wertschöpfungsnetzes gibt es mit Blick auf Umsätze, Kosten und Gewinne zum Teil erhebliche Differenzen. Insofern stellt sich die Frage, in welchen Bereichen des Wertschöpfungsnetzes die größten Gewinnpotenziale vorhanden sind, welche Aktivitäten selbst durchgeführt oder kostengünstigeren Produzenten überlassen werden sollen und mit welchen Unternehmen Kooperationen sinnvoll sein können. So haben zum Beispiel die Entscheider in der Automobilindustrie erkannt, dass eine so genannte Vorwärtsintegration, also die Ausdehnung der Wertkette auf nachgelagerte Fertigungsstufen, gewinnbringend ist, indem sie die ursprünglich auf den Bau eines Automobils beschränkte Wertkette um Werkstätten, Vermietungen, Finanzdienstleistungen und Carsharing-Angebote erweitert haben. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Wertkettenanalyse findet vor allem Anwendung, wenn es um die Identifikation von aktuellen oder potenziellen Wettbewerbsvorteilen oder um die Entscheidung der Eingliederung oder Auslagerung von Unternehmensbereichen geht. Dabei stehen insbesondere Kosten und Differenzierungsfaktoren im Mittelpunkt der Analyse, die in folgenden Schritten durchgeführt werden kann: 430 Darstellung und Beschreibung der primären und sekundären Aktivitäten, Identifikation der Kosten und Kostentreiber je Wertkettenbereich, Bestimmung der Differenzierungsfaktoren je Wertkettenbereich, Vergleich der eigenen Wertkette mit den Wertketten der Konkurrenz, Ableitung von Veränderungsmaßnahmen und Verbesserungsmöglichkeiten. Die Analyse beginnt mit einer Darstellung und Beschreibung der Wertkette des eigenen Unternehmens. Dabei kann zunächst auf Informationen zur Aufbau- und zur Ablauforganisation zurückgegriffen werden, die wichtige Anhaltspunkte liefern, wie die Strukturen und Prozesse des Unternehmens gestaltet sind. Daran anknüpfend werden in Orientierung an Porter’s Modell alle wertschöpfungsrelevanten Aktivitäten identifiziert, in Gruppen eingeteilt und einem Primärbereich zugeordnet. So können beispielsweise auf der Basis einer Liste aller produktionsbezogenen Aktivitäten Gruppen wie Lackierung oder Endmontage gebildet werden, die wiederum der in Abbildung 124 aufgeführten Primäraktivität Produktion angehören. Auf diese Weise gelingt es, alle betrieblichen Aktivitäten zu berücksichtigen, zu kategorisieren und in ein übersichtliches System zu überführen. Neben den Primäraktivitäten sollten auch die Sekundäraktivitäten Beachtung finden, indem alle relevanten Unterstützungsleistungen ermittelt, gebündelt und den entsprechenden Kategorien Unternehmensinfrastruktur, Personalwirtschaft, Technologie- 430 Vergleiche im Überblick Welge & Al-Laham (2012, S. 365 ff). <?page no="315"?> 5.6 Wertkettenanalyse 315 5 entwicklung oder Beschaffung zugeordnet werden. Dabei zeigt die Praxis, dass sich sowohl die Wertketten von Produktions-, Dienstleistungs- oder Handelsunternehmen als auch die Verknüpfungen und Verflechtungen zwischen den einzelnen Aktivitäten zum Teil erheblich unterscheiden. Je nach Branche weisen die Wertketten unterschiedliche Schwerpunkte auf. Welche Aktivitäten tatsächlich erfolgskritisch sind, kann zum Beispiel anhand der Anteile der Aktivitäten an den Gesamtkosten oder mit Blick auf die Anteile der Aktivitäten an der Gesamtwertschöpfung bestimmt werden. Die Analyse der Beziehungen zwischen den Wertaktivitäten zeigt schließlich, wie beispielsweise Produktionsplanung und Materialbeschaffung oder Absatzpotenzialbestimmung und Lagerbestände zusammenhängen und wie durch eine Optimierung dieser Verknüpfungen zwischen Produktion und Beschaffung beziehungsweise zwischen Marketing und Ausgangslogistik Kosten reduziert und Wettbewerbsvorteile aufgebaut werden können. In einem zweiten Schritt werden jeder Wertaktivität Kosten zugeordnet und die Gesamtkosten der Wertkette bestimmt. Diese Daten liefern erste Hinweise über Kostenvorteile oder Kostennachteile eines Unternehmens und dienen als Grundlage für die anschließende Strategiewahl, wobei die Umsetzung in der Praxis häufig durch die Tatsache erschwert wird, dass Kosten nach Kostenstellen und nicht nach Wertaktivitäten differenziert vorliegen. Für die einzelnen Wertaktivitäten werden zudem Kostentreiber ermittelt und deren mögliche Entwicklung prognostiziert, um Maßnahmen zur Verbesserung der Kostenposition abzuleiten. Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen wird nicht nur durch deren Kostenstruktur, sondern auch durch Differenzierungsfaktoren beeinflusst, die im dritten Schritt betrachtet werden. Die für die einzelnen Wertaktivitäten analysierten Differenzierungsfaktoren stellen Möglichkeiten eines Unternehmens dar, sich von Konkurrenten abzuheben und Kunden einen höheren Nutzen als der Wettbewerb zu bieten. Die Untersuchung der Differenzierungsfaktoren beginnt daher mit einer Kundenwertanalyse und einer Betrachtung des Kaufverhaltens und der Bedingungen für Kundenzufriedenheit und Kundenbindung. Im Anschluss an die Bestimmung der Kunden und der kaufentscheidenden Faktoren können die einzelnen Wertaktivitäten nach Faktoren durchsucht werden, die entsprechende Differenzierungsvorteile bieten beziehungsweise den Kaufkriterien der Kunden entsprechen. Schließlich ist zu prüfen, ob die Differenzierungskosten geringer sind als der Betrag, den der Kunde für den Erhalt einer einzigartigen Leistung zu zahlen bereit ist. Ist dies nicht der Fall - übersteigen also die Differenzierungskosten die Zahlungsbereitschaft der Kunden - sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um kostenbezogene Wettbewerbsnachteile auszugleichen. In einem vierten Schritt wird die eigene Wertkette mit den Wertketten konkurrierender Unternehmen verglichen. Dieser Vergleich wird im Allgemeinen nicht erst angestellt, nachdem die beschriebenen Schritte 1 bis 3 zur Gänze durchgeführt wurden. Wettbewerbsvergleiche sind in der Praxis vielmehr parallel zur Identifikation der Kosten und Kostentreiber und der Bestimmung der Differenzierungsfaktoren vorzunehmen. In einem letzten Schritt wird man schließlich Handlungsempfehlungen ableiten, wie die Wertkette strategisch entwickelt und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert <?page no="316"?> 316 5 Strategische Analyse werden kann, indem eine Bündelung der zur Verfügung stehenden Ressourcen eines Unternehmens auf die erfolgskritischen Aktivitäten erfolgt. Weiterführende Hinweise Die Wertkettenanalyse ist eine fundierte Methode zur Identifikation von Stärken und Schwächen eines Unternehmens, deren Ursachen entweder kosten- oder differenzierungsbezogen sind. Die Schwierigkeiten bei der Anwendung bestehen vor allem in der Zuordnung der Kosten zu den einzelnen Wertaktivitäten und in der Beschaffung der für Wettbewerbsvergleiche erforderlichen Daten. Ungeachtet dieser Herausforderungen bietet die Wertkettenanalyse einen detaillierten und aktivitätsorientierten Einblick in den gesamten Wertschöpfungsprozess. Dabei zeigt sich, dass die Umwelt nur ein erfolgskritischer Faktor ist. Weitere erfolgskritische Faktoren sind die Strukturen, Prozesse, Systeme und Ressourcen, also die Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter. Insofern lautet die Frage bei der Strategiearbeit nicht Umwelt- „oder“ Ressourcenorientierung - wie sie der Market-Based-View beziehungsweise der Resource-Based-View nahelegen -, sondern Umwelt- „und“ Ressourcenorientierung. Im Folgenden werden daher weitere Methoden der internen Analyse von Unternehmen vorgestellt, die in Kombination mit den bereits diskutierten Methoden der externen Analyse die Grundlagen für die Entwicklung, Formulierung und Umsetzung erfolgreicher Strategien schaffen. <?page no="317"?> 5 5.7 7S-Modell Problemstellung: Identifikation und Bewertung unternehmensspezifischer Erfolgsfaktoren und entsprechender Wechselwirkungen sowie Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen Zielgruppe: Geschäfts- und Funktionsbereichsleiter sowie Führungskräfte und Experten aus unterschiedlichen funktionalen Bereichen Voraussetzungen: Beschaffung relevanter Informationen zur Bewertung der sieben Faktoren und zur Analyse der jeweiligen Beziehungen und Abhängigkeiten unter Rückgriff auf weitere Methoden der Unternehmensanalyse Zielsetzung des 7S-Modells Die Suche nach dem Schlüssel des Erfolges von Unternehmen war bereits mehrfach Gegenstand empirischer Studien. Diese haben im Wesentlichen gezeigt, dass es nicht einen generischen Faktor gibt, der ursächlich für die Entstehung von Spitzenleistungen verantwortlich gemacht werden kann. Die verschiedenen Versuche, die „Unternehmens-DNA“ 431 zu entschlüsseln, belegen vielmehr, dass wirtschaftlicher Erfolg das Resultat eines geordneten Zusammenspiels einer Vielzahl quantitativer und qualitativer Faktoren ist. Bei der Suche nach allgemeingültigen und kulturübergreifenden Erfolgsfaktoren haben die McKinsey-Berater Pascale und Athos Vergleiche zwischen japanischen und nordamerikanischen Managementmethoden, Führungsstilen und Organisationsformen angestellt, während ihre Kollegen Peters und Waterman erfolgreiche US-Unternehmen wie IBM, HP oder 3M analysierten. 432 Die Ergebnisse dieser zu Beginn der 1980er-Jahre vorgelegten Studien führten zur Entwicklung des so genannten 7S-Modells. In diesem Modell werden sieben erfolgsrelevante Aspekte unterschieden, welche die untersuchten Spitzenunternehmen in besonderem Maße kennzeichneten. Pascale und Athos sowie Peters und Waterman ermittelten, dass Unternehmen vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie das Augenmerk nicht nur auf die Strategie, sondern gleichermaßen auf Managementpraktiken und Ressourcen des Unternehmens richten. Das 7S-Modell bietet jedoch nicht nur eine empirisch-fundierte Erklärung für Spitzenleistungen, sondern stellt auch eine Methode der internen strategischen Analyse dar, mit deren Hilfe Schwachstellen im Unternehmen aufgedeckt und Abhängigkeiten zwischen den Erfolgsfaktoren überprüft werden können. Im Rahmen der ganzheitlichen Betrachtung eines Unternehmens werden sowohl quantitative beziehungsweise harte als auch qualitative beziehungsweise weiche Faktoren berücksichtigt. Insofern stellt das 7S-Modell eine Methode zur Diagnose, Entwicklung und Veränderung von Organisationen und deren zentralen Erfolgsgrößen dar. 431 Siehe Neilson & Pasternack (2006). 432 Siehe Pascale & Athos (1981) und Peters & Waterman (1982). 5.7 7S-Modell 317 <?page no="318"?> 318 5 Strategische Analyse Beschreibung des 7S-Modells Die sieben Faktoren des McKinsey-Modells bilden das Grundgerüst eines erfolgreichen Unternehmens, das sowohl Ausgangspunkt für die Schaffung von Wettbewerbsvorteilen als auch Ansatzpunkt zur Durchführung von Organisations- und Schwachstellenanalysen ist. In Abbildung 126 sind die sieben Faktoren des Modells aufgeführt, die alle mit dem Buchstaben S beginnen - daher der Name 7S-Modell. Neben den drei harten Faktoren Strategy, Structure und Systems werden vier weiche Faktoren - Skills, Staff, Style und Shared Values - unterschieden. Während die harten Faktoren kurzfristig neuen Umweltbedingungen und Unternehmenssituationen angepasst werden können, stellen die weichen Faktoren eher zählebige und langfristig orientierte Erfolgskomponenten dar, die durch Konkurrenten nur schwer imitierbar sind und daher in besonderem Maße zur Differenzierung vom Wettbewerb beitragen. Die einzelnen Faktoren des 7S-Modells lassen sich wie folgt beschreiben: 433 Abbildung 126: Das McKinsey-7S-Modell 434 Strategy: Mit dem Begriff der Strategie werden alle Maßnahmen zur langfristigen Existenzsicherung eines Unternehmens gekennzeichnet. In diesem Sinne befasst sich das strategische Management mit der Entwicklung, dem Ausbau und dem Erhalt bestehender und neuer Erfolgspotenziale. Dabei wird unter einem Erfolgspotenzial eine wettbewerbs- und kundenrelevante Fähigkeit verstanden, die dauerhafte Gewinne ermöglicht. Strategien lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien einteilen und kön- 433 Vergleiche im Überblick Siedenbiedel (2008, S. 173 ff). 434 Modifiziert nach Pascale & Athos (1981, S. 93). <?page no="319"?> 5.7 7S-Modell 319 5 nen gemäß dem organisatorischen Geltungsbereich zum Beispiel in Unternehmens-, Geschäftsfeld- und Funktionalstrategien differenziert werden. Unternehmensstrategien legen die Struktur einer Organisation fest und bestimmen, welche Märkte mit welchen Leistungen bearbeitet werden sollen. In Ergänzung zu der Definition des „Wo“ und „Was“ beantworten Geschäftsfeldstrategien die Frage nach dem „Wie“, indem sie Aussagen darüber treffen, mit welchen Maßnahmen Geschäftsfelder gegenüber Kunden und Wettbewerbern positioniert werden können. Funktionalstrategien beziehen sich schließlich auf Teilbereiche wie Beschaffung, Produktion oder Absatz und unterstützen durch zielorientierte Aktivitäten die erfolgreiche Realisierung der übergeordneten Geschäftsfeld- und Unternehmensstrategien. Structure: Die Struktur eines Unternehmens legt fest, wie betriebliche Handlungen gegliedert und geordnet werden. Sie bestimmt damit die Hierarchie, die Entscheidungsbefugnisse und Verfahrensregeln sowie die Verteilung von Aufgaben auf Stellen. Ziel der Strukturierung ist, durch Koordination der Abteilungen, Stellen und Aufgaben Effizienzverluste bei der Zielbearbeitung und Zielerreichung zu minimieren, die in Organisationen durch Nicht-Wissen oder Nicht-Können, also durch Informations- oder Kompetenzdefizite entstehen. Mit dem harten Faktor Struktur wird sowohl die Koordination innerhalb eines Unternehmensbereiches als auch die Koordination zwischen Unternehmensbereichen oder Tochtergesellschaften beschrieben. Systems: Die Strategie und die Struktur müssen über Prozesse und Programme umgesetzt beziehungsweise zum Leben erweckt werden. Insofern sind ablauforganisatorische Aspekte, Konzepte der Planung und Kontrolle oder Technologien zur Steuerung von Informationen, Kennzahlen und Mitarbeitern erforderlich, die im 7S-Modell als Systeme bezeichnet werden. Dabei handelt es sich ebenfalls um einen harten Faktor, da die genannten Kriterien messbar sind und von den Mitgliedern einer Organisation als objektive Wirklichkeit wahrgenommen werden. Skills: Mit dem Begriff Skills werden die Kernkompetenzen eines Unternehmens beschrieben. Diese spezifischen Fähigkeiten einer Organisation sind den Kunden häufig bekannt und entscheiden über Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens. So liegen beispielsweise die Skills der Automobilhersteller in der Entwicklung und Fertigung von Pkw, während sie bei Banken im Bereich des Vertriebs und in der Vermögensverwaltung zu suchen sind. Ausgangspunkt einer systematischen Analyse der Skills sind Fragen nach dem derzeitigen Vorhandensein und der zukünftigen Entwicklung von Kernkompetenzen sowie nach den aktuellen und sich wandelnden Anforderungen des Marktes. Staff: Im Unterschied zu den spezifischen Fähigkeiten einer Organisation werden mit dem Faktor Staff die individuellen Fähigkeiten der Mitarbeiter und deren Entwicklung, Förderung und Erhalt durch personalpolitische Maßnahmen gekennzeichnet. Letztere sind insofern bedeutsam, als nicht nur das Sach- und Sozialkapital, sondern auch das Humankapital eine notwendige Bedingung der Überlebensfähigkeit von Unternehmen darstellt. <?page no="320"?> 320 5 Strategische Analyse Style: Führungs- und Arbeitsstile, Umgangs- und Verhaltensformen sowie Werte und Normen bestimmen die als Style bezeichnete Kultur eines Unternehmens. Dabei kann zwischen der geplanten und der gelebten Kultur unterschieden werden. Das heißt, neben der für alle Mitarbeiter offiziell gültigen Soll-Kultur gibt es vielfach eine hiervon abweichende Ist-Kultur, in der beispielsweise unerlaubte Absprachen, Bestechungen oder Mobbing auftreten und gegen Vorschriften und Werthaltungen verstoßen wird. Shared Values: Die beschriebenen harten und weichen Faktoren werden durch eine Vision und Mission und durch gemeinsame Ziele verbunden, die Identifikationsmöglichkeiten für alle Mitarbeiter darstellen. Die den Zielen übergeordnete Vision und Mission dienen als unternehmensbezogener Kitt, indem sie sowohl Aussagen über zukünftige Wunschzustände 435 treffen als auch Begründungen für die Existenz eines Unternehmens liefern und somit integrative Wirkung entfalten. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Weder Pascale und Athos noch Peters und Waterman haben präzise Hinweise geliefert, wie das 7S-Modell bei der Analyse und Gestaltung von Organisationen angewendet werden soll. Unterbelichtet lassen sie auch, wie die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren aufgedeckt und Verbesserungen initiiert werden können. Ungeachtet dessen haben sich vor allem in der Praxis von Unternehmensberatern zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten und Umsetzungsideen ergeben. Demnach kann eine Unternehmensanalyse auf der Basis des 7S-Modells in folgenden Schritten durchgeführt werden: 436 Analyse der harten und weichen Faktoren, Bestimmung der Wechselwirkungen zwischen den Faktoren, Priorisierung des Entwicklungsbedarfs und Ableitung von Konsequenzen. Die Analyse der harten und weichen Faktoren erfolgt unter Berücksichtigung von Leitfragen. Hinsichtlich der harten Faktoren Strategy, Structure und Systems kann zum Beispiel ermittelt werden, wie man der Konkurrenz begegnen will, ob die Strukturen flexibel und die Entscheidungswege effizient sind und ob das Management durch geeignete Prozesse und Informationstechnologien unterstützt wird. Mögliche Fragen zur Untersuchung der weichen Faktoren Skills, Staff und Style könnten beispielsweise sein: Welche Kompetenzen sind entscheidend für den Erfolg des Unternehmens? Welche Mitarbeiter werden aktuell und welche in Zukunft benötigt? Welcher Führungsstil und welche Formen der Zusammenarbeit werden gepflegt? Die verbindenden Shared Values lassen sich schließlich analysieren, indem nach der unternehmensweiten Bekanntheit der Vision und Mission gefragt und überprüft wird, ob diese dem Selbstverständnis der Mitarbeiter entsprechen und ob die daraus abgeleiteten Ziele konsistent und auf die übrigen Faktoren abgestimmt sind. 435 Kotler, Keller, Brady, Goodman & Hansen (2009, S. 88) bezeichnen die Vision als einen „almost impossible dream“. 436 Vergleiche im Überblick Kerth, Asum & Stich (2015, S. 66 ff). <?page no="321"?> 5.7 7S-Modell 321 5 Nach der inhaltlichen Untersuchung der sieben Erfolgsdimensionen anhand eines Fragenkataloges wird eine Matrix zur Bestimmung der Wechselwirkungen zwischen den Faktoren erstellt. Die Matrix illustriert nicht nur Beziehungen und Abhängigkeiten, sondern hilft auch bei der Ermittlung von Konflikten zwischen den einzelnen harten und weichen Faktoren, die dazu führen, dass sowohl das Modell als auch das Unternehmen im Ungleichgewicht sind. Wie in Abbildung 127 dargestellt, sollten alle denkbaren Kombinationen zwischen den Faktoren berücksichtigt und Beziehungen, Konflikte und mögliche Lösungen benannt werden. Ein Beispiel: Bei der Kombination der Faktoren Strategy und Staff könnte sich zeigen, dass die Strategie sehr ambitioniert ist, aber nicht ausreichend an alle Mitarbeiter kommuniziert wurde. Zudem könnte die Analyse ergeben, dass die Mitarbeiterzufriedenheit gering und die Fluktuation hoch ist. Mögliche Lösungen könnten eine verbesserte Kommunikation der unternehmerischen Ziele und Strategien sowie Maßnahmen zur Mitarbeiterbindung und -rekrutierung sein. Abbildung 127: Matrix zur Bestimmung der Wechselwirkungen zwischen den Faktoren In einem letzten Schritt ist der aus der Matrix abgeleitete Entwicklungsbedarf zu bestimmen, indem die ermittelten Konflikte und Lösungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Strategieumsetzung priorisiert werden. Dabei ist zu entscheiden, ob die Faktoren der angestrebten Strategie angepasst werden sollen oder ob die Strategie mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen modifiziert werden muss. Für gewöhnlich kommen bei der Beantwortung dieser Fragen weitere Methoden zur Anwendung, da die entsprechenden Entscheidungen im Allgemeinen mit weitreichenden Konsequenzen verbunden sind. Weiterführende Hinweise Das 7S-Modell stellt eine pragmatische Methode zur Analyse, Planung und Implementierung von Verbesserungsmaßnahmen dar, in deren Rahmen nicht nur die lange Zeit <?page no="322"?> 322 5 Strategische Analyse dominierenden harten, sondern auch weiche Faktoren berücksichtig werden. Gemäß dem 7S-Modell zeichnet sich erfolgreiche Unternehmensführung dadurch aus, dass die sieben Dimensionen gleichermaßen beachtet, aufeinander abgestimmt und in ein Gleichgewicht gebracht werden. Unklar bleibt, ob dadurch nachhaltige Erfolge erzielt werden können oder ob weitere Faktoren wie Innovations- und Veränderungsfähigkeit oder Marktorientierung für Spitzenleistungen relevant wären. Neben diesem Kritikpunkt der Konzentration auf ausgewählte Aspekte, die zufälligerweise alle mit dem Buchstaben „S“ beginnen, wird ferner darauf hingewiesen, dass das Modell statisch sei und keine Aussagen zulasse, wie Unternehmen in Zeiten des Hyperwettbewerbs 437 geführt werden müssen. Ungeachtet der Relevanz und Validität dieser und weiterer Schwächen stellt das 7S-Modell einen sinnvollen Startpunkt zur Unternehmensanalyse dar. Da es wie die meisten betriebswirtschaftlichen Methoden in der Praxis nur Teillösungen bietet, sind weitere Konzepte anzuwenden und deren Ergebnisse zu verknüpfen, um bei der Strategieentwicklung möglichst alle blinden Flecken zu beseitigen und ein einheitliches Bild zu erhalten. 437 Siehe D’Aveni (1994) und Trout, Rivkin & Wied (2009). <?page no="323"?> 5 5.8 Produktlebenszyklusanalyse Problemstellung: Analyse und Planung des Produktionsprogramms und darauf abgestimmter, phasengerechter Einsatz der Marketinginstrumente Zielgruppe: Marketing- und Vertriebsverantwortliche, Produktmanager, Produktcontroller Voraussetzungen: Beschaffung relevanter Produkt-, Kunden- und Marktdaten und Verfügbarkeit von Ressourcen und Möglichkeiten zur Entwicklung geeigneter Marketingaktivitäten Zielsetzung der Produktlebenszyklusanalyse Die Aufgabe der Unternehmensanalyse besteht darin, Stärken und Schwächen eines Unternehmens zu ermitteln. Hierzu kann auf verschiedene betriebswirtschaftliche Methoden zurückgegriffen werden, die je unterschiedliche Perspektiven einnehmen: Während die Wertkettenanalyse Ursachen für Wettbewerbsvorteile und das 7S-Modell quantitative und qualitative Erfolgsdimensionen betrachten, nimmt die Produktlebenszyklusanalyse ihren Ausgangspunkt bei den Produkten beziehungsweise Dienstleistungen eines Unternehmens. Produkte und Dienstleistungen stiften Nutzen für die jeweiligen Kunden, wobei die Nutzenerwartungen der Abnehmer Veränderungen unterworfen sind. Durch das Auftreten neuer Anbieter mit zum Beispiel innovativen Produkten, neuen Vertriebswegen oder verbesserten Serviceleistungen wandeln sich die Erwartungen und Anforderungen der Kunden und damit deren Nachfrage. Das heißt, Markt- und Angebotsveränderungen bewirken im Allgemeinen, dass neue Produkte stärker und etablierte Produkte mit vergleichbaren Nutzenversprechen weniger nachgefragt werden. Insofern lässt sich empirisch zeigen, dass Produkte eine Entwicklung durchlaufen, die im Rahmen der Produktlebenszyklusanalyse beschrieben und erklärt wird. Das Ziel dieser Methode ist demnach, Absatz-, Umsatz- oder Gewinnveränderungen eines Produktes im Zeitablauf zu betrachten, um Schwächen im Produktprogramm aufzudecken und um Rückschlüsse für die Entwicklung von Marktstrategien und für die Gestaltung des Produkt-Markt-Mix zu ziehen. Die Kenntnis der Differenz zwischen den Angeboten des Unternehmens und den Anforderungen des Marktes schafft insofern die Voraussetzung zur Optimierung des Marketingmix und zur zielgruppenbeziehungsweise marktsegmentspezifischen Ausrichtung des Produktportfolios. Ergänzt werden kann die Methode um eine Betrachtung der Lebenszyklen von Branchen, Märkten oder Technologien, um für die Strategiearbeit ein detailliertes Bild sowohl der Mikroals auch der Makrobedingungen zu erhalten. 438 Beschreibung der Produktlebenszyklusanalyse Unter einem Produktlebenszyklus versteht man die Summe aller Phasen beziehungsweise Entwicklungsabschnitte, die ein Produkt von der Entstehung bis zur Eliminie- 438 Vergleiche Bea & Haas (2013, S. 134 ff) und Welge & Al-Laham (2012, S. 357 ff). 5.8 Produktlebenszyklusanalyse 323 <?page no="324"?> 324 5 Strategische Analyse rung durchläuft. Dabei werden typischerweise die Zeit als unabhängige Variable und Umsatz, Absatz, Gewinn oder Kosten als abhängige Variablen betrachtet. Analog zu biologischen Organismen ist das Leben von Produkten endlich und in folgende Abschnitte unterteilbar: 439 Produktentwicklung, Markteinführung, Wachstum, Reife, Sättigung und Degeneration. Die Betrachtung des Produktlebenszyklus und der genannten sechs Phasen 440 ermöglicht Aussagen über die Anforderungen des Marktes, die sich durch politische, rechtliche, ökonomische, soziale oder technologische Bedingungen ändern können. Diese sind im Detail zu analysieren und - wenn möglich - zu antizipieren, um das Produktprogramm entsprechend zu gestalten. Die in Abbildung 128 illustrierten Abschnitte sind jedoch nicht nur für Produkte charakteristisch, sondern auch für Modetrends oder Lebensstile. Auch diese verändern sich im Verlauf der Zeit: Sie entstehen, finden wachsenden Zulauf, erleben Höhepunkte, stagnieren und werden schließlich durch Neues verdrängt. Obgleich die Entwicklungsabschnitte hinsichtlich Verlauf und Dauer recht unterschiedlich ausgeprägt sein können, weisen sie eine typische Reihenfolge und die nachstehenden Besonderheiten auf: Abbildung 128: Idealtypischer Lebenszyklus eines Produktes 439 Vergleiche im Überblick Helm (2006, S. 300 ff), Kotler, Armstrong, Wong & Saunders (2011, S. 666 ff) und Sander (2011, S. 328 ff). 440 Theorie und Praxis kennen auch andere Phasenabgrenzungen (vergleiche Höft 1992). <?page no="325"?> 5.8 Produktlebenszyklusanalyse 325 5 Entwicklungsphase: Die erste Phase ist durch die Entwicklung des Produktes gekennzeichnet, die mit der Ideengewinnung und Ideenkonkretisierung beginnt und mit der Produktrealisierung endet. In diesem Entwicklungsabschnitt fallen keine Umsätze, aber bereits erhebliche Kosten an. Neben den reinen Entwicklungskosten entstehen durch Produkt- und Markttests oder Kundenwert- und Kundenpräferenzanalysen zusätzliche Aufwendungen, die durch Erträge beziehungsweise Einnahmen anderer Produkte gedeckt werden müssen. Einführungsphase: An die erfolgreiche Entwicklung eines Produktes schließt sich die Phase der Einführung in den relevanten Markt an. Recht häufig werden Produkte zunächst nur in einer Basisversion angeboten, bevor im weiteren Verlauf neue Varianten und Differenzierungen entstehen. Die erste Marktphase zeichnet sich durch langsam steigende Absätze bei immer noch recht hohen Kosten aus. Vielfach werden in der ersten Hälfte dieses Entwicklungsabschnittes aufgrund hoher Aufwendungen für Marketing und Vertrieb Verluste erwirtschaftet. Denn zum einen müssen Kunden auf Produkte aufmerksam gemacht und informiert sowie zum Kauf animiert werden. Zum anderen müssen Händler zur Aufnahme der Produkte in das Sortiment bewegt und deren Lagerbestände gegebenenfalls vorfinanziert werden. Bei der Wahl der geeigneten Marketingstrategie bestehen zahlreiche Freiheitsgrade hinsichtlich der Preis-, der Kommunikations- und der Vertriebspolitik. Je nach Marktsituation können - wie in Kapitel 1.1 beschrieben - zum Beispiel eine Skimming- oder eine Penetrationsstrategie verfolgt, aufwändige oder einfache kommunikationspolitische Maßnahmen ergriffen und direkte oder indirekte Vertriebswege festgelegt werden. Wachstumsphase: Wenn Unternehmen in der Lage sind, Produkte anzubieten, die nicht nur die so genannten Early Adopter, sondern auch weitere Käufer begeistern, werden sie nach einer Einführungsin eine Wachstumsphase eintreten. Diese ist durch deutlich steigende Absatzzahlen und Gewinne und die Herausforderung gekennzeichnet, Markteintrittsbarrieren aufzubauen. Denn die Erfolge des Marktpioniers werden neue Wettbewerber anlocken, die auf der Basis beobachteter Markt- und Kundenreaktionen den Versuch unternehmen, sich mit vergleichbaren oder verbesserten Angeboten zu positionieren. Insofern kommt es in diesem Stadium darauf an, Produktvarianten einzuführen, Preise zu differenzieren oder Vertriebskanäle zu erweitern, um den aktuellen und potenziellen Kunden einen größeren Mehrwert zu bieten als die Konkurrenz. Reifephase: Zu Beginn der Reifephase steigen die Absätze weiter und es werden signifikante Gewinne erzielt. Gleichwohl werden in der zweiten Hälfte dieses üblicherweise recht langen Stadiums die ersten Anzeichen einer Marktsättigung erkennbar. Das Wachstum verlangsamt sich, während Unternehmen im Allgemeinen versuchen, durch gesteigerte Marketingaufwendungen und das Erschließen neuer Marktsegmente diesem Trend zu begegnen. Die entsprechenden Marketingaktivitäten führen in Kombination mit dem weiter steigenden Wettbewerbsdruck bei den meisten Anbietern zu Gewinnstagnationen oder sogar zu Gewinnrückgängen. Infolgedessen scheiden finanzschwache Konkurrenten schrittweise aus dem Marktgeschehen aus. <?page no="326"?> 326 5 Strategische Analyse Sättigungsphase: In der Sättigungsphase erreicht der Absatz ein Plateau und die Gewinne brechen zum Teil deutlich ein. Daher beginnen Unternehmen - zum Teil noch vor Beginn der Degenerationsphase -, schwache Produkte aus dem Portfolio zu entfernen und starke Produkte zum Beispiel durch einen Relaunch wieder auf Erfolgsbeziehungsweise Wachstumskurs zu bringen. Degenerationsphase: Im letzten Abschnitt sinken sowohl Absätze als auch Gewinne, und das Produkt wird aufgrund technischer Unterlegenheit oder veränderter Käuferbedürfnisse nur noch in begrenzten Varianten angeboten oder vom Markt genommen. Die Werbeausgaben werden auf ein Minimum reduziert oder eingestellt - es sei denn, eine Wiederbelebung des Produktes im Sinne eines Relaunch erscheint aufgrund der spezifischen Marktkonstellation erfolgversprechend. Schwache Produkte werden in der Praxis teilweise auch unverändert weitergeführt, wenn diese beispielsweise zum Image eines Anbieters beitragen oder wenn das Management davon ausgeht, dass sich nach dem Rückzug zentraler Wettbewerber neue Absatzmöglichkeiten ergeben. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Durchführung einer Produktlebenszyklusanalyse setzt die Verfügbarkeit relevanter Produkt-, Kunden- und Marktdaten voraus. Dabei kann sowohl auf Primärals auch auf Sekundärquellen zurückgegriffen werden. Im ersten Fall dienen vergangenheitsorientierte Absatz- oder Umsatzzahlen und zukunftsorientierte Planwerte von Vertriebs- und Marketingexperten des eigenen Unternehmens als zentrale Inputvariablen. Im zweiten Fall werden Marktforschungsstudien, Branchenanalysen und Trendprognosen zu Rate gezogen. Im Idealfall basiert eine Produktlebenszyklusanalyse auf verschiedenen Datenquellen, um die eigenen Produkte möglichst präzise in entsprechende Entwicklungsphasen einzuteilen und um erfolgversprechende Marketingmaßnahmen abzuleiten. Die Anwendung der Methode erfolgt typischerweise in drei Schritten: Sammlung und Validierung aller relevanten Produkt-, Kunden- und Marktdaten, Auswertung und Interpretation des primären und sekundären Zahlenmaterials, Bestimmung zukünftiger Kunden- und Marktentwicklungen. Zunächst ist zu klären, welche Daten, in welchen Unternehmensbereichen, auf welchem Detailniveau vorliegen. Vergangenheits- und gegenwartsbezogene Zahlen sind üblicherweise im Marketing und Vertrieb oder im Produktmanagement und Controlling zu finden. Diese müssen gesammelt und validiert und danach differenziert werden, ob es sich zum Beispiel um Umsatzzahlen für einzelne Produkte und ganze Produktkategorien oder um Kundenzufriedenheits- und Kundenabwanderungsdaten handelt. Ergänzt werden die intern verfügbaren Zahlen um Sekundärinformationen, die beispielsweise Auskunft über Trends oder sich abzeichnende Technologieveränderungen geben. Die primären und sekundären Quellen werden schließlich ausgewertet und um Ergebnisse unternehmensinterner Szenarioanalysen erweitert, um ein möglichst umfassendes Bild vergangener, aktueller und zukünftiger Entwicklungen zu erhalten. Auf dieser Basis können Lebenszyklen bestimmt, Normstrategien abgeleitet und Produkte gemäß ihrem jeweiligen Alter und ihrer jeweiligen Position im <?page no="327"?> 5.8 Produktlebenszyklusanalyse 327 5 Lebenszyklus bearbeitet werden. Zur Produktprogrammplanung kommt die Lebenszyklusanalyse in der Praxis jedoch kaum isoliert zur Anwendung. Vielmehr wird sie in der Regel um betriebswirtschaftliche Methoden wie die Conjoint-, Kundenzufriedenheits- oder Wettbewerbsvorteilsanalyse ergänzt, die in den Abschnitten 4.4, 4.6 und 5.3 ausführlich diskutiert werden. Weiterführende Hinweise Seit einigen Jahren ist der Trend zu beobachten, dass Marktzyklen von Konsumgütern kürzer werden, während sich Forschungs- und Entwicklungsphasen teilweise verlängert haben. Dadurch entstehen neue Herausforderungen für die Produktprogrammplanung und die Entwicklung von Produktstrategien. So haben in der jüngeren Vergangenheit zum Beispiel namhafte Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie auf die Tendenz zu kürzeren Markt- und längeren Entwicklungszyklen reagiert, indem sie innovative Unternehmen mit einer gut gefüllten Pipeline übernommen und dadurch Schwächen in der Entwicklung eigener Produkte ausgeglichen haben. Zur Identifikation dieser und ähnlicher Handlungsoptionen kann unter anderem auf die Produktlebenszyklusanalyse zurückgegriffen werden. Mit Hilfe dieser Methode lassen sich absatzpolitische Maßnahmen optimieren und Produkte zielgruppengerecht positionieren. Allerdings sind bei der Anwendung folgende Hauptkritikpunkte zu beachten, die sich vor allem gegen den Phasenverlauf und die Phasenlänge richten: Die Produktlebenszyklusanalyse geht von einem quasi naturgesetzlichen Phasenverlauf aus, der in Abbildung 128 beschrieben ist. In der Praxis können sich jedoch davon abweichende Verläufe ergeben, indem beispielsweise Phasen übersprungen oder die Länge der Phasen ausgedehnt werden. Für Produktmanager ergibt sich daraus die Schwierigkeit, präzise Verläufe zu prognostizieren und das Produktprogramm entsprechend auszurichten. Vielfach gelingt es erst im Nachhinein, den Lebenszyklus zu beschreiben und deutlich zu machen, welche Maßnahmen man hätte ergreifen sollen. Diese methodische Schwäche lässt sich kompensieren, indem man in der Praxis betriebswirtschaftliche Methoden nicht isoliert, sondern kombiniert anwendet und zentrale Weichenstellungen erst auf der Basis entsprechend fundierter Kombinationsanalysen vornimmt. <?page no="328"?> 5.9 Erfahrungskurvenanalyse Problemstellung: Analyse und Prognose des Zusammenhangs zwischen Stückkosten und Produktionsmengen zur Bestimmung von Kostensenkungspotenzialen und Marktanteilssteigerungsmöglichkeiten sowie zur Auswahl geeigneter Strategietypen Zielgruppe: Produktionsleiter, Produktionscontroller, Marktforscher, Produktmanager Voraussetzungen: Beschaffung von Herstellungskosten für abgrenzbare Produkte und Zugang zu internen oder externen Vergleichsdaten Zielsetzung der Erfahrungskurvenanalyse Erfolgreiche Unternehmen zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie auf der Grundlage empirischer Erfahrungen klare Strategien entwickeln und diese konsequent umsetzen. Dabei gelingt es ihnen, Lücken zwischen Planung und Ausführung gering zu halten und Kosten effektiv zu managen. Die Bedeutung von Erfahrungen im Rahmen wertschöpfender Aktivitäten wurde bereits in den 1930er-Jahren in der Flugzeugindustrie erkannt, während die Wichtigkeit eines effektiven Kostenmanagements insbesondere in der jüngeren Vergangenheit in den Mittelpunkt gerückt ist, da unternehmerische Entscheidungen zunehmend an Wirtschaftlichkeitskennziffern ausgerichtet werden. Beide Aspekte, Erfahrungen und Kosten, bilden die Grundlage des so genannten Erfahrungskurvenkonzeptes, das eine Erweiterung des Lernkurveneffektes darstellt. Der Lernkurveneffekt wurde bei der Produktion von Flugzeugen in den USA erstmalig 1936 festgestellt. 441 Es zeigte sich, dass mit zunehmender Produktionsmenge die Produktionszeiten pro Stück zurückgingen. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass Menschen bei wiederholter Ausführung gleichartiger Tätigkeiten nicht nur weniger Fehler machen, sondern auch schneller sind. Bezugnehmend auf diese und weitere Erkenntnisse der Lern- und Arbeitspsychologie wurde für die Korrelation zwischen Fertigungszeit und Fertigungsmenge der Begriff Lernkurveneffekt eingeführt. Diesen Effekt brachte in den 1960er-Jahren die Boston Consulting Group - heute eine der größten Managementberatungsgesellschaften weltweit - in Zusammenhang mit der Entwicklung der Wertschöpfungskosten. Diese sind insofern bedeutsam, als sie in einem direkten Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen stehen. Anders formuliert: Je effizienter das Kostenmanagement eines Unternehmens, desto größer die Chance, Vorteile gegenüber Konkurrenten zu erzielen. Wie aber und in welchem Umfang können Kosten gesenkt werden? Antworten auf diese Frage bietet das Erfahrungskurvenkonzept: Demnach können in schnell wachsenden beziehungsweise ungesättigten Märkten Marktanteile durch eine Erhöhung der Ausbringungsmenge erzielt werden, die wiederum zu einer Reduktion der Stückkosten führt. Zur Planung und Umsetzung der auf diese Weise erzielten Wettbewerbsvorteile kann 441 Siehe Wright (1936). 328 5 Strategische Analyse <?page no="329"?> 5.9 Erfahrungskurvenanalyse 329 5 die Erfahrungskurvenanalyse herangezogen werden. Als eine Methode der Unternehmensanalyse kommt sie vor allem auf Geschäftsbereichsebene zum Einsatz, wenn es um die Frage der Erzielung weiterer Marktanteile und um die Senkung von Kosten beziehungsweise um die Wahl der richtigen Strategie und um die angemessene Allokation von Ressourcen geht. 442 Beschreibung der Erfahrungskurvenanalyse Das Konzept der Erfahrungskurve besagt, dass mit einer Verdoppelung der kumulierten Produktionsmenge die inflationsbereinigten Stückkosten um einen konstanten Prozentsatz sinken können, der je nach Branche und Marktsituation zwischen 20 und 30 Prozent liegt. Die in Abbildung 129 dargestellte und empirisch belegte Kostenentwicklung bezeichnet man als Erfahrungskurve, die allerdings nicht den Charakter eines Gesetzes 443 hat - wie vielfach postuliert wird -, sondern vielmehr Potenziale aufzeigt, die durch Rationalisierung, Standardisierung und Automatisierung genutzt werden können. Die Stückkosten umfassen dabei nicht nur Produktionskosten, sondern auch Kosten für Beschaffung, Marketing oder Vertrieb. Deren Rückgang kann unter Verweis auf folgende Faktoren erklärt werden: 444 Abbildung 129: Schematische Darstellung der Erfahrungskurve 442 Vergleiche Jones & Hill (2013, S. 123 f) und Müller-Stewens & Lechner (2011, S. 259 f). 443 Von einem Gesetz spricht man, wenn eine wissenschaftliche Aussage generelle Gültigkeit besitzt (vergleiche im Überblick Schnell, Hill & Esser 2018). Obgleich das Erfahrungskurvenkonzept über einen gewissen „Bewährungsgrad“ (Popper 1994, S. 198) verfügt, kann im engen Sinne nicht von einem statistischen und erst recht nicht von einem deterministischen Gesetz gesprochen werden, da bislang nicht verlässlich nachgewiesen wurde, dass die Ergebnisse des Erfahrungskurvenkonzeptes raum-zeitlich ungebunden sind. 444 Vergleiche im Überblick Bea & Haas (2013, S. 138 ff). <?page no="330"?> 330 5 Strategische Analyse Die bereits beschriebenen Lerneffekte, die sich durch die wiederholte Ausführung von gleichartigen Tätigkeiten ergeben, führen zu einer Verbesserung von Fertigungszeit und Fertigungsqualität und damit zu einer Kostenreduktion. Neben der durch Lernen verursachten Kostendegression wirken sich technologische Verbesserungen der Anlagen oder der Materialien, aber auch Prozess- und Produktstandardisierungen positiv auf die Kostensituation aus. Diesen Effekt nutzt beispielsweise die Automobilindustrie schon seit einigen Jahren, indem verschiedene Pkw-Modelle auf identischen Plattformen gefertigt werden. Insbesondere der Volkswagen-Konzern versuchte, die Plattformstrategie durch weitergehende Standardisierungen zu perfektionieren. So sollten mit der Einführung des modularen Querbaukastensystems Kosten-, Flexibilitäts- und Qualitätsvorteile gegenüber Toyota und General Motors erzielt werden, damit VW zum größten Autohersteller der Welt aufsteigen konnte. Eine Erhöhung der Produktionsmenge bietet die Chance, Größenvorteile - so genannte Economies of Scale - zu nutzen. Dieser aus der Massenproduktion bekannte Umstand besagt, dass eine Ausdehnung des Outputs mit gesteigerter Macht auf den Beschaffungsmärkten, mit Fixkostendegressionen und wirtschaftlicheren Produktionsverfahren einhergeht. Das heißt, eine vergrößerte Nachfrage nach Inputfaktoren führt in der Regel zu günstigeren Einkaufskonditionen. Zudem können Fixkosten bei größeren Ausbringungsmengen auf mehr Produkteinheiten verteilt und somit die Kosten pro Einheit reduziert werden. Schließlich ermöglichen erhöhte Stückzahlen eine Umstellung auf effizientere Fertigungsverfahren, wie die von Taylor entwickelte und von Ford umgesetzte Fließbandfertigung, welche die Einzel- oder Werkstattfertigung ablöste. Auch Verbundvorteile - so genannte Economies of Scope - können als Folge zunehmender Produktionsmengen realisiert werden. Darunter sind Synergien innerhalb eines Unternehmens oder zwischen verbundenen Unternehmen zu verstehen, die sich ergeben, wenn die Kosten für die gleichzeitige Herstellung von Produkten geringer sind, als die Kosten für die getrennte Produktion der einzelnen Güter. Die strategische Bedeutung des Erfahrungskurvenkonzeptes besteht vor allem darin, dass Kostensenkungspotenziale ausgelotet, Marktpreise prognostiziert, Make-or-Buy- Entscheidungen abgewogen und Time-to-Market-Strategien festgelegt werden können. Insbesondere mit Blick auf das Timing des Markteintritts oder der Marktausweitung wird deutlich, dass sich bei der Verfolgung einer Pionier- oder First-Mover-Strategie schneller Bekanntheits-, Image- oder Erfahrungskurveneffekte einstellen, als bei der Verfolgung einer Nachzügler- oder Follower-Strategie. Unternehmen sollten insofern versuchen, auf wachsenden Märkten schnell einen großen Marktanteil zu erzielen, indem sie die Ausbringungsmenge erhöhen und auf diese Weise Stückkosten reduzieren und rentable Ergebnisse erwirtschaften. Diese Logik des Erfahrungskurvenkonzeptes fasst Abbildung 130 zusammen. <?page no="331"?> 5.9 Erfahrungskurvenanalyse 331 5 Abbildung 130: Logik des Erfahrungskurvenkonzeptes 445 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sowohl auf nationalen als auch auf internationalen Märkten die Nachfrage nach Massenprodukten zurückgeht und Kunden immer häufiger individualisierte Angebote erwarten, die nur in kleinen Stückzahlen bereitgestellt werden. Insofern ist vor der Anwendung dieser Methode zu fragen, in welchen Kunden- und Marktsegmenten sowie in welchem Umfang die Voraussetzungen für die Realisierung von Erfahrungskurvenvorteilen überhaupt noch gegeben sind. 446 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Erfahrungskurvenanalyse unterscheidet sich von anderen betriebswirtschaftlichen Methoden, da sie nur Anhaltspunkte für die beschriebenen Maßnahmen bietet, nicht jedoch ein standardisiertes Anwendungsprocedere zur Generierung von Marktanteilen und damit verbundenen Stückkostenreduktionen bereitstellt. Ungeachtet dessen hat sich in der Praxis folgende Vorgehensweise als sinnvoll erwiesen: 447 Der erste Schritt der Erfahrungskurvenanalyse besteht in der Festlegung des Untersuchungsgegenstandes. Das heißt, es ist präzise zu bestimmen, für welche Produkte oder Produktbereiche Marktanteilsausweitungen durch steigende Produktionsvolumina und damit verbundene Kostendegressionen erreicht werden sollen. Die in Betracht kommenden Produkte müssen homogene Herstellungsverfahren und Herstellungsprozesse aufweisen, um die korrelative Kette aus Erfahrungen, Kosten und Marktanteilen bestimmen zu können. Insofern eignet sich ein heterogenes Produktportfolio in aller Regel nicht für die Erfahrungskurvenanalyse - insbesondere dann nicht, wenn die Einzelprodukte auf unterschiedliche Märkte und Kunden ausgerichtet sind und die Produktionsabläufe nur geringe Ähnlichkeiten aufweisen. Umgekehrt können Erfahrungen mit einem Produkt auf andere Produkte übertragen werden, sofern diese hinsichtlich der Kriterien Produktion und Markt vergleichbar sind. In einem zweiten Schritt werden Ist-Werte für die ausgewählten Produkte oder Produktbereiche bestimmt. Die Höhe und die Besonderheiten der entsprechenden Stückkosten müssen im Detail analysiert werden. Das heißt, es sind nicht nur die reinen Kosten, sondern auch deren zeitlicher Verlauf seit der Markteinführung des Produktes in Relation zur Produktionsmenge in den Blick zu nehmen. Demnach würde zum Bei- 445 Corsten & Corsten (2012, S. 108). Siehe hierzu auch das PIMS-Projekt - im englischsprachigen Kontext als Profit Impact of Market Strategies bekannt -, in dessen Rahmen empirisch belegt wurde, dass eine positive Korrelation zwischen Marktanteil und Rentabilität besteht (vergleiche Buzzell & Gale 1987). 446 Vergleiche Bea & Haas (2013, S. 141). 447 Vergleiche im Überblick Kerth & Asum (2008, S. 22 ff). <?page no="332"?> 332 5 Strategische Analyse spiel ein Tablet-PC-Hersteller nicht nur die Stückkosten zu einem bestimmten Zeitpunkt ermitteln, sondern auch prüfen, wie lange das Produkt bereits auf dem Markt ist und welche Änderungen sich mit steigender Ausbringungsmenge ergeben haben. Auf diese Weise würde man für die Tablet-PCs nicht nur präzise Daten zur Bestimmung der Ausgangssituation erhalten, sondern auch Informationen darüber, ob der relevante Markt noch aufnahmefähig für weitere Mengen ist. Wäre dies nicht der Fall, dürften die Spielräume zur Erzielung weiterer Kostenvorteile gering sein. Die im nächsten Schritt beschriebene Planung der Zielwerte sollte entsprechend zurückhaltend erfolgen. Die Berechnung möglicher Sollwerte basiert für gewöhnlich auf Schätzungen. Hierzu werden in einem dritten Schritt beispielsweise technische Verbesserungen, Prozessoptimierungen oder geänderte Arbeitsabläufe in Betracht gezogen, um die jeweiligen Effekte für die Stückkostenentwicklung zu quantifizieren. Ziel ist es, die potenziell geringsten Stückkosten zu bestimmen und diese als zu erreichende Sollwerte zu definieren. Dabei werden auch Branchen- und Benchmarkingdaten oder Erfahrungswerte aus anderen Geschäftsbereichen herangezogen, um die Sollwerte nicht nur an internen, sondern auch an externen Faktoren auszurichten. In einem letzten Schritt werden Aktivitäten festgelegt, um die Differenz zwischen Ist- und Sollwerten auszugleichen. Die gewünschten Kostendegressionseffekte stellen sich insbesondere dann ein, wenn die Aktionsprogramme kontinuierlich aktualisiert und neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. Hierzu kann auf verschiedene Methoden wie das Benchmarking, die Wertketten- oder die Produktlebenszyklusanalyse zurückgegriffen werden, die im Mittelpunkt der Kapitel 5.5, 5.6 und 5.8 stehen. Entscheidend ist, dass die zentralen Hebel zur Kostenoptimierung identifiziert, mit Aktivitäten adressiert und mit Hilfe von Plänen und Kennzahlen überwacht werden, um weitere Absatzmengen und damit verbundene Kostenvorteile zu erzielen. Weiterführende Hinweise Kosteneffizienz stellt die Basis für Wettbewerbsvorteile dar. Dies gilt insbesondere für Branchen, in denen kaum oder keine Möglichkeiten bestehen, sich durch Produktdifferenzierung von Konkurrenten abzuheben. Insofern ist die Untersuchung von Kostenvorteilen im Rahmen der strategischen Analyse von besonderer Bedeutung. Dabei können auf der Basis der Erfahrungskurve folgende Kostentreiber näher betrachtet werden: Lern-, Skalen- und Verbundeffekte sowie Technologie- und Standardisierungseffekte. Will man nicht nur Hinweise auf Kostensenkungspotenziale ermitteln, sondern auch die Kostenposition eines Unternehmens ganzheitlich bestimmen, sind weitere Methoden zu berücksichtigen. Denn die Erfahrungskurvenanalyse eignet sich nur in begrenztem Maße, wenn die gesamte Wertschöpfungskette mit allen assoziierten Kosten im Mittelpunkt des Interesses steht. Hierfür sollte eher auf den in Kapitel 5.6 beschriebenen Ansatz von Porter zurückgegriffen beziehungsweise dieser mit der Erfahrungskurvenanalyse kombiniert werden. <?page no="333"?> 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle <?page no="334"?> 334 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Strategien müssen nicht nur analysiert, sondern auch geplant, umgesetzt und kontrolliert werden. Die Aspekte der Planung, Umsetzung und Kontrolle wurden allerdings lange Zeit gegenüber dem Aspekt der Analyse vernachlässigt. Dies lag zum einen daran, dass man bei der strategischen Analyse auf einen größeren Fundus an Methoden und Techniken als bei der strategischen Planung, Umsetzung und Kontrolle zurückgreifen konnte, die zudem in der Handhabung recht einfach waren. Zum anderen erforderte und erfordert vor allem die strategische Umsetzung mehr operatives Knowhow und die Fähigkeit, Allgemeines in Spezielles übersetzen zu können. Schließlich wird das Thema der strategischen Umsetzung und Kontrolle häufig unter dem Gesichtspunkt der Performance-Messung betrachtet und demnach auf Messgrößen und Messkriterien reduziert. Obgleich die Strategieimplementierung nicht ohne Kennzahlen auskommt, sollten diese nicht alleiniger Bestandteil der letzten Phase des strategischen Managementprozesses sein. Im Mittelpunkt der Strategieimplementierung sollten vielmehr die Priorisierung, Strukturierung und Abstimmung aller Maßnahmen inklusive deren Überprüfung stehen. Anders formuliert: Wesentliches Kennzeichen der strategischen Umsetzungs- und Kontrollphase ist ein systematisches und zielgrößengesteuertes Aktivitätenmanagement auf allen Ebenen der Unternehmensorganisation und nicht nur Kennzahlenhuberei. Die Planung und Umsetzung von Strategien in operatives Handeln erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Je nachdem ob eine Unternehmens-, eine Geschäftsbereichs- oder eine Funktionalstrategie implementiert werden soll, stehen unterschiedliche Perspektiven im Mittelpunkt. Auf der obersten Strategieebene wird entschieden, in welchen Geschäftsfeldern das Unternehmen tätig sein möchte und ob eine Wachstums-, eine Stabilisierungs- oder eine Desinvestitionsstrategie verfolgt werden soll. Auf Geschäftsbereichsebene wird festgelegt, wie man sich gegenüber Kunden und Wettbewerbern positionieren will und welche Ressourcen hierzu genutzt werden können. Funktionalstrategien stellen schließlich Konkretisierungen unter anderem in den Bereichen Forschung, Entwicklung, Beschaffung, Produktion oder Marketing dar und machen deutlich, welchen Beitrag die funktionalen Bereiche zur Umsetzung der übergeordneten Strategien leisten können. Entscheidend für die Kontrolle der einzelnen Strategietypen ist deren Evaluier- und Messbarkeit. Das heißt, strategische Aktivitäten und Programme müssen prinzipiell überprüfbar sein, wobei sich die Überprüfung im Sinne einer Planbeziehungsweise Durchführungskontrolle auf die definierten Ziele und Meilensteine oder im Sinne einer Prämissenkontrolle auf die Gültigkeit der gesetzten Annahmen beziehen kann. Entsprechend der Konzeption dieses Buches bleiben im Folgenden strategische Planungs-, Umsetzungs- und Kontrollansätze unberücksichtigt, die den Charakter von Denkmodellen oder Heuristiken haben und nicht in einzelne Anwendungsschritte zerlegt beziehungsweise als betriebswirtschaftliche Methode betrachtet werden können. Demnach wird man einige Werkzeuge nicht finden, die in einschlägigen Strategielehrbüchern und Management-Toolboxen zum Teil einen prominenten Platz einnehmen. Das Kapitel beginnt mit der SWOT-Analyse, die zwar teilweise dem Bereich der strategischen Analyse zugeordnet wird, aber gemäß der hier vertretenen Auffassung die Brücke zwischen strategischer Analyse einerseits und strategischer Planung und Umsetzung andererseits schlägt und insofern den Anfang der Planungsmethoden bildet. <?page no="335"?> 6.1 SWOT-Analyse 335 6 6.1 SWOT-Analyse Problemstellung: Identifikation des strategischen Handlungsbedarfs eines Unternehmens oder einer Geschäftseinheit und Ableitung strategischer Optionen und Aktivitäten Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichsleiter, Marktforscher, Business Development Manager Voraussetzungen: Beschaffung von Informationen zu Stärken und Schwächen eines Unternehmens und zu Chancen und Risiken des Umfeldes sowie Methoden-Know-how und klare Abgrenzung des Untersuchungsobjektes Zielsetzung der SWOT-Analyse Die in Kapitel 5 beschriebenen Methoden der strategischen Analyse haben zum Ziel, alle erforderlichen Informationen für die Ableitung strategischer Optionen bereitzustellen. So liefern die Methoden der Umweltanalyse Daten über Chancen und Risiken im Umfeld, während die Methoden der Unternehmensanalyse Stärken und Schwächen eines Unternehmens oder Geschäftsbereiches aufdecken. Die einzelnen externen und internen Informationen stiften isoliert betrachtet nur begrenzten Nutzen. Für die Entwicklung tragfähiger Strategien müssen sie zusammengeführt und unter Berücksichtigung der jeweiligen Wechselbeziehungen ausgewertet werden. Ein geeignetes Hilfsmittel, die in der Situationsanalyse gewonnenen Daten für die Strategiearbeit zu bündeln, ist die so genannte SWOT- oder Stärken-Schwächen-Chancen-Risiken-Analyse. 448 Im Rahmen dieser Analyse werden die erfolgskritischen Faktoren identifiziert und systematisch ausgewertet. Die Durchführung einer SWOT-Analyse setzt insofern das Vorhandensein unternehmensexterner und unternehmensinterner Informationen voraus, die mit Hilfe anderer Methoden gesammelt wurden. Denn die SWOT-Analyse ist keine Methode zur Informationsgewinnung, sondern ein strategisches Instrument zur Informationsverdichtung, -verarbeitung und -auswertung. Beschreibung der SWOT-Analyse Seit vielen Jahrzehnten wird in der Entwicklungspsychologie und in der Sozialisationsforschung darüber gestritten, ob interne Faktoren wie die genetische Ausstattung eines Menschen oder externe Faktoren wie Familie, Schule oder Freundesgruppe die Fähigkeiten eines Individuums stärker beeinflussen. Diese so genannte Anlage-Umwelt-Debatte 449 fand ihren Ursprung bereits in der Antike und prägte das Denken ganzer Forschergenerationen. Nicht ganz so weit zurück reicht die innerhalb der Betriebs- 448 Das von der Harvard Business School in die Diskussion gebrachte Akronym SWOT steht für Strengths, Weaknesses, Opportunities und Threats und bezieht sich demnach auf Stärken und Schwächen eines Unternehmens sowie auf existierende Chancen und Risiken in den jeweiligen Unternehmensumwelten. 449 Siehe zum Beispiel Berk (2011). <?page no="336"?> 336 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle wirtschaftslehre geführte Kontroverse, ob die Ressourcen eines Unternehmens - also interne Faktoren - oder die Bedingungen der Umwelt - also externe Faktoren - den Erfolg von Unternehmen bestimmen. Folgt man den Argumenten des Resource-Based- View, dann stellen vor allem organisatorische, finanzielle oder humane Ressourcen zentrale Quellen des Erfolges dar. Demgegenüber postuliert der Market-Based-View, dass die Konkurrenzsituation und die eigene Wettbewerbsposition erfolgskritisch sind. Diese beiden Ansätze des strategischen Managements scheinen auf den ersten Blick unvereinbar, obwohl sie sich auf den gleichen Gegenstand beziehen - nämlich auf die Frage, was Unternehmen erfolgreich macht. Bei der Beantwortung dieser Frage hat sich in der jüngeren Vergangenheit die Überzeugung durchgesetzt, dass Ressourcen und Umweltfaktoren gleichermaßen betrachtet und im Zusammenspiel analysiert werden müssen. Als methodische Klammer dient dabei das SWOT-Konzept: Diese betriebswirtschaftliche Methode setzt die Elemente des ressourcenorientierten Ansatzes - interne Stärken und Schwächen - mit umweltorientierten Aspekten - externe Chancen und Risiken - in Beziehung und überwindet auf diese Weise die vermeintliche Unvereinbarkeit der Betrachtungsweisen. 450 Abbildung 131: SWOT-Matrix Das SWOT-Konzept verzahnt die strategische Analyse mit der strategischen Planung und der strategischen Umsetzung. Daher steht diese Methode auch am Anfang des vorliegenden Kapitels und wurde nicht - wie zum Teil in anderen Publikationen - den strategischen Analysemethoden zugeordnet. Die SWOT-Analyse bietet zum Beispiel die Möglichkeit, strategische Lücken auf der Basis umfangreicher Daten zu erkennen und mit Hilfe geeigneter Maßnahmen zu adressieren. Strategische Lücken, also Geschäftschancen, welche die Konkurrenz bislang nicht oder nur unzureichend nutzt, 450 Vergleiche Hieke (2009, S. 71 f). <?page no="337"?> 6.1 SWOT-Analyse 337 6 werden durch die Verknüpfung interner und externer Faktoren aufgedeckt. Aus der Verknüpfung ergeben sich die in Abbildung 131 dargestellten vier Gruppen von Strategien: SO-Strategien rücken die Stärken eines Unternehmens in den Mittelpunkt und zielen darauf ab, Chancen im Umfeld wahrzunehmen. ST-Strategien geben Antworten auf die Frage, inwiefern externe Bedrohungen durch den Einsatz interner Stärken gemildert oder neutralisiert werden können. Die Kombination von Schwächen und Chancen führt zu WO-Strategien, deren Ziel es ist, durch einen Abbau von Schwächen die positiven Möglichkeiten des Umfeldes zu nutzen. WT-Strategien kommt schließlich eine große Bedeutung zu, da hier Schwächen auf Gefahren treffen. Insofern müssen Verteidigungsmaßnahmen entwickelt werden, die Aussagen darüber enthalten, wie durch einen Abbau von Schwächen Gefahren im Unternehmensumfeld reduziert werden können. Die integrierte Betrachtung der zentralen Umwelt- und Unternehmensfaktoren ermöglicht die Ableitung zahlreicher strategischer Optionen, die hinsichtlich ihrer Bedeutung priorisiert werden müssen, da nur die wichtigsten, potenziell erfolgswirksamen und auch realisierbaren SO-, ST-, WO- und WT-Strategien mit Aktivitäten und Kennzahlen hinterlegt werden sollten. 451 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Bestimmung möglicher Handlungsoptionen erfolgt auf der Grundlage von Daten, die mit Hilfe einer Vielzahl unterschiedlicher Methoden gewonnen werden. Insgesamt kann man folgende fünf Schritte im Rahmen einer SWOT-Analyse unterscheiden: Identifikation unternehmensexterner Chancen und Gefahren, Identifikation unternehmensinterner Stärken und Schwächen, Priorisierung der einzelnen Umwelt- und Unternehmensfaktoren, integrierte Betrachtung der priorisierten Faktoren im Rahmen der SWOT-Matrix, Ableitung, Priorisierung und Umsetzung strategischer Handlungsmöglichkeiten. Zunächst sind beispielsweise unter Rückgriff auf die Umwelt-, Branchenstruktur-, Wettbewerbs-, Stakeholder- und Benchmarkinganalyse alle relevanten Umfeldfaktoren zu bestimmen. Diese in Kapitel 5 vorgestellten Methoden liefern ein detailliertes Bild über Chancen und Gefahren, mit denen ein Unternehmen direkt oder indirekt konfrontiert ist beziehungsweise in Zukunft konfrontiert sein könnte. Zusätzlich kann man spezifische Kundeninformationen berücksichtigen, die beispielsweise die Means- End- oder die Kundenzufriedenheitsanalyse liefern. Die einzelnen Informationen werden dokumentiert und gegebenenfalls in Gruppen eingeteilt, um zum Beispiel allgemeine Marktvon Kunden- oder Wettbewerbsdaten abzugrenzen. Die Wertketten-, Produktlebenszyklus- und Erfahrungskurvenanalyse sowie das 7S- Modell stellen Informationen zu Stärken und Schwächen eines Unternehmens bereit. Analog zur Synopse externer Chancen und Gefahren werden die internen Daten zusammengetragen und in Stärken-Schwächen-Profilen verdichtet. Stärken können beispielsweise das Leistungsangebot, die Produktqualität oder der Kundenservice und 451 Vergleiche Dillerup & Stoi (2013, S. 271 ff). <?page no="338"?> 338 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Schwächen die Eigenkapitalausstattung, das Preismanagement oder die Mitarbeiterfluktuation sein. Die Fülle an umwelt- und unternehmensbezogenen Daten muss man in der Regel durch Priorisierung reduzieren. Das heißt, es werden nicht alle in den Schritten 1 und 2 identifizierten Informationen im Rahmen der integrierten Betrachtung externer und interner Faktoren berücksichtigt, sondern nur die wesentlichen und erfolgskritischen. Diese werden aufbereitet und in einem nächsten Schritt in die SWOT-Matrix eingetragen, die von einer Umwelt- und einer Unternehmensachse gebildet wird. In einem letzten Schritt werden die priorisierten Stärken und Schwächen mit den entsprechenden Chancen und Gefahren kombiniert und strategische Optionen analog der Darstellung in Abbildung 131 entwickelt. Dabei kann es passieren, dass man zu viele Handlungsmöglichkeiten bestimmt, die unter anderem aufgrund fehlender Ressourcen nicht zur Gänze verfolgt werden können. Daher sollte man die einzelnen Optionen in eine Rangfolge bringen, um die Implementierung unter den jeweils gegebenen Bedingungen optimal zu gestalten. Zur Bewertung kann auf Scoring-Modelle beziehungsweise Nutzwertanalysen zurückgegriffen werden, die trotz ihres subjektiven Charakters wertvolle Hilfestellungen bei entsprechenden Entscheidungsproblemen bieten. Abbildung 132: Beispielhafte SWOT-Analyse eines Dienstleistungsunternehmens Abbildung 132 illustriert die Ergebnisse einer SWOT-Analyse eines Chemiedienstleisters. Das Unternehmen bietet Dienstleistungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Produktionsanlagen, die sowohl die Aspekte Sicherheit und Umweltschutz als auch die Bereiche Standortplanung und Standortmanagement umfassen. Aus der Kombination der Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken ergeben sich handlungsorientierte Aussagen, die mit konkreten Aktivitäten hinterlegt werden können. <?page no="339"?> 6.1 SWOT-Analyse 339 6 Ein Beispiel: Die ST-Strategie „Akquisition kleiner Wettbewerber zur Erweiterung des Produktportfolios“ lässt sich beispielsweise in Maßnahmen wie das Identifizieren geeigneter Übernahmekandidaten und die Durchführung einer Sorgfältigkeitsprüfung bei den als geeignet eingestuften Zielobjekten übersetzen. Im Kontext von Unternehmensübernahmen spricht man diesbezüglich von der so genannten Due Diligence. 452 Dabei handelt es sich um eine Detailprüfung insbesondere der wirtschaftlichen, rechtlichen oder technischen Verhältnisse eines potenziellen Übernahmekandidaten. Die damit verbundenen Aktivitäten können in weitere Teilprojekte mit entsprechenden Verantwortlichkeiten zerlegt werden, um auf diese Weise sicherzustellen, dass die gewünschte strategische Option nicht nur als analytisches Substrat auf dem Papier existiert, sondern in der Praxis seine Umsetzung findet. Weiterführende Hinweise Bei der SWOT-Analyse handelt es sich um eine bekannte und in der Praxis bewährte Methode des strategischen Managements, die ihre volle Wirkung allerdings nur dann entfaltet, wenn sie in analytischer und nicht in deskriptiver Hinsicht angewendet wird. Das heißt, das Auflisten von Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken in einer Vier-Felder-Matrix erfüllt lediglich den Zweck der Beschreibung eines bestimmten Status quo, stellt aber noch keine SWOT-Analyse dar. Anhaltspunkte für konkrete Handlungsmöglichkeiten und deren Umsetzung erhält man nur, wenn man über die Beschreibung der einzelnen Sachverhalte hinausgeht und die jeweiligen Faktoren einer Kombinationsanalyse unterzieht. Dabei sind die erzielten Ergebnisse trotz des Bemühens um analytische Stringenz in aller Regel nicht objektiv, da die Auswahl, Priorisierung und Verknüpfung der Umwelt- und Unternehmensaspekte subjektiven Einschätzungen und Bewertungen unterliegen. Das Gütekriterium Objektivität lässt sich jedoch verbessern, indem man im Vorfeld der SWOT-Analyse auf die in diesem Buch beschriebenen betriebswirtschaftlichen Methoden zurückgreift und die entsprechenden Daten als Grundlage für die Strategieentwicklung und Strategieumsetzung nutzt. 452 Siehe zum Beispiel Jansen (2008) oder Wirtz (2012). <?page no="340"?> 6.2 Marktwachstum-Marktanteil-Portfolio: BCG-Matrix Problemstellung: Beschreibung und Bewertung der strategischen Situation eines Unternehmens und Ableitung entsprechender Normstrategien zur finanziellen Ausbalancierung des Gesamtportfolios Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichsleiter, Controller, Marktforscher, Produktprogrammplaner, Portfoliomanager Voraussetzungen: Vorliegen einer Liste differenzierter Geschäftsfelder und Zugriff auf Marktwachstumsdaten der einzelnen Geschäftsfelder und auf Marktanteile des eigenen Unternehmens und der größten Wettbewerber Zielsetzung der BCG-Matrix Das Thema der privaten Geldanlage hat in der jüngeren Vergangenheit für viele Menschen an Bedeutung gewonnen. Hierfür verantwortlich sind unter anderem die steigende Lebenserwartung in Deutschland und die Schwierigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung, die finanzielle Absicherung im Alter zu gewährleisten. Daher machen sich nicht nur institutionelle, sondern auch immer mehr private Anleger Gedanken, in welche Wertpapiere sie investieren sollen und wie eine optimale Mischung unter Berücksichtigung der Verlustrisiken einerseits und der Renditechancen andererseits gefunden werden kann. Antworten auf die Frage nach einer effizienten Zusammensetzung des Investitionsportfolios bietet die in den 1950er-Jahren von dem Nobelpreisträger Markowitz begründete Portefeuille-Theorie. 453 In deren Mittelpunkt steht nicht die Bewertung jeder einzelnen Anlage, sondern das Bemühen, das aus Aktien oder Wertpapieren gebildete Gesamtportfolio zu optimieren. Diesen Grundgedanken hat die 1963 gegründete Boston Consulting Group Ende der 1960er-Jahre auf das strategische Management übertragen. Die US-amerikanische Beratungsgesellschaft entwickelte einen Ansatz, in dessen Rahmen Unternehmen als Portfolio unterschiedlicher Geschäftsfelder betrachtet werden. Analog zu Investitionsentscheidungen von Privatpersonen müssen Geschäftsführer festlegen, in welche Bereiche investiert und aus welchen Bereichen Geld abgezogen werden soll. Dabei werden Geschäftsfelder wie Investitionsobjekte betrachtet, die in das Portfolio aufgenommen und entwickelt und aus diesem gegebenenfalls wieder entfernt werden können, wenn die gewünschten Erträge ausbleiben. Ziel der Portfolioanalyse ist es zu bestimmen, welche Kombination von Geschäftsfeldern für das Unternehmen optimal ist und welchen Bereichen Ressourcen zugeordnet werden sollen. Dabei handelt es sich typischerweise um Geschäftsfelder mit günstigen Marktaussichten, in denen Unternehmen existierende Stärken gewinnbringend einsetzen können. Verfolgt man das beschriebene Ziel der Bewertung und optimalen Gestaltung einzelner Geschäftsfelder, 453 Siehe Markowitz (1952). 340 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle <?page no="341"?> 6.2 Marktwachstum-Marktanteil-Portfolio: BCG-Matrix 341 6 kann man auf das von der Boston Consulting Group entwickelte Marktwachstum- Marktanteil-Portfolio zurückgreifen, das auch als BCG-Matrix bezeichnet wird. 454 Beschreibung der BCG-Matrix Portfolioanalysen verfolgen das Ziel, Produkt-Markt-Strategien zu entwickeln und zu bestimmen, wie Ressourcen möglichst gewinnbringend eingesetzt werden können. Abbildung 133 illustriert, dass man beim Aufbau von Portfolios stets eine Umwelt- und eine Unternehmensvariable berücksichtigt und die Geschäftsfelder anhand dieser Variablen bewertet und im Koordinatensystem entsprechend positioniert. Abbildung 133: Grundaufbau von Unternehmensportfolios 455 Das in Abbildung 133 mit GF 1 abgekürzte Geschäftsfeld 1 würde sich demnach auf einem stark wachsenden Markt befinden, aber nur über einen geringen Marktanteil verfügen, sofern man als Umweltvariable das Marktwachstum und als Unternehmensvariable den Marktanteil betrachtet. Der zweidimensionalen Matrix kann man jedoch nicht nur die Umwelt-Unternehmens-Positionierung der Geschäftsfelder entnehmen, sondern man kann auch deren Bedeutung anhand der Kreisgrößen abschätzen. Je größer die Kreise, desto höher der Umsatz des jeweiligen Geschäftsfeldes in Relation zum Gesamtumsatz des Unternehmens. Diesem Ist-Portfolio wird in der Praxis im Allgemeinen ein Ziel-Portfolio gegenübergestellt, um deutlich zu machen, in welche Richtung sich die betrachteten Geschäftsfelder entwickeln sollten. Diese Art der Portfolioanalyse kommt immer dann zur Anwendung, wenn Planungsentscheidungen 454 Vergleiche Fink (2004b, S. 28). 455 Modifiziert nach Macharzina & Wolf (2012, S. 356). <?page no="342"?> 342 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle nicht isoliert für ein einzelnes Geschäftsfeld oder ein einzelnes Produkt getroffen werden sollen. Für diese Fälle könnte man zum Beispiel auf die Kapitalwertmethode zurückgreifen, die auch als Net Present Value-Verfahren bekannt ist, um den Nutzen einer potenziellen Investition zu bestimmen. Sind hingegen das Wechselspiel mehrerer Planungsobjekte und eine mögliche Risikostreuung von Interesse, eignet sich für die Strategiearbeit vor allem die Portfolioanalyse. Dabei ist festzulegen, welche Bereiche des Unternehmens in die Betrachtung einbezogen und auf welche Bereiche der Umwelt ausgerichtet werden sollen. Typischerweise werden Produkte zu strategischen Geschäftseinheiten zusammengefasst, die auf strategische Geschäftsfelder ausgerichtet sind. Die durch Segmentierung der Umwelt entstehenden strategischen Geschäftsfelder dienen schließlich als Planungsobjekte im Rahmen der Portfolioanalyse. Diese Objekte werden sowohl unter Risikoals auch unter Ertragsgesichtspunkten im Überblick betrachtet und mit Aktivitäten hinterlegt, um Synergien zu nutzen und um die langfristige Überlebenssicherung des Unternehmens zu gewährleisten. 456 Bei der BCG-Matrix handelt es sich um das vermeintlich bekannteste und am häufigsten angewendete absatzmarktorientierte Portfoliokonzept, dessen Zielgröße der Cashflow ist. Beim Aufbau der Matrix werden eine Umwelt- und eine Unternehmensdimension berücksichtigt: das Marktwachstum und der relative Marktanteil. Das Marktwachstum repräsentiert die Chancen in der Umwelt, während der relative Marktanteil als Indikator für die Stärken des Unternehmens dient. Gemessen wird das Wachstum eines Marktes unter Berücksichtigung von Umsatz- oder Absatzraten, während sich der relative Marktanteil als Quotient aus dem eigenen Marktanteil und dem Marktanteil des stärksten Wettbewerbers ergibt. Zur Bestimmung der Marktstellung eines Unternehmens wird nicht der absolute, sondern der relative Marktanteil herangezogen, da „der absolute Marktanteil für sich genommen, vor allem solange er unter 50 Prozent liegt, keine hinreichende Aussage über das Verhältnis der eigenen Stärke auf einem Markt im Vergleich zur Konkurrenz erlaubt“ 457 . Die theoretisch-methodische Grundlage der BCG-Matrix bilden das Lebenszykluskonzept und die Erfahrungskurve, die in den Kapiteln 5.8 und 5.9 ausführlich beschrieben werden. Produkte oder Märkte entstehen, wachsen, reifen, altern und verschwinden gegebenenfalls wieder. In Abhängigkeit vom jeweiligen Lebenszyklus ergeben sich Chancen und Risiken für Unternehmen in Bezug auf die geplanten Investitionsentscheidungen. Aus dieser Erkenntnis leitet sich der umweltbezogene Erfolgsfaktor Marktwachstum ab. Demgegenüber ergibt sich der unternehmensbezogene Erfolgsfaktor Marktanteil aus der Logik der Erfahrungskurve, die besagt, dass auf der Basis von Erfahrungen effiziente Strukturen aufgebaut, Produktionsmengen erhöht, Stückkosten gesenkt und Marktanteile hinzugewonnen werden können. Unter Berücksichtigung dieser beiden Indikatoren kann man die BCG-Matrix erstellen, sofern Geschäftsfelder mit klar abgegrenzten Marktsegmenten vorliegen, die unabhängig gegenüber anderen Geschäftsfeldern sind. Ausgehend von der Position einzelner Geschäftsfelder oder Produkte 456 Vergleiche Bea & Haas (2013, S. 143 f) und Macharzina & Wolf (2012, S. 354 ff). 457 Fink (2009, S. 203). <?page no="343"?> 6.2 Marktwachstum-Marktanteil-Portfolio: BCG-Matrix 343 6 können Handlungsempfehlungen beziehungsweise Normstrategien für die in Abbildung 134 dargestellten Question Marks, Stars, Cash Cows und Poor Dogs abgeleitet werden. 458 Abbildung 134: BCG-Matrix Question Marks sind Geschäftsfelder, die einen geringen Marktanteil aufweisen, aber auf wachsenden Märkten positioniert sind. Meist handelt es sich um innovative Produkte, die bezuschusst werden müssen, um sich mittelfristig in Starprodukte zu verwandeln. Das heißt, diese Geschäftsfelder zeichnen sich durch einen hohen Finanzbedarf für Forschung, Entwicklung und Markteintritt aus, der durch andere Geschäftsfelder mit einem positiven Cashflow gedeckt werden muss. Stars sind Zukunfts- oder Hoffnungsprodukte eines Unternehmens, die auf attraktiven Märkten hohe Marktanteile erreicht haben. Erhalt und Ausbau der Wettbewerbsstärke erfordern allerdings Finanzmittel, welche diese Geschäftsfelder nur zum Teil selbst generieren. Insofern befindet sich der Netto-Cashflow bei Starprodukten in der Regel im Gleichgewicht, da sich der erwirtschaftete und der für Reinvestitionsmaßnahmen erforderliche Cashflow die Waage halten. Cash Cows sind Geschäftsfelder mit Zahlungsüberschüssen, da sie aufgrund der guten Wettbewerbsposition solide interne Finanzquellen darstellen, aufgrund des geringen Marktwachstums jedoch kaum Investitionen binden. Das heißt, für Cash- Geschäftsfelder sollten zum Beispiel nur jene produkt- oder kommunikationspolitischen Maßnahmen ergriffen werden, die zur Nutzung vorhandener Potenziale zwingend erforderlich sind, damit ausreichend Mittel für Nachwuchs- oder Hoffnungsprodukte - also Question Marks und Stars - zur Verfügung stehen. 458 Vergleiche Fink (2009, S. 201 ff) und Müller-Stewens & Lechner (2011, S. 285). <?page no="344"?> 344 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Poor Dogs sind Geschäftsfelder, die nur geringe positive oder sogar negative Cashflows erwirtschaften, da sie auf Märkten mit geringem Wachstum positioniert sind und nur über niedrige relative Marktanteile verfügen. Die in Abbildung 134 dargestellte Matrix impliziert einen bestimmten Entwicklungsverlauf für die einzelnen Geschäftsfelder und die damit verbundenen Normstrategien: Durch Innovationen entstehen Question Marks, die sich in der Einführungs- oder Wachstumsphase befinden und für die eine Offensivstrategie empfohlen wird, sofern keine Indikatoren auf einen möglichen Misserfolg hinweisen. Eine Investitionsstrategie sollte für Stars verfolgt werden, um den hohen Marktanteil zu stabilisieren oder auszubauen, damit aus Wachstumsprodukten zukünftige Cashlieferanten werden. Für als Cash Cows klassifizierte Geschäftsfelder eignet sich eine Abschöpfungsstrategie, während man für Poor Dogs, die sich in der Sättigungs- oder Degenerationsphase befinden, eine Desinvestitionsstrategie entwickeln sollte, um den Anteil negativer Cashflows im Unternehmen möglichst gering zu halten. 459 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die BCG-Matrix kommt vor allem in Mehrproduktunternehmen zur Anwendung, in denen Produkte zu strategischen Geschäftseinheiten gebündelt und auf strategische Geschäftsfelder ausgerichtet werden. Daher ist es zunächst erforderlich, strategische Geschäftsfelder zu definieren und voneinander abzugrenzen. Darüber hinaus sind weitere Schritte bei der Erstellung und Auswertung der BCG-Matrix zu berücksichtigen. Insgesamt gliedert sich das Vorgehen in folgende Abschnitte: 460 Abgrenzung strategischer Geschäftsfelder, Bestimmung des Marktwachstums und des relativen Marktanteils, Positionierung der strategischen Geschäftsfelder in der BCG-Matrix, Beschreibung der BCG-Matrix und Ableitung von Normstrategien. Zahlreiche Unternehmen sind so organisiert, dass der gesamte Tätigkeitsbereich in Produktgruppen oder Geschäftseinheiten gegliedert ist, die auf unterschiedliche Märkte ausgerichtet sind. Damit sind die Grundvoraussetzungen zur Anwendung der BCG-Matrix gegeben. Ist dies nicht der Fall, müssen strategische Geschäftseinheiten zunächst gebildet und strategische Geschäftsfelder eindeutig abgegrenzt werden. Zur Abgrenzung können Markt- und Unternehmensbedingungen als Kriterien herangezogen werden. Bedingungen des Marktes sind die Kunden- und die Wettbewerbssituation, die man anhand der Dimensionen Kundengruppe, Kundenbedürfnis und Konkurrenz bestimmen kann. Ein Sportartikelhersteller sieht sich zum Beispiel mit dem Kundenbedürfnis „professionelles Schuhwerk“ konfrontiert und kann daraus für die Kundengruppe der „Läufer“ das Geschäftsfeld „Joggingschuhe“ oder für die Kundengruppe der „Skifahrer“ das Geschäftsfeld „Skistiefel“ unter Berücksichtigung der jeweiligen Wettbewerbsbedingungen ableiten. Neben den Marktbedingungen sind auch die Bedingungen des Unternehmens, also die Planungs-, Budgetierungs- oder organisatori- 459 Vergleiche Welge & Al-Laham (2012, S. 477 f). 460 Vergleiche im Überblick Bea & Haas (2013, S. 146 ff). <?page no="345"?> 6.2 Marktwachstum-Marktanteil-Portfolio: BCG-Matrix 345 6 schen Besonderheiten, in den Blick zu nehmen. In Abhängigkeit von den Marktbedingungen und den damit verbundenen strategischen Geschäftsfeldern werden organisatorische Einheiten gebildet, um Zuständigkeiten klar zu regeln und um Ressourcen eindeutig zuteilen zu können. Kurz: Es ist zu bestimmen, welche interne strategische Geschäftseinheit für welches externe strategische Geschäftsfeld zuständig sein soll. Zum Aufbau der BCG-Matrix werden Daten für die Marktattraktivität und für die Wettbewerbsstärke benötigt. Als Indikator für die Marktattraktivität dient das Marktwachstum, das als Zunahme des Umsatzes aller Anbieter in einem Geschäftsfeld operationalisiert wird. Die Trennung zwischen langsam und schnell wachsenden Produkt-Markt-Segmenten wird gezogen, indem man zum Beispiel die durchschnittliche Wachstumsrate einer Branche als Trennlinie definiert, oder indem man das gewichtete arithmetische Mittel der Wachstumsraten aller betrachteten Geschäftsfelder berücksichtigt. In jedem Fall stellen die Werte der vertikalen Achse Prozentwerte dar, wobei die Trennlinie auch beim Wert 0 liegen kann, wenn man unter Rekurs auf das Branchenlebenszykluskonzept davon ausgeht, dass Geschäftsfelder in der Einführungs- oder Wachstumsphase Werte größer 0 und Geschäftsfelder am Ende der Sättigungs- oder in der Degenerationsphase Werte kleiner 0 annehmen. Als Indikator für die Wettbewerbsstärke dient der relative Marktanteil, der auf der horizontalen Achse abgetragen wird und sich aus dem Verhältnis des eigenen Marktanteils und des Marktanteils des stärksten Wettbewerbers ergibt. Werte von 1 bedeuten, dass der eigene Marktanteil und der des stärksten Konkurrenten identisch sind, während Werte kleiner 1 deutlich machen, dass man weniger Umsätze erwirtschaftet hat als der größte Wettbewerber. Für gewöhnlich wird die Trennlinie bei 1,5 gezogen, da die Erkenntnisse der Boston Consulting Group darauf hindeuten, dass der eigene Marktanteil mindestens 50 Prozent über jenem des stärksten Konkurrenten liegen sollte, damit dauerhaft positive Cashflows erwirtschaftet werden. In einem nächsten Schritt werden die einzelnen Geschäftsfelder unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Kriterien in die Matrix eingetragen. Zum Teil ist dies exakt möglich, sofern eindeutige Werte für die vertikale und die horizontale Achse vorliegen. Ist dies nicht der Fall, werden die Geschäftsfelder nur einem Bereich und nicht einer exakten, aus zwei Koordinaten bestehenden Position zugeordnet. Im letzten Schritt wird die Matrix unter Hinweis auf Implikationen für die weitere Strategiearbeit beschrieben und mögliche Normstrategien abgeleitet. Das heißt, es wird ausgehend von dem Ist-Portfolio ein Ziel-Portfolio festgelegt, das mit konkreten Aktivitäten, Sollwerten und Kennzahlen verknüpft wird. Weiterführende Hinweise Portfolioanalysen erfreuen sich in der unternehmerischen Praxis großer Beliebtheit, da sie einfach zu erstellen sind und komplexe Sachverhalte verständlich illustrieren. Die Einfachheit der Anwendung und Auswertung sollte jedoch nicht zum Anlass genommen werden, mit den Ergebnissen dieser betriebswirtschaftlichen Methode unkritisch umzugehen. Insbesondere die Normstrategien sollten nicht als in jedem Fall verbindliche Umsetzungsregeln missverstanden, sondern als „Handlungsanregun- <?page no="346"?> 346 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle gen“ 461 interpretiert werden. Das heißt, es ist im Einzelfall zu prüfen, welche Wechselwirkungen zwischen den Geschäftsfeldern existieren. So können zum Beispiel Poor Dogs für das Image eines Unternehmens oder für die Markenkommunikation durchaus eine wichtige Rolle spielen, auch wenn sie sich auf schrumpfenden Märkten und mit negativen Cashflows bewegen. In diesen Fällen wäre eine Desinvestitionsstrategie zumindest zu überdenken, indem die Kosten des Verbleibs im Portfolio möglichen Nutzenaspekten systematisch gegenübergestellt werden, um weitreichende unternehmerische Entscheidungen nicht von der Einteilung in vier Felder und von damit assoziierten Normaktivitäten abhängig zu machen. 461 Müller-Stewens & Lechner (2011, S. 289). <?page no="347"?> 6.3 Marktattraktivität-Wettbewerbsstärke-Portfolio: McKinsey-Matrix Problemstellung: Beschreibung und Bewertung der strategischen Situation eines Unternehmens und Ableitung entsprechender Normstrategien zur finanziellen Ausbalancierung des Gesamtportfolios Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichsleiter, Controller, Marktforscher, Produktprogrammplaner, Portfoliomanager Voraussetzungen: Vorliegen einer Liste differenzierter Geschäftsfelder und Zugriff auf Daten zur mehrdimensionalen Bestimmung der Marktattraktivität und der Wettbewerbsstärke eines Unternehmens Zielsetzung der McKinsey-Matrix Der in Kapitel 6.2 erläuterte Portfolioansatz der Boston Consulting Group klassifiziert Produktgruppen beziehungsweise Geschäftsbereiche eines Unternehmens anhand von zwei Faktoren: dem Marktwachstum und dem relativen Marktanteil. Dieser in den 1960er-Jahren entwickelte Ansatz erschien vielen multidivisional organisierten Unternehmen attraktiv. Auch der US-amerikanische Mischkonzern General Electric spielte im Verlauf der 1970er-Jahre mit dem Gedanken, die strategische Planung und Umsetzung auf der Basis entsprechender Methoden zu gestalten. Allerdings war das General Electric-Management der Überzeugung, dass zum Aufbau einer Portfoliomatrix nicht nur zwei, sondern mehrere Indikatoren herangezogen werden sollten, um sowohl Umweltals auch Unternehmensbedingungen in ihrer Komplexität und Interdependenz zu erfassen und Geschäftsfelder adäquat zu positionieren. Ein erweitertes Portfoliokonzept sollte im Auftrag von General Electric die 1926 in Chicago gegründete Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey entwickeln. Der für die strategische Unternehmensführung neu konzipierte Ansatz wurde in der Folge als Marktattraktivität-Wettbewerbsstärke-Portfolio beziehungsweise als McKinsey-Matrix bekannt. Ziel dieser betriebswirtschaftlichen Methode ist es, Umwelt- und Unternehmensanalyse zu verbinden, um zu ermitteln, mit welchen Produkt-Markt-Kombinationen strategische Erfolge erzielt werden können. Im Gegensatz zum BCG-Portfolio entwickelte McKinsey eine Neun-Felder-Matrix und berücksichtigte als Zielgröße nicht den Cashflow, sondern den Return on Investment, der sich als Quotient aus Gewinn und Gesamtkapital ergibt und häufig mit RoI abgekürzt wird. 462 Beschreibung der McKinsey-Matrix Die von McKinsey in die Diskussion gebrachte Methode zielt wie andere Portfoliokonzepte darauf ab, Antworten auf folgende Fragen zu geben: Ist das Gesamtportfolio eines Unternehmens ausgewogen? Welche Strategien sollen für einzelne Geschäftsfelder verfolgt und welche Zielwerte sollen erreicht werden? Und: Wie und in wel- 462 Vergleiche Grant & Nippa (2006, S. 599 ff). 6 6.3 Marktattraktivität-Wettbewerbsstärke-Portfolio: McKinsey-Matrix 347 <?page no="348"?> 348 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle chem Umfang sollen Ressourcen auf die jeweiligen Geschäftsfelder verteilt werden, um größtmögliche Unternehmensgewinne zu erwirtschaften? Zur Beantwortung dieser Fragen werden externe und interne Faktoren berücksichtigt und zu zwei Dimensionen aggregiert: dem Umweltindikator Marktattraktivität und dem Unternehmensindikator Wettbewerbsstärke. Die Attraktivität eines Marktes wird gemessen, indem marktpotenzialbezogene Variablen sowie Informationen der PEST- und Five-Forces- Analyse herangezogen werden, die im Mittelpunkt der Kapitel 5.1 und 5.2 stehen. Das heißt, im Unterschied zur BCG-Matrix wird die Umweltachse nicht auf der Basis nur einer Variablen, sondern unter Berücksichtigung von Kriterien wie Marktvolumen, Marktwachstum und Branchenkräften sowie politischen, ökonomischen oder technologischen Umfeldbedingungen gebildet. Dabei werden die einzelnen Faktoren der Marktattraktivität bewertet und mit Blick auf ihre Bedeutung gewichtet. Die Wettbewerbsstärke wird operationalisiert, indem unmittelbar beeinflussbare Kriterien wie das Forschungs-, Beschaffungs-, Produktions- oder Vertriebspotenzial sowie die organisatorische oder personalwirtschaftliche Situation eines Unternehmens untersucht werden. Auch die internen Stärken und Schwächen werden mit Hilfe von Skalen gemessen und mit Gewichtungsfaktoren versehen, um einen Gesamtwert für jedes einzelne Geschäftsfeld zu erhalten, der zur Positionierung in der Neun-Felder-Matrix dient. 463 Abbildung 135: McKinsey-Matrix Beide Achsen der in Abbildung 135 dargestellten McKinsey-Matrix beziehen sich auf die wesentlichen Quellen der Rentabilität, die über das oben beschriebene Vorgehen 463 Vergleiche Fink (2004c, S. 54 ff). <?page no="349"?> 6.3 Marktattraktivität-Wettbewerbsstärke-Portfolio: McKinsey-Matrix 349 6 ganzheitlich erfasst werden können. Dabei werden die Marktattraktivität und die Wettbewerbsstärke jeweils in drei Bereiche - „gering“, „mittel“ und „hoch“ - eingeteilt. Auf diese Weise entsteht ein differenzierteres Bild als bei der BCG-Matrix, da sich nicht nur vier mehr oder weniger klar interpretierbare Pole, sondern auch Mittelbereiche ergeben, die ein selektives Vorgehen erfordern. Die einzelnen Geschäftsfelder werden anhand der ermittelten Werte in die Matrix eingeordnet und in Abhängigkeit von ihrer Lage mit Normstrategien verknüpft: Geschäftsfelder, die in der Matrix oben rechts eingestuft sind, weisen ein gutes Return on Investment-Potenzial auf und sollten daher im Sinne einer Wachstumsbeziehungsweise Investitionsstrategie ausgebaut werden. Im Bereich unten links in der Matrix befinden sich Geschäftsfelder, die sowohl hinsichtlich der Marktattraktivität als auch mit Blick auf die Wettbewerbsstärke geringe Werte erzielen. Investitionen sollten daher vermieden und eine Abschöpfungsbeziehungsweise Desinvestitionsstrategie verfolgt werden. Geschäftsfelder, die im mittleren Wertebereich liegen, sind weder auszubauen, noch zu ernten. Vielmehr sollte man sie zunächst im Portfolio halten und beobachten, wie sie sich im Zeitablauf entwickeln. Sollte sich ein positiver Trend abzeichnen, wäre eine Offensivstrategie zu implementieren. Im umgekehrten Fall würde man eine Defensivstrategie präferieren. 464 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die McKinsey-Matrix wird in einem mehrstufigen Verfahren entwickelt, in dessen Mittelpunkt zwei gewichtete Kriterienkataloge mit wechselseitigen Abhängigkeiten stehen. Folgende Schritte sind bei der Anwendung zu berücksichtigen: 465 Abgrenzung strategischer Geschäftsfelder, Bestimmung der Marktattraktivität und der Wettbewerbsstärke, Positionierung der strategischen Geschäftsfelder in der McKinsey-Matrix, Beschreibung der McKinsey-Matrix und Ableitung von Normstrategien. Die meisten Großunternehmen sind so organisiert, dass der gesamte Tätigkeitsbereich in Produktgruppen oder Geschäftseinheiten gegliedert ist, die auf unterschiedliche Märkte ausgerichtet sind. Damit erfüllen diese Unternehmen die Grundvoraussetzung zur Anwendung der McKinsey-Matrix. Ist dies nicht der Fall, müssen in einem ersten Schritt strategische Geschäftseinheiten gebildet und strategische Geschäftsfelder eindeutig abgegrenzt werden. Um Redundanzen zu vermeiden, sei an dieser Stelle auf die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 6.2 zur BCG-Matrix verwiesen. Dort finden sich Hinweise, wie man strategische Geschäftseinheiten und Geschäftsfelder definieren und abgrenzen kann. Die Bestimmung der Marktattraktivität beginnt mit der Auswahl geeigneter Indikatoren, die in folgende Gruppen eingeteilt werden können: Marktpotenzial, Branchenstruktur und Umfeldbedingungen. Das Marktpotenzial bezeichnet die theoretisch möglichen Absatzmengen in einem definierten Markt, während das Marktvolumen die tat- 464 Vergleiche Bea & Haas (2013, S. 156 ff). 465 Vergleiche im Überblick Bea & Haas (2013, S. 156 ff) und Fink (2009, S. 212 ff). <?page no="350"?> 350 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle sächlich realisierten Absätze oder Umsätze in einem festgelegten Zeitraum darstellt. Bildet man den Quotient aus Marktvolumen und Marktpotenzial, erhält man den Sättigungsgrad, der Auskunft darüber gibt, welche Wachstumsmöglichkeiten in einem Markt oder Geschäftsfeld aktuell existieren. Um die zukünftigen Expansionschancen zu bestimmen, sollte als weiterer Indikator das Marktwachstum berücksichtigt werden, das Aussagen über die Position im Lebenszyklus und damit über die Attraktivität eines Marktes gestattet. Märkte, die sich in der Einführungs- oder Wachstumsphase befinden, weisen typischerweise höhere Wachstumsraten auf als Märkte in der Sättigungs- oder Degenerationsphase. Erstere sind attraktiver und somit positiver zu bewerten. Abbildung 136: Bestimmung der Marktattraktivität 466 Die zweite Indikatorengruppe nimmt die Renditechancen einer Branche in den Blick. In Anlehnung an den von Porter entwickelten und in Kapitel 5.2 vorgestellten Five- Forces-Ansatz werden Lieferanten, Kunden, neue Wettbewerber, alternative Produkte und der Konkurrenzdruck unter den vorhanden Wettbewerbern untersucht. Die Attraktivität eines Marktes wird schließlich auch von allgemeinen Umfeldbedingungen - so genannten Makrofaktoren - beeinflusst, die sich in ökonomische, politische, rechtliche, technologische und soziokulturelle Aspekte kategorisieren lassen. So können beispielsweise hohe Arbeitslosenquoten, staatliche Eingriffe und Gesetze, mangelhafte Infrastrukturbedingungen oder gesamtgesellschaftliche Trends wie der demografische Wandel die Rentabilitätschancen in einzelnen Geschäftsfeldern nachhaltig beeinträchtigen. Die Indikatoren der drei genannten Gruppen werden nach ihrer Auswahl und Definition gewichtet, wobei die Gewichtungsfaktoren den relativen Beitrag der Kriterien zur 466 Modifiziert nach Fink (2009, S. 214). <?page no="351"?> 6.3 Marktattraktivität-Wettbewerbsstärke-Portfolio: McKinsey-Matrix 351 6 Gesamtattraktivität zum Ausdruck bringen und in Summe 1 beziehungsweise 100 Prozent ergeben müssen. Daran anknüpfend wird für alle Indikatoren eine einheitliche Ratingskala erstellt und zur Bewertung verwendet, die beispielsweise von „0 = sehr geringe Attraktivität“ bis „10 = sehr hohe Attraktivität“ reicht. Abschließend berechnet man wie in Abbildung 136 dargestellt einen Gesamtwert für jedes Geschäftsfeld, der sich aus der Summation der einzelnen, mit den Gewichtungsfaktoren multiplizierten Indikatorenbewertungen ergibt. Der solcherart bestimmte Wert spiegelt die Gesamtattraktivität eines Geschäftsfeldes wider und dient zur Positionierung in die Matrixkategorien „gering“, „mittel“ und „hoch“. Die Bestimmung der Wettbewerbsstärke erfolgt unter Berücksichtigung interner Stärken und Schwächen eines Unternehmens, die man entweder als Erfolgs- oder als Misserfolgspotenziale interpretieren kann. Inwiefern aus einem Erfolgspotenzial ein Wettbewerbsvorteil wird, hängt davon ab, ob die entsprechende Stärke vom Kunden wahrgenommen und von diesem als bedeutsam eingestuft wird und zur möglichst dauerhaften Überlegenheit gegenüber Konkurrenten beiträgt. Anders formuliert: Kunden bestimmen, ob Unternehmen Wettbewerbsvorteile haben, die im McKinsey-Portfolio als Indikatoren der Wettbewerbsstärke dienen. Vorteile können sich prinzipiell entlang der gesamten Wertschöpfungskette ergeben: im Forschungs- und Entwicklungsbereich, in der Beschaffung, Produktion und Distribution oder aufgrund der finanziellen, personellen und technischen Situation eines Unternehmens. Abbildung 137: Bestimmung der Wettbewerbsstärke 467 Die entsprechenden Wertkettenkriterien werden analog zur Beurteilung der Marktattraktivität ausgewählt, gewichtet und auf einer Skala von „0 = sehr schwach“ bis „5 = sehr stark“ sowohl für das eigene Unternehmen als auch für den stärksten Konkurrenten - die so genannte Benchmark - bewertet. Auf der Basis dieser Daten kann man die relative Wettbewerbsposition ermitteln, indem man die Bewertungen des eigenen Unternehmens mit den Bewertungen der Benchmark vergleicht beziehungsweise diese voneinander subtrahiert. So ergibt sich in Abbildung 137 zum Beispiel eine rela- 467 Modifiziert nach Fink (2009, S. 216). <?page no="352"?> 352 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle tive Wettbewerbsposition für den Faktor Beschaffung von -3, den man auf einer von -5 bis +5 reichenden Skala als schwach und somit als Wettbewerbsnachteil einstufen würde. Abschließend berechnet man einen Gesamtwert für die Wettbewerbsstärke, der sich aus der Summation der einzelnen, mit den Gewichtungsfaktoren multiplizierten Wettbewerbspositionswerte ergibt. Im nächsten Schritt werden die strategischen Geschäftsfelder unter Berücksichtigung der berechneten Gesamtwerte für die Marktattraktivität und die relative Wettbewerbsstärke in die McKinsey-Matrix eingetragen und beschrieben. Je nach eingenommener Position in der in Abbildung 135 dargestellten Matrix, kann man in einem letzten Schritt für jedes Geschäftsfeld die bereits erwähnten Normstrategien der Investition, Selektion oder Abschöpfung ableiten und entsprechende Maßnahmen initiieren, die mit geeigneten Kennzahlen hinterlegt werden sollten. Weiterführende Hinweise Das McKinsey-Portfolio ist eine fundierte, aber auch eine komplexe betriebswirtschaftliche Methode. Die Fundierung besteht vor allem in der Kombination unterschiedlicher theoretischer Ansätze und der mehrdimensionalen Bestimmung von Marktattraktivität und Wettbewerbsstärke. Die Komplexität ergibt sich insbesondere durch die Berücksichtigung einer Vielzahl von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, die sich allerdings von Geschäftsfeld zu Geschäftsfeld unterscheiden können. Insofern ist es kaum möglich, auf standardisierte oder universell gültige Kriterienlisten zurückzugreifen und diese im Unternehmensverbund mehrfach zu verwenden. Vielmehr muss man in Abhängigkeit der betrachteten Geschäftsfelder die jeweils relevanten Indikatoren immer wieder neu identifizieren, auswählen, messen und gewichten. Dieses Vorgehen ist nicht nur aufwändig, sondern impliziert auch eine gewisse Scheinobjektivität. Denn sowohl die Kriterienwahl als auch die Ermittlung der Werte und Gewichtungsfaktoren spiegeln vielfach eher die Vorstellungen der am Prozess beteiligten Manager wider, als die tatsächlichen Verhältnisse im betrachteten Markt. Ist man sich dieser Schwächen bewusst und nutzt man im Rahmen der Strategiearbeit nicht nur die McKinsey-Matrix, sondern ergänzende Methoden, dann dürfte man in der Lage sein, die Positionierung von Geschäftsfeldern und die Priorisierung von Investitionen verlässlich zu gestalten. <?page no="353"?> 6.4 Wachstumsstrategien: Ansoff-Matrix 353 6 6.4 Wachstumsstrategien: Ansoff-Matrix Problemstellung: Analyse, Planung und Umsetzung von Wachstumsmöglichkeiten auf der Basis von vier generischen Produkt-Markt-Kombinationen Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichsleiter, Marktforscher, Business Development Manager Voraussetzungen: Beschaffung detaillierter Markt-, Wettbewerbs-, Kunden- und Potenzialinformationen und klare Abgrenzung der zu analysierenden Produkt-Markt-Felder Zielsetzung der Wachstumsstrategien Strategien werden in Unternehmen auf unterschiedlichen organisatorischen Ebenen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen entwickelt: Strategien auf Unternehmensebene beantworten die Frage, welche Branchen gewählt und mit welcher Stoßrichtung sie bearbeitet werden sollen. Strategien auf Geschäftsbereichsebene rücken mit Blick auf die jeweils in Betracht kommenden Branchen die Identifizierung und Realisierung von Wettbewerbsvorteilen in den Mittelpunkt. Strategien auf Funktionsbereichsebene enthalten schließlich Aussagen darüber, wie Beschaffung, Produktion, Marketing oder Vertrieb die Umsetzung der Unternehmens- und Geschäftsbereichsstrategien unterstützen können. Diese Strategiekaskade von der Unternehmensspitze, über Geschäftsbereiche bis hinunter zu den einzelnen funktionalen Bereichen bildet das Herzstück des strategischen Managements. Sie beginnt in der Regel mit der Branchenwahl und der Entscheidung, ob das Unternehmen auf Wachstum, Stabilisierung oder Desinvestition ausgerichtet werden soll. In Abhängigkeit von der gewählten Unternehmensstrategie können Geschäftsfelder definiert und Ressourcen allokiert werden. Befindet sich ein Unternehmen auf Märkten mit abnehmender Attraktivität und geringen Wettbewerbsvorteilen, empfiehlt sich eine Desinvestitionsstrategie in Form eines stufenweisen Rückzugs beziehungsweise einer Liquidation. Ziel kann es aber auch sein, die aktuelle Position durch eine Stabilisierungsstrategie zu halten und zu sichern, um Risiken zu vermeiden und Märkte zu beobachten. Bieten sich beispielsweise Möglichkeiten für eine Offensive, sollte das Unternehmen auf Wachstum ausgerichtet werden, um Absätze, Umsätze oder Marktanteile zu steigern. Vor dem Hintergrund von Chancen und Risiken sind geeignete Produkt-Markt-Kombinationen festzulegen. Dabei kann man auf den klassischen Ansatz von Ansoff zurückgreifen, der ein Schema entwickelt hat, das auch als Produkt-Markt- oder Ansoff-Matrix bezeichnet wird. 468 Ziel der Methode ist es, mögliche Wachstumsalternativen aufzuzeigen, die in der Marktdurchdringung, Marktentwicklung, Produktentwicklung oder Diversifikation bestehen. Welche strategische Option im Einzelfall gewählt wird, hängt nicht zuletzt von den Erfahrungen des Unternehmens mit bestimmten Produkten und Märkten, den 468 Siehe Ansoff (1988). <?page no="354"?> 354 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Anpassungsmöglichkeiten der internen Wertschöpfung sowie den Wettbewerbsbedingungen in der jeweiligen Branche ab. 469 Beschreibung der Wachstumsstrategien Die Ansoff-Matrix ist ein Werkzeug zur Planung von Wachstumsstrategien, die mittels einer Produkt- und einer Marktachse differenziert werden. Wie in Abbildung 138 dargestellt, ergeben sich aus der Betrachtung von aktuellen und neuen Produkten einerseits und aktuellen und neuen Märkten andererseits vier strategische Optionen und damit verknüpfte Handlungsempfehlungen: 470 Abbildung 138: Ansoff-Matrix 471 Bei der Strategie der Marktdurchdringung erfolgt das Wachstum mit bestehenden Produkten auf bisherigen Märkten, indem Absatzmengen beziehungsweise Marktanteile erhöht werden. Hierzu sind Maßnahmen erforderlich, die darauf abzielen, die Nutzung eines Produktes bei bestehenden Kunden zu intensivieren und Neukunden anzusprechen. Durch Produktverbesserungen, die Einführung von Zusatzangeboten oder geänderte Verpackungsgrößen im Sinne eines „10 Prozent mehr zum gleichen Preis“ können Märkte intensiver bearbeitet und bestehende Kundenpotenziale ausgeschöpft werden. Zudem eignen sich Preissenkungen und Preisdifferenzierungen, um Neukunden zu akquirieren beziehungsweise abzuwerben. Im hart umkämpften Telekommunikationsmarkt können zum Beispiel Sonderangebote für Telefon-Internet-TV-Pakete unterbreitet oder attraktive Flatrates für die so genannten „Digital Natives“ 472 eingeführt werden - also für jene Personen, die mit Internet, iPod & Co. aufgewachsen sind und als intensive Mediennutzer gelten. Marktdurchdringung umfasst schließlich auch produkt-, preis-, vertriebs- oder kommunikationspolitische Maßnahmen, die auf bisherige Nichtnutzer gerichtet sind und diese zum Kauf animieren sollen. Wachstum kann auch durch Marktentwicklung erzielt werden, indem man mit bestehenden Produkten neue Märkte erschließt, auf denen lukrative Absatzchancen existieren. Hierbei gilt es, kulturelle Besonderheiten und landestypische Anforderungen sowie Wünsche und Vorstellungen der potenziellen Zielgruppen zu berücksichtigen. 469 Vergleiche Grant & Nippa (2006, S. 44 ff). 470 Vergleiche im Überblick Bea & Haas (2013, S. 174 ff). 471 Modifiziert nach Ansoff (1988, S. 109). 472 Prensky (2001, S. 1). <?page no="355"?> 6.4 Wachstumsstrategien: Ansoff-Matrix 355 6 Marktentwicklung impliziert jedoch nicht nur die geografische Ausdehnung des Leistungsangebotes im Sinne einer Internationalisierungsstrategie 473 , sondern auch die Bearbeitung neuer Segmente oder Nutzer. So haben sich beispielsweise Hochschulen in den vergangenen Jahren für neue Zielgruppen geöffnet, indem sie Studiengänge für Senioren oder Vorlesungen für Kinder in das Programm genommen haben. Auch in diesen Fällen wäre es wenig erfolgversprechend, traditionelle Produkte oder Dienstleistungen unverändert anzubieten. Vielmehr ist ein gewisses Maß an Produktentwicklung mit Blick auf die jeweiligen Nutzer - hier: Senioren und Kinder - erforderlich, um deren Konsumbedürfnisse zu befriedigen und um diese zu loyalen Kunden zu machen. Von Produktentwicklung im engen Sinne ist die Rede, wenn deutlich modifizierte oder neue Produkte auf bestehenden Märkten angeboten werden. Diese Strategie ist typischerweise riskanter und teurer als die Strategien der Marktdurchdringung und Marktentwicklung, da Unternehmen Innovationen planen, konzipieren, testen und realisieren müssen und sich dabei nicht nur mit Blick auf das Projektmanagement, sondern auch in technologischer Hinsicht recht häufig auf unbekanntes Terrain begeben. Die Entwicklung von der Kassette über die Compact Disc zu MP3-Systemen kann als Beispiel für Produktentwicklungen auf vergleichbaren Märkten und für die Schwierigkeiten von Unternehmen dienen, sich neue Technologien anzueignen und diese erfolgreich zu vermarkten. So war beispielsweise Sony mit dem Walkman einst der Star unter den Anbietern tragbarer Musikabspielgeräte. Eine Position, die heute Apple mit dem iPod und dem iPhone einnimmt. Risiken im Management von Innovationen ergeben sich auch mit Blick auf die Faktoren Qualität, Zeit und Kosten. Die Entwicklung neuer Arzneimittel, Flugzeugtypen oder Elektromotoren ist häufig durch Kostensteigerungen, Qualitäts- und Lieferprobleme oder Fehler im Projektmanagement gekennzeichnet, die das wirtschaftliche Ergebnis eines Unternehmens nachhaltig beeinträchtigen können. Noch schwieriger und komplexer ist die Strategie der Diversifikation, da Unternehmen mit neuen Produkten auf unbekannten Märkten Wachstum anstreben. Dabei kann man eine horizontale, eine vertikale und eine laterale Diversifikation unterscheiden: Von horizontaler Diversifikation ist die Rede, wenn das Leistungsprogramm um Produkte erweitert wird, die sich auf identischer Wertschöpfungsstufe befinden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Automobilhersteller auch Lastkraftwagen oder Motorräder produziert. Vertikale Diversifikation liegt vor, wenn ein Unternehmen Leistungen vor- oder nachgelagerter Fertigungsstufen in das Angebot aufnimmt - also Rückwärts- oder Vorwärtsintegration betreibt. Von Rückwärtsintegration spricht man, wenn ein Automobilhersteller vorgelagerte Wertschöpfungsstufen zum Beispiel durch die Produktion von Autoreifen übernimmt. Bei der Vorwärtsintegration wird der Automobilhersteller demgegenüber nachgelagerte Wirtschaftsstufen wie Finanz- oder Versicherungsdienstleistungen aufnehmen. Die Erweiterung des Produktionsprogramms um artfremde Produkte bezeichnet man schließlich als laterale Diversifikation, mit der - neben dem Streben nach Wachstum - zumeist das Ziel der Risikostreuung verfolgt wird. 473 Internationalisierungsstrategien werden in Kapitel 6.5 ausführlich beschrieben. <?page no="356"?> 356 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle So dehnte die heutige Daimler AG in den 1980er- und 1990er-Jahren das Unternehmensportfolio auf die Bereiche Elektronik, Luftfahrt und Dienstleistungen aus, um einen integrierten Technologiekonzern zu schaffen, mit dessen Hilfe man sich von Nachfrageschwankungen im Automobilbereich unabhängiger und damit krisenfester machen wollte. Die Geschichte zeigt jedoch - ohne Berücksichtigung aller denkbaren Ursachen -, dass diese Strategie im vorliegenden Fall in Summe eher zur Wertvernichtung denn zur Wertschaffung geführt hat. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Ansoff-Matrix liefert als betriebswirtschaftliche Methode konkrete Anhaltspunkte für Wachstumsmöglichkeiten. Dabei ist die Anwendung insofern voraussetzungsreich, als Informationen zu unternehmensinternen Stärken und Schwächen sowie zu unternehmensexternen Chancen und Risiken vorliegen müssen, die in der in Kapitel 6.1 beschriebenen SWOT-Analyse gebündelt werden können. Die Vorgehensweise kann man in folgende vier Phasen gliedern: 474 Analyse der internen und externen Ist-Situation, Beschreibung strategischer Wachstumsoptionen, Auswahl einer geeigneten Wachstumsstrategie, Ableitung konkreter Aktivitäten und Verantwortlichkeiten. Die Erstellung einer Produkt-Markt-Matrix setzt in einem ersten Schritt die detaillierte Analyse des aktuellen Produkt-Markt-Umfeldes voraus. Die Ist-Situation kann bestimmt werden, indem man auf die in den Kapiteln 5.1 bis 5.9 erörterten Methoden zurückgreift, entsprechende Daten zur Unternehmens- und Umweltsituation ermittelt und diese in einer SWOT-Analyse aggregiert. Erst die genaue Kenntnis situativer Faktoren erlaubt es, erfolgversprechende Wachstumsstrategien zu erarbeiten. Insofern sollte man in der unternehmerischen Praxis dieser aufwändigen, aber in vielerlei Hinsicht nutzenstiftenden Phase besondere Beachtung schenken. In einem zweiten Schritt werden die Wachstumsoptionen beschrieben, indem die Ansoff-Matrix mit individuellen Unternehmensdaten gefüllt wird. Das heißt, die vier generischen Wachstumsstrategien der Marktdurchdringung, Marktentwicklung, Produktentwicklung und Diversifikation werden aus Sicht des betrachteten Unternehmens spezifiziert, um in einem dritten und vierten Schritt festlegen zu können, welche strategische Option unter den gegebenen Bedingungen sinnvoll ist und welche Maßnahmen zur Umsetzung erforderlich wären. Zur Auswahl einer geeigneten Wachstumsstrategie kann man Punktbewertungsverfahren beziehungsweise Scoring-Modelle nutzen. Dabei werden die einzelnen Ansoff- Strategien vor dem Hintergrund der analysierten Rahmenbedingungen untersucht. Das heißt, die Stärken und Schwächen eines Unternehmens sowie die Chancen und Risiken werden mit Blick auf ihre jeweilige Bedeutung zunächst gewichtet. Daran anknüpfend werden die vier Ansoff-Strategien anhand der berücksichtigten und gewich- 474 Vergleiche im Überblick Kerth, Asum & Stich (2015, S. 180 ff). <?page no="357"?> 6.4 Wachstumsstrategien: Ansoff-Matrix 357 6 teten Merkmale bewertet und eine Gesamtpunktzahl ermittelt. So würde man zum Beispiel bestimmen, ob die Stärken im Forschungs- und Entwicklungsbereich oder bei der Kundenansprache bei der Marktdurchdringung, Marktentwicklung, Produktentwicklung oder der Diversifikation zielgerichteter eingesetzt werden können. Entsprechend würden sich die jeweiligen Punktwerte je Strategie unterscheiden. Die Summe aller Teilpunktwerte bildet schließlich die Grundlage zur Auswahl einer Wachstumsstrategie, für die im letzten Schritt ein Implementierungsplan entwickelt wird, der in ein übergeordnetes Kontroll- und Steuerungssystem 475 integriert werden sollte. Weiterführende Hinweise Bei der Ansoff-Matrix handelt es sich um eine einfache und pragmatisch anzuwendende betriebswirtschaftliche Methode, mit deren Hilfe Ideen zur Wachstumsgenerierung entwickelt und entsprechende Handlungsoptionen ausgelotet werden können. Obgleich die Ansoff-Matrix ein seit Jahrzehnten bekanntes und recht häufig genutztes Instrument der Strategieplanung und Strategieumsetzung darstellt, sollen die Nachteile nicht unerwähnt bleiben: Die Methode rückt absatzorientierte Wachstumsstrategien in den Mittelpunkt, lässt jedoch unbeantwortet, wie neue Zielmärkte ausgewählt und erschlossen werden können. Auch mit Blick auf die Produktebene versäumt es Ansoff darzulegen, wie man neue Produkte entwickeln und positionieren kann. Unberücksichtigt bleiben unter anderem auch Kunden und Wettbewerber und deren potenzielle Reaktionen auf Strategien wie Marktdurchdringung oder Diversifikation. Das Thema Wachstum wird schließlich sehr einseitig betrachtet, da vor allem eine Umsatzperspektive eingenommen wird. Kostenvorteile durch eine effiziente Wertschöpfung oder entsprechende Beschaffungsstrategien werden nicht thematisiert, obwohl zum Beispiel Global Sourcing ein wichtiger Stellhebel bei der Optimierung der Inputfaktoren und damit der Profitabilität eines Unternehmens ist. Unter Berücksichtigung der Stärken und Schwächen der Produkt-Markt-Matrix kann zusammenfassend festgehalten werden, dass Ansoff generische Leitlinien für Wachstum aufzeigt, diese jedoch mit Hilfe weiterer Methoden detailliert werden müssen, um spezifische Strategien zu entwickeln. 475 Vergleiche zum Beispiel Kapitel 6.7. Ausführliche Hinweise zu den Themen Strategiekontrolle und Strategiekontrollsysteme, die häufig mit dem Begriff Performance-Messung zusammengefasst werden, finden sich bei Müller-Stewens & Lechner (2011, S. 575 ff) und bei Welge & Al-Laham (2012, S. 791 ff). <?page no="358"?> 6.5 Internationalisierungsstrategien Problemstellung: Analyse und Auswahl potenzieller Zielmärkte sowie Planung und Umsetzung von Markteintrittsstrategien und Marktbearbeitungsplänen Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichsleiter, Marketing- und Internationalisierungsverantwortliche, Marktforscher, Business Development Manager Voraussetzungen: Beschaffung von Umwelt- und Unternehmensdaten auf der Basis von Primär- und Sekundäranalysen Zielsetzung der Internationalisierungsstrategien In den letzten Jahrzehnten hat sich das Umfeld von Unternehmen nachhaltig verändert, da eine neue, die nationalen Grenzen überwindende Wirtschaftsordnung entstanden ist. Die Vernetzung der Weltwirtschaft war zugleich Voraussetzung und Folge weiterer Entwicklungen in Politik, Technik und Gesellschaft, die in Summe zu einem neuen Phänomen geführt haben, der so genannten Globalisierung. Die mit diesem Begriff umschriebene internationale Verflechtung und Interdependenz von Märkten, Menschen und Maschinen stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen: So sehen sich nicht zuletzt deutsche Unternehmen vor dem Hintergrund stagnierender Heimatmärkte, eines wachsenden Wettbewerbs- und Kostendrucks und sich stetig verkürzender Innovations- und Produktlebenszyklen gezwungen, neue Wachstumspotenziale auszuloten. Neben der Durchdringung angestammter Märkte und der Beschleunigung von Innovationsprozessen, wird die Nutzung von Wachstumschancen auf internationalen Märkten zu einer strategischen Option. Die mit der Globalisierung einhergehende Liberalisierung schafft dabei die Voraussetzung, dass Unternehmen an den Entwicklungspotenzialen so genannter Emerging Markets partizipieren können. Damit grenzüberschreitende Aktivitäten erfolgreich verlaufen, sind Internationalisierungsstrategien zu entwickeln. Diese setzen sowohl die Kenntnis als auch die adäquate Anwendung einer Vielzahl von Methoden voraus. Insofern ist es das Ziel des hier beschriebenen Ansatzes darzulegen, wie Wachstumsfelder identifiziert, Markteintrittsszenarien verglichen, Markteintrittsstrategien definiert und Marktbearbeitungspläne erstellt werden können. Beschreibung der Internationalisierungsstrategien Grenzüberschreitende Aktivitäten sind - unabhängig von der Zielsetzung - mit Chancen und Risiken verbunden, die einer systematischen Analyse bedürfen, um eine profitable Marktbearbeitung zu gewährleisten. Die Risiken reichen von einer unvollständigen Berücksichtigung politischer, rechtlicher oder kultureller Rahmenbedingungen über ungenügende Kenntnisse der Markt-, Wettbewerbs- und Kundenbedingungen bis zu Fehleinschätzungen der tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten, Kompetenzen 358 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle <?page no="359"?> 6.5 Internationalisierungsstrategien 359 6 und Ressourcen eines Unternehmens. Zudem ergeben sich operationale Herausforderungen bei der Umsetzung der Markteintritts- und Marktbearbeitungsstrategien - zum Beispiel beim Aufbau von Vertriebsorganisationen und Lieferantennetzen oder bei der Integration von Auslandsgesellschaften in die Strukturen und Prozesse des Mutterunternehmens. Diese und weitere Risiken können abgeschwächt werden, indem man zunächst die Beweggründe und die Grundorientierung der Internationalisierung bewusst macht und darauf aufbauend die Stoßrichtung der Internationalisierung adäquat bestimmt. 476 Bei der Ausdehnung wirtschaftlicher Aktivitäten über Ländergrenzen hinweg agieren Unternehmen entweder aktiv oder reaktiv. Das heißt, die Beweggründe der Internationalisierung können zum einen in der aktiven Verfolgung von Umsatz-, Kundengewinnungs- oder Kostenzielen liegen. Zum anderen können sie aber auch nur eine Reaktion auf gesättigte Heimatmärkte oder auf Expansionsbestrebungen von Großkunden sein, denen man in bestimmte Länder folgen muss. Die Ziele der Internationalisierung und deren Umsetzung werden zudem durch die Unternehmenskultur bestimmt, die Perlmutter in seinem EPRG-Modell beschrieben hat. 477 Das Akronym EPRG steht für eine ethnozentrische, polyzentrische, regiozentrische oder geozentrische Grundorientierung. Abbildung 139: EPRG-Modell 478 Wie in Abbildung 139 dargestellt, folgen ethnozentrische Unternehmen dem Grundsatz, dass Führungsstile, Managementtechniken oder Steuerungsinstrumente bei der 476 Vergleiche Nagel (2007a, S. 2 f). 477 Siehe Perlmutter (1969). 478 Modifiziert nach Kutschker & Schmid (2011, S. 296). <?page no="360"?> 360 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Übertragung von der Mutterauf die Tochtergesellschaften nicht angepasst werden müssen. Demgegenüber ist in polyzentrischen Unternehmen die Überzeugung vorherrschend, dass Einstellungen und Verhaltensweisen in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind und somit Managementkonzepte gastlandspezifisch entwickelt werden müssen. Die Besetzung des Managements sollte daher mit heimischen Führungskräften erfolgen. Das regiozentrische Führungskonzept unterstellt die Existenz homogener Ländergruppen, in denen einheitliche Strategien verfolgt werden können, während geozentrische Unternehmen durch die Integration aller Gesellschaften global ausgerichtet sind. Das EPRG-Paradigma geht davon aus, dass die Art und Weise, wie Unternehmen internationalisieren und wie Organisationsstrukturen, Entscheidungsprozesse und Kommunikationswege gestaltet werden, davon abhängen, ob das Management stammland-, gastland-, ländergruppen- oder globalorientiert ist. Insofern bilden die Internationalisierungsmotivation und die Internationalisierungsphilosophie die Grundlage der Entwicklung grenzüberschreitender Strategien. 479 Bevor Internationalisierungsstrategien formuliert und umgesetzt werden können, sind zunächst potenzielle Zielmärkte auszuwählen und im Detail zu untersuchen. Hierbei kann man die in Kapitel 5 beschriebenen Methoden der Unternehmens- und Umweltanalyse heranziehen und die entsprechenden Daten zu internen Stärken und Schwächen und externen Chancen und Risiken für die Bestimmung geeigneter Zielmärkte nutzen. Die Auswahl eines Ländermarktes orientiert sich insbesondere an den Kriterien Attraktivität, Risiko und Eintrittsbarrieren. Das heißt, aus einer Liste von potenziellen Zielregionen werden jene herausgefiltert, die eine möglichst positive Rendite bei gleichzeitig geringen Investitionsrisiken versprechen und die nicht durch rechtliche Restriktionen, wettbewerbsbestimmende Know-how-Vorteile heimischer Unternehmen oder begrenzte Zugänge zu Kapital, Rohstoffen und Arbeitskräften gekennzeichnet sind. Steht der Zielmarkt fest, in den internationalisiert werden soll, ist in einem nächsten Schritt - zum Beispiel auf der Basis einer SWOT-Analyse - die Form des Markteintritts zu bestimmen. In Abhängigkeit von den Kapital- und Managementleistungen, die im Stammland und im Gastland erbracht werden sollen, kann man zwischen folgenden Alternativen der Internationalisierung wählen: Export, Lizenzierung, Franchising, Joint Venture, Auslandsniederlassung, Auslandsproduktion und Tochtergesellschaft. Dabei verändern sich der Grad der Kapital- und Managementleistungen und das Risiko der Internationalisierung wie folgt: Beim risikoarmen Export werden nahezu alle Kapital- und Managementleistungen im Stammland erbracht. Diese Leistungen nehmen von der Lizenzvergabe bis zur Auslandsproduktion im Gastland graduell zu und liegen bei der Markteintrittsform der Tochtergesellschaft bei 100 Prozent. Mit der Zunahme der Kapital- und Managementleistungen im Zielmarkt steigen auch die Risiken, gegen die sich Unternehmen mit Hilfe geeigneter Maßnahmen absichern müssen. 479 Vergleiche Perlitz & Schrank (2013, S. 81 ff). <?page no="361"?> 6.5 Internationalisierungsstrategien 361 6 Neben Aussagen zu Zielmärkten, Markteintrittsformen und damit verbundenen Chancen und Risiken sollten Internationalisierungsstrategien auch Hinweise zur zeitlichen Gestaltung grenzüberschreitender Aktivitäten umfassen. Insofern müssen Unternehmen auch festlegen, ob sie als Pionier oder als Nachzügler in verschiedene Märkte eintreten und diese nacheinander oder gleichzeitig bearbeiten wollen. Entsprechend sind First-Mover- oder Followerbeziehungsweise Wasserfall- oder Sprinklerstrategien zu entwickeln. Bestandteil von Internationalisierungsstrategien sind schließlich auch Überlegungen, wie das über verschiedene Länder und Kontinente verteilte Geflecht von Gesellschaften und Beteiligungen koordiniert, gesteuert und überwacht werden kann. Internationalisierungsstrategien bestehen somit aus Zielmarkt-, Markteintritts-, Timing- und Koordinationsstrategien. 480 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Unternehmen internationalisieren in der Regel schrittweise - insbesondere, wenn die Internationalisierungsbemühungen absatzorientiert sind. Wesentliche Voraussetzungen, um auf internationalen Märkten lukrative Wachstumssegmente zu identifizieren und die Marktbearbeitung darauf auszurichten, sind methodische Kenntnisse, personelle Ressourcen und valide Marktdaten. Das in Abbildung 140 skizzierte integrative Internationalisierungsmodell stellt einen ganzheitlichen Ansatz dar, der den komplexen Prozess der Internationalisierung in vier Phasen gliedert, die durch unterschiedliche Fragestellungen und Herausforderungen gekennzeichnet sind: 481 Auswahl und Bewertung potenzieller Zielmärkte, Analyse des Eintritts in definierte Zielmärkte, Entwicklung von Markteintrittsstrategien, Erstellung eines Businessplans. Ausgehend von den unternehmensspezifischen Zielsetzungen werden in einem ersten Schritt internationale Wachstumsfelder identifiziert, bewertet und priorisiert, indem man auf der Basis einer globalen Umweltanalyse zunächst die wesentlichen politischen, rechtlichen, ökonomischen, soziokulturellen und technologischen Faktoren in den Blick nimmt. Diese so genannten PEST-Faktoren werden für alle potenziellen Zielmärkte der Long List ermittelt und mit Gewichtungsfaktoren versehen, welche die relative Bedeutung der Kriterien für die Marktattraktivität zum Ausdruck bringen. Für die in Betracht gezogenen Regionen, Länder oder Segmente werden anhand der ausgewählten und gewichteten Merkmale Bewertungen vorgenommen und ein Gesamtscore gebildet. Dieser Gesamtscore - also die Summe der gewichteten Punkte pro Region, Land oder Segment - spiegelt die allgemeine Markteintrittsattraktivität wider und ermöglicht es, aus der Vielzahl potenzieller Wachstumsfelder jene herauszufiltern, die tatsächlich interessant sind und detaillierter untersucht werden sollen. 480 Zu den Entscheidungsfeldern der Internationalisierung und zu entsprechenden Fallstudien und Fallbeispielen vergleiche im Überblick Schmid (2013b, S. 10 ff und 2013a). 481 Vergleiche im Überblick Nagel (2007a). <?page no="362"?> 362 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Abbildung 140: Ein integratives Internationalisierungsmodell Im zweiten Schritt wird für die Zielmärkte der Short List eine spezifische Umweltanalyse durchgeführt. Das heißt, die so genannte Aufgabenumwelt eines Unternehmens - wie Lieferanten, Kunden oder Wettbewerber - wird in Kombination mit den internen Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen betrachtet, um bestimmen zu können, welcher Markt das größte Potenzial verspricht. Methodisch werden in dieser Phase bewährte Instrumente wie die Branchenstruktur- und Wettbewerbsvorteilsanalyse oder das 7S- und Erfahrungskurvenmodell genutzt und deren Ergebnisse in einer SWOT-Analyse gebündelt, um strategische Optionen abzuleiten. Dieses Vorgehen erlaubt es, die Makro- und Mikrobedingungen und die damit verbundenen Marktrisiken zuverlässig zu beurteilen, eine finale Zielmarktauswahl zu treffen und den richtigen Weg für den entsprechenden Markteintritt zu wählen. Im Mittelpunkt der dritten Phase stehen die Planung und Umsetzung der Markteintrittsstrategie, die - in Anlehnung an das „genetische Modell der Internationalisierung“ 482 - verschiedene Formen annehmen kann. Je nachdem, ob als Markteintrittsform Export, Lizenzierung, Franchising, ein Joint Venture oder eine Tochtergesellschaft gewählt wird, unterscheidet sich der Anteil der im Inland beziehungsweise Ausland erbrachten Kapital- und Managementleistungen sowie das damit verbundene Risiko. Parallel zu der gewählten Strategie sind auch die unternehmerischen Strukturen, Prozesse und Organisationsformen im Stamm- und im Gastland aufeinander abzustimmen und ein Businessplan zu erstellen, der im Mittelpunkt der letzten Phase steht. Das integrative Internationalisierungsmodell nutzt bewährte betriebswirtschaftliche Methoden, um bei grenzüberschreitenden Aktivitäten das Risiko eines Fehlschlages zu minimieren. Dazu trägt auch der letzte Schritt bei, indem ein Businessplan für die gewählte Markteintrittsform entwickelt wird. Dieser enthält alle relevanten Markt-, 482 Gelbrich & Müller (2011, S. 495). <?page no="363"?> 6.5 Internationalisierungsstrategien 363 6 Kunden- und Wettbewerbsinformationen, die gewählte Marketing- und Vertriebsstrategie, die Finanz- und Investitionsplanung sowie weitere Angaben zu Standorten, Rechtsformen oder Kooperationspartnern. Für zahlreiche Unternehmen ist vor allem der Aufbau neuer oder die Verlagerung bestehender Produktionsstandorte ein relevantes Thema. Treiber dieser Entwicklung sind sowohl der Wunsch nach Erschließung neuer Absatzmärkte als auch das Streben nach Kosteneinsparungen. Von großer Bedeutung ist es daher, nicht nur einen geeigneten Zielmarkt, sondern innerhalb des jeweiligen Zielmarktes auch den optimalen Standort zu finden. Im Businessplan werden insofern auch Aspekte wie die Verfügbarkeit und Kosten von Grundstücken, die Logistikinfrastruktur, das Arbeitskräftepotenzial, die Wohnsituation von Expatriates oder die Höhe der operativen Kosten berücksichtigt. Denn die Erfahrung zeigt, dass umfassende Analysen notwendig sind, um einen reibungslosen und erfolgreichen Auswahlprozess für expansive Unternehmen zu gewährleisten. Weiterführende Hinweise Die Identifikation von attraktiven Wachstumsfeldern stellt eine wesentliche Voraussetzung für Unternehmen dar, um Umsatzziele zu erreichen oder globale Strategien umzusetzen. Hat man potenzielle Zielmärkte identifiziert, müssen diese noch priorisiert und im Detail analysiert werden. Die Identifikation, Auswahl und Analyse setzen die Kenntnis einer Vielzahl von betriebswirtschaftlichen Methoden voraus, um erfolgversprechende Internationalisierungsstrategien entwickeln und implementieren zu können. Methodisches Know-how ist allerdings nur eine Bedingung, um grenzüberschreitend erfolgreich zu sein. Erforderlich sind zudem Offenheit, Respekt und Verständnis für kulturelle Unterschiede, deren adäquate Berücksichtigung sich recht häufig als Schlüssel zu einem neuen Markt erweist. 483 483 Zur Bedeutung des Faktors Kultur und einer entsprechend adäquaten interkulturellen Kommunikation vergleiche Heringer (2017), Müller & Gelbrich (2014) oder Ternès & Towers (2017). <?page no="364"?> 6.6 Gewinnschwellenanalyse Problemstellung: Planung profitabler Investitionen und Bestimmung gewinnorientierter Absatzmengen und Preise Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichsleiter, Controller, Produktprogrammplaner, Produktmanager, Projektleiter Voraussetzungen: Zugang zu quantifizierbaren Kosten- und Erlösverläufen und Informationen zu vorhandenen Produktionskapazitäten Zielsetzung der Gewinnschwellenanalyse Zur Erreichung unternehmerischer Ziele ist es erforderlich, Investitionen optimal zu planen. Das heißt, potenzielle Ein- und Auszahlungen beziehungsweise Erlöse und Kosten sind vor der Umsetzung von Wachstums-, Internationalisierungs- oder Produktstrategien klar zu beziffern, um den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem Gewinn erwirtschaftet wird. Ziel der auch als Break-even-Analyse bezeichneten Methode ist die Ermittlung der Gewinnschwelle eines Unternehmens oder einzelner Produkte. An dieser Schwelle sind Kosten und Erlöse gleich hoch, während oberhalb des Breakeven-Punktes Gewinne und unterhalb Verluste erwirtschaftet werden. Hat man den in Abbildung 141 dargestellten Verlauf bestimmt, kann man entscheiden, ob sich eine Investition lohnt oder nicht. Entwickelt ein Unternehmen beispielsweise neue Produkte, kann mit Hilfe der Gewinnschwellenanalyse eine Auswahl getroffen und der Abbildung 141: Gewinnschwellenanalyse 484 484 Modifiziert nach Vahs & Schäfer-Kunz (2015, S. 489). 364 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle <?page no="365"?> 6.6 Gewinnschwellenanalyse 365 6 Erfolg einzelner Produkte vorhergesagt werden. Voraussetzung ist indes, dass die Kosten- und Erlösverläufe quantifizierbar sind. 485 Beschreibung der Gewinnschwellenanalyse Die Gewinnschwellenanalyse ist eine seit langem bekannte und bewährte betriebswirtschaftliche Methode. Sie kommt immer dann zum Einsatz, wenn beantwortet werden soll, ob und ab wann sich Ausgaben lohnen. Typische Anwendungsfelder sind der Vergleich von Investitionsprojekten oder die gewinnorientierte Preisfindung. Im ersten Fall liefert die Analyse eine Antwort auf die Frage, bei welchen Mengen die Gewinne von verschiedenen Investitionen gleich groß sind. Im zweiten Fall wird zum Beispiel für ein neues Produkt der optimale Markteinführungspreis aus dem gewünschten Gewinnziel abgeleitet. Hierzu müssen neben dem Gewinnziel der Verlauf der Gesamtkosten und die maximalen Produktionskapazitäten des Unternehmens bekannt sein. Liegen diese Informationen vor, bietet die Gewinnschwellenanalyse die Möglichkeit, die Zusammenhänge zwischen Gewinnzielen, Produktionsmengen, Preisen und Kosten aufzudecken. Somit kann man unter anderem folgende Fragen beantworten: Welcher Preis ist bei einer prognostizierten Absatzmenge X optimal? Welche Preisspielräume können zur Marktpositionierung genutzt werden? Oder: Ab welcher minimalen Absatzmenge tritt bei gegebenen Bedingungen ein Verlust ein? Der große Nachteil der gewinnorientierten Preisbestimmung mit Hilfe der Gewinnschwellenanalyse besteht darin, dass Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zirkulär betrachtet werden. Das heißt, der Preis wird auf der Grundlage einer geplanten Absatzmenge festgelegt, obwohl man weiß, dass die Absatzmengen der meisten Produkte vom Preis abhängen. Unberücksichtigt bleiben die Kunden mit ihren Präferenzen und Nutzenerwartungen. Aus dem Preismanagement ist bekannt, dass man den Wert bei der Preisfestlegung berücksichtigen sollte, den Kunden einzelnen Produkten oder Marken zuschreiben. Erfolgt die Orientierung ausschließlich an den oben skizzierten Zusammenhängen, kann es passieren, dass man zu niedrige Preise veranschlagt, obwohl Kunden bereit wären, mehr für ein Produkt zu bezahlen. Insofern sollte man die gewinn- oder kostenorientierte Perspektive um Methoden der nachfrage- oder konkurrenzorientierten Preisbestimmung ergänzen. 486 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Gewinnschwellenanalyse findet immer dann Anwendung, wenn Preise, Mengen und Kosten im Voraus geplant oder zumindest geschätzt werden können. Die jeweiligen Kosten und Erlöse sollten dabei zeitpunktbezogen vorliegen, damit man diese einander gegenüberstellen und valide Aussagen ableiten kann. Beim Vergleich von Investitionsprojekten hat sich folgendes Vorgehen bewährt: 487 Bestimmung der Kostenverläufe, 485 Vergleiche im Überblick Horváth, Gleich & Seiter (2019). 486 Vergleiche Thommen & Achleitner (2013, S. 243). 487 Vergleiche im Überblick Kerth & Asum (2008, S. 271 f). <?page no="366"?> 366 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Bestimmung der Erlösverläufe, Erstellung des Gewinnschwellendiagramms. In einem ersten Schritt werden die Kosten ermittelt, die sich bei den jeweiligen Investitionen ergeben. Dabei ist eine Trennung in variable und fixe Kosten vorzunehmen. Variable Kosten sind jene, die sich bei einer Erhöhung oder Verringerung der Produktionsbeziehungsweise Absatzmenge verändern. Man bezeichnet sie daher auch als mengenabhängige Kosten. Im Produktionsbetrieb stellen zum Beispiel Fertigungsmaterial- oder Fertigungslohnkosten variable Kosten dar. Im Gegensatz dazu sind fixe Kosten unabhängig von der Produktionsbeziehungsweise Ausbringungsmenge. Sie fallen selbst dann an, wenn nichts produziert wird. Zu den fixen Kosten zählen beispielsweise Gehälter oder Mieten für Büros und Lagerräume. In der einfachsten Variante der Gewinnschwellenanalyse geht man von einem linearen Zusammenhang zwischen Ausbringungsmengen, Preisen und Kosten aus. Man unterstellt, dass die Preise unabhängig von der verkauften Menge konstant bleiben. Identisches gilt für die variablen Stückkosten je erzeugter Mengeneinheit. Auch hier nimmt man konstante Werte in die Analyse auf, wenngleich die variablen Stückkosten mit veränderten Mengeneinheiten üblicherweise variieren. In einem zweiten Schritt werden die potenziellen Erlöse geschätzt. Hierbei wird in der Regel mit Prognoseverfahren gearbeitet, um möglichst realistische Werte zu erhalten. Die einzelnen Werte sollten für die gleichen Zeitintervalle ermittelt werden, wie die Kosten. Hat man die Kosten und Erlöse in gleiche Zeitabschnitte unterteilt, kann man in einem dritten Schritt die einzelnen Zahlenreihen gegenüberstellen und das Gewinnschwellendiagramm erstellen. Hierzu ist keine Spezialsoftware erforderlich, da sowohl die Aufbereitung der Kosten und Erlöse als auch die Visualisierung mit Hilfe einer Break-even-Grafik mit jedem handelsüblichen Tabellenkalkulationsprogramm vorgenommen werden können. Weiterführende Hinweise Zahlreiche betriebswirtschaftliche Methoden sind einfach in der Anwendung und liefern mit geringem Aufwand übersichtliche Ergebnisse. Dies gilt auch für die Gewinnschwellenanalyse. Sie bietet pragmatische Hilfestellung bei Gewinn-, Preis- und Investitionsentscheidungen, sofern die erforderlichen Daten verfügbar sind. Allerdings handelt es sich um ein statisches und in Teilen wirklichkeitsfernes Verfahren. Insofern sollte man die Break-even-Analyse in der Praxis eher als Überblicksdenn als Entscheidungsfindungsmethode verwenden. Zur Unternehmensplanung sollten ergänzende Managementkonzepte berücksichtigt werden, die zum Teil komplexer, methodisch aber auch valider sind. <?page no="367"?> 6.7 Balanced Scorecard 367 6 6.7 Balanced Scorecard Problemstellung: Umsetzung von Strategien in konkrete, operative Aktivitäten durch eine systematische Abstimmung von Zielen, Kennzahlen, Vorgaben und Maßnahmen Zielgruppe: Geschäftsführer, Geschäftsbereichs- und Funktionsbereichsleiter, Controller und Experten aus den jeweils betroffenen Fachbereichen Voraussetzungen: Ausformulierte Unternehmens-, Geschäftsbereichs- oder Funktionsbereichsstrategie, Schaffung einer Projektorganisation und Bereitschaft des Managements zur konsequenten und nachhaltigen Implementierung Zielsetzung der Balanced Scorecard Unternehmen entwickeln Strategien, um Ziele wie Wachstum oder Markterschließung zu erreichen und sich vom Wettbewerb abzuheben. Eine ausgefeilte Unternehmensstrategie stellt dabei eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Bedingung für Erfolg dar. Das heißt, die beste Unternehmensstrategie bleibt wirkungslos, sofern sie nicht effektiv kommuniziert und umgesetzt wird. Unternehmen müssen daher bestrebt sein, Strategien in operatives Handeln zu überführen, um auf diese Weise Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Eine seit rund 30 Jahren bekannte Methode, um Strategien in Aktivitäten zu übersetzen, ist die Balanced Scorecard. Mit ihrer Hilfe werden Vision, Mission und Strategie eines Unternehmens in Ziele, Kennzahlen und Maßnahmen heruntergebrochen und damit greifbar und messbar gemacht. Dabei gibt die Vision eine Antwort auf die Frage „wo ein Unternehmen hin will“, 488 während die Mission beschreibt, „warum ein Unternehmen existiert“. Die Strategie stellt schließlich einen „Spielplan“ dar, der mit der Balanced Scorecard implementiert, kontrolliert und gesteuert werden kann. Durch das Herunterbrechen übergeordneter Ziele in Geschäfts- oder Funktionsbereichsziele kann man den Strategiebeitrag jedes einzelnen Mitarbeiters deutlich machen und auf diese Weise Verständnis und Motivation für Veränderungen schaffen. Diese Transparenz hilft Mitarbeitern, ihre Ressourcen zu fokussieren und alle Aktivitäten auf die Strategieumsetzung zu konzentrieren. Die Transparenz der Ziele und der dahinterliegenden Strategien erleichtert zudem die Kommunikation mit weiteren Stakeholdern wie Kapitalgebern, Gewerkschaften, Kunden oder Lieferanten. Die Balanced Scorecard ist nicht zuletzt aufgrund ihrer Übersichtlichkeit und ihres praktischen Nutzens eine vielbeachtete betriebswirtschaftliche Methode. Dies dokumentiert sowohl die Vielzahl an wissenschaftlichen Publikationen als auch deren Verbreitung in 488 Kotler, Keller, Brady, Goodman & Hansen (2009, S. 88) bezeichnen die Vision als einen „almost impossible dream“. <?page no="368"?> 368 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle Klein-, Mittel- und Großunternehmen, die in den letzten Jahren unter anderem durch Beratungsgesellschaften forciert wurde. 489 Beschreibung der Balanced Scorecard Die Balanced Scorecard wurde zu Beginn der 1990er-Jahre von Kaplan und Norton entwickelt. Sie wandten sich mit ihrem Konzept gegen die damals dominierenden rein finanzwirtschaftlich ausgerichteten Managementsysteme, die zur Planung und Steuerung ausschließlich Messgrößen wie Cashflow, Umsatzwachstum oder Eigenkapitalrentabilität berücksichtigten. Kaplan und Norton waren der Auffassung, dass zur Strategieumsetzung ein ausgewogenes Bündel aus monetären und nicht-monetären Kennzahlen erforderlich sei. Daher führten sie die Bezeichnung Balanced Scorecard ein, um deutlich zu machen, dass es sich um ein ausgewogenes Kennzahlensystem handelt, das unterschiedliche Perspektiven verbindet: Finanzen, Prozesse, Potenziale und Kunden. In Abbildung 142 sind die vier von Kaplan und Norton berücksichtigten Perspektiven oder Betrachtungsweisen aufgeführt, die Antworten auf folgende Fragen geben: 490 Abbildung 142: Die vier Perspektiven der Balanced Scorecard 491 „Was wollen oder müssen wir in finanzieller Hinsicht erreichen? “ Die Finanzperspektive verweist somit auf die monetären Konsequenzen der Strategieumsetzung und umfasst typischerweise Ziele, die mit den Erwartungen der zentralen Stakeholder eines Unternehmens korrespondieren. So sind beispielsweise Anteilseigner an Ertragswachstum oder einer möglichst hohen Verzinsung des eingesetzten Kapitals interessiert. 489 Vergleiche im Überblick Horváth & Partners (2007). 490 Vergleiche Grant & Nippa (2006, S. 85 ff) und Horváth & Partners (2004, S. 2 ff). 491 Modifiziert nach Kaplan & Norton (1997, S. 9). <?page no="369"?> 6.7 Balanced Scorecard 369 6 „In welchen Unternehmensbereichen müssen wir besondere Leistungen erbringen? “ Die Prozessperspektive bezieht sich auf interne Abläufe, die für die Implementierung der Unternehmensstrategie und die Verwirklichung finanzieller Ziele erfolgskritisch sind. Die gesamte Wertschöpfungskette kann man zum Beispiel in Innovations-, Produktions- und Absatzprozesse gliedern und Kennzahlen wie Produktentwicklungszeiten und Produktivität oder Ausschussraten und Prozesskosten heranziehen. „Wie können wir uns verbessern und zusätzlichen Wert schaffen? “ Die Potenzialperspektive beschreibt die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit die Ziele der anderen drei Perspektiven erreicht werden. Dabei spielen beispielsweise die Qualifizierung und Motivation von Mitarbeitern oder die Leistungsfähigkeit des Informationssystems eine wesentliche Rolle. „Wie bewerten uns unsere aktuellen Kunden? “ Im Mittelpunkt der Kundenperspektive stehen die Erfüllung der Kundenanforderungen und die damit verknüpfte Kundenzufriedenheit. Sie umfasst Größen wie Abwanderungs- oder Wiederkaufsraten und Lieferqualität oder Reklamationsquoten. Die einzelnen Perspektiven des hier skizzierten Grundmodells sind gleichgewichtig und gleichbedeutend. Das heißt, mit ihnen soll ein verengter Blick auf das Unternehmen vermieden werden, der sich zwangsläufig ergibt, wenn das Management beispielsweise zu stark kundenorientiert oder zu stark prozessorientiert ist. In beiden Fällen führt die einseitige Betrachtungsweise zu Ungleichgewichten. Im ersten Fall würden monetäre Ziele und im zweiten Fall markt- oder wettbewerbsorientierte Ziele vernachlässigt. Die vier klassischen Betrachtungsweisen können je nach Branche reduziert oder erweitert werden, um die Balanced Scorecard den spezifischen Anforderungen und Bedürfnissen von Unternehmen anzupassen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass die einzelnen Perspektiven und deren Ziele, Kennzahlen, Vorgaben und Maßnahmen nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern über Ursache-Wirkungs-Ketten verknüpft werden, um auf der Basis von Korrelationsanalysen die wesentlichen Zusammenhänge deutlich zu machen. Das Ergebnis einer entsprechenden Verknüpfung könnte zum Beispiel sein, dass mit einer Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse von Mitarbeitern auf der Potenzialebene, Veränderungen auf der Prozess- und Kundenebene korrelieren, die wiederum mit einer Optimierung des Return on Capital Employed - kurz: ROCE - auf der Finanzebene zusammenhängen. Insofern legt man für jede Perspektive zunächst strategische Ziele fest, die sich aus der Vision und der Strategie ableiten. Dann definiert man Kennzahlen beziehungsweise Messgrößen, benennt Vorgaben beziehungsweise Zielwerte, um schließlich Maßnahmen zu bestimmen, mit deren Hilfe die Strategie zum Leben erweckt werden kann. Dieses Vorgehen führt im Idealfall zu einer Umsetzung der Vision, Mission und Strategie eines Unternehmens unter Beteiligung aller Mitarbeiter. Zahlreiche Studien belegen, dass sich die Balanced Scorecard als betriebswirtschaftliche Methode zur Leistungsmessung und Strategierealisierung bewährt hat. Eine Untersuchung von mehr als 100 Klein-, Mittel- und Großunternehmen aus Deutschland, Öster- <?page no="370"?> 370 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle reich und der Schweiz zeigt, dass Unternehmen hinsichtlich Umsatz und Gewinn erfolgreicher als ihre Wettbewerber sind, wenn sie die Balanced Scorecard zur Planung, Steuerung und Strategieumsetzung einsetzen. Die Studie zeigt auch, dass sich die Balanced Scorecard-Anwendung positiv auf die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit sowie auf die Qualität und auf weitere Kennzahlen wie Kostensenkung oder Marktanteile auswirkt. 492 Allerdings muss man darauf hinweisen, dass diese Studien fast ausnahmslos von Unternehmensberatungen stammen, die zumindest im Verdacht stehen, mit entsprechend positiven Ergebnissen ihr Beratungsgeschäft ankurbeln zu wollen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Entwicklung einer Balanced Scorecard setzt zunächst Klarheit darüber voraus, ob eine Unternehmens-, eine Geschäftsbereichs- oder eine Funktionsbereichsscorecard entwickelt werden soll. Zudem müssen die strategischen Grundlagen geklärt und der organisatorische Rahmen geschaffen werden. Das heißt, Vision und Mission sollten definiert und die Projektorganisation und die zu verwendenden Methoden festgelegt worden sein. Sind diese Vorarbeiten erledigt, kann man mit der Entwicklung der Balanced Scorecard beginnen, die sich in sechs Phasen gliedert: 493 Perspektiven und deren Rangfolge festlegen, Ziele ableiten, Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufbauen, Kennzahlen auswählen, Vorgaben beziehungsweise Sollwerte bestimmen, Maßnahmen definieren. In einem ersten Schritt muss man entscheiden, welche Perspektiven berücksichtigt werden sollen. Zahlreiche Unternehmen greifen auf die klassischen Betrachtungsweisen Finanzen, Prozesse, Potenziale und Kunden zurück, obgleich sich je nach Branche weitere anbieten, wie eine Zuliefererperspektive für einen Automobilhersteller, eine Risikoperspektive für eine Bank oder eine Umweltperspektive für ein Energieunternehmen. Nach Auswahl der Perspektiven ist deren Rangfolge zu bestimmen, um deutlich zu machen, welche Abhängigkeiten zwischen den Betrachtungsweisen existieren und welche Perspektive am Ende der Wirkungskette steht. Dies dürfte in den meisten Fällen die Finanzperspektive sein, wobei die Scorecard je nach Unternehmen und Branche auch anders aufgebaut sein kann. Hat man den organisatorischen und strategischen Rahmen sowie die Balanced Scorecard-Grundarchitektur - also die Perspektiven und Hierarchien - festgelegt, werden aus der Strategie Ziele abgeleitet. Nach Ansicht von Kaplan und Norton ist es dabei sinnvoll, nicht mehr als fünf Ziele je Perspektive aufzunehmen, um das System flexibel und überschaubar zu halten. Gemäß dem Grundsatz: „Twenty is Plenty.“ 494 Typische 492 Vergleiche Horváth & Partners (2004, S. 13 ff). 493 Vergleiche im Überblick Horváth & Partners (2004, S. 167 ff). 494 Horváth & Partners (2004, S. 53). <?page no="371"?> 6.7 Balanced Scorecard 371 6 Finanzziele sind zum Beispiel Umsatz- und Profitabilitätsverbesserung oder Kostensenkung. Mit Blick auf die internen Prozesse wird man unter anderem Ziele wie Standardisierung, Qualitätssicherung oder die Reduktion von Produktentwicklungszeiten verfolgen. Verbesserte Fremdsprachenkenntnisse und Mitarbeiterzufriedenheitswerte oder die Verringerung der Mitarbeiterfluktuation stellen Ziele zur Förderung der unternehmensbezogenen Potenziale dar, während die Optimierung von Kundenbindung und Kundenzufriedenheit oder die Steigerung des Bekanntheitsgrades typische Ziele im Bereich der Kundenperspektive sind. Im dritten Schritt werden die Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen den einzelnen strategischen Zielen mit Hilfe so genannter Strategy Maps aufgedeckt. Die Strategy Maps oder Ursache-Wirkungs-Diagramme illustrieren auf der Basis von Korrelationsanalysen die Bedeutung einzelner Ziele und Zielkategorien für die Erreichung übergeordneter Finanzziele. Anders formuliert: Man unterteilt alle Ziele in unabhängige und abhängige und visualisiert wie in Abbildung 143 den jeweiligen Einfluss durch Pfeile. Ziele, die nicht in einer Kette mit anderen Zielen verknüpft werden können, sollten überprüft und gegebenenfalls vernachlässigt oder ersetzt werden, da sie offensichtlich nicht zur erfolgreichen Strategieumsetzung beitragen. Abbildung 143: Beispielhafte Strategy Map Im nächsten Schritt werden Kennzahlen ausgewählt, um Ziele zu operationalisieren und zu messen. Dabei ist sicherzustellen, dass jedes Ziel durch mindestens eine Kennzahl repräsentiert wird. Typischerweise legt man in der Praxis zunächst mehrere Kennzahlen für ein Ziel fest, um dann eine Reduktion auf die wirklich wichtigen zum Beispiel anhand der Kriterien Aufwand beziehungsweise Nutzen oder Machbarkeit beziehungsweise Beeinflussbarkeit vorzunehmen. Für jede Kennzahl wird zudem be- <?page no="372"?> 372 6 Strategische Planung, Umsetzung und Kontrolle stimmt, in welchen Zeitabständen diese berechnet werden soll und wer hierfür die Verantwortung trägt. Auf diese Weise wird die Balanced Scorecard und damit die Strategie in den Arbeitsalltag der Mitarbeiter integriert und die Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung geschaffen. Hat man Ziele und dazugehörige Kennzahlen festgelegt, müssen in einem fünften Schritt Vorgaben oder Sollwerte definiert werden. Die Sollwerte gehen in Zielvereinbarungen mit Führungskräften ein und können durch eine weitere Zerlegung in Teilziele und Teilsollwerte auf weitere Mitarbeiter übertragen werden. Somit wird die Balanced Scorecard zu einem Instrument, das alle Akteure eines Unternehmens einbezieht und den individuellen Beitrag zur Umsetzung von Vision, Mission und Strategie sichtbar macht. Für das Potenzialziel „Fremdsprachenkenntnisse verbessern“ mit der entsprechenden Kennzahl „Prüfungsergebnisse“ könnte man als Sollwert zum Beispiel das „Bestehen des TOEFL-Tests“ 495 mit einer festgelegten Punktzahl heranziehen. Für das Finanzziel „Profitabilität steigern“ mit der entsprechenden Kennzahl „Return on Capital Employed“ - kurz: ROCE - könnte als Sollwert beispielsweise „> 20 Prozent“ dienen. 496 Im letzten Schritt muss man schließlich Maßnahmen definieren, um Sollwerte zu erreichen und Ziele umzusetzen. Die einzelnen Maßnahmen beziehungsweise Aktivitäten können Projekten und weiteren Tätigkeiten innerhalb und außerhalb des Tagesgeschäftes zugeordnet werden. Auch hier ist in der Praxis eine Priorisierung vorzunehmen, da in der Regel nicht ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle geeigneten Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Weiterführende Hinweise Bei der Balanced Scorecard handelt es sich um eine betriebswirtschaftliche Methode zur kennzahlenbasierten Unternehmenssteuerung. Mit der Balanced Scorecard werden Strategien in Aktivitäten übersetzt, nicht jedoch neue Strategien entwickelt. Als ausgewogenes Controllinginstrument mit koordinierender Wirkung hat sich der Ansatz in der Praxis vielfach bewährt. Allerdings ist die erfolgreiche Anwendung an einige Bedingungen geknüpft: Das Herunterbrechen von Zielen von der obersten bis zur untersten Hierarchieebene setzt effiziente Management- und Planungsprozesse voraus. Vision, Mission und Strategie müssen definiert, und die einzelnen methodischen Schritte müssen bekannt sein. Zudem ist zur Entwicklung und Umsetzung einer Balanced Scorecard ein Mindestmaß an Erfahrung mit strategischen Managementinstrumenten erforderlich. Schließlich sollte das Top Management die Anwendung nicht nur befürworten, sondern die konsequente Implementierung nachhaltig unterstützen und vorantreiben. Anderenfalls wird die Balanced Scorecard zunächst erhebliche Ressourcen binden, dann nicht die gewünschten Erfolge bringen, um schließlich ein Schattendasein neben dem herkömmlichen Berichtswesen zu führen. 495 TOEFL steht für Test of English as a Foreign Language. Hierbei handelt es sich um einen standardisierten und weit verbreiteten Sprachtest, der unter anderem von Hochschulen als Zulassungsvoraussetzung für internationale Studiengänge genutzt wird. 496 Für weitere Beispiele vergleiche Nagel & Wimmer (2009). <?page no="373"?> 7 Organisation <?page no="374"?> 374 7 Organisation Organisationen sind allgegenwärtig. Wir bewegen uns täglich in ihnen oder sind aktiver Bestandteil von ihnen. Sie dienen der Lösung von Problemen und vermögen Komplexität zu reduzieren, auch wenn sie uns manchmal undurchsichtig und chaotisch erscheinen. Im sozialwissenschaftlichen beziehungsweise betriebswirtschaftlichen Sinne stellen Organisationen Gebilde dar, in die man auf freiwilliger Basis und typischerweise aufgrund von Verträgen ein- und austreten kann, die eine Person nur teilweise vereinnahmen, 497 deren Mitglieder prinzipiell austauschbar sind und die über eine Hierarchie verfügen. Insofern unterscheiden sich Organisationen von Familien, Gruppen, Netzwerken oder Märkten. Organisationen schaffen Ordnung, indem sie Strukturen und Abläufe festlegen und solcherart ein System zweckrationalen Handelns bilden. Je nach Perspektive kann man Organisationen institutionell, instrumentell oder prozessorientiert betrachten. Im ersten Fall geht man davon aus, dass Unternehmen Organisationen sind, im zweiten Fall, dass Unternehmen Organisationen - wie ein Instrument oder Werkzeug - nutzen, während im Mittelpunkt einer prozessorientierten Betrachtungsweise die Überzeugung steht, dass in Unternehmen Organisation stattfindet. 498 Unabhängig von der jeweils eingenommenen theoretischen Perspektive gilt, dass die Bildung, die Entwicklung und der Erhalt von Organisationen auf Ziele ausgerichtet sind, die in ihrer allgemeinsten Form mit Effektivität und Effizienz umschrieben werden können. Um eine effektive und effiziente Organisation zu etablieren und aufrecht zu erhalten, bedarf es jedoch nicht nur der fortlaufenden Festlegung überprüfbarer Ziele, sondern auch der Analyse bestehender Rahmenbedingungen, der Umsetzung erforderlicher Maßnahmen und der Überprüfung des Zielerreichungsgrades, um gegebenenfalls nachsteuern zu können. Managementansätze wie Projektmanagement, Qualitätsmanagement oder Lean Management helfen dabei, diesen Managementregelkreis mit unterschiedlicher Fokussierung umfassend zu steuern. Der Konzeption des vorliegenden Methodenhandbuches folgend, beschränken sich die nachstehenden Ausführungen auf die Beschreibung des Prozessmanagements, des Changemanagements und der Change-Kommunikation sowie auf die Methode Lean Administration, die hinsichtlich der Optimierung von Verwaltungsprozessen in den letzten Jahren bedeutsamer geworden ist. Geht man davon aus, dass Organisationen zur kundenorientierten Leistungserstellung beitragen sollen, dann ist der Blick zunächst auf die Abläufe zu richten, mit deren Hilfe ein Produkt erstellt und dem Kunden angeboten wird. Prozessmanagement überwindet dabei die zu eng ausgerichtete und isolierte Betrachtung einzelner Funktionen, indem das integrative Zusammenspiel wertschöpfender Aktivitäten analysiert und optimiert wird. Dieses Zusammenspiel ändert sich im Zeitablauf aufgrund unternehmensinterner und unternehmensexterner Einflussfaktoren. Insofern müssen Struktu- 497 In diesem Zusammenhang wird auch von Partialinklusion gesprochen. Das heißt, eine Organisation hat nur einen begrenzten Zugriff auf Leib und Leben einer Person, während totale Institutionen wie Gefängnisse oder Psychiatrien ihre Mitglieder umfassend vereinnahmen. Daher spricht man hier von Totalinklusion (vergleiche hierzu Goffman 1973). 498 Vergleiche Bea & Göbel (2010, S. 3 ff). <?page no="375"?> 7 Organisation 375 7 ren und Prozesse und die damit verknüpften Informations- und Kommunikationssysteme angepasst werden. Wie ein entsprechender Veränderungsprozess konzipiert, gesteuert und kontrolliert werden kann, wird anhand der Methode des Changemanagements verdeutlicht. Der Frage guter Change-Kommunikation ist ein zusätzliches Kapitel gewidmet. Mit Hilfe von Lean Administration kann die fortlaufende Optimierung von administrativen Abläufen durch eine breite Beteiligung der Mitarbeiter vorangetrieben werden. <?page no="376"?> 7.1 Prozessmanagement Problemstellung: Analyse, Planung, Dokumentation, Gestaltung und Steuerung wertschöpfender Aktivitäten im Unternehmen mit Blick auf die Zielgrößen Kosten, Zeit, Qualität und Kundenorientierung Zielgruppe: Projektleiter, Prozessverantwortliche Voraussetzungen: Zugang zu erforderlichen Ressourcen und Projektdokumentationen sowie eindeutig definierter Projektauftrag mit präzisen Zielvorgaben für das Projektteam Zielsetzung des Prozessmanagements In der Managementforschung sind in den letzten Jahren immer wieder neue Trends und Grundhaltungen entstanden. Einige haben sich als schnelllebige Modeerscheinungen, andere als langfristig gültige Basiskonzepte erwiesen. Ein erfolgversprechender Trend ist die so genannte Prozessorientierung, die erstens zur Kostensenkung, zweitens zur Schaffung von Wettbewerbsvorteilen und drittens zur Verzahnung aller wertschöpfenden Aktivitäten im Unternehmen beitragen soll, um Kunden bestmöglich mit Produkten und Dienstleistungen zu versorgen. Vor allem die Kundenorientierung und die Erfüllung entsprechender Kundenanforderungen stehen im Mittelpunkt prozessorientierter Ansätze. Dabei können Kunden sowohl unternehmensinterne als auch unternehmensexterne Leistungsempfänger sein. Diese internen oder externen Leistungsempfänger erwarten, dass die nachgefragte Leistung in der gewünschten Qualität und Zeit erbracht und zu angemessenen Preisen angeboten wird. Mit Hilfe effizienter Prozesse kann man Kundenanforderungen erfüllen, die Kundenzufriedenheit steigern und die betriebliche Wertschöpfung optimieren. Das sind die wesentlichen Ziele des prozessorientierten Managements, wobei man unter einem Prozess eine Menge von Tätigkeiten versteht, die in einer vorgegebenen Reihenfolge erledigt und teilweise durch Informationssysteme unterstützt werden. Prozesse stiften auf diese Weise Kundennutzen. Durch die zunehmende Arbeitsteilung in Unternehmen und das Zergliedern von Organisationen in Geschäftseinheiten, Funktionen, Abteilungen und Unterabteilungen werden eigentlich zusammengehörende Einzelaktivitäten auseinandergerissen, neu strukturiert und Schnittstellen geschaffen. An diesen Schnittstellen kommt es in der Regel zu Problemen: Missverständnisse bei der Übergabe, Zeitverzögerungen und Doppelarbeiten sowie Kompetenz- und Verantwortlichkeitsstreitigkeiten sind in der Praxis auftretende Phänomene arbeitsteiliger Organisationen. An diesem Punkt setzt das Prozessmanagement an. Es verfolgt das Ziel, interdependente Aktivitäten zu identifizieren, zu koordinieren und zu verbessern, um eine effiziente und kundenorientierte Leistungserstellung zu gewährleisten. 499 499 Vergleiche Bea & Göbel (2010, S. 393 ff) sowie Posluschny (2012, S. 11 ff). 376 7 Organisation <?page no="377"?> 7.1 Prozessmanagement 377 7 Beschreibung des Prozessmanagements Kundenanforderungen können nur erfüllt werden, wenn diese bekannt sind und mit Hilfe geeigneter Prozesse bearbeitet werden. Zur Ermittlung der Kundenanforderungen kann man auf zahlreiche betriebswirtschaftliche Methoden zurückgreifen, die unter anderem in den Kapiteln 4.4, 4.5 und 4.6 vorgestellt werden. Zur Bestimmung einer geeigneten, kundenorientierten Folge von Aktivitäten kann man die Erkenntnisse des Prozessmanagements nutzen. Diese Erkenntnisse bestehen unter anderem darin, dass man die betriebliche Leistungserstellung durch Prozessinnovationen, Prozessverlängerungen oder Prozessverkürzungen und durch den gezielten Abbau redundanter, fehlerhafter oder ineffizienter Prozesse verbessern kann. Rationalisierungsbemühungen setzen allerdings Transparenz darüber voraus, wo welche Leistung von wem mit welchem Aufwand und für welchen Kunden erstellt wird. Insofern ist zunächst zu bestimmen, was benötigt wird, um einen Prozess auszuführen. In diesem Zusammenhang spricht man vom so genannten Input, also von Leistungen vorgelagerter Prozesse. Dann ist die Sequenz von Arbeitsschritten zu betrachten, also der Prozess selbst, bevor man schließlich das Ergebnis des ausgeführten Prozesses, den so genannten Output, analysieren kann. Für gewöhnlich ist der Empfänger des Outputs ein anderer Prozess innerhalb oder außerhalb des Unternehmens. Diese Input- Prozess-Output-Sequenz ist dann effektiv und effizient, wenn die Kriterien Kosten, Zeit und Qualität in einem optimalen Verhältnis zueinanderstehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Prozesse die gleiche Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens haben. Die Wahl des Detaillierungsgrades im Rahmen eines Prozessmanagementprojektes ist vielmehr davon abhängig, wie wichtig ein Prozess ist und wie umfangreich die gewünschte Optimierung ausfallen soll. Grundsätzlich können Prozesse in Organisationen in drei Hauptkategorien unterteilt werden: Managementbeziehungsweise Führungsprozesse steuern Kernprozesse in Unternehmen, um übergeordnete Ziele zu erreichen, wobei man in personenbezogene und sachbezogene Führungsprozesse unterscheidet. Operative beziehungsweise Kern- oder Geschäftsprozesse umfassen alle Aktivitäten, die mit der direkten Leistungserstellung für den Kunden verbunden sind. Sie sind in der Regel nicht imitier- und substituierbar und bilden somit die Grundlage für Wettbewerbsvorteile des Unternehmens. Unterstützungsprozesse stiften keinen unmittelbaren Nutzen für den Kunden, gewährleisten jedoch den reibungslosen Ablauf der Kernprozesse, indem sie im Hintergrund definierte Leistungen zur Verfügung stellen. Prozesse lassen sich jedoch nicht nur in unterschiedliche Kategorien einteilen, sondern auch hierarchisch ordnen. Wie in Abbildung 144 dargestellt, kann man folgende Hierarchieebenen unterscheiden: <?page no="378"?> 378 7 Organisation Abbildung 144: Hauptprozesse, Teilprozesse und Aktivitäten Hauptprozesse, Teilprozesse, Aktivitäten. Prozesse auf der obersten Ebene der Betrachtung von Unternehmensprozessen bezeichnet man als Hauptprozesse. Die Kundenakquise oder die Auftragsabwicklung stellen beispielsweise Hauptprozesse dar, die in Teilprozesse, also in seriell und parallel ablaufende Arbeitsschritte, Verzweigungen und Entscheidungen, zerlegt werden können. Ein Teilprozess im Rahmen der Kundenakquise wäre zum Beispiel die Angebotserstellung, während man die Warenauslieferung als einen Teilprozess der Auftragsabwicklung betrachten könnte. Auf der Ebene von Teilprozessen werden üblicherweise Prozessschritte sowie Rollen und Verantwortlichkeiten beschrieben. Mehrere Arbeitsschritte können zu Aktivitäten zusammengefasst werden, die im Beschreibungsgrad detaillierter sind als Teilprozesse, da man neben Prozessschritten sowie Rollen und Verantwortlichkeiten auch die Unterstützung durch IT-Systeme oder Schnittstellen in den Blick nimmt. Die Detailbetrachtung auf Aktivitätenebene gestattet fundierte Analysen und entsprechende Optimierungen, da Zeiten und Kosten mit den Aktivitäten aller Prozessbeteiligten verknüpft und solcherart Schwachstellen und Verbesserungspotenziale aufgedeckt werden können. Prozesse können weiter klassifiziert werden, je nachdem, ob sie durch einen internen oder einen externen Kunden angestoßen werden, ob sie für die Kundenzufriedenheit <?page no="379"?> 7.1 Prozessmanagement 379 7 wichtig oder unwichtig sind und ob es viele oder wenige Prozessbeteiligte gibt. Insbesondere die komplexen und kundenzufriedenheitsrelevanten Prozesse sollten im Mittelpunkt des Prozessmanagements stehen, da sie aufgrund der Vielzahl an Schnittstellen fehleranfällig, aber zugleich auch erfolgskritisch für Unternehmen sind. 500 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Prozesse werden üblicherweise im Rahmen von Projekten aufgenommen, analysiert, bewertet, erneuert, angepasst und eingeführt. Projekte unterscheiden sich von Routinetätigkeiten durch einen definierbaren Anfang und ein definierbares Ende sowie durch die Einmaligkeit der Bedingungen, die zum Beispiel in speziellen Zielvorgaben, zeitlichen, finanziellen und personellen Begrenzungen oder in spezifischen Organisationsformen bestehen. Der Auslöser von Prozessmanagementprojekten sind entweder interne oder externe Faktoren: Interne Faktoren wären beispielsweise ein Auftrag der Geschäftsleitung, Ideen von Mitarbeitern, die Notwendigkeit zur Kosteneinsparung oder zur Effizienzsteigerung sowie Defizite im Branchenvergleich. Externe Auslöser könnten Ausschreibungen von Kunden oder konkrete Kundenaufträge zur Durchführung von Prozessanalysen sein. 501 Unabhängig von den jeweils projektauslösenden Faktoren laufen Prozessmanagementinitiativen typischerweise in den in Abbildung 145 dargestellten vier Phasen ab: Abbildung 145: Ablauf von Prozessmanagementprojekten In der Phase der Projektinitiierung geht es primär um die Schaffung bestmöglicher Rahmenbedingungen für das geplante Vorhaben. Insofern wird zunächst das Projektdesign detailliert, indem man die zu betrachtenden Prozesse identifiziert und alle vorhandenen Prozessbeschreibungen und Prozessdokumentationen sichtet und archiviert. In diesem Zusammenhang wird auch bestimmt, welche Mitarbeiter in der Ist- Aufnahme befragt werden sollen, um Prozesse gegebenenfalls bis auf Aktivitätenebene verstehen und modellieren zu können. Die Entwicklung einer Projektstruk- 500 Vergleiche im Überblick Becker, Kugeler & Rosemann (2012). 501 Vergleiche im Überblick Bea, Scheurer & Hesselmann (2019) sowie Kuster et al. (2019). <?page no="380"?> 380 7 Organisation tur umfasst sowohl die Definition von Rollen und Verantwortlichkeiten im Projekt, als auch die Erstellung eines Prozesshandbuches und die Auswahl der Analysemethoden. Das Prozesshandbuch beinhaltet eine Beschreibung des relevanten Projektvokabulars und der Projektmethodologie sowie eine Übersicht über Umfang, Qualität und Form dokumentierter und zu dokumentierender Prozesse. Schließlich definiert man in dieser ersten Phase noch die Soll-Designkriterien und legt fest, mit welchen Softwarelösungen die Prozesse modelliert werden sollen. Diese Maßnahmen dienen der klaren Abgrenzung des Projektumfangs, der Schaffung von Transparenz über das Projektvorgehen und der Bereitstellung aller erforderlichen Materialien, Informationen und Werkzeuge zur Analyse bestehender und zum Design neuer Prozesse. Die Phase der Ist-Prozessanalyse beginnt mit der Auswahl der zu untersuchenden Hauptprozesse und der Festlegung, ob diese mit ihren jeweiligen Unterstützungsprozessen bis auf Teilprozessebene oder sogar bis auf Aktivitätenebene betrachtet werden sollen. Bei einer Detailbetrachtung auf Aktivitätenebene berücksichtigt man sowohl Rollen, Verantwortlichkeiten und die Systemunterstützung als auch den tatsächlich erbrachten beziehungsweise den gewünschten Output und alle relevanten Leistungsempfänger. Zur Aufnahme der Prozesse werden alle verfügbaren Informationen herangezogen und Dokumentationslücken im Rahmen von Interviews mit Bereichs- und Abteilungsleitern sowie Prozessverantwortlichen geschlossen. Zur Aufnahme und Dokumentation der Prozesse werden die in der ersten Phase beschriebenen Methoden und Vorlagen verwendet. Die aufgenommenen Prozesse werden insbesondere auf Basis der folgenden Aspekte bewertet: Komplexität, Effektivität, Effizienz und Prozessverantwortung. Das heißt, man prüft, ob Prozesse doppelt vorhanden, unnötig komplex oder zu teuer sind, ob der Output den Wünschen der Leistungsempfänger entspricht und ob die Verantwortung klar geregelt ist. Auf Basis der Bewertung können Verbesserungs-, Komplexitätsreduktions- und Kosteneinsparpotenziale aufgezeigt und Maßnahmen mit kurz-, mittel- und langfristiger Wirkung identifiziert werden. Zur Ableitung von Optimierungspotenzialen kann man auf die in Abbildung 146 dargestellte 7R-Methode zurückgreifen. Mit Hilfe dieser Methode lassen sich Prozesse unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten: (1) Reassign rückt die Frage in den Mittelpunkt, ob die jeweilige Aktivität an andere Stellen delegiert oder ausgelagert werden kann. (2) Reduce verweist auf die Möglichkeit, die Durchführungshäufigkeit oder erforderliche Ressourcen zu reduzieren. (3) Relocate beinhaltet die Überlegung, inwiefern eine Aktivität näher an den Kunden gerückt und damit effektiver durchgeführt werden kann. (4) Resequence befasst sich mit dem „Wann“ beziehungsweise mit der zeitlichen Abfolge von Aktivitäten. (5) Retool fragt nach dem „Wie“ der Ausführung und insofern nach Optionen der Systemunterstützung oder der Automatisierung von Aktivitäten. (6) Reconfigure betrachtet Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt der vollständigen Eliminierung oder der Konsolidierung, während (7) Rethink zum einen nach den Gründen fragt, warum Aktivitäten in der aktuellen Form durchgeführt werden, und zum anderen die Plausibilität dieser Gründe kritisch reflektiert. <?page no="381"?> 7.1 Prozessmanagement 381 7 Abbildung 146: 7R-Methode 502 Die besonderen Herausforderungen in der zweiten Phase bestehen in schwer zugänglichen oder bewusst zurückgehaltenen Ist-Dokumentationen, in der ungenauen Ermittlung von Prozesszeiten und daraus resultierenden fehlerhaften Kosten durch Verdeckung der wahren Nettoarbeitszeiten und in der zum Teil mangelnden Bereitschaft zur raschen Umsetzung identifizierter Verbesserungen. Insofern ist es erforderlich, alle relevanten Prozessbeteiligten in das Projekt zu integrieren, um die wesentlichen Informationen verfügbar zu machen. Der Aufbau eines systematischen Controllingsystems und die Festschreibung der Optimierungen in den individuellen Zielvereinbarungen der Prozessverantwortlichen erhöhen zudem die Veränderungsbereitschaft und die Motivation, erforderliche Verbesserungen nicht nur auf dem Papier zu skizzieren, sondern tatsächlich in der Praxis anzustoßen. Im Mittelpunkt der Soll-Prozessdesignphase steht die Neugestaltung der ausgewählten und im Detail analysierten Prozesse. Die Soll-Prozessstruktur und die entsprechenden Rollen und Verantwortlichkeiten werden definiert und dokumentiert. Dabei ist es denkbar, nicht nur einen Soll-Prozess, sondern Soll-Prozessszenarien zu entwickeln und diese hinsichtlich der Kriterien Nutzen, Schnelligkeit und Implementierungskosten zu evaluieren und zu gewichten. Das Erstellen von Soll-Prozessszenarien ist vor allem im Rahmen internationaler Prozessmanagementprojekte erforderlich, da hier nicht nur personen- und systembezogene Aspekte, sondern auch rechtliche und kulturelle Besonderheiten in den einzelnen Ländergesellschaften in Erwägung gezogen werden müssen. Die wesentlichen Herausforderungen in dieser Phase bestehen in der Überwindung von Veränderungsresistenzen, in der systematischen Berücksichtigung parallel verlaufender Initiativen und Projekte und in der Befähigung der Mitarbeiter 502 Vergleiche im Überblick Nagel (2007a). <?page no="382"?> 382 7 Organisation zur Soll-Prozessumsetzung. Meistern kann man diese Herausforderungen durch eine frühzeitige Einbindung der Stakeholder in das Projekt, um Erwartungen zu erkennen, die bei der Definition der Soll-Struktur berücksichtigt werden sollten. Zudem ist es sinnvoll, ein Integrationsmanagement zu etablieren, dessen Aufgabe darin besteht, Initiativen und Projekte abteilungs-, bereichs- und funktionsübergreifend zu betrachten. Schließlich sollte man Trainings- und Coaching-Maßnahmen für alle betroffenen Mitarbeiter anbieten - nicht zuletzt, um zu vermeiden, dass Leistungsträger aus Sorge vor Veränderungen in der Organisation das Unternehmen verlassen. Die Phase der Umsetzungsplanung besteht im Wesentlichen aus der Priorisierung der Veränderungsmaßnahmen und der Ableitung von Detailaktivitäten sowie aus der Entwicklung eines Implementierungsplans. Mit Blick auf die Implementierung sind die benötigten Ressourcen, die erforderlichen Aktivitäten und die Rollen und Verantwortlichkeiten zu definieren. Zudem sollten mögliche Risiken identifiziert und mögliche Gegenmaßnahmen bestimmt und ein Changemanagement-Konzept entwickelt werden. Weiterführende Hinweise Prozessorientierung bedeutet, dass man alle unternehmensinternen Abläufe aus der Sicht des Kunden sowie funktionsbeziehungsweise abteilungsübergreifend betrachtet. Damit diese Idee Wirklichkeit werden kann, benötigen Unternehmen auch eine prozessorientierte Organisation, die im Rahmen eines Veränderungsprozesses aufgebaut werden kann. Wie solche Veränderungsmaßnahmen entwickelt, gesteuert und umgesetzt werden können, illustriert Kapitel 7.2, das sich mit dem Thema Changemanagement befasst. <?page no="383"?> 7 7.2 Changemanagement Problemstellung: Anpassung der Strukturen, Prozesse und Systeme sowie der Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitarbeiter an geänderte Umwelt- und Unternehmensbedingungen und neue Unternehmensziele Zielgruppe: Projektleiter, Changemanagement-Verantwortliche, Führungskräfte Voraussetzungen: Ausformulierte Vision, Unterstützung durch das Management, Beschaffung von Informationen zu Veränderungswiderständen, erfahrener und anerkannter Projektleiter mit ausgeprägten Kommunikationsfähigkeiten Zielsetzung des Changemanagements Unternehmen sind soziale Systeme, die prinzipiell auf Dauer angelegt sind und daher stabil sein sollen. Stabilität wird erreicht, indem organisatorische Strukturen, Prozesse und Abläufe geschaffen werden, die einen Ordnungsrahmen bilden und Komplexität reduzieren. Im Rahmen der betrieblichen Tätigkeit sind Unternehmen jedoch nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Umwelt bezogen, mit der sie permanent im Austausch stehen. So existieren vielfältige Wechselbeziehungen mit Kunden, Wettbewerbern oder anderen gesellschaftlichen Gruppen. Deren Anforderungen, Erwartungen und Einstellungen können sich im Laufe der Zeit ebenso ändern, wie die allgemeinen Marktbedingungen oder die technologischen Voraussetzungen. Dieser Wandel zwingt Unternehmen dazu, dynamisch, flexibel und veränderungsfähig zu sein. Anders formuliert: Neue Systemumwelten erfordern eine Anpassung der Systeminnenwelten - also eine Anpassung der Organisation, der Prozesse, der Kooperations- oder der Rechtsformen. Diese Veränderungen müssen systematisch geplant, umgesetzt und kontrolliert werden, damit Unternehmen ungeachtet der vielfältigen externen und internen Einflussfaktoren auf Erfolgskurs bleiben. Die Notwendigkeit zum organisatorischen Wandel hat in den vergangenen Jahren zugenommen, da zum einen der Wettbewerb in zahlreichen Branchen intensiver und gleichzeitig die Produktlaufzeiten kürzer geworden sind. Zum anderen haben weitere externe Einflussgrößen wie die Entstehung neuer Kundengruppen, das gestiegene Umweltbewusstsein breiter Bevölkerungsschichten, rechtliche Änderungen oder ethische Ansprüche an die Unternehmensführung an Bedeutung gewonnen. Die Ursachen des Wandels liegen jedoch nicht nur außerhalb der Unternehmen. Die Ursachen sind zum Teil auch unternehmensintern zu suchen, vor allem, wenn bei der Verfolgung von Wachstumsstrategien Unternehmensakquisitionen in Betracht gezogen oder Unternehmenszusammenschlüsse realisiert werden. Infolgedessen ändern sich typischerweise Ziele und Strategien, aber auch Leitbilder, Führungsstile und Unternehmenskulturen. Innovationen in der Fertigung oder in der Informationstechnologie haben schließlich dazu geführt, dass virtuelles Arbeiten und das so genannte Home- 7.2 Changemanagement 383 <?page no="384"?> 384 7 Organisation Office möglich wurden und Organisations- und Prozessverantwortliche völlig neue Strukturen aufbauen mussten. Alle Formen des durch externe und interne Faktoren verursachten Wandels fasst man mit dem Begriff des Changemanagements zusammen. Ziel des Changemanagements ist es, Unternehmen an neue Anforderungen anzupassen und einen System-Umwelt-Fit 503 herzustellen. Neben dem System-Umwelt- Fit ist auch ein System-System-Fit beziehungsweise ein Intra-System-Fit zu realisieren. Das heißt, die internen Einflussgrößen sind ebenfalls auf- und miteinander abzustimmen - wie die Organisation mit der Strategie und diese mit den Informationssystemen. 504 Wie man die zentralen Kernvariablen eines Unternehmens gestalten und in Einklang bringen kann, macht zum Beispiel das 7S-Modell deutlich, das in Kapitel 5.7 vorgestellt wird. Insgesamt geht man im Rahmen des Changemanagements davon aus, dass Wandel nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist und Unternehmen demnach flexibel, innovativ und kundenorientiert organisiert, gesteuert und geführt werden müssen. Die besondere Herausforderung besteht dabei in der Einbeziehung der Beschäftigten, deren Veränderungsbereitschaft der zentrale Erfolgsfaktor aller Changemanagement-Maßnahmen darstellt. Beschreibung des Changemanagements Changemanagement ist eine spezifische Form des geplanten Wandels, der die Reorganisation und die Organisationsentwicklung umfasst. Dabei versteht man unter Reorganisation die Änderung oder Neugestaltung von Strukturen und Prozessen mit dem Ziel, eine effektive Aufbau- und Ablauforganisation zu erhalten. Im Mittelpunkt der Organisationsentwicklung steht demgegenüber nicht nur die Restrukturierung, sondern auch und vor allem die Verhaltensänderung der Organisationsmitglieder und die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur. Changemanagement beinhaltet sowohl die Spezifika der Reorganisation als auch jene der Organisationsentwicklung und wird daher seit einigen Jahren als Oberbegriff für gezielte Unternehmensveränderungen in organisatorischer, prozessualer, technologischer, kultureller und verhaltensbezogener Hinsicht verwendet. 505 Die Ursprünge des Changemanagements liegen in den Forschungsarbeiten von Mayo, Roethlisberger und Dickson, die in den Hawthorne-Werken der Western Electric Company zwischen 1927 und 1932 die Auswirkungen der Veränderung von Arbeitsbedingungen auf die Arbeitsleistung untersuchten. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass Arbeitsleistung und Zufriedenheit der Mitarbeiter stärker von der Aufmerksamkeit für die Beschäftigten und der Zugehörigkeit zu informellen Gruppen innerhalb der Organisation beeinflusst werden als zum Beispiel von Veränderungen der 503 Die System-Umwelt-Fit-Hypothese entstammt dem situativen Ansatz, demzufolge man aus empirischen Daten ableitet, welche organisatorische Struktur zu welcher Umweltsituation passt, um folglich einen Fit zwischen Unternehmen und Umwelt herzustellen (vergleiche Vahs 2012, S. 43 ff). 504 Vergleiche Bea & Göbel (2010, S. 452 ff). 505 Vergleiche Bea & Göbel (2010, S. 484 ff) und Jones & Bouncken (2008, S. 598 ff). <?page no="385"?> 7.2 Changemanagement 385 7 Lichtverhältnisse. Änderungen in Unternehmen kann man insofern nicht nur durch eine Modifikation der technisch-physikalischen Bedingungen herbeiführen, sondern man muss auch individuelle und zwischenmenschliche Aspekte berücksichtigen. Wandel setzt somit vor allem die Einbeziehung aller relevanten Akteure und die Überwindung von Änderungsbarrieren seitens der Organisationsmitglieder voraus, welche die Notwendigkeit von Veränderungen verstehen und akzeptieren müssen, bevor diese umgesetzt werden können. Erfolgreiches Changemanagement enthält daher immer auch Aspekte der Veränderung der Unternehmenskultur. Diese Aspekte stehen im Mittelpunkt der Arbeiten von Lewin, der deutlich gemacht hat, wie man mit Trägheiten und Widerständen umgehen und Änderungsprozesse gestalten kann. Dabei unterscheidet er drei Phasen: Unfreezing, Moving und Freezing. In der Unfreezingbeziehungsweise Auftauphase muss das bestehende Gleichgewicht in Frage gestellt und die Bereitschaft für einen Wandel erzeugt werden. In der Movingbeziehungsweise Veränderungsphase werden neue Praktiken erprobt, Veränderungen initiiert und der Weg zu einem neuen Gleichgewicht beschritten. Die Freezingbeziehungsweise Stabilisierungsphase ist schließlich dadurch charakterisiert, dass neue Gewohnheiten entstehen sowie implementiert und eingefroren werden, um den gewünschten Änderungsprozess - zumindest vorläufig - abzuschließen. Insgesamt liegt dem Episodenschema von Lewin die Überzeugung zugrunde, dass sich Wandel zyklisch und am erfolgreichsten unter aktiver Beteiligung aller Betroffenen vollzieht. 506 Die zentrale und empirisch fundierte Idee des Konzeptes von Lewin kann man zusammenfassend in folgende Metapher kleiden: „Wer die Form eines gefrorenen Gutes verändern will, muss dieses dazu erst einmal auftauen, sonst bricht es entzwei. Sollen die neuen Formen Bestand haben, muss man sie in eine feste Form bringen.“ 507 Abbildung 147: 8-Phasen-Modell des Changemanagements 508 Auf der Grundlage zahlreicher Fallstudien von Unternehmen, die einen Changemanagement-Prozess durchlaufen haben, arbeitet Kotter die häufigsten Fehlerquellen heraus, warum Veränderungen scheitern. 509 Mit einem 8-stufigen Change-Prozess gelingt es vielen Unternehmen, die häufigsten Fehlerquellen im Changemanagement zu 506 Vergleiche Schreyögg (2008, S. 403 ff). 507 Schreyögg (2008, S. 412). 508 Modifiziert nach Kotter (2014). 509 Vergleiche im Überblick Kotter (1995). <?page no="386"?> 386 7 Organisation vermeiden. Für Kotter stellen die acht in Abbildung 147 dargestellten Stufen eine nacheinander ablaufende Schrittfolge dar. Erst wenn die erste Stufe erfolgreich absolviert ist, darf im Change-Design die zweite Stufe in Angriff genommen werden. Die Schritte 1-4 dienen dazu, den Status quo so in Frage zu stellen, dass ein Wandel überhaupt möglich wird. Mit den Schritten 5-7 wird die Implementierung gestaltet, während Schritt 8 der dauerhaften Verankerung des Wandels im Unternehmen dient. Gefühl der Dringlichkeit erzeugen: Damit ein Wandel überhaupt gelingen kann, muss man zunächst Verständnis für die Veränderungsnotwendigkeit wecken. Die Motivation zur Veränderung kann durch den Blick auf die relevanten Märkte und Wettbewerber gestärkt werden. Vergleichbares erreicht man durch das Herausstellen einer negativen Zukunftsprognose des Unternehmens, sollte der Wandel ausbleiben. Führungskoalition aufbauen: Veränderungen gelingen, wenn wichtige Entscheider und Meinungsführer von der Veränderungsnotwendigkeit überzeugt sind. Es gilt, die Driving Forces - also die Antriebs- und Impulskräfte - im Unternehmen zu identifizieren und das Veränderungsteam zu gestalten. Vision und Strategie entwickeln: Die Vision als ambitioniertes Zukunftsbild wirkt motivierend. Dadurch koordiniert sie die Aktivitäten in einem Unternehmen in eine Richtung. Bewährt haben sich Kürze und eine einfache sowie bildhafte Sprache. Vision des Wandels kommunizieren: In der Dynamik von Veränderungsnotwendigkeit und motivierendem Zukunftsbild ist es wichtig, die Vision immer wieder mit einfachen und emotionalisierten Botschaften auf möglichst vielen Kommunikationskanälen zur Geltung zu bringen. Mitarbeiter auf breiter Basis befähigen: Wandel erfordert eine Veränderung in den Abläufen der Zusammenarbeit. Zum Teil kann dies - unterstützt durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen - von den bestehenden Mitarbeitern geleistet werden. Zum Teil ist dies aber nur durch eine modifizierte Personalauswahl von neuen Mitarbeitern zu erreichen. Schnelle Erfolge erzielen: Veränderungsprozesse gestalten sich in der Startphase häufig schwierig und zäh. Umso wichtiger ist es, erste Veränderungen in die gewünschte Richtung unternehmensweit zu kommunizieren, um die Veränderungsmotivation aufrechtzuerhalten. Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen einleiten: Auf Dauer ist der Wandel gegenüber den Rückstellreflexen einer Organisation nur erfolgreich, wenn es gelingt, neue Routinen zu implementieren und an der Veränderung festzuhalten. Neue Ansätze in der Kultur verankern: Der Zusammenhang zwischen unternehmerischem Erfolg und neuen Verhaltensweisen wird im Verlauf des Change-Prozesses für die Mitarbeiter und Führungskräfte erkennbar. Die neuen Verhaltensweisen wirken sich auf die Veränderung der Kultur im Unternehmen aus. Diesen Prozess sollte man mit neuen Ritualen festigen. <?page no="387"?> 7.2 Changemanagement 387 7 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Grundfrage zu Beginn einer Veränderungsinitiative lautet für die betroffenen Mitarbeiter und Führungskräfte: Warum sollen wir überhaupt etwas anders machen als bisher? Die Erfahrung hat doch gezeigt, dass das Handeln aller Mitarbeitenden sinnvoll ist, sonst hätte das Unternehmen nicht den derzeitigen Reifegrad erreicht. Nur wenn es gelingt, ein Gefühl der Dringlichkeit zu erzeugen, besteht die Chance, dass die Mitarbeiter der Aufforderung zur Veränderung folgen und die Gelegenheit im positiven Sinne nutzen. Dieser eindeutige Ausgangspunkt für den anstehenden Wandel ist unerlässlich. Hilfsmittel dabei sind externe Impulsgeber, die in einer Mitarbeiterveranstaltung den Blick von außen auf die Organisation und die relevanten Märkte sowie auf Kunden und Wettbewerber werfen. Auch die Zukunftsprognose, was passiert, wenn wir nichts verändern, trägt dazu bei, die Dringlichkeit der in den Blick genommenen Veränderungen zu verdeutlichen. Kotter spricht von mindestens 75 Prozent des Managements und der Führungskräfte, die von der Veränderungsnotwendigkeit überzeugt sein sollten, damit der Change-Prozess erfolgreich initiiert werden kann. 510 Um die Veränderungsinitiative zu starten, ist es erforderlich, eine führende Koalition aufzubauen, in die alle Mitglieder auf Dauer involviert sind. Hierzu zählen Linienmanager, Meinungsführer und wichtige Multiplikatoren wie Betriebsrat oder betriebsinterne Blogger. Mitglieder dieses Veränderungsteams sollten sich durch betriebsinterne Anerkennung und Glaubwürdigkeit sowie durch fachliche Expertise auszeichnen. „In dieser Koalition spielt die Teamfähigkeit und damit auch das wechselseitige Vertrauen eine große Rolle, die durch gemeinsame Aktivitäten wie Workshops, Outdoor-Trainings und Aktivitäten hergestellt beziehungsweise forciert werden müssen. Große ‚Egos‘ sind in einer Führungskoalition eher kontraproduktiv.“ 511 In der Führungskoalition wird die gemeinsame Zielsetzung des Wandels ausformuliert und die Argumentation zum Beispiel in Form eines Leuchtturmfoliensatzes ausgearbeitet. Die Vision des Wandels, die als Zielbild am Horizont zu sehen ist und die Ausformulierung der Strategie, diese Vision zu erreichen, sind der dritte Beschleuniger des Veränderungsvorhabens. In gemeinsamen Sitzungen und Seminaren mit der führenden Koalition entsteht die Vision als ambitioniertes Zukunftsbild, das motivierend wirkt und für die Mitarbeiter und Führungskräfte erstrebenswert ist. Idealerweise kann die Vision in kurzer Zeit und in einfachen bildhaften Worten kommuniziert werden. Sie koordiniert mit ihrer Orientierungswirkung die Aktivitäten des Unternehmens in die gewünschte Richtung. Nur wenn es gelingt, die Vision des Wandels so zu kommunizieren, dass die Mitarbeiter und Führungskräfte als aktive Treiber gewonnen werden, nimmt der Wandel Fahrt auf. 512 Das Empowerment - also die Ermächtigung und Übertragung von Verantwortung - auf breiter Basis stellt einen weiteren wichtigen Beschleuniger des Wandels dar. Nur 510 Siehe hierzu Kotter (1996). 511 Kuhnert & Teuber (2008, S. 5 f). 512 Kotter (2014, S. 94) spricht hier von einer „Armee der Freiwilligen“. Zur Bedeutung der Kommunikation im Changemanagement vergleiche auch Kapitel 7.3. <?page no="388"?> 388 7 Organisation wenn Mitarbeiter und Führungskräfte auch über die Möglichkeiten verfügen, Veränderungen aktiv zu unterstützen, können diese Wirkung in der Breite entfalten. Wichtig ist hier die Reihenfolge: „Zuerst muss die Bereitschaft der Mitarbeitenden geschaffen werden.“ 513 Ein erster Schritt des Empowerments besteht häufig im beiseite räumen von hinderlichen oder bremsenden Rahmenbedingungen. Das können zum Beispiel nicht auf das Change-Ziel einzahlende Anreizsysteme, umständliche Freigabewege und veraltete und nicht zielführende Reportingstrukturen sein. Ein häufig zitiertes Motto in diesem Schritt ist das Schlachten heiliger Kühe. Zusätzlich erfordern Veränderungen im Unternehmen in der Regel auch immer eine Veränderung in der Qualifikation, den Fähigkeiten und Fertigkeiten der Belegschaft. Hier gilt es, sowohl bei der Neubesetzung von Stellen mit der Anpassung der Personalauswahlverfahren zu reagieren, als auch die vorhandene Mitarbeiterschaft durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen wie Trainings, Schulungen, Mentoring oder Hospitationen zu unterstützen, um dadurch die Umsetzung des Wandels anzustoßen. Dabei sollte man nicht nur den Verstand mit konkreten Umsetzungszielen ansprechen, sondern auch das Unbewusste aktivieren. 514 Ziel des Empowerments ist es, neue Gewohnheiten zu institutionalisieren. 515 Um das Momentum der Veränderungen aufrechtzuerhalten, sollte man kurzfristige Ziele ins Auge fassen, um so genannte Quick-Wins zu generieren - also schnelle Resultate, die man mit wenig Aufwand erreichen kann. Gelingt dies, dann können erste Ergebnisse des Wandels kommuniziert und zum Beispiel im Rahmen von Events gefeiert werden. Die Anstrengungen der Mitarbeiterschaft und des Managements sollten durch angemessene Rituale gewürdigt und die gemeinsame Vision weiterverfolgt werden. Eine gute Möglichkeit sind Kaminabende mit dem Vorstand zum Teilen von Quick-Wins oder das Ausloben von First-Mover-Awards. Man sollte Gesprächsstoff für die Erfahrung erzeugen, dass der Wandel in einer positiven Stimmung möglich ist. Viele Veränderungsprojekte scheitern, obwohl bereits erste positive Erfolge zu verzeichnen sind. Die nachhaltige Beschleunigung stellt eine der wesentlichen Herausforderungen im Changemanagement dar. Daher sollte man erzielte Erfolge konsolidieren und weitere Veränderungen ableiten. Die Rückstellreflexe einer Organisation, hin zu einem Organisationszustand, wie er in der Zeit vor dem Wandel vorgeherrscht hat, sind erstaunlich ausgeprägt. Bereits verlernt geglaubte Verhaltensweisen treten immer wieder auf. Indem immer weitere Projekte und Themen abgeleitet werden, wird die im Change gewonnene Glaubwürdigkeit genutzt, um den Wandel zu etwas Alltäglichem werden zu lassen. Regelmäßige Treffen zum Erfahrungsaustauch sowie die Präsenz in betriebsinternen sozialen Medien sind gute Möglichkeiten, das Momentum der Veränderung aufrechtzuerhalten. 513 Adlmaier-Herbst, Storch, Storch & Breiter (2018, S. 17). 514 Sehr hilfreich ist hier die Unterscheidung von Adlmaier-Herbst, Storch, Storch & Breiter (2018, S. 74 ff) in Motto-Ziele und konkrete Ziele. 515 Die Wichtigkeit von neuen Gewohnheiten zur Stabilisierung des Wandels zeigen Heath & Heath (2013, S. 96 f und 233 ff) auf. <?page no="389"?> 7.2 Changemanagement 389 7 Um den Wandel zu verstetigen, muss dieser in der Organisation institutionalisiert werden. Es geht darum, die neuen Gewohnheiten zu stabilisieren. Sie sollten Eingang in die Unternehmenskultur finden. Idealerweise gelingt es, den Zusammenhang zwischen dem unternehmerischen Erfolg und den neuen Verhaltensweisen nachvollziehbar zu machen. Vorhandene Personalentwicklungsprogramme 516 und Gratifikationen müssen überprüft und auf die Zieldimensionen des Wandels angepasst werden. Häufig wird dazu auf eigens entwickelte Teampreise zurückgegriffen, die im direkten Zusammenhang mit den Veränderungsbemühungen stehen. Weiterführende Hinweise Changemanagement wird recht häufig mit geplantem Wandel oder durch Anordnung initiierte Veränderungen gleichgesetzt. In Organisationen gibt es aber auch Tendenzen des ungeplanten Wandels. Ungeplanter Wandel bedeutet, dass Veränderungen verdeckt, unbewusst oder ungewollt ablaufen. Start-up-Unternehmen werden zum Beispiel im Rahmen ihrer Entwicklung nicht nur größer, sondern typischerweise auch formalistischer, wodurch sich neue Strukturen herausbilden, die zumeist nicht intendiert und systematisch geplant sind. Vielfach existieren auch heimliche Spielregeln, informelle Gruppen und Strippenzieher im Hintergrund, 517 die ungeplanten Wandel anstoßen und forcieren können. Diese emergenten Prozesse in Unternehmen sollten ebenso wenig vernachlässigt werden wie die Bedeutung verhaltensorientierter oder kultureller Aspekte. Denn selten scheitern Changemanagement-Projekte an der Umgestaltung der Aufbau- und Ablauforganisation, sondern viel häufiger an den beteiligten Menschen und den entsprechenden Normen, Werten und Verhaltensmustern, die sehr viel träger und widerstandsresistenter sind als Strukturen, Prozesse oder Technologien. Kotter empfiehlt neben der üblichen hierarchischen Struktur in Organisationen, die er das erste Betriebssystem nennt, ein zweites Betriebssystem. Das zweite Betriebssystem ist in Ergänzung zur vorhandenen Linienstruktur eine netzwerkartige Struktur, in der eine „Armee der Freiwilligen“ 518 aus dem gesamten Unternehmen und den verschiedenen Hierarchieebenen eingeladen ist, um nach neuen Lösungen und Ideen für das Gelingen des Wandels zu suchen. Durch diese netzwerkartigen Strukturen verändert sich auch die Art des Projektmanagements für Veränderungsinitiativen. Klassisches Projektmanagement nach der Wasserfallmethode folgt dem linearen Handlungsparadigma. Dieses stößt mit netzwerkartigen Strukturen an seine Grenzen. Hier empfehlen sich insbesondere Methoden aus dem agilen Projektmanagement. 519 516 Als Beispiel sei Action Learning als persönliches und kollektives Entwicklungsprogramm genannt. Vergleiche hierzu Groß (2014, S. 83 ff). 517 Strippenzieher im Hintergrund werden im englischsprachigen Kontext häufig als Hidden Leader bezeichnet (vergleiche zum Beispiel Edinger & Sain 2015). 518 Bei Kotter (2014, S. 29) heißt es wörtlich „build and evolve a guiding coalition“. 519 Vergleiche Franklin (2014) und Laloux (2015). <?page no="390"?> 390 7 Organisation 7.3 Change-Kommunikation Problemstellung: Change-Kommunikation so gestalten, dass nicht nur über Veränderungen im Betrieb informiert wird, sondern auch, dass Change-Kommunikation zum Erfolg des Wandels beiträgt Zielgruppe: Changemanager, Personal- und Organisationsentwickler, alle am Wandel beteiligten Führungskräfte Voraussetzungen: Transparenz der Ziele und der Veränderungsvision sowie offene Kommunikationskultur Zielsetzung der Change-Kommunikation Jeder Wandel ist von Hoffnungen und Befürchtungen geprägt. Diese unterstützen beziehungsweise behindern die Umsetzung der geplanten Veränderungen. Gute Change-Kommunikation trägt dazu bei, dass die Chancen des Wandels für möglichst viele Beteiligte offensichtlich werden. Befürchtungen sind häufig durch nicht-thematisierte Risikopotenziale oder mangelnde Transparenz über Hintergründe und Zielsetzungen verursacht. Gute Change-Kommunikation senkt diese Quote an Störungen deutlich ab. Wie Mitarbeiter auf einen angekündigten Change reagieren ist zwar bezüglich Tempo der Verarbeitung und Intensität der emotionalen Auseinandersetzung individuell verschieden, lässt sich aber wie in Abbildung 148 in einem typischen Prozessablauf beschreiben. Abbildung 148: Individuelle Verarbeitung von Veränderungen 520 520 Modifiziert nach Roth (2000). <?page no="391"?> 7.3 Change-Kommunikation 391 7 Ziel der Change-Kommunikation ist es, trotz der unterschiedlichen Verarbeitungsgeschwindigkeit und Intensität der Veränderungsmitteilung dazu beizutragen, dass die Belegschaft den Wandel mit möglichst geringem Aufwand und guter Produktivität verarbeitet. Deshalb geht Change-Kommunikation aktiv mit Befürchtungen um und nutzt Kritik am Wandel zur weiteren Optimierung des Veränderungsprozesses, sei es durch das Aufarbeiten von blinden Flecken oder durch das Vervollständigen der Informationslage der Mitarbeiter. 521 Beschreibung der Change-Kommunikation Change-Kommunikation stellt nicht nur eine Aufgabe der Unternehmenskommunikation oder des Veränderungskernteams dar, sondern ist Aufgabe aller am Change- Prozess beteiligten Führungskräfte und Mitarbeiter. Im Design der Change-Kommunikation sind an erster Stelle die Inhalte mit dem Management zu erarbeiten, erst im zweiten Schritt geht es um die Instrumente. 522 Change-Kommunikation hat dabei zu integrieren und zu informieren, aber auch zu involvieren und zu implementieren. Abbildung 149 verdeutlicht diese Funktionen einer gelungenen Change-Kommunikation. Mit den klassischen Mitteln der Unternehmenskommunikation wird den Mitarbeitern die Orientierung für den anstehenden Wandel ermöglicht. Durch fortlaufende Informationen sollte man diese Orientierung aufrechterhalten und den Überzeugungsprozess für jeden einzelnen Mitarbeiter vorbereiten. Aus der Psychologie des Überzeugens bekannte Kommunikationsprinzipien lassen sich auf die Gestaltung der Change-Kommunikation übertragen. 523 Abbildung 149: Funktionen von Change-Kommunikation 524 521 Vergleiche Deutinger (2017, S. 55 ff). 522 Deekling & Barghop (2008, S. 26) verdeutlichen diese Überlegung wie folgt: „Ich kümmere mich zunächst um die Inhalte, dann kommen die Instrumente.“ 523 Vergleiche im Überblick Cialdini (2017). 524 Vergleiche Groß (2014, S. 216). <?page no="392"?> 392 7 Organisation Reziprozität beziehungsweise Wechselseitigkeit: Bevor vom Gegenüber etwas gefordert werden kann, sollte das Gegenüber mit einem Geschenk bedacht werden. Ein Geschenk im Vorfeld erhöht die Kooperationsbereitschaft. Dem Mitarbeiter wird beispielsweise zunächst die moderne technische Ausstattung - gegebenenfalls auch für den Privatgebrauch - zur Verfügung gestellt, bevor der Einsatz für die Just-intime-Online-Dokumentation von Kundengesprächen eingefordert wird. Commitment und Konsistenz beziehungsweise Festlegung und Fortsetzung: Wenn eine Entscheidung in Anwesenheit von anderen getroffen wird, ist die Verpflichtung beziehungsweise das Commitment höher, als wenn man die Entscheidung nur für sich alleine trifft. Wird die Entscheidung wiederholt vor anderen vertreten, wird die Überzeugung zur Richtigkeit dieser Entscheidung gefestigt. Dieses grundsätzliche „Ja“ kann systematisch in kleinen Schritten erweitert werden. Zum Beispiel werden in einer Auftaktveranstaltung für die Führungskräfte die Veränderungsziele gemeinsam für den Unternehmensbereich präzisiert und im Rahmen eines verbindlichen Bekenntnisses gemeinschaftliche Unterschriften geleistet. Anschließend wird die Überzeugungsargumentation gegenüber den Mitarbeitern des eigenen Teams im Workshop erarbeitet und die Umsetzung dieser Überzeugungsargumentation in der Workshop-Gruppe terminiert. Sympathie: Menschen lassen sich von Sympathieträgern nachhaltig beeinflussen. Sympathiefördernde Faktoren können dabei äußerliche Attraktivität, Ähnlichkeit oder Komplimente sein. Zum Beispiel findet die Auftaktveranstaltung in der üblichen Arbeitskleidung in der Werkhalle statt, und beliebte Kollegen aus der Produktion berichten über die Veränderungsnotwendigkeit. Autorität: Sowohl positive als auch negative Mitteilungen werden vom Publikum leichter akzeptiert, wenn sie von anerkannten Autoritäten präsentiert werden. Dabei ist zu beachten, dass es keine einseitige und schöngefärbte Präsentation sein darf, sondern dass auch berechtigte Argumente zum eigenen Nachteil benannt werden. Zum Beispiel referiert ein anerkannter Fachwissenschaftler bei der Auftaktveranstaltung über den Handlungsdruck und die Zukunftsunsicherheit der Branche. Dabei werden nicht nur die Chancen eines Wandels thematisiert, sondern bewusst auch die immer vorhandenen Risiken. Knappheit: Möglichkeiten erscheinen umso wertvoller, je weniger erreichbar sie sind. Insbesondere ablaufende Fristen motivieren zur Kooperation. Zum Beispiel werden für eine begrenzte Anzahl von Teams, die als erste die Veränderungsprojekte in Angriff nehmen wollen, besonders umfangreiche Ressourcen zur Verfügung gestellt. Soziale Bewährtheit: Menschen haben die Tendenz, sich am Verhalten anderer zu orientieren, die ihnen entweder aufgrund von Äußerlichkeiten oder aufgrund von Tätigkeiten ähnlich sind. Zum Beispiel wird in der Mitarbeiterzeitschrift dargestellt, dass Prinzipien der Lean Logistik in Supermärkten bereits Alltag sind, bevor die indirekten Bereiche auf Lean Administration umgestellt werden sollen. In der Change-Kommunikation sollte man Informationsvermittlung und Informationsverarbeitung möglichst zeitnah koppeln - wie in Abbildung 150 verdeutlicht -, um <?page no="393"?> 7.3 Change-Kommunikation 393 7 das Momentum des Wandels aufrechtzuerhalten. 525 Nur wenn die Information in ausreichender Güte zur Verfügung steht, kann diese so verarbeitet werden, dass zielführende Umsetzungsoptionen durch die Mitarbeiter und Führungskräfte entstehen. Hohe Qualität der Information entsteht zum einen durch eine professionelle Aufarbeitung - beispielsweise durch die Unternehmenskommunikation -, zum anderen durch die Möglichkeit, Informationsbedürfnisse im direkten Kontakt mit den Veränderungsverantwortlichen zu befriedigen. Um eine solcherart direkte Kommunikation zu ermöglichen, bietet sich der Einsatz von Großgruppenverfahren an. Abbildung 150: Informationsvermittlung und Informationsverarbeitung Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Zukunftskonferenz eignet sich im Rahmen der Planung eines größeren Veränderungsvorhabens. 526 Ihr Ziel ist es, die bei jedem einzelnen Mitarbeiter vorhandene Perspektive auf die Veränderungsnotwendigkeit i n den Prozess der Strategieerarbeitung einzubringen. Sie trägt dazu bei, das ideale Zukunftsszenario - auch in verschiedenen Varianten - zu entwickeln und die Aktionen für das Erreichen dieses Zukunftsszenarios gemeinsam zu erarbeiten und zu planen. Die Durchführung einer Zukunftskonferenz eignet sich auch für Situationen, in denen Veränderungsvorhaben zu stagnieren drohen, da zum Beispiel verschiedene Parteien im Unternehmen gegeneinander arbeiten und die Zeit zur Umsetzung knapp wird. Eine Zukunftskonferenz bietet sich auch an, um ein Unternehmen bei einem bevorstehenden entscheidenden Übergang zum Beispiel in neue Märkte oder Technologien zu unterstützen, indem die Bewusstseinskarte der Gegenwart gemeinsam als Wissensbasis erarbeitet wird. In der Durchführung der Zukunftskonferenz versammeln sich 60-80 möglichst repräsentativ aus- 525 Deutinger (2017, S. 82) empfiehlt den Merksatz: „Von der Information zum Dialog.“ 526 Vergleiche Weisbord & Janoff (2008). <?page no="394"?> 394 7 Organisation gewählte Mitarbeiter für einen zweibis dreitägigen Workshop. Voraussetzung ist die Bereitschaft von Management, Führungskräften und Mitarbeitern, die Unterschiede in Bezug auf persönliche Hintergründe, Sichtweisen und Wertvorstellungen als Chance und Ressource zu sehen, um zur Lösung der Herausforderungen der Organisation beizutragen. In diesem Workshop gilt es, fünf Aufgaben abzuarbeiten: Im ersten Schritt der Überprüfung der Vergangenheit steht die Würdigung des bisher Erreichten im Vordergrund, ohne den Blick vor eventuellen Versäumnissen zu verschließen. Mit dem Abschreiten der Bewusstseinskarte der Gegenwart wird erarbeitet, welche externen Trends wie auf die Organisation wirken und wie die Mitarbeiter und Führungskräfte im Moment auf diese externen Trends reagieren. Spätestens mit dem Erarbeiten des zweiten Schrittes entsteht das Commitment, dass die Teilnehmer der Zukunftskonferenz auch die Akteure der Zukunft sind. Im dritten Schritt werden verschiedene Möglichkeiten eines idealen Zukunftsszenarios erarbeitet, um im vierten Schritt die gemeinsame Wissensbasis zu klären: Wo sind noch Recherchen vonnöten? Wo sind sich die Teilnehmer der Zukunftskonferenz über ihre Wissensbasis bereits sicher? Auf dieser Grundlage kann im fünften Schritt die Aktionsplanung erfolgen. Der Erfolg einer Zukunftskonferenz hängt insbesondere davon ab, ob sich alle Beteiligten als Teilnehmer eines gemeinsamen Lernraumes erleben, in dem es um eine gemeinsame Wissensbasis geht, auf deren Grundlage die Aktionspläne entstehen. Es geht darum, das Potenzial aufzudecken, das bereits im Unternehmen existiert. Wird dieses Potenzial wahrgenommen und akzeptiert, dann entsteht daraus die Dynamik zur nachhaltigen Umsetzung der Aktionspläne. Ist ein Veränderungsprozess in einer Organisation gestartet, dann stellt die Open Space Technology eine Methode zur Anpassung der Umsetzung der Veränderungsinhalte dar. 527 Aufgrund ihres hohen Selbstorganisationscharakters ist sie nicht für stark gelenkte Umsetzungen von Veränderungsinhalten geeignet. Der große Vorteil der Open Space Technology ist, dass mit ihrer Hilfe auch große Gruppen bis etwa 2.000 Personen in kleinen Diskussionsrunden zu selbst gewählten Themen reflektieren, diskutieren und Ergebnisse erzeugen können. Da weder Tagesordnung, Redner noch Aufgaben im einbis dreitägigen Open Space im Voraus festgelegt sind, bekommen die Themen und Fragestellungen Aufmerksamkeit, die aus Sicht der Teilnehmer tatsächlich relevant sind. Der Ablauf einer Open Space-Konferenz startet in einer offenen Runde mit allen Teilnehmern, die bei Bedarf in konzentrischen Kreisen sitzen. Nach und nach treten diejenigen Teilnehmer in die Mitte, die ein Thema einbringen und besprechen wollen. Sie stellen das Thema kurz vor und notieren es auf einem Plakat. Sobald alle Themen vorgestellt sind, werden diese in eine zeitliche Abfolge mit parallelen Arbeitssitzungen gebracht, die eine Dauer von etwa 60-90 Minuten haben. Die Arbeitsgruppen sind angehalten, am Ende ihrer Sitzungen einen kurzen Bericht für die Tagungsdokumentation zu verfassen. Um die Selbstorganisation der Teilnehmer zu fördern und die Akti- 527 Zur Open Space Technology vergleiche ausführlich Owen (2011). <?page no="395"?> 7.3 Change-Kommunikation 395 7 vitäten der Teilnehmer auf die Themen zu lenken, die von Interesse sind, kann man sich an vier Grundprinzipien orientieren: Jeder Teilnehmer ist immer die richtige Person: Es sind immer die Personen in einer Arbeitsgruppe, die für das Thema wichtig sind. Es geht nicht um die größtmögliche Anzahl an Teilnehmern. Wenn niemand in eine Arbeitsgruppe kommt, hat der Themengeber die Möglichkeit, selbst am Thema weiterzuarbeiten. Das, was geschieht, ist das Einzige, was geschehen kann: Es geht nicht darum, was noch möglich wäre. Der Fokus liegt auf dem Augenblick und seiner Potenzialität. Das Event startet immer zur rechten Zeit. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei: Es geht darum, mit voller Energie am Thema zu arbeiten. Das kann deutlich schneller, aber auch deutlich langsamer gehen als geplant. Im letzteren Fall nimmt die Arbeitsgruppe zwei oder drei Zeitspannen für sich in Anspruch. Hierüber entscheiden die Teilnehmer. Gesetz der zwei Füße: Jeder Teilnehmer entscheidet für sich selbst, ob er in der Arbeitsgruppe noch etwas beitragen oder lernen kann. Falls nicht, sollte er die Arbeitsgruppe verlassen und sich einem weiteren Thema zuwenden. Nur der Teilnehmer selbst kann die Verantwortung für sich tragen. Der Ertrag einer Open Space-Konferenz besteht aus einer Vielzahl an Arbeitsergebnissen, die durch Just-in-time-Dokumentationen für alle Teilnehmer transparent sind. Die Methode des World Café kann man immer dann einsetzen, wenn Themen aus der Sicht von ganz unterschiedlichen Teilnehmern vertieft werden sollen. 528 Ähnlich wie in einem Kaffeehaus sind zahlreiche Thementische angeordnet, die entweder über beschreibbare Tischunterlagen oder Pinnwände für Notizen verfügen. Zu Beginn des World Cafés werden die vorhandenen Fragestellungen gesammelt und auf die verfügbaren Tische verteilt. Ziel ist es, die Themen in kleinen Tischrunden mit sechs bis neun Personen über einen Zeitraum von etwa 20 bis 40 Minuten zu diskutieren - und dies mit Blick auf Problemeingrenzungen, Handlungsplanungen oder Veränderungsinitiativen. Um möglichst viele Facetten des Tischthemas zu beleuchten, wechseln die Tischgäste nach 20 bis 40 Minuten an einen weiteren Thementisch. Dieser Wechsel findet zweibis viermal statt. Danach ist in der Regel der Grenznutzen der Themenbearbeitung erreicht. Um die Gesprächsatmosphäre offen und zugewandt zu halten, verfügt jeder Tisch über einen Gastgeber. Dieser erinnert die Teilnehmer auch an die Dokumentation der Gesprächsatmosphäre und gestaltet beim Wechsel der Teilnehmenden am Tisch den Übergang. Der Gastgeber ist jedoch nicht in der Rolle eines klassischen Moderators für die Gesprächsführung zuständig. Zum Abschluss des World Cafés stellen die Gastgeber die Gesprächsergebnisse ihres Tisches im Plenum kurz vor. Weiterführende Hinweise Change-Kommunikation im Sinne eines dialogischen Prozesses findet immer dann Anwendung, wenn die Mitarbeiter und Führungskräfte von der Geschäftsführung und 528 Zum World Café vergleiche ausführlich Brown & Isaacs (2007). <?page no="396"?> 396 7 Organisation dem Management zu einer aktiven Mitgestaltung des Wandels eingeladen werden sollen. Diese Einladung zur Mitwirkung ist nur dann motivierend für die Belegschaft, wenn Zielrichtung und Vision des Wandels eindeutig und klar sind. 529 Daher ist zu Beginn der Change-Kommunikation darauf zu achten, dass das Management die Veränderungsziele nachvollziehbar vermittelt beziehungsweise vermitteln kann. Auf der Grundlage der Change-Vision und des zur Verfügung stehenden Zeit- und Ressourcenrahmens, kann die Change-Kommunikation im Veränderungsteam konzipiert werden. Es ist zu klären, in welchem zeitlichen Umfang und in welcher inhaltlichen Intensität die Belegschaft in den Wandel involviert werden soll. Häufig steckt die vorhandene Unternehmenskultur dazu einen Rahmen ab. Im Verlauf der Veränderung kann auch die vorhandene Unternehmenskultur ein Handlungsfeld werden, sodass man diesen zunächst vorgegebenen Rahmen gegebenenfalls neu definiert. Abbildung 151: Kommunikationsinstrumente bei partizipativer Implementierungsstratgie 530 Im Unterschied zum klassischen Projektmanagement, sind Veränderungsvorhaben dadurch gekennzeichnet, dass der Weg zum Ziel anfänglich nicht bekannt ist. Entsprechend sollte man die Change-Kommunikation konzipieren. Anstelle eines Wasserfallprinzips ist daher ein stärker iteratives Vorgehen für die Change-Kommunikation zu wählen - unter Berücksichtigung unterschiedlicher Instrumente, wie in Abbildung 151 verdeutlicht. Die Nutzung von Sounding Boards - also von Reflexionsgremien, die wie Seismographen des Wandels funktionieren - stellt eine Möglichkeit dar, um das Ohr an die Organisation zu legen. Zum Sounding Board werden unterschiedliche Gruppen von Mitarbeitern von Zeit zu Zeit durch das Veränderungsteam einge- 529 Deutinger (2017, S. 102) empfiehlt als Vision kein laut Handbuch formal korrektes Vision Statement, sondern einen Traum. Einen Traum, „der kraftvoll genug ist, alle mitzunehmen“. 530 Modifiziert nach Brehm (2009, S. 332). <?page no="397"?> 7.3 Change-Kommunikation 397 7 laden, um Feedback über den Wandel und die Change-Kommunikation zu erhalten. Die regelmäßige Durchführung von Townhall Meetings - also von groß angelegten Mitarbeiterversammlungen - ermöglicht es dem Management, direkt und zeitnah auf Fragen zum Wandel einzugehen und zum Beispiel in Form des World Cafés erste Brainstormings und Resonanzen zu einzelnen Themen einzuholen. Die Nutzung des Intranets mit Frequently Asked Questions, so genannten FAQs, und Diskussionsforen zum Wandel ermöglichen, blinde Flecken der Change-Kommunikation aufzudecken und zu beseitigen und Sachinformationen und Argumente zu vertiefen. Durch regelmäßige niedrigschwellige Gesprächsangebote wie Kaffeerunden mit einem Manager in überschaubarer Runde können die zur Verfügung gestellten Informationen zum Wandel im Dialog vertieft und in konkrete Verhaltensweisen umgesetzt werden. Wichtig ist bei allen Kommunikationsformen der Dialog auf Augenhöhe mit dem Mitarbeiter. Denn die Experten für die Umsetzung der Veränderungen sind die Mitarbeiter, nicht die Führungskräfte. Ungeachtet dessen kommt den direkten Führungskräften bei der Change-Kommunikation eine entscheidende Rolle zu. Sie sind für die Mitarbeiter erster Anlaufpunkt für Fragen. Sie nehmen Irritationen zum Wandel früh war. Sie sprechen die Sprache der Mitarbeiter und tragen entscheidend dazu bei, die Veränderungsinhalte in die Arbeitswelt der Mitarbeiter zu übersetzen. Der Erfolg von Informations- und Dialogveranstaltungen zum Wandel hängt entscheidend von den direkten Führungskräften ab. Folglich ist in der Change-Kommunikation darauf zu achten, dass die direkten Führungskräfte zeitlich vor der Mitarbeiterschaft in den Prozess involviert werden. Nur dann können sie in ihrer Funktion als Führungskraft den Wandel produktiv mitgestalten. Führungskräfte und Management sind es gewohnt, regelmäßig über Veränderungen in der Organisation zu informieren. Dieser Informationsprozess wird häufig mit Kommunikation gleichgesetzt. Gerade mit Blick auf die Change-Kommunikation ist darauf zu achten, dass dieser einseitige Informationsprozess durch Kommunikation als zweiseitiger Prozess ergänzt wird. Nur wenn Change-Kommunikation als Dialog stattfindet, besteht die Chance, dass die Belegschaft den Veränderungsprozess zu ihrem eigenen Anliegen macht und sich damit zum Wandel verpflichtet. Der Dialog setzt dabei voraus, dass das Management bereit ist, die Deutungshoheit über die Kommunikation mit der Belegschaft zu teilen. Ferner ist zu beachten, dass Kommunikation ein iterativer Prozess ist, wobei sich mit jeder weiteren Iteration das gemeinsame Verständnis erweitert. Das Management ist bei der Planung von Change-Kommunikation auf diesen iterativen und dialogischen Charakter der Change-Kommunikation einzustellen. 531 Die Emotionalität in Veränderungsprozessen weist Analogien zu emotionalen Prozessen auf, die beispielsweise in der Trauerarbeit nach dem Verlust eines Angehörigen stattfinden. Da der Umgang mit Emotionalität häufig ein ungeübtes Feld in der Führungsarbeit ist, kann es in der Change-Kommunikation hilfreich sein, externe Moderatoren mit an Bord zu nehmen. Es können Fragen auftauchen wie: Weshalb kann 531 Vergleiche Doppler & Voigt (2018, S. 84 ff). <?page no="398"?> 398 7 Organisation nicht einfach alles so bleiben wie es ist? Können wir einander vertrauen? Können wir uns nicht noch etwas Zeit lassen? Häufig sind diese Fragen Signale eines aktiven Verarbeitungsprozesses des Mitarbeiters und zielen nicht darauf ab, Antworten der direkten Führungskraft zu provozieren. Die Art und Weise der Change-Kommunikation durch die Change-Verantwortlichen bestimmt, inwiefern die Change-Kultur für die Mitarbeiter greifbar wird. Wenn die Art und Weise des Wandels - das Wie - mit dem Inhalt des Wandels - das Was - kongruent ist, werden die Veränderungsbemühungen durch die Change-Kommunikation unterstützt und gefördert. Stimmen Art und Weise des Wandels nur wenig mit dem Inhalt des Wandels überein, dann verzögert die niedrige Kongruenz das Veränderungstempo und wirkt kontraproduktiv auf die Veränderungsbereitschaft. Gute Change-Kommunikation und gutes Changemanagement bestehen nicht nur aus Floskeln und Verlautbarungen, sondern lassen stets erkennen, dass Worten Taten folgen. 532 532 Vergleiche Deutinger (2017, S. 41 ff). <?page no="399"?> 7 7.4 Lean Administration Problemstellung: Qualität und Effizienz der Verwaltungsprozesse erhöhen Zielgruppe: Chief Operation Officer, kaufmännischer Geschäftsführer, Abteilungsleiter im kaufmännischen Bereich Voraussetzungen: Bereitschaft zur Übertragung von Verantwortung an Mitarbeiter sowie hinreichende Mitarbeiterqualifikation und Unterstützung durch die oberste Führungsebene Zielsetzung von Lean Administration In den Verwaltungsbereichen von Organisationen wird von fast 30 Prozent Verschwendung ausgegangen. Es stellt sich daher nicht mehr die Frage, ob sich Unternehmen mit dem Lean-Ansatz, der im Bereich der Produktion bekannt ist, auch in den indirekten Bereichen auseinandersetzen sollen. Vielmehr ist nur noch zu klären, wie die Prozessoptimierung in der Administration gestaltet werden kann. Lean Administration, auch Lean Office genannt, überträgt das Vorgehen des in Kapitel 3.10 beschriebenen Toyota Produktionssystems auf die Verwaltung und den administrativen Bereich. Ziele sind die Steigerung der Effektivität und Effizienz, die Verminderung des Ressourceneinsatzes sowie kontinuierliche Optimierungen der Prozesse, insbesondere auch in abteilungsübergreifenden Prozessen. Der Lean-Philosophie folgend bildet die Vermeidung von Verschwendung den Hauptansatzpunkt. Die in Abbildung 152 aufgeführten sieben Verschwendungsarten im Büro werden dazu in konkreten Arbeitsabläufen systematisch identifiziert, analysiert und minimiert. Dadurch können die Bearbeitungs- und Durchlaufzeiten vermindert und die Qualität der Bearbeitung signifikant gesteigert werden. Da die Mitarbeiter selbst aktiv an der Prozessoptimierung mitgestalten, wird das Engagement und die Verpflichtung der Mitarbeiter gesteigert, ihren Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung zu leisten. Beschreibung von Lean Administration Lean Administration wendet das Toyota Produktionssystem auf die Arbeitsvorgänge in der Verwaltung an. Die Grundidee folgt dem Ansatz des Empowerments. 533 Die Mitarbeiter wissen am besten über Probleme und Störungen in ihren Arbeitsprozessen Bescheid. Sie sind die Experten für den Workflow. Lean Administration unterstützt die Mitarbeiter, das Gefühl der Kontrolle über ihren Arbeitsprozess wieder beziehungsweise neu zu erlangen. Dadurch entsteht Motivation, die weitere Optimierung und Effizienzsteigerung des einzelnen Vorgangs oder der gesamten Prozesskette in Angriff zu nehmen. Lean Administration stellt hierfür ein Bündel an Methoden zur Verfügung, die es den Mitarbeitern ermöglichen, ihre Arbeit schlanker, das heißt, mit weniger Ressourceneinsatz wie Arbeitszeit, Arbeitsraum, Transportwege oder Schnitt- 533 Vergleiche Rappaport, Swift & Hess (1984, S. 3 ff). 7.4 Lean Administration 399 <?page no="400"?> 400 7 Organisation Abbildung 152: Die sieben Verschwendungsarten im Büro 534 stellen zu gestalten, ohne den Blick auf die vom Kunden gewünschte Qualität zu vernachlässigen. Ausgangspunkt der Optimierung ist eine detaillierte Beschreibung aller vorhandenen Prozesse und Arbeitsschritte. Abbildung 153: Prozessmapping 535 534 Vergleiche George (2003, S. 259 ff). 535 Modifiziert nach Roth (2000). <?page no="401"?> 7.4 Lean Administration 401 7 Wie in Abbildung 153 verdeutlicht, stellt das Prozessmapping die Visualisierung des vorhandenen Workflows inklusive Bearbeitungs- und Durchlaufzeiten dar. In Form von kurzen Workshops wird dieser vom Team selbst erarbeitet. Der Ablauf eines einzelnen administrativen Vorgangs - von der Veranlassung bis hin zur Erledigung über alle Arbeitsschritte und alle Beteiligten hinweg - wird von den Mitarbeitern festgehalten. Erforderliche Entscheidungen und Formulare werden dokumentiert und sowohl Bearbeitungszeiten als auch Durchlaufzeiten erfasst. Bereits während der Erfassung der Arbeitsschritte im Ist-Zustand werden Probleme dokumentiert und in Form von Blitzen - so genannten Kaizen-Blitzen - visualisiert. Die während des Prozessmappings auftauchenden Verbesserungsideen werden mitnotiert, ohne sie bereits während des Prozessmappings näher zu reflektieren. Im Anschluss an die Dokumentation des Ist-Zustandes findet die Priorisierung der Kaizen-Blitze statt. Im Sinne des in Kapitel 7.2 beschriebenen Changemanagements empfiehlt es sich, die Priorisierung nach Höhe des Aufwands für die Optimierung vorzunehmen, um rasche Umsetzungserfolge erzielen zu können. Die einzelnen Kaizen-Blitze werden konsekutiv im Team bearbeitet - unter Berücksichtigung folgender Fragen: Welche Möglichkeiten haben wir, diesen Arbeitsschritt eleganter, das heißt, mit weniger Aufwand zu gestalten? Können wir einzelne Übergabestellen eliminieren? Wo klaffen Bearbeitungs- und Durchlaufzeiten weit auseinander? Womit können wir die Durchlaufzeit verringern? Es wird entschieden, mit welcher Verbesserungsidee die Umsetzung getestet wird. Gleichzeitig wird festgehalten, anhand welcher Kennzahlen - wie Fehlerquote, Häufigkeit von Rückfragen oder Durchlaufzeiten - die erfolgreiche Umsetzung bewertet wird. Dann erfolgt die Umsetzung auf Probe - immer unter der Maßgabe, dass während der Umsetzung weitere Erfahrungen mit diesem Arbeitsschritt gemacht werden, welche die weiteren Optimierungsideen maßgeblich beeinflussen können. Es gibt demnach keine Fehler bei der Umsetzung von Verbesserungsideen, sondern nur Lernerfahrungen aus der Erprobung der Optimierungsoptionen. Prinzipielle Ansatzpunkte zur Prozessverbesserung stellen die häufigen Wechsel der Zuständigkeiten und der Umfang der einzelnen Arbeitsschritte je Zuständigkeit dar. Gelingt es, durch die Ausweitung der Zuständigkeit die Anzahl der Wechsel zu reduzieren, führt dies zu weniger Kontaktstellen im Prozess und zu schnelleren Durchlaufzeiten. Weichen die Durchlaufzeiten stark von den Bearbeitungszeiten ab, bieten zum Beispiel die Reduktion der zu bearbeitenden Losgrößen oder die Umstellung auf das First-In-First-Outbeziehungsweise FIFO-Prinzip mögliche Ansatzpunkte. Die Freigabe und Unterzeichnung von Vertragsunterlagen stellt vielfach ein leicht zu realisierendes Verbesserungspotenzial dar. Aus Gewohnheit wandert die Unterschriftenmappe - elektronisch oder in Papierform - über zahlreiche Stationen durch das Unternehmen. Teils zur Information, teils zur Zustimmung und Unterschrift. Hierbei klaffen Bearbeitungszeit - wie Prüfung und Unterschrift - und Durchlaufzeit - zwei Arbeitstage zur Bearbeitung des Posteingangs - rasch um den Faktor zehn auseinander. Werden die beiden Arbeitsschritte entzerrt und das Vorgehen auf ein Selbstbedienungssystem umgestellt - man holt sich die Freigabe beziehungsweise Unterschrift direkt bei der zuständigen Person -, kann die Durchlaufzeit von 10-20 Arbeitstagen auf zwei bis drei Arbeitstage gesenkt werden. <?page no="402"?> 402 7 Organisation Die 5S-Methode nimmt die Aspekte Sortieren, Systematisieren, Säubern, Standardisieren und Selbstdisziplin in den Blick. 536 Mit diesem Vorgehen werden in der Produktion die Arbeitsplätze entsprechend übersichtlich und funktionsfähig gehalten. Es bietet sich als Optimierungsstrategie insbesondere für Arbeitsplätze mit sich häufig wiederholenden Arbeitsvorgängen und für gemeinschaftlich genutzte Flächen und Arbeitsmittel wie Besprechungsräume und Materiallager an. Der Optimierungsprozess orientiert sich dabei an den Kriterien Effizienz und Wirtschaftlichkeit, höchste Qualität, Ordnung und Sauberkeit sowie Ergonomie. In der Umsetzung empfiehlt sich ein schrittweises Vorgehen: Sortieren: Was wird für die laufende Tagesarbeit direkt auf dem Schreibtisch oder in unmittelbarer Reichweite benötigt? Gibt es Unnötiges und Überflüssiges, das man wegwerfen, verschenken, vom Arbeitsplatz entfernen oder in einer gemeinsam genutzten Lagerstätte deponieren kann? Systematisieren: Sichtbare Ordnung mit festen und eindeutigen Standorten, transparenter Beschriftung und visuellem Management entscheidet über Nutzungsquote und Nachhaltigkeit der Vereinbarungen. Säubern: Den Arbeitsplatz und das direkte Umfeld sauber halten. Nicht voll funktionsfähiges Material wie Kugelschreiber, Filzstifte, Tastaturen, veraltete Checklisten und Nachschlagewerke stellen Abfall dar. Standardisieren: Der Schreibtisch und alles was dazugehört - Ablagen, Ordner oder Büroeinrichtungen - werden häufig als privater Gestaltungsspielraum der Mitarbeiter betrachtet. Durch die Einführung von Standards wird die Orientierung für alle Mitarbeiter im Team erleichtert. Dies gilt insbesondere auch für Standards in der Kommunikation. Zudem steigern Standards die Robustheit von Prozessen. Hier kann die Einführung des Pull-Prinzips im Sinne der in Kapitel 3.6 erörterten Kanban-Methode große Effizienzpotentiale realisieren. Selbstdisziplin: Die Einführung von regelmäßigen Verbesserungsritualen in Form von Peerbeziehungsweise Teamreviews, Teamaktionen und Lean-Audits tragen dazu bei, die 5S auch bei sich verändernden Arbeitsweisen regelmäßig zu aktualisieren. Die in Abbildung 154 illustrierte Verbesserungs-Kata stellt die strukturierte Routine dar, mit der die Verbesserung der administrativen Prozesse durch wiederholte Anwendung schrittweise vorangetrieben werden kann. Sie eignet sich für alle Herausforderungen, die nur in mehreren Schritten erreicht werden können. Voraussetzung für den Einstieg in die Verbesserungs-Kata 537 ist das Wissen aller Beteiligten um die langfristige Zielsetzung beziehungsweise die Vision des Optimierungsprozesses. Daraus abgeleitet ist, ausgehend vom aktuellen Ist-Zustand, der nächste Ziel-Zustand auf dem Entwicklungsprozess hin zur langfristigen Zielsetzung zu definieren. Die aktuelle Wissensgrenze wird durch Prozessbeobachtung exploriert 536 Vergleiche Thieme & Panskus (2008). 537 Vergleiche Aulinger & Rother (2017, S. 25 f) sowie Rother & May (2019). <?page no="403"?> 7.4 Lean Administration 403 7 Abbildung 154: Verbesserungs-Kata und gemeinsam mit dem Kata-Coach definiert. Mit Blick auf den nächsten Ziel-Zustand werden die Experimente geplant, mit denen der Weg zum nächsten Ziel-Zustand erforscht und realisiert werden soll. Folgende Leitfragen haben sich dazu in der Planungsphase der Verbesserungs-Kata bewährt: Wie genau stellt sich unser Ist-Zustand dar? Wie genau stellt sich unser Ziel-Zustand dar? Was steht zwischen dem Ist- und dem Ziel-Zustand? Ist dieses Hindernis in seiner Tiefe verstanden? Was muss der nächste Schritt sein? Was können wir tun, um dieses Hindernis zu überwinden? Welchen Effekt in Bezug auf den nächsten Ziel-Zustand erhoffen wir uns daraus? Im zweiten Schritt, der Realisierungsphase der Verbesserungs-Kata, geht es darum - vergleichbar mit dem Vorgehen in einem wissenschaftlichen Experiment 538 oder einem PDCA-Zyklus 539 -, das geplante Vorgehen zu erproben. Denkbare Leitfragen wären hier: Sind die prognostizierten Effekte eingetreten? Wie bewerten wir die Wirkung der Verbesserungsmaßnahme bezüglich der Zielerreichung? Was haben wir für den darauffolgenden Verbesserungsdurchgang gelernt? Daran anknüpfend wird die nächste Verbesserungs-Kata in Angriff genommen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Prozessoptimierung und Effizienzsteigerung sind im Bereich der Produktion schon lange Alltag. Der Druck auf die Kosten und den Ressourcenaufwand im administrativen Bereich steigt ebenfalls an. Spätestens bei der Einführung EDV-gestützter Workflows stellt sich die Frage nach schlanken Prozessen in der Verwaltung. Mit Lean Administration kann dieser Handlungsdruck produktiv und nach vorne gerichtet aufge- 538 Hierbei handelt es sich um ein methodisch fundiertes Vorgehen, mit dessen Hilfe man versucht, die begründeten Vorannahmen zu bestätigen oder treffendere Vorannahmen zu erarbeiten. 539 Der PDCA-Zyklus wird auch Demingkreis genannt. Das Akronym PDCA setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Wörter Plan, Do, Check und Act zusammen. <?page no="404"?> 404 7 Organisation nommen werden. In einem Kick-off-Workshop werden alle Mitarbeiter in den Verbesserungsprozess eingebunden. Dabei hat sich folgende Agenda bewährt: Grundverständnis für Optimierung als alltäglicher Betriebszustand, Wissen um mögliche Ansatzpunkte, Entscheidung für priorisierte Erprobungsfelder, Erlernen der Verbesserungs-Kata. Mit Hilfe von erlebnisorientierten Übungen gilt es, für die Grundhaltung des Kaizen - der Veränderung zum Guten - zu sensibilisieren. Häufig werden Themen wie Standardisierung und Systematisierung als Vorgaben empfunden, die den Handlungsspielraum des Mitarbeiters einschränken. Infolgedessen ist es bei der Einführung von Lean Administration wichtig, den Mitarbeitern die dahinterliegenden Grundhaltungen und Werte - am besten in Form eines praxisnahen Start-Workshops - nachvollziehbar zu vermitteln. Denn nur wenn die Mitarbeiter von den Vorteilen einer Lean Administration-Geisteshaltung beziehungsweise einer Lean Administration-Mentalität überzeugt sind, werden sie den Verbesserungsprozess, der naturgemäß mit Rückschlägen oder Lernschleifen verbunden ist, auch engagiert realisieren. Das heißt, Mitarbeiter sollten die Optimierung als alltäglichen Betriebszustand akzeptieren und die damit verknüpften Vorteile für das persönliche Arbeitsverhalten erkennen, damit der Verbesserungsprozess auf Dauer wirkungsvoll ist. Zusätzlich ist darauf zu achten, dass Lean Administration nicht zum Abbau von Personalkapazitäten oder verbesserter Kontrolle von Mitarbeitern anhand transparenter Prozesskennziffern eingeführt wird, sondern ausschließlich, um die Arbeitsprozesse mit der Expertise der Mitarbeiter einfacher, robuster und schlanker zu gestalten. Erfahrungsgemäß tritt die Erkenntnis, dass Lean Administration auch Vorteile für den Mitarbeiter bietet, bereits bei der Themensammlung im Rahmen des Kick-off-Workshops auf, wenn es darum geht, welche Prozesse im Detail beleuchtet werden sollen. Von den Mitarbeitern werden in der Regel jene Prozesse thematisiert, die häufig für Unzufriedenheit oder Konflikte sorgen. Nachdem definiert wurde, welche Vorgänge mithilfe des Prozessmappings bearbeitet werden sollen, werden am Ende des Kick-off-Workshops Gruppen mit etwa drei bis fünf Teilnehmern gebildet, die in der Zeit bis zum nächsten Workshop jeweils ein Prozessmapping erstellen. In der Praxis hat es sich in der Einführungsphase bewährt, jeder einzelnen Arbeitsgruppe für das Prozessmapping einen Coach zur Verfügung zu stellen. Im zweiten Workshop stellen die Teams die Ergebnisse ihrer Prozessmappings sowie mögliche Optimierungsoptionen vor. Die Workshop-Gruppe ergänzt das vorliegende Prozessmapping mit weiteren Perspektiven. Gegebenenfalls muss man das Prozessmapping in einer weiteren Kleingruppenphase verfeinern. Um die ersten Lernschritte möglichst ohne negative Auswirkungen auf andere Mitarbeiter machen zu können, empfiehlt es sich, mit dem Arbeitsplatz des einzelnen Mitarbeiters zu starten - so genanntes Punkt-Kaizen. Mit zunehmender Lean-Kompetenz können im zweiten Schritt Prozessketten in den Blick genommen werden - so genanntes Prozess-Kaizen. Erst bei ausgeprägter Lean Administration-Erfahrung ist es <?page no="405"?> 7.4 Lean Administration 405 7 ratsam, in Bezug auf das gesamte System Betrieb zum Beispiel mit einer Optimierung der vorhandenen IT-Infrastruktur in eine Verbesserungs-Kata zu gehen. Dies bezeichnet man als System-Kaizen. 540 Liegen ausreichende Erkenntnisse für das Erproben einer Optimierungsoption vor, wird diese im Workshop-Team vereinbart. Zudem werden die entsprechenden Prozesskennzahlen erarbeitet und festgelegt. Anschließend wird die Erprobungsdauer bestimmt. Das für den Prozess verantwortliche Team führt die Optimierung in der Mitarbeiterschaft ein und berichtet im darauffolgenden Workshop über die Wirkungen der Optimierung. Der Struktur des PDCA-Zyklus folgend ergibt sich daraus ein iteratives Vorgehen im Wechsel zwischen Workshops und Erprobungsphasen. Mit zunehmender Lernerfahrung der Mitarbeiter kann die Unterstützung durch den Coach reduziert werden. Weiterführende Hinweise Zeitknappheit stellt ein häufiges Problem im Rahmen der Einführung von Lean Administration dar. Da es beim Erlernen der Verbesserungs-Kata um das Verlernen gewohnter Denkmuster und das Erproben neuer Denkmuster im betrieblichen Alltag geht, spielt die Zeit zum Umlernen eine wesentliche Rolle. Nur wenn die Bereitschaft für diese Zeitinvestition vorhanden ist, bietet sich die Einführung von Lean Administration an. Für typische Turnaround-Situationen wie Sanierungen ist dieses Optimierungsvorgehen aufgrund seiner eher mittelfristigen Wirkung jedoch ungeeignet. Wird der Versuch unternommen, Lean Administration zur Vorbereitung eines Stellenabbaus einzusetzen, verliert die Methode rasch an Wirkung. Nur wenn für die durch die Optimierung freiwerdenden Kapazitäten sinnvolle Einsatzfelder - wie gesteigerte Vertriebsaktivitäten, verbesserter Kundenservice oder beschleunigte Produktneuentwicklungen - in Aussicht stehen, werden Mitarbeiter beim Vermeiden von Verschwendung und der Suche nach mehr Effizienz und Effektivität aktiv mitwirken. Bei der Einführung von Lean Administration sollte man darauf achten, dass der Fokus nicht nur auf der neuen Optimierungstechnik liegt. Vielmehr sollte die neue Art, gemeinsam und lösungsfokussiert zu lernen, im Vordergrund stehen. 541 Es geht am Anfang des Einführungsprozesses insbesondere darum, die Verbesserungs-Kata als Grundhaltung in einer Organisation zu implementieren. Daher ist zu Beginn - bei der Entscheidung für priorisierte Erprobungsfelder - das Kriterium, wo am einfachsten und schnellsten die besten Lernerfahrungen gemacht werden können, höher zu gewichten, als die üblichen Kosten-Nutzen-Überlegungen. Zudem muss bei der Anwendung von Lean Administration der abnehmende Grenznutzen der Optimierungsbemühungen beachtet werden. Schließlich sollte man mit Blick auf die Robustheit der Betriebsorganisation das Lean-Konzept nicht fehlinterpretieren: Denn lean bedeutet schlank, aber nicht mager. 540 Vergleiche Wiegand (2009, S. 54 ff). 541 Vertiefende Hinweise zum lösungsfokussierten Vorgehen bei der Einführung von Lean Administration finden sich bei Teuber & Heizmann (2006). <?page no="407"?> 8 Personal <?page no="408"?> 408 8 Personal Unternehmen haben im Zuge der so genannten dritten industriellen Revolution ihren Automatisierungs- und Technisierungsgrad signifikant erhöht. Im Mittelpunkt der vierten industriellen Revolution, die mit der griffigen Formel Industrie 4.0 umschrieben wird, 542 stehen die zunehmende Digitalisierung und die damit einhergehende Vernetzung von Maschinen und Systemen. Unabhängig davon, wie man diesen Megatrend bewertet und in der alltäglichen Unternehmenspraxis berücksichtigt, werden marktwirtschaftlich ausgerichtete Organisationen auch in absehbarer Zukunft nicht durchgängig automatisiert und digitalisiert sein. Das heißt, der Mensch bleibt ein wichtiger Faktor - ein Produktionsfaktor besonderer Art, der vielfach den entscheidenden Wettbewerbsvorsprung sichert. 543 Für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen ist es daher wichtig, zunächst Mitarbeiter für den Betrieb zu gewinnen, um dann die Passung zwischen betrieblicher Aufgabe und vorhandenen Kompetenzen von Mitarbeitern herzustellen und zu entwickeln, um schließlich am Ende der Zusammenarbeit so auseinanderzugehen, dass das Ansehen des Unternehmens und damit die Arbeitgebermarke keinen Schaden nehmen. Dies ist insofern bedeutsam, als Unternehmen seit vielen Jahren um die besten Talente konkurrieren müssen. Dieser im Jahr 1997 von der Unternehmensberatung McKinsey beschriebene „War for Talents“ 544 wird durch die aktuelle demografische Entwicklung noch verstärkt. Das heißt, für Unternehmen wird es immer mehr zu einer Herausforderung, geeignetes und für zukünftige Aufgaben qualifiziertes Personal zu finden. Daher rückt die Marke des Unternehmens, die so genannte Employer Brand, in den Vordergrund. Denn das Image eines Unternehmens ist aus der Sicht eines potenziellen Mitarbeiters ein wesentliches Selektions- und Entscheidungskriterium. Dies gilt sowohl für Berufseinsteiger von Schulen oder Hochschulen, als auch für berufserfahrene Kräfte am Arbeitsmarkt. Über Bewertungsplattformen im Internet sind unter anderem die tatsächlich gelebten Unternehmenswerte, die Mitarbeiterzufriedenheit oder die Entlohnungs- und Aufstiegsmöglichkeiten transparent und somit vergleichbar. Die hier vor allem in den Mittelpunkt rückenden „Digital Natives“ 545 , die mit Internet, iPad und Smartphone aufgewachsen sind, verarbeiten und bewerten nicht nur auf Facebook, Instagram oder YouTube Informationen in Sekundenschnelle, sondern auch auf IT-basierten Bewerberplattformen. Insofern müssen Unternehmen nicht nur die richtigen Kommunikationskanäle wählen, sondern auch attraktive Informationen bereitstellen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Ist das erforderliche Personal ausgewählt und an Bord genommen, unterstützen qualifizierte und praxisnahe Prozesse Mitarbeiter und Führungskräfte dabei, einen kollegi- 542 Der Begriff Industrie 4.0 wird in Anlehnung an das gleichnamige Zukunftsprojekt der Bundesregierung seit etwa 2011 verwendet. Vergleiche zur Geschichte und den zukünftigen Handlungsfeldern Bundesministerium für Bildung und Forschung (2017). 543 Vergleiche zu dem Argument des „Produktionsfaktors besonderer Art“ unter anderem Wöhe, Döring & Brösel (2016). 544 Siehe Michaels, Handfield-Jones & Axelrod (2001). 545 Prensky (2001, S. 1). <?page no="409"?> 8 Personal 409 8 alen und wertschätzenden Umgangsstil zu pflegen. Empirische Untersuchungen belegen, dass sich ein wertschätzender und von Partnerschaftlichkeit und Fairness geprägter Umgang positiv auf das Unternehmensergebnis auswirkt. Ein kooperativer Führungsstil steigert die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen und wirkt sich positiv auf die Umsatzrendite aus. 546 Schließlich fördern partnerschaftliche Führungsstile und Führungsstrukturen die Gesundheit der Mitarbeiter, indem deren Autonomiebedürfnisse berücksichtigt und gewürdigt werden. Abbildung 155: Mitarbeiterlebenszyklus 547 Der Lebenszyklus eines Unternehmens und der in Abbildung 155 dargestellte Lebenszyklus eines Mitarbeiters sind allerdings nicht deckungsgleich. Daraus leiten sich folgende Aufgaben für Unternehmen ab: Recruiting: Wie machen Unternehmen auf freie Stellen aufmerksam und motivieren die potenziell passenden Mitarbeiter zur Bewerbung? Onboarding: Wie führt man neue Mitarbeiter effizient und motivierend in das Unternehmen ein, um eine Kündigung in der Probezeit zu vermeiden? Mitarbeiterführung: Wie führt und unterstützt man Mitarbeiter, damit sie optimale Produktivität in der bestehenden Arbeitsaufgabe entfalten? Mitarbeiterentwicklung: Wie gestaltet man die Entwicklung von Mitarbeitern vor dem Hintergrund der unterschiedlichen persönlichen Entwicklungsperspektiven und betrieblichen Notwendigkeiten? Mitarbeiternachfolge: Wie bereitet man das Unternehmen auf das Ausscheiden von Mitarbeitern vor, und wie sichert man den Know-how-Transfer? 546 Vergleiche hierzu im Überblick Badura, Ducki, Schröder, Klose & Macco (2011). 547 Modifiziert nach Wald (2012). <?page no="410"?> 410 8 Personal Austritt: Wie kann die Trennung beziehungsweise der Austritt aus dem Unternehmen wertschätzend gestaltet werden, ohne dass Produktivitätseinbußen eintreten? Die Instrumente des Personalmanagements tragen dazu bei, die Passung an die sich verändernden Lebenssituationen von Mitarbeitern im Kontext der betrieblichen Entwicklungsdynamik aufrechtzuerhalten. Ausgewählte Ansätze und Methoden werden in den folgenden Kapiteln diskutiert und deren Anwendungsmöglichkeiten verdeutlicht. <?page no="411"?> 8 8.1 Feedback- und Feedforward-Gespräche Problemstellung: Fehlende oder zu geringe Möglichkeit, die Wirkung und Produktivität des persönlichen Handelns einschätzen zu können Zielgruppe: Führungskräfte und Mitarbeiter Voraussetzungen: Kenntnis des Sachverhalts, zu dem Feedback gegeben werden soll, Kommunikationsstil auf Augenhöhe Zielsetzung von Feedback- und Feedforward-Gesprächen Die Qualität der Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern und Führungskräften lebt von der Frage, wie sich diese Zusammenarbeit kontinuierlich verbessern kann beziehungsweise was zu tun oder zu unterlassen wäre, damit eine gute Zusammenarbeit nicht gefährdet wird. Mit Feedback-Gesprächen versucht die Führungskraft, den persönlichen Lernprozess des Mitarbeiters zu unterstützen. Im Feedback-Gespräch werden die Stärken und Schwächen des Handelns in einer konkreten Handlungssituation besprochen. Es wird gemeinsam herausgearbeitet, welche Verhaltensweisen zukünftig in ähnlichen Handlungssituationen notwendig und hilfreich sind, um die Arbeitsanforderungen erfolgreich bewältigen zu können. Wahrnehmungen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Mitarbeitern sind zusammenhängend zu betrachten. 548 Daher spielen in Feedback-Gesprächen auch die individuellen Persönlichkeiten der Mitarbeiter eine wesentliche Rolle. Auf der Ebene der Wahrnehmung stellt die Führungskraft zusätzliche Informationen aus ihrer Führungsperspektive zur Verfügung, damit vorhandene blinde Flecken des Mitarbeiters - wie in Abbildung 156 dargestellt - bewusstgemacht und reduziert werden. Damit eröffnet sich für den Mitarbeiter die Möglichkeit der Ergänzung und Erweiterung seiner Einstellungen und seiner Wahrnehmungen. Dadurch werden neue Verhaltensweisen möglich, welche die Wirkung des Mitarbeiters auf andere Personen im Team, auf Lieferanten oder Kunden optimieren. Allerdings „gibt es ein grundlegendes Problem mit allen Arten von Feedback: Es konzentriert sich auf die Vergangenheit; das heißt, auf das, was bereits stattgefunden hat. Hiermit geht die unendliche Vielfalt an Möglichkeiten, die in der Zukunft liegen, vollkommen verloren. Insofern kann Feedback begrenzt und statisch sein, im Gegensatz zu expansiv und dynamisch.“ 549 Um den Fokus von Feedback noch stärker auf die die Zukunft zu richten, hat Goldsmith den Begriff „Feedforward“ 550 geprägt. Ziel von Feedforward ist es, durch den Austausch mit der direkten Führungskraft Veränderungsideen für ein vom Mitarbeiter selbst gewähltes Verhalten zu erhalten, das er in der Zukunft verändert realisieren möchte. 548 Schulz von Thun (1996, S. 69 ff). 549 Goldsmith (2016, S. 1). 550 Goldsmith (2007). 8.1 Feedback- und Feedforward-Gespräche 411 <?page no="412"?> 412 8 Personal Abbildung 156: Johari-Fenster 551 Beschreibung von Feedback- und Feedforward-Gesprächen In nahezu jedem Verhaltenstraining werden Feedback-Regeln thematisiert, die sich in ihrer Formulierung an Empfehlungen aus den 1970er-Jahren für Trainingsprogramme aus dem Bereich des sozialen Lernens orientieren: 552 Gebe Feedback, wenn der andere es auch hören kann. Dein Feedback soll so ausführlich und konkret wie möglich sein. Teile Deine Wahrnehmungen als Wahrnehmungen, Deine Vermutungen als Vermutungen und Deine Gefühle als Gefühle. Dein Feedback soll den anderen nicht analysieren. Dein Feedback soll auch positive Gefühle und Wahrnehmungen umfassen. Dein Feedback soll umkehrbar sein. Dein Feedback soll die Informationskapazität des anderen berücksichtigen. Dein Feedback soll sich auf begrenztes und konkretes Verhalten beziehen. Dein Feedback soll möglichst unmittelbar erfolgen. Du sollst Feedback nur annehmen, wenn Du dazu bereit und in der Lage bist. Feedback-Geben bedeutet, Informationen zu übermitteln, und nicht, den anderen zu verändern. Über die Durchführung von Führungskräfte-Entwicklungsprogrammen haben diese Feedback-Regeln häufig Einzug in den Dialog zwischen Mitarbeiter und Führungs- 551 Siehe Luft & Ingham (1955). 552 Vergleiche im Überblick Schwäbisch & Siems (1978, S. 76 ff). <?page no="413"?> 8.1 Feedback- und Feedforward-Gespräche 413 8 kraft gehalten. 553 Das klassische Feedback-Gespräch eignet sich für Situationen, in denen der Mitarbeiter über eine geringe Praxiskompetenz verfügt; zum Beispiel nach der Durchführung einer ersten Projektpräsentation im Lenkungsausschuss. Mit Hilfe des Feedback-Gespräches erweitert der Mitarbeiter seine persönliche Wahrnehmung um die Wahrnehmungsperspektive seiner Führungskraft. Er wird von seiner Führungskraft auf Punkte beziehungsweise blinde Flecken hingewiesen, die er aufgrund seiner bislang fehlenden Vorerfahrung nicht oder nur unzureichend wahrnehmen kann. Durch den intensiven Austausch mit der Wahrnehmung und der Bewertung durch die Führungskraft erweitert der Mitarbeiter sein situatives Repertoire an Wahrnehmungsrastern und möglichen Verhaltensweisen. Feedforward bietet sich als eine wenig aufwändige und rasch durchzuführende Lernmethodik zwischen Mitarbeiter und Führungskraft an, wenn der Mitarbeiter bereits über Vorerfahrungen verfügt; zum Beispiel nach der Durchführung der Projektpräsentation im Lenkungsausschuss als Teilprojektleiter, und wenn der Mitarbeiter motiviert und gewillt ist, sein Verhalten weiter zu optimieren. 554 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Ausgangspunkt für ein Feedback-Gespräch ist in der Regel eine Situation, die sowohl der Mitarbeiter als auch die Führungskraft wahrgenommen und als verbesserungswürdig klassifiziert haben. Im Gespräch wird zunächst die Wahrnehmungsperspektive des Mitarbeiters benannt: Wie habe ich die Situation erlebt? Was ist mir aufgefallen? Welche Gefühle, Empfindungen, Fragen und Überlegungen hatte ich dabei? Was hat mir daran gefallen? Was hat mir missfallen? Im zweiten Schritt schildert die Führungskraft ihre Wahrnehmungsperspektive zu den identischen Fragestellungen. Beide Gesprächsteilnehmer versuchen bei der Schilderung, die Ebene der Wahrnehmung und die Ebene der Bewertung - im Sinne von „gut“ und „schlecht“ - zu trennen. Im dritten Schritt findet die gemeinsame Bewertung der Situation statt: Was ist unproblematisch? Was war gut? Was hat gestört? Was sollte in Zukunft möglichst verändert werden? Im vierten Schritt sammeln Mitarbeiter und Führungskraft zum einen Ideen für mögliche Modifikationen in der Zukunft und zum anderen Vorschläge, wie die bereits erfolgreichen Verhaltensweisen auch in Zukunft beibehalten werden können. Das Feedback-Gespräch schließt mit einem Resümee des Empfängers: Welche Punkte habe ich aufgenommen? Wie geht es mir damit? Was beschäftigt mich und wie möchte ich damit umgehen? Daran anknüpfend können Gespräche über Zielvereinbarungen stattfinden und die Terminierung eines erneuten Feedback-Gespräches vorgenommen werden. 555 553 Gute Beispiele für aktualisierte Formulierungen der Feedback-Regeln finden sich bei Goetz & Reinhardt (2016) oder Koopmans (2016). 554 In Anlehnung an Dweck (2010) kann man Feedforward auch als Entwicklungstechnik für Mitarbeiter ansehen, die über ein Growth Mindset - also über ein dynamisches Selbstbild - verfügen. Diese betrachten Fehler als Möglichkeit, Neues auszuprobieren und die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. 555 Vergleiche Doppler & Lauterburg (2014, S. 327). <?page no="414"?> 414 8 Personal Wird die Gesprächsform des Feedforward gewählt, dann entsteht ein stark in die Zukunft gerichteter Austausch zwischen Mitarbeiter und Führungskraft. Ausgangspunkt ist die Wahl des Mitarbeiters für ein Verhalten, das er ändern möchte und für welches er eine hohe Veränderungsmotivation mitbringt. Nachdem er zu Beginn des Feedforward-Gespräches dieses Verhalten beschrieben hat, bringt die Führungskraft mindestens zwei Vorschläge ein, die dem Mitarbeiter helfen könnten, sein ausgewähltes Verhalten zu erreichen. Wichtig ist dabei, dass sich der Mitarbeiter diese Vorschläge anhört, ohne sie zu kommentieren, zu kritisieren oder zu beurteilen. Verständnisfragen und Konkretisierungsfragen vonseiten des Mitarbeiters sind erlaubt. Nachdem der Mitarbeiter die Vorschläge der Führungskraft erhalten hat, wird ein Anschlusstermin für die Evaluation des in der Folge gezeigten Verhaltens vereinbart. Weiterführende Hinweise Feedback ist nicht automatisch leistungssteigernd. Zum einen ist es wichtig, dass der Mitarbeiter ein minimales Interesse an Feedback mitbringt. Dies sollte man im Vorfeld eines Feedback-Gespräches durch eine entsprechende Rückfrage abklären. Ist kein Interesse vorhanden, dann verpuffen die Bemühungen des Feedback-Gebers mit der Folge, dass die Motivation zum Feedback auch aufseiten möglicher Feedback-Geber sinkt. Zum anderen ist eine klare Ausrichtung des Feedbacks zu empfehlen. Feedback im Betrieb ist kein Selbstzweck zur Persönlichkeitsentwicklung des Mitarbeiters, sondern zielt darauf ab, die Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters aufrechtzuerhalten oder zu steigern. Daher sollte man klare Ziele für das Feedback vereinbaren und Evaluationstermine für die gemeinsame Einschätzung der Zielerreichung abstimmen. Dadurch wird die Effektivität von Feedback deutlich gesteigert. Ein weiterer Erfolgsfaktor von Feedback besteht in der Person des Feedback-Gebers. Kommt das Feedback von Kollegen, ist es deutlich weniger wirksam. Kommt das Feedback von der direkten Führungskraft, steigt seine Wirkung. 556 Feedback ist somit eine Aufgabe, die nur schwer an Mitarbeiter oder das Team delegiert werden kann. Den Begriff Feedforward könnte man als sprachliche Spielerei abtun. Entscheidend ist jedoch die zugrundeliegende Idee, dass sich Feedback positiv auf die Leistung auswirkt, wenn es in die Zukunft gerichtet ist. In diesem Sinne geht es um ein nach vorne - also forward - und nicht um ein nach hinten - also back - Schauen. Dem Feedforward liegt im Vergleich zum Feedback eine andere Haltung zugrunde. Statt den Blick auf die bisherigen Leistungen zu lenken, richtet es sich auf Initiative des Mitarbeiters auf konkrete Veränderungsmöglichkeiten für die Zukunft. Die Erfahrung zeigt, dass Mitarbeiter Feedforward leichter annehmen können, und dass es weniger persönlich empfunden wird. Es geht nicht um Lob oder Kritik für Dinge, die geschehen sind und nicht mehr geändert werden können. Es geht um das Potenzial der Mitarbeiter und wie dieses Potenzial entfaltet werden kann. Diese Potenzialentfaltung ist für die Führungskraft eine tägliche Aufgabe im Rahmen der Routinekommunikation mit dem Mitarbeiter. 556 Vergleiche Alvero, Bucklin & Austin (2001) sowie Balcazar, Hopkins & Suarez (1985). <?page no="415"?> 8.1 Feedback- und Feedforward-Gespräche 415 8 Goldsmith bringt die Frage nach der Grundeinstellung des Mitarbeiters zu seinem persönlichen Lernprozess mit folgenden Worten auf den Punkt: „Es ist ein Haltungsunterschied, eine Frage des Selbstverständnisses. Versteht sich ein Mitarbeiter als Job- Erlediger und Lohnkonsument, als Maschine, die in möglichst guter Qualität die Anforderungen erfüllt? Dann ist es klar, dass sie auf Wartung wartet - und kaputtgeht, wenn sie nicht geölt wird. Oder versteht der Mitarbeiter sich als jemand, der etwas bewirken will, der einen Unterschied machen will, der aus freien Stücken selbst etwas leisten will? So jemand wird es nicht eine einzige Stunde im Nebel aushalten. Er wird immer den Anspruch an sich selbst haben, jeden Tag sein Bestes zu geben. Und Feedforward ist dafür ein geniales Instrument.“ 557 557 Goldsmith (2016, S. 5). <?page no="416"?> 8.2 Onboarding Problemstellung: Mitarbeiter in das Unternehmen bestmöglich integrieren, um Motivation, Engagement und Produktivität zu steigern und um eine frühzeitige Kündigung zu vermeiden Zielgruppe: Personalverantwortliche, Führungskräfte Voraussetzungen: Kenntnisse der Zielposition und der jeweiligen Schnittstellen Zielsetzung des Onboarding Für das Gewinnen neuer Mitarbeiter investieren Unternehmen Zeit und Geld. Verlassen neue Mitarbeiter innerhalb oder kurz nach der Probezeit das Unternehmen, werden diese Investitionen umsonst getätigt. Die entsprechenden Kosten betragen bis zu 40 Prozent des Jahresbruttoeinkommens des Mitarbeiters, der das Unternehmen wieder verlässt. Die Quote der Mitarbeiter, die Unternehmen nach dem Arbeitsbeginn rasch wieder den Rücken kehren, kann durch ein qualitativ hochwertiges Onboarding um bis zu 25 Prozent gesenkt werden. 558 Durch ein gezieltes Onboarding neuer Mitarbeiter soll gewährleistet werden, dass diese nach Unterzeichnung des Arbeitsvertrages so gut mit dem Unternehmen, der Unternehmenskultur und dem Arbeitsplatz sowie den Kollegen und Vorgesetzten vertraut werden, dass sie sich dauerhaft, gerne und motiviert am Arbeitsplatz einbringen. Häufig wird der Begriff Onboarding verkürzt als das Einarbeiten in die Arbeitsabläufe am konkreten Arbeitsplatz verstanden. Ziel des Onboarding ist es, durch organisationale Maßnahmen die Integration neuer Mitarbeiter in das soziale System Arbeitsplatz zu unterstützen. Dazu muss zum einen Orientierung vermittelt, zum anderen Unsicherheit reduziert sowie Enttäuschung vermieden werden. „Die soziale Integration in das Belegschaftsgefüge ist meist eine Voraussetzung für gelungene Arbeitsabläufe und somit für den Erfolg von Projekten.“ 559 Dabei berücksichtigt gutes Onboarding die in Abbildung 157 aufgeführten fünf Zieldimensionen. Beschreibung des Onboarding 560 Sicherheit und Compliance sind Grundvoraussetzungen, damit erfolgreiches Arbeiten möglich wird. Mitarbeiter müssen wissen, wie sie Fehler und Unfälle verhindern können, indem sie mit den zur Verfügung stehenden Geräten und Hilfsmitteln sicher und ohne Selbstgefährdung umgehen. Das Arbeitsschutzgesetz regelt in § 12, bei welchen Anlässen eine Unterweisung vor der Aufnahme der Tätigkeit vorgeschrieben ist. Dort wird auch die Einstellung neuer Mitarbeiter aufgeführt. Im Rahmen der Sensibilisie- 558 Vergleiche Stein & Christiansen (2010, S. 19). 559 Moser, Souček, Galais & Roth (2018, S. 21). 560 Vergleiche im Überblick Moser, Souček, Galais & Roth (2018). 416 8 Personal <?page no="417"?> 8.2 Onboarding 417 8 Abbildung 157: Zieldimensionen des Onboarding 561 rung für sicherheitskritisches Verhalten - zum Beispiel das Tragen der persönlichen Schutzausrüstung - spielt das Vorbildverhalten von Führungskräften und Kollegen eine entscheidende Rolle. Ähnlich verhält es sich bei der Einhaltung der Compliance- Regeln im Unternehmen, wobei man unter Compliance die Konformität mit Gesetzen, Regeln, Richtlinien und Normen versteht. Das Commitment zum Arbeitsplatz entsteht als Folge der Passung zur Arbeitsaufgabe. Um diese Passung zu fördern, spielt der Erwerb der für den Arbeitsplatz erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten eine entscheidende Rolle. Für die Einarbeitung im Sinne der Passung für den konkreten Arbeitsplatz, bietet sich die Teilnahme am häufig vorhandenen Schulungsangebot des Unternehmens und die persönliche Einweisung durch Kollegen und Vorgesetzte an. Zusätzlich ist darauf zu achten, dass der reine Erwerb von Fertigkeiten zum Erreichen der Passung nicht ausreicht. Hier spielen auch die Hintergrundkenntnisse der Arbeitsaufgabe, das Ziel und der Nutzen des konkreten Arbeitsschrittes in der Wertschöpfungskette und das Wissen um eventuelle Konsequenzen aufseiten des Verbrauchers bei Nichteinhaltung der Qualitätsanforderungen bedeutsame Rollen. Gleichzeitig ist Commitment auch immer ein Ausdruck der Identifikation mit den Normen und Werten der Organisation. Die Funktion des Onboarding ist es, nach der Unterzeichnung des rechtlichen Arbeitsvertrages das Entstehen und Festigen des psychologischen Kontraktes zu fördern. Der Einstieg bei einem neuen Arbeitgeber stellt den Arbeitnehmer in Bezug auf die geforderte Rolle und Identität vor Herausforderungen. Zum einen gegenüber der eigenen Rolle im Spannungsfeld der anderen im Unternehmen vorhandenen Rollen, zum 561 Modifiziert nach Moser, Souček, Galais & Roth (2018, S. 26). <?page no="418"?> 418 8 Personal anderen im Verhältnis zu unterschiedlichen Rollen in unterschiedlichen Funktionen, die der Arbeitnehmer in seiner Person abdecken soll. Schließlich wirkt die geforderte Rolle auch auf die Identitätsentwicklung des Mitarbeiters ein. Dieser kann in seiner Rolle seine Identität finden oder an der mangelnden Passung zwischen Rolle und Identität und dem daraus entstehenden Stress zerbrechen. Das fünfte Handlungsfeld im Onboarding - Stressprävention und Stressbewältigung - hat deshalb die Reduzierung von Erwartungsenttäuschungen durch das Explizieren impliziter Erwartungen und die Vorwegnahme von möglichen Enttäuschungen zum Inhalt. Durch regelmäßiges Nachfragen seitens der Vorgesetzten und Kollegen können neue Mitarbeiter dabei unterstützt werden, der Arbeit Sinn zu verleihen und Arbeitsbelastungen im Gleichgewicht zu halten. Da Onboarding im Regelfall ein Bestandteil der Personalentwicklung ist, stellt die Personalabteilung üblicherweise systematisch aufgebaute Einführungsprogramme zur Verfügung. Die fachliche Einarbeitung in die Arbeitsaufgabe verantwortet die direkte Führungskraft mit ihrem Team. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Auswahl an möglichen Onboarding-Maßnahmen ist nahezu unerschöpflich. Abbildung 158 vermittelt einen kleinen Überblick. Abbildung 158: Ausgewählte Onboarding-Maßnahmen 562 562 Vergleiche Moser, Souček, Galais & Roth (2018, S. 63). <?page no="419"?> 8.2 Onboarding 419 8 Es hat sich bewährt, das Onboarding bereits vor dem ersten Arbeitstag zu starten. Mit einem Willkommensschreiben und einem Gruß der zukünftigen Kollegen - zum Beispiel per Video oder Grußkarte - wird der zukünftige Mitarbeiter sowohl durch das Unternehmen als auch als Person wahrgenommen. In diesem Zusammenhang können auch erste Informationen über Details zum ersten Arbeitstag wie Beginn, Verlauf, Dauer oder beteiligte Personen bereitgestellt werden. Betriebsintern ist darauf zu achten, dass der Arbeitsplatz am ersten Arbeitstag des neuen Mitarbeiters voll funktionsfähig eingerichtet und der Einarbeitungsplan abgesprochen ist. Dem neuen Kollegen kann gegebenenfalls auch Unterstützung bei der Wohnungssuche durch den Betrieb angeboten werden. Am ersten Arbeitstag steht der ablauforganisatorische Aspekt im Vordergrund: Wo befindet sich wer und was im Büro? Wie läuft es mit Zeiterfassung, Mittagessen oder Terminabsprachen? Wie funktioniert der neue Arbeitsplatz? Persönliche Ausrüstungsgegenstände, Visitenkarten und Zeitpläne für die erste Arbeitswoche werden ausgehändigt. Neben diesen „technischen“ Aspekten ist auch darauf zu achten, dass der Kollege als Mensch im neuen Team ankommt - zum Beispiel durch einen kleinen Willkommensempfang, durch Begrüßungsgeschenke oder durch die namentliche Vorstellung im Intranet oder per E-Mail. Je rascher ein neuer Mitarbeiter produktiv und wertschöpfend sein kann, desto schneller wächst sein Sicherheitsgefühl, dass er der richtige Kollege am richtigen Arbeitsplatz ist. Daher sollte in den ersten Wochen der Fokus auf dem direkten Arbeitsprozess liegen. Von diesem ausgehend können die vor- und nachgelagerten Arbeitsschritte im Workflow und die dafür verantwortlichen Kollegen kennengelernt werden. Außentermine bei Kunden, Lieferanten und Kooperationspartnern vervollständigen das Bild auf die Wertschöpfungskette. Für das Einleben in die spezifische Unternehmenskultur hat sich ein Mentor bewährt, der für den regelmäßigen Erfahrungsaustausch über das Fortschreiten des Onboarding zur Verfügung steht. Dieser dient auch - neben dem direkten Vorgesetzten - als Ansprechpartner und Ratgeber für unklare oder krisenhafte Situationen im Onboarding. Regelmäßige Feedback-Gespräche mit Vorgesetzten und im Team tragen dazu bei, diese Lern- und Eingewöhnungsphase möglichst reibungslos zu gestalten und die Stressoren, die aus nicht-erfüllten impliziten Erwartungen und enttäuschten expliziten Erwartungen entstehen können, in ihrer Wirkung abzumildern. 563 Im Rahmen der Probezeit sollte möglichst der Abschluss des Onboarding stattfinden. Aufgrund der regelmäßigen Gespräche im Team und mit der direkten Führungskraft können Entwicklungspotenziale im Verlauf der Probezeit festgestellt und im Rahmen der Personalentwicklung gefördert werden. Um die Sicherheit für den neuen Mitarbeiter und dessen Vorgesetzten zu erhöhen, empfehlen sich zwei oder drei Gesprächsgelegenheiten gemeinsam mit der nächsthöheren Führungskraft. Dabei können die über den direkten Arbeitsbereich hinausgehenden Fragen und Aspekte thematisiert 563 Vergleiche Moser, Souček, Galais & Roth (2018, S. 50 ff). <?page no="420"?> 420 8 Personal werden. Im Verlauf der Probezeit kann sich unter Umständen auch eine Hospitation in angrenzenden Arbeitsgebieten oder beim Kunden anbieten. Da das Ende der Probezeit einen wichtigen Abschnitt im Arbeitsleben des Mitarbeiters und das Ende des Onboarding darstellt, sollte dies mit einem Personalgespräch und gegebenenfalls mit einem kleinen Umtrunk im Team abgeschlossen werden. Weiterführende Hinweise Die Passung zwischen den individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Vorlieben eines Mitarbeiters und den unternehmensbezogenen Erwartungen, Rollen und Arbeitsaufgaben stellt sich erfahrungsgemäß nicht von alleine ein. Im Onboarding sollte man möglichst viele Anlässe nutzen, um das Entstehen dieser Passung zu unterstützen. Dies kann durch intensives Einarbeiten oder auch durch die Modifikation der Arbeitsaufgabe im Sinne von Job Crafting 564 realisiert werden. Die direkte Führungskraft sollte diesen Prozess frühzeitig und aktiv steuern, um im Rahmen der Probezeit die Entscheidung über die Weiterbeschäftigung des neuen Mitarbeiters fundiert treffen zu können. Hohe Arbeitszufriedenheit entsteht, wenn der neue Mitarbeiter einen Sinn in den Arbeitsabläufen entdeckt. Daher sollte man das Einarbeitungsprogramm so gestalten, dass der Mitarbeiter möglichst rasch leistungsbezogen mitarbeiten kann, auch wenn dies zu Beginn nur in kleinen Workflow-Abschnitten möglich ist. Ein zu weit gespannter Überblick über die vollständige Arbeitsaufgabe über zahlreiche Hospitationen und Schulungen gleich zu Beginn des Onboarding steht diesem positiven Effekt entgegen. Unabhängig von der Qualität des Onboarding besteht die Möglichkeit, dass die Passung zwischen Mitarbeiter, Rolle und Arbeitsaufgabe nicht erreicht wird. In der Regel kündigt sich dies nach den ersten Wochen im Onboarding an. Vor dem Hintergrund einer - vielleicht nur temporären - Nicht-Passung sollte man rasch eine Optimierung und Intensivierung der Onboarding-Maßnahmen vereinbaren. Sollte sich keine Verbesserung einstellen, ist zu überlegen, ob das Arbeitsverhältnis fortgesetzt oder noch vor Ablauf der Probezeit beendet wird. In der Regel führt das Aufschieben der Trennung nur zu weiteren Kosten und einer negativen Beeinflussung der Arbeitszufriedenheit des Teams, da die fehlende Passung häufig Auslöser für interpersonale Konflikte ist, die zu Auseinandersetzungen und Reibungsverlusten führen. Im Rahmen von sich wandelnden Arbeitsabläufen sollte das Onboarding kontinuierlich angepasst und verbessert werden. Um dies zu gewährleisten, sollte jedes Onboarding und insbesondere das Abschlussgespräch im Onboarding von der Führungskraft genutzt werden, um Verbesserungsoptionen zu ermitteln. Frei nach der Devise: „Das Bessere ist der Feind des Guten.“ 564 Der Begriff Job Crafting beschreibt gemäß Wrzesniewski & Dutton (2001, S. 179) das Phänomen der „physischen und kognitiven Veränderungen der Aufgabe eines konkreten Arbeitsplatzes oder der relationalen Grenzen“. <?page no="421"?> 8.3 Arbeitssituationsanalyse 421 8 8.3 Arbeitssituationsanalyse Problemstellung: Die subjektive Sicht der Mitarbeiter und Führungskräfte auf ihre Arbeitssituationen mit Stärken, Schwächen und Verbesserungspotenzialen kennenlernen Zielgruppe: Alle Mitarbeiter und Führungskräfte Voraussetzungen: Transparenz bezüglich der Analyseergebnisse und Umsetzungswille der Unternehmensleitung Zielsetzung der Arbeitssituationsanalyse Die Arbeitssituationsanalyse, häufig mit ASA abgekürzt, ist ein partizipatives Verfahren der Organisationsentwicklung. Ausgangspunkt ist in der Regel die Fragestellung, wie die Arbeitszufriedenheit der Belegschaft wiederhergestellt oder gesteigert werden kann. Im Mittelpunkt stehen die subjektiven Perspektiven der Mitarbeiter und Führungskräfte auf die jeweiligen Arbeitssituationen. „Es gibt keine objektive Arbeitssituation. Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung der Arbeitssituation durch die Mitarbeiter.“ 565 Diese subjektive Perspektive entscheidet über Arbeitszufriedenheit oder Arbeitsunzufriedenheit. Die Ergebnisse der ASA erzielen in der Regel eine breite Akzeptanz in der Belegschaft, wenn die Stärken und Schwächen der vorhandenen Arbeitssituation erhoben und Vorschläge der Mitarbeiter zur Optimierung der Arbeitssituation - einerseits durch Reduktion, andererseits durch Modifikation belastender Situationsfaktoren - eingeholt werden. Aufgrund der Partizipation der Mitarbeiter werden die Ergebnisse der ASA in der Regel von weiten Teilen der Belegschaft akzeptiert. Dies ist bei Befragungen durch externe Dritte nicht immer der Fall. Beschreibung der Arbeitssituationsanalyse Die ASA wird häufig durch Betriebsrat, Mitarbeitervertretung oder betrieblichen Gesundheitsbeauftragten aufgrund von Arbeitsunzufriedenheit vorgeschlagen. Sie ist auch eine bewährte Vorgehensweise, um bei Vorliegen negativer Betriebsklimaanalysen oder Mitarbeiterbefragungen zügig in einen Optimierungsprozess einzusteigen. Relativ selten wird eine ASA durch die Geschäftsleitung beauftragt, um das Verbesserungspotenzial aus Sicht der Mitarbeiter und Führungskräfte zu identifizieren. Da mit der Durchführung der ASA das Betriebsklima und die Arbeitsumstände aktiv zum Thema gemacht werden, sollte man mit den Ergebnissen der ASA sehr sorgfältig umgehen. Liegen die Zeitpunkte zwischen Durchführung der ASA und Umsetzung von ASA-Ergebnissen zu weit auseinander, kann die Akzeptanz für anstehende Optimierungen verlorengehen. Aus diesem Grund ist in der Vorbereitung der ASA darauf zu achten, dass die Beauftragung durch die Geschäftsleitung eingeholt wird und die Geschäftsleitung prinzipiell hinter der Umsetzung der Vorschläge steht, die aus der 565 Nieder (1998, S. 162). <?page no="422"?> 422 8 Personal ASA abgeleitet werden. Dies gilt insbesondere für das zur Verfügung stellen von Ressourcen zur Ergebnisumsetzung. Die ASA wird häufig im betrieblichen Gesundheitsmanagement zur Prävention - zum Beispiel als Methode der psychischen Gefährdungsbeurteilung - oder zur Problemanalyse und Problembearbeitung bei vorhandenen Missstimmungen eingesetzt. Mit dem Kleingruppeninterviewverfahren können viele Mitarbeiter und Führungskräfte erreicht werden. Je Tag und Interviewer können maximal 36 Personen am Verfahren teilnehmen, sodass auch Betriebe mit beispielsweise 500 Mitarbeitern bei zwei Interviewern innerhalb von zwei Wochen vollständig erhoben werden können. Kalkuliert man zwei weitere Wochen für die Verarbeitung der Kleingruppeninterviews und die Ausarbeitung der Handlungsoptionen ein, kann der Informationsmarkt etwa sechs bis acht Wochen nach der ersten Informationsveranstaltung stattfinden. Durch die Beteiligung aller Mitarbeiter und Führungskräfte bietet sich die ASA insbesondere für Situationen an, in denen die Meinungen innerhalb der Belegschaft breit gestreut sind. Dies ist vor allem bei Change-Vorhaben der Fall, die in Kapitel 7.2 beschrieben werden. Bereits die Kleingruppeninterviews sorgen gewissermaßen als Nebeneffekt für eine verstärkte Kommunikation innerhalb der Belegschaft. Die gemeinsame Reflexion im Rahmen des Informationsmarktes zum Abschluss der ASA unterstützt die gemeinsame Perspektive auf häufig sehr unterschiedliche Phänomene am Arbeitsplatz und fokussiert auf die Umsetzung der erarbeiteten Handlungs- und Lösungsoptionen. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Durchführung einer Arbeitssituationsanalyse erfolgt in den in Abbildung 159 im Mittelpunkt stehenden drei Schritten Information, Durchführung und Maßnahmenableitung, wobei die Zielklärung im Projektteam den Anfang und die Mitarbeiterveranstaltung das Ende der ASA bilden. 566 Abbildung 159: Ablauf einer Arbeitssituationsanalyse Die Informationsveranstaltung für die Mitarbeiter und Führungskräfte wird durch das Projektteam vorbereitet und gestaltet. Im Projektteam sind idealerweise Mit- 566 Vergleiche im Überblick Brandenburg & Nieder (2009, S. 67 ff). <?page no="423"?> 8.3 Arbeitssituationsanalyse 423 8 arbeiter und Führungskräfte aus der Produktion, den unterschiedlichen Fachbereichen und der Verwaltung vertreten. Personalvertretung und Personalabteilung, Betriebliches Gesundheitsmanagement und ein Vertreter des Managements ergänzen die Perspektiven. Es empfiehlt sich, das Team durch einen Externen begleiten zu lassen, der ausreichend Erfahrung im Umgang mit partizipativen Mitarbeiterbefragungsverfahren besitzt. In der Informationsveranstaltung für die gesamte Belegschaft werden die Ziele der ASA, die Moderatoren, der Ablauf und die Rahmenbedingungen wie Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und Ergebnisanonymisierung durch die Projektgruppe vorgestellt. Die Durchführung der ASA findet in Form von Kleingruppeninterviews im Umfang von etwa 90 Minuten mit sechs bis neun Mitarbeitern und mit je einem Moderator pro Gruppe statt. Im Projektteam werden vorab die zu befragenden Themenfelder erarbeitet, 567 sodass diese in den Kleingruppeninterviews systematisch erörtert werden können. In der Ist-Analyse werden zunächst die Stärken und dann die Schwächen beziehungsweise Belastungsfaktoren der Arbeitssituation gesammelt. Als Leitfragen haben sich dabei bewährt: Was läuft bei der Arbeit in diesem Themenfeld gut? Was gefällt Ihnen? Was sind Stärken? Wo kann etwas besser laufen? Wo sollte etwas verändert werden? Im zweiten Schritt werden die möglichen Optimierungsbereiche identifiziert und gewichtet. Mögliche Fragen sind hier: Welche Bereiche sollten verbessert werden? In welchen Bereichen sollten wir etwas tun, damit es weiterhin gut läuft? Zu den Themenfeldern, die hoch gewichtet werden, sollte man konkrete Handlungsvorschläge und Lösungsideen erarbeiten. Die Gelegenheit zur aktiven Mitarbeit der Belegschaft an Problembeschreibungen und der Erarbeitung von Handlungsoptionen steigert die Motivation der Mitarbeiter, zu qualitativ hochwertigen Ergebnissen beizutragen. Da alle Arbeitsschritte am Flip-Chart visualisiert werden, kann zum Abschluss der Kleingruppeninterviews der gemeinsame Blick auf alle Ergebnisse geworfen werden. Häufig werden in dieser Phase wichtige Ergänzungen vorgenommen oder Gewichtungen präzisiert. Durch das simultane Visualisieren wird maximale Ergebnistransparenz gewährleistet. Die Ergebnisse aller Kleingruppeninterviews werden durch das Projektteam zusammengetragen sowie qualitativ und quantitativ ausgewertet. Die Handlungsoptionen werden konkretisiert und mit dem Auftraggeber in Bezug auf Budget und Terminierung abgestimmt. Neben der Frage der Effektivität - zum Beispiel Kosten-Nutzen-Verhältnis - ist bei der Entscheidung über Handlungsoptionen die Situation von konkurrierenden Handlungsoptionen, die im Rahmen der ASA erarbeitet wurden, nicht ohne Spannung. Letzten Endes bleibt es Aufgabe der Unternehmensleitung, die einzelnen Möglichkeiten zu gewichten, bei sich wiedersprechenden Handlungsoptionen diese unternehmensweit zu synchronisieren oder über Priorisierungen zu entscheiden. Die Entscheidung der Maßnahmenableitung findet in einer zweiten Mitarbeiterveranstaltung mit allen beteiligten Mitarbeitern und Führungskräften als Informati- 567 Es bieten sich in Anlehnung an Nieder (1998, S. 163) folgende Themenfelder an: Umgebung des Arbeitsplatzes, Tätigkeit, Organisation, Gruppenklima, Vorgesetztenverhalten. <?page no="424"?> 424 8 Personal onsmarkt statt. Hierzu werden die Interviewergebnisse und die erarbeiteten Handlungsoptionen durch Mitglieder des Projektteams vorgestellt und mit den Mitarbeitern und Führungskräften zum Beispiel in Form eines World Cafés diskutiert. Zum Abschluss der zweiten Informationsveranstaltung findet die Gewichtung der vorgestellten Handlungsoptionen durch alle Anwesenden statt. Zusätzlich können sich Mitarbeiter und Führungskräfte zur Mitwirkung an einzelnen Umsetzungsprojekten melden. Weiterführende Hinweise Mit der Befragung von Mitarbeitern und Führungskräften werden automatisch Erwartungen bezüglich der Umsetzung der Befragungsergebnisse geweckt. Um zu vermeiden, dass unrealistische Erwartungen aufseiten der Mitarbeiter entstehen, ist auf eine exakte Zielklärung der ASA zu achten: Welche Bereiche der Arbeitssituation wie Material, räumliche Gegebenheiten, organisatorische Regelungen, Führung, Zusammenarbeit im Team oder Zielsetzungen sollen thematisiert werden? In welchem Zeitraum sollen beziehungsweise können die ASA-Ergebnisse umgesetzt werden? Stehen dafür auch ausreichend Ressourcen - Zeit, Geld, Mitarbeiter und Führungskräfte - zur Verfügung? Wie findet der Klärungsprozess bei sich widersprechenden ASA-Ergebnissen statt? Im Projektteam sollten dazu klare und gemeinsame Positionen erarbeitet werden. Erst dann kann das Bekenntnis der Unternehmensleitung zur Durchführung der ASA und der Umsetzung von Verbesserungsoptionen eingeholt werden. Dieses Einverständnis der Unternehmensleitung vor Beginn der ASA ist unabdingbar. Die konsequente Partizipation der Belegschaft in der ASA-Durchführung ist eine wesentliche Voraussetzung, dass auch die Umsetzung der Ergebnisse der ASA einfach und rasch möglich ist. Die Wirkung der Umsetzungsprojekte ist aufgrund der Mitarbeiterbeteiligung in der Regel äußerst nachhaltig. <?page no="425"?> 8 8.4 Rückkehrgespräche Problemstellung: Gründe für motivationsbedingte Fehlzeiten erfahren und Commitment der Mitarbeiter zum Arbeitgeber aufrechterhalten und stärken Zielgruppe: Führungskräfte aller Führungsebenen Voraussetzungen: Sensibilisierung der Führungskräfte für die Bedeutung von Abwesenheitszeiten Zielsetzung der Rückkehrgespräche Nach jeder geplanten Abwesenheit durch Urlaub oder Weiterbildung sowie nach jeder ungeplanten Abwesenheit zum Beispiel aufgrund einer Krankheit müssen Mitarbeiter wieder Anschluss an den Arbeitsplatz und die Kollegen finden. Mitarbeiter nach Abwesenheitszeiten wieder im Betrieb zu begrüßen, über aktuelle Entwicklungen zu informieren und das persönliche Erleben zu thematisieren, tragen dazu bei, dass Mitarbeiter die Arbeit wieder effizient und positiv aufnehmen können. Ziel des Rückkehrgespräches ist das gute Wiederankommen des Mitarbeiters am Arbeitsplatz und die Reduktion motivationsbedingter Fehlzeiten. Für motivationsbedingte Fehlzeiten eignen sich die in Abbildung 160 aufgeführten Rückkehrgespräche, um Probleme und Ursachen zu thematisieren und nach möglichen Lösungen zu suchen. Können keine Ursachen für motivationsbedingte Fehlzeiten ermittelt werden, kann das Rückkehrgespräch den Einstieg in eine eskalierende Gesprächssystematik bieten. Die eskalierende Gesprächssystematik steigert die Chance für die Führungskraft, mit dem Mitarbeiter auch über unangenehme und motivationsmindernde Themen ins Gespräch zu kommen. Im Interesse eines zufriedenstellenden Arbeitsverhältnisses sollte die Führungskraft gemeinsam mit dem Mitarbeiter nach Wegen suchen, diese Themen aufzulösen oder in ihren negativen Wirkungen auf den Arbeitsplatz zu minimieren. Beschreibung der Rückkehrgespräche Ausschlaggebend für die Anwesenheitszeiten des Mitarbeiters sind sein Bekenntnis und Verhältnis zum Arbeitgeber. Dieses ist zum einen im juristischen Arbeitsvertrag explizit ausgedrückt und geregelt. Zum anderen wird es wesentlich durch den psychologischen Arbeitsvertrag beeinflusst. 568 Der psychologische Arbeitsvertrag „unterliegt der subjektiven Deutung“ 569 . Die subjektive Deutung gilt es im Rückkehrgespräch zwischen Mitarbeiter und Führungskraft abzugleichen beziehungsweise zu bestätigen, um divergierende Deutungen auf eine gemeinsame Schnittmenge zurückzuführen. Die Führungskraft ist aufgefordert, in diesem Abgleich aktives Erwartungsmanagement zu betreiben. 568 Vergleiche Raeder & Grote (2012). 569 Huf (2011, S. 34). 8.4 Rückkehrgespräche 425 <?page no="426"?> 426 8 Personal Abbildung 160: Fehlzeiten und deren Beeinflussbarkeit 570 Es sind vor allem drei Faktoren, die sich wesentlich auf das Bekenntnis des Mitarbeiters zum psychologischen Arbeitsvertrag auswirken: 571 [1] Arbeitsgestaltung, [2] Leistungsbeurteilung, [3] Partizipation. Mit dem Rückkehrgespräch, manchmal auch „fürsorgliches Willkommensgespräch“ 572 genannt, thematisiert die Führungskraft diese Faktoren gezielt. Die Führungskraft führt dieses Gespräch mit jedem Mitarbeiter nach jeder Abwesenheit. 573 Die Verantwortung für das Rückkehrgespräch liegt bei der direkten Führungskraft, die das Gespräch möglichst direkt nach der Rückkehr des Mitarbeiters an den Arbeitsplatz führen sollte. Bei einer geplanten Abwesenheit wie Urlaub oder Dienstreisen hat das Rückkehrgespräch vor allem die Funktion der Information des Mitarbeiters über Dinge, die sich in seiner Abwesenheit im Betrieb und im Team ereignet haben, um ihm die Arbeitsaufnahme zu erleichtern. Die Führungskraft tauscht sich in diesem Zusammenhang mit dem Mitarbeiter auch über neue Erkenntnisse zum Beispiel mit Blick auf die Dienstreise aus und darüber wie diese Erkenntnisse möglichst optimal in den Betrieb eingebracht werden können. Dieser Austausch gilt sowohl für Vorkommnisse offizi- 570 Vergleiche Brandenburg & Nieder (2009, S. 15). 571 Vergleiche Raeder & Grote (2012, S. 13). 572 Mattysek (2019, S. 31). 573 Siehe Mattysek (2019) für Beispiele zur konkreten Umsetzung von Rückkehrgesprächen. <?page no="427"?> 8.4 Rückkehrgespräche 427 8 eller als auch nicht offizieller Art. Ziel eines Rückkehrgespräches nach einer geplanten Abwesenheit ist es, wieder „einen Draht zueinander zu finden“. Nach einer ungeplanten, in der Regel krankheitsbedingten Abwesenheit, stellt sich die Zielsetzung des Rückkehrgespräches in zwei Dimensionen dar: Zum einen sollte die Führungskraft - wie nach einer geplanten Abwesenheit auch - Interesse am Mitarbeiter zeigen und dem Mitarbeiter die Integration in den laufenden Arbeitsprozess erleichtern. Zum anderen hat sie die Aufgabe, eventuelle arbeits- und motivationsbedingte Ursachen für ein Fernbleiben von der Arbeit zu erkennen und mit diesen aktiv umzugehen. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, Rückkehrgespräche mit dem Fokus auf Krankheiten zu führen. Rasch kann hier auch der Sprachgebrauch von Krankenverfolgungsgesprächen entstehen. Genau das Gegenteil sollte der Fall sein. Gut und stimmig geführte Rückkehrgespräche dienen der Prävention von Absentismus und steigern die Anwesenheitsquote der Mitarbeiter. Rückkehrgespräche sollten auf Augenhöhe mit dem Mitarbeiter stattfinden, damit sie als Wertschätzung der Person wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung des Mitarbeiters durch die direkte Führungskraft ist ein wesentlicher Faktor, der die Mitarbeiterzufriedenheit maßgeblich beeinflusst. Wird das Rückkehrgespräch nur selektiv und wenig zeitnah von der Führungskraft angeboten, kann beim Mitarbeiter der Eindruck entstehen, dass sein Fehlen von der Führungskraft nicht wahrgenommen wird und demnach nicht relevant ist. Setzt sich die Erkenntnis „Einer fehlt, und niemand bemerkt es“ als Teil der Unternehmenskultur durch, ist die Steigerung der motivationsbedingten Fehlzeiten vorprogrammiert. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Die Rückkehr an den Arbeitsplatz kann man als ein erneutes Onboarding 574 betrachten. Entsprechend können Möglichkeiten wie der Blumenstrauß zum Wiedereinstieg oder das Willkommensgespräch im Team zum Einsatz kommen. Entscheidend ist die Wahrnehmung des Mitarbeiters als Mensch und nicht nur als Produktionsfaktor. Neben dem Blick auf den wieder an den Arbeitsplatz zurückgekehrten Mitarbeiter gilt es, auch die Kollegen im Team nicht zu vergessen. Die Führungskraft sollte bereits während der Abwesenheit des Mitarbeiters das Gespräch mit dem Team suchen: Welche Zusatzbelastungen entstehen während seiner Abwesenheit? Wie können diese kompensiert werden? Welche Prioritäten müssen während der Dauer der Abwesenheit verändert werden? Wo sind Abläufe anders zu organisieren oder Verantwortlichkeiten zu verlagern? Ein Element der Wertschätzung für den ungeplant abwesenden Mitarbeiter kann der Blumengruß ins Krankenzimmer oder auch der persönliche Krankheitsbesuch durch Mitarbeiter oder Führungskräfte darstellen. Im Vorfeld eines solchen Besuches sollte man allerdings klären, ob der Mitarbeiter einen Besuch wünscht oder ob er während seiner Krankheitsphase möglichst keinen Kontakt mit dem Betrieb halten möchte. 574 Vergleiche hierzu Kapitel 8.2. <?page no="428"?> 428 8 Personal Weist der Arbeitnehmer aufgrund von Erkrankungen innerhalb der letzten 12 Monate Fehlzeiten auf, die länger als sechs Wochen betragen, findet das Rückkehrgespräch im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements 575 statt. In diesem Zusammenhang sind weitere Kriterien zu beachten. Ist die Wiederkehr des Mitarbeiters absehbar, terminiert die Führungskraft das Rückkehrgespräch auf den ersten Arbeitstag. Bei geplanten Abwesenheiten kann das Rückkehrgespräch bereits vor der Abwesenheit terminiert werden. Die Führungskraft eröffnet das Rückkehrgespräch - auch nach ungeplanter Abwesenheit - einladend und bedankt sich, dass der Mitarbeiter wieder am Arbeitsplatz erschienen ist. Um die Integration in den Arbeitsalltag zu erleichtern, berichtet die Führungskraft in der ersten Phase des Rückkehrgespräches über Veränderungen und Neuigkeiten, die sich in der Zwischenzeit am Arbeitsplatz, bei Kollegen, im Betrieb oder bei Produkten ergeben haben. Ziel ist es, den Mitarbeiter auf den aktuellen Stand zu bringen. War die Abwesenheit des Mitarbeiters ungeplant, lädt die Führungskraft den Mitarbeiter auf freiwilliger Basis ein, über seine Abwesenheit zu berichten und stellt die Frage, ob die Abwesenheit etwas mit der Arbeit zu tun habe. Falls der Mitarbeiter dies bejaht, kann es hilfreich sein, die verschiedenen Bereiche des Gesundheitsmanagements 576 mit Blick auf Verbesserungspotenziale mit dem Mitarbeiter durchzugehen: Kann im Bereich des Gesundheitsschutzes, zum Beispiel durch Heizung oder Belüftung, etwas verändert werden? Gibt es Möglichkeiten im Bereich der Gesundheitsstabilisierung, zum Beispiel durch einen speziellen Rückenkurs? Wo kann die Arbeitsplatzgestaltung, zum Beispiel durch ergonomische Optimierungen wie einen höhenverstellbaren Schreibtisch, verbessert werden? Welche Unterstützungen existieren im Bereich von Suchterkrankungen oder im Umgang mit chronischen Erkrankungen - entweder für den möglicherweise erkrankten Mitarbeiter oder wenn der Mitarbeiter als Angehöriger einer erkrankten Person besonders belastet ist. Schließlich ist auch noch an den Bereich der Arbeitssituation und den Umgang im Kollegenkreis zu denken. Unter Umständen gibt es hier Möglichkeiten, die Kommunikation untereinander zu verbessern, um beispielsweise ersten Ausgrenzungstendenzen entgegenzuwirken, die bis zum Mobbing reichen können. Es ist wichtig, dass das Rückkehrgespräch so geführt wird, dass es der Mitarbeiter als Wertschätzung vonseiten der Führungskraft empfindet. Beim Mitarbeiter sollte der Eindruck entstehen, dass sein Fehlen wahrgenommen und als Verlust gedeutet wird und dass sich die Führungskraft aktiv mit dieser Situation auseinandersetzt. Liegen Gründe für motivationsbedingte Abwesenheitszeiten des Mitarbeiters vor, werden diese im Gespräch gesammelt und vertieft. Die Führungskraft verhält sich in Bezug auf eventuelle Rechtfertigungen zurückhaltend und erarbeitet mit dem Mitarbeiter erste Lösungsideen, wie mit diesen Gründen umgegangen werden kann. Idealerweise können mit Hilfe dieser Lösungsideen im Gespräch konkrete Optimierungsoptionen ausgearbeitet werden, die pilothaft in den Arbeitsalltag umgesetzt werden kön- 575 Vergleiche hierzu Kapitel 8.5. 576 Vergleiche Bitzer (2016, S. 9). <?page no="429"?> 8.4 Rückkehrgespräche 429 8 nen. Wichtig: Vor der Vereinbarung von Optimierungsoptionen muss man klären, ob der Mitarbeiter noch Schonung benötigt oder wieder voll belastbar eingesetzt werden kann. Das Rückkehrgespräch schließt mit einer gemeinsamen Vereinbarung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft über das weitere Vorgehen ab. Bei geplanten Abwesenheiten kann dies ein nach drei weiteren Arbeitstagen kurzer gemeinsamer Kaffee sein, um die bis zu diesem Termin aufgetauchten Fragen zu klären. Bei ungeplanten Abwesenheiten kann dies ein gemeinsamer Evaluationstermin der vereinbarten Optimierungsmaßnahmen sein. Ein gemeinsames Willkommensgespräch mit dem Team kann sich dem Rückkehrgespräch zwischen Mitarbeiter und Führungskraft anschließen. Abbildung 161: Eskalierende Gesprächssystematik 577 Treten bei einem Mitarbeiter trotz sorgfältig geführter Rückkehrgespräche auffällige Fehlzeiten auf - zum Beispiel immer wieder kurze Erkrankungen, Erkrankungen nach Wochenenden und Feiertagen oder Fehlzeiten ohne Entschuldigung -, können diese ein Indikator für motivationsbedingte Abwesenheiten sein. Hier empfiehlt sich eine wie in Abbildung 161 dargestellte eskalierende Gesprächsführung, bei der auf jeder Stufe durchaus mehrere Gespräche geführt werden können. Tragen wiederholt durchgeführte Rückkehrgespräche nicht dazu bei, die auffälligen Fehlzeiten zu senken, dann bietet sich auf der zweiten Stufe ein Fehlzeitengespräch im Büro der Führungskraft - so genanntes Fehlzeitengespräch I - an. Inhalt dieser zweiten Stufe ist die Auseinandersetzung und Konfrontation des Mitarbeiters mit seinen exakten Fehlzeiten anhand einer Visualisierung. Es werden mit dem Mitarbeiter Korrekturmaßnahmen vereinbart, um die Fehlzeiten zu senken. Die Maßnahmen werden in einer Zielvereinbarung festgehalten. Mögliche Konsequenzen, falls die Zielvereinbarung nicht eingehalten wird, werden gemeinsam reflektiert und dokumentiert. Sollte das Fehlzeitengespräch auf der zweiten Stufe der Eskalationspyramide keine Verhaltensänderung beim Mitarbeiter bewirken, ist die Führungskraft gezwungen, 577 Modifiziert nach Bitzer (2016, S. 53). <?page no="430"?> 430 8 Personal das Fehlzeitengespräch auf der dritten Stufe - so genanntes Fehlzeitengespräch II - zu terminieren. Dieses findet nicht mehr im Büro der Führungskraft, sondern in der Personalabteilung statt und wird von der Personalabteilung geführt. Der Mitarbeiter hat das Recht, einen Vertreter des Betriebs- oder Personalrates hinzuzuziehen. Nach einer erneuten Konfrontation mit den aktuellen Fehlzeiten des Mitarbeiters werden mögliche arbeitsrechtliche Konsequenzen durch die Personalabteilung verdeutlich. Ziel dieser dritten Stufe ist es - wie bei den Fehlzeitengesprächen auf den anderen Stufen auch - eine Zielvereinbarung zu treffen, die zur Senkung der Fehlzeiten beiträgt. Auch dieses Fehlzeitengespräch wird inklusive der Zielvereinbarung und möglicher Konsequenzen dokumentiert, um im ungünstigsten Fall arbeitsrechtliche Schritte einleiten zu können. Weiterführende Hinweise Im Austausch über die Ursachen von Fehlzeiten stellen Führungskräfte immer wieder die Frage nach der Art der Erkrankung. Die Kenntnis über die Art der Erkrankung hilft in der Regel jedoch kaum weiter. Weitaus wichtiger ist die Frage nach den Konsequenzen der Erkrankung für das betriebliche Handeln: Welche Belastungen sollten unbedingt vermieden werden? Auf was ist zukünftig zu achten? Von welchen Aspekten sollten die Kollegen Kenntnis haben, um den Umgang mit der Erkrankung möglichst einfach zu gestalten? Wichtig: Es gibt für den Mitarbeiter keine Pflicht, seine Diagnose zu nennen. Auch wenn die kurzfristigen Erkrankungen des Mitarbeiters Auffälligkeiten aufweisen - zum Beispiel, dass ein Mitarbeiter immer an Montagen oder nach Feiertagen zu spät zur Arbeit erscheint -, ist auf den einladenden Charakter des Rückkehrgespräches zu achten. Vielleicht hängen die Fehlzeiten nicht mit der Partyfreudigkeit des Mitarbeiters, sondern mit der Verantwortung für pflegebedürftige Familienangehörige am Wochenende und an Feiertagen zusammen. Es ist bei auffälligen Fehlzeiten stets zu thematisieren, ob die Ursachen im Betrieb liegen. Sollte dies - wie im obigen Beispiel - nicht der Fall sein, kann man in einem zweiten Schritt klären, welchen Beitrag der Betrieb leisten könnte, um den Mitarbeiter mit Blick auf die Folgen der privaten Belastungssituation zu unterstützen. Im hier gewählten Beispiel könnten der spätere Arbeitsbeginn nach Wochenenden und Feiertagen Möglichkeiten sein, um beispielsweise die Übergabe an Pflegehelfer entspannter und ohne Zeitdruck zu gestalten. Im Zusammenhang mit Rückkehr- und Fehlzeitengesprächen kann es leicht passieren, dass eine Fokussierung der Führungskraft auf die abwesenden Mitarbeiter erfolgt. Mitarbeiter, die nie ungeplant fehlen, immer da sind und dadurch den Absentismus der anderen Mitarbeiter kompensieren, können somit aus dem Blick der Führungskraft geraten. Hier gilt es, das Gespräch mit den anwesenden Mitarbeitern nicht nur bei hohen Fehlzeiten im Team zu suchen, 578 sondern auch und gerade im Normalbetrieb; mit dem Nebeneffekt, dass Mitarbeiter mit hoher Fehlzeitenquote einen Ein- 578 Siehe hierzu Matyssek (2019, S. 10 ff). <?page no="431"?> 8.4 Rückkehrgespräche 431 8 druck bekommen, was ihnen aufgrund des häufigen Fehlens sowohl hinsichtlich des Umgangs mit der Führungskraft als auch bezüglich deren Wertschätzung entgeht. Ein wesentlicher Faktor für hohe Fehlzeiten kann auch die direkte Führungskraft selbst darstellen. Hier empfiehlt sich die Reflexion des persönlichen Verhaltens in Bezug auf Belastung und Überlastung des Teams und hinsichtlich des individuellen Gesundheitsverhaltens. 579 579 Zahlreiche Hinweise dazu findet man bei Matyssek (2019, S. 23 ff). <?page no="432"?> 8.5 Betriebliches Eingliederungsmanagement Problemstellung: Wiedereinstieg von Mitarbeitern nach längeren Krankheitszeiten oder Vorbereitung einer krankheitsbedingten Kündigung Zielgruppe: Geschäftsführung und Personalleitung Voraussetzungen: Vorliegen eines definierten Prozesses zur Erfüllung der Forderungen des § 167 Absatz 2 SGB IX Zielsetzung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements Der Gesetzgeber sieht das Betriebliche Eingliederungsmanagement, häufig mit BEM abgekürzt, als einen Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit. Im Kontext des demografischen Wandels ist es eine Option, den entsprechenden Folgen zu begegnen. Durch die frühzeitige Intervention möchte das BEM die individuellen Chancen steigern, den Arbeitsplatz zu behalten. „Gesetzlich verankert ist das BEM in § 167 Absatz 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (…). Dort ist festgelegt, dass ein Arbeitgeber allen Beschäftigten, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, ein BEM anzubieten hat. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber klären muss, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.“ 580 Die Ausgestaltung des BEM-Ablaufs bleibt weitgehend dem Arbeitsgeber überlassen. Gesetzlich vorgeschrieben ist die Beteiligung des Betriebs- oder Personalrates, die der Arbeitnehmer aber ohne Begründung ablehnen kann. Bei schwerbehinderten Beschäftigten ist zusätzlich die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung vorgesehen. Beschreibung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements Es liegt in der Verantwortung von Geschäftsführung und Personalabteilung, ein strukturiertes BEM-Verfahren für den Betrieb vorzubereiten. Grundlage dafür ist die Information der Belegschaft über BEM und die Schaffung von Akzeptanz bei Führungskräften und Belegschaft für das konkrete BEM-Verfahren. Es gilt, verantwortliche Personen für das BEM-Verfahren festzulegen und die krankheitsbedingten Fehlzeiten systematisch zu erfassen. Das BEM-Verfahren muss eingeleitet werden, sobald eine Arbeitsunfähigkeit eines Mitarbeiters von mindestens sechs Wochen in den letzten 12 Monaten festgestellt wurde, unabhängig davon, ob diese am Stück oder in mehreren Etappen aufgetreten ist. Die Personalabteilung stellt den ersten Kontakt her und vereinbart mit dem betroffenen Mitarbeiter einen Termin für ein Informationsgespräch. Dem Mitarbeiter steht es frei, das BEM abzulehnen. Damit wäre das BEM-Verfahren bereits an dieser 580 Siehe hierzu die Online-Publikationen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales - Stichwort: BEM. 432 8 Personal <?page no="433"?> 8.5 Betriebliches Eingliederungsmanagement 433 8 Stelle beendet. Stimmt der Mitarbeiter dem BEM zu, können die BEM-Gespräche beginnen. In einer Fallbesprechung werden gemeinsam mit dem betroffenen Mitarbeiter, dem BEM-Verantwortlichen, gegebenenfalls dem Betriebsarzt, der Schwerbehindertenvertretung und externen Experten Verbesserungsmöglichkeiten erörtert und das weitere Vorgehen besprochen. Hierbei können unterschiedliche Maßnahmen in Erwägung gezogen werden: Maßnahmen zur Überwindung der Arbeitsunfähigkeit wie medizinische und berufliche Rehabilitation, stufenweise Wiedereingliederung nach dem Hamburger Modell oder Belastungserprobung; Maßnahmen zur Vorbeugung einer erneuten Arbeitsunfähigkeit wie Arbeitsmedizinische Beratung, Gesundheitsförderung oder Zuschüsse für Arbeitshilfen im Rahmen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben; Maßnahmen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes wie Wechsel des Arbeitsbereiches, Telearbeit oder Arbeitsassistenz. Wichtig ist, die Durchführung des BEM zu dokumentieren und die Wirksamkeit der vereinbarten Maßnahmen immer wieder zu bewerten. Die BEM-Dokumentation ist von der Personalakte getrennt zu verwalten. Da es unwahrscheinlich ist, dass bereits in der ersten Fallbesprechung vollständige Lösungsoptionen zur Sprache kommen, hat sich - ähnlich wie beim Vorgehen zum Thema Lean Administration 581 -, eine schrittweise Annäherung an das Zielbild bewährt. 582 Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Je nach Erkrankung beziehungsweise Grund für die hohe Ausprägung der Arbeitsunfähigkeit kann sich die Durchführung des BEM sehr unterschiedlich gestalten. Dies wird im Folgenden an zwei Beispielen erläutert: Beispiel 1: Eine Verwaltungsmitarbeiterin hat während ihres Winterurlaubs einen Skiunfall. Im Krankenhaus wird eine Verletzung der Wirbelsäule diagnostiziert, sodass sich an den Krankenhausaufenthalt eine stationäre Rehabilitation anschließt. Nach Abschluss der Rehabilitation lädt die Personalabteilung die Mitarbeiterin zum detaillierten Informationsgespräch über das im Betrieb praktizierte BEM ein. Die Mitarbeiterin nimmt das Informationsangebot an und stimmt dem BEM-Verfahren zu, womit das BEM-Erstgespräch mit dem BEM-Team - bestehend aus einem Vertreter des Betriebsrates, dem Personalleiter und dem direkten Vorgesetzten - stattfinden kann. Die Mitarbeiterin stellt Unterlagen aus der Rehabilitation mit klaren Handlungsempfehlungen wie stufenweiser Wiedereinstieg, höhenverstellbarer Schreibtisch und Lasteinschränkung beim Heben zur Verfügung. Der Personalleiter erklärt sich bereit, die Organisation des stufenweisen Wiedereinstieges zu übernehmen, die unter ande- 581 Siehe hierzu Kapitel 7.4. 582 Zahlreiche Krankenkassen bieten für Arbeitgeber Arbeitsmaterialien, Formulare und Präsentationen zur Ein- und Durchführung von BEM auf ihren Webseiten zum Download an. <?page no="434"?> 434 8 Personal rem Absprachen mit Kostenträgern umfasst. Zudem wird die Bestellung eines höhenverstellbaren Schreibtisches veranlasst. Die Führungskraft thematisiert Überlegungen zur Umorganisation der Arbeit im Team, da die Mitarbeiterin auch für den Posteingang verantwortlich ist und dort gelegentlich größere Hebelasten auftreten. Der Vertreter des Betriebsrates weist darauf hin, dass der Posteingang in Abwesenheit der Mitarbeiterin umorganisiert wurde und dass diese neue Organisationsform unter Umständen beibehalten werden könne. Gemeinsam wird vereinbart, den Wiedereinstieg mit zunächst vier Stunden täglicher Arbeitszeit zu gestalten, um nach Ablauf von zwei Wochen zu entscheiden, ob die tägliche Arbeitszeit auf sechs Stunden erhöht werden kann. Die Mitarbeiterin bespricht diesen Vorschlag mit ihrem Arzt, während die Führungskraft das Team über den bevorstehenden Wiedereinstieg informiert. Das BEM- Team trifft sich am Ende der zweiten Woche nach Wiedereinstieg zur nächsten Sitzung. Das BEM-Verfahren endet acht Wochen nach Wiedereinstieg. Für zwei Kollegen aus dem Team, die auch über Rückenprobleme klagen, steht ebenfalls ein höhenverstellbarer Schreibtisch zur Diskussion. Die Personalabteilung plant, die vorhandenen Rückenkurse zur Prävention beim nächsten Gesundheitstag aktiv zu bewerben. Die Mitarbeiterin hat die Verantwortung für den Posteingang wieder übernommen und holt sich bei schweren Wareneingängen Hilfe im Team, was ungefähr alle drei Wochen der Fall ist. Beispiel 2: Ein Logistikmitarbeiter im Warenversand ist schon über zehn Jahre im Betrieb und bringt immer wieder Verbesserungsideen ein. Seit ungefähr sieben Monaten ist er häufig für ein oder zwei Tage erkrankt. In den sich anschließenden Rückkehrgesprächen formuliert der Teamleiter Optimierungsideen und bietet konkrete Hilfestellungen an - bislang jedoch ohne Erfolg. Beim Versand großer Paketstücke verletzt sich der Mitarbeiter aufgrund eines Missgeschicks am Fuß und fällt drei Wochen aus. Durch weitere kurzfristige Arbeitsunfähigkeiten werden in Summe sechs Wochen Abwesenheit überschritten. Routinemäßig lädt der Personalleiter daher zur Information über das BEM-Verfahren ein, das der Mitarbeiter zunächst ablehnt, dann aber doch akzeptiert. So kommt es zum ersten BEM-Gespräch mit dem BEM-Team bestehend aus einem Vertreter des Betriebsrates, dem Personalleiter und dem direkten Vorgesetzten. Der Mitarbeiter zeigt sich angesichts der hohen Zahl an Abwesenheitstagen erschrocken und zweifelt zunächst die Richtigkeit der Daten an. Nachdem der Personalleiter die Datenlage im Detail erklärt, versucht der Mitarbeiter jeden einzelnen Abwesenheitstag mit den unterschiedlichsten Begründungen zu versehen. Der Vertreter des Betriebsrates erinnert den Mitarbeiter an die Zielsetzung des BEM-Gespräches, die darin besteht, gemeinsam zu überlegen, wie der Mitarbeiter nach diesen häufigen Abwesenheiten wieder zuverlässig in den Betrieb integriert werden kann. Der Teamleiter erklärt, dass das Team die häufigen und ungeplanten Ausfälle bislang aufgefangen hat, nun jedoch an gewisse Belastungsgrenzen zu kommen droht. Nicht zuletzt aufgrund des offenen, wertschätzenden und auf Augenhöhe stattfindenden Gespräches beginnt sich der Mitarbeiter dem BEM-Team zu öffnen und berichtet von seiner schwierigen familiären Situation mit seinen betagten Eltern, der bisher erfolglosen Suche nach einem ambulanten Betreuungsangebot und seiner Verpflich- <?page no="435"?> 8.5 Betriebliches Eingliederungsmanagement 435 8 tung, im Zweifelsfall für seine Eltern Zeit haben zu müssen, ungeachtet des Risikos, dass dadurch eine unangenehme Situation aufseiten des Arbeitgebers entstehen könnte. Der Personalleiter kennt diese Situation von anderen Mitarbeitern und verfügt über gute Kontakte zu Betreuungsdiensten, die er dem Mitarbeiter zur Verfügung stellen kann. Der Teamleiter schlägt vor, dass der Mitarbeiter für die Zeit, bis die Betreuung der Eltern geklärt ist, seine tägliche Arbeitszeit reduziert, damit ihm genügend Zeit für seine Eltern bleibt. Da sich das Stundenkonto des Mitarbeiters im Plus befindet, wird vereinbart, dass dieses in den nächsten acht Wochen mit bis zu 160 Minusstunden belastet werden kann. Der Vertreter des Betriebsrates weist auf die zusätzliche Arbeit der Kollegen im Team hin und regt eine kleine Prämie als Anerkennung für deren Einsatz an. Der Personalleiter und der Teamleiter erbitten sich dazu Bedenkzeit. Der Mitarbeiter möchte das Team zu einem kleinen Frühstück einladen, sobald die Betreuung seiner Eltern geklärt ist. Die Ergebnisse werden protokolliert und ein nächstes Treffen des BEM-Teams mit dem Mitarbeiter in vier Wochen vereinbart. Eventuell hätte ein ähnliches Ergebnis auch schon in den ersten Rückkehrgesprächen zwischen Mitarbeiter und Teamleiter erreicht werden können. Mit Hilfe des BEM- Verfahrens möchte man sicherstellen, dass es nicht vorschnell zu unnötigen Eskalationen kommt, sondern dass mit Blick auf den Erhalt beziehungsweise die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit alles versucht wird, um Lösungen zu finden. Auf der Basis des besonderen Vertrauensverhältnisses, das dem BEM-Verfahren zu eigen ist, werden solcherart Lösungen gefördert. 583 Weiterführende Hinweise Die Methodik des BEM-Verfahrens bietet sich bereits bei kürzeren Fehlzeiten und insbesondere dann an, wenn Rückkehrgespräche ohne Erfolg bleiben. Der Fokus sollte dabei auf Ideen und Vorschlägen zum Erhalt beziehungsweise zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Mitarbeiters liegen und auch Überlegungen zur Veränderung der Arbeitsaufgabe miteinbeziehen. Die Pflicht zur Durchführung des BEM-Verfahrens soll den Mitarbeiter vor einer vorschnellen krankheitsbedingten Kündigung schützen. Ein Arbeitgeber ist gut beraten, vor einer Kündigung das BEM anzubieten: „Verzichtet ein Arbeitgeber - entgegen seiner Verpflichtung nach § 167 Absatz 2 SGB IX - vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung darauf, diese milderen Alternativen zu einer Kündigung zu identifizieren, liegt bei ihm die Beweislast, dass auch bei Durchführung eines BEM das Arbeitsverhältnis nicht hätte erhalten werden können. Das bedeutet, dass ein Arbeitgeber, der vor der krankheitsbedingten Kündigung eines Arbeitnehmers kein BEM durchführt, einem erheblichen Risiko ausgesetzt ist, einen nachfolgenden Kündigungsschutzprozess zu verlieren.“ 584 583 Vergleiche im Überblick Stöpel, Lange & Voß (2020). 584 Siehe hierzu die Online-Publikationen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales - Stichwort: BEM. <?page no="436"?> 436 8 Personal Das Betriebliche Eingliederungsmanagement lebt davon, dass möglichst viele Ideen zur Lösung generiert und erörtert werden. Insofern bietet es sich immer an, den Werks- oder Betriebsarzt hinzuzuziehen oder den Mitarbeiter anzuregen, den Arzt seines Vertrauens in das Verfahren zu integrieren. Kommen für die Überwindung der Arbeitsunfähigkeit und der Vorbeugung einer erneuten Erkrankung Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, dann ist der Arbeitgeber aufgefordert, die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt einzubinden. Um im BEM-Team die Gespräche in einladender und wertschätzender Atmosphäre führen zu können, bedarf es häufig einer zusätzlichen Qualifizierung der BEM-Team-Mitglieder. Diese Qualifikation und deren regelmäßige Auffrischung lohnen sich nicht nur menschlich, sondern auch betriebswirtschaftlich, wenn man die potenziellen Abwesenheitszeiten gegenrechnet. Die Methodenvorschläge dazu sind zahlreich. 585 585 Bitzer (2016) empfiehlt die Transaktionsanalyse als methodischen Hintergrund. Stöpel, Lange & Voß (2020) fordern ein betriebliches Qualitätsmanagement für BEM. <?page no="437"?> 8 8.6 Coaching Problemstellung: Mitarbeiter und Führungskräfte bei Fragen des Selbstmanagements und der Führungs- und Kommunikationskompetenz stärken Zielgruppe: Alle Mitarbeiter und Führungskräfte Voraussetzungen: Bereitschaft zur persönlichen Weiterentwicklung und Vorhandensein eines Problembewusstseins für den persönlichen Optimierungsbedarf Zielsetzung des Coachings Im klassischen Arzt-Patient-Verhältnis führt der Arzt die Anamnese und Diagnose durch, um dem Patienten Therapieempfehlungen zu geben. Der Arzt ist dabei der Fachexperte, der Patient der Anwender. Im Gegensatz zum Arzt-Patient-Verhältnis macht der Coach im Coaching keine direkten Lösungsvorschläge, sondern begleitet den Coachee bei der Entwicklung eigener Lösungen. Der Coach fungiert als Prozessberater auf dem Weg zu Verbesserungsoptionen für den Coachee. Im Idealfall lernt der Coachee, „seine Anliegen selbst zu lösen, klare Ziele zu setzen und wieder eigenständig effektive Ergebnisse zu produzieren“ 586 . Die Grundhaltung im Coaching ist somit die Hilfe zur Selbsthilfe. 587 Coaching eignet sich für die unterschiedlichsten Handlungsanlässe. Angefangen von der Begleitung einzelner Mitarbeiter und Führungskräfte in Veränderungssituationen über die persönliche Weiterentwicklung - nicht nur im betrieblichen Kontext - bis hin zur Unterstützung in Krisensituationen und bei der Entscheidungsfindung. Dabei ist Coaching deutlich von einer Psychotherapie abzugrenzen. Im Coaching wird von der Grundannahme ausgegangen, dass der Coachee nicht psychisch krank ist, sondern nur in der spezifischen Handlungssituation nicht mehr über seine prinzipiell zur Verfügung stehenden Ressourcen verfügt. Es geht im Coaching um Weiterentwicklung, nicht um Heilung wie es die Psychotherapie zum Ziel hat. Beschreibung des Coachings Unabhängig, ob der Coaching-Anlass ein Defiziterleben oder die Vorbereitung auf eine herausfordernde berufliche Situation ist, startet das Coaching mit klaren Zielformulierungen für den Coaching-Prozess. Es hat sich bewährt, diese Ziele als SMART- Ziele auszuformulieren. Die einzelnen Buchstaben des englischsprachigen Akronyms stehen für S Specific (spezifisch), M Measurable (messbar), A Achievable/ Accepted (erreichbar/ akzeptiert), 586 Rauen (2014, S. 2). 587 Vergleiche Martens (2005). 8.6 Coaching 437 <?page no="438"?> 438 8 Personal R Reasonable (realistisch), T Time-bound (terminiert). Latham und Locke haben bereits in den 1990er-Jahren nachgewiesen, 588 dass SMARTausformulierte Ziele Menschen zur Handlung und damit zur Umsetzung der Zielerreichung motivieren. Der Coach erarbeitet mit dem Coachee, wie das Ziel spezifisch formuliert werden könnte. Also anstatt zu formulieren: „Ich möchte, dass mich der Mitarbeiter Maier besser unterstützt“ sollte es lauten: „Ich möchte, dass Herr Maier das Arbeitspaket Projektcontrolling von mir vollumfänglich übernimmt.“ Unter dem Stichwort messbar geht es darum, dass die Führungskraft später prüfen kann, ob sie ihr Ziel erreicht hat. Zum Beispiel: „Wenn Herr Maier das Projektcontrolling verantwortet, lässt er mir zum 25. eines jeden Monats einen kurzen Bericht über maximal drei Seiten zukommen und spricht mich bei kritischen Vorfällen innerhalb von 72 Stunden an.“ Unter dem Stichwort akzeptiert geht es um die Fragestellung, ob es aus Sicht des Coachee nicht noch Risiken oder Unwägbarkeiten gibt, die ihn hindern, initiativ zu werden. Hier könnte die Antwort auf die Frage des Coaches: „Gibt es noch etwas, das Sie daran hindern könnte, die neue Verhaltensweise mit Herrn Maier zu vereinbaren? “ sein: „Ja, von heute auf morgen auf einen Monatsrhythmus zu wechseln, ist mir zu risikoreich. Ich werde mit ihm zunächst einen Wochenrhythmus vereinbaren. Dann sehe ich, ob es funktioniert, und danach kann ich auf einen Zweiwochenrhythmus verlängern. Bei positivem Verlauf werde ich auf den Monatsrhythmus gehen.“ Terminierte Ziele sorgen dafür, dass keine Zeit verschenkt wird. Häufig helfen Zwischenziele, den Weg einfacher zu gehen. Für einen Coachee mögen das zum Beispiel jeweils zwei Monate für die Erprobung der Vereinbarung sein, sodass er nach vier Monaten beim Monatsrhythmus der Projektcontrolling-Berichte angelangt ist. Schließlich geht es für den Coachee darum, dass das Ziel realistisch ist. Der Coach wird ihn dazu fragen, ob er ausreichend Einfluss auf die entscheidenden Faktoren hat oder ob Abhängigkeiten bestehen, für die der Coachee Lösungsideen erarbeiten sollte. Mit diesem klaren Handlungsplan wird die Coaching-Sitzung beendet und der Coachee in die Umsetzungsphase entlassen. Eine wirkungsvolle und effiziente Strategie im Coaching ist der lösungsfokussierte Ansatz. Er ist aus der lösungsfokussierten Kurzzeittherapie abgeleitet, die im englischsprachigen Kontext Solution Focused Brief Therapy genannt wird. 589 Im Gegensatz zu einem rein problemorientierten Vorgehen wird im lösungsfokussierten Vorgehen der Weg zum Ziel rekonstruiert. Dazu gilt es in einem ersten Schritt, den Ziel-Zustand intensiv zu erleben, um im zweiten Schritt die Elemente des Zielzustandes zu erkennen, die im eigenen Arbeitsalltag immer wieder auftreten. Sind diese identifiziert, kann in einem dritten Schritt erarbeitet werden, wie sich diese - im lösungsfokussierten Vorgehen „Ausnahmen vom Problem“ genannt - Schritt für Schritt immer weiter ausbauen lassen. Die Möglichkeit, anhand von Elementen des Zielzustandes den Weg schrittweise aus dem Problemzustand herauszufinden, wirkt auf den Coachee äußerst motivierend. 588 Latham & Locke (1991) haben dafür den Begriff des Goal Setting geprägt. 589 Vergleiche Shazer (2019). <?page no="439"?> 8.6 Coaching 439 8 In der Regel findet das Coaching über mehrere Sitzungen hinweg statt. Die Folgetermine werden am Ende eines Coaching-Treffens vereinbart, in Abhängigkeit vom Aufwand für das Erproben der erarbeiteten Umsetzungsideen. Zu Beginn eines jeden Folgetermins werden die Umsetzungserfahrungen des Coachee thematisiert. Darauf aufbauend erarbeiten Coachee und Coach das Ziel der Folgesitzung. Dazu bietet sich die Orientierung an der bereits erarbeiteten SMART-Zielformulierung an. Die Umsetzungserfahrungen seit der vergangenen Coaching-Sitzung wirken sich in der Regel auf die weitere Präzisierung der SMART-Zielformulierung aus oder geben Hinweise auf bislang zu wenig beachtete Facetten, die im Coaching zusätzlich thematisiert werden können. Charakteristisch für Coachings ist die Vier-Augen-Situation als vertrauliches Gespräch zwischen Coachee und Coach, die in der Regel über mehrere Sitzungen verläuft. Nachdem in der Auftragsklärung die Zielsetzung definiert wurde, finden diese als Präsenztreffen oder auch in Form von Videokonferenzen oder Coaching-Telefonaten im frei gewählten Rhythmus statt. Ist eine dritte Person der Auftraggeber, wie der Vorgesetzte des Coachee, empfiehlt es sich, alle drei bis fünf Coaching-Sitzungen so genannte Schulterblicktermine durchzuführen, um das Dreiecksverhältnis Coachee, Auftraggeber und Coach in Balance zu halten. Dies gewährleistet, dass der Auftraggeber in den Coaching-Prozess involviert und der Coaching-Prozess auch im Sinne des Auftraggebers zielorientiert ausgerichtet bleibt. Ist das Coaching-Ziel erreicht, werden die wesentlichen Lernerfahrungen zusammengefasst, ein Abschlussgespräch mit dem Auftraggeber geführt und der Coaching-Vertrag beendet. Stellt die Personalabteilung einen Pool von Coaches bereit, wird das Coaching in der Regel durch die Personalabteilung zusätzlich evaluiert. Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Häufig verfügt die Personalabteilung über einen Katalog qualitätsgesicherter Coaches. Nach der Freigabe des Coachings durch den Vorgesetzten wählt der Mitarbeiter ein bis drei Coaches zum Kennenlernen aus. Kennenlerngespräche zwischen Coach und Mitarbeiter erleichtern die Entscheidung des Mitarbeiters für den passenden Coach, und das erste Coaching-Treffen wird terminiert. Zum Start des Coachings findet die Auftragsklärung statt: Ist der Auftraggeber der Coachee selbst? Dann kann von Beginn an mit den Methoden des Potenzial- und Karriere-Coaching gearbeitet werden. Ist der Auftraggeber eine dritte Person, zum Beispiel der Vorgesetzte des Mitarbeiters, dann handelt es sich um ein so genanntes Defizit- oder Crash-Coaching. Bei dieser Ausgangssituation ist der erste Schritt, die Problemeinsicht und die Zustimmung zur Entwicklungsnotwendigkeit durch den Coachee zu erreichen. Im Anschluss daran können die Methoden des Potenzial- und Karriere- Coaching im Coaching-Verfahren zum Einsatz gebracht werden. Im Rahmen der Auftragsklärung werden mit dem Auftraggeber die Berichtswege und die Vertraulichkeit definiert. Es gilt zu entscheiden, wer von wem zu welchem Zeitpunkt über welche Inhalte des Coaching Kenntnis bekommt und wer nicht. Gemein- <?page no="440"?> 440 8 Personal sam mit dem Kostenträger und dem Coachee muss man klären, mit welchem Zielbild das Coaching gestartet werden soll. Häufig liegt das Ziel ausformuliert in Form einer Potenzialaussage zum Beispiel aus einem Assessment-Center oder als Defizitfeststellung aufgrund eines vorangegangenen Konfliktes oder einer Minderperformance vor. Ob das Coaching durch einen internen oder externen Coach durchgeführt wird, hängt von der Personalsituation des Betriebes ab. Die Durchführung des Coachings kann unterschiedlich intensiv gestaltet werden. Angefangen vom Reinschnuppern und einem ersten Kennenlernen, ob Coaching eine Option für den Mitarbeiter sein könnte, bis hin zu der Position eines Klienten, der über ein klares Zielbild für den Coaching-Erfolg verfügt. Shazer führt dazu die Unterscheidung in Schaufensterbummler, Besucher und Klienten ein. 590 Verhalten sich Coaching-Klienten als Schaufensterbummler, kann man diesen zunächst - um im Bild zu bleiben - die „Auslage“ der Coaching-Techniken zeigen. Der Coach kann kleine Schnupperproben anbieten und Neugier auf ein Coaching wecken. Der Einsatz intensiver Coaching-Techniken wäre hier kontraproduktiv. Coachees mit einem akuten Problemdruck verhalten sich häufig wie Besucher, die einmalig oder für wenige Termine das Coaching suchen. Hier sollte man Techniken anwenden, die ihre Wirkung möglichst bereits in der Coaching-Sitzung selbst erfahren lassen. Verhält sich der Coachee als Klient, der bereit ist, sein Thema in einem intensiven Begleitungsprozess anzugehen, dann können im Coaching auch sitzungsübergreifende Techniken zum Einsatz kommen. Da in der Coaching-Sitzung einzig das Erleben des Coachees als Informationsquelle für das Coaching zur Verfügung steht, kann es angemessen sein, die Wahrnehmungsoptionen zu erweitern. Dazu begibt sich der Coach als teilnehmender Beobachter gemeinsam mit dem Coachee in dessen Handlungsfeld. Dies ist zum Beispiel beim Auftritts-Coaching oder Coaching von Moderationssituationen unabdingbar. Im Vertriebs-Coaching ist es üblich, gemeinsam mit dem Coachee am Verkaufsgespräch beim Kunden teilzunehmen, um gegebenenfalls an im Coaching erarbeitete Handlungsmuster zu erinnern oder diese - ähnlich wie in der Rollensimulation im Coaching - beim Kunden live demonstrieren zu können. Dieses Live-Coaching stellt ein Beispiel für den bisweilen fließenden Übergang zum Training-vor-Ort dar. Passt der lösungsfokussierte Ansatz als ein Weg, der vom Ziel-Zustand ausgeht, dann lädt er den Coachee dazu ein, sich diesen Ziel-Zustand mit allen Sinnen vorzustellen, sich gleichsam in den Ziel-Zustand einzufühlen. In Anlehnung an die Wunderfrage empfehlen sich Techniken im Coaching-Gespräch wie: 591 „Einmal angenommen, Herr Maier würde sie gut unterstützen - das wäre vielleicht ein Wunder, aber man kann Wunder auch nie ganz ausschließen -, also angenommen, Sie kämen zur Arbeit und das Wunder wäre geschehen … Woran würden Sie das Wunder erkennen? “ Wichtig ist dabei, dass der Coach dem Coachee Zeit lässt, dem Wunder in seinen Facetten 590 Vergleiche Shazer (2019, S. 104 ff). 591 Vergleiche Shazer & Dolan (2018, S. 70 ff). <?page no="441"?> 8.6 Coaching 441 8 nachzuspüren, das Gefühl des Wunders tatsächlich wahrzunehmen. Durch Wiederholen der Wunderfrage und sanftes weiteres Nachfragen des Coaches - „Woran würden Sie das Wunder noch erkennen? Wie würden es andere Personen in Ihrer Umgebung bemerken? Woran würden es andere Personen bemerken? Was würden andere Personen an Ihnen an Veränderungen bemerken? Was würde Ihr Mitarbeiter anders machen, was Sie ihm vielleicht überhaupt nicht zutrauen würden? Was würden Sie körperlich wahrnehmen, wenn das Wunder geschehen wäre? “ - wird der Zustand des Wunders für den Coachee immer intensiver erlebbar. Auf dieser Grundlage kann der Coach mit dem Coachee eruieren, ob nicht vielleicht heute schon Elemente des Zielverhaltens beim Mitarbeiter vorhanden sind. Dazu fragt der Coach gezielt nach Ausnahmen im problematischen Verhalten des Mitarbeiters: „Gibt es heute schon Verhaltensweisen des Mitarbeiters, die er auch in der Zeit nach dem Wunder zeigen würde? Wenn ja, wodurch und wann genau entstehen diese Verhaltensweisen bereits heute? Wer verhält sich wie anders, dass der Mitarbeiter sich eingeladen fühlt, seine Verhaltensweise zu verändern? “ Wenn durch diesen Konjunktiv - dem „als ob das Wunder bereits geschehen wäre“ - die Wahrnehmung des Coachees für das erwünschte Verhalten geschärft ist, wird das Coaching mit der Hausaufgabe abgeschlossen, sowohl das Verhalten des Mitarbeiters bezüglich erwünschter Ausnahmen zu beobachten und genau zu analysieren, was dieses Verhalten im positiven Sinne beeinflusst, als auch diese Elemente in Zukunft zu verstärken. Häufiges Coaching-Thema sind Kommunikationsprobleme zwischen einzelnen Personen. Für die Frage, wie die Kommunikation zwischen zwei Personen einfacher gestaltet werden kann, eignet sich die Coaching-Technik Meta-Spiegel. 592 Dazu geht der Coach mit dem Coachee die unbefriedigende Kommunikationssituation in vier aufeinander aufbauenden Wahrnehmungspositionen durch: Wahrnehmungsposition 1: Wie erlebt der Coachee die Kommunikationssituation in der Ich-Position? Was nimmt er wahr? Welche Assoziationen und Emotionen bewegen ihn? Der Coachee erlebt die Situation so nach, als ob sie tatsächlich im Augenblick stattfindet. Wahrnehmungsposition 2: Wie stellt sich die Kommunikationssituation aus der Perspektive des Kommunikationspartners dar? Der Coachee versucht in die Position des anderen Kommunikationsteilnehmers zu schlüpfen und seine Eindrücke, Assoziationen und Emotionen nachzuempfinden. Wahrnehmungsposition 3: Wie würde eine dritte Person die Kommunikation zwischen den beiden Kommunikationspartnern wahrnehmen? Welche Assoziationen und Emotionen könnte die dritte Person in der Kommunikation noch entdecken? Wahrnehmungsposition 4: Wie würde ein Beobachter beschreiben, in welcher Art und Weise die dritte Person die Situation wahrnimmt? Dies ist die Wahrnehmungsposition des „Beobachters des Beobachters“ oder eines Regisseurs. 592 Die Technik Meta-Spiegel wurde 1988 von Robert Dilts entwickelt. Vergleiche Dilts (1994, S. 200 ff). <?page no="442"?> 442 8 Personal Aus jeder dieser vier unterschiedlichen Wahrnehmungspositionen können zum einen Hinweise erarbeitet werden, welche Verhaltensänderungen dazu beitragen würden, dass die Situation einfacher erlebt werden kann; zum anderen kann die verbreiterte und intensivierte Wahrnehmung der problematischen Kommunikationssituation dazu beitragen, dass sich die Grundeinstellung oder Grundhaltung des Coachees zum Gesprächspartner oder zum Gesprächsthema verändert und sich daraus neue Optionen für Verhaltensänderungen ergeben. Der Meta-Spiegel schließt mit einer klaren Beschreibung des Coachees, welche Verhaltensweisen und Grundeinstellungen er wie genau aktivieren möchte, 593 um die problematische Kommunikationssituation bei erneutem Auftreten positiver zu gestalten. Weiterführende Hinweise Aller Voraussicht nach existieren ähnlich viele Coaching-Schulen wie Ansätze in der Psychotherapie. Entsprechend schwierig ist es, den richtigen Coach zu finden. Es gibt zahlreiche Anbieter von Coaching-Ausbildungen und nahezu 30 Dachorganisationen für Coaches. Möglichkeiten zur Orientierung auf der Suche nach einem Coach bieten die Personalabteilungen, die häufig über Listen von ausgewählten Coaches verfügen. Ausgangspunkt der Suche können aber auch Kollegen sein, die bereits ein Coaching in Anspruch genommen haben und entsprechende Empfehlungen aussprechen können. Die Entscheidung für einen bestimmten Coach ist am besten im Rahmen eines für gewöhnlich kostenlosen Erstgespräches zu treffen, das in der Regel bei Auftragserteilung auf das Coaching angerechnet wird. Da Coaching eine äußerst persönliche Arbeitsbeziehung zwischen Coachee und Coach darstellt, ist ein Coaching ohne guten persönlichen Kontakt kaum erfolgversprechend. „Als Coachee sollte man auch in der dritten Coaching-Sitzung nicht davor zurückschrecken, das Coaching abzubrechen, wenn es nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt und der Coach auf dieses Unbehagen nicht stimmig eingehen kann.“ 594 Der Coachee entscheidet als Einziger, ob der Coach zu ihm passt oder nicht. Die Grenze zwischen Coaching und Psychotherapie ist nicht immer eindeutig. Coaching ist aber nie ein Ersatz für Psychotherapie. Ein guter Coach kann schwerwiegende psychische Probleme und Abhängigkeitserkrankungen erkennen, diese Grenze ziehen und seinen Mandaten unterstützen, professionelle psychotherapeutische oder ärztliche Hilfe zu finden. Neben dem klassischen Coaching bildet sich als weiterer Anwendungsbereich von Coaching-Techniken das Thema Führung heraus. Hier setzt sich der Slogan von der Führungskraft als Coach durch. Korrekterweise müsste man von einer Führungskraft sprechen, die unter anderem Coaching-Techniken in spezifischen Führungssituationen nutzt. Voraussetzung ist, den Mitarbeiter in Kenntnis zu setzen und sein Einver- 593 Auch dazu bietet die SMART-Zielformulierung eine gute Hilfestellung. 594 Teuber (2005, S. 11). <?page no="443"?> 8.6 Coaching 443 8 ständnis für das Coaching einzuholen. 595 Für Führungskräfte, die Coaching-Techniken in ihrem Führungsalltag einsetzen, ist es entscheidend, mit der Kategorisierung von Coaching-Situationen für Schaufensterbummler, Besucher und Klienten gut umgehen zu können. Häufig beklagen sich Mitarbeiter über eine bestimmte spannungsgeladene Problemsituation, ohne diese tatsächlich verändern zu wollen, wie es für Schaufensterbummler typisch ist. In diesen Situationen sollte die Führungskraft im Konjunktiv sprechen und überlegen, welche selbstreflexiven Fragen zur Problemerfassung adäquat wären oder auf welchen Ebenen - zum Beispiel in Anlehnung an die logischen Ebenen von Dilts - der Mitarbeiter Einfluss auf sein von ihm empfundenes Spannungsfeld nehmen könnte. 596 Spricht der Mitarbeiter die Führungskraft aktiv und ratsuchend an, kann die Führungskraft das Coaching-Gespräch direkt beginnen. 595 Vergleiche Fischer-Epe & Reissmann (2017), Hießböck (2010), Kreyenberg (2008) und Öhlschlegel-Haubrock, Rach & Wolf (2016). 596 Vergleiche im Überblick Dilts (1994). <?page no="444"?> 8.7 Kollegiale Beratung Problemstellung: Austausch und Weiterentwicklung mit Kollegen in ähnlichen Arbeitssituationen Zielgruppe: Mitarbeiter und Führungskräfte mit umfangreicher persönlicher Interaktion Voraussetzungen: Vertrautheit und Verschwiegenheit in der kollegialen Beratung Zielsetzung der Kollegialen Beratung Ziel der Kollegialen Beratung ist die Verbesserung der beruflichen Praxis der Teilnehmer. Diese bezieht sich auf „die Interaktionen zwischen Praktikern und Kollegen, Mitarbeitern, Kunden und Vorgesetzten sowie das Verhalten von Praktikern in ihrer Berufsrolle“ 597 . Kollegiale Beratung eignet sich somit für Tätigkeitsfelder, für welche die Praxiserfahrung und die Weiterentwicklung aufgrund der Praxiserfahrung entscheidende Rollen spielen. Es geht um die vertrauliche Beratung unter Kollegen zu ganz konkreten Herausforderungen der persönlichen Arbeitspraxis und damit um die Reflexion der beruflichen Rolle. Ein Nebenprodukt der Kollegialen Beratung stellen der Erwerb und Ausbau von praktischen Beratungskompetenzen dar. Obwohl in der konkreten Beratung immer ein Kollege im Mittelpunkt steht, lernen anhand seines Beispiels alle Teilnehmer der Kollegialen Beratung für ihre Praxis dazu. Kollegiale Beratung ist somit immer Beratung für den Fallgeber und Weiterentwicklung für die Teilnehmer. 598 Beschreibung der Kollegialen Beratung Kollegiale Beratung kann wie folgt definiert werden. Es „ist ein strukturiertes Beratungsgespräch in einer Gruppe, in dem ein Teilnehmer von den übrigen Teilnehmern nach einem feststehenden Ablauf mit verteilten Rollen beraten wird mit dem Ziel, Lösungen für eine konkrete berufliche Schlüsselfrage zu entwickeln“ 599 . Dazu hat sich ein Vorgehen in sechs Phasen oder Schritten bewährt, die in Abbildung 162 aufgeführt sind und nachstehend erläutert werden. Zu Beginn der Kollegialen Beratung, die je Beratungsthema etwa 30 bis 45 Minuten in Anspruch nimmt, beschreibt der Ratsuchende sein Problem. Dabei geht ist nicht um eine vollständige Problembeschreibung. Es genügt, das Thema in seinen Grundzügen so darzustellen, dass es als Basis für Lösungs- und Ressourcenideen dienen kann. In der Fragerunde erhalten die Teilnehmer die Möglichkeit, ihre Fragen zum Ziel und zu 597 Tietze (2020, S. 19). 598 Es wird auch von Kollegialer Beratung als Maßnahme der Personalentwicklung gesprochen. Vergleiche Nowoczin (2012, S. 31 f) und Schmid, Veith & Weidner (2019, S. 66 ff). 599 Tietze (2020, S. 11). 444 8 Personal <?page no="445"?> 8.7 Kollegiale Beratung 445 8 Abbildung 162: Sechs Phasen der Kollegialen Beratung 600 wesentlichen Gesichtspunkten des Phänomens zu stellen. Dabei steht das vollständige Verständnis des Themas im Fokus. Es finden keine Bewertung oder Diskussion des Themas statt. Im dritten Schritt geht es für die Teilnehmer darum, Hypothesen über das geschilderte Phänomen aufzustellen. Der Ratsuchende folgt dabei der Diskussion des Beraterteams, ohne selbst nachzufragen. 601 Die Teilnehmer agieren als Beraterteam und sammeln Hypothesen über das geschilderte Phänomen. Diese können in Richtung Problemverständnis, Wahrnehmungserweiterung der Situation oder Erproben erster Lösungsansätze ausgestaltet sein. Alle genannten Hypothesen werden vollständig mitvisualisiert. Anschließend, im vierten Schritt, entscheidet der Fallgeber, welche Kernannahme er gerne weiterverfolgen würde beziehungsweise welche Schlüsselfrage er zu dem von ihm geschilderten Phänomen hat. Im fünften Schritt ist das Beraterteam in seiner ganzen Kreativität gefordert, um Lösungsmöglichkeiten zu benennen, diese zu diskutieren und in konkrete Lösungsvorschläge zu überführen. Im abschließenden sechsten Arbeitsschritt geht es um die Reflexion des Beratungsprozesses, vor allem aus der Sicht des Fallgebers: Welche Ideen der Berater sind für ihn bedenkenswert und hilfreich für sein geschildertes Phänomen sowie die von ihm formulierte Schlüsselfrage? Mit einem kurzen Feedback endet die Kollegiale Beratung. 602 600 Modifiziert nach Tietze (2020, S. 60 ff). 601 Die Methodik der Reflecting Teams stammt ursprünglich von Andersen (2018). 602 Ein guter Leitfaden zur Kollegialen Beratung findet sich auch bei Schmid, Veith & Weidner (2019, S. 16). Ein breites Spektrum systemischer Fragetechniken liefern Patrzek & Scholer (2018), um Denkanstöße liefern zu können und damit dem Befragten in der Kollegialen Beratung zu dienen. <?page no="446"?> 446 8 Personal Anwendungsbereich und Anwendungsprozess Kollegiale Beratung wird im Rahmen von Traineeprogrammen genutzt, um das in Kapitel 8.2 beschriebene Onboarding zu unterstützen. Die neuen, zumeist jungen und unerfahrenen Mitarbeiter lernen das Unternehmen und seine Unternehmenskultur kennen und haben die Aufgabe, diese Unternehmenskultur für sich zu entschlüsseln. Die Kollegiale Beratung gibt ihnen die Möglichkeit, ihren Lernweg in das Unternehmen hinein gemeinsam aktiv zu gestalten - und dies bewusst aus der gemeinsamen Perspektive der betroffenen Akteure. Mentoring wird in Traineeprogrammen häufig genutzt, um den jungen Kollegen die Erfahrung der Mitarbeiter mit langer Firmenzugehörigkeit zugänglich zu machen. Kollegiale Beratung ergänzt diesen Mentoren-Ansatz durch die Perspektive der Peer-Group. Kollegiale Beratung stärkt durch die besondere Form des Umgangs der Teilnehmer untereinander zudem die Gruppenkohäsion. Damit bietet sie sich für Entwicklungsprogramme für Nachwuchsführungskräfte oder auch auf dem Weg von der Führungskraft ins Management als eine Lern- und Reflexionsmethode an. Durch die gemeinsamen und geteilten Defiziterfahrungen in bestimmten Handlungssituationen entstehen zusätzlich - sozusagen als Nebenprodukt der Beratungstreffen - neue Ideen für die Kultur des Unternehmens. Die Lerngruppe wird somit als Quelle für Veränderungen im Betrieb wahrgenommen und bewusst als solche platziert. Bestehende Managementteams und Führungsgremien nutzen die Kollegiale Beratung unter dem Aspekt der Teamentwicklung und Teamformierung. Durch den offenen Austausch in der Beratungsgruppe lernen sich die Teilnehmer rasch sowie auch und vor allem auf einer persönlichen Ebene kennen. Dieses Wissen stellt eine gute Performance-Grundlage für die Teams und Gremien dar. Schließlich kann die Kollegiale Beratung auch von Personen im Betrieb genutzt werden, die in Training, Beratung und Begleitung von Mitarbeitern tätig sind. Hier kommt es immer wieder zu herausfordernden Praxissituationen, die mit der Kenntnis der betrieblichen Gesamtsituation und der spezifischen Unternehmenskultur am besten gemeinsam reflektiert werden können. Ein externer Coach oder externe Berater würden einen größeren Aufwand erzeugen, um eine ähnlich hohe Passung realisieren zu können. 603 Weiterführende Hinweise Es ist zu Beginn ungewohnt, Rollen in der Kollegialen Beratung konsequent einzuhalten. 604 Trotzdem bewährt es sich, an diesen festzuhalten. Sie unterstützen die Effizienz im Ablauf, um mit der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit möglichst optimal umzugehen. Zusätzlich schützen sie alle Teilnehmer vor Kommentaren und Diskussionsbeiträgen, die von den Anregungen eher ablenken, die sich der Fallgeber mit seinem Thema zu erhalten erhofft. 603 Vergleiche Tietze (2020, S. 28). 604 Gute Hinweise für die Ausgestaltung der verschiedenen Rollen liefern Schmid, Veith & Weidner (2019, S. 34 ff). <?page no="447"?> 8.7 Kollegiale Beratung 447 8 Kollegiale Beratung eignet sich für alle Themen, die aufgrund der Praxiserfahrung der teilnehmenden Führungskräfte unter Kollegen besprochen werden können. Geht es um professionelle Qualifizierung und Begleitung von Praxisfragestellungen, ist eher Supervision die Methode der Wahl. Steht die persönliche Beratung mit dem Ziel der Persönlichkeitsentwicklung im Führungskontext im Vordergrund, dann wird dies am leichtesten mit dem Einsatz von Coaching erreicht. Psychotherapie ist immer dann zu empfehlen, wenn es um Fragen der Heilung der Persönlichkeit geht. 605 Zur Einführung der Kollegialen Beratung in einem Unternehmen hat sich die kurze Begleitung durch einen externen Berater bewährt. Aufgrund der guten Methodenstruktur und des überschaubaren Zeitaufwands lässt sich die Kollegiale Beratung leicht in den betrieblichen Alltag integrieren. 605 Vergleiche Nowoczin (2012, S. 34). <?page no="449"?> Anhang <?page no="451"?> Glossar ABC-Analyse: Die ABC-Analyse ist ein Verfahren zur Bestimmung relativer Wertbindungen. Ursprünglich wurde das Verfahren zur Analyse der Wertbindung in Lagerbeständen entwickelt. Die ABC-Analyse basiert auf der Beobachtung, dass meist nur ein kleiner Prozentsatz der Materialmengen einen großen Prozentsatz des Lagerbestandswertes bindet. Werden die drei Materialklassen A, B und C nach ihrem relativen Anteil am Wert des Gesamtbestandes unterschieden, ergibt sich beispielsweise folgendes Bild, wobei die prozentualen Angaben in Theorie und Praxis stark schwanken: A- Güter umfassen etwa 10 Prozent der Mengen und binden rund 80 Prozent des Wertes, B-Güter umfassen circa 20 Prozent der Mengen und binden etwa 15 Prozent des Wertes, C-Güter umfassen rund 70 Prozent der Mengen und binden circa 5 Prozent des Wertes. Nach Bedarf können weniger oder mehr Materialklassen gebildet werden. Ablauforganisation: Die Ablauforganisation ist neben der Aufbauorganisation ein Teilgebiet der Organisationslehre und stellt eine Prozessstrukturierung dar. Sie umfasst alle Regeln, Modelle, Instrumente und Prinzipien zur raumzeitlichen Strukturierung von Produktions- und Informationsprozessen und dient der Lösung von Reihenfolge-, Gruppierungs- und Transportproblemen. Absatzhelfer: Absatzhelfer sind alle unternehmensexternen Organe im Distributionssystem, die im Gegensatz zu den Absatzmittlern nicht Eigentümer der zu verkaufenden Produkte werden. Absatzpotenzial: Das Absatzpotenzial bezeichnet den maximal möglichen Absatz eines Produktes eines bestimmten Anbieters auf einem definierten Markt, der ein bestimmtes Marktpotenzial besitzt. Die Differenz zwischen aktuellem Absatzvolumen eines Anbieters und seinem Absatzpotenzial bezeichnet man als offenes Potenzial. Abschreibung: Eine Abschreibung ist der wertmäßige Maßausdruck für die Abnutzung wirtschaftlicher Güter. Abschreibungen können für Verbrauchsgüter wie Rohstoffe und für Gebrauchsgüter wie Maschinen vorgenommen werden. Abschreibungen sind sowohl in der pagatorischen Gewinn- und Verlustrechnung als auch in der kalkulatorischen Betriebsergebnisrechnung erfolgswirksam. AG: Die Aktiengesellschaft oder AG ist eine Rechtsform und zählt wie die GmbH zu den Kapitalgesellschaften. Sie ist eine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, deren Grundkapital in Aktien zerlegt ist und die den Gläubigern nur mit dem Gesellschaftsvermögen haftet. Agiles Projektmanagement: Vorgehensweisen im Projektmanagement, bei denen der Auftraggeber aktiv in die Erstellung des Endergebnisses eingebunden ist. Dadurch weist der Projektablauf üblicherweise hohe Varianzen bezüglich Qualität, Umfang, Zeit und Kosten auf. Akquisition: Eine Akquisition ist der Erwerb eines anderen Unternehmens. Im Englischen werden Unternehmenszusammenschlüsse als Mergers and Acquisitions oder kurz als M&A bezeichnet. Glossar 451 <?page no="452"?> 452 Glossar Analogiebildung: Durch Analogiebildung versuchen Akteure, Problemsituationen so zu verfremden, um in anderen (Wissenschafts-)Feldern Lösungsmuster zu entdecken, die von ihrer Grundlogik her auch im betrachteten Ursprungsfeld einsetzbar wären. Die Kreativitätstechnik Synektik nutzt dieses Vorgehen sehr intensiv. Anlagevermögen: Für die Ausweisung von Vermögensgegenständen in der Bilanz wird zwischen Anlagevermögen und Umlaufvermögen unterschieden. Das Anlagevermögen bezeichnet dabei jenen Teil, der dazu geeignet ist, dem Geschäftsbetrieb auf Dauer zu dienen. Arbeitssituationsanalyse: Partizipatives Kleingruppeninterviewverfahren zur Steigerung der Arbeitszufriedenheit von Mitarbeitern und Führungskräften. Aufbauorganisation: Die Aufbauorganisation ist neben der Ablauforganisation ein Teilgebiet der Organisationslehre und stellt eine Potenzialstrukturierung dar. Die Aufbauorganisation umfasst alle Regeln, Maßnahmen, Modelle, Instrumente und Prinzipien zur hierarchischen Gestaltung von Stellen, Abteilungen, Bereichen oder ganzen Unternehmen. Auktion: Auktionen sind Marktveranstaltungen, bei denen zu veräußernde beziehungsweise zu erwerbende Leistungen zunächst dargeboten werden und anschließend der Verkauf an den Meistbietenden beziehungsweise der Kauf des niedrigstpreisigen Angebotes erfolgt. Auktionen werden als Vertriebs- und Einkaufsinstrument eingesetzt. BCG: Das Akronym BCG steht für Boston Consulting Group, eine der größten Managementberatungsgesellschaften weltweit. Benchmarking: Das Benchmarking, auch als Betriebsvergleich bezeichnet, ist ein Verfahren, bei dem Produkte, Methoden oder Prozesse der eigenen Unternehmung mit denen des Best-Practice-Unternehmens verglichen werden. Beschaffungsmanagement: Aufgabe des Beschaffungsmanagements ist die bedarfsgerechte und wirtschaftliche Verfügbarmachung von zur Leistungserstellung erforderlichen Gütern und Werkstoffen. Beschwerdemanagement: Beschwerdemanagement soll der Kundenzufriedenheit dienen und die Kundenbindung erhöhen. Unzufriedene Kunden sollen ihren Unmut nicht gegenüber Bekannten äußern, versuchsweise zu Wettbewerbern abwandern oder die Beziehung zum eigenen Unternehmen gar völlig abbrechen. Vielmehr soll darauf hingewirkt werden, dass sich Kunden offen und direkt beim Anbieter beschweren und mit dem Ablauf und dem Resultat ihrer Beschwerdeführung zufrieden sind. Bestände: Im Lager vorgehaltene Rohstoffe, Vor-, Zwischen- und Endprodukte werden als Bestände bezeichnet. Sie sind einerseits wegen ihrer Sicherungs- und Ausgleichsfunktion geschätzt, andererseits wegen ihrer Bestandskosten - insbesondere wegen ihrer Kapitalbindung - gefürchtet. Viele betriebswirtschaftliche Konzepte der jüngeren Vergangenheit zielen auf die Reduktion der Bestände ab. <?page no="453"?> Glossar 453 Betreiber: Häufig Hersteller von Produktionsanlagen, die diese nicht mehr traditionell verkaufen, sondern nach Übergabe der Anlage an den Kunden für den Betrieb der Anlage einschließlich Instandhaltung zuständig bleiben. Dies entlastet die Kunden des Maschinenherstellers von hohen Investitionssummen, von Tätigkeiten außerhalb des Kernkompetenzprofils und von einem Teil der Risiken. Betriebe: In der Betriebswirtschaftslehre wird als Betrieb die ökonomische, technische, soziale und umweltbezogene Einheit mit der Aufgabe der Bedarfsdeckung, mit selbstständigen Entscheidungen und mit eigenen Risiken bezeichnet. Betriebliches Eingliederungsmanagement: Durch § 167 Absatz 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch gefordertes Verfahren, das den beruflichen Wiedereinstieg von Arbeitnehmern nach längerer Krankheit unterstützt. Betriebsmittel: Betriebsmittel sind materielle Güter, die neben anderen Elementarfaktoren wie menschliche Arbeitsleistung und Werkstoffe zur Produktion erforderlich sind: zum Beispiel Gebäude, Maschinen, Werkzeuge oder Einrichtungen. Betriebswirtschaftliche Methode: Eine betriebswirtschaftliche Methode ist ein theoretisch fundiertes und praktisch erprobtes Hilfsmittel, das zur Lösung eines in der unternehmerischen Praxis auftretenden leistungswirtschaftlichen Problems beiträgt. Bilanz: Die Bilanz ist neben der Gewinn- und Verlustrechnung und dem Anhang - bei Kapitalgesellschaften - Bestandteil des Jahresabschlusses. Sie ist definiert als stichtagsbezogene Darstellung der betrieblichen Werte eines Unternehmens in Kontenform. Brainstorming: Das Brainstorming ist eine Kreativitätstechnik, die darauf abzielt, durch Schaffung bestimmter organisatorischer Bedingungen das kreative Potenzial und die Intuition von Einzelpersonen und Gruppen zu stimulieren. Dabei wird auf Erkenntnisse zurückgegriffen, die durch regelmäßige Beobachtung kreativer Personen in kreativen Situationen gewonnen wurden. Break-even-Analyse: Die Break-even-Analyse stellt ein Prognosemodell dar, das den Zweck verfolgt, für verschiedene Zielfunktionen unter bestimmten Bedingungen kritische Schwellenwerte zu berechnen, die als Break-even-Points bezeichnet werden. Diese entstehen im Rahmen der Investitionsplanung, wenn die Summe aus Kosten und Erlösen gleich ist. Bruttoinlandsprodukt: Das Bruttoinlandsprodukt oder Volkseinkommen ist die Summe der Erwerbs- und Vermögenseinkommen, welche die Inländer im Laufe eines Jahres aus dem In- und Ausland bezogen haben. Erwerbs- und Vermögenseinkommen sind vor allem Gehälter, Löhne, Mieten, Zinsen und Gewinne. Budget: Ein Budget, auch als Etat bezeichnet, ist eine operative Planungsgröße, die das monetäre Soll des folgenden Geschäftsjahres für bestimmte Organisationseinheiten bezüglich erwarteter Einnahmen und Ausgaben abbildet. Bündelung: Bündelung beschreibt die Zusammenfassung von Objekten. So versuchen Unternehmen eine Bündelung von zu beschaffenden Gütern, eine Zusammenfassung <?page no="454"?> 454 Glossar von Produktionsaufträgen und einen gemeinsamen Transport verschiedenartiger Objekte zu organisieren. Regelmäßig wird damit auf das Erschließen von größen- und mengenbedingten Kostenvorteilen abgestellt. Businessplan: Ein Businessplan ist ein zum Zeitpunkt der Unternehmensgründung schriftlich fixiertes Unternehmenskonzept in Form von Planzahlen für die nächsten drei bis fünf Jahre. Der Businessplan bildet die Ziele, die Strategie sowie die einzelnen Schritte zur Strategieimplementierung, insbesondere die erforderlichen personellen und finanziellen Ressourcen ab. Business Reengineering: Das Business Reengineering ist eine systematische Vorgehensweise zur Einführung einer Prozessorganisation. Business-to-Business: Der Business-to-Businessbeziehungsweise B2B-Begriff bezieht sich auf die Betrachtung von Organisationen als Nachfrager und nicht auf einzelne Konsumenten. Business-to-Consumer: Unter Business-to-Consumer beziehungsweise B2C werden alle Austauschprozesse verstanden, bei denen einem Unternehmen als Anbieter einer Leistung auf dem Markt der Endverbraucher als Nachfrager der Leistung gegenübersteht. Cashflow: Der Cashflow oder Zahlungsstrom ist eine Kenngröße, die den Mittelzufluss aus dem Unternehmen ermittelt und zur Analyse von Bilanzen und als Zielgröße bei der Unternehmensführung eingesetzt werden kann. Er ist ein Maßstab für die Selbstfinanzierungskraft eines Unternehmens. Zu seiner Ermittlung kann die direkte und die indirekte Methode herangezogen werden. Changemanagement: Changemanagement ist die Gestaltung von Wandlungsprozessen in Organisationen. Es umfasst alle Aufgaben, Prozesse, Träger und Instrumente unternehmensbezogener Veränderungen und Entwicklungen. Clusteranalyse: Bei der Clusteranalyse handelt es sich um ein strukturentdeckendes Verfahren zur Gruppenbildung mit dem Ziel, Merkmale von Objekten so zusammenzufassen, dass möglichst gleichartige beziehungsweise homogene Gruppen entstehen. Die Varianz in einer Gruppe soll minimiert, die Varianz zwischen Gruppen jedoch maximiert werden. Coaching: Vertrauliches Vier-Augen-Gespräch zur Entwicklungsunterstützung zwischen Coach und Mitarbeiter. Dieses kann zum einen die Verhaltensebene des Mitarbeiters, zum anderen aber auch die Ebene seiner Persönlichkeit zum Thema haben. Co-Branding: Beim Co-Branding werden etablierte Marken für einen gemeinsamen Markenauftritt kombiniert, um einen gegenseitigen Imagetransfer zu erzielen und den Produktnutzen durch eine emotionale Komponente anzureichern. Wegen der damit verbundenen Möglichkeit, neue Absatzpotenziale zu schaffen, ist das Co-Branding eine immer häufiger anzutreffende Markenstrategie. Conjoint-Analyse: Unter dem Begriff Conjoint-Analyse werden Methoden der Präferenzanalyse verstanden, bei denen zumindest in einem Teilbereich die Präferenzen <?page no="455"?> Glossar 455 dekompositionell, das heißt indirekt erfasst werden. Dadurch erhalten Unternehmen Hinweise für die Planung ihrer Technologie- und Produktentwicklungen. Consulting: Consulting ist gleichbedeutend mit Unternehmensberatung. Die Aufgabe der Consultants besteht darin, Unternehmen auf bestimmten Gebieten zu beraten. Als Beratungsfelder kommen in Betracht: Organisationsentwicklung, strategische Planung, Entwicklung von Marketingkonzepten und Einführung von IT-Systemen. Controlling: Führung ist die zielorientierte Gestaltung von Unternehmen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, bedient sich die Führung folgender Teilsysteme: Planung, Kontrolle, Organisation, Unternehmenskultur und Information. Diese verschiedenen Systeme der Führung müssen aufeinander abgestimmt werden. Dies ist die Aufgabe des Controllings. Dieses kann also folgendermaßen definiert werden: Controlling umfasst sämtliche Maßnahmen zur Koordination von Planung, Kontrolle, Organisation, Unternehmenskultur und Information. Corporate Identity: Corporate Identity, auch mit CI abgekürzt, bezeichnet das einheitliche Erscheinungsbild der Unternehmung nach außen, also die Repräsentanz der Unternehmung. Instrumente der CI sind unter anderem das Corporate Behaviour, also die Verhaltensweise der Mitarbeiter untereinander und nach außen, und das Corporate Design, also die Gestaltung des Erscheinungsbildes durch die Architektur des Gebäudes, die Gestaltung von Fuhrpark, Druckerzeugnissen, Messestand, Kleidung, Logo. Customer Relationship Management: Das Customer Relationship Management, häufig abgekürzt als CRM verwendet, bezeichnet ein kundenorientiertes, technologiegestütztes Managementkonzept mit der Absicht, langfristig profitable Kundenbeziehungen durch möglichst individuelle Marketing-, Vertriebs- und Servicekonzepte aufzubauen und zu festigen. Customer Value: Der Begriff Customer Value oder Kundenwert wird aus Kundensicht als Wertschätzung der Kunden definiert. Die gebräuchlichere Definition bezieht sich auf die Unternehmenssicht und beschreibt den ökonomischen Wert von Kunden, Segmenten oder Geschäftsbeziehungen für das Unternehmen. DAX: DAX ist die Abkürzung von Deutscher Aktienindex. Er ist der Leitindex der Deutschen Börse und setzt sich aus den dreißig größten deutschen börsennotierten Aktiengesellschaften zusammen. Entscheidend für die Aufnahme einer Aktiengesellschaft in den DAX sind die Marktkapitalisierung und der Börsenumsatz. Der Streubesitz muss mindestens 10 Prozent betragen. Deckungsbeitragsrechnung: Deckungsbeiträge sind Systeme der Kosten- und Erlösrechnung auf Teilkostenbasis. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen in der Kostenträgerrechnung nur die variablen Kosten zugerechnet werden. In der Kostenträgerzeitrechnung werden den variablen Kosten die zugehörigen Erlöse gegenübergestellt. Delphi-Studie: Delphi-Studien sind Verfahren der Technologievorausschau und Zukunftsforschung. Sie bündeln in einem mehrstufigen Vorgehen Experteneinschätzun- <?page no="456"?> 456 Glossar gen, die auch unter Berücksichtigung der Zwischenergebnisse der Vorrunden erarbeitet werden. Dienstleistung: Bei einer Dienstleistung handelt es sich um ein immaterielles Gut. Als ein typisches Merkmal von Dienstleistungen wird die Gleichzeitigkeit von Produktion und Verbrauch angesehen. Differenzierung: Differenzierung ist eine der drei Wettbewerbsstrategien nach Porter. Die weiteren Wettbewerbsstrategien sind die Kostenführerstrategie und die Nischenstrategie. Das Ziel der Strategie der Differenzierung besteht in der Herstellung und dem Angebot eines Produktes, das sich in Qualität und Service von den Konkurrenzprodukten deutlich abhebt. Diffusion: Diffusion beschreibt, in welcher Art und Geschwindigkeit sich neuartige Lösungen - zum Beispiel in einem Markt - verbreiten. Diffusionsmodelle zeigen unterschiedliche typische Verlaufsmuster. Direktinvestition: Direktinvestition bezeichnet eine Form der Internationalisierung des Unternehmens beziehungsweise eine Markteintrittsstrategie in einen internationalen Markt. Das Mutterunternehmen stellt unternehmenseigene Ressourcen wie technologisches Know-how, Management-Know-how und Kapital für die Wertschöpfung in diesem Markt zur Verfügung, um zum Beispiel komparative Kostenvorteile zu nutzen, Handelshemmnisse zu umgehen oder größere Kundennähe zu erreichen. Direktmarketing: Direktmarketing umfasst sämtliche Maßnahmen der Kommunikationspolitik eines Unternehmens, die sich durch einen direkten Kontakt zum Endkunden auszeichnen und einen Dialog beziehungsweise eine Interaktion zwischen beiden Marktpartnern anstreben. Direktvertrieb: Unter Direktvertrieb wird der unmittelbare Verkauf von Produkten über eigenes Personal oder unter Zuhilfenahme von Absatzhelfern verstanden. Der Marktkanal wird dadurch stark verkürzt. Distributionslogistik: Die Distributionslogistik umfasst die Planung, Steuerung und Kontrolle aller Waren- und Informationsprozesse, die notwendig sind, um Güter von einem Industrie- oder Handelsunternehmen zu seinen Kunden zu überführen. Innerhalb des gesamtbetrieblichen Logistiksystems stellt die Distributionslogistik ein selbstständiges Teilsystem dar. Diversifikation: Diversifikation ist die Ausdehnung des Tätigkeitsschwerpunkts einer Unternehmung auf verwandte oder vollkommen neue Leistungsbereiche und Märkte mit dem Ziel, durch eine verbesserte Anpassung an die veränderten Marktbedingungen eine Reduktion des Unternehmensrisikos und ein erhöhtes Wachstum zu erreichen. Dividende: Die Dividende ist der Teil des aus dem Bilanzgewinn an die Aktionäre verteilten Gewinnes. Sie wird in Euro pro Stück ausgedrückt. Die Hauptversammlung entscheidet über die Gewinnverwendung. Divisionale Organisation: Die divisionale Organisation wird auch als Geschäftsbereichsorganisation, Spartenorganisation oder Objektorganisation bezeichnet. <?page no="457"?> Glossar 457 Dow-Jones-Index: Der Dow Jones Industrial Average, auch Dow-Jones-Index genannt, ist ein Aktienindex für amerikanische Aktien. Er wurde 1896 von Charles Dow und Edward Jones eingeführt. Der Dow-Jones-Index ist einer der wichtigsten Indexe für amerikanische Aktien. Er wird als Durchschnitt der Preise von dreißig führenden Industrieaktien berechnet: Summe der Aktienkurse dividiert durch die Anzahl der Aktien. EBIT: EBIT steht für Earnings Before Interest and Taxes. Es stellt die betriebliche Ergebnisgröße unter Eliminierung von Zinsen und Steuern dar. Es ist eine Kennzahl zur Beurteilung von Profit Centern, da die Entscheidungen über die Finanzierung und auch die Steuerzahlungen nicht in den Kompetenzbereich der einzelnen Geschäftsbereiche, sondern der zentralen Einheit fallen. E-Commerce: E-Commerce ist die digitale Anbahnung und Abwicklung von Geschäften. E-Commerce ist ein Teilbereich des E-Business. Der Austausch von wirtschaftlichen Gütern gegen Entgelt erfolgt hierbei unter Einsatz eines computergestützten Netzwerkes, wobei nicht nur das Angebot, sondern auch die Inanspruchnahme elektronisch erfolgt. Economies of Scale: Die Economies of Scale oder Skaleneffekte bringen zum Ausdruck, dass mit zunehmender Ausbringungsmenge die durchschnittlichen fixen Kosten abnehmen. Die praktische Bedeutung der Economies of Scale besteht darin, dass eine Verbesserung der Beschäftigungssituation die Kosten günstig beeinflusst. Economies of Scope: Economies of Scope entstehen bei mehrfacher Nutzung von Erfahrung. Dabei findet eine Übertragung von Kernkompetenzen auf andere Bereiche statt. Beispiel: Ein Hersteller von Kohlekraftwerken erweitert seine Produktpalette um Fotovoltaik-Kraftwerke. Die praktische Bedeutung der Economies of Scope liegt in der horizontalen Diversifikat