Praktiken des Handels
Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit
0519
2010
978-3-8649-6190-8
978-3-8676-4203-3
UVK Verlag
Prof. Dr. Mark Häberlein
Christof Jeggle
Mit seiner Ausrichtung auf die Praktiken des Handels stellt der Band die gegenwärtige Neuorientierung der Handelsgeschichte dar.
In Fallstudien befassen sich Autorinnen und Autoren aus mehreren Ländern mit konkreten Erscheinungsformen sozialer Interaktionen beim Gütertransfer, der Kreditgewährung, dem Zahlungsverkehr und der Informationsübermittlung. Dabei untersuchen sie unterschiedliche Ebenen des kommerziellen Austauschs - vom Detailhandel bis zum interkontinentalen Handel. Sie thematisieren spezifische Handelszweige, individuelle Akteure, den Umgang mit Informationen sowie das Verhältnis der Geschlechter.
<?page no="1"?> IRSEER SCHRIFTEN N.F. Band 6 Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee <?page no="2"?> Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.) Praktiken des Handels Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit UVK Verlagsgesellschaft mbH <?page no="3"?> Gedruckt mit freundlicher Förderung der Die Abbildung auf der Einbandvorderseite zeigt einen Ausschnitt aus: Lorenz Strauch, Der Markt zu Nürnberg, 1594. Leihgabe der IHK Nürnberg, Stadtmuseum Fembohaus. Foto: Kurt Fuchs Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1619-3113 ISBN 978-3-86496-190-8 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Satz: Textwerkstatt Werner Veith & Ines Mergenhagen, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Druck: Bookstation GmbH, Sipplingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Inhalt Mark Häberlein / Christof Jeggle Einleitung .................................................................................................................. 15 1. Strukturen des Fernhandels Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung. Zu den Erfolgsfaktoren des hansischen Handels.............................................. 39 1. Der binnenhansische Handel in der Hansegeschichte ............................................. 39 2. Struktur: Der binnenhansische Handel als Netzwerkorganisation ........................... 43 3. Koordination: Die Wirksamkeit von Reputation, Vertrauen und Kultur ................ 50 4. Kontext und Wirkung: Effektivität und Effizienz des hansischen Handels .............. 59 Jürgen G. Nagel Usurpatoren und Pragmatiker. Einige typologische Überlegungen zur Strategie der niederländischen Ostindienkompanie (1602-1799)......................................................................... 71 1. Die Ausgangslage.................................................................................................... 71 2. Zum Beispiel: Makassar und der Molukkenhandel ................................................. 75 3. Strategie, Aktionismus und Ohnmacht ................................................................... 81 4. Zum Beispiel: Banjarmasin und der Pfefferhandel .................................................. 84 5. Versuch einer Typologie ......................................................................................... 86 6. Schluss ................................................................................................................... 95 <?page no="5"?> Inhalt 6 Christina Dalhede Der Standort Göteborg 1649-1700. Eine Fallstudie zum Fern-, Regional- und Lokalhandel in Schweden auf der Grundlage der Tolags- und Handelsjournale........................................ 99 1. Einführung: Städtegründungen in Schweden im 17. Jahrhundert ......................... 101 2. Die Infrastruktur .................................................................................................. 103 3. Die Organisation des Handels: Uppstäder und stapelstäder .................................... 104 4. Quellen zum Göteborger Handel: Tolags- und Handelsjournale ........................... 106 5. Handelspraktiken im Göteborger Fern-, Regional- und Lokalhandel. Ergebnisse aus den Göteborger Tolags- und Handelsjournalen ............................................... 113 6. Zusammenfassung und Schlussbemerkungen........................................................ 124 Marcel Boldorf Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung. Die schlesischen Kaufmannsgilden im internationalen Leinenhandel des 18. Jahrhunderts ........................................................................................... 127 1. Leinen als transatlantische Handelsware................................................................ 128 2. Gildenbildung und Aufstieg der Leinenkaufleute .................................................. 130 3. Das Erscheinungsbild der Gilden in der Phase ihrer Abschottung ......................... 133 4. Organisationsformen des überregionalen Handels................................................. 136 5. Absicherungsstrategien der führenden Kaufmannsschichten.................................. 141 6. Schluss.................................................................................................................. 143 Alexander Engel Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann. Theoretische Dimensionen und historische Spezifität kaufmännischen Handelns.................................................................................. 145 1. Die Natur des Homo oeconomicus....................................................................... 146 2. Die Normierung kaufmännischen Handelns an der Schwelle zur Neuzeit............. 149 3. Die Normierung kaufmännischen Handelns an der Schwelle zur Moderne........... 152 4. Der Homo oeconomicus, historisch reflektiert...................................................... 156 5. Die Figur des Kaufmanns, theoretisch reflektiert .................................................. 161 6. Systematisierende Überlegungen zur Handelsgeschichte ....................................... 164 7. Kaufmännisches Handeln von Konsumenten? ...................................................... 167 8. Schlussfolgerungen ............................................................................................... 171 <?page no="6"?> Inhalt 7 2. Kaufmännische Praktiken im späten Mittelalter Kurt Weissen Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert. Wie Cosimo de’ Medici seine Bank im Kampf gegen seine inneren Gegner einsetzte .................................................................................................. 175 1. Die Sphinx ........................................................................................................... 177 2. Cosimo unter Druck ............................................................................................ 177 3. Johannes XXIII. und die konkurrierenden Bankiers.............................................. 179 4. Netzwerke ............................................................................................................ 179 5. Die Medici-Bank als Arbeitgeber .......................................................................... 180 6. Geschenke erhalten die Freundschaft.................................................................... 181 7. Exil als Bewährungsprobe ..................................................................................... 183 Matthias Steinbrink Handeln am Oberrhein. Der Basler Kaufmann Ulrich Meltinger.............................................................. 191 1. Ulrich Meltinger als Basler Bürger ........................................................................ 192 2. Die innerstädtisch-lokale Ebene: Der Geldkredit .................................................. 196 3. Die Umlandbeziehungen: Der Warenkredit ......................................................... 199 4. Der überregionale Handel: Investition in Handelsgesellschaften ........................... 204 5. Schluss ................................................................................................................. 207 Arnd Reitemeier Kaufleute als Verwalter der Kirche. Wirtschaften im Netzwerk der spätmittelalterlichen Stadt.............................. 209 1. Die Organisation der Kirchenfabrik...................................................................... 211 2. Tätigkeit der Kirchenmeister ................................................................................ 213 3. Kaufleute und die Geschäfte einer städtischen Einrichtung ................................... 214 4. Die Entscheidungsspielräume der Kirchenmeister................................................. 216 5. Einbindung der Kirchenmeister in die Netzwerke der Stadt.................................. 218 6. Beweggründe für die Übernahme eines Amts........................................................ 218 7. Zusammenfassung ................................................................................................ 222 <?page no="7"?> Inhalt 8 3. Informationen und mediale Wandlungsprozesse Cecilie Hollberg Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert........................... 227 1. Aufbau und Inhalt des Sprachlehrbuches von maistro zorzi ................................... 230 2. Grundlagen des Handels....................................................................................... 231 3. Handelswaren und Qualitätsmerkmale ................................................................. 232 4. Die Handelsdialoge .............................................................................................. 233 5. Strategien des Handels.......................................................................................... 236 6. Voraussetzungen und Umgangsformen im Handel ............................................... 237 7. wolt ir nicht ein trunck tun .................................................................................... 240 8. Schlussbemerkungen ............................................................................................ 241 Sven Schmidt Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? Die Neuen Geschäftsmedien des 16. Jahrhunderts und ihr Einfluss auf die Praktiken des frühneuzeitlichen Börsenhandels am Beispiel der Nürnberger Preiscourants (1586-1640) .................................................... 245 1. Die Kommunikations- und Medienrevolution des 16. und 17. Jahrhunderts ........ 245 2. Konzeption und Ziel der Studie............................................................................ 247 3. Gebrauch und Verbreitung von Preiscourants im kaufmännischen Kommunikationswesen der Frühen Neuzeit ......................................................... 249 4. Verhaltensmuster, Organisations- und Kostenstrukturen kaufmännischer Kommunikation im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert .................................. 256 5. Die Einführung von Preiscourants auf der Nürnberger Börse (1586-1640) .......... 268 6. Preiscourants als Informationsträger des frühneuzeitlichen Börsenhandels............. 275 7. Zusammenfassung ................................................................................................ 278 8. Ausblick: Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? ..... 279 Clé Lesger Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 ................................................................................................................. 283 1. Traditionelle Mittel des Informationsaustausches.................................................. 284 2. Die Drucktechnik................................................................................................. 289 3. Ein relativ freier Informationsfluss ........................................................................ 299 4. Schluss.................................................................................................................. 304 <?page no="8"?> Inhalt 9 4. Verwandtschaftsbeziehungen und soziale Netzwerke Christian Kuhn Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse. Der Generationenwechsel nach dem Nürnberger Kaufmann Leonhart II. Tucher (1487-1568) in der historischen Darstellung und in Briefen ............ 309 1. Handelspraxis als Bewertungskriterium eines Generationenwechsels in der historischen Darstellung ....................................................................................... 311 2. Die Familienhistoriographie als Medium eines Kontinuitätsdiskurses ................... 315 3. Die Kontinuitätsproblematik in Jung-Alt-Beziehungen während der Auslandslehre ................................................................................................. 319 4. Zusammenfassung und Ausblick........................................................................... 330 Mark Häberlein Der Kopf in der Schlinge: Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540....................................................... 335 1. Einleitung ............................................................................................................ 335 2. Die Handelsgeschäfte von Sebastian Kötzler und Hans von der Ketten zwischen Antwerpen und Sevilla ........................................................................... 336 3. Winkler contra Kötzler: Der Prozessverlauf .......................................................... 343 4. Distinktion, Diffamierung und „geschwinde Praktiken“ ....................................... 349 5. Zusammenfassung ................................................................................................ 352 Marjolein ’t Hart Netzwerke des Handels und der Macht. Die Finanzierung des Kriegs und die Direktoren der Ostindienkompanie im Amsterdam des 17. Jahrhunderts .................................................................................................. 355 1. Die Niederländische Ostindienkompanie ............................................................. 356 2. Die Staatsschuld der Republik der Niederlande .................................................... 358 3. Der Steuereinnehmer von Amsterdam und seine Anleihen ................................... 363 4. Analyse der Anleihen 1665-1675 ......................................................................... 366 5. Die Macht der Netzwerke .................................................................................... 371 6. Zusammenfassung ................................................................................................ 375 <?page no="9"?> Inhalt 10 Jan Willem Veluwenkamp Kaufmännisches Verhalten und Familiennetzwerke im niederländischen Russlandhandel (1590-1750) ............................................................................ 379 1. Das Geschäftsgebaren niederländischer Kaufleute ................................................. 381 2. Der Handel der Niederländer mit Russland .......................................................... 387 3. Das Geschäftsverhalten der niederländischen Russlandkaufleute ........................... 395 4. Schluss.................................................................................................................. 404 Miki Sugiura Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 .............................. 407 1. Einleitung............................................................................................................. 407 2. Der Aufstieg der wijnkopers in Amsterdam............................................................ 408 3. Die Untersuchung von Eheschließungen: Eheverträge .......................................... 412 4. Das Heiratsmuster der wijnkopers verglichen mit demjenigen der kooplieden ......... 415 5. Der Inhalt der Heiratsverträge von wijnkopers ....................................................... 421 6. War die Tochter eines wijnkopers eine gute Partnerwahl? Der Fall der Maria van Ommeren ...................................................................................................... 424 7. Schluss.................................................................................................................. 436 5. Formen des Regional- und Einzelhandels Daniel Schläppi Geschäfte kleiner Leute im Spannungsfeld von Markt, Monopol und Territorialwirtschaft. „Regionaler Handel“ als heuristische Kategorie am Beispiel des Fleischgewerbes der Stadt Bern im 17. und 18. Jahrhundert ....................... 451 1. Einleitung............................................................................................................. 451 2. Zünftische Metzgermeister und ihre Konkurrenz aus der Landschaft .................... 452 3. Szenerien des grauen Gewerbes: Viel Betrieb inner- und außerhalb der Stadtmauern ......................................................................................................... 459 4. Obrigkeitliche „Territorialwirtschaft“ mit Blick aufs Ganze .................................. 462 5. Handlungsspielräume in Handelsräumen - unterschiedliche „Aktionsräume“ definieren das Marktpotential ökonomischer Subjekte .......................................... 470 6. Das „Regionale“ als heuristische Kategorie ............................................................ 474 <?page no="10"?> Inhalt 11 Michaela Fenske Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur. Zahlungspraktiken auf einem Jahr- und Viehmarkt ........................................ 477 1. Die Konjunktur der Marktkultur ......................................................................... 477 2. Zur Kultur des Hildesheimer Jahr- und Viehmarkts ............................................. 480 3. Handel mit erheblichen Risiken ........................................................................... 483 4. Zahlungsformen und Zahlungspraktiken.............................................................. 485 5. Kredit als Teil einer „Kultur des Risikoausgleichs“ ................................................ 491 Susanne Schötz Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts .... 493 1. Der grundsätzliche rechtliche Rahmen.................................................................. 495 2. Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts: ein Überblick........................................................................................................ 497 3. Weichenstellungen für die Verschlechterung eigenständiger wirtschaftlicher Positionen von Frauen im Leipziger Handel ......................................................... 503 Danielle van den Heuvel Kauffrauen in der Republik der Niederlande. Einzelhändlerinnen im ’s-Hertogenbosch des 18. Jahrhunderts: Eine Fallstudie ...................................................................................................... 511 1. Einleitung ............................................................................................................ 511 2. (Weibliche) Erwerbsarbeit in ’s-Hertogenbosch .................................................... 513 3. Die Krämergilde im 18. Jahrhundert .................................................................... 517 4. Der Anteil von Frauen unter den Gildemitgliedern .............................................. 520 5. Neue Möglichkeiten? ............................................................................................ 525 6. Zusammenfassung ................................................................................................ 534 <?page no="11"?> Inhalt 12 6. Minderheiten in der frühneuzeitlichen Wirtschaft Peter Rauscher Hoffaktoren und Kleinkrämer. Die Rolle der Juden im frühneuzeitlichen Handel am Beispiel der österreichischen Länder im 17. Jahrhundert.................................................... 539 1. Die Residenzstadt und die Wiener Judenschaft ..................................................... 545 2. Die Landjuden ..................................................................................................... 548 3. Ein neues ökonomisches Bewusstsein? .................................................................. 550 4. Der Handel der Juden .......................................................................................... 551 Martin Zürn Wie es im Buch steht. Handel, Region und Verwandtschaft des Pierre Marquerat, Immenstadt (1720-1740) .......................................................................................................... 561 1. Wie es im Buch steht: Ziffern in einem „Zementband“......................................... 561 2. Blick auf die Herkunft .......................................................................................... 566 3. Als Fremder daheim: Der Einwanderer in Immenstadt ......................................... 568 4. Marquerats Handelspartner, Orte und Umsätze.................................................... 573 5. Fremde Freunde - die Nationalität der Handelspartner ........................................ 579 6. Augsburger Handelsleute ...................................................................................... 581 7. Handel mit den savoyischen Landsleuten.............................................................. 583 8. Überlegungen zur Handelspraxis .......................................................................... 584 9. Schluss.................................................................................................................. 585 Irmgard Schwanke ... den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... Handelspraktiken der Brüder Castell in Elzach im Schwarzwald (1814-1843).......................... 605 1. Die Brüder Castell und ihre Handelsfirma ............................................................ 606 2. Kommunikationsmittel und -wege........................................................................ 613 3. Mode und Markt.................................................................................................. 616 4. Lieferung und Bezahlung ...................................................................................... 619 5. Reklamationen und Preise .................................................................................... 624 6. Schluss.................................................................................................................. 629 <?page no="12"?> Inhalt 13 Frank Konersmann Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten. Die mennonitischen Bauernfamilien Möllinger und Kägy in Rheinhessen und in der Pfalz (1710-1846)..................................................... 631 1. Aspekte einer Sozialgeschichte Handel treibender Bauern ..................................... 631 2. Mennonitische Glaubensgemeinschaft und marktorientiertes Wirtschaftshandeln der Bauernfamilien Möllinger und Kägy ................................ 634 3. Familie und Verwandtschaft als soziale Grundlagen des Agrarhandels der Bauernfamilien Möllinger und Kägy..................................................................... 642 4. Verwandtschaftliche Netzwerke und Geschäftsradien der Bauernfamilien Möllinger und Kägy ............................................................................................. 652 5. Rollendiversifikation bei Bauernkaufleuten und ihre Folgen für Glaubensgemeinschaft, Verwandtschaft und Familie - ein Ausblick ..................... 657 Register.................................................................................................................. 663 Personen .................................................................................................................. 663 Geographische Namen ............................................................................................. 674 Produkte .................................................................................................................. 683 Autorenverzeichnis............................................................................................... 687 <?page no="14"?> Einleitung Mark Häberlein / Christof Jeggle Praktiken und Handel stehen in der Handelsgeschichte wie in der Handelsgeschichtsschreibung in einem vielschichtigen Verhältnis. Die Tätigkeit von Kaufleuten in Mittelalter und früher Neuzeit wurde zeitgenössisch im Deutschen als Hantierung oder Handlung treiben bezeichnet und sollte sich damit von anderen Formen der Erwerbstätigkeit sprachlich unterscheiden. Hingegen fällt die historische Bedeutung des Begriffs der Praktik durchaus ambivalent aus. Mit dem Begriff wurden in politischen Diskursen der frühen Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert undurchsichtige Transfers und Manöver bezeichnet. 1 Er fand in dieser Bedeutung auch als Vorwurf an die gegnerische Seite Eingang in die strategische Kommunikation von Kaufleuten, die vor Gericht standen. 2 Dementsprechend wird im 18. Jahrhundert für die Practicke bey Wechseln in Zedlers Universal-Lexikon auf Zahlungs=Falschheit verwiesen. 3 Im Zedler wird jedoch ein weiterer für den Handel relevanter Bezug hergestellt, nämlich zur Rechenkunst. 4 Aus heutiger Sicht mag diese als Ausdruck einer transparenten kaufmännischen Rationalität gesehen werden, doch im 16. Jahrhundert scheint dies weniger eindeutig der Fall gewesen zu sein. Dass kaufmännische Rechenkunst in dem Sinne als undurchsichtige Praktick wahrgenommen worden sein könnte, wie es sich bereits für die Politik angedeutet hat, legt das Vorwort von Lorenz Meder zu seinem HANDEL BUCH nahe, in dem er schrieb: Angesehen, das ich derselben vil und mancherley mir von meiner vater seligen in der arithmetica, und sonsten, fürnemblich aber in der coß, und welschen practica verlassen, allein beysamen hette: Deren wol etliche aber doch finster und dunckel, und den meinigen gar ungleych verhanden, und durch den offentlichen truck vorhin auch publicirt weren. Er habe, so fährt er fort [...] dasselbige schriftlich in ein kurtzes buch verfast, jetzt an tag un[d] liecht bringen wöllen: In hoffnung, dise meine mühe und fürgenommene arbeyt, werde menigklichen, sonderlich aber denen, so lust zu 1 Zum frühneuzeitlichen Gebrauch des Begriffs Pracktik V ALENTIN G ROEBNER , Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000, 251-265. 2 Vgl. den Beitrag von Mark Häberlein im vorliegenden Band. 3 J OHANN H EINRICH Z EDLER , Universal-Lexicon, 64 Bde., Leipzig und Halle 1731-1754, Bd. 29, 1741, 8; Bd. 60, 1749, 1292. 4 Z EDLER , Universal-Lexicon (wie Anm. 3), Bd. 29, 1741, 7; Bd. 60, 1749, 1608f. Diesen Aspekt betont H ARALD W ITTHÖFT , Handelspraktiken und Kaufmannschaft in Mittelalter und Neuzeit - Rechnen und Schreiben mit Zahlen. Resümee und Perspektiven, in: Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, M ARKUS A. D ENZEL / J EAN C LAUDE H OC- QUET / H ARALD W ITTHÖFT (Hrsg.), Stuttgart 2002, 197-217, hier 200-205. <?page no="15"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 16 arithmetischen künsten haben, zum fordersten aber, den grossen hendlern und kaufleuten behilflich und gefellig sein. Dann dises buch, gleich wie ein register, handbuch, wegweyser, und anleytung ist, in alle hendel, kauf und rechenschafften, etc. Dann es zeygt und lehret was der gebrauch, nit allein in teutschen, sonder auch aller anderer lender, jarmärckten, und handlen seye, was für unkosten auf jede wahren gehen, wie sich allerley müntzen, eln, massen, gewichten etc. gegen einander vergleychen: Mit allerley vortheylen in wechseln, und was dergleychen stücken mehr sind, dadurch ein jeder gnugsamen bericht seines handels erfahren mag: Und ob aber solch mein vorhaben mir etliche nicht zum besten und freundlichsten deuten und außlegen würden, welcher heimligkeyten und vortheylen hierdurch offenbaret, meniglich bekannt [...]. 5 Mit seinem Bestreben, durch seine Veröffentlichung zur Kenntnis kaufmännischer Praktiken beizutragen, umschreibt Meder auch das Anliegen der Aufsätze in diesem Band, die versuchen, Licht ins Dunkel historischer Praktiken des Handels zu bringen. Neben diesen historischen Bezügen zwischen Praktiken und Handel stehen bei den Studien im vorliegenden Band die Diskussionen um „Praktiken“ als Forschungsparadigma im Hintergrund. Mit der Rezeption von Pierre Bourdieus „Theorie der Praxis“ fand die Untersuchung von Praktiken zunehmend Eingang in die historische Forschung, ohne jedoch auf verbindliche Konzepte festgelegt zu werden. 6 Bereits Mitte der 1990er Jahre wurden erste Bilanzen zur Forschung gezogen, 7 jedoch vollzieht sich der Übergang von einer Strukturgeschichte, die das Handeln von Akteuren allenfalls illustrierend ihren Strukturmustern untergeordnet hat, hin zu einer Geschichtsschreibung, die ihre Strukturierungen aus dem Handeln der Akteure ableitet, eher langfristig und wird inzwischen nur noch von sehr zurückhaltend geführten Theoriedebatten begleitet. Eine Auseinandersetzung der Handelsgeschichte mit neueren pragmatisch ausgerichteten An- 5 Handelsbräuche des 16. Jahrhunderts. Das Medersche Handelsbuch und die Welser’schen Nachträge, H ERMANN K ELLENBENZ (Hrsg.), Wiesbaden 1974, 123-125. Die Bezeichnung „Praktik“ für Schriften zur Handelspraxis scheint sich erst im 18. Jahrhundert etabliert zu haben, vgl. M ARKUS A. D EN- ZEL , Handelspraktiken als wirtschaftshistorische Quellengattung vom Mittelalter bis in das frühe 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in: D ERS . / J EAN C LAUDE H OCQUET / H ARALD W ITTHÖFT , Kaufmannsbücher und Handelspraktiken (wie Anm. 4), 11-45, hier 13. 6 P IERRE B OURDIEU , Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a. M. 1976, vgl. auch die folgenden Publikationen, insbesondere D ERS ., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987. 7 A NGELO T ORRE , Percorsi della Pratica, in: Quaderni storici 90, 30. Jg. (1995), 799-829; I NGRID G ILCHER -H OLTEY , Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu, in: Kulturgeschichte heute, W OLFGANG H ARDTWIG / H ANS -U LRICH W EHLER (Hrsg.), Göttingen 1996, 111-130; B ERNARD L EPETIT , Histoire des pratiques, pratique de l’histoire, in: Les formes de l’expérience. Une autre histoire sociale, D ERS . (Hrsg.), Paris 1995, 9-22. <?page no="16"?> Einleitung 17 sätzen der Wirtschaftssoziologie steht noch weitgehend aus. 8 Auch dem vorliegenden Band liegt kein explizites Konzept von Praktik zugrunde, es war jedoch von Anfang an das Anliegen der Herausgeber, Beiträge zu präsentieren, die im Zusammenhang mit Handelsgeschäften vom Handeln der Akteure ausgehen und Strukturen als Ergebnis dieser Handlungen betrachten. Die Mehrzahl der Beiträge im vorliegenden Band entstand aufgrund eines Call for Papers des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der explizit nach Beiträgen über „Praktiken des Handels in vorindustrieller Zeit“ fragte. Aufgrund der starken Resonanz folgten zwei Tagungen des Arbeitskreises, jeweils unter dem Titel „Praktiken des Fern- und Überseehandels“ (2004) und „Praktiken des lokalen und regionalen Handels“ (2005). Die Beiträge aus diesen Tagungen werden durch weitere ergänzt, die zum Teil aus der Irseer Tagung „Geld, Kredit und Markt in vorindustriellen Gesellschaften“ (2003) und dem DFG-Forschungsprojekt „Savoyische Handelsbücher am Oberrhein“ hervorgegangen sind. 9 Die Aufsätze wurden unter systematischen Gesichtspunkten neu gegliedert. Mit seiner Ausrichtung präsentiert der Band die gegenwärtig stattfindenden Neuorientierung der Handelsgeschichte, die sich von bisherigen Forschungsansätzen unterscheidet. 10 Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert begannen deutsche und andere europäische Wirtschaftshistoriker, „große Unternehmerpersönlichkeiten“ des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu erforschen, in denen sie die Vorboten ihrer eigenen Epoche, die der Hochindustrialisierung, erblickten. In den wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kaufleute sahen diese Historiker eine entscheidende Formierungsphase des modernen Bürgertums. Im Zentrum der Forschungen standen die führenden Kaufleute und Firmen ihrer Zeit - Francesco di Marco Datini, Jacques Coeur, Cosimo de’ Medici, Jakob und Anton Fugger -, die bis heute das Bild „des“ vormodernen Kauf- 8 Das von den Herausgebern initiierte DFG-Projekt „Märkte-Netzwerke-Räume. Wirtschaftsbeziehungen und Migrationsprozesse in der Frühen Neuzeit (1500-1800)“ an den Universitäten Bamberg und Dresden unternimmt einen ersten Anlauf zur breiteren Rezeption wirtschaftssoziologischer Forschungsansätze. 9 Zu den Tagungen können die Calls for Papers sowie Tagungsberichte auf der Mailingliste H-Soz-u- Kult eingesehen werden. Das Forschungsprojekt war ein Teilprojekt des DFG-Projekts „Reichweite und Grenzen der Integration von ethnischen und religiösen Minderheiten in der Frühen Neuzeit“ an der Universität Freiburg, das von Mark Häberlein geleitet wurde, vgl. M ARK H ÄBERLEIN u. a., Savoyische Kaufleute und die Distribution von Konsumgütern im Oberrheingebiet, ca. 1720-1840, in: Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 23.-26. April 2003 in Greifswald, R OLF W ALTER (Hrsg.), Stuttgart 2004, 81-114 mit weiteren Angaben. 10 Im folgenden Überblick können nur Beispiele aus der unübersehbaren Fülle der Handelsforschung angegeben werden. <?page no="17"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 18 manns in zahlreichen Handbüchern und Überblicksdarstellungen prägen. 11 Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diese Perspektive um elaborierte strukturgeschichtliche Entwürfe erweitert, die die Epoche des 14. bis 18. Jahrhunderts als Ära des „Handelskapitalismus“ bzw. eines entstehenden „modernen Weltsystems“ konzeptionalisierten. Als ein wesentliches Antriebsmoment werden institutionelle Neuerungen, wie beispielsweise Messen, Banken, Börsen, Versicherungen und handelbare Wertpapiere, gesehen. Aus diesen institutionellen und organisatorischen Innovationen wird in Kombination mit den geographischen Verlagerungen der Handelsbeziehungen im Prozess der europäischen Expansion eine spezifische Abfolge weltwirtschaftlicher Zentren angefangen mit Venedig im Spätmittelalter über Antwerpen im 16., Amsterdam im 17. und London im 18. Jahrhundert konstruiert, die jeweils durch kapital- und leistungsstarke Kaufmannsgruppen, wie zum Beispiel Florentiner, Oberdeutsche und Genuesen sowie später Niederländer und Engländer, mit jeweils eigenen Organisationsstrukturen gekennzeichnet waren. 12 Diese Sicht prägt die Handelsgeschichtsschreibung immer noch nachhaltig, allerdings findet eine Neubewertung dieser zentralen Orte statt. 13 Bei insgesamt ungebrochenem Interesse an der vorindustriellen Handelsgeschichte ist in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Differenzierung 11 R ICHARD E HRENBERG , Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahrhundert, 2 Bde., Jena 1896; J AKOB S TRIEDER , Jakob Fugger der Reiche, Leipzig 1926; G ÖTZ F REIHERR VON P ÖLNITZ , Jakob Fugger. Kaiser, Kirche und Kapital in der oberdeutschen Renaissance, 2 Bde., Tübingen 1949/ 51; D ERS ., Anton Fugger, 5 Bde., Tübingen 1958-1986; R AYMOND DE R OOVER , The Rise and Decline of the Medici Bank, 1397-1494, Cambridge, Mass. 1963; I RIS O RIGO , „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335-1410, München 1985 (engl. Erstausgabe 1957); M ICHEL M OLLAT , Der königliche Kaufmann Jacques Coeur oder der Geist des Unternehmertums, München 1991. 12 H ERMAN VAN DER W EE , The Growth of the Antwerp Market and the European Economy, 3 Bde., Den Haag 1963; P IERRE C HAUNU , Séville et l’Amérique (1504-1650), Paris 1969; F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2, Der Handel, München 1986; Bd. 3, Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1986; I MMANUEL W ALLERSTEIN , The Modern World System, 3 Bde., New York 1974-1988; A LAN K. S MITH , Creating a World Economy. Merchant Capital, Colonialism, and World Trade, 1400-1825, Boulder / San Francisco / Oxford 1991; The Rise of Merchant Empires. Long-Distance Trade in Early Modern Europe 1350-1750, J AMES D. T RACY (Hrsg.), Cambridge u. a. 1991; The Political Economy of Merchant Empires, D ERS . (Hrsg.), Cambridge u. a. 1991; Urban Achievement in Early Modern Europe. Golden Ages in Antwerp, Amsterdam and London, P ATRICK O’B RIEN / D EREK K EENE / M ARJOLEIN ‘ T H ART / H ERMAN VAN DER W EE (Hrsg.), Cambridge u.a. 2001; M ARIA F USARO , Reti commerciali e traffici globali in età moderna, Rom / Bari 2008. 13 D AVID O RMROD , The Rise of Commercial Empires. England and the Netherlands in the Age of Mercantilism, 1650-1770, Cambridge u. a. 2003; zur anhaltend dominanten Stellung Venedigs in der europäischen Wirtschaft vgl. At the Centre of the Old World. Trade and Manufacturing in Venice and the Venetian Mainland, 1400-1800, P AOLA L ANARO (Hrsg.), Toronto 2006; zur Einbindung Amsterdams in die Märkte des Binnenlands, C LÉ L ESGER , The Rise of the Amsterdam Market and Information Exchange: Merchants, Commercial Expansion and Change in the Spatial Economy of the Low Countries, c. 1550-1630, Aldershot 2006. Vgl. auch die Beiträge von Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer, Jürgen G. Nagel, Christina Dalhede und Jan Willem Veluwenkamp im vorliegenden Band. <?page no="18"?> Einleitung 19 und Segmentierung des Feldes zu beobachten. Einzelne Themenfelder haben eine hoch spezialisierte und allenfalls für Experten noch überschaubare Literatur hervorgebracht: Dies gilt in besonderem Maße für den atlantischen Sklavenhandel, 14 aber auch für den Atlantikhandel im Allgemeinen, 15 für den kommerziellen Austausch im Indischen Ozean, 16 für Kaufmannsdiasporen im euro-asiatischen Handel, 17 den Mittelmeerhandel 18 und den hansischen Handelsraum. 19 Neben den Kaufleuten der Seestädte finden die Kaufleute im Binnenland, die durchaus mit dem Seehandel in Verbindung stehen 14 Neuere Überblicke bei H ERBERT S. K LEIN , The Atlantic Slave Trade, Cambridge u. a. 1999; D AVID E LTIS , The Rise of African Slavery in the Americas, Cambridge u. a. 2000; J OHANNES P OSTMA , The Atlantic Slave Trade, Gainesville/ FL 2005. Eine narrative Darstellung findet sich bei H UGH T HOMAS , The Slave Trade. The Story of the Atlantic Slave Trade, 1440-1870, New York 1997. 15 J OHN F. B OSHER , The Canada Merchants, 1713-1763, Oxford 1987; J ACOB M. P RICE , Perry of London. A Family and a Firm on the Seaborne Frontier, 1615-1753, Cambridge, Mass. / London 1992; D AVID H ANCOCK , Citizens of the World: London Merchants and the Integration of the British Atlantic Community, 1735-1785, Cambridge u. a. 1995; J OHN J. M C C USKER , Essays in the Economic History of the Atlantic World, London / New York 1997; C LAUDIA S CHNURMANN , Atlantische Welten. Engländer und Niederländer im amerikanisch-atlantischen Raum 1648-1713, Köln / Weimar / Wien 1998; C ATHY M ATSON , Merchants and Empire: Trading in Colonial New York, Baltimore / London 1998; W ILLEM K LOOSTER , Illicit Riches. Dutch Trade in the Caribbean, 1648- 1795, Leiden 1998; K LAUS W EBER , Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680-1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cádiz und Bordeaux, München 2004; The Atlantic Economy during the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Organization, Operation, Practice, and Personnel, P ETER A. C OCLANIS (Hrsg.), Columbia, SC 2006. 16 Vgl. exemplarisch Companies and Trade, L EONARD B LUSSÉ / F EMME S. G AASTRA (Hrsg.), Den Haag 1981; K IRTI N. C HAUDHURI , Trade and Civilisation in the Indian Ocean. An Economic History from the Rise of Islam to 1750, Cambridge u. a. 1985; Ships, Sailors and Spices. East India Companies and their Shipping in the 16th, 17th and 18th Centuries, J AAP R. B RUIJN / F EMME S. G AASTRA (Hrsg.), Amsterdam 1993; O M P RAKASH , European Commercial Enterprise in Pre-Colonial India. New Cambridge History of India II.5, Cambridge u. a. 1998; J ÜRGEN G. N AGEL , Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt 2007. 17 P HILIP D. C URTIN , Cross-Cultural Trade in World History, Cambridge 1984; I NA B AGHDIANTZ M C C ABE , The Shah’s Silk for Europe’s Silver: The Eurasian Trade of the Julfa Armenians in Safavid Iran and India (1530-1750), Philadelphia 1999; S COTT C. L EVI , The Indian Diaspora in Central Asia and Its Trade, 1550-1900, Leiden 2002; J ONATHAN I. I SRAEL , Diasporas within a Diaspora: Jews, Crypto-Jews and the World Maritime Empires (1540-1740), Leiden u. a. 2002; Diaspora Entrepreneurial Networks. Four Centuries of History, I NA B AGHDIANTZ M C C ABE / G ELINA H AR- LAFTIS / I OANNA P EPELASIS M INOGLOU (Hrsg.), London 2005. Eine Reihe wichtiger Studien zu Kaufmannsdiasporen findet sich auch in Merchant Networks in the Early Modern World, S ANJAY S UBRAHMANYAM (Hrsg.), Aldershot 1996. 18 D AVID A BULAFIA , Commerce and Conquest in the Mediterranean, 1100-1500, Aldershot 1993; O LIVIA R EMIE C ONSTABLE , Trade and Traders in Muslim Spain: The Commercial Realignment of the Iberian Peninsula, 900-1500, Cambridge u. a. 1994; B ENJAMIN A RBEL , Trading Nations: Jews and Venetians in the Early Modern Eastern Mediterranean, Leiden u. a. 1995; S TEVEN A. E PSTEIN , Genoa and the Genoese, 928-1528, Chapel Hill / London 1996; G IGLIOLA P AGANO DE D IVITIIS , English Merchants in Seventeenth-Century Italy, Cambridge 1997. 19 Hier ist für die deutsche Forschung vor allem auf die Reihe Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte hinzuweisen sowie aus französischer Perspektive auf P IERRE J EANNIN , Marchands du Nord. Espaces et Trafics à l’époque moderne, Paris 1996 und die Arbeiten von Marie-Louise Pelus- Kaplan. Hinzu kommen Studien aus Skandinavien und den Anrainerstaaten der Ostsee. <?page no="19"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 20 konnten, Aufmerksamkeit. 20 Darüber hinaus sind neben Großkaufleuten auch Formen des regionalen Warenaustauschs, des Klein- und Wanderhandels zunehmend in den Blick gekommen. 21 Neuere Forschungen haben gezeigt, dass auch Wanderhandel mit komplexen Organisations- und Kreditformen sowie mit der Überwindung weiter Distanzen einhergehen konnte. 22 Zu einem neuen Forschungsfeld, das Bezüge zur Konsumgeschichte aufweist, entwickelt sich zunehmend der Einzelhandel für so unterschiedliche Produkte wie Lebensmittel, Konsumgüter und Luxuswaren. 23 Auf methodischer Ebene werden institutionenökonomische Ansätze herangezogen, um kaufmännischen Handel mit wirtschaftswissenschaftlichem Instrumentarium zu analysieren. 24 Die in der Handelsforschung schon lange auf Grundlage prosopographischer Ansätze sowie der Rekonstruktion von Beziehungen zwischen den beteiligten Personen betriebene Forschung wird mittlerweile zunehmend mittels sozialwissenschaftlicher und anthropologischer Ansätze der Netzwerkanalyse fortgesetzt, um Strukturmuster der sozialen Beziehungen zu analysieren. Neben der Rekonstruktion von formalen Netzwerkstrukturen, die das Problem mit sich bringen, der zeitlichen Dynamik und der Qualität der Beziehungen zwischen den Akteuren nur unzu- 20 Exemplarisch W ILFRIED R EININGHAUS , Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute (1700-1815), Münster 1995; C INZIA L ORANDINI , Famiglia e impresa. I Salvadori di Trento nei secoli XVII e XVIII, Bologna 2006. 21 P ATRICE P OUJADE , Une société marchande. Le commerce et ses acteurs dans les Pyrénées modernes, Toulouse 2008. 22 L AURENCE F ONTAINE , A History of Pedlars in Europe, Cambridge 1996; vgl. daneben Wanderhandel in Europa. Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung in Ibbenbüren, Mettingen, Recke und Hopsten vom 9.-11. Oktober 1992, W ILFRIED R EININGHAUS (Hrsg.), Hagen 1993; H ANNELORE O BERPEN- NING , Migration und Fernhandel im „Tödden-System“. Wanderhändler aus dem nördlichen Münsterland im mittleren und nördlichen Europa, Osnabrück 1996; R AINER B ECK , Lemonihändler. Welsche Händler und die Ausbreitung der Zitrusfrüchte im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/ 2, 97-124. 23 S USANNE S CHÖTZ , Handelsfrauen in Leipzig. Zur Geschichte von Arbeit und Geschlecht in der Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2004; Retailers and Consumer Changes in Early Modern Europe. England, France, Italy and the Low Countries, B RUNO B LONDÉ / E UGÉNIE B RIOT / N ATACHA C O- QUERY / L AURA VAN A ERT (Hrsg.), Tours 2005; Buyers and Sellers. Retail Circuits and Practices in Medieval and Early Modern Europe, B RUNO B LONDÉ / P ETER S TABEL / J ON S TOBART / I LJA VAN D AMME (Hrsg.), Turnhout 2006; C AROLYN S ARGENTSON , Merchants and Luxury Markets. The Marchands Merciers of Eighteenth-Century Paris, London 1996; Ilja Van Damme, Verleiden en verkopen. Antwerpse kleinhandelaars en hun klanten in tijden van crisis (ca. 1648-ca. 1748), Amsterdam 2007; A NNE M ONTENACH , Espaces et pratiques du commerce alimentaire à Lyon au XVIIIe siècle. L’économie du quotidien, Grenoble 2009. 24 Siehe vor allem A VNER G REIF , Institutions and the Path to the Modern Economy: Lessons from Medieval Trade, Cambridge u. a. 2006 sowie zur Hansischen Geschichte S TEPHAN S ELZER / U LF C HRISTIAN E WERT , Die neue Institutionenökonomik als Herausforederung an die Hanseforschung, in: Hansische Geschichtsblätter 123 (2005), 7-29; S TUART J ENKS , Transaktionskostentheorie und die mittelalterliche Hanse, ebd. 31-42; C HRISTINA L INK / D IANA K APFENBERGER , Transaktionskostentheorie und hansische Geschichte: Danzigs Seehandel im 15. Jahrhundert im Licht einer volkswirtschaftlichen Theorie, ebd. 153-169 und M ARCEL B OLDORF , Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750-1850), Köln / Weimar / Wien 2006, 20f. <?page no="20"?> Einleitung 21 reichend Rechnung zu tragen, werden Netzwerke in wachsendem Maße als Ergebnis sozialer Interaktion gesehen. 25 Allerdings wird der Begriff des Netzwerks derzeit in der Forschung auch unspezifisch als modische Metapher für soziale Beziehungen verwendet und weniger zur Kennzeichnung genau definierter sozialwissenschaftlicher Verfahren. 26 Neben Studien, die von den räumlichen und sozialen Bezügen der Kaufleute ausgehen, können bestimmte Produkte die Leitlinie von Untersuchungen bilden. 27 Zudem werden auch unter systematischen Gesichtspunkten Beiträge zu Praktiken des Handels zusammengestellt: beispielweise zu Kulturen und Ausbildungswege von Kaufleuten, 28 über die praktische Rationalität von Kaufleuten, 29 über Praktiken des Messehandels 30 oder den Gebrauch von Informationen als Entscheidungsgrundlage. 31 Hier schließen sich auch die Beiträge des vorliegenden Bandes an und befassen sich mit konkreten Erscheinungsformen von sozialen Interaktionen beim Gütertransfer, der Kreditgewährung, dem Zahlungsverkehr und der Informationsübermittlung auf unterschiedlichen Ebenen des kommerziellen Austauschs vom Detailhandel bis zum interkontinentalen Handel sowie den Übergängen zwischen diesen Stufen. Dabei nähern sich die Autorinnen und Autoren den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handelspraktiken aus verschiedenen Perspektiven. Einige Beiträge konzentrieren sich auf spezifische Handelszweige wie den schlesischen Leinenhandel oder den niederländischen Russlandhandel. Andere stellen individuelle Akteure in den Mittelpunkt und untersuchen die Geschäftspraktiken spätmittelalterlicher Basler 25 Eine exemplarische Netzwerkanalyse führt M ARK H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998, 61-79, als Grundlage seiner Untersuchung durch. Konzeptionell unterschiedlich angelegt sind die Beiträge im Themenschwerpunkt „Réseaux marchands“ der Annales. Histoire, Sciences Sociales 58 (2003), 569-672 sowie im Sammelband Spinning the Commercial Web. International Trade, Merchants, and Commercial Cities, c. 1640-1939, M ARGRIT S CHULTE B EERBÜHL / J ÖRG V ÖGELE (Hrsg.), Frankfurt a. M. u. a. 2004. 26 Sehr unterschiedliche Vorstellungen, was unter Netzwerken zu verstehen sei, prägten zum Beispiel die Diskussionen der Arbeitstagung „Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters“ des Konstanzer Arbeitskreises, vgl. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e. V., Protokoll Nr. 399 über die Arbeitstagung auf der Insel Reichenau vom 11.-14. März 2008. 27 J ULIA Z UNCKEL , Rüstungsgeschäfte im Dreißigjährigen Krieg. Unternehmerkräfte, Militärgüter und Marktstrategien im Handel zwischen Genua, Amsterdam und Hamburg, Berlin 1997; M ARIA F USA- RO , Uva passa. Una guerra commerciale tra Venezia e l’Inghilterra (1540-1640), Venedig 1996; K A- TIA O CCHI , Boschi e mercanti. Traffici di legname tra la contea di Tirolo e la Repubblica di Venezia (secoli XVI-XVII), Bologna 2006. 28 Cultures et formations négociantes dans l’Europe moderne, F RANCO A NGIOLINI / D ANIEL R OCHE (Hrsg.), Paris 1995 29 Écrire, compter, mesurer. Vers une histoire des rationalités pratiques, N ATACHA C OQUERY / F RAN- ÇOIS M ENANT / F LORENCE W EBER (Hrsg.), Paris 2006. 30 La pratica dello scambio. Sistemi di fiere, mercanti e città in Europa (1400-1700), P AOLA L ANARO (Hrsg.), Venedig 2003. 31 Informazione e scelte economiche, W OLFGANG K AISER / B IAGIO S ALVEMINI (Hrsg.), in: Quaderni storici 124, 42. Jg. (2007). <?page no="21"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 22 Kaufleute, Florentiner Bankiers und Amsterdamer Finanzmakler. Mehrere Aufsätze stellen die Verfügbarkeit, Beschaffung und Weitergabe von Informationen in den Mittelpunkt, und insbesondere in den Beiträgen über den Klein- und Detailhandel werden Geschlechterverhältnisse und Handelsmöglichkeiten von Frauen thematisiert. Ein zentrales Thema, das sich durch die meisten hier versammelten Beiträge zieht, ist die Einbettung vorindustriellen Handel(n)s in soziale Beziehungen. Insbesondere verwandtschaftliche Bindungen, aber auch langjährige Geschäftspartnerschaften, religiöse und landsmannschaftliche Solidaritäten sowie klienteläre Abhängigkeitsverhältnisse kanalisierten den Fluss geschäftlich relevanter Informationen und boten Orientierung in einer oft unübersichtlichen Handelswelt und damit die Grundlage für das bei Geschäftsbeziehungen notwendige Vertrauen. 32 Allerdings zeigen mehrere Beiträge, dass Beziehungsnetze und Vertrauensverhältnisse nur begrenzt belastbar waren: Geschäftliche Macht konnte auch genutzt werden, um politische und wirtschaftliche Rivalen auszuschalten, und soziale Netzwerke zerrissen, wenn angesehene Kaufleute ihre Reputation durch unlautere Praktiken verspielten. Die erste Sektion bilden fünf Beiträge, die Strukturen des Fernhandels thematisieren und dabei deutlich machen, wie unterschiedlich die Konstitution von Handelsräumen und -zweigen sein konnte. Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer zeigen in ihrer Analyse des hansischen Handels, dass das unter anderem von Wolfgang von Stromer propagierte Bild der Hanse als einer gegenüber den großen oberdeutschen Handelsfirmen rückständigen Organisationsform revisionsbedürftig ist. Obwohl der Handel im Hanseraum dezentral organisiert war und in erster Linie von Einzelkaufleuten und kleineren Gesellschaften getragen wurde, vermochten diese Kaufleute großräumige Warentransaktionen effektiv zu organisieren. Nach Ewert und Selzer war dafür weniger die politische Privilegierung der Hansekaufleute verantwortlich als eine den Bedürfnissen des Handelsverkehrs im Hanseraum angepasste Netzwerkorganisation. Der für die Hansekaufleute charakteristische Handel auf Gegenseitigkeit sowie die multiple Kooperation geschäftlich selbständiger Händler funktionierte, weil die Hansekaufleute Mechanismen und Strategien entwickelten, die Kooperation förderten und die kommerziel- 32 Zu Praktiken der Vertrauenskonstitution vgl. C RAIG M ULDREW , The Economy of Obligation: The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Houndmills / Basingstoke 1998; sowie M ARTIN F IEDLER , Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer: Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 576-592; vgl. auch den Beitrag von Sven Schmidt im vorliegenden Band zum Verhältnis von Institutionen und Vertrauen. Die Ambivalenz von Vertrauen innerhalb verwandtschaftlicher Beziehungen zeigt S TEFAN G ORIßEN , Der Preis des Vertrauens: Unsicherheit, Institutionen und Rationalität im vorindustriellen Fernhandel, in: Vertrauen: Historische Annäherungen, U TE F REVERT (Hrsg.), Göttingen 2003, 90-118. <?page no="22"?> Einleitung 23 len Aktivitäten koordinierten. Die beteiligten Händler pflegten ihre Reputation und generierten Vertrauenskapital durch langjährige Geschäftbeziehungen und eine gemeinsame Kultur mit spezifischen Formen der Soziabilität in Trinkstuben und in den Handelshöfen. Ewert und Selzer rekurrieren auf institutionenökonomische, spieltheoretische und organisationssoziologische Modelle, um die Herausbildung eines „multilateralen Reputationsmechanismus“ zu erklären. Damit dieser aufrecht erhalten werden konnte, musste sich diese Form der Netzwerkorganisation nach außen hin abschließen. Jürgen G. Nagel beschäftigt sich mit den kommerziellen Strategien der niederländischen Ostindienkompanie (VOC), die nach seiner Auffassung oft allzu einseitig auf die gewaltsame Durchsetzung handelspolitischer Ziele reduziert werden. Tatsächlich bediente sich die VOC eines flexiblen und differenzierten Instrumentariums, das von den lokalen Gegebenheiten ausging und von sporadischen oder regelmäßigen Handelsfahrten über die Gründung von festen Niederlassungen (Faktoreien) und den Abschluss von Handelsverträgen bis hin zu politisch-militärischer Kontrolle reichte. Abhängig von den Kräfteverhältnissen zwischen Handelskompanie und lokalen Herrschern konnten sich die Niederländer eine privilegierte Marktposition sichern oder mussten sich mit einer offenen bzw., im Falle Chinas und Japans, sogar mit einer marginalisierten Marktteilnahme begnügen. Am Beispiel des Handelszentrums Makassar auf Süd-Sulawesi 33 zeigt Nagel, dass die VOC eine Abfolge von Strategien praktizierte: sie richtete zu Beginn des 17. Jahrhunderts zunächst eine Faktorei ein und versuchte dann durch regelmäßige Handelsexpeditionen und eine gezielte Höchstpreispolitik die Konkurrenz auszuschalten. Sie ging um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer Blockadepolitik über und eroberte schließlich bis 1669 die Stadt und das Sultanat Makassar, um dort anschließend eine Kolonialherrschaft zu errichten. Diese Entwicklung kontrastiert Nagel mit Banjarmasin auf Kalimantan - einem Zentrum des Gewürzhandels, in das viele asiatische Händler nach der niederländischen Eroberung Makassars auswichen. Obwohl die VOC auch hier im 18. Jahrhundert erfolgreich Fuß fasste, erwies sich der lokale Machthaber als stark genug, um eine offene Marktsituation zu erhalten. Die Niederländer standen somit in Konkurrenz zu anderen Händlergruppen und blieben auf chinesische Mittelsmänner angewiesen. Christina Dalhede zeigt, wie das erst in den 1620er Jahren gegründete Göteborg aufgrund günstiger wirtschaftsgeographischer und politischer Rahmenbedingungen und einer starken kaufmännischen Einwanderung im Verlauf des 17. Jahrhunderts zu einem der bedeutendsten Handelszentren Nordeuropas aufstieg. Die von Dalhede ausgewerteten Zollregister ermögli- 33 Vgl. J ÜRGEN G. N AGEL , Der Schlüssel zu den Molukken. Makassar und die Handelsstrukturen des malaiischen Archipels im 17. und 18. Jahrhundert. Eine exemplarische Studie, Hamburg 2004. <?page no="23"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 24 chen eine detaillierte Quantifizierung des Warenverkehrs und verdeutlichen die Verknüpfung unterschiedlicher Handelsräume in Göteborg, das als Exporthafen für Holz, Eisen, Häute und Leder aus dem regionalen Hinterland einerseits und Verteilerzentrum für importierte Lebensmittel und gewerbliche Erzeugnisse andererseits entwickelte. Diese Verknüpfung von Lokal-, Regional- und Fernhandel wurde von Kaufmannsfamilien getragen, die untereinander eng verflochten und über Kreditbeziehungen und Seehandel in internationale Netzwerke eingebunden waren. 34 Das von Marcel Boldorf vorgestellte schlesische Leinenrevier war eine Region, deren starkes Wirtschaftswachstum im späten 17. und 18. Jahrhundert eng mit der steigenden Nachfrage nach Leinen auf überseeischen Märkten zusammenhing. Die Leinenkaufleute in Städten wie Hirschberg und Landeshut schlossen sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts in Gilden zusammen, deren Mitgliederzahl im 18. Jahrhundert trotz eines weiterhin wachsenden Handelsvolumens stagnierte, was auf eine zunehmende Abschließung hindeutet. Die Gilden waren ökonomisch und sozial stark differenziert: International tätige Fernhandelskaufleute standen Aufsteigern aus dem Handwerkermilieu gegenüber, deren Umsätze kaum höher waren als diejenigen einfacher Landhändler. Der Differenzierung der Gilde entsprach eine Pluralität der Organisationsformen des Handels. Während im Messehandel vergleichsweise geringe Umsätze erzielt wurden, wurden im Direkt- und Kommissionshandel mit Kaufleuten und Reedern der großen mittel- und westeuropäischen Seestädte große Mengen umgeschlagen. Im „Barattohandel“ mit Hamburg erwarben die schlesischen Kaufleute im Austausch gegen Leinen Kolonialwaren, die sie regional und überregional vermarkteten. Die weltwirtschaftlichen Verflechtungen der schlesischen Leinenregion führten jedoch nicht zu einem Transfer von Produktionstechniken oder Produktinnovationen, was Boldorf auf die konservative Wirtschaftsmentalität und Risikoaversion der vor allem auf Statussicherung bedachten Kaufleute zurückführt. 35 Alexander Engel unternimmt in seinem Essay den kühnen Versuch, die Handelsgeschichte mit der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die den Handel weitgehend aus ihren Denkmodellen ausklammert, in Beziehung zu setzen. Engel zeigt, dass der von der Neoklassik konstruierte „Homo oeconomicus“ nicht als rein profitorientiertes, sondern stets als moralisch gezügeltes 34 Vgl. C HRISTINA D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 1-3. Resor och Resande i internationella förbindelser och kulturella intressen. Augsburg, Antwerpen, Lübeck, Göteborg och Arboga, Partille / Göteborg 2001; D IES ., Tolagsjournaler under tidigmodern tid i Göteborg. Källmaterial och möjligheter. Projektrapporter Göteborg och Europa 1600-1800. Nr. 1, Göteborg 2005; D IES ., Tidigmoderna handelsböcker i svenska städer. Källmaterial och möjligheter. Projektrapporter Göteborg och Europa 1600-1800. Nr. 2, Göteborg 2008. 35 Vgl. B OLDORF , Europäische Leinenregionen im Wandel (wie Anm. 24). <?page no="24"?> Einleitung 25 Wesen gedacht ist, und leitet diesen Modellakteur aus der Figur des „ehrbaren Kaufmanns“ her, die sich im Diskurs über Handelspraktiken und „richtiges“ Wirtschaften zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert sukzessive entwickelte. Der im spätmittelalterlichen Wirtschaftsdenken noch tief verankerte Gedanke der Reziprozität und Gleichwertigkeit ökonomischer Tauschbeziehungen wird im 18. Jahrhundert zunehmend durch das Ideal eines moralisch handelnden, aber doch an möglichst hohem Profit orientierten Kaufmanns ersetzt - und eben diesen „moralisch gezügelten, rationalen Gewinnmaximierer“ habe die neoklassische Wirtschaftstheorie in ihre Modellbildung übernommen. Engel weist damit nachdrücklich auf die historische Standortgebundenheit ökonomischer Theoriebildung hin, plädiert umgekehrt aber auch für eine theoretisch reflektierte Handelsgeschichte, die sich des Wandels der Funktionen und Organisationsformen vorindustriellen Handels bewusst ist. Die zweite Sektion dieses Bandes umfasst drei Beiträge zu kaufmännischen Praktiken im späten Mittelalter. Ihnen ist gemein, dass sie sich nicht auf geschäftliche Aktivitäten im engeren Sinne beschränken, sondern politisches und kirchliches Engagement mit einbeziehen. Kurt Weissen geht den Verschränkungen von Wirtschaft und Politik am Beispiel der bekanntesten Kaufmanns- und Unternehmerfamilie des 15. Jahrhunderts, der Medici von Florenz, nach. Im Gegensatz zu Forschungsmeinungen, die der Medici-Bank eine nachrangige Rolle bei der Sicherung des politischen Einflusses der Familie innerhalb ihrer Heimatstadt zuschrieben, zeigt Weissen an verschiedenen Beispielen, wie Cosimo de’ Medici (1389-1464) seine wirtschaftliche Macht politisch instrumentalisierte. Erstens diente die Bank dazu, Familien, die nicht zum verwandtschaftlichen Umfeld gehörten, über die Vergabe von Posten in das Klientelsystem der Medici einzubinden. Zweitens wurden Kredite und finanzielle Hilfen in politische Loyalität umgemünzt. Drittens schließlich konnte die Finanzkraft der Medici dazu genutzt werden, exilierte Gegner entweder zu ruinieren oder aber allmählich in die florentinische Gesellschaft zu reintegrieren. Entscheidend war in diesem Fall, ob diese Exilanten wie Lamberto di Bernardo Lamberteschi weiterhin gegen die Medici arbeiteten, oder ob sie sich wie Matteo di Simone degli Strozzi um eine Aussöhnung bemühten und das Normensystem der Florentiner Gesellschaft respektierten. Auf der Grundlage eines überlieferten Geschäftsbuchs vermittelt Matthias Steinbrink detaillierte Einblicke in die Geschäftspraktiken des Basler Kaufmanns und städtischen Amtsträgers Ulrich Meltinger im ausgehenden 15. Jahrhundert. 36 Dabei konzentriert sich Steinbrink auf dessen Kreditbe- 36 M ATTHIAS S TEINBRINK , Ulrich Meltinger. Ein Basler Kaufmann am Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2007. <?page no="25"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 26 ziehungen und zeigt, dass unterschiedliche Typen von Krediten mit spezifischen sozialen und räumlichen Netzwerken korrespondierten. Reine Barkredite vergab der Basler Kaufmann fast ausschließlich an Verwandte, Freunde und vertraute Personen aus seinem städtischen Umfeld. Warenkredite hingegen gewährte der vor allem im Tuch- und Wollhandel tätige Meltinger vorrangig ländlichen Produzenten im Umland von Basel, die er dadurch an sich band. Im Bereich des überregionalen Handels schließlich beteiligte sich Meltinger an einer Reihe von Handelsgesellschaften und -gemeinschaften, die in Wirtschaftszweige wie den Schwarzwälder Bergbau investierten. Größere Gewinnspannen eröffneten sich vor allem in diesem Gesellschaftshandel. Dieses über längere Zeit hinweg gut funktionierende Geschäfts- und Beziehungsnetz wurde allerdings seit Mitte der 1480er Jahre geschwächt, als der Basler Rat den Aktivitäten der großen Gesellschaften eine Reihe von Beschränkungen auferlegte, und es brach völlig zusammen, als Meltinger Ende 1493 beschuldigt wurde, in seiner Funktion als Siechenhauspfleger Gelder unterschlagen zu haben. Nach seiner Inhaftierung und einem Schuldeingeständnis war sein soziales Kapital offenbar aufgebraucht. Wie Ulrich Meltinger von Basel fungierten spätmittelalterliche Kaufleute häufig als Pfleger geistlicher Institutionen und Stiftungen. Diesem Aspekt ihrer Tätigkeit widmet sich der Beitrag von Arnd Reitemeier über Kaufleute als Verwalter von Kirchenfabriken, so genannte Kirchenmeister, in denen er eine „Institution von integrativer Bedeutung für das Zusammenleben in der Stadt“ sieht. 37 Reitemeier beschreibt die vielfältigen Aufgaben, die Kaufleute als vom Rat der jeweiligen Stadt eingesetzte Kirchenmeister erfüllten - Durchführung von Baumaßnahmen, Pflege und Erneuerung der Innenausstattung, Organisation sakraler Handlungen, Erhebung von Einnahmen, Rechnungslegung, Einstellung und Beaufsichtigung von Personal -, und geht der Frage nach, ob sie auch in dieser Funktion gewinnorientiert handelten. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, dass die Kirchenmeister ausgesprochen konservativ wirtschafteten: Sie praktizierten nur einfache Formen der Buchführung, noch versuchten sie Kapital so anzulegen, dass es maximale Rendite trug; vielmehr gaben sie eingehende Gelder sofort wieder aus. Dies ist zum einen damit zu erklären, dass die Entscheidungsspielräume der Kirchenmeister von den Stadtobrigkeiten stark eingeschränkt wurden. Zum anderen verfolgten Kaufleute, die dieses Amt übernahmen, damit vorrangig politische, gesellschaftliche und religiöse Ziele - es ging um den Aufstieg in ein Ratsamt, um die Mehrung des eigenen Prestiges, aber auch um die Demonstration genuiner Frömmigkeit und die Sorge um das eigene Seelenheil. Daher waren Kaufleute nicht nur bereit, einen beträchtlichen Teil 37 Vgl. A RND R EITEMEIER , Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Stuttgart 2005. <?page no="26"?> Einleitung 27 ihrer Zeit und Arbeitskraft in dieses Ehrenamt zu investieren, sondern steckten selbst beträchtliche Summen aus ihrem Privatvermögen in die Kirchenfabriken. Mit der Bedeutung von Informationen und medialen Wandlungsprozessen zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert beschäftigen sich die Beiträge von Cecilie Hollberg, Sven Schmidt und Clé Lesger. Mit dem Fremdsprachenerwerb von Kaufleuten und dem Einfluss von Druckmedien auf kommerzielle Praktiken fokussieren sie dabei zentrale Problemkomplexe. Cecilie Hollberg wertet das älteste bekannte deutsch-italienische Sprachbuch, das ein gewisser Georg von Nürnberg im frühen 15. Jahrhundert verfasste, als Quelle zum Handelsalltag zwischen Venezianern und Oberdeutschen aus. Das teilweise in Dialogform abgefasste Sprachlehrbuch reflektiert regelmäßige Kontakte zwischen Vertretern beider ‚Nationen’, die sich in der Beachtung obrigkeitlicher Normen (zum Beispiel der Einschaltung von Maklern) ebenso äußern wie in ritualisierten Verhaltensweisen und Verlaufsmustern. Innerhalb dieses Rahmens zeigt der Text des Georg von Nürnberg jedoch auch individuelle Handlungsmöglichkeiten auf, die von ausgesuchten Höflichkeiten und Schmeicheleien bis hin zu Verstellung und Beleidigung reichen konnten. Am Beispiel der Einführung von Preiscouranten - gedruckten Warenpreislisten - auf der Nürnberger Börse im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert verdeutlicht Sven Schmidt, wie sich die Beschaffung und Diffusion kommerzieller Informationen in der großen süddeutschen Reichsstadt wandelte. Die regelmäßige Verbreitung vorgedruckter und dann handschriftlich ausgefüllter Preislisten ging zwar auf private Initiative zurück, städtische Obrigkeiten übernahmen sie jedoch in ihre Regie und übertrugen diese Aufgabe vereidigten Börsenmaklern. Damit hielt Nürnberg mit den handelstechnischen Innovationen in Metropolen wie Venedig und Antwerpen Schritt und stellte den Kaufleuten ein Medium zur Verfügung, das Informationskosten senkte sowie geschäftliche Entscheidungen und Transaktionen planbarer und überschaubarer machte. Die Publikation von Preiscouranten war Teil eines medialen Wandels, im Zuge dessen Kaufleute und Handelsfirmen neben ihrer internen Korrespondenz zunehmend auf externe Informationsquellen wie Wechselcouranten, Neue Zeitungen und gedruckte Handelspraktiken zurückgriffen. Schmidt zufolge ist die Akzeptanz dieser neuen Medien eine Folge des Übergangs von relativ geschlossenen, hierarchisch strukturierten zu heterarchisch organisierten Kommunikationsystemen im Handel; allerdings musste die Vertrauenswürdigkeit der Informationen durch die hierarchische und zentralisierte Informationssammlung und -kontrolle seitens der Obrigkeiten gewährleistet werden. <?page no="27"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 28 Wie eng der spektakuläre Aufstieg Amsterdams zum Welthandelszentrum um 1600 mit der Rolle der Stadt als Nachrichtenzentrum zusammenhing, verdeutlicht die Studie von Clé Lesger. 38 Von entscheidender Bedeutung war demnach der Einsatz des Buchdrucks für die Verbreitung kommerziell relevanter Informationen in Form von Zeitungen, Warenpreislisten, Land- und Seekarten sowie nautischen Handbüchern. Dadurch wurden Lesger zufolge die Nachteile mündlicher und handschriftlicher Nachrichtenübertragung - geringe Verbreitung, hohe Fehleranfälligkeit, fehlende Korrekturmöglichkeit falscher Informationen - überwunden und einer breiten, sozial ausdifferenzierten Kaufmannschaft eine Vielzahl zuverlässiger Informationen zugänglich gemacht. Dass die politische und wirtschaftliche Elite Amsterdams den freien Informationsfluss nicht wie andernorts blockierte, sondern sogar förderte, führt Lesger auf die starke Konkurrenz innerhalb der städtischen Kaufmannschaft sowie zwischen Amsterdam und anderen nordniederländischen Städten, auf die dezentrale politische Struktur sowie den religiösen und intellektuellen Pluralismus innerhalb der vergleichsweise toleranten niederländischen Republik zurück. Verwandtschaftsbeziehungen und andere soziale Netzwerke stehen im Zentrum der Beiträge von Christian Kuhn, Mark Häberlein, Marjolein ’t Hart, Jan Willem Veluwenkamp und Miki Sugiura. Große süddeutsche Handelsgesellschaften des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit waren ganz überwiegend als Familienunternehmen organisiert. Die Probleme, die mit dem Generationenwechsel in solchen Firmen verbunden sein konnten, veranschaulicht Christian Kuhn am Beispiel der Nürnberger Tucher. Anhand des Großen Tucherbuchs, einer im späten 16. Jahrhundert entstandenen repräsentativen Geschlechterchronik, zeigt Kuhn zunächst auf, dass diese Art der Familiengeschichtsschreibung zwar einen typisierenden und idealisierenden Charakter aufwies, die auffallend zurückhaltende Darstellung einzelner Familienmitglieder wie Herdegen (IV) Tucher aber dennoch Hinweise auf enttäuschte innerfamiliäre Erwartungen und Generationenkonflikte liefert. Diese Vermutung wird durch eine Analyse Tucherscher Familienbriefe erhärtet, in denen der wirtschaftlich erfolgreiche und politisch einflussreiche Patrizier Leonhart Tucher seine ungehorsamen und unzuverlässigen Söhne maßregelte. Eine Kontrastierung typisierender Historiographie und „individueller“ Familienbriefe würde Kuhn zufolge jedoch zu kurz greifen, denn auch die väterlichen Ermahnungsschreiben an die im Ausland weilenden Söhne waren stark normativ aufgeladen, konstruierten ein Idealbild familiärer Kontinuität und stilisierten Erfahrungen aus der geschäftlichen Praxis zu moralischen Exempeln „richtigen“ kaufmännischen Verhaltens. 38 Vgl. L ESGER , The Rise of the Amsterdam Market (wie Anm. 13). <?page no="28"?> Einleitung 29 Mark Häberlein thematisiert am Beispiel der Gesellschaft des Kölner Kaufmanns Hans von der Ketten und seines Nürnberger Partners Sebastian Kötzler die kommerziellen Verflechtungen zwischen Antwerpen und Sevilla um 1540. Das eher kapitalschwache Unternehmen geriet bereits nach wenigen Jahren in Schwierigkeiten, aufgrund derer Sebastian Kötzler 1543 Sevilla verließ und die dortigen Geschäfte dem Nürnberger Leonhard Winkler übertrug. Winkler wurde später von den Antwerpener Gläubigern Sebastian Kötzlers und Hans von der Kettens gefangen gesetzt und machte dafür Schadenersatzforderungen geltend. Der daraus resultierende Reichskammergerichtsprozess gewährt aufschlussreiche Einblicke in die Argumentationsmuster von Kaufleuten vor Gericht. Während sie sich selbst als ehrbare und vermögende Kaufleute darstellten, diffamierte Kötzler Winkler als armen Handwerker, Winkler seinen Kontrahenten als Bankrotteur. In den Auseinandersetzungen spielten auch das Vertrauen zwischen Geschäftspartnern sowie der Vorwurf „geschwinder Praktiken“ eine zentrale Rolle. Die Konfliktparteien rekurrierten also auf Grundwerte der Ständegesellschaft sowie auf fundamentale Normen kaufmännischen Handelns. Mit ihrem Reden über „Praktiken“ adaptierten sie geläufige Diskurse aus dem Bereich der Politik und Diplomatie für ihre eigenen Interessen. Wie Marjolein ’t Hart am Beispiel Amsterdams im 17. Jahrhundert zeigt, nutzten Mitglieder der wirtschaftlichen und politischen Oberschicht großer Handelsstädte auch den öffentlichen Kreditmarkt, um familiäre Kontinuität zu sichern, indem sie ihren Nachkommen lukrative Leibrenten kauften. Das Geschäft mit öffentlichen Anleihen fungierte ’t Hart zufolge als Bindeglied zwischen den Interessen der mächtigen Ostindienkompanie und den politischen Institutionen der niederländischen Republik. Anhand der Kontenbücher des Amsterdamer Steuereinnehmers Johannes Uijttenbogaert, der selbst zum engsten politischen Führungszirkel der Stadt gehörte, aus den Jahren 1665 bis 1675 lässt sich zeigen, dass ein beträchtlicher Teil der von Uijttenbogaert aufgelegten Anleihen von Direktoren der Amsterdamer Kammer der Ostindienkompanie gezeichnet wurde, die mit den städtischen Institutionen und der Amsterdamer Finanzwelt gleichermaßen eng verflochten waren. Während dieses Anleihesystem im 17. Jahrhundert sowohl die öffentlichen Finanzen stärkte als auch die beteiligten Finanziers reich machte, wurde es im 18. Jahrhundert zunehmend dysfunktional, als die Zinsen auf die begehrten Leibrenten mehr und mehr durch indirekte Steuern aufgebracht werden mussten und die Ostindienkompanie sich immer weiter verschuldete. Jan Willem Veluwenkamp präsentiert Ergebnisse seiner Forschungen zum niederländischen Russlandhandel vom späten 16. bis zum 18. Jahrhundert und stellt diese in den Kontext konzeptioneller Überlegungen zu früh- <?page no="29"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 30 neuzeitlichem kaufmännischem Verhalten. 39 Die Familienfirma bildete im Russlandhandel wie in den meisten anderen Zweigen des europäischen Fernhandels das Rückgrat kommerzieller Aktivitäten. Um ihr wichtigstes Ziel - die Erhaltung und Mehrung des sozialen Status ihrer Familie - zu erreichen, spezialisierten sich niederländische Russlandkaufleute auf bestimmte Produkte, bauten langfristige Kunden- und Lieferantenbeziehungen auf, kooperierten vorzugsweise mit Verwandten und übergaben die Geschäfte schließlich Nachfolgern aus der eigenen Familie bzw. aus dem engeren verwandtschaftlichen Umfeld. Der Russlandhandel über Archangelsk, den die Niederländer im 17. Jahrhundert dominierten, und insbesondere die Aktivitäten der Familie Ruts und mehrerer mit ihr verschwägerter Familien illustrieren die Bedeutung dieser Strategien, bei deren Anwendung sich die Kaufleute allerdings anpassungsfähig zeigten und flexibel auf veränderte Marktverhältnisse und neue geschäftliche Chancen reagierten. Dem Zusammenhang zwischen der stark zunehmenden Anzahl der wijnkopers, den regional ausgerichteten Weingroßhändlern in Amsterdam, im Zeitraum von 1660 bis 1710 und deren Praktiken der Eheschließung geht Miki Sugiura nach. Das Handelssegment der wijnkopers wurde in Amsterdam im Jahr 1660 sowohl hinsichtlich der Mindestals auch der Höchstmenge vorgeschrieben. Damit bot sich Interessierten, deren Eltern keine Kaufleute waren oder die nicht aus Amsterdam stammten, eine neue Geschäftsmöglichkeit und sie konnten der wijnkopers-Gilde beitreten. Für eine Geschäftsgründung wurden ungefähr 7.500-10.000 Gulden Kapital benötigt, und die aufgefundenen Fallbeispiele legen nahe, dass die neuen wijnkoper mit einer Anleihe von nahestehenden Verwandten anfingen oder in deren bestehende Geschäfte einstiegen. Nachdem das Erbschaftsgesetz einen genau gleichen Anteil für Töchter gewährleistete, konnten die wijnkopers ihre finanzielle Grundlage von ihren Partnerinnen durch die Heirat bekommen. Die Bräutigame waren nicht in der Lage, gemeinschaftliches Eigentum am Vermögen ihrer Ehefrauen zu verlangen oder deren Anteil nach deren Tod zu erben. Sie waren zufrieden, wenn die Braut das Vierbis Fünffache eines durchschnittlichen Vermögens einbrachte und sie ihre Geschäfte auf der Grundlage des Vermögens ihrer Ehefrauen betreiben konnten. Wie aus der Untersuchung von Fallgeschichten hervorgeht, hatten diese Kapitaleinlagen von Frauen in den wijnkoper-Geschäften ihrer Ehemänner oder anderer Verwandter erhebliche Auswirkungen auf die soziale Situation ihrer Kinder und die Heiratsmöglichkeiten von Töchtern. Der Beitrag zeigt, wie die Kapitalakkumulation durch Verwandte zur Geschäftsgründung, zivilrechtliche 39 J AN W ILLEM V ELUWENKAMP , Archangel. Nederlandse ondernemers in Rusland, 1550-1785, Amsterdam 2000. <?page no="30"?> Einleitung 31 Vorschriften und geschlechterspezifische Lebensperspektiven miteinander verflochten waren. Eine weitere Sektion befasst sich mit Formen des Regional- und Einzelhandels. Ausgehend von einer lokalen Fallstudie zum Berner Fleischgewerbe im 17. und 18. Jahrhundert charakterisiert Daniel Schläppi den regionalen Handel programmatisch als „Grundkategorie frühneuzeitlichen Wirtschaftens“. Schläppi zufolge spielten auf dem Berner Fleischmarkt im Ancien Régime ländliche Produzenten eine wichtige Rolle, die - ähnlich wie agrarische Produzenten in heutigen Entwicklungsländern - ihre Produkte selbst vertrieben, über minimale eigene Kapitalressourcen verfügten und zur Existenzsicherung auf den Absatz kleiner Warenmengen angewiesen waren. Obwohl das zünftig organisierte Berner Metzgergewerbe immer wieder gegen diese unerwünschte Konkurrenz protestierte, bezog der Magistrat der Stadtrepublik insgesamt gesehen keine einheitliche Position, sondern versuchte möglichst vielen Personenkreisen den Zugang zum Markt zu eröffnen, ohne diesen deswegen grundsätzlich zu liberalisieren. Die obrigkeitliche Duldung der mikroökonomischen Aktivitäten ländlicher Kleinproduzenten war auch dadurch bedingt, dass der Fleischmarkt aufgrund fehlender Konservierungsmöglichkeiten in besonderem Maße auf einen schnellen Warenumsatz angewiesen war. Mit Schläppis Ausführungen hat Michaela Fenskes Beitrag sowohl den kulturgeschichtlichen Ansatz als auch den thematischen Fokus gemein. Im Zentrum ihrer Ausführungen stehen Kreditgewährung und Zahlungspraxis auf dem Hildesheimer Jahr- und Viehmarkt im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. Auf diesem Markt, der durch branchenspezifische Risiken wie Tierkrankheiten, einen generellen Bargeldmangel und eine relative Anonymität der Marktteilnehmer gekennzeichnet war, lässt sich ein Spektrum an Handelspraktiken ausmachen, das nach Fenske als Teil einer „Kultur des Risikoausgleichs“ verstanden werden kann. Käufer und Verkäufer rangen demnach nicht nur um den Kaufpreis, sondern auch um die Zahlungsform - Bargeld, Kredit, Tausch oder Mischformen derselben - und warfen dabei ihre Erfahrung und Reputation in die Waagschale. Im Ergebnis führten diese Verhandlungen meist zu einer Verteilung der Handelsrisiken - eine Praxis, die auch das zuständige Handelsgericht bestätigte, indem es in Konfliktfällen in der Regel eine Vergleichslösung herbeiführte. 40 Die bereits von Schläppi angesprochene wichtige Beteiligung von Frauen im frühneuzeitlichen Klein- und Detailhandel steht im Zentrum der Studien von Susanne Schötz und Danielle van den Heuvel. Ausgehend von der wissenschaftlichen Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Partizi- 40 Vgl. M ICHAELA F ENSKE , Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln / Weimar / Wien 2006. <?page no="31"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 32 pation von Frauen an wirtschaftlichen Aktivitäten in der frühneuzeitlichen Stadt stellt Susanne Schötz zentrale Ergebnisse einer größeren Studie zum Leipziger Handel vor. 41 Während Frauen im frühneuzeitlichen Sachsen generell der Geschlechtsvormundschaft ihrer Ehemänner oder Beistände unterstanden, wurde Handelsfrauen das Recht auf eigenständige kommerzielle Aktivitäten in den kursächsischen Constitutionen von 1572 explizit bestätigt. Durch eine Untersuchung unterschiedlicher Handelsformen - des Hökenhandels mit Agrarprodukten sowie des Kramwaren-, Handwerker-, Fisch- und Messehandels - kann Schötz die Vielfalt weiblicher kommerzieller Aktivitäten im 16. und 17. Jahrhundert aufzeigen. Zugleich macht sie deutlich, dass die selbstständigen Handelsmöglichkeiten von Frauen in diesem Zeitraum sukzessive eingeschränkt wurden. Maßgeblich dafür war die Politik der Leipziger Kramerinnung, die den städtischen Detailhandel zunehmend monopolisierte, die Mitgliedschaft sukzessive auf männliche Kramer und deren Ehefrauen einschränkte und selbstständige Klein- und Kleinsthändlerinnen in marginale und semi-legale Tätigkeitsbereiche abdrängte. Mit der Partizipation von Frauen am Einzelhandel in der niederländischen Republik befasst sich die Fallstudie von Danielle van den Heuvel zur Stadt ’s Hertogenbosch im 18. Jahrhundert. 42 Während frühneuzeitliche Reiseberichte den niederländischen Einzelhandel als Domäne der Frauen darstellten und die historische Forschung dieses Bild fortschrieb, gelangt van den Heuvel zu einer skeptischeren Einschätzung. Obwohl Krämerinnen in ’s Hertogenbosch durchaus präsent waren, stagnierte ihre Zahl im 18. Jahrhundert ungeachtet eines allgemeinen Bevölkerungswachstums. Van den Heuvel führt dies darauf zurück, dass ärmere Frauen in der zweiten Jahrhunderthälfte vor allem im expandierenden Textilsektor Beschäftigung fanden, während die vergleichsweise hohen Anfangsinvestitionen den Einstieg in den Einzelhandel erschwerten. Verschiedene Maßnahmen der lokalen Krämergilde wie die Zulassung von ledigen Frauen und Soldatenfrauen, die scheinbar auf eine Öffnung der Gildemitgliedschaft abzielten, waren in ihrer praktischen Wirkung beschränkt. Obwohl die Zunft sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stärker für Arme öffnete, blieb der Einzelhandel eine Domäne der Mittelschichten, und Frauen stellten stets nur eine Minderheit der Krämerinnen in ’s Hertogenbosch. Die letzten vier Beiträge dieses Bandes sind der Rolle von Minderheiten in der frühneuzeitlichen Wirtschaft gewidmet. Peter Rauscher untersucht die wirtschaftlichen Aktivitäten von Juden in den österreichischen Ländern. Ausgehend von Stellungnahmen der Wiener Hofkammer, die anlässlich der 41 S CHÖTZ , Handelsfrauen in Leipzig (wie Anm. 23). 42 Vgl. D ANIELLE VAN DEN H EUVEL , Women and Entrepreneurship. Female Traders in the Northern Netherlands, c. 1580-1815, Amsterdam 2007. <?page no="32"?> Einleitung 33 Vertreibung der Juden aus Wien und Österreich im Jahr 1670 negative Folgen für das Wirtschaftsleben der Monarchie befürchtete, zeigt Rauscher, dass Juden sowohl in der Residenzstadt als auch in kleineren Städten und adeligen Grundherrschaften im 17. Jahrhundert eine wachsende Bedeutung hatten. So traten sie auf den wichtigsten Jahrmärkten mit einem breiten Warenangebot in Erscheinung, versorgten Kaiserhof und Adel mit Pferden und Luxuswaren und fungierten als Armeelieferanten an der Türkengrenze. In diesen Bereichen kam es immer wieder zur Kooperation jüdischer Händler mit christlichen Kaufleuten und Handwerkern, und trotz der von Kaiser Leopold I. verfügten Ausweisung griffen die Eliten der Habsburgermonarchie weiterhin auf die Dienste jüdischer Unternehmer zurück. Während Juden in mitteleuropäischen Gesellschaften stets einen rechtlichen und sozialen Sonderstatus innehatten, gelang zahlreichen savoyischen Kaufleuten, die sich in süddeutschen Städten niederließen, eine weitgehende Integration, ohne dass die Savoyer deswegen ihre Bindungen in ihre Heimatgemeinden gekappt hätten. 43 Auf der Grundlage zweier überlieferter Handelsbücher bieten Martin Zürn und Irmgard Schwanke detaillierte Einblicke in die Geschäftspraktiken dieser Gruppe. Zürn wertet das Hauptbuch des aus Arâches im Faucigny stammenden und 1735 in Immenstadt im Allgäu verstorbenen Pierre Marquerat aus. Seine sorgfältige Analyse zeigt, dass Marquerat zwar immer wieder mit Handelsleuten aus seiner Herkunftsregion - vor allem mit Savoyern in der Reichsstadt Augsburg - Geschäfte machte; entscheidend waren jedoch seine Integration in die Elite der kleinen schwäbischen Residenzstadt und seine Konzentration auf eine klar umgrenzte und verkehrstechnisch gut erschlossene Region, die sich von Genf und der Nordschweiz über die Bodenseeregion und das Allgäu bis in die Reichsstadt Augsburg erstreckte. Irmgard Schwanke bestätigt am Beispiel der aus Gressoney stammenden Brüder Johann Joseph und Johann Anton Castell, die im frühen 19. Jahrhundert im südbadischen Elzach ein Handelsgeschäft betrieben, Zürns Befund, dass landsmannschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen zu anderen savoyischen Familien zwar gepflegt wurden, ökonomisch aber keineswegs dominant waren. Darüber hinaus zeigt sie anschaulich, über welch breites Spektrum an Kommunikations-, Beschaffungs- und Zahlungsmöglichkeiten ein regionales Handelshaus im frühen 19. Jahrhundert verfügte. Die Bestellung von Waren erfolgte über reisende Handelsvertreter, eigene Reisen sowie Messe- und Marktbesuche, die Auswahl der Artikel mittels 43 Vgl. M ARTIN Z ÜRN , Savoyarden in Oberdeutschland. Zur Integration einer ethnischen Minderheit in Augsburg, Freiburg und Konstanz, in: Kommunikation und Region, C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IEßLING (Hrsg.), Konstanz 2001, 381-419; H ÄBERLEIN , Savoyische Kaufleute und die Distribution von Konsumgütern (wie Anm. 9). <?page no="33"?> Mark Häberlein / Christof Jeggle 34 Musterkarten und Musterbüchern, die Bezahlung sowohl in bar als auch mittels Wechseln und Anweisungen. Eine intensive Kommunikation zwischen Produzenten, Großhändlern sowie Zwischen- und Einzelhändlern ermöglichte es, auf veränderte Moden und Konsumbedürfnisse zu reagieren, doch waren auch Reklamationen und ein beständiges Feilschen um die besten Preise ein fester Bestandteil des geschäftlichen Alltags. Während Juden und Savoyer als Begründer von Händlerdiasporen im vorindustriellen Europa gelten, werden Mennoniten primär mit Landwirtschaft und Textilherstellung assoziiert. Frank Konersmanns Untersuchung zum südwestdeutschen Raum zeigt jedoch, dass wohlhabende mennonitische Bauern dort auch als Händler aktiv waren. Auf der Grundlage einer reichhaltigen Überlieferung privater Rechnungs- und Schreibebücher argumentiert der Autor, dass mennonitische Pächterfamilien wie die Möllinger und Kägy in Rheinhessen und der Kurpfalz seit Mitte des 18. Jahrhunderts einen spezifischen Typus des Bauernkaufmanns ausbildeten. Der ökonomische Erfolg dieser Agrarunternehmer beruhte auf der Verbindung von landwirtschaftlicher Intensivierung (Stallfütterung), gewerblicher Spezialisierung (Branntweinbrennerei, Essigsiederei) und Vermarktung der Erzeugnisse in einem Großraum, in dem die Nachfrage infolge eines anhaltenden Bevölkerungswachstums stetig stieg. Neben einer bemerkenswert rationellen und innovativen Betriebsführung spielten verwandtschaftliche und religiöse Solidaritäten für den Aufstieg dieser Bauernkaufleute eine wichtige Rolle; Verwandte und Glaubensgenossen bildeten ein Reservoir an Geschäftspartnern und Arbeitskräften, auf das über mehrere Generationen hinweg zurückgegriffen wurde. Mit den Ergebnissen der Studien von Zürn und Schwanke stimmt allerdings auch Konersmanns Aufsatz darin überein, dass der kommerzielle Erfolg einer Minderheit nicht allein durch die Existenz engmaschiger sozialer Netzwerke erklärt werden kann, denn auch die mennonitischen Bauernkaufleute bauten einen überkonfessionellen Kundenstamm auf. Das Vertrauen dieser Kunden zu den Kägy und Möllinger beruhte nicht auf religiösen Erwägungen, sondern auf der Qualität und dem Preis der von ihnen gelieferten Produkte. Insgesamt veranschaulichen die Beiträge zu diesem Sammelband die Vielfalt der am mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handel beteiligten Personenkreise, die Bedeutung von Vertrauen, Reputation, Erfahrung und Zugang zu Informationen als Grundlagen erfolgreichen kaufmännischen Handelns, die Relevanz verwandtschaftlicher und landsmannschaftlicher Verflechtung sowie die Einbindung kommerzieller Aktivitäten in politische, rechtliche und soziale Kontexte. Eine an den Praktiken orientierte Handelsgeschichte erweist sich somit als dynamisches und vielseitig anschlussfähiges Forschungsfeld, das von der Auseinandersetzung mit ökonomischen und <?page no="34"?> Einleitung 35 anthropologischen Theorien ebenso profitiert wie von der Öffnung für kommunikations-, religions- und geschlechtergeschichtliche Fragestellungen. Angesichts der zahlreichen ungeklärten Fragen und der Masse des bislang noch nicht aufgearbeiteten Quellenmaterials dürfte sich das Feld nicht nur als traditionsreich, sondern auch in hohem Maße als zukunftsträchtig erweisen. Abschließend möchten die Herausgeber allen am Entstehen des Bandes Beteiligten sehr herzlich danken, vor allem den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und ihre Geduld mit der langen Dauer der Redaktionsarbeiten. Unterstützt wurden die Herausgeber bei den Korrekturarbeiten von Angelika Glodeck und Matthias Schönhofer. Die Register wurden von Thomas Lehner und Magdalena Bayreuther erstellt. Für die Übersetzungen der Beiträge von Marjolein ’t Hart, Clé Lesger, Danielle van den Heuvel und Jan Willem Veluwenkamp erarbeitete Christian Rödel die erste deutsche Textfassung. Dr. Markwart Herzog und Dr. Rainer Jehl von der Schwabenakademie Irsee sind bewährte Partner bei der Durchführung der Tagungen des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte und haben den Band in die Reihe der „Irseer Schriften“ aufgenommen. Die Drucklegung des Bandes wurde dankenswerter Weise von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. <?page no="36"?> 1. Strukturen des Fernhandels <?page no="38"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung. Zu den Erfolgsfaktoren des hansischen Handels 1 Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer 1. Der binnenhansische Handel in der Hansegeschichte Erschien im Gesichtsfeld der Hanse ein oberdeutscher Kaufmann, so galt er gemeinhin als „Nürnberger“. Auch Augsburger, Regensburger und Ulmer verstand man in Niederdeutschland als Kaufleute aus der erfolgreichen fränkischen Handelsmetropole. 2 Wirkliche Nürnberger begegneten umgekehrt der Hanse im 14. Jahrhundert gerade in Flandern. 3 Am Welthandelsplatz Brügge erlebten die Franken eine fest im hansischen Kontor verankerte Gemeinschaft der Osterlinge, die schon seit 1252/ 3 über gewichtige Privilegien und Vorrechte verfügte. 4 Für die Nürnberger, die selbst ihren Aufstieg nicht zuletzt dem Erwerb umfassender Zollfreiheiten verdankten, 5 war die hansische Stellung in Brügge so verlockend, dass sie in der Zeit des hansischen Boykotts Flanderns in den Jahren von 1358 bis 1360 6 gemeinsam mit der Stadt Kampen in die von den Hansen freigemachte Stellung hineinzustoßen suchten und sich 1358 identische Privilegien wie die Hanse zusichern ließen. 7 Im Jahr 1417 versuchte auch die Stadt Konstanz, gestützt auf die Fürsprache des in ihren Mauern dem Konzil vorsitzenden Kaisers Sigismund, die hansischen Privilegien in Brügge zu erlangen. Sollten diese nicht zu errei- 1 Das Manuskript wurde im Januar 2006 abgeschlossen. Seitdem neu erschienene Literatur konnte nur punktuell ergänzt werden. Abschnitt 2. und 3. wurden von Ulf Christian Ewert, Abschnitt 1. und 4. von Stephan Selzer verfasst. Zudem profitieren die jeweiligen Texte wechselseitig von den gemeinsamen Denk- und Formulierungsanstrengungen. 2 Vgl. W OLFGANG VON S TROMER , Konkurrenten der Hanse: Die Oberdeutschen, in: Hanse in Europa. Brücke zwischen den Märkten 12. bis 17. Jahrhundert. Katalog der Ausstellung Köln, Köln 1973, 331-340, hier bes. 334-336. 3 Die Erforschung der Oberdeutschen im Hanseraum ist ein Desiderat. Siehe daher immer noch C LAUS N ORDMANN , Nürnberger Großhändler im spätmittelalterlichen Lübeck, Nürnberg 1933; D ERS ., Der Einfluß des oberdeutschen und italienischen Kapitals auf Lübeck und den Ostseeraum in der Zeit von 1370-1550, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 35 (1937), 123-135; D ERS ., Oberdeutschland und die Hanse, Weimar 1939. 4 Vgl. zuletzt P ETER S TÜTZEL , Die Privilegien des Deutschen Kaufmanns in Brügge im 13. und 14. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 116 (1998), 23-64. 5 Vgl. hier nur H EKTOR A MMANN , Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter, Nürnberg 1970. 6 Dazu zuletzt D IETRICH W. P OECK , Kontorverlegung als Mittel hansischer Diplomatie, in: Hansekaufleute in Brügge, Teil 4: Beiträge der internationalen Tagung in Brügge April 1996, N ILS J ÖRN / W ERNER P ARAVICINI / H ORST W ERNICKE (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2000, 33-53, mit der älteren Literatur. 7 Zu den Hintergründen siehe W OLFGANG VON S TROMER , Oberdeutsche Hochfinanz 1350-1450, 3 Bde., Wiesbaden 1970, Bd. 1, 18-46. <?page no="39"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 40 chen sein, wünschte man am Bodensee zumindest die Nürnberger Vorrechte am flandrischen Handelsplatz zu gewinnen. 8 Nicht nur in Brügge, sondern auch an den übrigen drei hansischen Hauptniederlassungen in London, Bergen und Novgorod verfügten die Kaufleute der Hanse über eine bevorrechtigte Stellung. Ein Privilegienpanzer, über dessen Erhalt die hansischen Kaufleute mit Unterstützung ihrer niederdeutschen Heimatstädte eifersüchtig wachten, begünstigte an diesen vier wichtigsten Außenpunkten des hansischen Handelsraums die Genossen der hansischen Gemeinschaft. Gegenüber allen Mitbewerbern, und nicht nur gegenüber solchen aus Oberdeutschland, besaßen sie zoll- und markttechnische Vergünstigungen und hatten besitz- und prozessrechtliche Garantien zugesichert bekommen. 9 Die Bedeutung dieser Privilegien für die bis um 1500 recht unangefochtene Vormacht der hansischen Kaufleute im Ost- West-Handel auf der Linie Novgorod-Lübeck/ Hamburg-Brügge/ London ist unübersehbar. Zweifellos besaßen diese Rechte einen hohen „Konkurrenzwert“ gegenüber den auf gleicher Linie handelnden Mitbewerbern. 10 Dennoch kann es heute nicht mehr überzeugen, die Vorrangstellung der Hanse ausschließlich aus ihrer Besserstellung durch Privilegien im Außenhandel erwachsen zu lassen. Denn zum Tragen kommt hierfür ein wirkungsmächtiges, aber veraltetes Forschungsparadigma, in dem die Hanse als staatlicher Ersatz für die fehlende Reichsgewalt im Norden erscheint und ihr wirtschaftlicher Erfolg als eine von staatlicher Macht abgeleitete Folge verstanden wird. 11 Dieser interpretatorische Grundzug findet sich zumal bei dem die Jahrzehnte vor und nach 1900 prägenden Hanseforscher Dietrich Schäfer, der in seiner Lebensbeschreibung von 1926 noch einmal aus einem schon 1885 gedruckten Aufsatz über „Die Hanse und ihre Handelspolitik“ gleichsam als Merksatz zitierte: „Auch die Geschichte der Hanse lehrt wie die aller anderen merkantilen Staatenbildungen, daß wirtschaftliche Größe nur zu erringen und zu behaupten ist durch politische Macht.“ 12 Folgt man seiner Vorstellung, so kann die Organisation des binnenhansischen Handels nicht wirklich ins Blickfeld geraten. Denn die wirtschaftlichen Erfolge der Hanse im Nord- und Ostseeraum waren so gewendet gerade nicht das Ergebnis besserer wirtschaftlicher Strategien, effizienter Handelstechniken oder billigerer Transportmöglichkeiten, sondern ein glanzvol- 8 Vgl. R OLF S PRANDEL , Die Konkurrenzfähigkeit der Hanse im Spätmittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 102 (1984), 21-38, hier 23. 9 Vgl. dazu allgemein P HILIPPE D OLLINGER , Die Hanse, Stuttgart 1989, 4., erweiterte Auflage; R OLF H AMMEL -K IESOW , Die Hanse, München 2000. 10 S PRANDEL , Konkurrenzfähigkeit (wie Anm. 8), 21. 11 Vgl. S TEPHAN S ELZER / U LF C HRISTIAN E WERT , Die Neue Institutionenökonomik als Herausforderung an die Hanseforschung, in: Hansische Geschichtsblätter 123 (2005), 7-29, hier 8-18. 12 D IETRICH S CHÄFER , Mein Leben, Berlin / Leipzig 1926, 101. Der Aufsatz in D ERS ., Aufsätze, Vorträge und Reden, 2 Bde., Jena 1913, hier Bd. 1, 168-193. <?page no="40"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 41 ler Sieg politischer Macht. Das hier gezeichnete Bild kann aber schon deshalb nicht mehr überzeugen, weil die Vorstellung von einem politisch geschlossenen und militärisch mächtigen „Städtebund der deutschen Hanse“ mittlerweile nachhaltig erschüttert worden ist. 13 Die neuere Hanseforschung sieht eher eine Interessengemeinschaft „zur Förderung, Sicherung und Privilegierung des Fernhandels“ am Werke. 14 Entlang dieser Interpretationslinie kann aber gerade die hansische Wirtschaftsgeschichte es nicht mehr dabei belassen, nur die volkswirtschaftliche Dimension „der Hanse“ zu betrachten, sondern muss das betriebswirtschaftliche Handeln der Hansekaufleute unbedingt berücksichtigen. Hierüber weiß man aber selbst für grundlegende Aspekte, zu denen beispielsweise die Frage nach den Konsumenten hansischer Waren gehört, 15 bisher weitaus weniger als über die Bemühungen der Hansetage um Privilegienrechte und Rechtssicherheit. 16 Der Fokus wird daher in diesem Beitrag auf den vernachlässigten Aspekt binnenhansischen Handels gelegt. Dessen systematische Deutung hat dabei von den Grundstrukturen des hansischen Handels auszugehen, die sich nach 1250 grundlegend veränderten. Spätestens seit dem Ende des 13. Jahrhunderts begleiteten nämlich die hansischen Kaufleute ihre Waren zwischen Novgorod und Brügge immer häufiger nicht mehr selbst. Der Typus des reisenden Kaufmanns wurde durch den in seiner scrivekamere arbeitenden Handelsherrn ersetzt. 17 Dieses Kontor war gleichsam der hansische Ort des gesamteuropäischen Aufschwungs des Fernhandels im 13. Jahrhundert, der durch den Einsatz von Handelsvertretern angetrieben wurde, durch die sich Zeitkosten und persönliches Risiko der Kaufleute minimierten. 18 Als Ursache für diesen Wandel ist die zunehmende Schriftlichkeit als entscheidender Impuls gewertet worden. Bruchstücke kaufmännischer Buchführung, die schon ins 13. Jahrhundert zurückreichen, sind aus Lübeck und Kiel überlie- 13 Vgl. E RNST P ITZ , Die Verfassung des hansischen Bundes in den Rezessen der Jahre 1435 bis 1460, in: Die hansischen Tagfahrten zwischen Anspruch und Wirklichkeit, V OLKER H ENN (Hrsg.), Trier 2001, 23-42; D ERS ., Bürgereinung und Städteeinung. Studien zur Verfassungsgeschichte der Hansestädte und der deutschen Hanse, Köln usw. 2001. 14 F RANZ I RSIGLER , Der hansische Handel im Spätmittelalter, in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos. Katalog der Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte 1989, J ÖRGEN B RACKER (Hrsg.), Lübeck 1989, 518-532, hier 518. 15 Vgl. R OLF H AMMEL -K IESOW , Wer kaufte die Waren des hansischen Handels? Eine Annäherung an den Endverbraucher, in: „kopet uns werk by tyden“. Beiträge zur hansischen und preußischen Geschichte. Festschrift für Walter Stark zum 75. Geburtstag, N ILS J ÖRN / D ETLEF K ATTINGER / H ORST W ERNICKE (Hrsg.), Schwerin 1999, 73-80. 16 Siehe dazu aus rechtsgeschichtlicher Sicht A LBRECHT C ORDES , Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum, Köln 1998. 17 Diese häufig wiederholte These von Fritz Rörig zum Beispiel in: D ERS ., Die geistigen Grundlagen der hansischen Vormachtsstellung, in: Historische Zeitschrift 139 (1929), 242-251, hier 247. 18 Vgl. R OBERT S. L OPEZ , The Commercial Revolution of the Middle Ages, 950-1350, Englewood Cliffs 1971. <?page no="41"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 42 fert. 19 Bei ihnen handelt es sich damit um ältere Zeugnisse für Kaufmannsbücher, als man sie in Oberdeutschland findet. 20 Wer schreibend seine Waren disponierte und nicht die längste Zeit des Jahres in Kaufmannskarawanen oder Schiffskonvois unterwegs war, wurde abkömmlich für die politischen Geschäfte in seiner Heimatstadt. Die zunehmende politische Unterstützung der hansischen Genossenschaft durch die Städte ihrer Mitglieder, die man früher als Wandel von der Kaufmannszur Städtehanse wohl zu scharf akzentuiert hat, dürfte in dieser Identität von sesshaft gewordenen Fernkaufleuten und Ratsherren ihre eigentliche soziologische Begründung finden. 21 Nicht nur hansische Händler mussten dabei fürchten, ihr Eigentum durch Unglücke zu verlieren, ihre Waren von Dieben gestohlen oder als Repressalie abgenommen zu bekommen, von Geschäftspartnern hintergangen und von Lieferanten betrogen zu werden oder die Marktlage wegen fehlender Informationen falsch einzuschätzen. Von der Angst, die sich bei riskanten Termingeschäften bis zur Panik steigern konnte, und von der dennoch nicht nachlassenden Bereitschaft zum „Abenteuer“ hat man bereits als überörtliche Grundzüge einer allgemein mittelalterlichen Kaufmannsmentalität gehandelt und sie als Grundkoordinaten kaufmännischen Handelns plausibel gemacht. 22 Dies gilt für den vor Ort oder aus der Ferne den Geschäftsabschluss begleitenden Kaufmann gleichermaßen. Doch der Geschäftserfolg konnte auch dadurch leiden, dass man die eigenen Waren, seine Lieferanten und Käufer nicht mehr selbst vor Augen hatte. Dieses Problem, das mit dem Rückzug des Kaufmanns von der Warenbegleitung zu Schiff und Pferd entstand, war den Zeitgenossen nur zu gut bekannt. Sivert Veckinchusen, Mitglied der wohl bekanntesten hansischen Kaufmannsfamilie, hat darüber reflektiert. Etwas verzweifelt schrieb er 1411, dass das Geschäft einer Gesell- 19 Vgl. F RITZ R ÖRIG , Das älteste erhaltene deutsche Kaufmannsbüchlein, zuerst 1928, zit. nach: D ERS ., Wirtschaftskräfte im Mittelalter. Abhandlungen zur Stadt- und Hansegeschichte, Wien usw. 1971, 2. Auflage, 167-215; A HASVER VON B RANDT , Ein Stück kaufmännische Buchführung aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Aufzeichnungen aus dem Detailgeschäft eines Lübecker Gewandschneiders, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 44 (1964), 5- 34, dann in: Lübeck, Hanse, Nordeuropa. Gedächtnisschrift für Ahasver von Brandt, K LAUS F RIED- LAND / R OLF S PRANDEL (Hrsg.), Köln / Wien 1979, 308-335. 20 Vgl. W OLFGANG VON S TROMER , Das Schriftwesen der Nürnberger Wirtschaft vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Zur Geschichte oberdeutscher Handelsbücher, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Stadtarchiv Nürnberg (Hrsg.), 2 Bde., Nürnberg 1967, Bd. 2, 751-799. 21 Siehe das gewandelte Bild in der jüngsten Gesamtdarstellung von H AMMEL -K IESOW , Hanse (wie Anm. 9). 22 Vgl. E RICH M ASCHKE , Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, zuerst 1964, ND in: D ERS ., Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959-1977, Wiesbaden 1980, 380-419; F RANZ I RSIGLER , Kaufmannsmentalität im Mittelalter, in: Mentalität und Alltag im Spätmittelalter, C ORD M ECKSEPER / E LISABETH S CHRAUT (Hrsg.), Göttingen 1985, 53-75. <?page no="42"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 43 schaft nicht gelinge, wan eyn man dar nicht sulven vor ogen wesen mach. 23 Daher waren mit der beginnenden Residenznahme im heimatstädtischen Kontor gerade solche Lösungen zu finden, die es ermöglichten, die Leistung des Handelspartners zu beurteilen, sich gegen einen möglichen Betrug durch diesen abzusichern und den Verlust der von Dritten beförderten Waren zu vermeiden. 24 Die Organisationsform, die zur Lösung solcher freilich nicht spezifisch hansischer Probleme gewählte wurde, gilt es hier eingehender zu untersuchen. Dies soll in drei größeren Abschnitten erfolgen, wobei in einzelnen Schritten Folgendes gefragt wird: 1. Wie war diese Organisation aufgebaut? Welche Struktur wurde von den Hansekaufleuten für ihren Warenaustausch gewählt? 2. In welcher Weise wurden die Interessen der Händler koordiniert und durch welche Instrumente und Regeln wurde die Kooperation zwischen ihnen unterstützt? 3. Worin bestand der wirtschaftliche Vorteil der Organisation des binnenhansischen Handels? Welches waren die Bedingungen, unter denen die hansischen Händler im Spätmittelalter ihren Warentausch abwickelten? Inwiefern lässt sich ihre Strukturwahl mit Blick auf diese Kontextfaktoren erklären? Was bewirkte diese Organisationsform in Bezug auf die Gestaltung des institutionellen Rahmens, in den sie eingebettet war? Und schließlich, welche Rückwirkungen hatte wiederum die Organisation auf den Kontext? 2. Struktur: Der binnenhansische Handel als Netzwerkorganisation Das wohl hervorstechendste Merkmal der innerhansischen Handelsverbindungen war ihre Vernetzung. 25 Hiermit sind zunächst die bilateralen Geschäftsbeziehungen zwischen einzelnen Kaufleuten gemeint. Verschiedene, juristisch eindeutig zu klassifizierende Formen der Kooperation sind zu verzeichnen, so etwa die Widerlegung (wedderlegginge), 26 bei der sich für ein 23 H ILDEBRAND V ECKINCHUSEN . Briefwechsel eines deutschen Kaufmanns im 15. Jahrhundert, W IL- HELM S TIEDA (Hrsg.), Leipzig 1921, 72-75, Nr. 59, hier 72. 24 Es handelt sich hierbei um eines der beiden grundsätzlichen Probleme, die im Fernhandel auftraten und gelöst werden mussten. Das andere bestand darin, auf fremden Märkten Privilegien zu erwerben und Verträge auszuhandeln sowie beides absichern zu können. Vgl. hierzu D OUGLASS C. N ORTH , Institutions, in: Journal of Economic Perspectives 5 (1991), 97-112, hier 99f. 25 Vgl. zu folgenden Ausführungen ausführlicher auch S TEPHAN S ELZER / U LF C HRISTIAN E WERT , Verhandeln und Verkaufen, Vernetzen und Vertrauen. Über die Netzwerkstruktur des hansischen Handels, in: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), 135-161, hier 139-161. 26 Vgl. hierzu unter anderem W ILHELM E BEL , Lübisches Kaufmannsrecht vornehmlich nach Lübecker Ratsurteilen des 15./ 16. Jahrhunderts, Göttingen 1957; C ORDES , Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel (wie Anm. 16); D ERS ., Einheimische und gemeinrechtliche Elemente im hansischen Gesellschaftsrecht des 15.-17. Jahrhunderts. Eine Projektskizze, in: J ÖRN / K ATTINGER / W ERNICKE , „ko- <?page no="43"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 44 konkretes Handelsunternehmen ein Kapitalgeber und ein Kapitalführer zusammenfanden, die sich den Gewinn dieses Handelsgeschäftes teilten, in dem nur der Kapitalführer aktiv geworden war; dann das Sendegutgeschäft (sendeve), 27 bei dem ein Kaufmann für einen anderen dessen Gut mitführte, wobei die beiden in aller Regel bereits in einer Widerlegung miteinander verbunden waren; und schließlich seit 1400 auch Handelsgesellschaften, in denen zwei oder mehrere Personen verbunden und sowohl mit Kapitalanteilen als auch im aktiven Handel engagiert waren. Doch die wohl bedeutendste Form der Partnerschaft zwischen Hansekaufleuten war der von der Forschung so genannte „Handel auf Gegenseitigkeit“, bei dem Kaufleute an verschiedenen Orten jeweils die ihnen zugesandte Handelsware des anderen in eigenem Namen verkauften, ohne dass es darüber schriftliche Abmachungen gab und ohne dass sie direkt am Gewinn eines konkreten Handelsgeschäftes beteiligt waren. 28 Dieser reziproke Handel zwischen zwei Kaufleuten konnte sich über Jahre oder Jahrzehnte erstrecken. Wichtiger jedoch für die Vernetzung der Hansekaufleute war, dass die auf Gegenseitigkeit beruhende Handelsbeziehung zweier Kaufleute keineswegs Handelsbeziehungen zu weiteren Personen ausschloss. Ganz im Gegenteil, in der Regel scheinen Hansekaufleute solche Handelskontakte auf Gegenseitigkeit mit teilweise bis zu einigen Dutzend anderer Kaufleute unterhalten zu haben, wie das Beispiel des Danziger Kaufmanns Johann Pisz zeigt, für den sich in seinem erhaltenen Handelsbuch für den Zeitraum von 1421 bis 1454 etwa 40 Handelspartner feststellen lassen. 29 Es gab also im 14. und 15. Jahrhundert zwischen pet uns werk by tyden“ (wie Anm. 15), 67-71; D ERS ., Wie verdiente der Kaufmann sein Geld? Hansische Handelsgesellschaften im Spätmittelalter, Lübeck 2000. 27 Vgl. etwa G UNNAR M ICKWITZ , Neues zur Funktion hansischer Handelsgesellschaften, in: Hansische Geschichtsblätter 62 (1937), 24-39; D ERS ., Aus Revaler Handelsbüchern. Zur Technik des Ostseehandels in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Helsingfors 1938; W ALTER S TARK , Über Platz- und Kommissionshändlergewinne im Handel des 15. Jahrhunderts, in: Autonomie, Wirtschaft und Kultur der Hansestädte, K ONRAD F RITZE / E CKHARD M ÜLLER -M ERTENS / W ALTER S TARK (Hrsg.), Weimar 1984, 130-146; C ORDES , Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel (wie Anm. 16); D ERS ., Einheimische und gemeinrechtliche Elemente (wie Anm. 26); D ERS ., Hansische Handelsgesellschaften (wie Anm. 26). 28 Vgl. M ICKWITZ , Aus Revaler Handelsbüchern (wie Anm. 27); S PRANDEL , Konkurrenzfähigkeit (wie Anm. 8), 27f.; W ALTER S TARK , Über Techniken und Organisationsformen des hansischen Handels im Spätmittelalter, in: Der hansische Sonderweg? Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Hanse, S TUART J ENKS / M ICHAEL N ORTH (Hrsg.), Köln 1993, 191-201, hier 193; D ERS ., Über Handelstechniken auf dem Brügger Markt um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, in: J ÖRN / P ARAVICINI / W ERNICKE , Hansekaufleute in Brügge (wie Anm. 6), 97-107, hier 105; C ORDES , Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel (wie Anm. 16), 249f. Auch der hansische Handel auf Gegenseitigkeit war eine Entsprechung zu einer im Mittelmeerraum gebräuchlichen Form des Tausches, der rogadia; vgl. S ELZER / E WERT , Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 11), 28. 29 Vgl. W ALTER S TARK , Techniken und Organisationsformen (wie Anm. 28); D ERS ., Platz- und Kommissionshändlergewinne (wie Anm. 27); D ERS ., Untersuchungen zum Profit beim hansischen Handelskapital in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Weimar 1985. <?page no="44"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 45 Hansehändlern kein Konkurrenzverbot, 30 wie es zur selben Zeit innerhalb der Handelsfirmen Oberdeutschlands die Regel war. 31 Diese multilateralen Handelsverbindungen weisen jedoch über ihren primär ökonomischen Kern hinaus. Denn ebenso kennzeichnend wie der Handel auf Gegenseitigkeit als ökonomische Form des Tausches war für den binnenhansischen Handel der Umstand, dass Hansekaufleute am häufigsten und am intensivsten mit Familienmitgliedern und Freunden kooperierten. Als Beispiel hierfür mag Hildebrand Veckinchusen dienen, der von Brügge nicht nur zahlreiche Verbindungen zu Kaufleuten in Danzig, Riga, Dorpat, Rostock, Lübeck 32 und Köln 33 unterhielt, sondern insbesondere mit seinem in Köln tätigen Bruder Sivert Veckinchusen und seinem in Riga ansässigen Schwiegervater Engelbrecht Witte handelte. 34 Schematisch lässt sich dies darstellen, indem für das Handelsnetz eines Kaufmanns Zonen abnehmender Intensität der Handelsbeziehungen konstruiert werden (siehe Abbildung 1a). Da in der Regel die intensivsten Kontakte zu Familienmitgliedern und Verwandten unterhalten wurden, sind diese als Kernpartnerschaften aufzufassen. Als äußere Zonen folgen die Handelsbeziehungen zu Freunden und schließlich diejenigen zu gelegentlichen Handelspartnern. Das einmal geknüpfte Beziehungsnetz konnte weiter verdichtet werden, indem man eine Freundschaft mit Gelegenheitspartnern einging oder aber Freunde zu tatsächlichen oder künstlichen Verwandten machte. 35 Wurden Handelskontakte zum Beispiel durch Heiratsverbindungen unterstützt, wie im Falle Engelbrecht Witte geschehen, dessen Tochter in die Veckinchusen-Familie einheiratete, 36 begannen sich Teilnetzwerke stärker zu überschneiden (siehe Abbildung 1b). Durch vielfältige Verbindungen zu anderen Kaufleuten, die Verwandte und Freunde waren, entstand so ein weit verzweigtes, über den gesamten Hanseraum gespanntes Netzwerk 30 Vgl. S PRANDEL , Konkurrenzfähigkeit (wie Anm. 8), 28. 31 Siehe die zahlreichen Belege für ein solches Konkurrenzverbot bei R OLF S WOBODA , Das Wettbewerbsverbot unter Handelsgesellschaftern vorzugsweise nach deutschem Recht, Diss. Heidelberg 1931; E LMAR L UTZ , Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften in der Zeit der Fugger, 2 Bde., Tübingen 1976. 32 Vgl. C ORDES , Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel (wie Anm. 16), 244-260. 33 Vgl. zum Beispiel R OSWITHA S CHWEICHEL , Kaufmännische Kontakte und Warenaustausch zwischen Köln und Brügge. Die Handelsgesellschaft von Hildebrand Veckinchusen, Werner Scherer und Reinhard Noiltgin, in: „...in guete freuntlichen nachbarlichen verwantnus und hantierung...“ - Wanderung von Personen, Verbreitung von Ideen, Austausch von Waren in den niederländischen und deutschen Küstenregionen, D ICK E.H. D E B OER / G UDRUN G LEBA / R UDOLF H OLBACH (Hrsg.), Oldenburg 2001, 341-358. 34 Vgl. S ELZER / E WERT , Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 25), 146. 35 Vgl. S ELZER / E WERT , Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 25), 146f., mit Beispielen und weiterer Literatur. 36 Vgl. F RANZ I RSIGLER , Der Alltag einer hansischen Kaufmannsfamilie im Spiegel der Veckinchusen- Briefe, in: Hansische Geschichtsblätter 103 (1985), 75-99, hier 81; D ERS ., Handel im Spätmittelalter (wie Anm. 14), 530. <?page no="45"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 46 Familiemitglied Freund Gelegenheitspartner Kernpartnerschaften Kernpartnerschaften Familienmitglied Freund Gelegenheitspartner b. von Geschäftsbeziehungen, Verwandtschafts- und Freundschaftsverhältnissen. Dieses Beziehungsgeflecht wies zwar als Ganzes eine geringe Gesamtdichte auf, war jedoch durch starke separate Gruppenbildung und Überlappung dieser Gruppen gekennzeichnet. Ein solches Erscheinungsbild wird in der Soziologie auch als „small world“ bezeichnet, weil jede Person über Brückenpersonen andere Netzwerkteilnehmer in sehr wenigen Schritten errei- Abbildung 1: Zonale Gliederung hansischer Handelsnetzwerke Kernpartnerschaften Familienmitglied Freund Gelegenheitspartner Kernpartnersschaften Freund Gelegenheitspartner a. Familienmitglied a. Schematische Darstellung eines ego-zentrierten Handelsnetzwerks mit sich überlappenden Teilnetzwerken: Zonale Gliederung der Handelspartner in Familienmitglieder, Freunde und Gelegenheitspartner b. Erhöhung der sozialen Kohäsion des Netzwerks durch Intensivierung der Handelskontakte und Aufwertung sozialer Beziehungen. <?page no="46"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 47 chen kann. 37 In dieser Weise war es den Hansekaufleuten möglich, Waren innerhalb des gesamten Nord- und Ostseeraumes zu transferieren, weil etwa ihr Handelsgut in einer Stafette von Kaufmann zu Kaufmann weiterverhandelt wurde. 38 Eine Interpretation dieser vernetzten Handelsbeziehungen der Hansekaufleute, in der auf die Verschränkung von ökonomischer Funktion und sozialer Qualität aller Beziehungen und auf das Überlappen von Firma und Familie abgehoben wird, 39 darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass mit diesen Netzwerken letztlich doch ein wirtschaftliches Ziel verfolgt wurde. Hansekaufleute gründeten in den seltensten Fällen größere Handelsfirmen. Sie blieben noch bis in das 16. Jahrhundert als kleinere Firmen organisiert, häufig als Einpersonenunternehmungen, die nicht auf den Handel mit einem spezifischen Warentyp beschränkt waren, sondern zumeist mit Waren einer breit gefächerten Produktpalette umgingen. Um ihre Geschäfte an entfernten Handelsplätzen abzuwickeln, setzten sie sich über das Instrument des Handels auf Gegenseitigkeit wechselseitig als Bevollmächtigte ihres Handelsgutes ein, allerdings ohne dass es für die solcherart vorgenommenen Transaktionen schriftlicher Handelsanweisungen oder detaillierter vertraglicher Regelungen bedurfte. Wenn sich hier auch einzelne Personen in Netzwerken zusammenfanden, so waren diese Beziehungsgeflechte sehr viel mehr als bloße soziale Netzwerke, 40 wie sie seit langem in den Sozialwissenschaften, aber auch der Geschichtswissenschaft diskutiert werden. Ihre darüber hinausgehende - und für die hier angestellten Betrachtungen weitaus wichtigere - Qualität bestand in der multiplen Kooperation wirtschaftlich selbständiger Unternehmungen. Im Hinblick auf seine ökonomische Funktion muss daher das Netzwerk der Hansekaufleute zuallererst als ein Netzwerk von Firmen, und dann erst als eines von Personen, begriffen werden. Wie lässt sich nun der Befund zur Struktur des binnenhansischen Handels - Vernetzung von rechtlich selbständigen Wirtschaftseinheiten, fehlende vertragliche Regelungen und fehlende Handlungsanweisungen an zwar als 37 Vgl. dazu D UNCAN W ATTS , Networks, Dynamics, and the Small-World Phenomenon, in: American Journal of Sociology 105 (1999), 493-527, hier 495-498. 38 Vgl. H AMMEL -K IESOW , Hanse (wie Anm. 9), 90. 39 Dies wird beispielsweise für asiatische Unternehmen noch in heutiger Zeit als typisches Strukturprinzip angesehen, vgl. dazu P ETER P ING L I , Towards a Geocentric Framework of Organizational Form: A Holistic, Dynamic and Paradoxical Approach, in: Organization Studies 19 (1998), 829-861, hier 841. 40 Zum Begriff des sozialen Netzwerkes und zur Methode der Netzwerkanalyse vgl. unter anderem allgemein B RUNO T REZZINI , Konzepte und Methoden der sozialen Netzwerkanalyse: Eine aktuelle Übersicht, in: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), 378-394; D ERS ., Theoretische Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 24 (1998), 511-544; P ETER K APPELHOFF , Der Netzwerkansatz als konzeptueller Rahmen für eine Theorie interorganisationaler Netzwerke, in: Steuerung von Netzwerken. Konzepte und Praktiken, J ÖRG S YDOW / A RNOLD W INDELER (Hrsg.), Wiesbaden 2000, 25-57, hier insbesondere 30-52. <?page no="47"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 48 Agenten eingesetzte Handelspartner, die dies aber nicht in einem rechtlichen Sinne waren und außerdem nicht ausschließlich an einen Auftraggeber gebunden waren - theoretisch fassen? Ist dieser Befund doch scheinbar so gar nicht mit der vermeintlich modernen Organisationsform der hierarchisch gegliederten und bürokratisch gesteuerten Unternehmung in Übereinstimmung zu bringen. Zweifelsohne ist jeder Versuch, das binnenhansische Netzwerk in den Kategorien der klassischen hierarchisch-bürokratischen Organisation zu systematisieren, wie sie Max Weber formuliert hat, 41 zum Scheitern verurteilt. Ein solcher Fehlversuch ist jedoch zu umgehen, denn die betriebswirtschaftliche Organisationstheorie hält mittlerweile das Modell eines Organisationstyps bereit - die Netzwerkorganisation 42 -, mit dem sich das Handelsnetzwerk der Hansekaufleute trefflich beschreiben lässt. Dies gelingt vor allem deshalb, weil in der im Kern auf Weber zurückgehenden Definition, nach der eine Organisation ein „kunstvolles, von Menschen bewußt geschaffenes Regelwerk [ist], durch das das Verhalten einer Gruppe von Interaktionspartnern auf Dauer und im Konsens formal bestimmt wird und das Geltung bis zum Widerruf beansprucht“, 43 einige der definitorischen Komponenten abgeschwächt werden. Im Modell der Netzwerkorganisation muss weder das Regelwerk formal bestimmt sein, es zählen auch informelle Regeln bzw. der gänzliche Verzicht auf Regelung, noch muss die Gruppe der Interaktionspartner fest umrissen sein. Netzwerkorganisationen sind gerade dadurch charakterisiert, dass sie sich als freiwillige, lose und fallweise Kooperation eigenständiger Einheiten bilden, bei der die Teilnehmer nichts von ihrer Eigenständigkeit einbüßen. Das Strukturprinzip der Netzwerkorganisation steht damit idealtypisch in Gegensatz zu demjenigen der 41 Vgl. dazu M AX W EBER , Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, J OHAN- NES W INCKELMANN (Hrsg.), Tübingen 1980, 5. Auflage. 42 Vgl. hierzu unter anderen W ALTER W. P OWELL , Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organization, in: Research in Organisational Behaviour, Bd. 10, L. L. C UMMINGS / B ARRY M. S TAW (Hrsg.), Greenwich 1990, 295-336; N ITIN N OHRIA , Introduction: Is a Network Perspective a Useful Way of Studying Organizations, in: Networks and Organizations. Structure, Form, and Action, D ERS . / R OBERT G. E CCLES (Hrsg.), Boston 1992, 1-22; H ARRISON C. 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Während diese über einen klaren Aufbau in Hierarchieebenen, eine Kompetenzgliederung und ein hohes Maß schriftlich festgelegter Regelungen verfügt und in ihr der Informationsfluss auf die Zentralinstanz hin ausgerichtet ist, fehlen in der Netzwerkorganisation nicht nur Zentralinstanz und Hierarchieebenen, sondern auch der Grad ihrer Formalisierung ist sehr gering. Zudem fließen die Informationen vor allem lateral. Abbildung 2: Gegenüberstellung der Idealtypen Bürokratische Organisation und Netzwerkorganisation Mit Hilfe der angesprochenen und in Abbildung 2 schematisch dargestellten Kategorien ist die wirtschaftliche Vernetzung der Hansekaufleute nun sehr leicht als Netzwerkorganisation zu beschreiben. Das grundlegende Gliederungsprinzip dieser Organisation war ihre räumliche Spezialisierung, denn es waren die an den verschiedenen Handelsplätzen im Hanseraum ansässigen und damit örtlich voneinander getrennten Kaufleute, die ihre Ressourcen, ihr Handelsgut und ihr Wissen über Märkte in das Netzwerk einspeisen konnten, indem sie fallweise mit anderen Netzwerkteilnehmern durch die Aufnahme einer Handelsbeziehung kooperierten. Der wirtschaftliche Zweck der Netzwerkorganisation war somit die Distribution des Handelsgutes innerhalb des Hanseraumes. Dieser Zweck konnte sogar erfüllt werden, ohne dass die wirtschaftlichen Aktivitäten der einzelnen Kooperationspartner durch eine Zentralinstanz, die es im Hanseraum zumindest auf der Ebene der Kaufleute und kleinen Handelsfirmen nicht gab, gesteuert hätten werden müssen. Und auch das zunächst sonderbar anmutende Fehlen eines Konkurrenzverbotes zwischen Hansekaufleuten ist innerhalb des Modells der Netzwerkorganisation sinnvoll, unterstreicht es doch den Charakter der im Prinzip losen und nur fallweisen Kooperation zwischen den ansonsten wirtschaftlich selbständigen Kaufleuten. In der Literatur zur Netzwerkorga- BÜROKRATISCHE ORGANISATION NETZWERK- ORGANISATION KOORDINATION AUFBAU FORMALISIERUNG INFORMATIONSFLUSS klar definierter Aufbau, Hierarchieebenen, Kompetenzgliederung lose und flexible Vernetzung, diffuse formale Grenzen, keine Hierarchieebenen hoher Formalisierungsgrad geringer Formalisierungsgrad zum Zentrum ausgerichteter Informationsfluss lateraler Informationsfluss hierarchisch, Koordination durch Anweisung und Kontrolle nicht-hierarchisch, Koordination über Reputation und Eigenverantwortung <?page no="49"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 50 nisation wird sogar eigens ein Nebeneinander von Kooperation und Konkurrenz als diesen Organisationstyp kennzeichnendes und seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausmachendes Strukturelement hervorgehoben. 44 3. Koordination: Die Wirksamkeit von Reputation, Vertrauen und Kultur Unter dem Begriff der Struktur ist das Gliederungsprinzip des hansischen Handels als Netzwerkorganisation beschrieben worden. Nunmehr gilt es zu untersuchen, in welcher Weise das Zusammenwirken der Mitglieder dieser Organisation erreicht worden ist, wie also das Handeln der Netzwerkteilnehmer zu koordinieren war. Denn natürlich hatten die Hansekaufleute im binnenhansischen Handel neben dem Organisationsproblem auch ein Koordinationsproblem zu bewältigen. Es ist daher nach jenen Mechanismen zu fragen, welche die Hansekaufleute veranlassten, sowohl im Handel zu kooperieren als auch sich dabei weitgehend fair zu verhalten. 45 Im Folgenden sind daher drei Mechanismen zu nennen - Reputation, Vertrauen und Kultur - die allesamt kooperationsfördernd und damit koordinierend wirkten. Ihre Funktionsweise lässt sich mittels des Prinzipal-Agenten-Ansatzes herleiten. Diese Theorie wird im allgemeinen dazu verwendet, um die bei Vertretungsbeziehungen zwischen einem Auftraggeber und einem Auftragnehmer auftretenden Schwierigkeiten zu identifizieren und zu analysieren. 46 Stets begründete die räumliche Trennung, die im späteren Mittelalter zwischen sesshaften Fernhändlern bestand, ein Vertretungsproblem. Damit beispielsweise Kaufmann A seine Ware auf einem weit entfernten Markt verkaufen konnte, musste er diese zunächst dorthin transportieren lassen. Vor Ort benötigte er zudem einen Kaufmann B, der die Waren abnahm oder für ihn verkaufte. Kaufmann B wurde somit zum Auftragnehmer des Kaufmanns A und vertrat ihn auf dem für diesen fremden Markt. Dies 44 Vgl. zum Beispiel T HILO B ECK , Cooptition bei der Netzwerkorganisation, in: Zeitschrift für Organisation 67 (1998), 271-276. 45 Betrugsfälle gab es natürlich auch im Handel zwischen Hansekaufleuten immer wieder. Siehe beispielsweise E RMENTRUDE VON R ANKE , Von kaufmännischer Unmoral im 16. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 50 (1925), 242-250, hier 250, sowie S ELZER / E WERT , Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 25), 154. 46 Vgl. dazu allgemein zum Beispiel K ARL -E RNST S CHENK , Die neue Institutionenökonomie - Ein Überblick über wichtige Elemente und Probleme der Weiterentwicklung, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 112 (1992), 337-378; R UDOLF R ICHTER / U LRICH B INDSEIL , Neue Institutionenökonomik, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 24 (1995), 132-140; W OLFGANG C EZANNE / A NNETTE M AYER , Neue Institutionenökonomik - Ein Überblick, in: Das Wirtschaftsstudium 27 (1998), 1345-1352; R UDOLF R ICHTER / E IRIK G. F URUBOTN , Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen 2003, 3. Auflage; U LRICH B LUM , Angewandte Institutionenökonomik. Theorien, Modelle, Evidenz, Wiesbaden 2005. <?page no="50"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 51 konnte insofern problematisch werden, als Kaufmann A die kaufmännischen Fähigkeiten von Kaufmann B eventuell nur ungenügend einzuschätzen wusste, er über dessen individuelle Ziele nur unzureichend informiert war und auch prinzipiell dessen konkretes Handeln nicht oder nur unter großem Aufwand hätte überwachen können. Somit bestand grundsätzlich eine Informationsasymmetrie zugunsten des Kaufmanns B bzw. zuungunsten des Kaufmanns A, was jener zu seinem Vorteil ausnutzen konnte, indem er diesen übervorteilte oder ihn hinterging. 47 Diese Grundstruktur eines im vormodernen Fernhandel auftretenden Prinzipal-Agenten-Problems wird mit Hilfe der Spieltheorie modelliert und untersucht. Avner Greif bedient sich zu diesem Zweck des so genannten sequentiellen Gefangenendilemmas als Spiel (siehe Abbildung 3a). 48 In dieser Repräsentation des Vertretungsproblems werden die Wahlmöglichkeiten beider Kaufleute vereinfacht als binäre Strategien angenommen sowie die aus der jeweiligen Entscheidung resultierenden Konsequenzen für beide Spieler dargestellt. 49 Der zuerst ziehende Spieler (Kaufmann A als Prinzipal) kann entscheiden, ob er Kaufmann B als Agent beauftragt oder nicht. Sofern kein Auftrag ergeht, gewinnt oder verliert keiner der beiden Spieler etwas. Im Auftragsfalle entscheidet Kaufmann B, ob er sich ehrlich verhält oder ob er Kaufmann A betrügen möchte. Bei ehrlichem Verhalten wird der Gewinn zwischen beiden geteilt. Mit betrügerischem Handeln könnte Kaufmann B allerdings den gesamten Gewinn für sich behalten, während hingegen Kaufmann A die Kosten der Transaktion, etwa den mit dem Versenden des Handelsgutes verbundenen Aufwand, zu tragen hätte und einen Verlust verbuchen müsste. Wird nun angenommen, dass beide Spieler bestrebt sind, ihren persönlichen Nutzen zu maximieren, dass beide strategisch handeln, dass das Spiel nur ein einziges Mal gespielt wird und dass es außerdem keine Instanz gibt, die Kaufmann A helfen könnte, betrügerischem Verhalten von Kaufmann B wirksam zu begegnen oder es gar zu ahnden, ist der Ausgang eindeutig vorhersagbar. Ein seinen Nutzen maximierender und strategisch handelnder Kaufmann B wird immer die Option des Betrugs wählen, weil er auf diesem Weg einen höheren Nutzen erzielt als mit ehrlichem Verhalten. Und da Kaufmann A, der sich ja annahmegemäß ebenfalls nutzenmaximierend und strategisch verhält, dieses ratio- 47 In der Begrifflichkeit der Prinzipal-Agenten-Theorie besaß Kaufmann B somit für Kaufmann A „hidden characteristics“, „hidden information“ und „hidden intentions“. Und seine Tätigkeit war für Kaufmann A teilweise oder sogar vollständig eine „hidden action“. 48 Vgl. A VNER G REIF , The Fundamental Problem of Exchange. A Research Agenda in Historical Institutional Analysis, in: European Review of Economic History 4 (2000), 251-284, hier 254-256. 49 Für das Verständnis der grundlegenden Problemstruktur reicht es aus, in diesem Spiel nur einen Teil der ökonomischen Beziehung zwischen den Kaufleuten A und B darzustellen, nämlich den Warentransfer von Kaufmann A zu Kaufmann B. Für gegenseitige Handelsbeziehungen gilt lediglich, dass Kaufmann A und Kaufmann B für den umgekehrten Transfer ihre Rollen wechseln und Kaufmann A dann als Agent für den Prinzipal Kaufmann B tätig wäre. <?page no="51"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 52 nale Handeln des Kaufmanns B antizipieren müsste, dürfte er diesen niemals beauftragen. Unter solchermaßen restriktiven Verhaltensannahmen käme ein Gütertransfer und damit Fernhandel gar nicht erst zustande. Nichtauftragserteilung sowie Betrug wären somit wechselseitig die jeweils besten Antworten der Kaufleute A und B auf das erwartete rationale Handeln des anderen. Mögen diese Annahmen über das Verhalten der beiden Kaufleute auch noch so streng sein und sogar unrealistisch erscheinen, so helfen sie dennoch, die notwendigen Randbedingungen des Fernhandels und der mit ihm verbundenen Vertretungsproblematik deutlicher hervortreten zu lassen. Mit der abstrakten Konstruktion des Spiels wird es ausgehend vom individuellen Nutzenkalkül der Fernhändler möglich, die historischen Vertragsgestaltungen im Fernhandel zu erklären. Welches waren aber nun die Bedingungen, die zusätzlich notwendig waren, damit Fernhandelsbeziehungen zwischen Kaufleuten geknüpft werden konnten? 1. Der potentielle Auftragnehmer Kaufmann B musste ein genügend hohes Maß an Vertrauenswürdigkeit signalisieren, damit der Auftraggeber Kaufmann A die Auftragserteilung an Kaufmann B als Handlungsoption überhaupt in Erwägung zog. Vertrauen (seitens des Prinzipals) und Reputation (seitens des Agenten) waren somit zwei Seiten ein und derselben Medaille und in jedem Fall grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme einer Handelsbeziehung. 2. Im Falle der Auftragserteilung durch Kaufmann A bedurfte es eines institutionellen Rahmens, der Anreize zu ehrlichem Handeln des Kaufmanns B setzte und mit dessen Hilfe mögliche Sanktionen bei nichtehrlichem Verhalten durchgesetzt werden konnten. Dies konnte zum Beispiel durch Vertragsschluss geschehen, machte damit aber wiederum weitere institutionelle Regelungen notwendig, etwa Instanzen zum Zwecke der Rechtsprechung und der Exekution von Zwangsmaßnahmen. Wird die Perspektive von bilateralen zu multilateralen Handelsbeziehungen erweitert, wie sie im Netzwerk des binnenhansischen Handels vorlagen, ist zusätzlich noch das Problem des „Trittbrettfahrens“ („free-riding“) zu bedenken. Damit ist die Erschleichung von im Netzwerk bereitgestellten Clubgütern, etwa Handelsprivilegien an den Kontorsplätzen, oder von öffentlichen Gütern, wie der Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten, durch einzelne Teilnehmer des Handelsnetzwerks gemeint. 50 Auch um solches Handeln zu erschweren oder zu unterbinden, mussten entsprechende Institutionen geschaffen werden. 50 Clubgüter und öffentliche Güter unterscheiden sich von Individualgütern durch die Nichtrivalität um ihre Nutzung, weil sie von mehreren Nutzern gleichzeitig genutzt werden können. Während es für öffentliche Güter in der Regel schwierig oder gar unmöglich ist, Einzelne von der Nutzung auszuschließen, geschieht dies bei Clubgütern in begrenztem Maße insofern, als die Nutzung des Gutes auf die Mitglieder einer Gruppe - den Club - beschränkt wird. Ein potentieller Nutzer muss hier deshalb zuerst die Mitgliedschaft erwerben. Vgl. dazu auch unten bei Anm. 119. <?page no="52"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 53 Abbildung 3: Spieltheoretische Modellierung des Handels auf Gegenseitigkeit A B [-K A , G] B beauftragen B nicht beauftragen A B [0, 0] A B [ G, (1- )G] A betrügen A nicht betrügen Kaufmann A („Prinzipal“) Kaufmann B („Agent“) (a) A B [-K A , G] Waren an B senden keine Waren an B senden A B [0, 0] A B [G, 0] Waren für sich verkaufen Waren für A verkaufen Kaufmann A („Prinzipal“) Kaufmann B („Agent“) (b) A B [-K A , G-R] Waren an B senden keine Waren an B senden A B [0, 0] A B [G, 0] Waren für sich verkaufen Waren für A verkaufen Kaufmann A („Prinzipal“) Kaufmann B („Agent“) (c) Spieltheoretische Modellierung einer Handelsbeziehung: G = Handelsgewinn; K A = Kosten des Warenversands an B; R = Reputation (R > G); 0 1. (a) Eine Tauschbeziehung als sequentielles Gefangenendilemma; (b) Handel auf Gegenseitigkeit als einmaliger Gütertransfer ( = 1); (c) Handel auf Gegenseitigkeit bei unendlicher Wiederholung des Tausches und Berücksichtigung des Reputationsverlustes von B. <?page no="53"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 54 3. Mit der Prinzipal-Agenten-Theorie wird erklärt, weshalb eine Informationsasymmetrie zwischen Prinzipal und Agent stets das Risiko eines unehrlichen Verhaltens des Agenten evozieren muss. 51 Von großer Bedeutung für die Gestaltung der Anreizstruktur und die ökonomische Effizienz in der Abwicklung eines Handelsgeschäfts wird dabei der Zeitpunkt angesehen, an dem Modalitäten der Kostenübernahme und Gewinnaufteilung zwischen Prinzipal und Agent festgelegt werden. Denn es macht einen großen Unterschied, ob es sich um eine in Bezug auf die Auftragsausführung schon ex ante oder erst ex post vorliegende Informationsasymmetrie handelt. Wird dem Agenten schon bei der Auftragserteilung in einem Festpreisvertrag ein fixer Preis zugesagt, so kann er (hier Kaufmann B), in den Verhandlungen höhere als seine tatsächlichen Kosten vortäuschen und diese Kostendifferenz als zusätzlichen Gewinn verbuchen, während der Auftraggeber Kaufmann A tatsächlich einen zu hohen Preis für die Auftragsausführung bezahlt. Mithin würde hier eine „falsche Auswahl“ („adverse selection“) des Agenten getroffen. Wenn hingegen die Gewinnaufteilung erst nach der Ausführung des Auftrags bestimmt wird, wie dies für den Selbstkostenvertrag charakteristisch ist, kann Kaufmann A als Prinzipal sich nicht sicher sein, dass der Agent Kaufmann B ausschließlich im Sinne des Prinzipals handelt. Werden die Kosten der Auftragsausführung dem Agenten vollständig zurückerstattet, besteht für ihn eigentlich keinerlei Veranlassung, sie niedrig zu halten. In diesem Falle besteht ebenfalls das Risiko, dass der Auftrag zu teuer und überdies nicht im Sinne des Kaufmanns A ausgeführt wird. Dieses Risiko wird als „moral hazard“ bezeichnet. Bindet sich schließlich der Prinzipal mit spezifischen Investitionen bei der Auftragserteilung an einen bestimmten Agenten, kann dieser dies für sich ausnutzen, zum Beispiel indem er nachträglich höhere Forderungen an den Prinzipal stellt. Der Agent befindet sich dann in einer so genannten „hold-up“-Position. In der Praxis können nun die von Kaufleuten gefundenen Regelungen danach beurteilt werden, inwieweit sie diese Vertragsrisiken aufwiesen bzw. ob mit ihnen diese Risiken vermieden werden konnten. Die Orientierung an einem solchen Schema bereitet grundsätzlich den Weg für Vergleiche unterschiedlicher Vertragslösungen im Fernhandel des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 52 Im Fall des binnenhansischen Handels scheint sie besonders viel versprechend zu sein, mag es doch nach dem bisher Gesagten auf den ersten Blick durchaus verwundern, weshalb die Hansekaufleute in der oben beschriebenen Form überhaupt miteinander Handel betrieben. Denn in der von ihnen im binnenhansischen Handel be- 51 Einen Überblick über die im Folgenden diskutierten Vertragsrisiken gibt zum Beispiel T ANJA R IP- PERGER , Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips, Tübingen 1998, 63-67. 52 Vgl. S ELZER / E WERT , Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 11), 27f. <?page no="54"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 55 vorzugten Form des Handels auf Gegenseitigkeit als einem impliziten Vertrag 53 gab es für den jeweils als Agent operierenden Kaufmann in einem Handelsgeschäft noch weniger Anreize, sich gegenüber seinem Auftraggeber fair zu verhalten, als in dem von Greif konstruierten Spiel der Abbildung 3a, hatte er doch dem Prinzip dieser Handelsform folgend überhaupt keine Aussicht auf Gewinnbeteiligung an dem von ihm abgewickelten Verkauf der ihm zugesandten Waren (siehe Abbildung 3b). 54 Mit Reputation, Vertrauen und einer gemeinsamen Kultur lassen sich jedoch jene Mechanismen identifizieren, die für eine anreizverträgliche Gestaltung der binnenhansischen Handelsbeziehungen sorgten und damit Kooperation und Koordination innerhalb der hansischen Netzwerkorganisation gewährleisteten: 1. Der sicherlich wirkungsvollste Mechanismus zur Koordination innerhalb der hansischen Netzwerkorganisation war der Reputationsmechanismus. 55 Ein hohes Ansehen zu erwerben bzw. das erworbene Ansehen nicht zu verlieren, war für jeden Kaufmann des späten Mittelalters, nicht nur den hansischen, eine unabdingbare Voraussetzung zur Ausübung seiner Geschäfte. In der hansischen Welt der Einzelkaufleute und kleinen Firmen jedoch, in der die Kaufleute über relativ wenig Handelsgut und finanzielles Kapital verfügten, sie in der Regel auch nicht ihre wirtschaftliche Macht auf vertikal integrierte Produktions- und Distributionsprozesse stützen konnten, nahm die Reputation als soziales Kapital, um diesen Bourdieuschen Begriff zu verwenden, vermutlich einen ungleich höheren Stellenwert ein. Durch zwei Änderungen in den Annahmen der bisher betrachteten Spiele in Abbildung 3a und 3b lässt sich die Wirkung der Reputation auf den Handel auf Gegenseitigkeit deutlich machen. Einerseits wird nun angenommen, dass der Reputationswert des Kaufmanns B, der als Agent für Kaufmann A tätig werden soll, größer war als der mit einem einzelnen Geschäft zu erzielende Profit. Dies erscheint insofern plausibel, als ein durch Kaufmann A entdecktes betrügerisches Verhalten für Kaufmann B nicht nur das Ende weiterer Handelsbeziehungen zu diesem, sondern zu allen übrigen Kaufleuten des Netzwerks bedeutete, die von seinem unehrlichen Verhalten erfuhren. Dies allein kann jedoch noch nicht anreizverträglich wirken. Vielmehr muss man zusätzlich annehmen, dass das Spiel wiederholt werden darf. Nur wenn es in 53 Das Instrumentarium der Prinzipal-Agenten-Theorie ist somit auch auf nicht explizit durch schriftlichen Vertrag begründete Beziehungen zwischen Prinzipal und Agent anwendbar. In Abgrenzung zu solchen expliziten Verträgen wird dann von impliziten Verträgen gesprochen. 54 Formal handelt es sich bei dem mit dem Spiel in Abbildung 3b dargestellten Handel auf Gegenseitigkeit lediglich um einen Spezialfall des sequentiellen Gefangenendilemmas aus Abbildung 3a mit dem Wert = 1 des Parameters, der die Gewinnaufteilung beschreibt. 55 Zur die Kooperation unterstützenden und koordinierenden Funktion von Reputation vgl. zum Beispiel U DO S TABER , Steuerung von Unternehmensnetzwerken: Organisationstheoretische Perspektiven und soziale Mechanismen, in: S YDOW / W INDELER , Steuerung von Netzwerken (wie Anm. 40), 58- 87, hier 69-71. <?page no="55"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 56 einem solchen Spiel eine Vergangenheit gibt, können beide Akteure Reputation aufbauen. Und nur wenn es auch eine Zukunft gibt, ist der Reputationsverlust und der damit verbundene drohende Verlust aller Geschäftsbeziehungen ein wirksames Mittel, um faire Kooperation zu erzwingen (siehe Abbildung 3c). 56 Da ein Betrüger den Verlust nicht nur eines, sondern aller seiner Geschäftskontakte fürchten musste, wird von einem multilateralen Reputationsmechanismus gesprochen. 57 Tatsächlich wurden Reputationsverluste in der hansischen Kaufmannsöffentlichkeit publik gemacht, etwa in den zahlreichen Gesellschaften, 58 die es in den Hansestädten gab, so dass eine solche Drohung als durchaus glaubwürdig gelten muss. Die verschiedenen Formen hanseatischer Geselligkeit sind daher nicht allein kulturgeschichtlich als spätmittelalterliches Sozialphänomen zu betrachten, sondern sie besaßen eine den Zusammenhalt des Händlernetzwerks fördernde Funktion, indem sie als Informationsbörsen die Wirkung des multilateralen Reputationsmechanismus nachhaltig unterstützten. 59 2. Zu den Ergebnissen der Diskussion über Alternativen zu den klassischen Steuerungsmechanismen wirtschaftlichen Handelns wie der Preisbildung auf Märkten oder der Hierarchie in Unternehmungen gehört die Er- 56 Es macht außerdem für die Analyse einen großen Unterschied, ob man annimmt, dass das Spiel in endlich oder unendlich vielen Runden gespielt wird. Die Begriffsbezeichnungen sind hierbei etwas missverständlich, denn in Wirklichkeit geht es darum, ob beide Spieler wissen, dass es sich bei einer Runde des Spieles um die letzte handelt, oder ob sie dies nicht wissen. Nur im Falle des Nichtwissens um das tatsächliche Ende des Spiels ließen sich beide Akteure durch einen Reputationsverlust abschrecken, denn nur in dieser Situation macht es Sinn, seine erworbene Reputation in folgenden Runden nutzbar zu machen. Sobald hingegen beiden Akteuren klar ist, dass sie zum letzten Mal interagieren, wäre das kurzfristig egoistische Handeln die rationale Strategie. Weil es in diesem Fall keine weitere Interaktion gibt, hätte der nun eintretende Verlust an Reputation keine negativen Folgen. Durch Rückwärtsinduktion dieses Resultats der letzten Spielrunde lässt sich zeigen, dass rationale Akteure auch in allen Runden zuvor kein Interesse an Reputationsaufbau und -verlust haben sollten. Vgl. M ANFRED J. H OLLER / G ERHARD I LLING , Einführung in die Spieltheorie, Berlin usw. 1996, 3., verbesserte und erweiterte Auflage. Für Handelsbeziehungen zwischen Kaufleuten gilt jedoch wie für sehr viele reale soziale Interaktionen, dass die Akteure gerade nicht um das Ende der gegenseitigen Beziehung wissen. 57 Dies funktionierte ganz ähnlich in dem von Avner Greif traktierten Beispiel der so genannten „Maghribi-Traders“. Dies waren jüdische Kaufleute, die im 10. und 11. Jahrhundert in den muslimischen Regionen entlang des Mittelmeeres Handel betrieben. Vgl. A VNER G REIF , Reputation and Coalitions in Medieval Trade: Evidence on the Maghribi Traders, in: Journal of Economic History 49 (1989), 857-882; D ERS ., Institutions and International Trade: Lessons from the Commercial Revolution, in: American Economic Review 82 (1992), Papers and Proceedings, 128-133, hier 130; D ERS ., Contract Enforceability and Economic Institutions in Early Trade: The Maghribi Traders’ Coalition, in: American Economic Review 83 (1993), 525-548, hier 531-535. 58 Zu nennen wären hier zum Beispiel die Lübecker Zirkelgesellschaft oder die Artushöfe. Vgl. dazu S ONJA D ÜNNEBEIL , Die Lübecker Zirkel-Gesellschaft. Formen der Selbstdarstellung einer städtischen Oberschicht, Lübeck 1996; S TEPHAN S ELZER , Artushöfe im Ostseeraum. Ritterlich-höfische Kultur in den Städten des Preußenlandes im 14. Jahrhundert, Frankfurt a. M. usw. 1996. 59 Vgl. S TEPHAN S ELZER , Trinkstuben als Orte der Kommunikation. Das Beispiel der Artushöfe im Preußenland (ca. 1350-1550), in: Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten, G ERHARD F OUQUET / M ATTHIAS S TEIN - BRINK / G ABRIEL Z EILINGER (Hrsg.), Stuttgart 2003, 73-98, hier 84 und 96f. <?page no="56"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 57 kenntnis, dass Vertrauen ein ebenso leistungsfähiges Instrument der Koordination ist. 60 Gerade innerhalb einer Netzwerkorganisation gewinnt Vertrauen als Koordinationsmechanismus aufgrund der in der Regel fehlenden Steuerung durch hierarchische Instanzen eine große Bedeutung. Deshalb werden Netzwerkorganisationen auch gerne als so genannte „total-trust“-Organisationen bezeichnet, im Gegensatz zur „zero-trust“-Organisation der Hierarchie. 61 Dabei muss Vertrauen von allen Akteuren den jeweils anderen entgegengebracht werden. Auf die Rollenverteilung zwischen Prinzipal und Agent gemünzt, muss sowohl der Prinzipal Vertrauen in die Ehrlichkeit und die Fähigkeiten des Agenten haben, den Auftrag ordnungsgemäß im Sinne des Prinzipals auszuführen, wie auch der Agent auf den guten Willen des Prinzipals vertrauen muss, dass dieser als Agent der eigenen Sache ebenso verfahren wird. In beiden Fällen kann die Reputation, die ein Akteur besitzt, jeweils das Entgegenbringen von Vertrauen erleichtern, ein letzter Rest an Verhaltensunsicherheit, dessen Überwindung ja als Vertrauen bezeichnet wird, bleibt jedoch. Wegen der häufig langen Dauer zumindest der Kernhandelspartnerschaften hanseatischer Kaufleute ist zu vermuten, dass es zwar Zeit brauchte, in der das Vertrauen zwischen zwei Kaufleuten wachsen musste, dass aber, war das Vertrauen einmal vorhanden, eine gegenseitige Partnerschaft einen immensen ökonomischen Wert besaß. 62 3. Die gemeinsame Kultur wird schon seit längerer Zeit in der Organisationstheorie als ein wirkungsvoller Koordinationsmechanismus diskutiert. 63 Die Orientierung an gemeinsamen Werten und Normen wurde innerhalb der hansischen Handelsnetzwerke auf mehreren Ebenen wirksam. Offensichtlich ist sie auf der familiären und verwandtschaftlichen Ebene der Kaufleute, also im Bereich ihrer Kernhandelspartnerschaften. Zudem erkennt 60 Vgl. zu dieser Wirkung von Vertrauen ausführlich R IPPERGER , Ökonomik des Vertrauens (wie Anm. 51) und M ARTIN F IEDLER , Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer. Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 576-592. Siehe außerdem R EINHARD B ACHMANN , Die Koordination und Steuerung interorganisationaler Netzwerkbeziehungen über Vertrauen und Macht, in: S YDOW / W INDELER , Steuerung von Netzwerken (wie Anm. 40), 107-125, hier 110-114; J OHN C HILD , Trust - The Fundamental Bond in Global Collaboration, in: Organizational Dynamics 29 (2001), 274-288; C YRIL T OMKINS , Interdependencies, Trust and Information in Relationships, Alliances and Networks, in: Accounting, Organizations and Society 26 (2001), 161-191; M ICHAEL I. R EED , Organization, Trust, and Control: A Realist Analysis, in: Organization Studies 22 (2001), 201-228; C HRIS G REY / C HRISTINA G ARSTEN , Trust, Control and Postbureaucracy, in: ebd., 229-250. 61 Vgl. zu dieser Typologisierung R EED , Organization, Trust, and Control (wie Anm. 60), 203. 62 Vgl. hierzu S ELZER / E WERT , Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 25), 150-154. 63 Vgl. zum Beispiel G ARETH R. J ONES , Transaction Costs, Property Rights, and Organizational Culture: An Exchange Perspective, in: Administrative Science Quarterly 28 (1983), 454-467; A LAN L. W ILKENS / W ILLIAM G. O UCHI , Efficient Cultures: Exploring the Relationship between Culture and Organizational Performance, in: Administrative Science Quarterly 28 (1983), 468-481. Einen kurzen Überblick gibt auch U LF C HRISTIAN E WERT , Erfolgreiche Koordination durch Kultur? Herrschaftsmythen der Frühen Neuzeit und die Organizational-Culture-These, in: Historical Social Research 23/ 3 (1998), 58-89, hier 65f. <?page no="57"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 58 man sie an den Berührungspunkten der Netzwerkorganisation mit fremden Kaufleuten. Hier ist bereits vielfach gezeigt worden, dass die kulturelle Identität und das wirtschaftliche Handeln innerhalb der hansischen Netzwerkorganisation so stark miteinander verwoben waren, dass fremden Kaufleuten gar nichts anderes übrig blieb, als hanseatische Kultur zu übernehmen, wenn sie dauerhaft in den Kreis der hansischen Kaufleute integriert werden wollten. 64 Schließlich schlug sich die gemeinsame kulturelle Orientierung auch in Rechtsgepflogenheiten nieder. Sie wiederum stützten den nicht explizit vertraglich geregelten Handel auf Gegenseitigkeit, indem sie von beiden Seiten in einem Handelsgeschäft sehr unbestimmt, aber dennoch wirkungsvoll forderten, dem Gut des Handelspartners jene Sorgfalt angedeihen zu lassen, die man in den eigenen Angelegenheiten walten ließ. Wer es verabsäumte, die ihm zugesandten Waren mit der gleichen Sorgfalt wie die eigenen zum Besten des Partners zu verkaufen (to synem besten to verkopen), 65 hatte nicht nur zu fürchten, vor Gericht zur Verantwortung gezogen zu werden, sondern musste des zusätzlich drohenden Ansehensverlustes gewahr sein. Die dem Prinzip nach nur lose und sehr flexible Vernetzung der Hansekaufleute im binnenhansischen Handel wurde im Ergebnis also durch einen multilateralen Reputationsmechanismus, durch gegenseitiges Vertrauen und durch eine gemeinsame kulturelle Orientierung der Netzwerkteilnehmer so stabil gehalten, dass der in den binnenhansischen Handelsgeschäften dominierende Handel auf Gegenseitigkeit als einfache, aber dennoch wirkungsvolle Form der Kooperation bestehen konnte. Mit Hilfe dieses in die Netzwerkstruktur des Handels eingebetteten Transaktionsmusters konnte es den Hansekaufleuten sogar gelingen, vorhandene Vertragsrisiken zu minimieren. 66 Vernetzung war somit eine Lösung, mit der den drohenden Risiken des „moral hazard“, der „adverse selection“ und des „hold-up“ kostengünstig und dennoch wirksam begegnet werden konnte. Da der den Verkauf der Ware abwickelnde Kaufmann, der Agent, im Handel auf Gegenseitigkeit alle damit verbundenen Aufwendungen für sich abziehen konnte, ist diese Form des Handels als impliziter Selbstkostenvertrag zu behandeln und begünstigte somit prinzipiell vor allem das Risiko des „moral hazard“. Dieses Risiko konnte mit Hilfe des multilateralen Reputationsmechanismus und dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit minimiert werden, wenn bei unverantwortlichen und den Prinzipal übervorteilenden Handlungen empfindliche wirtschaftliche Einbußen durch Ansehensverlust und Schadensersatz drohten. Weil aber von vornherein Klarheit darüber bestand, dass nur dem 64 Vgl. dazu auch S ELZER / E WERT , Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 25), 156f., sowie unten bei Anm. 101. 65 E BEL , Lübisches Kaufmannsrecht (wie Anm. 26), 84. 66 Vgl. dazu auch S ELZER / E WERT , Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 11), 27-29. <?page no="58"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 59 Prinzipal der Verkaufsgewinn eines konkreten Handelsgeschäfts zustand, die Gewinnaufteilung somit praktisch vor der Auftragsausführung feststand, wies der Handel auf Gegenseitigkeit in gewisser Hinsicht auch Elemente eines Festpreisvertrages auf. Deshalb musste auch das Risiko der „adverse selection“ mitbedacht werden, das über Ansehen und Vertrauenswürdigkeit der Hansekaufleute, die über das Handelsnetzwerk bekannt gemacht werden konnten, gering gehalten wurde. Empfiehlt die Prinzipal-Agenten-Theorie als ein mögliches Mittel, diesem Risiko zu begegnen, das Signalisieren der Vertrauenswürdigkeit durch den Agenten selbst, so ist genau dieses Verhalten in erhaltenen Kaufmannsbriefen der Hansekaufleute wiederzufinden, in denen dem Handelspartner mittels Preislisten kaufmännische Fähigkeiten und Informiertheit selbständig nachgewiesen wurden. 67 Schließlich tätigte ein Kaufmann mit der Sendung des eigenen Gutes an den Handelspartner eine so genannte spezifische Investition. Er band sich, zumindest für dieses eine Handelsgeschäft, an den Empfänger der Handelsware, der sich dadurch prinzipiell in einer „hold-up“-Position befand. 68 Die Wirksamkeit des multilateralen Reputationsmechanismus’ verhinderte jedoch zumeist, dass diese Position zum Nachteil des sendenden Kaufmanns ausgenutzt wurde, so dass es eher selten zu einem tatsächlichen „hold-up“ kam. 69 Ein Kaufmann, der versuchte, seinen Handelspartner zu übervorteilen, musste ja um den dauerhaften Ausschluss aus dem Handelsnetzwerk fürchten. Zuallererst drohte ihm bei einem solchen Verhalten aber schon der Verlust des eigenen Gutes, welches sich, begründet durch das dem Handel auf Gegenseitigkeit inhärente Reziprozitätsprinzip, in den Händen seines Handelspartners befand und für diesen somit die Funktion eines Sicherungsgutes erfüllte. 4. Kontext und Wirkung: Effektivität und Effizienz des hansischen Handels Der Blick auf die Konzepte der Wirtschaftswissenschaften hat gezeigt, dass die Organisation des hansischen Handels ihre theoretische Entsprechung in der Netzwerkorganisation hat. Die genossenschaftliche Markterschließung 67 Vgl. etwa S TARK , Platz- und Kommissionshändlergewinne (wie Anm. 27), 143; T HORSTEN A FFLER- BACH , Der berufliche Alltag eines spätmittelalterlichen Hansekaufmanns, Frankfurt a. M. 1993, 193; M ARGOT L INDEMANN , Nachrichtenübermittlung durch Kaufmannsbriefe. Brief-„Zeitungen“ in der Korrespondenz Hildebrand Veckinchusens (1398-1428), München / New York 1978, 21f. 68 Vgl. hierzu auch S ELZER / E WERT , Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 11), 28. 69 Ein Beispiel für einen, wenn auch zeitlich sehr verzögerten Fall von „hold-up“ ist das Verhalten Hildebrand Veckinchusens, der, nachdem er im Testament seines Schwiegervaters Engelbrecht Witte als Erbe leer ausgegangen war, von seinem Schwager ein Entgelt für seine langjährigen Tätigkeiten auf dem Markt in Brügge verlangte. Vgl. A FFLERBACH , Alltag eines Hansekaufmanns (wie Anm. 67), 93f. sowie S ELZER / E WERT , Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 25), 154. <?page no="59"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 60 seit dem 12./ 13. Jahrhundert, die vollständige Marktdurchdringung mit einem breiten Warensortiment und die Marktdominanz der Hansekaufleute noch am Ende des 15. Jahrhunderts sprechen dafür, dass es sich bei dem von ihnen gewählten Arrangement nicht um eine unwirtschaftliche oder gar rückständige Organisationsstruktur gehandelt haben kann. Dergleichen aus dem Abweichen der hansischen Handelsorganisation von italienischen und oberdeutschen Handelshäusern zu folgern, wie es Wolfgang von Stromer vehement getan hat, 70 erscheint daher als vordergründig. Allzu leicht gerät man hier in einen Zirkelschluss, wenn oberdeutsche Handelsfirmen nur deshalb als modern und hoch effizient angesehen werden, weil sie unseren heutigen zu ähneln scheinen. 71 Bedenklich ist zudem, dass bei von Stromer die oberdeutschen Zustände gegenüber den hansischen Verhältnissen wohl auch deshalb so viel moderner wirken, weil Oberdeutschland allein von Akteuren der Hochfinanz bevölkert gewesen zu sein scheint. Was diesen Punkt angeht, so wird man darauf hinweisen müssen, dass es auch im oberdeutschen Raum recht unterschiedliche Kaufmannstypen gab. 72 Wer aber für die Gegenüberstellung nicht nur die Große Ravensburger Handelsgesellschaft oder die Fugger wählt, sondern Ulrich Meltinger 73 oder Felix und Jakob Grimmel, 74 der bemerkt rasch, dass in einer solchen Paarung auch ein Johann Pisz aus Danzig 75 oder ein Laurens Isermann aus Lübeck 76 recht günstig abschneiden. So wird man im Gegenteil vermuten können, dass gerade die Strukturwahl der Netzwerkorganisation, die mit dem Prinzip des Handels auf Gegenseitigkeit und einem multilateralen Reputationsmechanismus verbunden war, es den Hansen erlaubte, ihren Fernhandel recht profitabel zu betreiben. 77 Die Gründe hierfür seien kurz rekapituliert: 78 Mittels der Netzwerkor- 70 W OLFGANG VON S TROMER , Der innovatorische Rückstand der hansischen Wirtschaft, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Helbig zum 65. Geburtstag, K NUT S CHULZ (Hrsg.), Köln 1976, 204-217. 71 So etwa auch E DWIN S. H UNT / J AMES M. M URRAY , A History of Business in Medieval Europe, 1200-1550, Cambridge 1999, 57. 72 Zu Kaufmannstypen siehe F RANZ I RSIGLER , Kaufmannstypen im Mittelalter, in: Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150-1650, C ORD M ECKSEPER (Hrsg.), Stuttgart 1985, Bd. 3, 385-397. 73 Zu ihm siehe den Beitrag von M ATTHIAS S TEINBRINK in diesem Band sowie D ERS ., Ulrich Meltinger. Ein Basler Kaufmann am Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2007. 74 Vgl. A NDREAS N UTZ , Unternehmensplanung und Geschäftspraxis im 16. Jahrhundert. Die Handelsgesellschaft Felix und Jakob Grimmel zwischen 1550 und 1560, St. Katharinen 1996. 75 Siehe die oben in Anm. 29 genannte Literatur. 76 Vgl. B ERTA K OEHLER , Das Revalgeschäft des Lübecker Kaufmanns Laurens Isermann (1532-1535), Dissertation Kiel 1936. 77 Walter Stark zufolge waren die Profitraten, die von den Hansekaufleuten erwirtschaftet werden konnten, ähnlich hoch wie die der oberdeutschen Firmen im 15. Jahrhundert. Vgl. S TARK , Untersuchungen zum Profit (wie Anm. 29), 139. 78 Diese Kostenvorteile lassen sich ableiten, wenn die binnenhansische Netzwerkorganisation im Lichte des Transaktionskostenansatzes betrachtet wird, der verschiedene mit Transaktionen in Verbindung stehende Kostenarten unterscheidet. Vgl. zu diesem theoretischen Konzept allgemein O LIVER E. W IL- <?page no="60"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 61 ganisation konnten ihre Transaktionskosten deutlich gesenkt werden, weil durch gegenseitiges Vertrauen und die gemeinsame Kultur sowohl der Warenaustausch als auch andere Geschäftsbeziehungen erleichtert wurden. Auch blieben in dieser Struktur die Informationskosten der Kaufleute gering, denn es waren die eigenverantwortlichen Handelspartner, die über die relevanten Informationen verfügten, die für den Verkauf der Waren auf den jeweils fremden Märkten benötigt wurden. Außerdem konnten die Organisations- und Kontrollkosten niedrig gehalten werden, denn über den Reputationsmechanismus waren die Anreize für kooperatives und faires Verhalten derart gesetzt, dass detaillierte und kostspielige Vertragsregelungen in der Regel überflüssig waren. Weitaus fruchtbarer und weiterführender als eine Auseinandersetzung um fehlende oder doch vorhandene Modernität dürfte es daher sein, den situativen Ansatz der Organisationsforschung aufzunehmen. Von seiner Warte aus betrachtet, sollten Effektivität und Effizienz einer Organisationsform stets im Zusammenhang mit den spezifischen Rahmenbedingungen gesehen werden. Als Kernthese dieses Ansatzes wird man festhalten können, dass Wirtschaftlichkeit innerhalb einer Organisationsform nur dann zu erzielen ist, wenn die gewählte Struktur an den Kontext der Organisation angepasst ist und dabei gleichzeitig die verwendeten Koordinationsmechanismen auf die spezifische Organisationsstruktur abgestimmt sind. 79 Recht deutlich war schon zu sehen, dass zumindest der zweite Teil dieses so genannten „Doppelten Fits“ einer Organisation 80 für den hansischen Handel erzielt worden sein muss. Reputationsmechanismus, Vertrauen und Kultur waren, wie erläutert, die geeigneten Mittel, um Kooperation innerhalb der Netzwerkorganisation der Hansekaufleute zu ermöglichen (siehe Abbildung 4). Doch welche Rolle spielte der Kontext des hansischen Handels für die Wahl der Organisationsform? Denn inwieweit konnte man mit der Netzwerkorganisation den Anforderungen gerecht werden, die von den zwar simplen und wenig kapitalintensiven, aber langwierigen und ungewissen Transaktionen LIAMSON , Transaction-Costs Economics: The Governance of Contractual Relations, in: Journal of Law and Economics 22 (1979), 233-261; R ONALD H. C OASE , The New Institutional Economics, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 140 (1984), 229-231; D OUGLASS C. N ORTH , Transaction Costs in History, in: Journal of European Economic History 14 (1985), 557-576. Für die hansische Netzwerkorganisation ist dies ausführlicher dargestellt bei S ELZER / E WERT , Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 25), 159, sowie D IES ., Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 11), 18- 29. 79 Vgl. hierzu P AUL R. L AWRENCE / J AY W. L ORSCH , Organization and Environment: Managing Differentiation and Integration, Boston 1967; D IES ., Differentiation and Integration in Complex Organizations, in: Administrative Science Quarterly 12 (1967/ 68), 1-47; P RADIP N. K HANDWALLA , Environment and its Impact on the Organization, in: International Studies of Management and Organization 2/ 3 (1972), 297-313. 80 Vgl. zur schematischen Darstellung dieses Konzeptes J ÜRGEN H AUSCHILDT , Innovationsmanagement, München 1993, 297f. <?page no="61"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 62 im binnenhansischen Handel an die Kaufleute gestellt wurden? In einem solchen (hier nur knappen) Ausblick auf die Wechselwirkungen zwischen geographischen, verkehrstechnischen und sozialen Gegebenheiten im hansischen Wirtschaftsraum und dem beschriebenen institutionellen Arrangement des hansischen Handels könnten sich dann auch die Differenzen zu den oberdeutschen Gegebenheiten kontrastreicher abzeichnen. Abbildung 4: Schematische Darstellung von Kontext und Wirkung der hansischen Netzwerkorganisation 1. Die Ausbildung und der langfristige Fortbestand der Netzwerkorganisation des Hansehandels konnte nicht unbeeinflusst davon bleiben, dass auf der Linie des hansischen Kernhandels, die von Novgorod nach Brügge verlief (und damit auf heutigen Straßen eine Entfernung von rund 3.500 Kilometer überbrückte), 81 höchst unterschiedlich beschaffene Wirtschaftsräume miteinander verkoppelt wurden. Der ungleiche Entwicklungsstand der von der Handelslinie durchquerten Regionen stellte sich dabei als eine von West nach Ost urtümlicher werdende Struktur dar. Dieses Gefälle ist für den abnehmenden Einsatz moderner Kreditinstrumente recht gut erforscht, 82 galt aber auch hinsichtlich Bevölkerungszahl, Urbanisierung, Marktintegration, Produktivität, Gewerbedichte und Rechtsstandard. 83 Gerade die unterschiedliche Verfügbarkeit von Bargeld legte es dabei nahe, die Warensendungen im Netzwerk auf Gegenseitigkeit abzuwickeln, so dass für zugesandte Waren ein 81 Vgl. Transit Brügge - Novgorod. Eine Straße durch die europäische Geschichte. Ausstellungskatalog Essen 1997, F ERDINAND S EIBT u. a. (Hrsg.), Bottrop 1997. 82 Vgl. zum Beispiel M ICHAEL N ORTH , Kreditinstrumente in Westeuropa und im Hanseraum, in: J ÖRN / K ATTINGER / W ERNICKE , „kopet uns werk by tyden“ (wie Anm. 15), 43-46, mit der einschlägigen Literatur. 83 Vgl. P ETER M ORAW , Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, U WE B ESTMANN / F RANZ I RSIGLER / J ÜRGEN S CHNEIDER (Hrsg.), 3 Bde., Trier 1987, Bd. 2, 583-622. ORGANISATION ORGANISATION WIRKUNG EFFEKTIVITÄT Senkung der Kosten recht hohe Profitrate EFFIZIENZ Markterschließung breites Sortiment Marktdominanz KONTEXT heterogener Wirtschaftsstand große räumliche Ausdehnung langsame Informationsübertragung einfache, langwierige, ungewisse und kapitalschwache Transaktionen schwach ausgeprägte Institutionen Netzwerkorganisation Reputation Vertrauen Kultur STRUKTUR KOORDINATION <?page no="62"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 63 Mehr an Rückwaren an den Absender zurückfloss, ohne dass Kapitalien am Einkaufsort verfügbar sein mussten. 84 2. Obwohl es auf Teilabschnitten dieser Linie auch einen (von der Forschung weniger beachteten) hansischen Landverkehr gab, wurde doch der Großteil des Warengeschäfts über See abgewickelt. 85 Schon mehrfach ist vermutet worden, dass es der Seefernhandel entlang der Städtekette des Küstensaums war, der eine Organisation erleichtert habe, die als Handel auf Gegenseitigkeit zwischen ortsfesten Kaufleuten in den einzelnen Seehäfen betrieben wurde. So zu verfahren sei an der Küste wesentlich leichter gewesen als innerhalb eines Binnenraums, den etwa die Oberdeutschen durchdrangen, weil hier die Handelsgeschäfte, von einem Zentrum ausgehend, in die verschiedenen Richtungen zu disponieren waren. 86 Diese Einschätzung lenkt den Blick auf die vom hansischen Seeverkehr zu überbrückenden Entfernungen, die - in Luftlinie gerechnet und auf Nürnberg bezogen - einer Ausdehnung von Trondheim bis zu den Abruzzen entspricht. Wäre diese geographische Spannweite mittels einer hierarchischen Organisationsform in Form der Faktorei- und Filialverfassung zu beherrschen gewesen? Um dies zu beurteilen, lohnt ein Blick auf die spezifischen Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten des Hanseraums. Über die Laufzeiten von hier versandten diplomatischen und geschäftlichen Briefen weiß man neuerdings etwas mehr. 87 Die ermittelten Werte verblüffen dabei in einer modernen Welt, in der ein Geschäftsabschluss fast in Echtzeit erfolgt. 88 Ein Brief von Lübeck nach Brügge war im 15. Jahrhundert durchschnittlich 19 bis 20 Tage unterwegs. 89 Wer also Marktinformationen aus Flandern erhielt und darauf umgehend reagierte, dessen Kauf- oder Verkaufsorder wurde dennoch erst rund eineinhalb Monate nach dem die Entscheidung auslösenden Hinweis umgesetzt. Walter Stark hat daher gefolgert: „Bei den Entfernungen und Schwierigkeiten der Nachrichtenübermittlung musste notwendigerweise dem Partner vor Ort ein hohes Maß an Selbständigkeit eingeräumt werden.“ 90 Doch 84 Vgl. R OLF S PRANDEL , Das mittelalterliche Zahlungssystem nach hansisch-nordischen Quellen des 13.-15. Jahrhunderts, Stuttgart 1975, bes. 124-137. 85 Zum hansischen Landverkehr siehe hier nur F RIEDRICH B RUNS / H UGO W ECZERKA , Hansische Handelsstraßen, 3 Bde., Weimar 1962-1968. 86 Zum Beispiel S TUART J ENKS , Von der archaischen Grundlage zur Schwelle der Moderne (ca. 1000- 1450), in: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, M ICHAEL N ORTH (Hrsg.), München 2000, 15-106, hier 27; M ICKWITZ , Funktion hansischer Handelsgesellschaften (wie Anm. 27), 37. 87 Zum Beispiel H ARM VON S EGGERN , Zur Kommunikation zwischen den wendischen Hansestädten und der Grafschaft Holland im 15. Jahrhundert, in: Landesgeschichte als multidisziplinäre Wissenschaft. Festgabe für Franz Irsigler zum 60. Geburtstag, D IETRICH E BELING u. a. (Hrsg.), Trier 2001, 325-346, bes. 340-344. 88 Vgl. H ENRYK S AMSONOWICZ , Time is Money. Der Austausch von Informationen zwischen den Hansestädten im 15. Jahrhundert, in: J ÖRN / K ATTINGER / W ERNICKE , „kopet uns werk by tyden“ (wie Anm. 15), 211-213. 89 Vgl. noch L INDEMANN , Nachrichtenübermittlung (wie Anm. 67), 17. 90 S TARK , Handelstechniken (wie Anm. 28), 105. <?page no="63"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 64 muss man für diese Folgerung wohl noch eine weitere Sonderbedingung der hansischen Handelslinie hinzunehmen. Sie wird deutlicher, wenn man weiß, dass Briefe zwischen Lübeck und Brügge in aller Regel per Boten, also auf dem Landweg, übermittelt wurden. Die dabei erreichten Laufzeiten von ca. 30 km täglich, die nur in dringendsten Angelegenheiten auf das Doppelte erhöht werden konnten, entsprechen dem mittelalterlichen Rhythmus der Nachrichtenübermittlung, der in ganz Europa gültig war. Auch italienische Kaufleute rechneten für die Kommunikation in ihren Handelsfirmen mit solchen Brieflaufzeiten, wenn sie etwa mit einem Informationsfluss kalkulierten, der von Florenz nach Brügge auf 1.400 km in bestenfalls 25 Tagen zu erreichen war. 91 Nur aus dieser Kommunikationsdauer eine besondere Schwierigkeit für die Etablierung hierarchischer Organisationen im Hanseraum abzuleiten, wäre also unzutreffend. Warum aber wurde überhaupt der reitende Bote gewählt, wo doch hansische Schiffe zwischen Brügge und Lübeck/ Hamburg unterwegs waren und der Schiffsverkehr natürlich schneller vonstatten gehen konnte als eine Reise auf dem Landweg? Genau in der Antwort auf diese Frage liegt wohl das eigentliche Sonderproblem des hansischen Seehandels verborgen. Denn die Sendung von Nachrichten über Land war stets möglich, während dies für den Seeversand von Briefen gerade nicht galt. Schon Gunnar Mickwitz hat auf diesen Tatbestand hingewiesen, als er feststellte, dass es im 16. Jahrhundert an Gelegenheiten fehlte, selbst auf ganz üblichen Strecken wie etwa zwischen Reval und Lübeck umgehend eine Briefnachricht zu senden. Innerhalb der beiden Jahre 1532 und 1533 gab es in drei Monaten keine, in zehn Monaten nur eine und in weiteren elf Monaten maximal zwei Beförderungsmöglichkeiten. 92 Zumal noch hinzukam, dass eine Sendung über Land zwar langwierig war, aber als wesentlich berechenbarer galt als die Beförderung von Briefen per Schiff. Zu den Besonderheiten des Seefernhandels gehörte es nämlich, dass die Schifffahrt aufgrund der wechselnden Wetterverhältnisse besonders schwer kalkulierbar war. In einer Risikogewichtung galt daher im 16. Jahrhundert der Warenversand auf dem Seeweg als erheblich störungsanfälliger als der Transport per Fuhrwerk. So lässt sich beispielsweise für die Antwerpener Firma Della Faille dieser Unterschied bis in die Höhe der Versicherungsprämien hinein beziffern, die für den Warenversand über Land und auf See fällig wurden. 93 3. Zu den das hansische Netzwerk fördernden Rahmenbedingungen zählte, dass der hansische Handel eine Region überspannte, die ein einheitlicher, nämlich niederdeutscher Sprachraum war und in dem das lübische 91 Die Angaben hier nach P ETER S PUFFORD , Handel, Macht und Reichtum. Kaufleute im Mittelalter (engl. 2002), Darmstadt 2004, 20-23. 92 Vgl. M ICKWITZ , Aus Revaler Handelsbüchern (wie Anm. 27), 186f. 93 W ILFRID B RULEZ , De firma Della Faille en de internationale handel van Vlaamse firma's in de 16e eeuw, Brüssel 1959, 424f. <?page no="64"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 65 Recht vereinheitlichend wirkte. 94 Zu den die Netzwerkorganisation nicht nur fördernden, sondern sie erst ermöglichenden Voraussetzungen wird man hingegen den Umstand rechnen müssen, dass familiäre und geschäftliche Netzwerke im hansischen Wirtschaftsraum ineinander fielen. Die Bedeutung solcher durch Emigration geschaffener Initialnetzwerke, die für den Geschäftsbetrieb nutzbar wurden, ist für jüdische oder indische Kaufleute schon mehrfach herausgearbeitet worden. 95 Die Existenz von überregionalen verwandtschaftlichen Kontakten im Hanseraum ist eine Tatsache, die von der hansischen Forschung wiederholt in prosopographischen Studien herausgestellt worden ist. 96 Wirksam dafür wurde der Umstand, dass ein Teil der Bevölkerung 97 der neu gegründeten Städte, die im 13. Jahrhundert entlang der Küste und im Hinterland der Ostsee entstanden, aus der Ferne zugewandert war und dass diese Zuwanderung auch in den nachfolgenden Generationen anhielt. 98 Wohlgemerkt ist hiermit gerade nicht nur die Tatsache einer verwandtschaftlichen Verflechtung städtischer Eliten gemeint, die genauso gut für Oberschichten in Oberdeutschland nachzuweisen ist, 99 sondern die weitgehende Orientierung des Handels auf die Kooperation mit Verwandten, die nicht wie ein oberdeutscher Faktor von der Zentrale zu den Außenpunkten der Unternehmens gesandt wurden, sondern dort bereits ansässig waren. Hierin kommt die bereits oben angesprochene Struktur der hansischen Handelsnetzwerke als einer „small world“ deutlich zum Ausdruck. 100 Für Nichtmitglieder war ein Aktivhandel in dem von einem derar- 94 Vgl. dazu allgemein H AMMEL -K IESOW , Hanse (wie Anm. 9). 95 Vgl. G REIF , Reputation and Coalitions (wie Anm. 57); C LAUDE M ARKOVITS , The Global World of Indian Merchants 1750-1947. Traders of Sind from Bukhara to Panama, Cambridge / New York 2000. 96 Siehe etwa die Ergebnisse des Kiel-Greifswalder Brügge-Projektes: Hansekaufleute in Brügge, W ER- NER P ARAVICINI u. a. (Hrsg.), Teil 1: Die Brügger Steuerliste 1360-1390; Teil 3: Prosopographischer Katalog zu den Brügger Steuerlisten 1360-1390; Teil 4: Beiträge der Internationalen Tagung in Brügge April 1996; Teil 5: Auswertungsband (in Vorbereitung), Frankfurt a. M. 1992-2000. 97 Siehe E RNST G ÜNTHER K RÜGER , Die Bevölkerungsverschiebung aus den altdeutschen Städten über Lübeck in die Städte des Ostseegebiets bis zum Stralsunder Frieden, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 27 (1934), 101-158 und 263-313; T HEODOR P ENNERS , Untersuchungen über die Herkunft der Stadtbewohner im Deutsch-Ordensland Preußen bis in die Zeit um 1400, Leipzig 1942; D ERS ., Fragen zur Zuwanderung in den Hansestädten des späten Mittelalters, in: Hansische Geschichtsblätter 83 (1965), 12-45. 98 Siehe zum Beispiel J ÜRGEN W IEGANDT , Die Plescows. Ein Beitrag zur Auswanderung Wisbyer Kaufmannsfamilien nach Lübeck im 13. und 14. Jahrhundert, Köln 1988; A UGUST M EININGHAUS , Das Dortmunder Patriziergeschlecht von Hengstenberg. Eine Regestensammlung mit Stammtafeln, Wappen- und Siegeltafel, Dortmund 1930. 99 Vgl. M ARK H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998; S IMON T EU- SCHER , Bekannte, Klienten, Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln usw. 1998. Siehe dazu auch K ATARINA S IEH -B URENS , Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618, München 1986. 100 Vgl. W ATTS , Networks (wie Anm. 37), hier 495-498. <?page no="65"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 66 tigen Netzwerk kontrollierten Raum mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die nicht sehr zahlreichen Oberdeutschen und Italiener, die sich im hansischen Binnenraum etablieren konnten, suchten sich daher mit dem hansischen Netzwerk zu verknüpfen und so die Geschlossenheit der hansischen Koalition zu umgehen. 101 Umgekehrt lag hier allerdings für die hansische Netzwerkorganisation auch selbst eine strukturbedingte Grenze der Expansion. Denn stets erleichtert ein Netzwerk die Beziehungen im eigenen, beschränkt aber solche mit einem anderen Wirtschaftsraum. 102 Räumlich über den vom reputationsgestützten Netz umspannten Bereich auszugreifen, war nur mittels anderer Organisationsstrukturen zu erreichen. Wohl deshalb taten sich hansische Kaufleute im Venedighandel oder im transatlantischen Handel schwerer als die Oberdeutschen. 4. Innerhalb eines geschlossenen sozialen Systems waren die Drohung mit Reputationsverlust und damit eine erhebliche Risikoerhöhung für egoistisches, nicht kooperatives Verhalten besonders glaubwürdig. 103 Um zügig eigenes Vertrauen zu erwerben und zudem die Untreuen im Netzwerk rasch aufzudecken, war es daher vorteilhaft, wenn Söhne und Handelsgehilfen schnell selbständig wurden. 104 Wohl in dieser Zweckmäßigkeit findet daher die Tatsache eine Erklärung, die etwa Wilhelm Koppe für die im Lübecker Stockholmhandel aktiven Händler beobachtet hat, nämlich dass man geradezu bestrebt war, das Angestelltenverhältnis rasch in ein Verhältnis der Selbstständigkeit und Selbstverantwortung des Mitarbeiters zu überführen. 105 In der Tat waren durch die schlanken Firmenstrukturen und die somit geringen Kosten für die Handelsorganisation recht gute Möglichkeiten für Einsteiger gegeben, mit vergleichsweise winzigem Kapital den Handel zu beginnen. Wenn also im Hanseraum viele kleine selbständige Kaufleute Nahrung finden konnten, wie man im 16. Jahrhundert auf den Verhandlungen der Reichstage in wirtschaftlichen Fragen gegen die Oberdeutschen ins Feld führte, 106 konnte dies nicht ohne Einfluss auf die Vermögensverteilung 101 Vgl. G ERHARD F OUQUET , Ein Italiener in Lübeck. Der Florentiner Gherardo Bueri (gest. 1449), in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 78 (1998), 187-220; D ERS .‚ Geschäft und Politik, Ehe und Verwandtschaft - Briefe an den Nürnberg-Lübecker Kaufmann Matthias Mulich vom Winter 1522/ 23, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag, H EL- MUT B RÄUER / E LKE S CHLENKRICH (Hrsg.), Leipzig 2001, 311-346; D ERS ., Vom Krieg hören und schreiben. Aus den Briefen an den Lübeck-Nürnberger Kaufmann Matthias Mulich (1522/ 23), in: Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, T HOMAS S TAMM -K UHL - MANN u. a. (Hrsg.), Stuttgart 2003, 168-187. 102 Vgl. G REIF , Fundamental Problem (wie Anm. 48), 278. 103 Vgl. F IEDLER , Vertrauen als Schlüsselkategorie (wie Anm. 60), 584. 104 Vgl. G REIF , Fundamental Problem (wie Anm. 48), 272. 105 Vgl. W ILHELM K OPPE , Lübeck-Stockholmer Handelsgeschichte im 14. Jahrhundert, Neumünster 1933, 281f. 106 Vgl. F RITZ B LAICH , Die Reichsmonopolgesetzgebung im Zeitalter Karls V. Ihre ordnungspolitische Problematik, Stuttgart 1967, 44f., passim. <?page no="66"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 67 der durch den Fernhandel geprägten hansischen Seestädte gewesen sein. Diese theoretische Annahme der Wirtschaftwissenschaft, die bei der Wahl einer Netzwerkstruktur eine spezifische Wohlstandsverteilung innerhalb eines Handelsraums erwartet, 107 deckt sich in der Tat mit den von Ahasver von Brandt erzielten Ergebnissen zur Vermögensverteilung in Lübeck. Für das spätmittelalterliche Lübeck ermittelte er nach einer Steuerliste von 1460 eine im Gegensatz zu Augsburg, für das er Steuerzahlungen von 1475 vergleichend heranzog, deutlich breitere Vermögensverteilung, die nicht nur insgesamt, sondern gerade auch innerhalb der Oberschicht festzustellen sei. 108 Bei aller Schwierigkeit solcher punktuellen Analysen der Sozialstruktur mittelalterlicher Städte 109 wird man ihm soweit folgen können, dass im spätmittelalterlichen Lübeck eine umfangreichere und breiter gelagerte Oberschicht bestand, während Augsburg eine außerordentliche Vermögenskonzentration auf einen sehr kleinen Personenkreis aufwies. Doch diese „Vorliebe für kleine, überschaubare und selten langlebige Handelsgesellschaften“ 110 bedeute umgekehrt natürlich auch, dass die Kapitalausstattung hansischer Unternehmen im Vergleich zu oberdeutschen Handelsfirmen weitaus geringer war und daher hansisches Kapital gerade nicht in den zwar besonders risiko-, aber eben auch gewinnträchtigsten Wirtschaftssektoren des 16. Jahrhunderts, der fürstlichen Hochfinanz und dem Montanwesen, investiert werden konnte. 111 Hinzu kam noch, dass für ein erfolgreiches Agieren in diesen hochspekulativen Geschäften der Informationsvorsprung gegenüber Wettbewerbern entscheidend war. Ausgedehnte Firmen mit exklusiver, dichter und zuverlässiger Informationsbasis waren daher begünstigt. 112 Weiterhin wirkte die geringe Kapitalausstattung der Hansekaufleute auf den Kontext des binnenhansischen Handels insofern zurück, als sie vermutlich die Ausbildung leistungsfähiger Risikokapitalmärkte, wie sie an der Wende zur Frühen Neuzeit am westlichen Rand des hansischen Wirtschaftsraumes entstanden waren, innerhalb der Hanse behindert 107 G REIF , Fundamental Problem of Exchange (wie Anm. 48), 276. 108 A HASVER VON B RANDT , Die gesellschaftliche Struktur des spätmittelalterlichen Lübecks, zuerst 1966, ND in: Lübeck, Hanse, Nordeuropa. Gedächtnisschrift für Ahasver von Brandt, K LAUS F RIEDLAND / R OLF S PRANDEL (Hrsg.), Köln / Wien 1979, 209-232. Vgl. auch J OHANNES S CHILDHAUER , Die Sozialstruktur der Hansestadt Rostock von 1378-1569, in: Hansische Studien. Heinrich Sproemberg zum 70. Geburtstag, G ERHARD H EITZ / M ANFRED U NGER (Hrsg.), Berlin 1961, 341-353. 109 Siehe jetzt die Beiträge in: Die Sozialstruktur und Sozialtopographie vorindustrieller Städte, M ATTHI- AS M EINHARDT / A NDREAS R ANFT (Hrsg.), Berlin 2005. 110 I RSIGLER , Handel im Spätmittelalter (wie Anm. 14), 532. 111 Zu auffälligerweise rheinischem und nicht seestädtischem Kapital aus dem Hanseraum in der mitteldeutschen Montanindustrie siehe F RANZ I RSIGLER , Rheinisches Kapital in mitteleuropäischen Montanunternehmen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 3 (1976), 145-164. 112 Diese Überlegung schon bei A KSEL E. C HRISTENSEN , Dutch Trade to the Baltic about 1600. Studies in the Sound Toll Register and Dutch Shipping Records, Kopenhagen 1941, 178f. <?page no="67"?> Ulf Christian Ewert / Stephan Selzer 68 hat. Vernetzung und der Handel auf Gegenseitigkeit waren im binnenhansischen Handel lange Zeit eine erfolgreiche Strategie der Hansekaufleute gewesen, sich gegen Geschäftsrisiken abzusichern. Weshalb also hätte man diese Struktur verwerfen und zur Finanzierung seiner Handelsunternehmungen mittels Risikokapital übergehen sollen, zumal es dieses im Hanseraum auf dem nur schwach ausgeprägten Kreditmarkt kaum und nur zu hohen Zinsen gab? 113 *** Blickt man abschließend zurück auf das eingangs gezeichnete Bild von hansischer und Nürnberger Begegnung in Flandern, wird man wohl neu gewichten dürfen. Ältere Vorstellungen von einer durch Privilegienerwerb und -erhalt mittels militärischer Macht begründeten wirtschaftlichen Stärke der Hansekaufleute sind zu modifizieren. Die Vorteile an den Außenpunkten des hansischen Handelsraums, wo gegenüber Mitbewerbern günstiger eingekauft werden konnte, wurden im Binnenraum ergänzt durch eine Netzwerkorganisation der hansischen Händler. Sie ließ eine geschlossene Koalition entstehen, in welche die „Butenhansen“ schwer eindringen konnten und die gegenüber den Organisationsstrukturen von Mitbewerbern erhebliche Kostenvorteile aufwies. Die beiden Pfeiler der hansischen Wettbewerbsstellung wurden dabei völlig unterschiedlich durch die politische Unterstützung der Hansestädte stabilisiert. Während die Stellung im Außenhandel an den Kontoren ganz erheblich von der glaubwürdigen Drohung durch eine geschlossene Politik der Hanse abhing, 114 funktionierte die innerhansische Netzwerkstruktur grundsätzlich auch ohne vielfältige Rechtsvorschriften für das Verhalten der hansischen Kaufleute, die auf Hansetagen erlassen und von den Städten exekutiert hätten werden müssen. Zwar ergingen im 15. Jahrhundert einschlägige Beschlüsse der Hansetage, die etwa den Abschluss von Handelsgesellschaften mit Auswärtigen und den Versand von 113 Vgl. M ARK S CHONEWILLE , Hanse Theutonicorum, Groningen 1997; D ERS ., Risk, Institutions and Trade. New Approaches to Hanse History, Working Paper, Nimwegen 1998. Überdies handelt es sich bei der Unterentwicklung hanseatischer Kapitalmärkte um ein Beispiel für Pfadabhängigkeit, welches bestätigt, dass institutionelle Lösungen auch dann beibehalten werden können, wenn sie längst ineffizient geworden sind. Siehe zum Konzept der Pfadabhängigkeit unter anderem W. B RIAN A RTHUR , Competing Technologies, Increasing Returns, and Lock-in by Historical Events, in: The Economic Journal 99 (1989), 116-131; P AUL A. D AVID , Why are Institutions the ‚Carriers of History‘? Path Dependence and the Evolution of Conventions, Organizations and Institutions, in: Structural Change and Economic Dynamics 5 (1994), 205-220. 114 Vgl. A VNER G REIF / P AUL M ILGROM / B ARRY R. W EINGAST , Coordination, Commitment, and Enforcement: The Case of the Merchant Guild, in: Journal of Political Economy 41 (1994), 745-776, und J OCHEN S TREB , Die politische Glaubwürdigkeit von Regierungen im institutionellen Wandel. Warum ausländische Fürsten das Eigentum der Fernhandelskaufleute der Hanse schützten, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/ 1, 141-156. <?page no="68"?> Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung 69 Waren an diese untersagten. 115 Auch wurde das im Bild von Rolf Sprandel „innere hansische Präferenzsystem“ 116 durch ein in den Hansestädten flexibel gehandhabtes Gästerecht gestützt, 117 das es jederzeit zuließ, den Handel von Oberdeutschen, Engländern und Holländern im Hanseraum wirksam zu beschränken, weil östlich des Rheins freie Marktgelegenheiten für den Handel von Auswärtigen weitgehend fehlten. 118 Doch waren es nicht diese obrigkeitlichen Vorschriften, sondern der Reputationsmechanismus und die übrigen Vorteile der Netzwerkorganisation, die weitaus wirkungsmächtiger für die Geschlossenheit der hansischen Koalition im Binnenraum sorgten. Wir vermuten daher, dass der Wert der politischen Unterstützung für die Effizienz des binnenhansischen Handelssystems weniger in diesen Maßnahmen lag, sondern eher in einer zusätzlichen Senkung der Transaktionskosten bestand. Zu solchen Institutionen, von denen aufgrund ihres Charakters als öffentliche Güter aber auch auswärtige Händler im Hanseraum zu profitieren vermochten, gehörten etwa Vereinbarungen über Produktnormen und Warenqualität oder über einheitliche Maße und Gewichte, der Abschluss von Münzvereinen und die Garantie einer professionellen und berechenbaren Seeschifffahrt. 119 In einer solchen systematischen Unterscheidung zwischen den beiden völlig unterschiedlich stark durch die Politik der Hanse gestützten Pfeilern hansischer Wirtschaftsstellung, hier das informell organisierte hansische Handelsnetzwerk im Binnenraum, dort die formal fixierte, durch glaubwürdige Drohung erreichte und erhaltene Privilegienstellung an den Kontorsplätzen, stellt sich auch die Frage nach dem Ende der hansischen Vormachtsstellung im Ostseeraum völlig neu. Zukünftig wird präziser zu unterscheiden sein, wo sich die Vorteile des hansischen Handelssystems aufzulösen begannen. 120 Dass die Hansekaufleute nicht an ihrer vermeintlich rückständigen Handelstechnik zugrunde gingen, meinen wir in diesem Aufsatz gezeigt zu haben. 115 Vgl. R OLF S PRANDEL , Die Interferenz von Gesellschaften und Genossenschaften im hansischen Handel, in: Genossenschaftliche Strukturen der Hanse, N ILS J ÖRN (Hrsg.), Köln usw. 1999, 79-100, hier 91. 116 S PRANDEL , Konkurrenzfähigkeit (wie Anm. 8), 21. 117 Vgl. S TUART J ENKS , Hansisches Gästerecht, in: Hansische Geschichtsblätter 114 (1996), 2-60. 118 Vgl. F RANZ I RSIGLER , Messehandel - Hansehandel, in: Hansische Geschichtsblätter 120 (2002), 33- 50. 119 Vgl. hierzu jetzt S TUART J ENKS , Transaktionskostentheorie und die mittelalterliche Hanse, in: Hansische Geschichtsblätter 123 (2005), 31-42, sowie C HRISTINA L INK / D IANA K APFENBURGER , Transaktionskostentheorie und hansische Geschichte. Danzigs Seehandel im 15. Jahrhundert im Licht einer volkswirtschaftlichen Theorie, in: ebd., 153-169. 120 Vgl. E RNST P ITZ , Steigende und fallende Tendenzen in Politik und Wirtschaftsleben der Hanse im 16. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 102 (1984), 39-78, und neuerdings U LF C HRISTIAN E WERT / S TEPHAN S ELZER , Netzwerkorganisation im Fernhandel des Mittelalters: Wettbewerbsvorteil oder Wachstumshemmnis? , in: Unternehmerische Netzwerke. Ein historische Organisationsform mit Zukunft? , H ARTMUT B ERGHOFF / J ÖRG S YDOW (Hrsg.), Stuttgart 2007, 45-70, hier 58-65. <?page no="70"?> Usurpatoren und Pragmatiker. Einige typologische Überlegungen zur Strategie der niederländischen Ostindienkompanie (1602-1799) 1 Jürgen G. Nagel Der lange Zeitraum ihrer Existenz sowie die Größe und die Ferne ihres Operationsgebietes lassen Darstellungen der niederländischen Ostindien- Kompanie (VOC) häufig Gefahr laufen, oberflächlich zu geraten. Dabei trifft die eher traditionelle Sichtweise von einer Asien unterdrückenden, beherrschenden, ja sogar kolonisierenden Macht in dieser Absolutheit ebenso wenig zu wie die Marginalisierung der VOC im asiatischen Kontext, die gelegentlich bei jüngeren Asienwissenschaftlern und Verfassern von Regionalstudien durchscheint. Realistischer dürfte das Bild einer Wirtschaftsmacht sein, die flexibel und gezielt handelsstrategische Entscheidungen traf, die sich an den eigenen Prioritäten ebenso orientierten wie an den regionalen oder lokalen Gegebenheiten in Asien und den verfügbaren Potenzialen. Grundsätzlich handelte es sich um ein Wirtschaftsunternehmen, allerdings um eines, das mit umfangreichen hoheitlichen Rechten und mit militärischen Machtmitteln ausgestattet war. Insofern ist im Folgenden von den Strategien einer potenten, aber nicht allbeherrschenden Wirtschaftsmacht die Rede - von Strategien, die primär der Profitmaximierung im Warenhandel dienten, auch wenn sich dies manchmal erst auf den zweiten Blick erschließt. 1. Die Ausgangslage Ein strategisches Vorgehen setzt zunächst klare Prioritäten voraus. Im Falle der VOC war das „Gold des Ostens“, also die Gewürze des indischen Subkontinents und der malaiischen Inselwelt, das maßgebliche Ziel, welches erst die aufwändige Expansion nach Asien Realität werden ließ. 2 Mit Zimt, Nel- 1 Dieser Beitrag basiert auf unterschiedlichen Vortragsfassungen, die im April 2004 auf der Tagung „Praktiken des Fernhandels“ in Irsee sowie im Januar 2006 im Kolloquium des Historischen Instituts der FernUniversität Hagen vorgestellt wurden. Der Autor dankt den Veranstaltern für die Möglichkeit, seine Überlegungen darlegen zu können, sowie besonders seinen „neuen“ Hagener Kolleginnen und Kollegen für die Diskussionsfreude. 2 Grundlegend zur Geschichte der VOC unter anderen F EMME S. G AASTRA , Die Vereinigte Ostindische Compagnie der Niederlande. Ein Abriß ihrer Geschichte, in: Kaufleute als Kolonialherren. Die Handelswelt der Niederländer vom Kap der Guten Hoffnung bis Nagasaki, 1600-1800, E BERHARD S CHMITT / T HOMAS S CHLEICH / T HOMAS B ECK (Hrsg.), Bamberg 1988, 1-89; E LS M. J ACOBS , In Pursuit of Pepper and Tea. The Story of the Dutch East India Company, Zutphen 1991; C HARLES R. B OXER , Jan Compagnie in War and Peace 1602-1799. A Short History of the Dutch East-India <?page no="71"?> Jürgen G. Nagel 72 ken, Muskatprodukten oder Pfeffer waren zu Beginn des 17. Jahrhunderts die größten Profite im Überseehandel zu erzielen; alle anderen Importprodukte bedeuteten zunächst kaum mehr als lukrative Zusatzeinnahmen, die sich Fernkaufleute gerne sicherten, von denen sie aber nicht ihre Vorgehensweise bestimmen ließen. Die eindeutige Priorität in den ursprünglichen Handelsinteressen diktierte zwangsläufig einen geografischen Fokus der VOC, ausgerichtet an den Vorkommen der wichtigsten Gewürze, in relativ eng umgrenzten Räumen. Gewürznelken, Muskatnüsse und Macis waren zu dieser Zeit ausschließlich auf den Molukken zu finden, wobei sich die Muskatprodukte völlig auf das winzige Banda-Archipel konzentrierten. Zimt - zumindest die in Europa zu Höchstpreisen absetzbaren Spitzensorten - konzentrierten sich auf die Insel Ceylon, während der Pfeffer weiter verbreitet war und in Indien, auf Sumatra und, wenn auch unter größeren Schwierigkeiten hinsichtlich des Marktzugangs, auf Kalimantan (Borneo) erworben werden konnte. In Asien existierte ein umfangreicher Handel mit diesen Produkten, der sich lange vor dem Eintreffen der Europäer entfaltet hatte. Dieser blieb nicht auf die Anbauregionen beschränkt, sondern verknüpfte weit auseinander liegende Märkte wie beispielsweise in China und im Malaiischen Archipel. 3 Voraussetzung solch früher Handelsnetze war die Herausbildung zentraler Umschlagplätze. Zahlreiche Hafenstädte, welche die Funktion von Emporien übernahmen, etablierten sich bereits in voreuropäischer Zeit. 4 Einige wenige von ihnen erlangten überregionale Bedeutung und einen Ruf, der bis zu europäischen Interessenten vordrang und dafür sorgte, dass in ihren Häfen die ersten portugiesischen, später niederländischen oder englischen Schiffe eintrafen. Im molukkischen Gewürzhandel des Malaiischen Archipels erreichten vor allem Malakka auf der Malaiischen Halbinsel, Banten (Bantam) auf Java unmittelbar am Eingang der verkehrsstrategisch bedeutenden Sunda-Straße sowie Makassar auf der südwestlichen Halbinsel Sulawesis eine überragende Bedeutung. Auf Grund der Warenvielfalt auf ihren Märkten, die sämtliche Luxusgüter des südlichen und östlichen Asiens umfasste, genossen sie bei europäischen Seefahrern erste Priorität. Eine Reihe anderer Häfen wie Johor an der Spitze der Malaiischen Halbinsel oder Palembang Company, Hongkong 1979; J ÜRGEN G. N AGEL , Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt 2007, insb. 100-126. 3 Zu den chinesischen Kontakten zum molukkischen Gewürzanbau siehe unter anderen R ODERICH P TAK , The Northern Trade Route to the Spice Islands. South China Sea - Sulu Zone - North Moluccas (14th to early 16th Century), in: Archipel 43 (1992), 27-56. 4 Emporium verstanden als „market place in which a variety of goods is more or less continuously available and in which a plurality of buyers and sellers can meet without undue restraint under predictable conditions of supply and demand“; D IETMAR R OTHERMUND , Asian Emporia and European Bridgeheads, in: Emporia, Commodities and Entrepeneurs in Asian Maritime Trade, c. 1400-1750, D ERS . / R ODERICH P TAK (Hrsg.), Stuttgart 1991, 3-8, hier 3. <?page no="72"?> Usurpatoren und Pragmatiker 73 und Jambi auf Sumatra waren in zweiter Linie als Pfefferumschlagplätze ebenfalls von Interesse. Aus dieser Geographie ergibt sich ein erstes Bild der Erreichbarkeit asiatischer Gewürze. Die molukkischen Gewürze - Gewürznelken, Muskatnüsse, Macis - waren räumlich vergleichsweise konzentriert und beschränkten sich auf sehr wenige Anbaugebiete und eine überschaubare Zahl zentraler Umschlaghäfen. Die Situation beim Pfeffer erwies sich als weitaus differenzierter. Die Vielfalt der Anbaugebiete bedingte auch eine große Zahl etablierter und teilweise sehr potenter Händler, die in einer für die europäischen „Neulinge“ kaum überschaubaren Anzahl größerer und kleinerer Häfen aktiv waren. In der Folge sah sich die VOC alleine schon bei den im Malaiischen Archipel erhältlichen Gewürzen sehr unterschiedlichen Marktsituationen gegenüber, für die es die angemessene Vorgehensweise zu finden galt. Bestimmte noch über weite Strecken des 17. Jahrhunderts das Interesse an Gewürzen die kommerzielle Politik der VOC, erlebte sie im 18. Jahrhundert einen deutlichen Prioritätenwandel. Zwar ging der Gewürzverbrauch in Europa im Vergleich zum 16. Jahrhundert nicht wesentlich zurück, doch brachten zusätzliche Interessen und notwendige Strukturanpassungen Veränderungen bei den Schwerpunkten der VOC. Zum einen wurde die Palette der Importe deutlich erweitert, gleichermaßen bedingt durch Intensivierung der entsprechenden Produktion in Asien und die steigende Nachfrage in Europa. Plantagenprodukte machten Ende der 1730er Jahre bereits 24,9 Prozent der Gesamtimporte der VOC aus und Ende der 1770er Jahre immer noch 22,9 Prozent. An der Spitze dieser Warengruppe standen Tee und Kaffee, für die sich die Massenbasis des Konsums in Europa deutlich verbreitert hatte. Kaffee wurde in zunehmendem Maße von der VOC selbst kultiviert, insbesondere auf Java, während der Tee nach wie vor teuer in China eingekauft werden musste. 5 Dabei bewegten sich die Niederländer stets an zweiter Stelle hinter der britischen East India Company (EIC), doch profitierten auch sie von der generellen Verbesserung der Handelsmöglichkeiten mit China, die nicht nur den Teehandel stärkte, sondern auch den Export von Luxuswaren wie Seide oder Porzellan. 6 Daneben machten Textilien, die vorrangig aus Indien importiert 5 Zu Tee siehe unter anderen R ODERICH P TAK , Die Rolle der Chinesen, Portugiesen und Holländer im Teehandel zwischen China und Südostasien (ca. 1600-1750), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994/ 1, 89-106. Zu Kaffee siehe unter anderen G ERRIT J. K NAAP , Coffee for Cash. The Dutch East India Company and the Expansion of Coffee Cultivation in Java, Ambon and Ceylon 1700-1730, in: Trading Companies in Asia, J URRIEN VAN G OOR (Hrsg.), Utrecht 1986, 33-49. 6 Zum langfristigen Wandel im Chinahandel siehe unter anderen J OHN G. E VERAERT , Der westliche Seehandel mit China in der Zeit des Isolationismus (ca. 1520-1842), Bamberg 1990; W ALTER D E- MEL , Trade Aspirations and China’s Policy of Isolation. European Views, Mainly in the Eighteenth Century, in: Maritime Asia. Profit Maximisation, Ethics and Trade Structure, c. 1300-1800, K ARL A. S PRENGARD / R ODERICH P TAK (Hrsg.), Wiesbaden 1994, 97-113; J OHN L EE , Trade and Economy <?page no="73"?> Jürgen G. Nagel 74 wurden, Ende der 1730er Jahre sogar 28,3 Prozent der Gesamteinfuhren aus, Ende der 1770er Jahre immerhin noch 22,9 Prozent. Im Vergleich dazu schwankte der Anteil der molukkische Gewürze stets zwischen 24 Prozent und 28 Prozent, während derjenige des Pfeffers von 33 Prozent in den 1640er Jahren auf elf Prozent in den 1770er Jahren sank. 7 Zum anderen etablierte die niederländische Kompanie ihren sogenannten „country trade“. 8 Die permanenten Schwierigkeiten, genuin europäische Waren auf den asiatischen Märkten abzusetzen, unter denen alle europäischen Handelskompanien litten, machten es erforderlich, selbst eine möglichst starke Position im innerasiatischen Warenverkehr anzustreben, um das Defizit in der eigenen Zahlungsbilanz möglichst gering zu halten. Dem Handel mit Textilien kam dabei die Funktion eines Leitsektors zu, aber auch zahlreiche andere Produkte asiatischer Herkunft fanden auf den Schiffen der VOC ihren Weg aus Indien oder Arabien nach China, Japan oder Indonesien. Dieser „country trade“ erwies sich schnell als unabdingbar für die ökonomische Stabilisierung der Kompanie, die nach ihrer Blütezeit Ende des 17. Jahrhunderts vielfach in schwieriges Fahrwasser geriet, und führte zusammen mit der Erweiterung der Warenpalette durch die gestiegene europäische Nachfrage zur Erweiterung der Marktteilnahme in Asien. Auf diese Weise kamen neue Anlaufpunkte und Handelspartner hinzu, die wiederum neue Anforderungen an die Entwicklung von strategischen Entscheidungen stellten. in Preindustrial East Asia, c. 1500-c. 1800. East Asia in the Age of Global Integration, in: Journal of Asian Studies 58 (1999), 2-26; Development and Decline of Fukien Province in the 17th and 18th Centuries, E DUARD B. V ERMEER (Hrsg.), Leiden 1990. 7 Alle Zahlen nach G AASTRA , Vereinigte Ostindische Compagnie (wie Anm. 2), 51. Zum Import der VOC siehe grundlegend K RISTOF G LAMANN , Dutch-Asiatic Trade, 1620-1740, Kopenhagen / Den Haag 1958, sowie F EMME S. G AASTRA , De Verenigde Oost-Indische Compagnie in de zeventiende en achtiende eeuw. De groei van een bedrijf. Geld tegen goederen. En structurele verandering in het Nederlands-Aziatische handelsverkeer, in: Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 91 (1976), 249-272; D ERS ., The Shifting Balance of Trade of the Dutch East India Company, in: Companies and Trade. Essays in Overseas Trading Companies during the Ancien Regime, L EONARD B LUSSÉ / F EMME S. G AASTRA (Hrsg.), Den Haag 1981, 47-69; J. P. DE K ORTE , The Annual Account in the Dutch East India Company, Amsterdam 2000. 8 Zum „country trade“ der VOC siehe unter anderen S INNAPPAH A RASARATNAM , Mare Clausum, the Dutch and Regional Trade in the Indian Ocean 1650-1740, in: Journal of Indian History 61 (1983), 73-91; F EMME S. G AASTRA , The Dutch East India Company and its Intra-Asiatic Trade in Precious Metals, in: The Emergence of a World Economy 1500-1914, W OLFRAM F ISCHER / R. M ARVIN M C I NNIS / J ÜRGEN S CHNEIDER (Hrsg.), Wiesbaden 1986, Bd. 1, 97-112; E LS M. J ACOBS , De Verenigde Oostindische Compagnie als ondernemer in Azie. Directe handelscontacten tussen Surat en Canton (1744-1755), in: Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 108 (1993), 673-682. <?page no="74"?> Usurpatoren und Pragmatiker 75 2. Zum Beispiel: Makassar und der Molukkenhandel Der bereits mehrfach angesprochene molukkische Gewürzmarkt bietet für die Vorgehensweise der VOC in Fernost besonders günstiges Anschauungsmaterial, da er einerseits eines der ersten und wichtigsten Ziele war und andererseits ein komplexes Geflecht indigener Institutionen und Akteure aufwies. Befunde aus der exemplarischen Beschäftigung mit dem niederländischen Vorgehen in diesem Bereich können später in typologischer Absicht mit anderen Tätigkeitsfeldern der Kompanie kontrastiert werden. Wahrscheinlich seit dem 14., spätestens jedoch seit dem 15. Jahrhundert wurden auf den Nord- und Zentral-Molukken Gewürznelken und im Banda-Archipel Muskatprodukte für den Export kultiviert. Der Aufschwung dieses Anbaus und seine Kommerzialisierung im Sinne einer Marktorientierung bedurften nicht des Auftritts der Europäer als Initialzündung; die auf den weitaus größeren orientalischen und asiatischen Märkten vorhandene Nachfrage war hierfür durchaus hinreichend. Während des 16. Jahrhunderts, als der portugiesische Estado da India den europäischen Gewürzhandel dominierte, gelangten nie mehr als ein Drittel der Produktion nach Europa. Erst die Expansion der europäischen Nachfrage durch die ökonomisch und organisatorisch effektiveren Ostindienkompanien führte zu einem weiteren Schub, der letztendlich das Gesicht der molukkischen Inselwelt grundlegend veränderte. Bevor die Niederländer den Gewürzhandel weitgehend unter Kontrolle bringen konnten, waren auf den Molukken einerseits Chinesen, zumindest vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, und andererseits Händler aus dem Malaiischen Archipel, vorrangig Javaner und Malaiien, welche die Versorgung der großen Emporien sicherstellten, präsent. 9 Die Europäer drangen nur nach und nach in den Gewürzmarkt ein und konnten erst dank des forcierten Zugriffs durch die Handelskompanien und deren Monopolansprüche eine bedeutende Rolle erlangen. Dabei traf die VOC gleichermaßen auf asiatische wie europäische Konkurrenz, zwischen 9 Zum voreuropäischen molukkischen Gewürzhandel siehe unter anderen D AVID B ULBECK / A NTHO- NY R EID / T AN L AY C HENG / W U Y IQI , Southeast Asian Exports since the 14th Century. Cloves, Pepper, Coffee, and Sugar, Singapore 1998; Spices in the Indian Ocean World, M ICHAEL N. P EAR- SON (Hrsg.), Aldershot 1996; J OANNA B RIERLEY , Spices. The Story of Indonesia’s Spice Trade, New York 1994; P ETER M USGRAVE , The Economics of Uncertainty. The Structural Revolution in the Spice Trade, 1480-1640, in: Shipping, Trade and Commerce, P HILIP L. C OTTRELL / D EREK H. A LD- CROFT (Hrsg.), Leicester 1981, 9-21; J OHN V ILLIERS , The Cash-crop Economy and State Formation in the Spice Islands in the Fifteenth and Sixteenth Centuries, in: The Southeast Asian Port and Polity. Rise and Demise, J EYAMALAR K ATHIRITHAMBY -W ELL / J OHN V ILLIERS (Hrsg.), Singapore 1990, 83-105; D ERS ., Trade and Society in the Banda Islands in the Sixteenth Century, in: Modern Asian Studies 15 (1981), 723-750; J ÜRGEN G. N AGEL , Makassar und der Molukkenhandel. Städte und Handelsnetze im indonesischen Gewürzhandel des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Gewürze. Produktion, Handel und Konsum in der Frühen Neuzeit, M ARKUS A. D ENZEL (Hrsg.), St. Katharinen 1999, 93-121. <?page no="75"?> Jürgen G. Nagel 76 denen sie keinen grundsätzlichen Unterschied machte. Am Ende war sie es, die sich auf dem molukkischen Markt durchsetzte, da hier, in ihrem ursprünglichen Kerngeschäft, eine maximale Durchsetzung ihrer Ziele unabdingbar war und daher die Ausschöpfung aller denkbaren Mittel legitimierte. Die entsprechende Bandbreite reichte von bedingungsloser Okkupation über „normale“ militärische Maßnahmen bis hin zu Vertragsabschlüssen und Faktoreigründungen. Auf Banda griff die VOC 1621 zur radikalsten aller denkbaren Varianten. Nach der militärischen Eroberung des winzigen Archipels trachtete die VOC nach völliger Kontrolle über den Muskatanbau. Die indigene Bevölkerung wurde vernichtet oder vertrieben; die Kompanie verpachtete das okkupierte Land an Niederländer, die es von Sklaven bewirtschaften ließen. 10 Dieses Vorgehen sicherte das angestrebte Monopol, erkauft allerdings durch einen Genozid. Auf Ambon führten zahlreiche militärische Aktionen zur Vormachtstellung der Kompanie, beginnend bereits 1600 unter Kommandanten der Vorkompanien über die Vernichtung der britischen Niederlassung 1621 („Ambon Massaker“) bis zur endgültigen Eroberung 1655, ohne indessen die gesamte Produktion wie auf Banda unter eigene Kontrolle zu bringen. 11 Ihre militärisch-kaufmännische Präsenz und die in Folge der Kriegshandlungen abgeschlossenen Verträge garantierten der VOC jedoch einen exklusiven Marktzugang. Ähnliches erreichte die Kompanie auf den nordmolukkischen Inseln Ternate und Tidore, wo zwar der Einsatz militärischer Stärke als Drohkulisse eine Rolle spielte - nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den iberischen Vorgängern - letztendlich aber ohne faktische militärische Eroberungen Vertragsabschlüsse mit den indigenen Herrschern getroffen werden konnten, die nicht nur die Ansiedlung niederländischer Faktoreien ermöglichten, sondern diesen ein lokales Käufermonopol sicherten. Auch wenn diese Verträge angesichts der Privilegien, die sie den Niederländern zugestanden, sicherlich zahlreiche Unterschiede aufwiesen, lagen sie doch im besonderen Interesse lokaler Fürsten an einem derart potenten und dauerhaften Handelspartner, wodurch aus Sicht der VOC die letzte Konsequenz nicht notwendig wurde. 12 10 Zu Banda siehe W ILLARD A. H ANNA , Indonesian Banda. Colonialism and its Aftermath in the Nutmeg Islands, Philadelphia 1978; T HOMAS B ECK , Monopol und Genozid - Die Muskatnußproduktion auf den Banda-Inseln im 17. Jahrhundert, in: D ENZEL , Gewürze (wie Anm. 9), 71-90. 11 Zu Ambon siehe G ERRIT J. K NAAP , Kruidnagelen en christenen. De verenigde Oostindische Compagnie en de bevolking van Ambon 1656-1696, Dordrecht 1987; D ERS ., Crisis and Failure. War and Revolt in the Ambon Islands, 1636-1637, in: Cakalele 3 (1992), 1-26; H ERMAN J. DE G RAAF , De geschiedenis van Ambon en de Zuid Molukken, Franeker 1977; J. K EUNING , Ambonnezen, Portuguezen en Nederlanders. Ambon’s geschiedenis tot het einde van de zeventiende eeuw, in: Indonesië 9 (1956), 135-168; D AVID K. B ASSETT , The „Amboyna Massacre“ of 1623, in: Journal of Southeast Asia History 1 (1960), 1-19. 12 Zu den Nordmolukken siehe G ERRIT J. K NAAP , De Ambonsen eilanden tussen twee mogendheden. De VOC en Ternate, 1605-1656, in: Hof en handel. Aziatische vorsten en de VOC 1620-1720, E LSBETH L OCHER -S CHOLTEN / P ETER R IETBERGER (Hrsg.), Leiden 2004, 35-58; H ENK N IEMEI- <?page no="76"?> Usurpatoren und Pragmatiker 77 Trotz der spätestens in den 1640er Jahren gesicherten Vorrangstellung auf den Molukken konnte die VOC nicht davon ausgehen, dass sämtliche Umschlagplätze und einheimischen Routen ihre Bedeutung völlig verloren hatten. Es dauerte letztendlich bis in die 1680er Jahre, bis zumindest eine Kontrolle aus Sicht der VOC über den Gewürzhandel erreicht wurde, indem auch die wichtigsten Umschlaghäfen erobert worden waren. 13 Der aus Sicht der Kompanie „illegale“, letztendlich von ihr jedoch schlicht nicht kontrollierte Handel bestand allerdings weiter und weitete sich nach einer Weile sogar wieder aus. Einer der wichtigsten Umschlagplätze in diesem Zusammenhang war Makassar. Als östlichstes der großen Emporien, in denen der Zwischenhandel molukkischer Gewürze durchgeführt wurde, bietet die sulawesische Hafenstadt ein besonders anschauliches, aber auch extremes Beispiel für die Konfrontation der niederländischen Kompanie mit etablierten einheimischen Strukturen. Makassar, zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine der größten Städte Asiens und damit auch der Welt, war territorialer Kern und zugleich Herrschersitz des Doppelkönigtums Goa-Tallo, das sich Anfang des 16. Jahrhunderts konstituierte, nach seiner Islamisierung im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts seine größte Machtausdehnung erreichte und sich mit dem ebenfalls muslimischen Sultanat Ternate die Vorherrschaft über den östlichen Malaiischen Archipel teilte. 14 Während des rasanten politischen wie wirtschaftlichen Aufstiegs stand Makassar bereits mit den Portugiesen in Kontakt, die jedoch keinen dauerhaften Einfluss erlangen konnten. Ihre katholische Mission unterlag der zeitgleichen Islamisierung, und eine privilegierte Stellung im Handel der Stadt konnten sie niemals erreichen. Immerhin bestand bis zur Eroberung durch die Niederländer eine nicht JER , De geveindste vrede. Eer, protocol en diplomatie in de machtsverhouding tussen de Verenigde Oost-Indische Compagnie en Ternate omstreeks 1750, in: De Verenigde Oost-Indische Compagnie tussen oorlog en diplomatie, G ERRIT J. K NAAP / G ER T EITLER (Hrsg.), Leiden 2002, 309-336. 13 Zu den angestrebten Monopolen der VOC siehe R ICHARD Z. L EIRISSA , The Dutch Trading Monopolies, in: Dynamics of Indonesian History, H ARYATI S OEBADIO / C ARINE A. DU M ARCHIE S AR- VAAS (Hrsg.), Amsterdam 1978, 189-206; S INNAPPAH A RASARATNAM , Monopoly and Free Trade in Dutch-Asian Commercial Policy. Debate and Controversy within the VOC, in: Journal of Southeast Asian Studies 4 (1973), 1-15. 14 Zur vorkolonialen Geschichte Makassars siehe J OHN V ILLIERS , Makassar. The Rise and Fall of an East Indonesian Maritime Trading State, 1512-1669, in: K ATHIRITHAMBY -W ELLS / V ILLIERS , Port and Polity (wie Anm. 9), 143-159; A NTHONY R EID , The Rise of Makassar, in: Review of Indonesian and Malaysian Affairs 17 (1983), 117-160; W ILLIAM C UMMINGS , Making Blood White. Historical Transformations in Early Modern Makassar, Honolulu 2002; J ACOBUS N OORDUYN , De Islamisering van Makassar, in: Bijdragen tot de Taal-, Landen Volkenkunde 112 (1956), 247-266; J ÜRGEN G. N AGEL , Der Schlüssel zu den Molukken. Makassar und die Handelsstrukturen des Malaiischen Archipels im 17. und 18. Jahrhundert - eine exemplarische Studie, Hamburg 2003, 169-276; D ERS ., Vom Stadtstaat zur Kolonialstadt. Grundzüge der Stadtentwicklung Makassars (Süd-Sulawesi) im 17. und frühen 18. Jahrhundert, in: Kolonialstädte. Europäische Enklaven oder Schmelztigel der Kulturen? , H ORST G RÜNDER / P ETER J OHANEK (Hrsg.), Münster 2001, 109-143. <?page no="77"?> Jürgen G. Nagel 78 unbedeutende portugiesische Gemeinde in Makassar. 15 Seinen wirtschaftlichen Höhepunkt erlebte das Emporium nach dem Fall Malakkas, das die VOC 1641 in einer umfangreichen militärischen Aktion dem portugiesischen Machtbereich entriss. Neben Banten war Makassar als einziger freier überregionaler Markt für molukkische Produkte geblieben, wodurch zwangsläufig auch der eigene Untergang eingeläutet wurde. Makassar wurde Schauplatz einer Abfolge von Strategien seitens der VOC, in der sich fünf Phasen unterscheiden lassen: 16 In der ersten Phase unternahm die Kompanie wie einige ihrer europäischen Konkurrenten den Versuch, eine eigene Faktorei in Makassar zu etablieren. Die Ursprünge dieser Niederlassung liegen im Dunkeln; das gelegentlich genannte Gründungsdatum 1607 bleibt letztlich unbewiesen. Als sicher kann gelten, dass spätestens 1616 die erste Faktorei nicht mehr existierte. 17 1631 wurde ein erneutes Ansinnen in diese Richtung vom Herrscher Goa- Tallos abgewiesen. Erst 1638 erhielt die VOC wieder die Erlaubnis, eine Faktorei zu gründen, die wahrscheinlich bis 1649 Bestand hatte. Weitere Versuche, abermals mit Zustimmung des Herrschers eine Niederlassung einzurichten, blieben ohne Erfolg. Im Vergleich zu den Engländern, die von 1614 bis 1667 eine - wirtschaftlich wenig erfolgreiche - Faktorei unterhielten und dank behutsamer Diplomatie weitgehend gute Beziehungen zum Herrscherhaus pflegten, 18 wurde seitens der Niederländer durchgehend auf dem Anspruch beharrt, unter den auswärtigen Händlern eine Monopolstellung eingeräumt zu bekommen. Für ein solches Ansinnen war der Sultan von Goa-Tallo zu dieser Zeit zu stark. Seine Kontrolle über das Staatswesen und das Stadtgebiet Makassars war in allen Bereichen ungebrochen. Europäische Kaufleute, auch wenn sie einer in der Heimat privilegierten Kompanie angehörten, mussten sich den herrschenden Rahmenbedingungen anpassen. Diese legte in einer absolutistischen Monarchie wie Goa-Tallo der Herrscher fest, der hier an einer Stärkung des Handels durch eine Vielzahl an potenten Marktteilnehmern, nicht aber an einem exklusiven Partner interessiert war. Eine diplomatisch ausgerichtete Strategie der VOC musste letztendlich 15 Zu den Portugiesen in Makassar siehe J OHN V ILLIERS , Makassar and the Portuguese Connection, in: D ERS ., East of Malacca. Three Essays on the Portuguese in the Indonesian Archipelago in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, Bangkok 1985, 31-57; C HARLES R. B OXER , Francisco Vieira de Figueiredo. A Portuguese Merchant-Adventurer in South-East Asia, 1624-1667, Den Haag 1967. 16 Zum Folgenden siehe N AGEL , Schlüssel (wie Anm. 14), insbesondere 277-295. 17 J AN W ILLEM I JZERMAN , Het ship ‘De Eendracht’ voor Makassaer in December 1616. Journaal van Jan Steijns, in: Bijdragen tot de Taal-, Landen Volkenkunde 78 (1922), 343-372. 18 J OHN V ILLIERS , One of the Especiallest Flowers in our Garden. The English Factory at Makassar, 1613-1667, in: Archipel 39 (1990), 159-178; D AVID K. B ASSETT , English Trade in Celebes, 1613- 1667, in: Journal of the Malayan Branch of the Royal Asiatic Society 31 (1958) 1, 1-3; N AGEL , Schlüssel (wie Anm. 14), 296-313. <?page no="78"?> Usurpatoren und Pragmatiker 79 scheitern, da sie in diesem Falle unflexibel auf ein unter den gegebenen Machtverhältnissen unrealistisches Ziel ausgerichtet war In einer zweiten Phase verfolgte die VOC eine Höchstpreispolitik mit dem Ziel, den Gewürzmarkt in Makassar so weit wie möglich aufzukaufen, um ihn für alle relevanten Konkurrenten - malaiischer wie europäischer Herkunft - trocken zu legen. Die Kompanie war nicht mehr kontinuierlich vor Ort präsent, sondern schickte nur in unregelmäßigen Abständen Schiffe, deren Kaufleute gezielt Nelken und Muskatprodukte kauften. 19 Klagen der britischen Faktoreileitung, die auf Grund der schlechten finanziellen Ausstattung der EIC-Niederlassung nicht mithalten konnte, belegen, dass die Niederländer bei solchen Besuchen vor keinem Preisgebot zurückschreckten, um die Konkurrenz zu überbieten. 20 Dieses Vorgehen blieb nicht ohne Auswirkung auf die Preisentwicklung in Makassar. Bewegte sich der Einkaufspreis für Gewürznelken zu Beginn der europäischen Präsenz zwischen 100 und 200 mas pro pikul und erreichte in den ersten Jahrzehnten maximal 300 mas, stiegen sie in den gut zwei Jahrzehnten der niederländischen Hochpreispolitik kontinuierlich auf bis zu 850 mas. 21 Solche Maßnahmen schädigten den Gewürzmarkt von Makassar zwar deutlich, wurden doch die wichtigsten Produkte für viele Konkurrenten schier unerschwinglich, sie brachten ihn allerdings nicht so weit zum Erliegen, dass er aus niederländischer Sicht keine Gefahr mehr für den eigenen Monopolanspruch dargestellt hätte. Auch die EIC harrte weiter in ihrer Faktorei aus. Daher griff die VOC in einer dritten Phase zum Mittel der Blockade. Während der 1650er Jahre erlebte der Hafen Makassars mehrere Blockaden durch Flottenverbände der Kompanie und 1660 schließlich eine erste militärische Expedition, die über die reine Abriegelung der Zufahrt deutlich hinaus ging und zu einem Vertrag führte, in dem Goa-Tallo weitreichende Zugeständnisse machte. 22 Sogar die Vertreibung der ansässigen Portugiesen, von denen viele ebenfalls am Gewürzhandel partizipierten, wurde vereinbart. 19 Bekannt sind solche Fahrten für die Jahre 1642 bis 1644, 1648 bis 1650, 1652, 1656, 1658 und 1659 sowie 1661 bis 1664. 20 The Dutch have contracted to take all the commodities which arrive on the Proas, at an advance of 5 Mas beyond what we offer; and the employ, besides, Chinese Brokers at a Commission of 5 per cent, thus they have engaged the whole town, and there is little Resort to us; who are restricted to sell only for ready Money; British Library, Oriental and India Office Collections, G/ 10/ 1, Macassar General to Bantam, 31.5.1665, 263. 21 Für einen detaillierten Nachweis der verstreut überlieferten Preisangaben zum Nelkenmarkt Makassars siehe N AGEL , Schlüssel (wie Anm. 14), 253. Mas war die gängige Goldmünze Makassars, die zunächst mit dem spanischen real bzw. mit zwei niederländischen Gulden gleichzusetzen war, im Zuge der niederländischen Höchstpreispolitik allerdings an Wert verlor. Pikul war die im Malaiischen Archipel gängige Maßeinheit für Gewürze und betrug in der Regel ca. 61,8 kg. 22 Corpus Diplomaticum Neerlando-Indicum. Deel II: 1650-1675, J AN E RNST H EERES (Hrsg.), Den Haag 1931, Nr. CCXLIII, 168-177. <?page no="79"?> Jürgen G. Nagel 80 Dazu kam es jedoch auf dieser Grundlage nicht, wie überhaupt der Vertrag von 1660 seitens Goa-Tallos weitgehend ignoriert wurde. Die Tatsache, dass alle zuvor angewandten Maßnahmen den Gewürzumschlagplatz Makassar nicht unter die endgültige Kontrolle der VOC brachten, ließ die militärische Option in der vierten Phase endgültig Wirklichkeit werden. In einem Krieg, der einschließlich aller Scharmützel und Rückzugsgefechte von 1666 bis 1669 dauerte, eroberte eine niederländische Flotte unter Admiral Cornelis Speelman im Bündnis mit einer Landstreitmacht oppositioneller Bugis unter Arung Palakka die Stadt Makassar und ihr Territorium in Süd-Sulawesi. 23 Der Eroberungsfeldzug führte zur endgültigen Entmachtung des Sultanates Goa-Tallo; der entsprechende Vertrag, bereits 1667 in dem kleinen Dorf Bongaya abgeschlossen, wurde Grundlage einer völlig neuen Situation. 24 Das Hauptziel des Feldzuges war jedoch ein negatives: die endgültige Beseitigung des Gewürzmarktes von Makassar. Dementsprechend diente die fünfte Phase in erster Linie der Aufrechterhaltung dieser „negativen Zentralität“: Makassar wurde Kolonialstadt. 25 Obwohl das Herrscherhaus Goa-Tallo offiziell weiterhin existierte und im Süden des Stadtgebiets residierte, war der bedeutendste Warenumschlagplatz des östlichen Malaiischen Archipels nun uneingeschränkt unter die Herrschaft der VOC geraten. Kern der vertraglichen Regelungen war die Bestimmung, dass die Kompanie den Hafen durch ein Passsystem kontrollierte, welches alle Teilnehmer am „legalen“ Handel erfassen sollte. Verboten war in diesem Zusammenhang der Handel mit Gewürzen und mit Textilien. Die erste Bestimmung - das eigentliche Ziel aller niederländischen Anstrengungen - wurde konsequent durchgesetzt, was sich bei der zweiten angesichts der Diversität und Bedeutung dieses Sektors als außerordentlich schwierig erwies, weswegen der Textilhandel bald ganz offiziell geduldet wurde. Es handelt sich bei den am Beispiel Makassar zu beobachtenden Vorgehensweisen um verschiedene Strategien, welche sich im Repertoire der VOC 23 Zum Makassarischen Krieg siehe vor allem L EONARD Y. A NDAYA , The Heritage of Arung Palakka. A History of South Sulawesi in the Seventeenth Century (Verhandelingen van het Koninklijk Instituut voor Taal-, Landen Volkenkunde, 91), Den Haag 1981; F REDERIK W ILLEM S TAPEL , Cornelis Jansz. Speelman, in: Bijdragen tot de Taal-, Landen Volkenkunde 94 (1936), 1-121; K AREL C HRISTIAN C RUCQ , De geschiedenis van het heilig kanon van Makassar, in: Tijdschrift voor Taal-, Landen Volkenkunde 81 (1941), 74-95. 24 Corpus Diplomaticum II (wie Anm. 22), 370-380. Zum Vertrag von Bongaya siehe neben den Ausführungen von Andaya auch F REDERIK W ILLEM S TAPEL , Het Bongaais Verdrag, Leiden 1922. 25 Zur Kolonialstadt Makassar siehe N AGEL , Schlüssel (wie Anm. 14), insbesondere 335-455; sowie die Beiträge von H EATHER A. S UTHERLAND , vor allem D IES ., Ethnicity, Wealth and Power in Colonial Makassar. A Historiographical Reconsideration, in: The Indonesian City, P ETER J. M. N AS (Hrsg.), Dordrecht 1986, 37-55; D IES ., Eastern Emporium and Company Town. Trade and Society in Eighteenth-Century Makassar, in: Brides of the Sea, F RANK B ROEZE (Hrsg.), Honolulu 1989, 97-128; D IES ., Trade, Court and Company. Makassar in the Later Seventeenth and Early Eighteenth Centuries, in: L OCHER -S CHOLTEN / R IETBERGER , Hof en handel (wie Anm. 12), 85-112. <?page no="80"?> Usurpatoren und Pragmatiker 81 befanden, nicht jedoch um ein Phasenmodell, das eine gängige Vorgehensweise der Kompanie abbilden könnte. Es kam allerdings mehrfach vor, dass verschiedene Strategien nacheinander zur Anwendung kamen. Generell wurde stets angestrebt, mit möglichst geringem Aufwand ein maximales Ergebnis zu erreichen. Dabei war nur in ganz besonderen Fällen - wie in Makassar - die strategische Zielsetzung nicht flexibel. Im ursprünglichen Kerngeschäft der Kompanie, dem Gewürzhandel, blieb die uneingeschränkte Marktkontrolle stets das unverrückbare Ziel. Also konnten die Entscheidungsträger bezüglich Makassars, im Gegensatz zu vielen anderen Orten, nach dem Scheitern einer Strategie mit geringerem Aufwand nicht einfach zurückstecken, sondern mussten eine Vorgehensweise mit höherem Aufwand wählen - bis hin zur letzten Konsequenz, war doch der Feldzug, der zur Eroberung Makassars führte, eine der größten Aufwendungen, welche die VOC überhaupt jemals in Asien betrieb. 3. Strategie, Aktionismus und Ohnmacht Hinsichtlich ihrer Vorgehensweise war die Eroberung Makassars ein Extremfall in der Geschichte der VOC; der Normalfall zeigte sich in der alltäglichen Präsenz vor Ort. Zwar war die Besatzung Makassars im 18. Jahrhundert zwischen 700 und 850 Mann stark, von denen zwischen 400 und 600 Soldaten und 100 bis 200 Seeleute waren, doch erwies sie sich nur für die Stadt und das unmittelbare Umfeld als ausreichend. Nicht selten führte dies zu Kritik an der geringen Reichweite der Besatzung, die - so die Vorwürfe - sich kaum traute, die schützenden Mauern des niederländischen Forts am Hafen zu verlassen, geschweige denn eine tatsächliche militärische Kontrolle über die weitläufigen Stadtareale und ihr Umland aufrecht zu erhalten. 26 Schon die reguläre Besatzung der zu Makassar gehörenden Außenposten auf Sulawesi war minimal und schwankte je nach Niederlassung zwischen zehn und 40 Personen. Auf den zugeordneten Inseln residierten schließlich nur einzelne Repräsentanten der Kompanie. Auf Selayar und Buton, den beiden größten vorgelagerten Inseln, blieb die Besatzung in der Regel unter zehn Mann. Auf Sumbawa, der nächstgelegenen der Kleinen Sunda-Inseln, schwankte sie zwischen zwei und 25 Mann. 27 Eine niedrige Mannschaftsstärke enthob den lokalen Vertreter jedoch nicht der Pflicht, im Zweifelsfalle eigenständig auch militärische Operationen durchführen zu müssen, wie das Eingreifen des 26 So mehrfach in der wahrscheinlich aus den 1730er Jahren stammenden Denkschrift Korte Inhoud der Bedenkingen over Makassar, Allgemeines Reichsarchiv (ARA) Den Haag, Collection Radermacher, Nr. 519. 27 Detaillierte Angaben und Nachweise zu den Mannschaftsstärken siehe N AGEL , Schlüssel (wie Anm. 14), 361-365. <?page no="81"?> Jürgen G. Nagel 82 Residenten auf Sumbawa angesichts einer balinesischen Invasion 1762 verdeutlicht. 28 Die Zerstreutheit und Schwäche der lokal verfügbaren Potenziale korrespondierte mit einer hohen Eigenverantwortung von VOC-Bediensteten auch mittleren Ranges. Diese Situation wird durch einen Vorfall illustriert, der sich 1727 im Viertel (kampung) der Bugis zutrug, als dort mehrere Soldaten ermordet worden waren und mindestens zwei tote Landsleute vermisst wurden. Die VOC-Leitung von Makassar sah sich veranlasst, eine Abordnung ter visitatie in den kampung zu schicken. Der Trupp von immerhin 23 Mann unter der Leitung eines der ranghöchsten VOC-Vertreter vor Ort, dem auch zwölf Soldaten zu Fuß und sechs Berittene angehörten, machte im kampung allerdings wenig Eindruck. Anstatt die Bugis in den Straßen durch ihr militärisches Kräftespiel einzuschüchtern und so schnell zu den beiden Leichen zu gelangen, wurde die Gruppe verspottet, beworfen, schließlich sogar umringt und ernsthaft bedroht. Erst als die Einwohner des benachbarten malaiischen kampung zusätzliche Grenadiere herbeigerufen hatten, zogen sich die Angreifer in die Gassen zurück. Die Abordnung entschied, dass sie weder den Auftrag noch die Möglichkeit hatte, die Flüchtigen zu verfolgen, und durchsuchte den kampung nach den beiden Verschwundenen - allerdings ersparte sie sich in ihrem Bericht jede Äußerung über die Intensität dieser Suche. Lediglich ihre Erfolglosigkeit wurde zugestanden, während die goede ordre, in der sie in das Fort zurückmarschierte, besonders betont wurde. 29 Hinter der Kosmetik des offiziellen Berichts scheint deutlich die Ohnmacht hervor, mit der sich die Vertreter der VOC bereits in den Außenbezirken der „eigenen“ Kolonialstadt konfrontiert sahen. Auch die navale Präsenz der VOC in Südostasien stieß schnell an ihre Grenzen und reichte bei weitem nicht zur Ausrüstung mächtiger Kriegsflotten, wie eine Aufstellung aus dem Jahr 1720 deutlich macht. 30 Demnach verfügte das Gouvernement Makassar über sieben Schiffe, die dem kleinen europäischen Typus Schaluppe sowie den einheimischen Schiffstypen pencalang und konting angehörten. Keines dieser Schiffe verfügte über mehr als zwei Dutzend Mann Besatzung; lagen sie im Hafen, war nur eine Notbesatzung ständig an Bord. Mit dieser Ausstattung bewegte sich Makassar im Jahre 1720 in einer vergleichbaren Größenordnung wie der Gouverneurssitz Ambon mit sechs, Malakka und Ternate mit je acht sowie Banda mit zwölf Schiffen. Unerreicht blieb die einzigartige Ausstattung Batavias, des Hauptquartiers der VOC, wo sechs große und sieben mittlere europäische Schiffe - 28 J ACOBUS N OORDUYN , Bima en Sumbawa. Bijdragen tot de geschiedenis van de sultanaten Bima en Sumbawa door A. Ligtvoet en G. P. Rouffaer, Dordrecht 1987, 11f. 29 ARA Den Haag, VOC 2050, Macassar, 494-496. 30 ARA Den Haag, Navale Magt van India, VOC 11338. <?page no="82"?> Usurpatoren und Pragmatiker 83 zumeist Fleuten, die um ein Vielfaches größer als die Schaluppen in den Außenposten waren - sowie neun indigene bewaffnete Schiffe und 36 kleinere Fahrzeuge stationiert waren. Mit diesen Kapazitäten konnte allenfalls von Batavia aus ein größeres militärisches Unternehmen gestartet werden. Feldzüge wie diejenigen gegen Makassar und Malakka sprengten jedoch auch diesen Rahmen, weswegen sie nicht ohne einen Rückgriff auf Potenziale der Retourflotte auskommen konnten und allein daher ein teurer Ausnahmefall bleiben mussten. Unter diesen Vorzeichen überrascht es kaum, dass die Kontrolle über Anbaugebiete und ehemalige Umschlagplätze noch lange nicht die uneingeschränkte Kontrolle über den gesamten regionalen Markt eines Produktes bedeutete. Im Falle des molukkischen Gewürzhandels konnte die VOC zwar die wichtigsten bekannten Anbaugebiete entweder erobern oder unter ihr Käufermonopol zwingen und die zentralen Emporien ihrer Funktion berauben, aber die Kräfte reichten nie aus, um alle indigenen Alternativen und Ausweichmöglichkeiten, die lediglich aus Sicht der Niederländer im Verborgenen blühten, zu beseitigen. 31 Neue, den Europäern teilweise nur aus zweiter Hand bekannte Anbaugebiete für Nelken und Muskat entstanden; so machte der Nelkenanbau auf Seram in unmittelbarer Nachbarschaft Ambons der VOC zunehmend Kopfzerbrechen, während sie die Gewürzexporte des entlegenen Aru-Archipels zumeist nur auf Grund abgefangener indigener Schiffsladungen kannte. Neue, konkurrierende Umschlagplätze etablierten sich im innerurbanen Bereich; so waren die Märkte und Anlegestellen im Bugis-Viertel der Metropole Makassar, die sie nur im Kern tatsächlich unter Kontrolle hatte, für die VOC kaum zugänglich, weswegen sie auch den dort stattfindenden Gewürzhandel nicht unterbinden konnte. Schließlich blühten urbane wie nicht-urbane Umschlagplätze gänzlich außerhalb des VOC- Bereichs auf, zu denen die Siedlung Alas im Westen Sumbawas, die kleinen Emporien der Bugis-Diaspora entlang der Ostküste Kalimantans, das unwirtliche Eiland Bonerate auf halbem Weg zwischen Sulawesi und Sumbawa oder das schwer zu erkundende Tukangbesi-Archipel südöstlich von Buton gehörten. 32 An den Reaktionen der Kompanie zur Unterbindung solcher unliebsamen Konkurrenz änderte sich im Laufe von 200 Jahren wenig. Ging es um Anbaugebiete, die aus Sicht der niederländischen Ansprüche „illegal“ waren, 31 Zum Folgenden siehe N AGEL , Schlüssel (wie Anm. 14), 705-802; sowie D ERS ., Formal or Informal? Private Trade in Maritime Asian Towns under the Rule of the Dutch East India Company, 17th and 18th Centuries, in: World History Bulletin 29 (2003) 1, 17-22. 32 Die Berichte des Sergeanten Jan Swaneveldt geben ein beispielhaftes Zeugnis davon, wie mangelnde Ortskenntnisse und die Abhängigkeit vom Wohlwollen lokaler Eliten nur geringe Erfolge von Kontrollfahrten in der vulkanischen Inselwelt der Tukangbesis zuließen: ARA Den Haag, VOC 1759, Macassar, 1. Reg., 147-169; VOC 1775, Macassar, 1. Reg., 252-283; ebd., 2. Reg., 84-114. <?page no="83"?> Jürgen G. Nagel 84 griff man zum Mittel der exstirpatien, dem Versuch, solche durch kleinere bewaffnete Expeditionen im Wortsinne mit „Stumpf und Stiel“ auszurotten. Gegen Personen und Gruppen, die in der niederländischen Begrifflichkeit „illegal“ operierten - sei es durch gezielten Gewürzanbau oder durch dauerhafte Handelsverbindungen - stand das militärische Mittel der krijstochten zur Verfügung, unter dem in der Regel kleinere Flottenoperationen zu verstehen waren. So regelmäßig, wie es die verfügbaren Mittel erlaubten, wurden allgemeine Kontrollfahrten durchgeführt, die schnell zu militärischen Operationen ausgeweitet werden konnten. Von weitaus größerer Bedeutung als diese Optionen der kalkulierten Gewaltanwendung waren Bündnisse mit lokalen Machthabern wie beispielsweise auf Buton. 33 Die Diplomatie der Kompanien diente nicht nur der Sicherung privilegierter Marktzugänge, sondern auch der Umwälzung von Protektionskosten auf ihre Bündnispartner. Voraussetzung hierfür war eine möglichst schwache Stellung dieser Partner, um sie überhaupt zu eigenen Kraftanstrengungen zugunsten der Wirtschaftsmacht aus Europa bewegen zu können. Dennoch klafft auch hier eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Tatsache, dass die Historiographie der VOC mehrheitlich, im Malaiischen Archipel sogar vorrangig, auf deren eigener Überlieferung aufbauen muss, lässt in der Regel nur ahnen, dass diese Bündnispartner häufig eine ganz andere Einschätzung ihrer Position hatten. Zumindest lässt sich nicht eindeutig beobachten, dass indigene Eliten wesentlich zur Stabilisierung der Vormachtstellung der VOC beigetragen hätten. 4. Zum Beispiel: Banjarmasin und der Pfefferhandel Die häufig unumgängliche Alternative zur militärisch oder diplomatisch errungenen Suprematie war eine erneute Faktoreigründung, die friedliche und gleichberechtigte Etablierung auf bestimmten Märkten, die lukrativ genug waren, um auch ohne ihre Beherrschung kommerziellen Nutzen zu versprechen. Im Gegensatz zum molukkischen Gewürzhandel konnten die Anstrengungen, Pfeffermärkte völlig unter Kontrolle zu bringen, nicht grenzenlos gesteigert werden. 34 Etablierten sich bedeutende neue Umschlagplätze außerhalb der Kontrolle durch die VOC, versuchte die Kompanie vor allem 33 P IM S CHOORL , Het ‚eeuwige’ verbond tussen Buton en de VOC, 1613-1669, in: Excursies in Celebes: een bundel bijdragen bij het afscheid van J. Noorduyn als directeur-secretaris van het Koninklijk Instituut voor Taal-, Landen Volkenkunde, H ENRY A LBERT P OEZE / P IM S CHOORL (Hrsg.), Leiden 1991, 21-61. 34 Siehe zur Situation des Pfefferhandels E BERHARD S CHMITT , Europäischer Pfefferhandel und Pfefferkonsum im Ersten Kolonialzeitalter in: D ENZEL , Gewürze (wie Anm. 9), 15-26. <?page no="84"?> Usurpatoren und Pragmatiker 85 im 18. Jahrhundert auf ihnen möglichst privilegiert Fuß zu fassen, ohne auf militärische Mittel zurückgreifen zu müssen. Hierfür bietet Banjarmasin im Südosten Kalimantans ein gutes Beispiel. 35 Die Stadt hatte dank ihrer Lage an dem schiffbaren Fluss gleichen Namens und in Reichweite der regionalen Anbaugebiete die Funktion des wichtigsten Emporiums im regionalen Pfefferhandel inne. Als ein ebenfalls auf seine Eigenständigkeit bedachtes muslimisches Sultanat war Banjarmasin nach dem Fall Makassars für viele zuvor dort tätige Kaufleute, insbesondere Bugis, zum alternativen Standort geworden. Die relative Bedeutung der Hafenstadt am Fluss war den Europäern jedoch bereits früher bekannt. Seit 1606/ 7, zeitgleich mit der ersten Faktorei in Makassar, unterhielt die VOC erste Kontakte nach Banjarmasin; gelegentlich wurde die Errichtung einer Niederlassung angestrebt, ohne dass allerdings eine Einrichtung von Dauer entstanden wäre. Wesentlich später, zwischen 1700 und 1707, unterhielt die englische EIC eine Faktorei in Banjarmasin, die am anmaßenden Auftreten einiger ihrer Führungskräfte und am tiefen Mistrauen der Banjaresen scheiterte und ein blutiges Ende nahm. 1711 erreichte nach langer Pause wieder eine niederländische Expedition den banjaresischen Hafen, geriet jedoch zwischen die Fronten eines regionalen Krieges und blieb daher noch ein Einzelfall. Zu einer dauerhaften Wiederaufnahme der Kontakte kam es ab 1726, als von Makassar aus die Gesandten Jan Landheer und Jan Matthijs de Broun mehrfach Banjarmasin ansteuerten. 36 Die tastende Kontaktaufnahme war zunächst nur über einheimische Mittelsleute möglich; dennoch konnte recht bald in den daraufhin zustande gekommenen Verhandlungen mit dem Reichsverweser (panambahan) eine Handelserlaubnis für Pfeffer erreicht werden. Menge und Preis des Pfeffers, den die Kompanie erwerben konnte, bestimmten bei diesem Arrangement allein der panambahan und die Kaufleute in Banjarmasin. Ein Monopol blieb ausgeschlossen; lediglich über garantierte Mengen wurde eine Vereinbarung geschlossen. Die Zusagen des panambahan, andere Fernhändler im städtischen Hafen auszuschließen, 35 Zur Geschichte Banjarmasins ist die Literaturlage nach wie vor unbefriedigend, siehe vor allem: L U- DOVICUS C AROLUS D ESIDERIUS VAN D IJK , Neerland's vroegste betrekkingen met Borneo, den Solo- Archipel, Cambodja, Siam en Cochin-China, Amsterdam 1862; A NTON A BRAHAM C ENSE , De Kroniek van Bandjarmasin, Santpoort 1928; J OHANNES C. N OORLANDER , Bandjarmasin en de Compagnie in de tweede helft der 18de eeuw, Leiden 1935; J OHANNES J ACOBUS R AS , Hikajat Bandjar. A Study in Malay Historiography, Den Haag 1968; R. S UNTHARALINGAM , The British in Banjarmasin. An Abortive Attempt at Settlement, 1700-1707, in: Journal of Southeast Asian History 4 (1963), 48- 72; C HIN Y OON F ONG , VOC Relations with Banjarmasin, 1600-1750. A Study in Dutch Trade and Shipping in the 17th and 18th Centuries, in: Kapal dan Harta Karam, M UHAMMAD Y USOFF H ASHIM (Hrsg.), Kuala Lumpur 1986, 77-87; H AN K NAPEN , Forests or Fortune? The enviromental history of Southeast Borneo, 1600-1800, Dordrecht 2001; N AGEL , Schlüssel (wie Anm. 14), 645- 704. 36 Die Überlieferung dieser Reisen befindet sich in: ARA Den Haag, VOC 2072, 2100, 2133. <?page no="85"?> Jürgen G. Nagel 86 blieben letztendlich Papier. Die konkrete Abwicklung des Handels verlief über chinesische Mittelsleute. Insofern blieb die VOC auf die vom panambahan freigegebenen Mengen angewiesen, da ihr weitere Zugangsmöglichkeiten zum begehrten Pfeffer fehlten. Stets stand die Kompanie in Konkurrenz zu anderen Händlern, seien es Asiaten oder Europäer, sei es im Hafen selbst oder aber auf dem Fluss. Ziel des Herrschers in diesem Arrangement war die Gewinnung eines militärischen Bündnispartners, weswegen er zu größeren Zugeständnissen bereit war, nie jedoch unter Aufgabe der Konkurrenzsituation im Hafen. Durch die baldige Gründung einer niederländischen Faktorei erfuhren die Handelskontakte eine Verstetigung; die Kompanie blieb bis zu ihrem Ende in Banjarmasin präsent. Dabei strebte sie stets eine privilegierte Stellung im Pfefferhandel an, die sie jedoch allenfalls graduell erreichen konnte, ohne dass die aus ihrer Sicht nicht optimale Situation zu weiterreichenden Konsequenzen führte. Die VOC musste sich an die Staatsführung und die chinesischen Mittelsleute halten, um an den gewünschten Pfeffer zu kommen. Die staatlich nicht oder nur wenig kontrollierten Märkte auf dem Fluss, auf dem viele Bugis, aber auch Chinesen oder ungebundene Europäer von Boot zu Boot Handel trieben, waren für sie mangels ausreichender Ortskenntnisse nicht erreichbar. Dass Banjarmasin Ende des 18. Jahrhunderts doch noch unter vollständige niederländische Kontrolle geriet, lag dann weniger an gezielten Eroberungen als an dynastischen Streitigkeiten, bei denen die VOC rechtzeitig auf die letztendlich siegreiche Partei setzte. Hier bot sich ihr am Ende ihrer Geschichte die Chance, ihren Einfluss zugunsten ihrer Marktsituation zu steigern. 5. Versuch einer Typologie Die Ressourcen der VOC waren knapp und erforderten einen sparsamen und effektiven Umgang. Das konkrete Vorgehen im Einzelfall musste sowohl an die Gegebenheiten vor Ort als auch an die eigenen verfügbaren Ressourcen angepasst werden. Diese Situation war den Entscheidungsträgern der VOC - zumindest den meisten - durchaus bewusst; Hasardeure sind letztendlich in der Geschichte der VOC nur wenige zu beobachten. Eher schon spielte das Ausnutzen von Lücken im System zum individuellen Nutzen eine zunehmend große Rolle, so dass die Bekämpfung von Korruption, Veruntreuung und anderen Delikten zu einer wichtigen Betätigung der Kompanie in ihrer Endphase wurde. Betrachtet man systematisierend, was die VOC konkret aus ihrem Potenzial machte, ergibt daraus sich fast zwangsläufig eine Typologie der Vorgehensweisen oder - das angesprochene <?page no="86"?> Usurpatoren und Pragmatiker 87 Bewusstsein vorausgesetzt - ihrer Strategien. Insgesamt lassen sich sechs Grundtypen identifizieren: 37 1. Das Modell der Vorkompanien, die Einzelexpeditionen von Europa nach Asien schickten, bildete noch keinen eigenen Typus der VOC, sondern eher eine Vorform ihrer Vorgänger. 38 Diese bestanden in der Regel aus einer kleinen Flottille, die aus ihrer Ladung einmalig den größtmöglichen Profit schlagen sollte. Die Kommandeure dieser Expeditionen erhielten von ihren Kapitalgebern keine konkreten strategischen Vorgaben für das „Wie“ ihres Vorgehens; die Realität diktierte ihnen letztlich die einzige Möglichkeit. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als unter zahlreichen Fernhändlern die gleichberechtigte Marktteilnahme und die Verhandlung mit den marktkontrollierenden Eliten anzustreben. Dies wurde möglichst auf Augenhöhe versucht, wenn es jedoch sein musste, traten die Vorläufergesellschaften der VOC auch als Bittsteller auf. Gelegentlich vorgebrachte Gewaltandrohungen führten in dieser Phase zu keinem Erfolg. Ihre Anknüpfungspunkte fanden die Vorkompanien vor allem in Banten als Hauptumschlagsplatz des Molukkenhandels um 1600 sowie auf den Molukken selbst. 2. Eroberungen hat die traditionelle Kolonialgeschichtsschreibung fälschlich zum Grundtypus niederländischen Vorgehens in Asien erklärt. Sicherlich spielte der umfassende militärische Einsatz mit den zwei möglichen Zielen - der Okkupation und der Destruktion - insbesondere in der Frühzeit der VOC eine wichtige Rolle. Allerdings wurde dieses Mittel letztendlich, wie das Beispiel Makassars gezeigt hat, nur im unmittelbaren Kerngeschäft der Kompanie und zumeist auch nur nach Ausschöpfung aller Alternativen eingesetzt. Es waren vor allem die molukkischen Gewürzmärkte, bei denen die Option der Eroberung gewählt wurde. Die wichtigsten Produktionsstätten wurden entweder mit radikalen Mitteln in Besitz genommen (Banda) oder unter eigene Kontrolle gezwungen (Ambon), die zentralen Umschlagplätze zu eigenen Kolonialstädten umfunktioniert (Malakka, Makassar, Banten). Darüber hinaus setzten sich die Niederländer auf Ceylon, der Herkunftsinsel des begehrten Zimts, mit militärischen Mitteln fest, die jedoch vor allem gegen die dort ansässigen Portugiesen gerichtet waren, während eine Kontrolle über die indigenen Staaten der Insel nie erreicht oder auch nur angestrebt wurde. 39 Und auch auf Taiwan, das als Stützpunkt des 37 Für eine Übersicht der Typologie siehe die Tabelle im Anhang dieses Beitrages. 38 Zu den niederländischen Vorkompanien siehe H. T EPSTRA , De Nederlandsche voorcompagnien, in: Geschiedenis van Nederlandsch Indie, F REDERIK W. S TAPEL (Hrsg.), Amsterdam 1938, Bd. 2, 273- 475; H ANS DE H AAN , Moedernegotie en grote vaart. Een studie oder de expansie van het Hollandse handelskapitaal in de 16e en 17e eeuw, Amsterdam 1977. 39 K. W. G OONEWARDENA , The Foundation of Dutch Power in Ceylon, 1638-1658, Amsterdam 1958; G EORGE D. W INIUS , The Fatal History of Portuguese Ceylon. Transition to Dutch Rule, Cambridge/ Mass. 1971. <?page no="87"?> Jürgen G. Nagel 88 Chinahandels attraktiv war, konnte sich die VOC als Eroberer festsetzen, verfügte auf Dauer jedoch nicht über ausreichend Machtmittel, um sich 1662 gegen den Eroberungsfeldzug durch die letzten Anhänger der Ming- Dynastie zu behaupten. 40 Bereits im Pfefferhandel, so lukrativ dieser für die Kompanie auch gewesen sein mochte, war auf Grund der differenzierten Marktsituation ein solcher Waffengang nicht erfolgversprechend. Im Textilhandel schließlich bestanden überhaupt keine Möglichkeiten, Kontrolle durch reine Gewaltanwendung zu erreichen. Die Kompanie profitierte in hohem Maße von ihrer Beteiligung, doch war sie - asienweit gesehen - nur einer unter vielen Mitbewerbern. Sah man sich einem mutmaßlich überlegenen Gegner gegenüber, wie dies in China oder Japan der Fall war, kam eine militärische Option gar nicht erst in Betracht. Erst die Engländer änderten dies im Zuge der Opiumkriege, als sich die Machtverhältnisse in Ostasien bereits deutlich zu Ungunsten Chinas gewandelt hatten. 41 3. Das Modell einer Faktoreigründung, die eine kontinuierliche Marktteilnahme vor Ort sicherstellte, konnte drei Ausprägungen aufweisen: 3 a. Eine privilegierte Marktteilnahme, zugestanden durch den lokalen Herrscher, führte zumeist zu einer kontinuierliche Marktbeherrschung. Die nordmolukkischen Gewürzinseln Ternate und Tidore sind das prominenteste Beispiel dieser Variante. Teilweise spielte Gewaltandrohung bei der Positionierung der VOC auf dem Markt eine nicht zu unterschätzende Rolle, und gelegentlich - aber wesentlich seltener als manche Schulbücher dies vermuten lassen - auch der tatsächliche Einsatz von Gewalt. Entscheidend für die privilegierte Stellung der Kompanie in solchen Fällen war jedoch die Ausgestaltung des Vertrages mit den indigenen Machthabern. Dass solche Faktoreien zumeist als Festungen ausgebaut waren, diente symbolisch zur Unterstreichung dieser Position und war praktisch-militärisch eher gegen europäische Konkurrenz von See als gegen die indigenen Partner an Land gerichtet. 3 b. Eine Faktorei - dies haben die Verhältnisse in Banjarmasin deutlich gemacht - war auch im Zuge einer offenen Marktteilnahme möglich. Hier befand sich die Kompanie in der Regel in einer Konkurrenzsituation mit 40 J AN L. O OSTERHOFF , Zeelandia. A Dutch Colonial City on Formosa (1624-1662), in: Colonial Cities, R OBERT R OSS / G ERARD J. T ELKAMP (Hrsg.), Dordrecht 1985, 51-63; C HENG S HAOGANG , De VOC en Formosa 1642-1662. Een vergeten geschiedenis, Amsterdam 1997; J OHANNES H UBER , Chinese Settlers against the Dutch East India Company. The Rebellion led by Kuo Huai-i on Taiwan in 1652, in: Development and Decline of Fukien Province in the 17th and 18th Centuries, E DUARD B. V ERMEER (Hrsg.), Leiden 1990, 265-296. 41 J OHN K. F AIRBANK , Trade and Diplomacy on the China Coast. The Opening of the Treaty Ports, 1842-1854, Stanford 1964; C HANG H SIN -P AO , Commissioner Lin and the Opium War, Cambridge/ Mass. 1964; P ETER W ARD F EY , The Opium War 1840-1842. Barbarian and the Celestial Empire in the Early Part of the 19th Century and the War by which they Forced her Gates Ajar, New York 1976; B RIAN I NGLIS , The Opium War, London 1976; J OHN Y UE - WO W ONG , Deadly Dreams. Opium, Imperialism, and the Arrow War (1856-1860) in China, Cambridge 2002. <?page no="88"?> Usurpatoren und Pragmatiker 89 asiatischen oder auch europäischen Kaufleuten und Kompanien. Unter gewissen Umständen konnte auch eine temporäre Marktbeherrschung erreicht werden, was zumindest auf einem ausgeglichenen Markt nur auf der Grundlage einer Höchstpreispolitik gelingen konnte. Da dieses Vorgehen jedoch nicht nur einen enormen Finanzaufwand bedeutete, sondern auch den Interessen eines Herrschers, der einen offenen Markt in seinem Machtbereich erhalten wollte, widersprach, blieb diese Möglichkeit eine theoretische Option. Vielfache Realität war hingegen die offene Marktteilnahme einer Faktorei, nicht nur in der indonesischen Inselwelt. Auf dem gesamten indischen Subkontinent, wo sie Niederlassungen in zahlreichen wichtigen Emporien der Koromandel- und Malabarküste, in Gujarat und in Bengalen, in Persien (Bandar Abbas) und auf der arabischen Halbinsel (Mocha) gründete, etablierte sich die VOC auf den diversen Märkten, nur teilweise in Konkurrenz zu europäischen Niederlassungen, stets aber in Auseinandersetzung mit asiatischen Händlern und in einem Vertragsverhältnis mit den einheimischen Herrschern. 42 3 c. Schließlich bestand die Option, eine Faktorei mit marginalisierter Marktteilnahme zu etablieren. Als Strategie wurde sie nur gewählt, um einen eigentlich für die VOC geschlossenen Markt überhaupt, in welcher Form auch immer, betreten zu können. So war Japan, das sich nach Vertreibung der Portugiesen endgültig selbst isoliert hatte, für Europäer grundsätzlich nicht zugänglich - und damit auch nicht für die Niederländer, obwohl ihre Kompanie von den Japanern als interessanter Geschäftspartner, vor allem als Kunde des einheimischen Kupfers, angesehen wurde. Die künstliche Insel Deshima im Hafen von Nagasaki zu akzeptieren, war die einzige denkbare Option, wenn man die Möglichkeiten einer militärischen Erzwingung des Marktzuganges realistisch einschätzte. 43 Ähnliches gilt für China. Auf Grund 42 Zu Indien im Allgemeinen siehe unter anderen G EORGE D. W INIUS / M ARCUS P. M. V INK , The Merchant-Warrior Pacified. The VOC (The Dutch East India Company) and its Changing Political Economy in India, Delhi 1991. Zu Koromandel siehe unter anderen T APAN R AYCHAUDHURI , Jan Company in Coromandel 1605-1690. A Study in the Interrelation of European Commerce and Traditional Economies, Den Haag 1962; S INNAPPAH A RASARATNAM , Merchants, Companies, and Commerce on the Coromandel Coast, 1650-1740, Delhi 1986. Zu Bengalen siehe unter anderen O M P RAKASH , The Dutch East India Company and the Economy of Bengal, 1630-1720, Princeton 1985. Zu Gujarat siehe unter anderen H ANS W ALTHER VAN S ANTEN , De Verenigde Oost-Indische Compagnie in Gujarat en Hindustan, 1620-1660, Leiden 1982. Zu Malabar siehe unter anderen M ARIE A. P. M EILINK -R OELOFSZ , De vestiging der Nederlanders ter kuste Malabar, Den Haag 1943. Zu Persien siehe unter anderen P ETER R IETBERGEN , Upon a Silk Thread? Relations between the Safavid Court of Persia and the Dutch East Indies Company, 1623-1722, in: L OCHER -S CHOLTEN / R IETBERGER , Hof en handel (wie Anm. 12), 159-183. Zur arabischen Halbinsel siehe unter anderen R ENÉ J. B ARENDSE , The Arabian Seas 1640-1700, Leiden 1998. 43 C HARLES R. B OXER , Jan Company in Japan, 1600-1817, Den Haag 1950; E IICHI K ATO , Unification and Adaption. The Early Shogunate and Dutch Trade Politicies, in: B LUSSÉ / G AASTRA , Companies and Trade (wie Anm. 7), 207-229; Y OKO N AGAZUMI , From Company to Individual Servants. Durch Trade in Eighteenth Century Japan, in: On the Eighteenth Century as a Category of Asian History. Van Leur in Retrospect, L EONRAD B LUSSÉ / F EMME S. G AASTRA (Hrsg.), Aldershot 1998, 147-172. <?page no="89"?> Jürgen G. Nagel 90 des eindeutig negativen Ergebnisses der Kosten-Nutzen-Abwägung einer militärischen Operation war man bereit, sich den Marktregulierungen der lokalen Autorität zu unterwerfen und eine klare Beschränkung auf einen vorgegebenen Bezirk in Kanton hinzunehmen. 44 Immerhin stellte die Hafenstadt am Perlfluss das wichtigste Emporium des Chinahandels dar, so dass die europäischen Kompanien handelsstrategisch günstig positioniert waren, um Tee, Seide und Porzellan zu erstehen. Anders als in Japan mussten die Niederländer hier die Anwesenheit der europäischen Konkurrenzmächte akzeptieren, allen voran der britischen EIC, deren Position in Kanton die VOC nie auch nur annähernd erreichen konnte. 45 In beiden Fällen war die Kompanie auf engsten Raum beschränkt, wodurch sie keinen unmittelbaren Zugriff auf den Markt entwickeln konnte, sondern stets auf offiziell anerkannte Mittelsleute angewiesen blieb. Dennoch konnte sie an einem von ihr als besonders lukrativ eingestuften Handel partizipieren - in Japan sogar exklusiv. Von daher dürfen solche Vorgehensweisen nicht als rein passiv interpretiert werden, sondern durchaus als strategische Entscheidungen. 4. Eine nur temporäre Marktteilnahme erlaubte das Expeditionsmodell, also der kurzfristige Besuch eines Marktes mit einem oder mehreren Schiffen und einem klar definierten Einkaufsziel, wovon abermals drei Spielarten zu beobachten sind: 4 a. Eine turnusmäßige Marktteilnahme mit temporärer Marktbeherrschung wurde nur durch eine Höchstpreispolitik ermöglicht, bei der die Expedition der VOC nach ihrem Erscheinen an einem Umschlagplatz alles daran setzte, den Markt leer zu kaufen, wie es in Makassar Mitte des 17. Jahrhunderts einige Male gelang. Dabei handelte es sich lediglich um eine punktuelle Strategie, die sich zumeist gegen die europäischen Konkurrenten richtete. Sie war jedoch auf Grund ihrer Aggressivität nicht geeignet, um sich langfristig günstige Handelsmöglichkeiten an einem indigenen Handelsplatz zu sichern. Es war wohl kaum ein Zufall, dass diese Strategie eben nicht in Banjarmasin auf dem Pfeffermarkt angewandt wurde, sollte doch dort langfristig eine privilegierte Stellung beim panambahan erreicht werden, auf dessen Wohlwollen die VOC angewiesen war. 4 b. Als Alternative zur Faktoreigründung und als weitaus weniger aggressive Spielart des Expeditionsmodells war die turnusmäßige Marktteilnahme in einer offenen Konkurrenzsituation weitaus häufiger anzutreffen. 44 J OHN E. W ILLS JR ., Pepper, Guns and Parleys. The Dutch East India Company and China, 1622- 1681, Cambridge/ Mass. 1976; L OUIS D ERMIGNY , La Chine et l’Occident. La Commerce à Canton au XVIIIe Siècle, 1719-1833, Paris 1964; M ATTY K IGELIUS , Stichting der factorij van die O. I. Comp. te Canton, in: Tijschrift voor Geschiedenis 48 (1933), 168-179. 45 Mehrheitlich konzentrierte sich die VOC im Chinahandel auf Beziehungen zur chinesischen Diaspora in Südostasien, siehe unter anderem L EONARD B LUSSÉ , Chinese Trade to Batavia during the Days of the VOC, in: Archipel 18 (1979), 195-219. <?page no="90"?> Usurpatoren und Pragmatiker 91 Im Falle lukrativer Märkte bei schwieriger respektive zu kostenintensiver Ansiedlungsmöglichkeit setzte diese Strategie zumindest eine Niederlassung in akzeptabler Reichweite voraus. Für den Pfeffermarkt von Banjarmasin, zu dem sich die VOC genau auf diese Weise den Zugang sicherte, waren dies Makassar, wo die Missionen der Gesandten Landheer und de Broun ihren Ausgang nahmen, und Batavia, wohin die mit Pfeffer beladenen Transportschiffe segelten. Ein anderes Beispiel dieser Vorgehensweise stellten die Kontakte der VOC nach Siam dar, die von Indien oder Malakka aus organisiert werden konnten. 46 4 c. Keine wirkliche Strategie im Sinne einer durchdachten, im Voraus geplanten Vorgehensweise stellte die gelegentliche oder zufällige Marktteilnahme dar, die dennoch in der Geschichte der VOC immer wieder eine Rolle spielte. Beinahe der gesamte Handel der VOC auf dem südostasiatischen Festland, vornehmlich in Vietnam, spielte sich nach diesem Muster ab. 47 Hier nutzte die VOC bei sich bietender günstiger Gelegenheit Mitnahmeeffekte bei Waren, deren kommerziellen Wert die niederländischen Kaufleute kannten, die aber nicht im Zentrum ihrer mittel- und langfristigen Planungen standen. In Südostasien waren dies verschiedene Buntmetalle, regionale Töpferwaren oder Farbstoffe. 5. Die Kompanie verfolgte immer wieder politische Strategien als unterstützende Strategien. Sie betrieb Diplomatie weder als Selbstzweck noch zum Aufbau eines wie auch immer gearteten Kolonialreiches, sondern folgte stets handelsstrategischen Maximen, die durch Diplomatie unterstützt wurden, wenn keine uneingeschränkte Marktbeherrschung durch militärische oder ökonomische Mittel erreichbar war. 5 a. Eine häufig genutzte Möglichkeit bestand in einer gezielten Bündnispolitik im regionalen wie im überregionalen Rahmen. In diesen Bereich fallen die bereits angesprochenen diplomatischen Kontakte, die auf dem indischen Subkontinent oder dem südostasiatischen Festland unterhalten wurden. 46 Die Beziehungen zu Thailand nahmen zudem eine diplomatische Dimension an, da die VOC hier insbesondere auch mit Waffen handelte. Siehe hierzu unter anderen G EORGE V. S MITH , The Dutch in 17th Century Thailand, Detroit 1977; L EONARD B LUSSÉ , Van snaphanen en edelsteinen. Briefwisseling tussen de Hoge Regering te Batavia en het koninkrijk Siam, 1769-1809, in: Kapitaal, ondernemerschap en beleid. Studies over economie en politiek in Nederland, Europa en Azie van 1500 tot heden, C AROLUS A UGUSTINUS D AVIDS / W ANTJE F RITSCHY / L OES A. VAN DER V ALK (Hrsg.), Amsterdam 1996, 467-482; R EMCO R ABEN , Ayutthaya, Koning Phetracha en de wereld, in: L O- CHER -S CHOLTEN / R IETBERGER , Hof en handel (wie Anm. 12), 251-276. 47 Hier etablierten die sporadischen diplomatischen Kontakte, auf welche die verfügbare Literatur vornehmlich eingeht, keine institutionalisierten Handelskontakte. Siehe unter anderen H UGO K. S ’J ACOB , Het hof van Cochin 1670-1710. VOC-dienaren als informanten, in: L OCHER -S CHOLTEN / R IETBERGER , Hof en handel (wie Anm. 12), 201-225; W ILHELM J OZEF M ARIA B UCH , De Oost- Indische Compagnie en Quinam. De betrekking der Nederlanders met Annam in de 17e eeuw, Amsterdam 1929; D ERS ., La Compagnie des Indes Néerlandaises et l'Indochine, Hanoi 1938. <?page no="91"?> Jürgen G. Nagel 92 5 b. Wenn sich die Gelegenheit bot, partizipierte die Kompanie auch an internen Machtkämpfen im regionalen oder lokalen Rahmen, um auf diese Weise einen engen Bündnispartner zu gewinnen, der ihr auf besondere Weise verpflichtet war. Auf diesem Wege gelang es der VOC Ende des 18. Jahrhunderts, eine privilegierte Stellung in Banjarmasin zu erobern. Dies geschah jedoch, was bei allen Fällen dieser Art zu berücksichtigen ist, nicht aus primär machtpolitischen Gründen. Vielmehr stand in Banjarmasin der Versuch, ökonomisch im Pfefferhandel der Region Fuß zu fassen, ursächlich vor der Beteiligung an den internen Machtkämpfen. Genauso war das Bestreben, den Gewürzmarkt in Makassar unter Kontrolle zu bekommen, Grundlage für das Bündnis der VOC mit dem exilierten Bugis-Prinzen Arung Palakka, der Leitfigur der regionalen Opposition gegen das Herrscherhaus von Goa- Tallo. 6. Ergänzend konnte auf Absicherungsstrategien als nachgeordnete Strategien zurückgegriffen werden. Für die langfristige Sicherung einer marktbeherrschenden Position oder der Kontrolle eines regionalen Netzwerkes reichte eine einmalige Eroberung oder Privilegierung nicht aus; eine langfristige Absicherung des Erreichten war erforderlich. Da die VOC nicht über das Potenzial verfügte, quasi-staatliche Strukturen zu schaffen, waren Strategien, die der ursprünglichen Zugangsstrategie nachgeordnet waren, notwendig: 6 a. Dies konnte zum einen die Eliminierung nicht-kontrollierter Produktionsmöglichkeiten sein, wie sie in den sogenannten exstirpatiën ihren praktischen Ausdruck fand. Je nach regionaler Wichtigkeit konnten dies regelmäßige Expeditionen sein, die eine echte Kontrolle herstellen sollten, oder punktuelle, dafür umso größere, manchmal auch umso gewalttätigere Unternehmungen zur Abschreckung. 6 b. Zum anderen konnte dies in der Eliminierung unerwünschter Konkurrenz bestehen, wozu sogenannte krijstochten, also Kriegszüge im kleinen Maßstab, durchgeführt wurden. Diese richteten sich gleichermaßen gegen Piraterie und offene Konkurrenz im Kerngeschäft der Kompanie. 6 c. Schließlich spielte die Kontrolle indigener Handelsverbindungen eine wesentliche Rolle. Grundlage hierfür bildete im Wesentlichen das Passsystem, wie es auch in Makassar nach 1669 zum Einsatz kam. Indigene Wirtschaftssubjekte wurden hierbei durch die Institutionen der VOC legitimiert und diese Legitimität durch ständige Präsenz im Operationsgebiet kontrolliert, wodurch der illegitime Sektor eingedämmt werden sollte. Dass die Unterscheidung von „legitimem“ und „illegitimem“ Handel ausschließlich aus Sicht der VOC Bestand hatte, versteht sich von selbst. In diesem Bereich war die größte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu beobachten, verfügten doch die einzelnen zuständigen Niederlassungen über keine ständigen Flottenverbände, die eine flächendeckende Kontrolle ihres Bereiches <?page no="92"?> Usurpatoren und Pragmatiker 93 ermöglicht hätten. Da diese Situation bekannt war, wurde der vermeintlich illegitime Sektor zunehmend kriminalisiert und pauschal unter Schmuggel und Piraterie subsumiert, so dass eine Ausweitung der Strategie b zu rechtfertigen war. Die Strategien a, b und c gingen in der Regel Hand in Hand. Da sie in der Realität sehr schnell an die Grenzen des zur Verfügung stehenden Potenzials stießen, waren weitere Strategien, die auch von übergeordneten Ebenen genutzt werden konnten, sowohl ergänzend als auch alternativ von großer Bedeutung: 6 d. Bündnispolitik betrieb die VOC nicht nur zur Unterstützung von Marktzugangsstrategien, sondern auch, um Kooperationen mit indigenen Machthabern zu etablieren. Diese dienten der Reglementierung des Marktzugangs im Sinne der VOC-Interessen. So war die VOC im Osten des Malaiischen Archipels stets bestrebt, mit allen insularen Kleinstaaten der Region, die sie nicht einfach erobern konnte oder wollte, Verträge abzuschließen, welche die Bündnispartner im Gegenzug zu Beistandszusagen verpflichteten, ihre umliegenden Gewässer im Sinne der Kompanie zu kontrollieren - eine Kontrolle, zu der ausdrücklich auch der Einsatz von Waffen gehörte. 48 Sie sollten Verbote durchsetzen, deren Verletzung bekämpfen und wenn möglich das Passsystem der Kompanie adaptieren. Die Alltagssituation erforderte es vielfach, dass sich die Kompanie in weiten Bereichen auf die Unterstützung durch indigene Bündnispartner verlassen musste, die ihrerseits kaum den gleichen Enthusiasmus für die niederländischen Vorstellungen einer Suprematie aufbrachten. In der Folge kontrollierte die VOC manche Regionen nur auf dem Papier, sei es der äußerste Südosten des Malaiischen Archipels, die Küsten Nord-Sulawesis oder Ost-Kalimantans und viele andere mehr. 49 Die Wahl einer Strategie war von mehreren Faktoren abhängig. Zum einen waren dies die Güter oder die Warenpalette auf dem fraglichen Markt, die für die Kompanie primär, sekundär oder marginal sein konnten. Primär waren vorrangig diejenigen Produkte, die in Europa hohe Gewinnspannen versprachen, wie die meisten Gewürze, aber auch chinesische Luxuswaren oder später Kaffee und Zucker. Sekundär waren vor allem Waren, die für den „country trade“ unabdingbar waren, wobei Textilien die bedeutendste 48 Zu den verschiedenen Spielarten niederländischer Bündnispolitik in Asien siehe R EMCO R ABEN , Het Asiatisch legioen. Huurlingen, bondgenoten en reservisteen in het geweer voor de Verenigde Oost- Indische Compagnie, in: K NAAP / T EITLER , Verenigde Ostindische Compagnie (wie Anm. 12), 181- 207. 49 Die Frage der realen Durchsetzung von beanspruchter Kontrolle stellt eines der größten Desiderate in der Forschung zur VOC dar und bedarf noch einer Vielzahl lokaler Studien, die über die Ebene der Verträge hinausgehen und die für niederländische Augen verborgenen Abläufe in den Blick nehmen - wohl wissend, dass dieser Bereich nicht zuletzt auf Grund der problematischen Quellenlage weniger gut beleuchtet ist als die Diplomatie der Kompanie. <?page no="93"?> Jürgen G. Nagel 94 Rolle spielten. Als marginal sind schließlich all diejenigen Güter einzustufen, die nicht regelmäßig und nur bei günstigen Gelegenheiten gehandelt wurden, wie indigene Genussmittel oder Farbstoffe. Zum anderen war das verfügbare militärische Potenzial ein zentraler Faktor für strategische Entscheidungen. Die Eroberung von Gegnern wie Stadtstaaten oder größeren Inseln bedurfte der Zusammenstellung einer Kriegsflotte, die aus der Retourflotte oder aus Schiffen des „country trade“ zusammengestellt werden musste. Zusätzlich musste in der Regel ein Heer aufgestellt werden oder ein Bündnispartner wie Arung Palakka gefunden werden, der diesen Bereich eines Feldzuges abdecken konnte. Das Potenzial vor Ort, an den Gouverneurssitzen, war im Regelfall mit dem alltäglichen Kontrollgeschäft ausgelastet und eignete sich nur für kleinere Strafexpeditionen, die kaum je nachhaltige Wirkung hatten. Darüber hinaus waren die indigenen Machtstrukturen von entscheidender Bedeutung. Einerseits stellte sich die Frage, ob man sich einer großen, militärisch potenten Landmacht wie China, Japan oder dem indischen Moghulreich gegenüber sah oder einer machtpolitisch destabilisierten Situation, wie sie in Süd-Sulawesi mit dem Niedergang Makassars Mitte des 17. Jahrhunderts entstand, oder kleinen Inselstaaten wie in den Molukken, die im Zweifelsfalle einfach überwältigt werden konnten. Andererseits war die Frage von Bedeutung, ob man sich mit tendenziell fremdenfeindlichen Herrschern wie in Banten, mit solchen, die Neuankömmlingen gegenüber offen, aber auf Freiheit bedacht waren, wie die Sultante von Goa-Tallo, oder mit solchen, die akut auf Hilfe einer äußeren Macht angewiesen waren, wie der Bündnispartner der VOC bei der Eroberung Makassars, Arung Palakka, auseinandersetzen musste. Letztendlich darf auch die Persönlichkeit des Verantwortungsträgers seitens der VOC nicht ignoriert werden. Auf Grund der hohen Verantwortung, die auf den Außenposten auch Vertreter mittlerer Hierarchiestufen inne hatten, konnte persönlicher Einfluss weit reichende Folgen haben, weswegen bei der Beurteilung der strategischen Verhaltensweisen der VOC die strukturellen Faktoren zwar im Mittelpunkt stehen, jedoch nicht überbetont werden dürfen. Was aus Ignoranz oder Inkompetenz entsprungen ist, darf nicht übersehen werden. Ausreißer wie der Übersetzer Frans Franszoon, stationiert im Verwaltungsbereich von Makassar, der 1751 die Frau eines regionalen Prinzen vergewaltigte, dessen Schiff okkupierte und sich als Pirat der kompanieeigenen Gerichtsbarkeit entzog, 50 blieben jedoch die Ausnahme; eine Orientierung an Effektivität in der Ressourcennutzung und davon abhängiger Nutzenmaximierung war hingegen die Regel. Anderenfalls hätte sich die 50 ARA Den Haag, Collection Radermacher, Nr. 520. <?page no="94"?> Usurpatoren und Pragmatiker 95 VOC in einem von ihr nicht dominierten Kontext kaum zwei Jahrhunderte unter stetiger Ausweitung des eigenen Einflusses behaupten können. 6. Schluss In seiner längst klassischen Untersuchung der Auseinandersetzung westeuropäischer Ostindienkompanien mit dem für Asien vermeintlich typischen „pedlar trade“ und mit anders strukturierten europäischen Konkurrenzorganisationen wie dem portugiesischen Estado da India interpretiert Niels Steensgaard die Kompanien als eine institutionelle Innovation: „Without doubt the Companies represent an example of an institutional innovation, an instance of progress, if you like, in the sense of an institution that makes it possible to procure economic goods with a more economic use of scarce resources. The comparative investigation was concentrated on protection and market conditions; […]. The Companies internalized the protection costs that constituted such a considerable item among the pedlar’s expenses, and eliminated the extra element of risk the peddling market involved on account of the non-transparency and short-term price fluctuations of the market. […]; especially as far as the Dutch Company is concerned that organization whose primary function was to produce violence for the protection of the trade was also able to become the primary instrument for creating income, and thus the commercial activity, under cover of armed protection, could turn into the demanding of tribute, while on the other hand the redistributive organizations, especially Portugal, were actively engaged in trade.“ 51 Sicherlich ist diese vielzitierte Sichtweise in der grundlegenden Tendenz nach wie vor zutreffend. Der neue institutionelle Rahmen, ein Vorläufer moderner Kapitalgesellschaften, konnte eine hohe Flexibilität bei gleichzeitig niedrigem Risiko für den individuellen Anteilseigner sicherstellen. Den Herausforderungen des Asienhandels, der sicherlich seinerzeit wie kaum ein anderer mit Risiken behaftet war, erwies sich ein bewaffnetes Handelsunternehmen am besten gewachsen. Die Internalisierung der „protection costs“, die Steensgaard in den Mittelpunkt seiner Analysen stellt, war der entscheidende Vorteil von VOC und EIC gegenüber anderen, älteren Organisationsformen. 52 Betrachtet man die Gegebenheiten im Operationsgebiet einer Kompanie wie der VOC genauer, wird jedoch deutlich, dass dieser Vorteil 51 N IELS S TEENSGAARD , The Asian Trade Revolution of the Seventeenth Century. The East India Companies and the Decline of the Caravan Trade, Chicago 1974, 412. 52 Siehe auch D ERS ., The Dutch East India Company as an Institutional Innovation, in: Dutch Capitalism and World Capitalism, M AURICE A YMARD (Hrsg.), Cambridge 1982, 235-258; D ERS ., The Companies as a Specific Institution in the History of European Expansion, in: B LUSSÉ / G AASTRA , Companies and Trade (wie Anm. 7), 245-264. <?page no="95"?> Jürgen G. Nagel 96 vor allem in Auseinandersetzung mit europäischen Konkurrenten zum Tragen kam. Eine gleichwertige Übertragung auf den asiatischen Bereich setzt eine Pauschalisierung des „pedlar trade“ voraus. 53 Obwohl in der Handelsgeschichte Asiens eine sehr zählebige Vorstellung, ist dies heute weitgehend ausdifferenziert und für weite Bereiche widerlegt. Auf die kaum noch überschaubare Literatur hierzu kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, aber bereits die im Vorangegangenen skizzierten Situationen, mit denen sich die VOC im Malaiischen Archipel auseinandersetzen musste, sollten deutlich gemacht haben, dass zahlreiche andere Organisationsformen und Einflussfaktoren eine Rolle in denjenigen Handelsstrukturen spielten, auf welche die Ostindienkompanien im Zuge ihrer Expansion stießen. Einerseits waren die Organisationsformen asiatischen Handels weitaus vielfältiger, als es der Begriff „pedlar trade“ vermuten lässt. Die indischen Chettiar bildeten umfassende Finanznetzwerke in Asien aus, 54 Armenier oder jemenitische Hadrami operierten in weitgespannten Handelsnetzen, 55 und große chinesische Kaufmannshäuser von der Südküste des Kaiserreichs spielten eine zentrale Rolle in Südostasien. 56 Andererseits müssen auch und gerade im Zusammenhang mit den Ostindienkompanien die Rahmenbedingungen zumindest gleichberechtigt einbezogen werden - Herrscher, die ihre regionalen Märkte steuern konnten, Mittelsleute, auf die auswärtige Händler angewiesen waren, oder Produktionsverhältnisse, auf die Europäer keinen Einfluss nehmen konnten. Eine einseitige Konzentration auf das militärische Potenzial der VOC, wie sie bei Steensgaard durchscheint, führt in diesem Zusammenhang in eine Sackgasse, zumal dieses je nach Stützpunkt sehr unterschiedlich ausfiel. Mehr als von einer kontinuierlichen Unterwerfung der asiatischen Handelswelt unter europäische Vorherrschaft muss von einer Anpassung an bestehende Bedingungen und Beteiligung an bestehenden Märkten die Rede sein, mehr als von konsequenter Monopolpolitik von einem breiten Spektrum 53 Die Vorstellung vom asiatischen Handel als weitgehend statischem „pedlar trade“ geht zurück auf J OB C. VAN L EUR , Indonesian Trade and Society. Essays in Asian Social and Economic History, Den Haag 1955. 54 H ANS -D IETER E VERS , Chettiar Moneylenders in Southeast Asia, in: Asian Merchants and Businessmen in the Indian Ocean and the China Sea, D ENYS L OMBARD / J EAN A UBIN (Hrsg.), Oxford 2000, 197-221; H EIKO S CHRADER , A Comprehensive Analysis of Chettiar Finance in Colonial Asia, Bielefeld 1994. 55 M ICHEL A GHASSIAN / K ÉRAM K ÉVONIAN , Armenian Trade in the Indian Ocean in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: L OMBARD / A UBIN , Asian Merchants and Businessmen (wie Anm. 54), 154-177; R ONALD W. F ERRIER , The Armenians and the East India Company in the Seventeenth and Early Eigteenth Centuries, in: Economic History Review, Second Series 26 (1973), 38-62. U LRIKE F REITAG , Arabische Buddenbrooks in Singapur, in: Historische Anthropologie 11 (2003), 208-223; R OBERT B. S ERJEANT , The Hadrami Network, in: L OMBARD / A UBIN , Asian Merchants and Businessmen (wie Anm. 54), 145-153. 56 N G C HIN K EONG , Trade and Society. The Amoy Network on the China Coast, 1683-1735, Singapore 1983. <?page no="96"?> Usurpatoren und Pragmatiker 97 strategischer Vorgehensweisen. Vor diesem Hintergrund kann eine Typologie der in den zweihundert Jahren VOC-Geschichte zu beobachtenden Strategien, wie sie in diesem Beitrag skizziert werden, ein nützliches Instrument darstellen, um jenseits des Mythos der Monopolgesellschaft die konkrete Phänomenologie vorkolonialen europäischen Handels in Asien zu erfassen. Ohne jeden Zweifel bewirkte die Marktteilnahme der „institutionellen Innovation“ Ostindienkompanie tiefgreifende Veränderungen, ob im Malaiischen Archipel oder auf dem indischen Subkontinent, im Persischen Golf oder im südchinesischen Meer, ja langfristig sogar im isolierten Japan. Sie entstanden jedoch aus einer komplexen Wechselbeziehung, die je nach lokalen Rahmenbedingungen und strategischen Zielen unterschiedliche Formen annehmen konnte. Diesen gilt es in der empirischen Forschung gerecht zu werden, um die Stärke der VOC nicht einfach nur auf die Zahl der eingesetzten Kanonen zurückzuführen. Anhang: Übersicht der Typologie der Strategien der VOC 1. Einzelfahrt singuläre Marktteilnahme Vorkompanien Fahrten der VOC vor der Gründung eines asiatischen Hauptquartiers 2. Eroberung Okkupation Destruktion vor allem im molukkischen Gewürzhandel Okkupation von Produktionsstätten (Banda, Ambon) und Umschlagplätzen (Malakka, Makassar, Banten) Destruktion der ursprünglichen Rolle von Emporien a. privilegierte Marktteilnahme kontinuierliche Marktbeherrschung durch Vorrang- oder Monopolverträge mit den lokalen Herrschern (Ternate, Tidore, Banjarmasin in der Endphase, Mocha) b. offene Marktteilnahme Konkurrenzsituation, VOC als gleichberechtigter Marktteilnehmer unter vielen, häufig Zuteilungsquoten durch die lokalen Herrscher (Makassar und Banten vor der Eroberung, Banjarmasin, die meisten indischen Hafenstädte, Bandar Abbas) 3. Faktoreimodell kontinuierliche Marktteilnahme c. marginalisierte Marktteilnahme vertraglich fixierter selektiver Marktzugang unter starker Kontrol- <?page no="97"?> Jürgen G. Nagel 98 le der lokalen Herrscher, Strategie zur Sicherung eines minimalen Zuganges zu isolierten Märkten (Japan, China) a. turnusmäßige Marktteilnahme mit temporärer Marktbeherrschung Höchstpreispolitik („Aufkaufen des Marktes“), Strategie zur Bekämpfung vor allem europäischer Konkurrenten (teilweise Makassar 1640er und 1650er Jahre, Textilhandel, Pfefferhandel) b. turnusmäßige Marktteilnahme in Konkurrenzsituation Alternative zur Faktoreigründung bei zu kostenintensiver Ansiedlung, Faktorei in Reichweite (Banjarmasin im 17. Jahrhundert, einige indische Häfen) 4. Expeditionsmodell temporäre Marktteilnahme c. gelegentliche oder zufällige Marktteilnahme Mitnahmeeffekte bei günstiger Gelegenheit (Häfen auf dem südostasiatischen Festland) 5. politische Strategien unterstützende Strategie Bündnispolitik Partizipation an regionalen/ lokalen Konflikten Bündnisse mit Inselfürsten im Malaiischen Archipel oder indischen Rajas Nutzung von dynastischen Auseinandersetzungen (Banjarmasin) oder Widerstandsbewegungen (Bugis gegen Makassar) a. Eliminierung nicht-kontrollierter Produktionsmöglichkeiten vor allem Vernichtung von Gewürzkulturen (exstirpatiën) b. Eliminierung unerwünschter Konkurrenz als nachgeordnete Strategie vor allem gegen indigene „illegale“ Händler, Strafexpeditionen (krijstochten) c. Kontrolle indigener Handelsverbindungen kontinuierliche Patrouillen 6. Absicherungsstrategien nachgeordnete Strategien d. Kooperation Bündnispartner werden in die Pflicht genommen, die Prohibitionen der VOC in die Tat umzusetzen und zu kontrollieren, exstirpatiën und krijstochten durchzuführen sowie niederländische Kontrollsysteme einzuführen <?page no="98"?> Der Standort Göteborg 1649-1700. Eine Fallstudie zum Fern-, Regional- und Lokalhandel in Schweden auf der Grundlage der Tolags- und Handelsjournale 1 Christina Dalhede Am nördlichen Flussufer des Göta Älv lagen die Göteborger Werften, wo 1976 das letzte Schiff vom Stapel lief. Bei der ehemaligen Werft Eriksberg befinden sich die Gebäude, in denen das Ostindienschiff Götheborg nachgebaut wurde. Im Jahre 1745 war dieses Schiff, das der 1731 gegründeten Schwedischen Ostindischen Compagnie gehörte, mit wertvollen ostindischen Waren an Bord bei der Einfahrt in den Göteborger Hafen untergegangen. Die Lagerhalle der Ostindischen Compagnie am südlichen Flussufer Göta Älvs ist heute noch erhalten und beherbergt seit Jahren ein berühmtes Fischrestaurant mit dem Namen „Sjömagasinet“. In einem zweiten Compagniegebäude, dem so genannten Ostindischen Haus am Stora Hamnkanalen (Grossen Hafenkanal), befindet sich heute das Göteborger Stadtmuseum (Nr. 3 auf Abb. 1). In den 1980er Jahren wurden ein Ostindischer Compagnie-Verein und eine Schwedische Ostindische Compagnie neu gegründet mit dem Ziel, einen Nachbau des Schiffes Götheborg durchzuführen. Nach vielen Bemühungen ist der Nachbau mittlerweile fertig gestelt. Am 6. Juni 2003 fand der Stapellauf statt, und im Sommer 2004 wurde die Götheborg nach einer Probefahrt zum Südufer am Lilla Bommen (der so genannten Kleinen Schranke) von Königin Silvia getauft. Vom Lilla Bommen aus segelten früher mit Eisen aus Värmland beladene Kleinboote durch den Kanal in die Stadt hinein zur Järnvågen (Eisenwaage) im Brunnsparken (Brunnenpark). Im Frühjahr 2005 1 Erweiterte Fassung eines Vortrages auf der Tagung „Praktiken des lokalen und regionalen Handels“ des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Kloster Irsee, 18.-20. März 2005. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Der Aufsatz baut vor allem auf Untersuchungen und Ergebnissen im Rahmen meines Projektes „Handelsfamilien auf dem Europäischen Markt der frühen Neuzeit“ auf, das ich seit 1994 am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Göteborg leite. Teilergebnisse des Projektes wurden inzwischen in mehreren Aufsätzen und Büchern auf Schwedisch und Deutsch veröffentlicht, zum Beispiel in: C HRISTINA D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 1-3. Resor och Resande i internationella förbindelser och kulturella intressen. Augsburg, Antwerpen, Lübeck, Göteborg och Arboga, Partille / Göteborg 2001, mit einer deutschen Zusammenfassung und einem englischen Abstract; D IES ., Tolagsjournaler under tidigmodern tid i Göteborg. Källmaterial och möjligheter. Projektrapporter Göteborg och Europa 1600-1800. Nr. 1, Göteborg 2005; mit einem englischen Abstract; D IES ., Tidigmoderna handelsböcker i svenska städer. Källmaterial och möjligheter. Projektrapporter Göteborg och Europa 1600-1800. Nr. 2, Göteborg 2008, mit einem englischen Abstract. <?page no="99"?> Christina Dalhede 100 Abb. 1: Stora Hamnen in Göteborg im 18. Jahrhundert. Fotobearbeitung: Allan Dalhede, Göteborg. fanden Probefahrten der Götheborg statt. Im Herbst segelte das Schiff in Richtung China ab und erreichte im November 2005 das spanische Cádiz. Ziel meines Aufsatzes ist es erstens, zum Thema „Praktiken des Handels“ einen Überblick zu einem wenig bekannten Abschnitt der Handelsgeschichte Schwedens beizusteuern, und zweitens, auf Grundlage der Quellengattungen der Tolags- und Handelsjournalen neue Perspektiven auf die Handelsgeschichte Göteborgs, der zweitgrößten Stadt Schwedens, aufzuzeigen. Betrachtet wird dabei der Zeitraum von 1649-1700, also die Zeitspanne zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und dem Beginn des Großen Nordischen Krieges zwischen den Ostseemächten (1700-1721). Die für diese Periode fast lückenlos erhaltenen Tolagsjournale sind die Hauptquelle für eine Untersuchung des Göteborger Handels. Der Beitrag gliedert sich in einen einführenden Abschnitt über Städtegründungen in Schweden im 17. Jahrhundert, gefolgt von Abschnitten über die Infrastruktur, die Organisation des Handels, die zentralen Quellengattungen, die Praktiken im Bereich des Fern-, Regional- und Lokalhandels sowie eine Zusammenfassung und Schlussbemerkungen. Dabei werden folgende Fragen untersucht werden: Was waren die wichtigsten Städtegründungen in Schweden im 17. Jahrhundert? Auf welche infrastrukturellen Voraussetzungen konnte zurückgegriffen werden und wie war der Handel organisiert? Was waren die wichtigsten Einnahmen der schwedischen Städte und in welchen Quellengattungen sind diese dokumentiert? Welche Ergeb- <?page no="100"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 101 nisse erbringt die Untersuchung dieser Quellen zur Frage nach den Praktiken im Fern-, Regional- und Lokalhandel in Göteborg? Der Begriff Fernhandel wird hier als Außenhandel definiert. 2 Im Falle Schwedens wurde dieser meistens als Seehandel durchgeführt. Am Fernhandel beteiligt waren - außer der Krone - vor allem Kaufleute, Kapitäne, Seeleute, Handwerker und deren Familien, ferner Beamte und Adelige. Der Begriff Regionalhandel ist hier als Binnenhandel zu verstehen und beschränkt sich geographisch auf einen Radius zwischen 30 und 600 km. Die Teilnehmer am schwedischen Regionalhandel waren neben der Krone vor allem die Bergleute, Bergwerksbesitzer, Bauern, Köhler, Kaufleute und die Kirche. Der Begriff Lokalhandel wird hier ebenfalls geographisch definiert und umfasst einen Radius von bis zu 30 km. Dazu gehören das Umland der Stadt, die Küstenfahrt, die Landerier (Landgüter der Städte und gewisser Stadtbewohner) und die Nachbarstädte. Teilnehmer am schwedischen Lokalhandel waren vor allem die städtische Bevölkerung, die Landbevölkerung und die Garnison. 1. Einführung: Städtegründungen in Schweden im 17. Jahrhundert Die Stadt Göteborg entstand etwa 125 Jahre vor dem Unglück des Schiffes Götheborg: sie wurde 1620 gegründet und im folgenden Jahr offiziell eingeweiht. Ihren Namen erhielt sie von ihrem Gründer, König Gustav II. Adolf (Gustavus Adolphus). Um den Göta Älv-Fluss gab es im 16. Jahrhundert bereits drei Städte: Älvsborgs stad - am königlichen Schloss Älvsborg, das heißt schräg gegenüber dem Ort gelegen, an dem der Ostindienfahrer nachgebaut wurde -, Nya Lödöse am Säveån, etwa fünf Kilometer nördlich von der Stelle am Lilla Bommen, wo das Ostindienschiff getauft wurde, und Gamla Lödöse, etwa 40 Kilometer nördlich des heutigen Göteborg gelegen. Jedoch wurde Älvsborg von den Dänen erobert, und das alte Lödöse war zu weit nördlich am Göta Älv-Ufer gelegen, um im 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen zu können. Das neue Lödöse am Säveån erwies sich als Standpunkt für größere Handelsaktivitäten als ungeeignet, obwohl ursprünglich daran gedacht war, dort einen Großhafen zu entrichten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte König Karl IX. bereits eine erste Stadt Göteborg am nördlichen Ufer nahe der Flussmündung, an der Königs- 2 D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2 (wie Anm. 1), 453-457. In Bezug auf geographische Kontaktnetze wird dort der Begriff „territoriella fjärrområdesradien 600 km“ [Territorialer Ferngebietsradius 600 km] bzw. der Begriff „territoriella närhetsrområdesradien på 30 km från undersökningsorten“ [territorialer Nahgebietsradius bis 30 km um den untersuchten Ort] verwendet. <?page no="101"?> Christina Dalhede 102 straße gegründet, wo das Ostindienschiff nachgebaut wurde. Die Stadt Karls IX. wurde von Deutschen und Holländern besiedelt, die auch den Fernhandel aufnahmen. Ihre Schiffe segelten schon 1607 durch den Öresund. 3 Diese Stadt war aber an der Grenze nach Bohuslän angelegt worden, wo die Dänen die Herrschaft ausübten. Bereits 1611 schlugen die Dänen zu, eroberten das umliegende Land und zerstörten Nya Lödöse sowie das neu gegründete Göteborg. Mehreren Einwohnern war es jedoch gelungen, in andere Ortschaften und Städte in der Umgebung zu fliehen. Mit der Neugründung an der Stelle des heutigen Göteborg war von Anfang an die Hoffnung verbunden, dass die Stadt sich zu einem wichtigen Standort des schwedischen Handels entwickeln sollte. Göteborg wurde planmäßig angelegt und hat sich nicht um einen alten Marktort herum entwickelt. Eine günstige wirtschaftliche Entwicklung in Westschweden sollte - nach der Konzeption der Stadtgründer - auch zu einer gedeihlichen politischen Entwicklung führen. 4 Die neue Stadt war besser geschützt als ihre Vorgängerin und hatte ein größeres Entwicklungspotential. Die wichtigen Beziehungen nach Westeuropa konnten somit von einem gesicherten und geographisch günstig gelegenen Ort aus, an dem sich zahlreiche Einwanderer niederließen, gepflegt werden. Allen ehemaligen Bürgern von Nya Lödöse und dem Göteborg Karls IX. sowie anderen Einheimischen und Fremden wurde ungeachtet ihrer nationalen Herkunft erlaubt, sich in Gustav Adolfs Göteborg zu etablieren. 5 Sie durften dort ihre „bürgerliche Nahrung“ suchen und alle Freiheiten und Rechte genießen, die im schwedischen Grundgesetz und in den Handelsordonantien festgeschrieben waren. Diese Neuordnung wurde damit begründet, dass die geographische Lage der alten Städte ein weiteres demographisches Wachstum eher behindern als fördern würde. Die Krone gewährte Göteborg 18 Freiheitsjahre, in denen die Einwohner von Steuern, Zöllen und anderen Abgaben befreit waren. Die Stadtprivilegien von Nya Lödöse wurden hingegen widerrufen. Die Gründung Göteborgs war ihrerseits Teil einer größeren Welle von Städtegründungen im 17. Jahrhundert. Über 30 Städte wurden in Schweden-Finnland zwischen 1612 und 1680 neu gegründet, 6 darunter waren neun westschwedische Städte: neben Göteborg auch Alingsås, Borås, Strömstad, Vänersborg, Åmål, Kristinehamn, Askersund und Gränna. Die meisten Gründungen lagen auf dem 3 C HRISTINA D ALHEDE , Tyskarnas, nederländarnas, holländarnas och skottarnas Göteborg. Om utländska bidrag till Karl IXs och Gustav Adolfs Göteborg, in: Göteborg Förr och Nu. Göteborgs Hembygdsförbunds Skriftserie XXVII (1998), 25-44, hier 31. Zu den Sundzollrechnungen ist eine dänische und englische Anthologie, herausgeben von Ole Degn in Vorbereitung. 4 D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 1 (wie Anm. 1), 73-82. 5 D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 1 (wie Anm. 1), 79-82. 6 Atlas till historien, Esselte Studium, B ENGT Y. G USTAFSON (Hrsg.), o. O., o. J., 29. <?page no="102"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 103 Territorium des heutigen Schweden. Dabei spielten strategische Überlegungen eine wichtige Rolle: So wurde Göteborg am südlichen Ufer des Göta Älv angelegt, mit zahlreichen Kanälen und sukzessive auch mit Befestigungen und Garnisonen versehen. Hier entstand ein Zentrum für den westschwedischen Export- und Importhandel, das sich auch für westeuropäische Einwanderer öffnete und überdies gut geschützt vor dem Feind Dänemark lag. Nach den Worten des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna handelte es sich - frei ins Deutsche übersetzt - um eine Stadt, die „den Dänen wie ein Dorn im Auge war, welche fleißig alle Mittel benutzten, um die Stadt ins Abseits zu stellen und die Wirtschaft zu verderben.“ 7 Durch die Konzentration auf das politisch und wirtschaftlich Machbare wurden die Voraussetzungen für die weitere Wirtschaftsentwicklung Schwedens geschaffen. Dies geschah durch die intensive Nutzung von Ressourcen und den Export von Rohwaren und verarbeiteten Produkten nach Westeuropa. Gleichzeitig wurden über Göteborg die für den schwedischen Markt wichtigen Waren eingeführt. Die Stadt Göteborg, ihr Umland und ihr weiteres Hinterland in Värmland und Dalsland entwickelten sich zum Zentrum der westschwedischen Region. Wie geplant, sollte Göteborg im Laufe der Zeit zum größten Stapelplatz Schwedens aufsteigen. 2. Die Infrastruktur Wichtige Aspekte der Infrastruktur Schwedens waren die Ausbildung der Bevölkerung, die Rohstoffvorkommen, die Energieressourcen sowie das Verkehrsnetz. In den Städten wurde der Schulunterricht vor allem von den Kirchengemeinden organisiert. Dies war auch bei den Deutschen Gemeinden in Stockholm und Göteborg der Fall. Ausländische Kaufmannsfamilien und adelige Familien hatten häufig Privatlehrer für ihre Kinder. Beispielsweise arbeitete der Augsburger Webersohn Anthon Laymarius in Göteborg zunächst als Hauslehrer bei der Kaufmannsfamilie Elers. Die Kinder der Familien, die in den Bergwerken des niederländischen Unternehmers Louis De Geer arbeiteten, wurden seit 1635 von deutschen und holländischen Schulmeistern unterrichtet. Im Zentrum des Unterrichts stand die religiöse Unterweisung nach der Augsburger Confession. Eine weiterführende Bildung ermöglichten die beiden Universitäten in Uppsala und Lund im schwedischen Kernland; von dort aus zogen viele Studenten ins Ausland weiter. Wichtig für die Entwicklung der neu gegründeten Städte war außerdem die öffentliche Bautätigkeit. Im Laufe des 17. Jahrhunderts entstanden Kirchen, 7 E LI F. H ECKSCHER , Sveriges Ekonomiska Historia från Gustav Vasa. Första delen. Före Frihetstiden. Andra boken, Stockholm 1936, 386-389, 550-558. <?page no="103"?> Christina Dalhede 104 Krankenhäuser bzw. Spitäler, Packhäuser, Schlachthäuser, Hafen- und Befestigungsanlagen. Händler und Reisende fanden in einer Reihe von Gasthäusern und Herbergen Unterkunft. 8 Die zahlreichen Seen und Flüsse wurden sowohl für den Warentransport als auch für die Energiegewinnung in der gewerblichen Produktion genutzt. Vor allem im Göteborger Umland, entlang des Göta Älv und des Mölndalsån sowie bei Vänersee, im Hinterland in Dalsland und Värmland, und bei Vättersee in Västergötland und Småland gab es reichlich Möglichkeiten zur Nutzung der Wasserkraft. Dadurch erhielt auch der Lokal- und Regionalhandel Impulse. Was das Straßen- und Wegenetz betrifft, waren vor allem die guten Winterwege in Westschweden ein wichtiger Konkurrenzvorteil. 9 Die Karte in Abbildung 2 veranschaulicht, welche Haupt- und Landstraßen im 17. Jahrhundert existierten. Die wichtigen Knotenpunkte des Lokal- und Regionalhandels sind markiert. Nördlich der oberen Reihe der Knotenpunkte befindet sich das so genannte Bergslagsgebiet. Von dort aus wurde das Eisen über die markierten Verteilerzentren ausgeführt. Nördlich und südlich des Vänersees wurden Kristinehamn und Vänersborg gegründet. Diese Gemeinden im Göteborger Hinterland entwickelten sich zu regionalen Zentren des Handels mit Eisen und Holzwaren aus Värmland und Dalsland. In den neu gegründeten Städten Alingsås und Borås konzentrierte sich der Absatz der landwirtschaftlichen Erzeugnisse Västergötlands. 3. Die Organisation des Handels: Uppstäder und stapelstäder Im Allgemeinen wurde in Schweden zwischen zwei Stadttypen, uppstad und stapelstad, nach ihren Handelsfunktionen streng unterschieden. Auf dem Land durfte im 17. Jahrhundert prinzipiell kein Handel getrieben werden. Sämtlicher Handelsverkehr musste in den Städten getätigt und geregelt werden. Die verbotenen so genannten Landkäufe wurden mit hohen Bußgeldern bestraft. Waren wie Eisen wurden an den Bergwerken nach dem schweren Berggewicht gewogen und zum Beispiel nach Karlstad, Kristinehamn, Örebro, Arboga und Västerås geführt. Solche Städte wurden uppstäder genannt; sie durften keinen Direkthandel mit dem Ausland betreiben. Dort wurde das Eisen wieder gewogen, diesmal nach Uppstads-Gewicht. Das Berggewicht war 4,8 Prozent schwerer als das Uppstads-Gewicht. Die Waren wurden anschließend zu Schuten oder Schiffen getragen oder mit Saumtie- 8 Hierzu auch B ERTIL A NDERSSON , Från fästningsstad till handelsstad 1619-1820. Göteborgs historia. Näringsliv och samhällsutveckling I, Göteborg 1996, 37-49. 9 Zum Straßennetz vgl. vor allem H ECKSCHER , Sveriges Ekonomiska Historia från Gustav Vasa (wie Anm. 7), 533-550. <?page no="104"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 105 Abb. 2: Haupt- und Landstraßen in Schweden in den 1680er Jahren. Bearbeitung nach Eli F. Heckscher. 10 ren weitertransportiert, danach auf Schiffe umgeladen und entweder über den Vänersee nach Vänersborg oder über den Mälarsee nach Stockholm verschifft. Dort wurden sie erneut umgeladen. Im Falle Westschwedens wurden die Waren ein Stück über Land geführt, wieder umgeladen und zum Lilla Edet transportiert. Danach ging die Reise auf dem Göta Älv nach Göteborg weiter. Die Stadt war einer der wichtigsten Stapelplätze Schwedens, die Direkthandel mit dem Ausland betreiben durften. Daneben hatte sie eine wichtige Funktion als Empfängerin und Verteilerzentrum von Waren in der ganzen westschwedischen Region. Am Lilla Edet, wo die Waren an Bord der 10 H ECKSCHER , Sveriges Ekonomiska Historia från Gustav Vasa (wie Anm. 7), 538-539. <?page no="105"?> Christina Dalhede 106 Schuten gebracht wurden, gab es eine Schleuse. Dort wurden alle Schiffer, die den Göta Älv auf- und abwärts fuhren, registriert, weil sie für die Passage zahlen mussten. Dieses Register ist noch vorhanden, und wir wissen dadurch, welche Schiffer und Waren dort passierten. 11 Wir erhalten hin und wieder auch Auskünfte über die Absender und Empfänger der Waren. In der Stapelstadt Göteborg wurden die Waren an der Eisenwaage nach Stapelstadtgewicht gewogen. Das Uppstads-Gewicht war 5 Prozent schwerer als das Stapelstadtgewicht. Diese Gewichtsunterschiede sollten die Transportkosten ausgleichen. Danach konnten die Waren entweder im Packhaus gelagert oder auf dem städtischen Markt vom Besitzer verkauft werden. Die meisten Güter waren für den Export bestimmt; sie wurden in größere Wasserfahrzeuge umgeladen und ins Ausland verschickt. Über alle diese Phasen des Handelsverkehrs wurden von den dafür beauftragten Beamten Aufzeichnungen angefertigt. Dabei wurde jeweils das erhobene Ungeld bzw. die Zollgebühr protokolliert. Die Abgaben mussten die Händler bar bezahlen. Die Akzise auf bestimmte Waren wie Getreide, Wein, Salz und Malz war von den Käufern zu entrichten. Die wichtigste Einnahmequelle der Städte waren die Zölle, für Göteborg insbesondere der Tolag. Die Quellengattungen, die auf dieser Grundlage entstanden und über den Göteborger Handel die besten Informationen liefern, werden im Folgenden vorgestellt. 4. Quellen zum Göteborger Handel: Tolags- und Handelsjournale Im Handel mit dem Ausland wurden gesonderte Zollsätze erhoben. Der Hohe Seezoll entfiel auf alle Waren, die auf dem Seeweg transportiert wurden. Der Tolag (Zusatzzoll) wurde in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes von den meisten Waren erhoben. Allerdings durften die Beamten keine Zulage auf Stapelwaren erheben, ehe diese verkauft waren. Die eingeführten Waren wurden innerhalb der Stapelstadt selbst, in den umliegenden Orten, innerhalb der Region sowie in den im weiteren Hinterland gelegenen uppstäder verkauft. Die Kaufleute und Faktoren in den Stapelstädten spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie verfügten über eine effektive Handelsorganisation und die geeigneten Verkehrsmittel. Die Kaufleute in den uppstäderna und bei den Bergwerken waren mit Kaufleuten in den Stapelstädten Göteborg und Stockholm über Kreditbeziehungen verbunden und häufig von 11 Landsarkivet i Göteborg (GLA), Göteborgs Drätselkammare, Stadens räkenskaper, Huvudräkenskaper, Lilla Edets sluss 1638-1700, Nr. 799-889. D ALHEDE , Tolagsjournaler under tidigmodern tid i Göteborg (wie Anm. 1), 30, 47-52. Zur Entwicklung der Sägewerke bei Lilla Edet und in Göteborg, siehe H ELGE A LMQUIST , Göteborgs historia. Grundläggningen och de första hundra åren. Förra delen. Från grundläggningen till Enväldet (1619-1680), Göteborg 1929, 194-197, 204-207. <?page no="106"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 107 ihnen abhängig. Die Händler in den Stapelstädten nahmen ihrerseits oft Kredite im Ausland auf. Schon Arthur Attman, der erste Inhaber des Lehrstuhls für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Göteborg, hat dem schwedischen Tolagsmaterial (Zulagematerial) einen hohen Quellenwert beigemessen; dies gilt auch für Ivan Lind im Falle Göteborgs, Oscar Bjurling im Falle Schonens, Ahasver von Brandt für die Beziehungen zwischen Schweden und Lübeck sowie Bertil Boëthius und Eli F. Heckscher für ganz Schweden. 12 Die beiden letztgenannten Autoren machten auf die schwedischen Bestände aufmerksam, weil sie sich eine vollständige Bearbeitung des umfangreichen Materials wünschten. 13 Die Wert der Tolagsjournale für die Handels- und Schifffahrtsgeschichte ist zwar nicht unumstritten. Unter Berücksichtigung gewisser quellenkritischer Betrachtungen erbringt eine vollständige Bearbeitung der jährlichen Serien der Tolagsjournale für die Frühe Neuzeit auf jeden Fall die besten und zuverlässigsten Ergebnisse zur Handelstätigkeit Göteborgs und den Handelsbeziehungen der Stadt, da sie mit einzelnen Lücken von 1638 bis 1856 erhalten sind. Für andere Stapelstädte liegt kein vergleichbares Material vor. Diese Auswertung der Göteborger Tolagsjournale wurde jedoch vor meiner eigenen Untersuchung nur teilweise durchgeführt, da sie sich sehr aufwändig gestaltet. 14 Kaufmannsbücher hingegen sind vor 1750 in Schweden nur vereinzelt überliefert. Sofern überhaupt vorhanden, finden sie sich vor allem in Beständen zu Firmenkonkursen, denn Firmen gingen wegen schlecht laufender Geschäfte immer wieder bankrott. In Stockholm gibt es zwei Handelsarchive aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die 1650 einsetzende Momma- Reenstierna-Sammlung mit Brief- und Schuldbüchern im Reichsarchiv und die um 1700 datierenden Suck-Pauli-Rechnungen im Stadtarchiv. 15 In Göteborg liegen Sibrant Valcks Handelsjournal von 1666 bis 1676 und Johan Zanders fünf Handelsbücher der Jahre 1713 bis 1721 vor. Sie befinden sich im Archiv des Handelshauses Ekman & Co. 16 Diese Welthandelsfirma hat 12 I VAN L IND , Göteborgs handel och sjöfart 1637-1920. Historisk-statistisk översikt, Göteborg 1923; O SCAR B JURLING , Skånes utrikessjöfart 1660-1720. En studie i Skånes handelssjöfart, Lund 1945. A HASVER VON B RANDT , Der Seehandel zwischen Schweden und Lübeck gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Ostseeschiffahrt, in: Scandia. Tidskrift för historisk forskning 18 (1947), 33-72. 13 B ERTIL B OËTHIUS / E LI F. H ECKSCHER , Svensk handelsstatistik 1637-1737, Stockholm 1938, XX. 14 D ALHEDE , Tolagsjournaler under tidigmodern tid i Göteborg (wie Anm. 1), 45-54. 15 Die wenigen vorhandenen Journale und Hauptbücher Louis De Geers aus den 1640er Jahren sind im Leufstaarchiv im Riksarkivet i Stockholm (RA) aufbewahrt. Zum Bestand von Kaufmannsbüchern in Schweden 1600-1800 siehe D ALHEDE , Tidigmoderna handelsböcker i svenska städer (wie Anm. 1), 13-87. 16 GLA, Privatarkiv C6. <?page no="107"?> Christina Dalhede 108 ihren Hauptsitz in Göteborg und Nachkommen dieser Kaufmannsfamilie leben noch heute. Die Göteborger Tolags- und Handelsjournale werte ich im Rahmen meines Projekts zur Rolle der Kaufmannsfamilien auf dem europäischen Markt der Frühen Neuzeit aus. Die umfangreichen städtischen Rechnungen und Tolagsjournale in Göteborg sind dabei die Hauptquellen. Ferner wurden die vorhandenen Nachlassinventare der Kaufleute einbezogen. Dieses Projekt ist seit 1994 am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Göteborger Universität angesiedelt und hat bereits einige Veröffentlichungen erbracht. 17 Darin wird den internationalen Handelsbeziehungen und kulturellen Interessen von Handelsfamilien in Augsburg, Antwerpen, Lübeck, Göteborg und Arboga nachgegangen. Ich betrachte unterschiedliche Kontaktzonen und Kontaktebenen der Beziehungen dieser Familien untereinander sowie ihre Beziehungen zu Reedern und Schiffskapitänen. 18 Deswegen liefert das Projekt auch Aufschlüsse über die Schifffahrtsgeschichte verschiedener Hafenstädte. Der Handel mit wichtigen Stapelwaren wie Salz, Textilien, Häuten und Leder sowie der Import von Kulturgütern wie Büchern und Musikinstrumenten wurden untersucht. Göteborg war im 17. Jahrhundert der größte Ausfuhrhafen für Häute, Karduan und Leder und der größte Importeur von Salz in Schweden. Die Auswertung von zwei Handelsbüchern aus Göteborg und Lübeck aus den 1660er Jahren wird die derzeit vorliegenden Ergebnisse ergänzen. 19 Vor allem gilt dies für den Transfer von Waren und Wechselbriefen im Binnen- und Außenhandel. Göteborg stellt auch insofern einen Glücksfall dar, als die Handelsbeziehungen und die Warenpalette des Kaufmanns Sibrant Valck mit den Tolagsjournalen verglichen werden können. Das Lübecker Geschäftsbuch von Jeronimus Möller dokumentiert über einen Zeitraum von vier Jahren zahlreiche Handelsbeziehungen mit Schweden. Außerdem sind darin Geschäftspartner in Europa notiert, mit denen auch die Kaufmannsfamilien Göteborgs in Verbindung standen. Leider sind die Lübecker Zulagebücher nur noch spärlich vorhanden. Im Falle Jeronimus Möllers können wir das Geschäftsbuch jedoch durch Angaben aus dem schwedischen Kaufmannsarchiv der Momma-Reenstierna und den Tolagsjournalen von Nyköping und Stockholm ergänzen. 17 Unter anderem D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 1-3 (wie Anm.1) und D IES ., Tolagsjournaler under tidigmodern tid (wie Anm. 1). 18 D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 1 (wie Anm. 1), 13-21, 192-205; D IES ., Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2 (wie Anm. 1), 235-241, 258-332; D IES ., Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 3 (wie Anm. 1), Datenbank Resor och Resande (etwa 40.000 Einträge). 19 C HRISTINA D ALHEDE , Viner, Kvinnor, Kapital. En 1600-talshandel med potential? Fjärrhandelsfamiljerna Jeronimus Möller i Lübeck och Sibrant Valck i Göteborg. Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 4, Partille / Göteborg 2006 und D IES ., Varor & Familjer, Lübeck & Göteborg. Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 5, Partille / Göteborg 2006, CD-Rom. <?page no="108"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 109 Abb. 3: Tolagseinnahmen in Göteborg 1666. GLA, Göteborgs Drätselkammare, Stadens räkenskaper, Huvudräkenskaperna, Nr. 847. Foto: Allan Dalhede, Göteborg. <?page no="109"?> Christina Dalhede 110 Durch die Auswertung der Göteborger Tolagsjournale erhalten wir ein detailliertes Bild des Außenhandels der städtischen Kaufleute. So konnten die geographischen Kontaktnetze sämtlicher Kaufleute im Warenhandel, der nicht von Zoll und Zulage befreit war, dargestellt werden. Über Valcks Handelsjournal lassen sich zusätzliche Aspekte, vor allem des Fernhandels, aber auch des Regional- und Lokalhandels ermitteln. Die Buchhaltung Sibrant Valcks verzeichnete mindestens 1.100 Personen im Ausland wie in Schweden, mit denen auf unterschiedlichen Ebenen Geschäfte getätigt wurden. Dabei geht aus Valcks Journal explizit hervor, dass seine Ehefrau Maria Daelders und seine Schwester Margareta Valck-von Minden eigene Geschäftsbücher führten. Wie sind die Tolagsjournalen beschaffen und welche Informationen lassen sich auf ihrer Grundlage gewinnen? 20 Der Tolag war ein kommunaler Zusatzzoll auf Waren, die auf dem Seeweg aus- und eingeführt wurden, das heißt, er lag hauptsächlich auf den Gütern des Fernhandels. Er lässt sich vom staatlichen Hohen Seezoll dadurch unterscheiden, dass eine Stadt für ihre Unkosten mit Teilen des kommunalen Tolags entschädigt wurde. Die Krone Schwedens überließ also den einzelnen Städten Anteile der Zulage. Im Falle Göteborgs bekam die Stadt seit Ende der 1630er Jahre zwischen 25 und 50 Prozent des Tolags. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Tolag teilweise von der Lübecker Zulage, die zunächst für den Ausbau der Flüsse vorgesehen war. Wir erhalten im Falle Göteborgs und anderer schwedischer Städte damit Auskunft über den städtischen Teil des Tolags. Diese Abgabe wurde zunächst über ausländische Pächter eingezogen. Die Pächter zahlten der Stadt bzw. dem schwedischen Staat die verabredete Pachtsumme; etwaige Überschüsse stellten ihren Gewinn dar. Auch in Göteborg waren die ersten Pächter der Zölle Ausländer. Im Jahre 1638 ging der Göteborger Tolag wieder in den Zuständigkeitsbereich der Stadt über, die einen Beamten als Tolagsskrivare (Zulageschreiber) einsetzte. Ähnlich verlief die Entwicklung in Stockholm und anderen schwedischen Städten. 1638 war der städtische Buchhalter in Göteborg gleichzeitig Zulageschreiber. Erst nach 1648 wurde dafür ein separates Amt gegründet und ein Tolagsverwalter eingesetzt. In den Jahren 1649-1681 übte Ambiörn Erichßon dieses Amt aus, obwohl er zeitweilig auch das Amt des Stempelmeisters für importiertes Tuch, zum Beispiel schlesisches Leinen, Brixener Bombasin und Barchent, innehatte. Weil der Tolag eine wesentliche Einnahmequelle der Stadt bildete, kann man davon ausgehen, dass die Aufzeichnungen in den Tolagsjournalen mit großer Sorgfalt geführt wurden. Eventuelle Unterschlagungen wurden durch 20 D ALHEDE , Tolagsjournaler under tidigmodern tid i Göteborg (wie Anm. 1), 25-30. <?page no="110"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 111 strenge Kontrollen der Stadt Göteborg früh entdeckt. Alle zwei Jahre mussten außerdem die Unterlagen an die Kontrollbehörde in Stockholm geliefert werden, wo sie kontrolliert, revidiert und gegengezeichnet wurden. Eine Überprüfung der Unterlagen Ambiörn Erichßons bestätigt die Genauigkeit seiner Buchführung. 21 Eine Schwierigkeit mit den Informationen, die in den Tolagsjournalen enthalten sind, ergibt sich aus den Zollfreiheiten und -reduzierungen für bestimmte Personen oder Gruppen. Über ihre Tätigkeit ist dadurch nichts bekannt. Gewisse Zollfreiheiten waren zudem mit speziellen Waren verbunden und hingen mit der Größe und Art des Schiffes zusammen. Deswegen sollte man sich davor hüten, für Göteborg den Gesamtumfang des Handels allein auf der Grundlage der in den Tolagsjournalen notierten Beträge zu berechnen. Diese Summen geben die tatsächlichen Einnahmen der Stadt wieder, jedoch nicht das gesamte Handelsvolumen. Die Tolagsjournale erfassen auch nicht den „Warenverlust“ durch Schmuggel. Für das Jahr 1726 rechnete das Kommerskollegium damit, dass der Wert der geschmuggelten Importwaren eine ähnliche Größenordnung wie derjenige der verzollten Waren erreichte. 22 Doch trotz dieser Unzulänglichkeiten liefern die Tolagsjournale eine Fülle von nützlichen Informationen für die Handelsgeschichte. Im Falle Göteborgs geben sie grundsätzlich Auskunft über folgende Fakten: Jahr, Monat und Tag der Ankunft oder Abfahrt; Name des Schiffers; Herkunft des Schiffers; letzter Hafen oder Zielhafen der Waren; Typ, Art, Ladezahl, und Name des Schiffes; Namen der Teilhaber an der Ladung; Menge, Größe, Art, Preis/ Wert, und Herkunft der Waren; Kosten für Tolag und andere Ungelder wie Hafengebühr oder Rodertoll. Die Journale liefern zunächst Anhaltspunkte für die Datierung der Ankunft oder Abreise eines Schiffes, obwohl das Datum des Eintrags nicht automatisch mit dem Abfahrtstag gleichgesetzt werden kann. Ferner sind die Vor- und Familiennamen der Schiffer und ihre Heimatorte notiert. Der 21 Ihm folgten Johan Tÿman (1683) und Jacob Jürgensson (1684-1690). Jedoch sind einige der fehlenden Unterlagen aus den 1670er Jahren jetzt an das GLA, Göteborgs Drätselkammare, Stadens räkenskaper, Huvudräkenskaperna zurückgegeben worden oder sie sind im Kammararkivet (KA) in Stockholm aufbewahrt. Außerdem sind Zahlen über die Ausfuhr für die Jahre 1638 (ab 1. März), 1641, 1645 und 1646 im Landsarkivet zu finden. 1638 müssen diese Tolagsjournale von Casparsson geführt worden sein. Für das Jahr 1639 wissen wir, dass Jören Erichsson das Amt innehatte, ebenso 1646-1648. Obwohl in der früheren Forschung Gegenteiliges behauptet wurde, sind gewisse Bestände der staatlichen Stora Sjötulls-Rechnungen im GLA, Stora Sjötullkammaren in Göteborg vorhanden. Sie können einen wichtigen Beitrag als Vergleichsmaterial für auslaufende Schiffe in den Jahren 1667- 1670, 1674-1675, 1679, 1682-1683 und 1686 und für ankommende Schiffe in den Jahren 1672- 1674 liefern. Auch die Jahrgänge 1652 und 1661 über Ein- und Ausfuhren sind, wenn auch beschädigt, im Kammararkivet in Stockholm zu finden; D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2 (wie Anm. 1), 235-248; D IES ., Tolagsjournaler under tidigmodern tid i Göteborg (wie Anm. 1), 25-26. 22 L IND , Göteborgs handel och sjöfart 1637-1920 (wie Anm. 12), 22. <?page no="111"?> Christina Dalhede 112 Name des Schiffers ist meistens vollständig wiedergegeben, sein Heimatort hingegen nicht immer. Die Rubrik „Letzter Hafen“ gibt hin und wieder Auskünfte zum Herkunfts- und Zielort bzw. Herkunfts- und Zielland der Waren. Aufgrund der großen Sorgfalt der Aufzeichnungen ist es möglich, die Schiffsbewegungen und den Warenhandel von und nach Göteborg sowie die Reiserouten der Schiffe zu rekonstruieren. In den Journalen wird zwischen verschiedenen Schiffstypen unterschieden. In einzelnen Fällen ist auch die Zahl der Seeleute und Geschützpforten angegeben. Einige Schiffe sind mit Angaben zum Eigentümer, andere wiederum nur als ein fremdes Schiff notiert. In bestimmten Fällen enthalten die Unterlagen auch die Namen der Schiffe. Die Ladekapazität (Schiffslast) auslaufender Schiffe wurde von Anfang an verzeichnet, für einlaufende Schiffe wurde sie dagegen in der Regel erst ab 1660 erfasst. Ferner sind in den Tolagsjournalen die Teilhaber der Ladung (Besitzer, Befrachter) notiert. In den Waagegeldlisten, in denen Aufzeichnungen über bestimmte gewogene Waren wie Eisen und Kupfer festgehalten wurden, finden sich weitere Hinweise zu den Ladungseignern. Nur selten werden allerdings die Eigentümer der Schiffe genannt. Verzeichnet wurden schließlich Angaben über die Art der Waren, zum Beispiel Karduan, Juchten, Ochsen, Brixener Bombasin, Tuche, Papier, Safran, Pfeffer, Zucker, Salz, Stabeisen oder Waffen, denen sich meistens Mengenund/ oder Wertangaben anschließen. Auf dieser Basis ist es möglich, die Göteborger Kaufmannschaft und ihre in den Tolagsjournalen protokollierten Waren zu rekonstruieren. Der Zoll ist entweder nach der jeweiligen Ware angegeben oder als Pauschalsumme notiert. Ein Beispiel für die städtischen Einkünfte Göteborgs bietet die Zusammenstellung Ambiörn Erichßons aus dem Jahre 1666 in Abbildung 3, ein Beispiel für einzelne Schiffseingänge im Jahre 1675 die Abbildung 4. In diesem Jahr lief zum Beispiel Johan Buscher, ein im Ostseehandel sehr erfahrener Kapitän, mit seinem als fremdes Schiff unter der Nr. 60 verzeichneten Fahrzeug in den Göteborger Hafen ein. Buscher war in London zu Hause und brachte aus Riga für Gabriel Spalding, Hinrich Arfweßon und Johan von Minden Roggen, Flachs und Rigske botten mit. 23 Die Waren an Bord wogen insgesamt 37.087 Kilo, und sein Schiff hatte eine Ladekapazität von 15 Läster (Schwerlasten). Seine Güter gehörten zu den gewöhnlichen Importwaren aus dem östlichen Ostseeraum im 17. Jahrhundert. 23 GLA, Göteborgs Drätselkammare, Stadens räkenskaper, Huvudserien, Tolagsjournaler, Inkommande tolag 1675 Nr. 60. 1 Tonne Roggen wog etwa 0,1 Ton; L IND , Göteborgs handel och sjöfahrt 1637- 1920 (wie Anm. 12), 46; 1 Schiffspfund = 20 Liespfund = 20 lb Viktualiengewicht, das heißt 1 Schiffspfund V. = 170 Kilo, 1 Llb V. = 8,5 Kilo, 1 Lb V. = 0,425 Kilo. Für Metallgewicht 1 Schiffspfund M. = 136 Kilo. <?page no="112"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 113 Abb. 4: Einlaufende Schiffe in Göteborg im Jahre 1675, Nr. 60. GLA, Göteborgs Drätselkammare, Stadens räkenskaper, Huvudräkenskaperna. Foto: Allan Dalhede, Göteborg. 5. Handelspraktiken im Göteborger Fern-, Regional- und Lokalhandel. Ergebnisse aus den Göteborger Tolags- und Handelsjournalen Insgesamt ankerten 1675 100 einlaufende und 92 auslaufende Wasserfahrzeuge unterschiedlicher Art, zum Beispiel Schiffe, Gallioten und Schuten, in Göteborg. Das Frachtvolumen der ankommenden Schiffe betrug insgesamt 5.026 Läster, das der auslaufenden Schiffe 4.027 Läster. 19 Prozent der Wasserfahrzeuge kamen aus Häfen im südlichen und östlichen Ostseeraum. Insgesamt betrug der Anteil der Ostseehäfen, einschließlich der Häfen im heutigen Dänemark und Südschweden, 26 Prozent. Dies bedeutet, dass die Göteborger Fernhandelsbeziehungen viel stärker nach Westen und Südwesten hin orientiert waren. Das gesamte Frachtvolumen aus den Ostsee- und Dänemarkhäfen betrug für einlaufende Schiffe nur 468 Läster, für auslaufende sogar lediglich 234 Läster. Hinzu kommt, dass das Handelsvolumen im 17. Jahrhundert kriegsbedingt stark schwankte. In der Periode 1638-1700 bewegte sich das Schiffsaufkommen zwischen 57 einlaufenden Fahrzeugen im Kriegsjahr 1657 und 230 ankommenden Schiffen im Friedensjahr 1695. Bei den auslaufenden Schiffen lag die Spanne zwischen 44 und 237 Fahrzeugen in den Jahren 1645 bzw. 1695. Die Zahl der kleinen Boote, die ein- und ausfuhren, lag zwischen zehn und 378. Auch das Frachtvolumen der Schiffe und Schuten, die in den Tolagsjournalen notiert wurden, war sehr unterschiedlich: Es bewegte sich zwischen acht und 300 Lasten. Deswegen ist es nicht möglich, anhand der Zahl der Wasserfahrzeuge für wenige Jahre ein zutreffendes Bild <?page no="113"?> Christina Dalhede 114 Abb. 5: Ein- und auslaufende Wasserfahrzeuge in Göteborg 1638-1700. zu erhalten. Vielmehr muss man sich mit längeren Zeiträumen befassen. Die Gesamtzahlen zu den Teilnehmern am Göteborger Fernhandel sowie der Handelsbeziehungen zwischen 1638 und 1700 sahen folgendermaßen aus: bei 14.162 Schiffsbewegungen wurden 368 Häfen aufgesucht und außerdem 6.866 kleine küstennahe Boote registriert; es lassen sich 39.301 Teilhaber an den Warenladungen feststellen, und mindestens 5.794 Personen waren im Handel mit Waren und 2.747 Personen als Schiffer tätig. Tabelle 1 zeigt, dass Hamburg mit 24,5 Prozent aller dokumentierten Handelskontakte in der Periode 1638-1695 an erster Stelle lag. Mit knapp 20 Prozent lag Amsterdam an zweiter Stelle; London folgte mit etwas unter 10 Prozent. Der Abstand zwischen diesen drei Städten und den übrigen Handelspartnern Göteborgs war sehr groß. Im Vergleich dazu lagen in den Jahren 1696-1700 (Tabelle 2) die höchsten Prozentwerte einzelner Städte bei 8 bis 9 Prozent. Auch die Reihenfolge der Städte war nun eine ganz andere: London erscheint auf dem ersten Platz, gefolgt von Malmö und Hamburg. Im Laufe des 17. Jahrhunderts vollzog sich demnach eine geographische Schwerpunktverlagerung der Handelsbeziehungen. Während die Verbindungen nach Hamburg die ganze Zeit über sehr lebhaft waren, gingen die Kontakte nach Amsterdam in den 1690er Jahren stark zurück. Die Beziehungen nach London erlangten nun besonderes Gewicht. Dieses Bild erfuhr im 18. Jahrhundert weitere Veränderungen. <?page no="114"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 115 Rang Ausfuhr- und Rang Ausfuhr- und Nr. Zielhäfen Prozent Nr. Zielhäfen Prozent 1 Hamburg 24,50 … …. 2 Amsterdam 19,61 24 Kopenhagen 0,73 3 London 09,32 25 Greifswald 0,69 4 Stralsund 03,47 26 Rostock 0,57 5 Hull 03,09 27 Bergen 0,44 6 Lübeck 02,70 28 Spanien 0,40 7 Stockholm 01,83 29 Halmstad 0,40 8 Riga 01,80 30 Varberg 0,38 9 England 01,72 … … 10 Sardam 01,67 37 Norwegen 0,23 11 Malmö 01,61 … 12 Danzig 01,58 40 Marstrand 0,19 13 Schottland 01,45 … … 14 Portugal 01,39 49 Helsingør 0,15 15 Wismar 01,37 16 Aalborg 01,36 Tabelle 1: Handelskontakte zu Ausfuhr- und Zielhäfen 1638-1695. Quelle: D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2, (wie Anm. 1), 294-313, Tab. 25-28 mit den dortigen Anmerkungen. Rang Ausfuhr- und Rang Ausfuhr- und Nr. Zielhäfen Prozent Nr. Zielhäfen Prozent 1 London 9,09 17 Dünkirchen 1,46 2 Malmö 8,86 18 Rostock 1,32 3 Hamburg 8,49 19 Danzig 1,28 4 Gotland 6,07 20 Lübeck 1,23 5 Hull 4,89 21 Kopenhagen 1,05 6 England 4,47 22 Lissabon 0,96 7 Frankreich 4,06 … … 8 Newcastle 3,42 26 Wismar 0,91 9 Halland 3,38 27 Bergen 0,78 10 Amsterdam 3,33 28 Helsingør 0,78 11 Stralsund 3,01 … … 12 Stettin 2,28 Skagen 0,41 13 Greifswald 1,83 … … 14 Riga 1,78 Jylland 0,27 15 Schottland 1,74 … … 16 Aalborg 1,60 Norwegen 0,27 Tabelle 2: Handelskontakte zu Ausfuhr- und Zielhäfen 1696-1700. Quelle: D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2, (wie Anm. 1), 294-313, Tab. 25-28 mit den dortigen Anmerkungen. <?page no="115"?> Christina Dalhede 116 Sämtliche nachweisbaren Handelsbeziehungen Göteborgs im 17. Jahrhundert sind auf der Europakarte in Abb. 6 eingezeichnet. Die Karte zeigt eine weit reichende Handelstätigkeit und einen großen Aktionsradius der Göteborger Kaufmannsfamilien. Obwohl die Stadt erst in den 1620er Jahren gegründet wurde, praktizierten ihre Kaufmannsfamilien schon im 17. Jahrhundert Fernhandel mit ganz Europa und drangen bis in den Mittelmeerraum vor. Das gesamte europäische Handelsgebiet Göteborgs erstreckte sich über einen Umkreis von mehr als 3.000 km. Auch westindische und andere außereuropäische Häfen wurden in den Tolagsjournalen verzeichnet. Dabei waren die Kontakte natürlich nicht mit allen Häfen gleichermaßen intensiv. Abb. 6: Gesamtbild der geographischen Kontakte im Göteborger Seehandel des 17. Jahrhunderts. © Christina Dalhede, Göteborg 2006. Die Karte in Abbildung 6 gibt neben den Fernhandelsbeziehungen auch Aufschlüsse über den Göteborger Regional- und Lokalhandel im 17. Jahrhundert. Der Handelsverkehr entlang der Küste und mit Dänemark- <?page no="116"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 117 Norwegen spielte sich in einem Nahbereich von 300 km ab und wird insbesondere durch die Bootebücher sichtbar. Der Handel mit Dänemark und Norwegen ist angesichts der politischen Gegebenheiten allerdings als Außenhandel zu betrachten. Wenn wir uns den Aktivitäten ausgewählter Kaufmannsfamilien zuwenden, die Außenhandel mit dänischen und Binnenhandel mit westschwedischen Häfen trieben (Tabelle 3), gelangen wir zu folgendem Ergebnis. Zahl der Kontakte mit Häfen in: Familie Familien- Vorname Dänemark- West- Andere Summe Nr. name Norwegen Schweden Häfen 1 Adriansson Nils 006 01 0223 0230 2 Dreyer Mårthen 001 00 0110 0111 3 Dunth Gustaf 000 02 0143 0145 4 Eilkingh Hindrich, Junior 000 01 0031 0032 5 Eilkingh Hindrich, Senior 033 10 0694 0737 6 Eilkingh Ingebor 006 00 0062 0068 7 Eilkingh Johan 008 00 0146 0154 8 Elers Hering (! ) 001 00 0000 0001 9 Elers Johan 018 04 0251 0273 10 Lauterbach Jacob 001 01 0044 0046 11 Nilsson Swen 001 03 0007 0011 12 Nilsson Söffring 011 00 0157 0168 13 Thornton Maccabeus 016 22 0519 0557 14 Valck Johan Sibrantz 1689-1695 000 01 0033 034 15 Valck Maria 1684-1695 000 01 0035 036 Summe 102 46 2.455 2.603 Tabelle 3: Direkthandel ausgewählter Familien in Göteborg mit dänischen-norwegischen, westschwedischen und anderen Häfen 1638-1695. Quelle: D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 3, (wie Anm. 1), CD-Rom Datenbank Resor och Resande. Unter den dargestellten Kaufleuten hatte der deutschstämmige Hindrich Eilkingh Senior die intensivsten Handelsbeziehungen nach Dänemark und die meisten kommerziellen Kontakte insgesamt. Der Handel dieser Kaufleute bezog jedoch noch zahlreiche weitere europäische Häfen mit ein. Göteborger Kaufmannsfamilien mit Verbindungen zum Großunternehmer Louis De Geer und zu den Momma-Reenstierna waren stark im Eisen-, Häute- und Salzhandel engagiert. Zu den Geschäftspartnern de Geers gehörten Ollrich Steinkampf, die Gebrüder von Savelandt und Hans <?page no="117"?> Christina Dalhede 118 Macklier, zu den Kontaktleuten der Momma-Reenstierna sind Hindrich Eilkingh, Johan Elers und David Amia zu zählen. Für diese Personen und Familien lassen sich eigene Europakarten ihrer Handelsbeziehungen zeichnen; eine Karte, die Ollrich Steinkamps Handelskontakte zeigt, ist bereits veröffentlicht. 24 Die Familien Daelders-Valck und Valck-von Minden waren Teil eines Familienverbands, dessen geographische Netzwerke, Handelsbeziehungen und geschäftliche Aktivitäten ausführlich untersucht wurden. 25 Eine Untersuchung zweier Generationen dieses Kreises weist folgendes Bild auf: Abb. 7: Zahl der Handelsbeziehungen in einem Familienverband mit Interessen im Göteborger Hinterland und im Fernhandel 1638-1695: Die Valck-von Minden. Die erste Generation (A-C) hatte starke Interessen im Regionalhandel und unterhielt auswärtige Handelsbeziehungen vor allem mit Hamburg, Amsterdam und London. Die zweite Generation (D-K) verstärkte die kom- 24 Zu Ollrich Steinkampf siehe D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2 (wie Anm. 1), 341-363, 346, Karte 6, 470, Karte 10. 25 D ALHEDE , Viner, Kvinnor, Kapital (wie Anm. 19), Kapitel III, Bild 42; D IES ., Varor & Familjer, Lübeck & Göteborg (wie Anm. 19), Datenbank, Kapitel II, IV. <?page no="118"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 119 Abb. 8: Die Kaufmannsfamilie Maccabeus Thornton-Adelheit Sibrantsdotter Valck in Göteborg und ihre Importgüter in den 1690er Jahren (Auswahl). © Christina Dalhede, Göteborg 2006. merziellen Verbindungen mit deutschen Häfen wie Hamburg und Lübeck sowie mit britischen Häfen wie London, Hull, Newcastle und Stockton. Die Verbindungen nach Spanien, Portugal und Frankreich gewannen ebenfalls an Bedeutung, während die nach Amsterdam zwar fortgeführt wurden, aber rückläufig waren. Dieser Familienverband exportierte unter anderem Eisen, Holz (timmer), Häute, Pech und Teer und importierte Textilien, Salz, Wein, Gewürze und Getreide. Die Exportwaren Holz und Eisen wurden aus der Region Värmland im Göteborger Hinterland bezogen. Pech und Teer ließen die Valck-von Minden in Göteborg selbst am Teerhof erzeugen oder aus Finnland einführen. Textilien kamen aus 25 europäischen und drei außereu- <?page no="119"?> Christina Dalhede 120 ropäischen Herstellungsgebieten nach Göteborg. 26 Unter ihnen befanden sich Schottland, England, Spanien, Lille, Brügge, Antwerpen, Amsterdam, Hamburg, Lübeck, Mecklenburg, Pommern, Polen, Russland, Schlesien, Oberschwaben mit Augsburg, Ulm und Weissenhorn, Venedig, Verona, Syrien, Ostindien und Japan. Unter den Textilhändlern, die diesem Verband angehörten, war auch die Kaufmannsfamilie Maccabeus Thornton-Adelheit Sibrantsdotter Valck, Besitzer einer Textilmanufaktur und eine der reichsten Familien Göteborgs. Den vielfältigen Warenhandel dieser Familie in den 1690er Jahren dokumentieren Abb. 8 (Import) und Abb. 9 (Export). Textilien und Wolle importierten die Thornton-Valck meist aus England. Hering bezogen sie aus Dänemark und Salz aus Spanien und Portugal. Die Gesamteinfuhr Göteborgs an Hering und Salz (Tabelle 4) und Getreide (Tabelle 5) während des Zeitraums von 1649 bis 1750 ergibt folgendes Bild: Volle Tonnen Hering Volle Tonnen Salz aus allen davon aus von allen davon aus Ausgewählte Jahre Ländern Dänemark Norwegen Ländern Dänemark Norwegen 1649 2.862 0.151 0.000 17.783 03 00 1655 3.066 0.138 0.086 32.661 00 00 1661 0.183 0.000 0.000 15.755 00 00 1667 0.078 000.0 0.000 28.342 00 00 1672 0.075 0.000 0.000 18.256 00 00 1685 0.793 0.295 0.244 12.512 00 00 1690 1.006 0.650 0.165 12.489 00 00 1695 0.748 0.334 0.040 19.752 00 16 1720 1.422 0.749 0.280 13.061 00 00 1725 1.056 0.639 0.064 13.245 82 00 1730 1.908 1.860 0.000 27.410 00 00 1735 2.297 0.810 0.954 19.442 00 00 1740 5.228 1.249 3.403 10.801 00 00 1745 3.898 0.971 2.391 09.538 00 00 1750 3.701 0.555 2.520 15.976 00 00 Tabelle 4: Gesamteinfuhr von Hering und Salz nach Göteborg in Tonnen, ausgewählte Jahre 1649-1750. Quelle: L IND , Göteborgs handel och sjöfart 1637-1920 (wie Anm. 12). Für Göteborg war Hering aus Dänemark generell eine wichtige Importware. Das Salz hingegen, das unter 16 unterschiedlichen Bezeichnungen und in 26 D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2 (wie Anm. 1), 351-353, 352, Karte 8. <?page no="120"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 121 den Farben grau, schwarz und weiß gehandelt wurde, kam vor allem aus Frankreich, Spanien, Portugal und Lüneburg, aber auch aus Schottland, Norwegen und Wismar. 27 Die Bedeutung Dänemarks als Getreidelieferant nach Göteborg geht aus Tabelle 5 hervor. Der Außenhandel mit Dänemark beruhte vor allem auf der Einfuhr von Hering und Getreide. Ansonsten wurde vor allem Getreide aus den Ostseehäfen eingeführt. Ausgewählte Jahre Volle Tonnen Roggen Volle Tonnen Weizen Volle Tonnen Gerste und Hafer Volle Tonnen Malz aus allen Ländern davon aus Dänemark aus allen Ländern davon aus Dänemark aus allen Ländern davon aus Dänemark aus allen Ländern davon aus Dänemark 1649 7.602 0. 810 0.148 51 1.619 1.404 02.319 1.843 1655 2.368 0. 050 0.117 00 - - 02.216 0.334 1661 0. 006 0. 000 0.081 00 0.003 00.01 0.0085 000.0 1667 09.712 0. 000 0.260 00 0.176 0v0.0 10.169 000.0 1672 04.625 0. 182 0.212 00 0.132 0.132 04.366 0.216 1685 03.724 0. 000 0.351 00 0.326 000.0 05.370 000.0 1690 14.364 0. 000 0.437 00 3.085 000.0 05.896 000.0 1695 11.056 0. 088 0.158 00 0.973 0.800 04.719 0.258 1720 13.491 0. 046 3.709 49 2.227 00.00 15.900 0.134 1725 01.841 0. 000 0.466 00 1.063 000.0 03.298 000.0 1730 10.366 0. 009 0.745 00 0.971 00.16 12.164 000.0 1735 06.105 000.4 0. 076 00 0.093 000.2 13.259 000.6 1740 06.239 0.159 0.431 01 2.183 1.676 05.512 0.310 1745 05.204 1.634 1.670 00 1.482 0.247 08.893 0.335 1750 12.351 0.050 2.446 00 0.760 0.000 08.681 0.145 Tabelle 5: Getreideeinfuhr nach Göteborg in Tonnen, ausgewählte Jahre 1649-1750. Quelle: L IND , Göteborgs handel och sjöfart 1637-1920(wie Anm. 12). Der Export der Göteborger Kaufleute wies ebenfalls ein breites Warenspektrum auf. Die Thornton-Valck führten vor allem Stabeisen und Holzprodukte aus und reexportierten Steinkohle, Blei und Salz. Der Umfang ihrer Warenausfuhr war sehr beträchtlich. Durch das Handelsbuch des Göteborgers Sibrant Valck aus den Jahren 1666-1676 können wir zudem die Distributionsketten der Waren in der westschwedischen Region und die Kreditbeziehungen mit Europa nachzeichnen. Die Geschäftsbeziehungen Sibrant Valcks und seiner Ehefrau Maria Daelders erstreckten sich über etwa 70 Städte bzw. Länder und bezogen 27 Salzeinfuhr in Göteborg in D ALHEDE , Handelsfamiljer på Stormaktstidens Europamarknad 2 (wie Anm. 1), 351-353, Karte 7, 351. <?page no="121"?> Christina Dalhede 122 Abb. 9: Die Kaufmannsfamilie Maccabeus Thornton-Adelheit Sibrantsdotter Valck in Göteborg und ihre Exportwaren (Auswahl). © Christina Dalhede, Göteborg 2006. mindestens 1.100 Personen in unterschiedlicher Intensität ein. 28 Im Hinterland Göteborgs und in der westschwedischen Region war der Handelsverkehr mit den uppstäderna beträchtlich. Zu anderen Stapelstädten wie Stockholm und Malmö unterhielten die Valcks ebenfalls Beziehungen. Besonders bedeutsam war indessen ihre Rolle im Fernbzw. Außenhandel. Nach Sibrant Valcks Handelsjournal waren Maria Daelders und er in Göteborg zwischen 1666 und 1676 in einer Vielfalt von Funktionen und Handelszweigen engagiert: Es wurden sämtliche Waren gehandelt und mit ausgewählten Waren Kompaniehandel getrieben, außerdem lassen sich Kommis- 28 D ALHEDE , Viner, Kvinnor, Kapital (wie Anm. 19), Kapitel III, Bild 42; D IES ., Varor & Kapital, Lübeck & Göteborg (wie Anm. 19), Datenbank in Kap. IV. <?page no="122"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 123 sionsgeschäfte feststellen. Die Reichweite des Handels erstreckte sich über das gesamte Spektrum vom Fernhandel, dem überregionalen wie dem regionalen Handel bis hin zum Handel mit dem Hinterland. Außerdem wurde der Lokalhandel Göteborgs in einem Umkreis bis 30 km bedient und dabei auch Waren verliehen. In der Seefahrt waren sie als Schiffsreeder (Schiffsanteilhaber, Partsredare) mit 16 Schiffen aktiv, außerdem als Schiffsmakler. Bei den Geldgeschäften waren sie entweder Wechselnehmer oder Wechselgeber bei 617 Wechselgeschäften, zudem sind 80 Assignationsgeschäfte in der Buchführung nachweisbar. Sie betätigten sich als Bankiers, Bargeldwechsler, Leihgeber und Pfandnehmer. Immobilienbesitz befand sich in Göteborg und Amsterdam. Als Großhändler vertrieben sie Wein mit Distributionsketten in Westschweden. 29 Sibrant und Maria Valck handelten im Jahre 1666 mit mindestens 35.000 Litern Wein, den sie unter anderem ihrem Göteborger Nachbarn Bryngel Radÿ verkauften. Die Valcks lieferten auch Weine an die Stadtkeller der westschwedischen uppstäderna. Weine wurden in zwölf unterschiedlichen Gattungen zu differenzierten Preisen verkauft. Sie kamen vor allem aus dem Rheingebiet, aus Frankreich, Spanien und Portugal. Branntwein wurde aus Frankreich und aus der uppstad Borås bezogen. Als Gegenlieferung für Wein und andere Waren erhielten die Valcks von den Händlern in Karlstad im Göteborger Hinterland Stabeisen oder Holz. Der Warenhandel der Familie beruhte auf drei etwa gleich wichtigen Säulen: Bergwerkswaren (30,4 Prozent), Genussmittel wie Tabak und Alkohol (27,5 Prozent) sowie Fisch- und Agrarerzeugnisse (23,9 Prozent). Textilien hingegen machten nur 5,2 Prozent ihres Warenhandels aus. Die Familie Valck war auch im Wechselverkehr tätig und versah die Händler und Bergwerksunternehmer im Hinterland mit Krediten im Austausch gegen Waren. Als Sicherheit verlangte sie dafür die Verpfändung von Haus und Hof oder von Gold und Silber. In ihr Unternehmen nahm sie auch Fremdkapital in Form fest verzinslicher Depositen auf, die eine gewinnbringende Anlageform darstellten. In Tabelle 6 sind Zahlen zur Gesamtausfuhr aller Göteborger Kaufleute bis 1755 zusammengestellt. Der Gesamtexport an Eisenwaren stieg zwischen 1649 und 1750 stark an, von 17.132 auf 92.041 Schiffspfund. Der größte Teil der Eisenausfuhren ging nach Westeuropa. Nach Dänemark und Norwegen hingegen gingen, wegen der vielen Kriege, nur geringe Mengen. Zu den Krisenzeiten des Göteborger Handels gehörten die Jahre 1645, 1657-58 und 1675-77. Auch 1672 war ein schwieriges Jahr, da der Handel mit Holland unter dem Krieg mit Frankreich litt. Gute Jahre für den Export waren dagegen 1653-55 und 1659-61. 29 GLA, Privatarkiv C6. <?page no="123"?> Christina Dalhede 124 davon gehen nach Ausgewählte Jahre Stabeisen nach allen Ländern, volle Sklb Dänemark Norwegen 1641 15.327 1.245 0206 1649 17.132 0.509 000 1655 18.473 0.575 030 1661 27.044 0.020 000 1667 22.180 0.000 015 1672 18.774 0.059 000 1685 32.504 0.182 000 1690 31.117 0.452 250 1695 46.559 0.411 042 1720 40.227 0.145 298 1725 62.500 0.101 219 1730 71.862 0.211 000 1735 78.284 0.000 000 1740 73.487 0.015 110 1745 73.752 0.030 612 1750 79.151 00.00 000 1755 92.041 0.227 386 Tabelle 6: Eisenausfuhr Göteborgs, ausgewählte Jahre 1649-1755, in Schiffspfund (Sklb). Quelle: L IND , Göteborgs handel och sjöfart 1637-1920 (wie Anm. 12). 6. Zusammenfassung und Schlussbemerkungen Die 1620 neu gegründete Stadt Göteborg entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Stapelstädte Schwedens und zum zentralen Ort der gesamten westschwedischen Region. In dieser Region befanden sich neun der zwischen 1612 und 1680 neu gegründeten schwedischen Städte. Eine relativ günstige Entwicklung der Infrastruktur und der Organisation des Handels in uppstäder und stapelstäder trugen dazu maßgeblich bei. Die sicherste Einnahmequelle der Stadt, der Tolag, war vor 1638 an ausländische Pächter verpachtet. Nach einer Übergangsphase bestand seit 1646 ein eigenes Tolagsschreiberamt. Während vor 1638 keine Quellen und aus der Zeit zwischen 1638 und 1646 nur die Ausfuhrjournale vorhanden sind, sind für die Periode 1649-1700 die Tolagsjournale über die Ein- und Ausfuhr der Waren mit vereinzelten Lücken zugänglich. 30 Aus dem Zeitraum von 1638 bis 1646 kennen wir mindestens 347 auslaufende Wasserfahrzeuge und 564 ein- und ausfahrende Boote. Zwischen 1649 und 1700 konnten für Göteborg mindestens 6.733 ankommende und 30 D ALHEDE , Tolagsjournaler under tidigmodern tid i Göteborg (wie Anm. 1), 45-54. <?page no="124"?> Der Standort Göteborg 1649-1700 125 7.082 auslaufende Wasserfahrzeuge sowie 6.302 ein- und auslaufende Boote ermittelt werden. In der gesamten Periode von 1638 bis 1700 bedeutet dies insgesamt 14.162 Schiffsbewegungen und 368 angelaufene Häfen. Mindestens 39.301 Teilhaber der verschifften Warenladungen konnten festgehalten werden. Meinen Identifikationen der Personen zufolge waren mindestens 5.794 Personen in Göteborg im Warenhandel und 2.747 Personen als Schiffer tätig. Mindestens 6.866 kleine in Küstennähe verkehrende Boote konnten außerdem belegt werden. Gliedert man den Zeitraum von 1638 bis 1700 in fünf Perioden, so sieht die Reihenfolge der wichtigsten Handelspartner im Göteborger Fernhandel folgendermaßen aus: In der ersten Periode von 1638 bis 1646 lag Amsterdam an erster Stelle vor Hamburg und London; zwischen 1649 und 1653 war die Rangfolge Hamburg - Amsterdam - London, und von 1654 bis 1689 führten Hamburg, London und Stralsund die Liste der wichtigsten Handelspartner an. Im Zeitraum von 1690 bis 1695 war wiederum Hamburg am wichtigsten, gefolgt von London, Lübeck, Stralsund und Amsterdam. Zwischen 1696 und 1700 schließlich war London an die erste Stelle getreten; auf den folgenden Rängen lagen Hamburg, Hull, Newcastle und Amsterdam. Im schwedischen Regional- und Lokalhandel des 17. Jahrhunderts hatte das Hinterland der Stapelstädte wichtige Funktionen zu erfüllen. Die Kaufleute in den uppstäderna waren bedeutende Zwischenhändler und Vermittler von Eisen, Holz und Häuten. Gleichzeitig entwickelten sich intensive Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Händlerfamilien in den uppstäderna, in Värmland und in Göteborg als Stapelstadt. Sowohl für den Außenhandel als auch für den Regional- und Lokalhandel Schwedens in der Frühen Neuzeit mit ihren jeweils unterschiedlichen Teilnehmerkreisen hat Göteborg eine wichtige Rolle gespielt und den Westen Schwedens in die europäische Wirtschaft integriert. Mit ihren Handelskontakten zu mindestens 368 Häfen im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Stapelstadt Göteborg, wie von den Gründern erwünscht, zur Hauptstadt Westschwedens. Im 18. Jahrhundert setzte sich die positive Entwicklung des Göteborger Fernhandels mit der Gründung der Ostindischen Compagnie, einer weiteren Verdichtung der europäischen Handelsbeziehungen und einem blühenden Warenhandel ungeachtet einiger Schwankungen fort und sollte schließlich den Handel Stockholms überflügeln. Heute ist Göteborg die größte Hafenstadt Schwedens, ja sogar Skandinaviens. <?page no="126"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung. Die schlesischen Kaufmannsgilden im internationalen Leinenhandel des 18. Jahrhunderts Marcel Boldorf Einleitung Während der frühen Neuzeit wurde Leinen im ländlichen Heimgewerbe vieler europäischer Regionen hergestellt. Es zählte weltweit zu den wichtigsten Handelsgütern und behauptete bis ins 19. Jahrhundert diese herausragende Stellung. Eine der frühesten Statistiken zum deutschen Außenhandel belegt für 1828, dass Leinenprodukte noch 23,4 Prozent des Gesamtexports ausmachten. 1 Erst im Verlauf der Industriellen Revolution in Deutschland verlor Leinenware rasch an Bedeutung, während noch im 18. Jahrhundert die von Preußen annektierte Provinz Schlesien eines der wichtigsten Gewerbegebiete der Welt war. Mit den Geweben aus dem niederschlesischen Gebirge wurden Menschen in weit entfernten Erdteilen eingekleidet. Das globale System des Leinenhandels, das auf mehreren Stufen vom europäischen Produzenten bis zum Endverbraucher in Übersee reichte, bildet den Analyserahmen für diesen Beitrag. Die schlesischen Leinenexporteure sorgten für die Anbindung der Region an den Weltmarkt. Sie bauten ihre internationalen Geschäftsverbindungen aus und zogen aus diesen Kontakten Erfahrungen, die sie möglicherweise zu Innovationen in ihrer Heimat anregten. Es ist zu überprüfen, ob die Teilnahme am internationalen Handelsgeschehen zu einem Know-how- Transfer in die Produktionsregion führte. Im Einzelnen ist dieses Untersuchungsfeld um folgende Fragen zu erweitern: Auf welche Art waren die schlesischen Leinenexporteure, obwohl die Region geografisch gesehen abseits der wichtigsten Handelsplätze lag, in das internationale Handelsnetz eingebunden? Welche Rückwirkungen hatte die Internationalität ihrer Erfahrungen auf die innere Entwicklung der Gilden? Mündete die Teilhabe am globalen Handel in eine besonders innovative regionale Gewerbepolitik? Tendierten die Fernhandelskaufleute zu einem Ausbau ihres Handelsunternehmens mit dem Ziel, eine moderne „Firma“ zu errichten? Dehnten die 1 G ERHARD B ONDI , Deutschlands Außenhandel 1815-1870, Berlin (Ost) 1958, 55. <?page no="127"?> Marcel Boldorf 128 Kaufleute ihre Aktivitäten in die Produktionssphäre aus, sodass sie zu vorindustriellen Unternehmern aufrückten? 2 Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen über die Struktur des globalen Handels sind der Aufstieg der schlesischen Gilden und ihre Teilhabe an den Welthandelsstrukturen zu beschreiben. Dieser Abschnitt macht mit der für das Verständnis der Argumentation grundlegenden Mentalität der Kaufleute vertraut. Zudem leistet er eine Analyse der städtischen Kaufmannschaften und des Prozesses ihrer Binnendifferenzierung, der sich über zwei Jahrhunderte erstreckte. Damit wird ein Beitrag zur neueren Gildenforschung geleistet, die sich an die Handwerksgeschichte der Zünfte anlehnt. 3 Mit der Fokussierung auf die Kaufmannschaften wird eine Verbindung zwischen der Internationalität der Handelsverbindungen und den Strategien der Existenzsicherung am Herkunftsort hergestellt. 1. Leinen als transatlantische Handelsware Der atlantische Wirtschaftsraum zeichnete sich im 18. Jahrhundert durch die weltweit größte Dynamik aus. 4 Er beruhte auf drei Säulen: dem Sklavenhandel von Afrika nach Amerika, dem Import von Kolonialwaren nach Europa sowie dem Export europäischer Gewerbeprodukte in die überseeischen Kolonien. In diesem lukrativen Dreieckshandel zwischen den Kontinenten suchten sich alle großen Seefahrernationen einen möglichst großen Anteil zu sichern. Nach den Bestimmungen der englischen Navigation Acts von 1651 bis 1673 war der Gütertransport von und nach England sowie mit seinen Kolonien nur auf einheimischen Schiffen bzw. denjenigen des jeweiligen Handelspartners erlaubt. Als Reaktion auf diesen Affront organisierten auch rivalisierende Kolonialmächte wie Spanien und die Niederlande ihren Überseehandel als Reexportsystem über Handelsplätze wie Cádiz oder Amsterdam. Im englischen Seehandel ragte London als eine Drehscheibe hervor, über die vier Fünftel der Exporte des Landes abwickelt wurden. 5 2 Vgl. zu diesen Fragestellungen: S TEFAN G ORIßEN , Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720-1820), Göttingen 2002, 361-384; R OBERT VON F RIEDEBURG / W OLFGANG M AGER , Learned Men and Merchants: The Growth of the Bürgertum, in: Germany. A New Social and Economic History, Bd. 2, 1630-1800, S HEILAGH C. O GILVIE (Hrsg.), London 1996, 164-195, hier 180-183. 3 J OSEF E HMER , Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Zunft und Handwerk, in: Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der Nationalökonomie. Wirtschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven, F RIEDRICH L ENGER (Hrsg.), Bielefeld 1998, 19-77; zu neuen Fragestellungen vor allem 32-54. 4 Vgl. als aktuellen Überblick: J OCHEN M EISSNER / U LRIKE M ÜCKE / K LAUS W EBER , Schwarzes Amerika. Eine Geschichte der Sklaverei. München 2008, 34-98. 5 R ALPH D AVIS , The Industrial Revolution and British Overseas Trade, Leicester 1979, 31; F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, 3 Bde, München 1986, 504. <?page no="128"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 129 In der Folge stieg England im atlantischen Welthandelssystem zur führenden Macht auf. Als Reexporteur war es auf Importe, vor allem aus den auf die Nordsee orientierten Regionen, angewiesen. Leinen als das wichtigste schlesische Ausfuhrgut trat in der englischen Importstatistik besonders hervor: Mit einem Anteil von rund 65 Prozent (1752/ 54) bzw. 59 Prozent ( 1772/ 74) war es die bei weitem am häufigsten eingeführte Ware. 6 Da das Importleinen kaum zum inländischen Verbrauch bestimmt war, nahm es auch unter den englischen Exporten die führende Position ein. Erst nach der Mitte der 1770er Jahre bezog der englische Außenhandel eine zusätzliche Dynamik aus dem Export von im Inland hergestellten Fertigwaren auf die schnell expandierenden amerikanischen Märkte. Schlesien war bereits zu einem frühen Zeitpunkt in den Überseehandel einbezogen. Der Versand schlesischer Ware, zum Beispiel nach Spanien, lässt sich anhand von Hamburger Seepässen bereits für 1605/ 06 belegen. 7 Die außereuropäische Nachfrage stellte den entscheidenden Stimulus für den europäischen Leinenfernhandel dar. Die Endverbrauchermärkte waren in den Plantagenwirtschaften, insbesondere der Westindischen Inseln und anderer Teile Amerikas. Das einfache Leinen diente zur Bekleidung der Arbeiter, die meist als Sklaven aus Afrika verschleppt worden waren. Ferner benutzte man grobe Leinensorten zur Herstellung von Segeltuch und Packmaterial. „Fast das gesamte europäische Leinengewerbe wurde zu einem Annex des atlantischen Wirtschaftsraumes“, 8 charakterisiert Peter Kriedte die Exportorientierung der europäischen Leinenregionen. Als wichtigste Gebiete hebt er die Bretagne, Flandern, Westfalen und Schlesien hervor. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts gewann Irland als Leinenexporteur an Bedeutung. Die deutsche Leinenausfuhr wurde zum größten Teil über die Nordsee abgewickelt. 9 Als wichtigster Anrainerhafen erlebte Hamburg nach dem Siebenjährigen Krieg eine neuerliche Blüte, vor allem in den 1780er und 1790er Jahren. Die Hansestadt war der Sitz bedeutender Überseehandlungen, aber auch Seehandelskaufleute ausländischer Herkunft besaßen dort Niederlassungen. Aus schlesischer Sicht war der Transport zum Beispiel nach Triest aufgrund der vielen Abgaben, die auf der Strecke zu leisten waren, 6 S IDNEY P OLLARD , British Trade and European Economic Development (1750-1850), in: International Trade and British Economic Growth. From the Eighteenth Century to the Present Day, P ETER M ATHIAS / J OHN A. D AVIS (Hrsg.), Oxford 1996, 34-55, hier 38. 7 S IEGFRIED K ÜHN , Der Hirschberger Leinwand- und Schleierhandel von 1648 bis 1806, Breslau 1938, Nachdruck Aalen 1982, 88. 8 P ETER K RIEDTE / H ANS M EDICK / J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1978, 86. 9 F RAUKE R ÖHLK , Schiffahrt und Handel zwischen Hamburg und den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1. Teil, Wiesbaden 1973, 145. <?page no="129"?> Marcel Boldorf 130 teurer als der Landweg nach Hamburg. 10 Zwischen 1748 und 1788 gingen die schlesischen Leinenexporte - von einigen Ausnahmejahren abgesehen - zu ca. 70 bis 80 Prozent nach Westen, das heißt nach England, Holland, Frankreich, Spanien, Portugal und Westindien. 11 Die vorrangige Ausrichtung auf London seit der ersten Jahrhunderthälfte beruhte darauf, dass Spanien zur Begünstigung des französischen Leinens höhere Importzölle auf deutsche Ware als England erhob. 12 2. Gildenbildung und Aufstieg der Leinenkaufleute Bereits vor dem Kolonialzeitalter produzierte Schlesien für auswärtige Märkte. Das ursprüngliche System des Zunftkaufs, in dem oberdeutsche Kaufleute mit den städtischen Weberzünften Lieferverträge schlossen, herrschte bis zum Ende des 16. Jahrhunderts vor. 13 Parallel dazu dehnte sich die Weberei in ländlichen Gebieten mit der Folge aus, dass sich verschiedene schlesische Städte auf die Handelsfunktion spezialisierten. 14 Für die Anbindung an den aufblühenden atlantischen Wirtschaftsraum sorgten um 1600 die Faktoren niederländischer und englischer Kaufmannshäuser, die Schlesien bereisten, um die dort produzierte Leinenware aufzukaufen. 15 Das Wirken der ausländischen Faktoren stieß auf den Widerstand der heimischen kleinen Leinenhändler mit Sitz in Jauer oder Greifenberg, die meist Messehandel zum Beispiel nach Leipzig betrieben. Die ausländischen Faktoren drohten ihnen die Geschäftsbasis abzugraben, als sie begannen, das Leinen direkt bei den Webern auf den Dörfern aufzukaufen. Die Magistrate 10 Zur Etablierung Hamburgs als Schlesiens Hauptausfuhrhafen vgl. M ARCEL B OLDORF , The Impact of Border Changes before National Market Integration: Silesia after the Prussian Annexation of 1742, in: National Borders and Economic Disintegration in Modern East Central Europe, U WE M ÜLLER / H ELGA S CHULTZ (Hrsg.), Berlin 2002, 29-31. 11 A LFRED Z IMMERMANN , Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien. Gewerbe- und Handelspolitik dreier Jahrhunderte, Breslau 1885, 460-467. 12 Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 142; K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 6), 107. 13 H ERMANN K ELLENBENZ , Gewerbe und Handel 1500-1648, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1: Von der Frühzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, H ERMANN A UBIN / W OLFGANG Z ORN (Hrsg.), Stuttgart 1971, 426f.; H ERMANN A UBIN , Die Anfänge der großen schlesischen Leineweberei und -handlung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 35 (1942), 105-178, hier 145. 14 Als rechtliche Grundlage legte ein zwischen den Gutsherrschaften und den Städten 1545 geschlossener Vertrag fest, dass Leinenweber in den Dörfern innerhalb der städtischen Bannmeile zugelassen wurden, vgl. G USTAV A UBIN / A RNO K UNZE , Leinenerzeugung und Leinenabsatz im östlichen Mitteldeutschland zur Zeit der Zunftkäufe. Ein Beitrag zur industriellen Kolonisation des deutschen Ostens, Stuttgart 1940, 14. 15 Dieser Befund relativiert die Rolle, die die Brüder Aubin den oberdeutschen Kaufleuten zuschreiben, nämlich als Initiatoren einer „industriellen Kolonisation“ des Ostens (zum Beispiel A UBIN , Anfänge (wie Anm. 13), 146), erheblich. Die deutsche Volksgeschichtsschreibung versuchte die Ergebnisse Zimmermanns zu diskreditieren, der den Aufschwung des Heimgewerbes zu Recht auf die Nachfrage der Niederländer und Engländer zurückführte. <?page no="130"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 131 der schlesischen Städte wandten sich an den Wiener Hof wegen der Abstellung dieser Praktiken. Sie beriefen sich auf ein Privileg König Rudolfs von 1602, nach dem auswärtige Faktoren sowohl Garn als auch Leinen nur von inländischen Kauf- und Handelsleuten erwerben durften, es sei denn, sie ließen sich in den schlesischen Städten nieder. 16 Wie spätere Namensverzeichnisse der schlesischen Städte zeigen, machten auswärtige Interessenten durchaus von dieser Möglichkeit Gebrauch. 17 Unter staatlichem Schutz setzten sich die einheimischen Händler als Aufkäufer der in der Region hergestellten Leinenware durch. Hirschberg sicherte sich darüber hinaus 1630 das Monopol für den Schleierexport. 18 Weitere obrigkeitliche Verfügungen richteten sich gegen das Wirken der auswärtigen Faktoren und der missliebigen Dorfhändler, sodass sich die Position der schlesischen Stadtkaufleute weiter verbesserte. Über die Phase des Dreißigjährigen Krieges hinweg verschob sich das Gewicht erneut zugunsten der heimischen Leinenhändler. In den Kriegswirren stellten viele auswärtige Faktoren ihre Kaufreisen in die schlesische Leinenregion ein. Das alte Handelszentrum Jauer wurde von Hirschberg als Zentrum des schlesischen Leinenexports abgelöst. Schon zehn Jahre nach Kriegsende hatte der Handel dieser Stadt eine solche Bedeutung erlangt, dass sich die Kaufleute von der Vielhandwerkerzunft abspalteten. Als dynamischstes Element der Stadtökonomie entledigten sie sich der zünftigen Einbindung, schlossen sich aber sogleich zu einer neuen Korporation zusammen. Die 1658 gegründete Gilde zählte anfangs 16 bis 20 Mitglieder und benannte sich später in „Hirschberger Sozietät“ um. Mittels des Einflusses dieser Institution vermochten die Kaufleute ihre Interessen geltend zu machen und erwirkten beim kaiserlichen Hof eine Erneuerung des Verbots aller Faktoreien innerhalb der Stadt. 19 Die Kaufleute der benachbarten Stadt Landeshut folgten dem Hirschberger Beispiel, indem sie 1677 ebenfalls eine Gilde gründeten. 20 Frühe Gildenbildungen sind ferner in Schmiedeberg und 16 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 45. 17 Mitgliederverzeichnis des Schlesischen Gebirgs-Handelsstandes in Hirschberg, Schmiedeberg, Greiffenberg, Landeshut, Goldberg und Waldenburg. Aus dem Archiv der Kaufmanns-Sozietät in Hirschberg von 1658-1912 und den Schlesischen Instanzien-Notizen von 1802-1827, H UGO G ERSTMANN (Hrsg.), Dresden 1918. Dies relativiert aufs Neue den deutschen Ursprung des gewerblichen Aufschwungs, wenn etwa H ERMANN A UBIN , Anfänge (wie Anm. 13), 118, „eine ‚Qualitätswanderung’, […] ein stetiges langsames Vorrücken des deutschen Kaufmanns vom Westen nach dem Osten“ feststellt. 18 Privileg über den Alleinhandel mit Schleiern für die Stadt Hirschberg vom 30. September 1630, abgedruckt in: K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 132f. 19 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 46. 20 Artikel der Kaufmanns-Innung vom 20. März 1677, abgedruckt in: O TTO S CHUMANN , Die Landeshuter Leinenindustrie in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Beitrag zur Geschichte der schlesischen Textilindustrie, Jena 1928, 125-127. <?page no="131"?> Marcel Boldorf 132 dem alten Handelszentrum Greifenberg zu verzeichnen, weitere Gründungen folgten im 18. Jahrhundert. Mit der Spezialisierung auf die Handelsfunktion trachteten die Leinenexportstädte nach der Monopolisierung des Marktrechts. Dies gelang weitgehend, denn die ländliche Konkurrenz wurde ausgeschaltet und die Märkte kleinerer Gebirgsstädte auf eine Zulieferfunktion reduziert. 21 Ohne Brüche fügten sich die städtischen Gilden in den Ideenkreis der Handwerkerzünfte ein, aus denen sie hervorgegangen waren. Ihre Aufnahmekriterien belegen, dass es sich keineswegs um freie Vereinigungen handelte. Als grundsätzliche Zugangsvoraussetzung verlangten die Gilden den Besitz der städtischen Bürgerrechte. Darüber hinaus war der Nachweis über die moralische Integrität zu erbringen, das heißt eine „ehrliche“ Geburt und einen untadeligen Lebenswandel, sowie die Befähigung zur Ausübung des Handelsgeschäftes, meist nachgewiesen durch eine Lehrzeit in einem Kaufmannshaus einer anderen Stadt. 22 Als materielle Schranke dienten hohe Beitrittsgebühren, die sich im frühen 18. Jahrhundert auf acht Reichstaler beliefen, ein Betrag, der sich auf die Hälfte reduzierte, wenn man die Witwe oder Tochter eines Gildenmitglieds zur Frau nahm. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erreichte die Beitrittsgebühr in einzelnen Fällen eine Höhe von 25 Talern. 23 Darüber hinaus erschwerten laufende Geldbelastungen, die so genannten Quartalsgelder, die Wahrung des Status als Mitglied. Anfangs herrschte bei den Gilden eine relativ große Aufnahmebereitschaft vor, sodass zum Beispiel die Zahl der Angehörigen der Landeshuter Sozietät von 22 Gründungsmitgliedern im Jahr 1677 auf ca. 60 Kaufleute im Jahr 1730 anstieg. Trotz eines weiterhin wachsenden Handelsvolumens stagnierte die Mitgliederzahl der Gilde seit dieser Zeit. Rund sechzig Jahre später, um 1792, wies eine Stichprobe nicht mehr als 70 Mitglieder aus. 24 Obwohl sich die Zahl der Gildenangehörigen kaum mehr erhöhte, verzeichnete die Institution doch 20 bis 37 Neueintritte pro Jahrzehnt. 25 Demzufolge unterlag die Mitgliedschaft einer hohen Fluktuation, das heißt den registrierten Aufnahmen standen fast ebenso viele Abgänge gegenüber. Eine ähnliche Entwicklung durchlief die Kaufmannsgilde der Stadt Hirschberg. Die Zahl ihrer erfassbaren Mitglieder bewegte sich bis in die 1780er Jahre 21 Vgl. zu diesem Komplex: M ARCEL B OLDORF , Märkte und Verlage im institutionellen Gefüge der Leinenregion Niederschlesien des 18. Jahrhunderts, in: Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, K ARL -P ETER E LLERBROCK / C LEMENS W ISCHER- MANN (Hrsg.), Dortmund 2004, 179-191. 22 S CHUMANN , Leinenindustrie (wie Anm. 20), 21. 23 M ARCEL B OLDORF , Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750-1850), Köln / Weimar / Wien 2006, 66. 24 B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 70. 25 S CHUMANN , Leinenindustrie (wie Anm. 20), 22, 34, 38. <?page no="132"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 133 auf einem Stand von 60 bis 70 Kaufleuten. 26 Kurz vor der Annexion Schlesiens durch Preußen, als die beiden führenden Sozietäten bereits auf eine achtzigjährige Geschichte zurückblickten, änderte sich ihr Aufnahmeverhalten: Beide Institutionen zeichnete eine Tendenz zur Abschottung aus, die aber nicht nur auf die Reglementierung der Eintritte, sondern auch auf spezifische Partizipationschancen an der jeweiligen Stadtwirtschaft zurückzuführen war. 3. Das Erscheinungsbild der Gilden in der Phase ihrer Abschottung Die bisherigen Ausführungen vermittelten von den Gilden ein Bild, das dem mittelalterlichen Gründungsideal relativ nah zu kommen schien: Freie Stadtbürger schlossen sich zum Zwecke der Bewahrung ihrer gemeinsamen Handelsinteressen zusammen, um den Wettbewerb einzuhegen und sich durch wechselseitigen Schutz und genossenschaftliche Hilfe eine soziale Sicherung zu gewähren. 27 Grundlage der Übereinkunft der vereideten Mitglieder mochte die Idee der Gleichheit unter Gildengenossen sein. Wie stark die Realität des 18. Jahrhunderts ökonomisch gesehen von diesem Leitbild abwich, eröffnet die folgende Tabelle. Tabelle: Clusterbildung innerhalb der Hirschberger Kaufmannschaft nach Jahresexportumsätzen (1772, 1785-1787) Jahresausfuhr 1772 1.571.642 Tlr. 1785 2.118.263 Tlr. 1786 1.518.144 Tlr. 1787 1.074.551 Tlr. > 100.000 Tlr. 03 07 02 01 50-100.000 Tlr. 07 09 09 02 30-50.000 Tlr. 08 04 06 10 20-30.000 Tlr. 06 09 06 04 10-20.000 Tlr. 12 07 10 13 5-10.000 Tlr. 04 06 05 10 2.500-5.000 Tlr. 07 07 11 13 1.000-2.500 Tlr. 09 09 11 08 < 1.000 Tlr. 05 09 06 07 Exporteure insgesamt 61 67 66 68 Quelle: K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 138-140. 26 B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 70. 27 O TTO G ERHARD O EXLE , Art. Gilde, in: Lexikon des Mittelalters, München 1989, Bd. 4, Sp. 1452. <?page no="133"?> Marcel Boldorf 134 Die Übersicht zeigt am Hirschberger Beispiel, welch ein großes ökonomisches Gefälle innerhalb der Kaufmannsgilde bestand. Bedeutende Kaufmannshäuser wie Kommerzienrat Thomann, Daniel von Buchs, Georg Friedrich Liebich, Christian Salice Contessa sowie Ernst Friedrich Schaeffer & Co. erzielten bei einer guten Absatzsituation Umsätze von über 100.000 Talern pro Geschäftsjahr. Diesen erfolgreichen Fernhandelskaufleuten, die in den globalen Leinenmarkt eingebunden waren, stand eine Reihe kleiner Leinenhändler gegenüber, deren Geschäftsumfang kaum größer als derjenige von landsässigen Dorfhändlern war und mitunter die 1.000 Taler-Grenze unterschritt. Die tabellarische Übersicht gibt auch Auskunft über das Sozietätsgefüge innerhalb der Phase der Abschottung. Anhand der vorliegenden Überlieferung kann der dreijährige Zeitraum zwischen 1785 und 1787 (Spalte 3 bis 5) exemplarisch analysiert werden. Die erzielten Jahresumsätze dieser Phase entsprachen einem sehr guten Exportergebnis (1785), einem leicht überdurchschnittlichen Umsatz (1786) sowie einem verhältnismäßig schlechten Jahreswert (1787). 28 Die statistischen Werte von 1772 können in Ergänzung derer des Jahres 1786 interpretiert werden. Die Gesamtzahl der städtischen Leinenexporteure erscheint mit einem mittleren Wert von ca. 65 relativ konstant. Die namentliche Detailerfassung weist jedoch 105 verschiedene Kaufleute aus. Nur 30 Häuser, fast immer die größeren Geschäfte, tauchen in der Statistik aller vier Untersuchungsjahre auf. Erwartungsgemäß ergeben sich die größten Abweichungen zwischen 1772 und dem Dreijahresabschnitt während der 1780er Jahre. Doch auch innerhalb des Zeitraums von 1785 bis 1787 sind nur 57 Exporteure durchgehend verzeichnet. In elf Fällen sind nur in einem Jahr Exporte nachgewiesen, und bei weiteren zehn Nennungen liegen die Werte zweier Jahre vor. Die Betrachtung der Einzelnennungen der Leinenexporteure belegt die Ungewissheit einer vom Handel abhängigen Existenz. Nur selten handelt es sich bei den vielen Neuerfassungen um Geschäftsübertragungen durch Erbfälle oder Geschäftsabspaltungen, wie es zum Beispiel im Fall des Hauses Liebich zu vermuten ist. 29 Die häufige Nennung neuer und der Wegfall früherer Namen spiegelt vielmehr die Fluktuation innerhalb der Gilde wider. Die Statistik der drei aufeinander folgenden Geschäftsjahre legt folgenden 28 Vgl. K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 150f. Der mittlere Jahresausfuhrwert zwischen 1770 und 1800 betrug 1.330.000 Taler. Nur in Ausnahmefällen (1794, 1799) sank der Umsatz vor 1800 unter die Grenze von 1.000.000 Talern. 29 Vgl. K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 150f. 1772 ist Georg Friedrich Liebich mit einem Jahresumsatz von 108.536 Talern eines der größten Häuser am Platze. Dieser Wert geht auf 40.197 Taler (1785) und 19.904 (1787) zurück. Gleichzeitig tauchen ab 1785 in der Statistik auf: Georg Friedrich Liebig jun. (1.800 Taler), Johann Ehrenfried Liebich (4.376 Taler), Samuel Gottfried Liebich (500 Taler) und Johann Gottlieb Liebich (5.162 Taler). Abgesehen vom möglichen Zufall einer Namensgleichheit weist das auf eine Geschäftsspaltung hin. <?page no="134"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 135 Schluss nahe: Es existierte ein fester Stamm der Sozietät, dem die größeren Kaufmannshäuser mit über 10.000 Talern Jahresumsatz zuzurechnen sind. Selbst im Jahr mit dem niedrigsten Exportwert (1787) sank ihre Zahl nicht unter die Marke von 30. Diese Gruppe bildete den Kern der Gilde, wählte ein Ältestengremium als kollegiales Leitungsorgan und führte die Sozietätsgeschäfte. Die unter ihnen im Jahresturnus reihum vergebenen Ämter der Ober- und Nebenältesten waren zwar unbeliebt, weil sie von der geschäftlichen Tätigkeit abhielten, dienten aber zur Behauptung der kollektiven Interessen der Führungsriege nach innen und außen. Von diesen eingesessenen Kaufmannsfamilien ist die Rede, wenn von einer „wahre[n] Kaufmannsaristokratie in den Mauern Hirschbergs“ 30 geschrieben wird. Die an anderer Stelle als Kaufmannsdynastien bezeichneten Häuser besaßen das größte Interesse an der Abschottung der Gilde. Den Führungsschichten stand innerhalb der Gilde eine numerisch ungefähr gleich große Zahl kleiner und kleinster Geschäfte gegenüber. Während Jahresausfuhren mit einem Wert über 2.500 Taler noch einen gesicherten Lebensunterhalt erwarten lassen, bewegten sich darunter liegende Umsätze - gemessen an städtischen, nicht an ländlichen Maßstäben - am Rande der Prekarität. Aus den städtischen Handwerkerkreisen drängten immer wieder einzelne Vertreter in die Gilden, um sich auf legalem Weg am Leinenexport zu beteiligen. Selten stammten solche Anwärter aus dem Umland der Städte, denn der Landbewohnerschaft fehlte das städtische Bürgerrecht als wesentliches Eintrittskriterium. In die Gilden drängten vielmehr Stadtbürger wie Bäcker, Schuhmacher, Weinschenke, Gürtler, Sattler oder Schneider. Im Streit um die Aufnahme dieser „Professionisten“ sollten 1766 auf Intervention der Breslauer Kriegs- und Domänenkammer einige Eintrittswillige zur Landeshuter Sozietät zugelassen werden. 31 Offensichtlich handelte es sich bei den Aufgenommenen um wenig potente Handwerker ohne Handelsausbildung, die bei Rückgang der auswärtigen Nachfrage Gefahr liefen, den Leinenhandel wieder aufgeben zu müssen. Nur selten gelang solchen Interessenten der Gildeneintritt, noch seltener der Aufstieg in den Kreis der etablierten Führungsriege. Den starken ökonomischen Unterschieden innerhalb der Gilden entsprach ein hohes Maß an sozialer Differenzierung. Die Kaufmannschaften waren äußerst heterogene Gebilde, die keineswegs aus gleichrangigen Kaufleuten bestanden, die das Leitbild bürgerlicher Gleichheit verkörperten. Dem festen Stamm arrivierter Kaufleute stand eine größere Schar kleiner 30 M AX G ÖBEL , Die Hirschbergische Kaufmanns-Sozietät 1658-1933. Ein Ausschnitt aus der Wirtschaftsgeschichte des Hirschberger Tals. Dargestellt zur Feier des 275-jährigen Bestehens der Sozietät, Hirschberg o. J. [1933], 5. 31 Vgl. B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 67-69. <?page no="135"?> Marcel Boldorf 136 Kaufleute gegenüber, die aus einfachen handwerklichen Berufen stammte und in den auswärtigen Handel drängte. Dieses Bild der Gilden entspricht den Beobachtungen, die im 18. Jahrhundert für protoindustrielle Zünfte gemacht werden können. Auch für die Wollweber der Stadt Köln spricht die Forschung von einer „sozialen Polarisierung“. 32 Eine kleine Schicht von Weber-Verlegern beherrschte die für sie produzierenden Zunftgenossen und versuchte mit ähnlichen Mitteln wie die Schlesier, ihre Führungsposition zu behaupten. Wie im Hirschberger oder Landeshuter Fall partizipierte die Kölner Korporation am kapitalistisch orientierten Export mit seinen großen Gewinnmöglichkeiten und gleichzeitig einer starken Abhängigkeit von den Wechsellagen des überregionalen Handelsgeschehens. Aus dieser ambivalenten Stellung erklärt sich einerseits die Attraktivität des Geschäftseinstiegs, andererseits aber, dass eine gewisse Betriebsgröße Voraussetzung war, um das Überleben langfristig zu sichern. 4. Organisationsformen des überregionalen Handels Die Bindung der schlesischen Gilden an den weltweiten Leinenhandel vollzog sich auf drei Ebenen: a. als Messehandel, der sich auf relativ nahe gelegene Plätze ausrichtete, vor allem Leipzig, aber auch Breslau, Frankfurt a. d. O., Naumburg, Frankfurt a. M., manchmal sogar Brünn oder Prag; b. als direkter Handelskontakt zu den Seehandelskaufleuten, allen voran der Hansestadt Hamburg; c. als Direkthandel mit anderen Ländern, beispielsweise durch Geschäftsverbindungen nach Amsterdam, Cádiz oder London. Letztere Variante versprach noch größeren Gewinn als der Direktverkauf nach Hamburg. Aufgrund des von den Seemächten England, Spanien und Niederlande aufrecht erhaltenen Reexportsystems waren die Hamburger Seekaufleute ihrerseits Zwischenhändler zu den Umschlagsplätzen nach Übersee. Beginnen wir mit der Analyse des kleinsten Kaufmanntypus. Die einfachste Form des überregionalen Handels war der Gang zu den umliegenden Messplätzen. Auf den Margarethen- und Martini-Messen in Frankfurt a. d. Oder lassen sich 1772 nur acht Hirschberger Verkäufer nachweisen, die Schleier und Leinwand absetzten. Die Spannweite ihrer Umsätze bewegte sich zwischen 55 und 640 Taler (im Schnitt 302 Taler). 33 Nur in einem ein- 32 E HMER , Traditionelles Denken (wie Anm. 3), 44. Vgl. zum Fallbeispiel: D IETRICH E BELING , Bürgertum und Pöbel. Wirtschaft und Gesellschaft Kölns im 18. Jahrhundert, Köln 1987, 36-41. 33 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 69. <?page no="136"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 137 zigen Fall wurde einer dieser Kaufleute auf der im gleichen Jahr entstandenen Liste der Hirschberger Exporteure geführt: Johann Heinrich Mertens & Co. erzielten 1772 einen Jahresumsatz von beachtlichen 38.803 Talern, sodass das Geschäft in Frankfurt für sie nur ein Randphänomen darstellte. Für alle übrigen Genannten lässt sich die Mitgliedschaft in der Hirschberger Gilde nicht nachweisen. Von den Buden im Frankfurter Leinwandhaus waren Mitte der 1750er Jahre 20 von kleinen Hirschberger Leinenhändlern belegt, die zu einem Fünftel weiblichen Geschlechts waren. 34 Ein noch höherer Frauenanteil war im Breslauer Leinwandhaus nachzuweisen, wo neun von 13 Stellenbesitzern Frauen waren. Dies lässt vermuten, dass die Leinenhändlerinnen auf den nächstgelegenen Messplätzen aus dem Kreise der Mäklerinnen stammten, das heißt, dass sie ursprünglich einen reinen Zuliefer- und Zwischenhandel nach Hirschberg betrieben hatten. 35 Ein für die Gebirgshandelsstadt Greifenberg überliefertes Beispiel bringt uns den Typus dieser weniger bedeutenden Leinenhändler näher. 36 Bei einer Magistratsanhörung gewährte 1801 der Kaufmann Prentzel, der ein kleines Geschäft betrieb, Einblicke in seinen Berufsalltag. Er suchte die auswärtigen Messplätze persönlich auf, um dort die Ware zu veräußern. Währenddessen ruhten zu Hause die Geschäfte. Die Summe seiner jährlichen Abwesenheitszeiten bezifferte er auf vier Monate. Sein auswärtiger Handel zeichnete sich durch die sporadische Suche nach neuen Handelspartnern auf näheren und ferneren Messen aus. Bei Rückgang der Nachfrage drohten ihm Umsatzeinbrüche, die ihn rasch zur Aufgabe des Leinenhandels bewegen konnten. Kaufleute wie Prentzel bildeten das untere Ende der sozialen Hierarchie der größeren Hirschberger und Landeshuter Sozietäten, stellten wohl aber in den kleineren Gilden wie Greifenberg oder Schmiedeberg den typischen Leinenhändler dar. 37 Der Stellenwert und die Ausrichtung ihres Handels kamen demjenigen der landsässigen Dorfkaufleute gleich, die in den Randgebieten der Leinenregion lebten. 38 Den stärksten Kontrast zum Messehandel bildete der oben unter c. genannte Direkthandel mit den kolonialen Seemächten. 1767 erklärten 21 der großen Hirschberger Kaufmannshäuser, dass sie teilweise seit über 40 Jahren Handelsverbindungen nach Portugal unterhielten. Zu dieser Zeit lebten auch die Kontakte nach Spanien wieder auf, denn 1768 lieferten 34 Hirsch- 34 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 68. 35 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 62, Anm. 108. Zum System der Mäklerei vgl. B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 87f. 36 B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 90. 37 Vgl. K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 62. 38 B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 107-114. Vgl. auch das Beispiel eines Leinenhändlers Silberberg: R OLF S TRAUBEL , Breslau als Handelsplatz und wirtschaftlicher Vorort Schlesiens (1740- 1815), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 49 (2003), 282f. <?page no="137"?> Marcel Boldorf 138 berger Fernhandelskaufleute Leinen nach Cádiz. 39 Aus dem Direktgeschäft winkte ein bedeutend höherer Gewinn, doch manchmal musste ein Exporteur ein bis zwei Jahre warten, bis Geld aus dem Ausland eintraf. 40 Mitunter war sogar das Risiko gegeben, dass keine Zahlung ankam, weil die Durchsetzung der finanziellen Forderungen über die große Distanz misslang. 41 Im Zuge mehrerer Seekriege in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhöhten sich außerdem die Risiken der Schifffahrt, die durch die verbreitete Kaperei ohnehin stets gegenwärtig waren. 42 Das Bündel an Problemen, das der Direkthandel mit den Kolonialmächten barg, machte der 1768 erfolgte Leinenversand der Hirschberger Kaufleute nach Cádiz besonders deutlich. So gut wie alle größeren Kaufmannshäuser beteiligten sich in diesem Jahr an der Lieferung, die mit einem Gesamtwert von rund 800.000 Talern gut die Hälfte eines üblichen Hirschberger Jahresexports erreichte. Die Ware traf im spanischen Umschlagsplatz mit solch großer Verspätung ein, dass die letzte Flotte in die amerikanischen Kolonien bereits ausgelaufen war. Zwei Drittel des Warenwertes konnten in Cádiz nicht mehr abgesetzt werden, sodass sie in der Stadt aufbewahrt werden mussten. Eine Gemeinschaft von 17 Hirschberger Kaufleuten errichtete eine Niederlage, die die Ware aufnahm. Eine Detailaufstellung zeigt, dass größere Kaufmannshäuser wie Thomann, Hartmann, Matthes & Baumert oder Tietze Leinenware im Wert von mehr als 50 Prozent eines üblichen Jahresumsatzes für mindestens ein Jahr in Cádiz lagerten. 43 Angesichts der Risiken des Direkthandels mit den europäischen Seefahrermächten setzte sich diese Form selbst bei größeren Kaufmannshäusern nicht durch. 44 Wesentlich beliebter war deshalb der Kommissionshandel, der die Unabwägbarkeiten vergleichsweise auf ein Minimum reduzierte. 45 Wie früher die Faktoren reagierten die schlesischen Kaufleute bei dieser Handelsform auf die Aufträge auswärtiger Handelshäuser. Die Bestellungen gingen von den Hamburger Seekaufleuten sowie von in der Hansestadt vertretenen ausländischen Häusern ein. Die Auftraggeber schrieben den Schlesiern die Leinensorte, die gewünschte Appretur, das heißt die Veredelung des Leinens, sowie die Versendungsart der Ware genau vor. Auf diese Art regten Hamburger Kaufherren die schlesischen Exporteure zum Beispiel zur Nachahmung der einfachen französischen Leinensorten an. 46 Die Seekaufleute legten 39 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 109-111. 40 S CHUMANN , Leinenindustrie (wie Anm. 20), 26. 41 Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 95. 42 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 54. 43 Übersicht K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 111f., gemessen an den Umsätzen des Jahres 1772, vgl. 138f. 44 Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 95. 45 S CHUMANN , Leinenindustrie (wie Anm. 20), 25f.; Kühn, Schleierhandel (wie Anm. 7), 41. 46 Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 65. <?page no="138"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 139 zumeist auch den Weg des Transports, der in der Regel über Land führte, genau fest. Mit dem Abschluss des Kaufgeschäfts wiesen sie die Bezahlung meist auf Breslauer Banken an. Ab dem Zeitpunkt des Erwerbs der Ware nahm der auswärtige Einkäufer das Risiko auf sich, sodass die schlesischen Kaufleute dieser Sorge entledigt wurden. Die Hirschberger Kaufleute betrachteten diese Art des Handels als ein Glücke, welches über alles zu achten, und welches unser Commercium vor andern so vorzüglich schätzbar machet. 47 Sie richteten sich ganz nach den Vorstellungen der Einkäufer und sicherten sich einen beträchtlichen Gewinn, ohne selbst größeres Kapital einsetzen zu müssen. Trotz der relativ großen räumlichen Entfernung der niederschlesischen Produktionsregion zum Ort des Überseeversandes an der Nordsee waren die Handelsverbindungen eng geknüpft. Das über Jahre hinweg aufgebaute gegenseitige Vertrauen bot den Schlesiern die Möglichkeit, in Hamburg Kredite und Vorschüsse zu vereinbaren. Einer Lagerhaltung in dem Seehafen während der Phasen der Absatzstockung erteilten die schlesischen Kaufleute allerdings eine Absage. 48 Sie befürchteten einen Preisverfall der Ware, wenn die Hamburger Lager überfüllt würden. Diese Haltung der Kaufleute setzte sich in ihrer Weigerung zum Wareneinkauf auf den heimischen Leinwandmärkten fort, wenn eine Stockung des auswärtigen Absatzes drohte. 49 Als Alternative zu den festen Geschäftskontakten mit den Hamburger Kaufmannshäusern bot sich für die Schlesier die Nutzung des Stapelortes Lüneburg an, der kurz vor Hamburg lag. Von diesem Stützpunkt aus konnten die Leinenkaufleute die auf eigene Rechnung versandte Ware über Kommissionäre zu einem höheren Preis in Hamburg verkaufen. Sobald das Geschäft zustande kam, wurde das Leinen aus dem Lüneburger Lager geliefert. Eine verbreitete Ergänzung zum Kommissionsgeschäft war der so genannte Barattohandel. Begünstigt durch die zeitweise von der preußischen Regierung gewährte „Barattofreiheit“ 50 erwarben die Leinenkaufleute mit ihren Erlösen aus dem Leinenverkauf in Hamburg erhältliche Kolonialwaren. Aus dem Nordseehafen führten sie Importprodukte wie Zucker, Tabak und Kaffee in ihre Heimat zurück, verkauften sie aber auch weiter nach Böhmen, teilweise sogar nach Ungarn und Polen. 51 Der Barattohandel verhinderte, dass die von den Fernhandelskaufleuten beauftragten Fuhrleute 47 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 136. Zit. nach: Gründlicher Entwurf der wahren Beschaffenheit des Schlesischen wichtigen Gebürgs-Commercii vom 24. August 1746, verfasst von mehreren größeren Hirschberger Leinenkaufleuten. 48 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 90f. 49 B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 102. 50 B URKHARD N OLTE , Merkantilismus und Staatsräson in Preußen. Absicht, Praxis und Wirkung der Zollpolitik Friedrichs II. in Schlesien und in den westfälischen Provinzen (1740-1786), Marburg 2004, 63-65. 51 S CHUMANN , Leinenindustrie (wie Anm. 20), 25; Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 64. <?page no="139"?> Marcel Boldorf 140 ohne Ladung nach Schlesien zurückkehren mussten. Das doppelte Handelsgeschäft zeichnete insgesamt eine große Sicherheit aus, was der Risikoaversion der Mehrheit unter den schlesischen Kaufleuten entgegenkam. Die Einbettung des Fernhandels in festgelegte Bahnen führte zu einer „Versteifung“ des Wirtschaftsdenkens der schlesischen Exporteure. 52 Die Generation der um die Mitte des 18. Jahrhunderts geborenen Kaufleute hielt am Handel mit einfachem Leinen fest, solange diese Sorten angesichts der anhaltenden Expansion des Weltmarktes leicht zu veräußern waren. Sie widersetzten sich der Einführung von Produktinnovationen wie zum Beispiel der Damastherstellung. 53 Die Kaufleute blieben reine Händler, die eine Anbindung an die Produktionssphäre, etwa durch die Einführung des Verlagssystems, ablehnten. Obgleich sie an das internationale Handelsgeschehen angebunden waren, trugen sie kaum zu einem Know-how-Transfer in die Region bei. Dadurch, dass sie sich nicht in der Textilproduktion engagierten, bewahrten sie sich eine relative Unabhängigkeit von der Handelsware, auch wenn sie doch recht eindeutig einer Branche zuzuordnen sind. So international der Absatz der Produkte war, so regional beengt blieb das Denken dieser Kaufleute. Auch als die Umsätze um die Jahrhundertwende zurückgingen und damit ihre Existenzgrundlage schwand, zögerten sie, ihre Produktpalette umzustellen und sich auf die neuen Erfordernisse des Marktes einzurichten. Trotz der fehlenden Bereitschaft, ihr Handelsgeschäft zu modernisieren, eigneten sich die schlesischen Kaufleute allein durch die Teilhabe am internationalen Handel spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten an. Dies übertrug die Gilde auf die Regeln, die sie für Anlernen und Ausbildung aufstellte. Als Zugangsvoraussetzungen wurden nicht nur Lesen und Schreiben verlangt, 54 sondern auch ein praktisches Studium des Handelsgeschäfts. Reiche Kaufleute entsandten die für ihre Nachfolge designierten Söhne zu auswärtigen Kaufmannskollegen. 55 Die Nachkommen der Gildemitglieder, die Anwärter auf einen Eintritt waren, unternahmen ausgedehnte Reisen, die meist Ausbildungszwecken dienten. Das Arrangement von monatsweise absolvierten Praktika setzte bestehende Geschäftsverbindungen voraus. Die auswärtige Lehre bereitete die Grundlage für den Berufseintritt. Laufende Kontakte, zum Beispiel mit Hamburger Handelshäusern, vertieften erworbenen Fähig- 52 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 126. 53 M ARCEL B OLDORF : Entwicklung und institutionelle Rahmenbedingungen: Die Beispiele Niederschlesien und Nordirland (1750-1850), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 90 (2003), 399-415. 54 S CHUMANN , Leinenindustrie (wie Anm. 20), 21. 55 Vgl. H ERMANN T EICHGRÄBER / E LISABETH Z IMMERMANN / A RNO K UNZE , Greiffenberger Leinenkaufleute in vier Jahrhunderten, Görlitz 1938, 38, für den ältesten Sohn des Greifenberger Kaufmanns Prenzel. Dieser lernte das Kaufmannsgeschäft ab 1708 in Frankfurt am Main und machte 1710 eine Ausbildungsreise in die Niederlande. <?page no="140"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 141 keiten. Das Erfahrungswissen reichte aus, um sich auf die beschriebene Art an der Peripherie des Welthandelsgeschehenes zu behaupten. Es war ein Wissen, das auf internationalem Parkett notwendig, aber kaum für die regionale Gewerbeproduktion nutzbar zu machen war. In der heimischen Geschäftsführung setzte sich eine Haltung durch, die auf die Absicherung des Vermögens, das sich durch die auswärts erzielten Gewinne ansammelte, zielte. 5. Absicherungsstrategien der führenden Kaufmannsschichten Während der ersten Jahrzehnte der Existenz der Kaufmannsgilden, als die Einwanderung in die Handelsstädte noch recht bedeutend war, suchten die Zugezogenen nach Möglichkeiten zur Einheirat in die städtischen Führungsschichten. Gerade das Handelsbürgertum setzte Heiratsverbindungen gezielt zur Absicherung der erreichten ökonomischen Stellung ein. 56 Die Heiratsstrategien untermauerten den Anspruch auf gesellschaftliche und politische Führungspositionen. In der alten Gebirgshandelsstadt Greifenberg zeigte sich beispielsweise, dass viele Bürgerfamilien, die noch während des Dreißigjährigen Krieges zur Handwerkerschaft zählten, ein Jahrhundert später zu den führenden Leinenhändlern gehörten und teilweise in die städtischen Magistrate aufgestiegen waren. 57 Zumindest die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts waren für einen gesellschaftlichen Aufstieg in höhere Schichten noch relativ offen. 58 Während im Heiratsverhalten zunächst das Motiv der Sicherung des sozialen Status dominierte, gewannen im Laufe des 18. Jahrhunderts berufsspezifisch orientierte Strategien an Bedeutung. In schlesischen Fall überschritt die Heiratspolitik den eng gesteckten Rahmen der Stadtgrenzen. Verehelichungen erfolgten nun häufig zwischen den Kaufmannsfamilien verschiedener Handelsstädte. 59 Die strategischen Heiraten erweiterten nicht nur die privaten, sondern auch die geschäftlichen Verbindungen. Das entstehende familiäre Netzwerk förderte die Entwicklung einer gemeinsamen ideellen Basis der Gebirgskaufmannschaften. Als Resultat ihrer intensivierten Kooperation entschlossen sie sich im frühen 18. Jahrhundert, spätestens 1742, zur Institutionalisierung ihrer gemeinsamen Interessen. Mit dem Ge- 56 Vgl. L OTHAR G ALL , Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989, 69; G ORIßEN , Handelshaus (wie Anm. 2), 366. 57 T EICHGRÄBER / Z IMMERMANN / K UNZE , Greiffenberger Leinenkaufleute (wie Anm. 55), 32. 58 M ICHAEL E RBE , Deutsche Geschichte 1713-1790. Dualismus und Aufgeklärter Absolutismus, Stuttgart 1985, 27. 59 T EICHGRÄBER / Z IMMERMANN / K UNZE , Greiffenberger Leinenkaufleute (wie Anm. 55), 30. <?page no="141"?> Marcel Boldorf 142 birgshandelsstand gründeten sie ein Gremium, das den einzelnen städtischen Gilden übergeordnet war und die Interessen aller schlesischen Handelsstädte vertrat. 60 Zunächst hatte der Hirschberger Bürgermeister den Vorsitz inne, wurde in dieser Funktion aber vom Landrat des Kreises abgelöst, sodass der Gebirgshandelsstand seit preußischer Zeit unter öffentlicher Kontrolle stand. 61 Das Organ hatte den Breslauer und Glogauer Kriegs- und Domänenkammern ständig Berichte über seine Handels- und Gewerbepolitik abzustatten. Die Bildung einer Institution festigte die lokalpolitische Machtposition der führenden Kaufmannsschichten. Bereits vorher genossen die Gilden im städtischen Kontext weitgehende Privilegien, doch waren die überwiegend protestantischen Kaufleute unter dem katholischen Habsburger Regime häufig noch vom Stadtregiment ausgeschlossen gewesen. 62 Dies änderte nach der preußischen Annexion, als Friedrich II. den Gebirgshandelsstand zum alleinigen Vertreter der regionalen Handelsinteressen erklärte. Die Diskriminierung der Protestanten wurde unter veränderten konfessionellen Präferenzen beseitigt, was den Aufstieg der Kaufleute in einflussreiche politische Ämter beförderte. Die institutionelle Absicherung des sozialen und wirtschaftlichen Status verstärkte die Einflussmöglichkeiten hinsichtlich der Regierungsentscheidungen auf den Feldern des Handels und des Gewerbes. Als grundlegende Regelung setzte der Gebirgshandelsstand 1742 eine Novellierung der Leinwand- und Schleierordnung durch, die den Stadtkaufleuten sowohl das Monopol auf den Außenhandel als auch das alleinige Recht zum inländischen Aufkauf des Leinens sicherte. 63 Der hier in knappen Worten geschilderte Etablierungsprozess wirkte sich auch auf das wirtschaftliche Verhalten der potentesten Kaufmannshäuser aus. Unter dem Leitbild der Ständegesellschaft war es der Wunsch der arrivierten Kaufleute, sich den Lebensverhältnissen des Adels anzugleichen. Bereits Henri Pirenne beobachtete, dass sich größere Kaufmannhäuser nach zwei bis drei Generationen aus dem riskanten Fernhandel zurückzogen und ein Amt oder eine Grundherrschaft erwarben. 64 Nach Fernand Braudel handelte es sich um einen typischen Prozeß, der zwischen 1500 und 1800 immer wieder und nicht nur in einem bestimmten Zeitabschnitt zu beobachten war. Auch die schlesischen Kaufleute lassen seit der Mitte des 18. Jahrhun- 60 B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 74. 61 Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 77. 62 Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 74; K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 119; E RBE , Deutsche Geschichte (wie Anm. 58), 45, 153 und 162. 63 S CHUMANN , Leinenindustrie (wie Anm. 20), 31; Z IMMERMANN , Leinengewerbe (wie Anm. 11), 176. 64 F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, Bd. 2: Der Handel, 3 Bde., München 1986, 528f. Mit Verweis auf H ENRI P IRENNE , Les périodes de l’histoire sociale du capitalisme, Bruxelles 1922. <?page no="142"?> Weltwirtschaftliche Verflechtung und lokale Existenzsicherung 143 derts eine solche Verhaltensweise erkennen. Im Nachlass des bedeutenden Hirschberger Kaufmanns Christian Mentzel ließen sich bereits 1745 neben größeren Kapitalien, Warenlagern und städtischen Immobilien auch zwei Rittergüter nachweisen. 65 Eine fünf Jahrzehnte später entstandene Statistik wies aus, dass Mitte der 1790er Jahre 304 von insgesamt 4.100 schlesischen Gutsherrschaften in bürgerlicher Hand waren, was einem beachtlichen Anteil von 7,4 Prozent entsprach. 66 Von diesen Gutshöfen lagen nicht wenige in der Leinen produzierenden Region. 6. Schluss Die Risikoaversion bildete einen wesentlichen Charakterzug der führenden schlesischen Kaufmannsschichten. Sie partizipierten am internationalen Handelsgeschehen auf eine Art, die ihnen krisenfest erschien. Diese Suche nach Existenzabsicherung setzte sich zu Hause in ihrem alltäglichen Geschäft fort. Die städtischen Gilden hielten an dem überkommenen Kaufsystem fest, das ihnen dank ihrer privilegierten Position kostengünstigste Einkaufsbedingungen bot. Sie etablierten sich als reine Kaufleute, die jegliche Art einer festen Bindung an die Produktionssphäre ablehnten. Selbst der Handel mit neuartigen Leinensorten, wie zum Beispiel Damast oder Creas, erschien den Kaufmannschaften derart risikobehaftet, dass sie sich dagegen sträubten. Zum Aufbau des Verlagssystems zeigten sie ebenfalls keinerlei Bereitschaft. Im Gegenteil enthielten die verschiedenen Leinwand- und Schleierordnungen auf Betreiben des Gebirgshandelsstandes zahlreiche Bestimmungen, die vorrangig auf die Verhinderung der Entwicklung regionaler Konkurrenten im ländlichen Zwischenhandel zielten. Entsprechend risikoscheu verhielten sich die Mitglieder der Kaufmannschaften auch in der wirtschaftlichen Krise der Napoleonischen Ära, als der Überseehandel wegen Blockade und Gegenblockade im Gefolge der Kontinentalsperre fast zum Erliegen kam. Der schlesische Export brach ein, sodass der Umsatz der wichtigsten Handelsstädte wie Hirschberg oder Landeshut innerhalb weniger Jahre auf ein Zehntel sank. 67 Die wirtschaftliche Rezession verstärkte die Tendenz unter den Kaufleuten, den Handel aufzugeben und 65 K ÜHN , Schleierhandel (wie Anm. 7), 121. Zum konkreten Fall siehe auch: G ÜNTHER G RUNDMANN , Lomnitz, in: Handbuch der historischen Stätten: Schlesien, H UGO W ECZERKA (Hrsg.), Stuttgart 1977, 300. Allgemein bestätigt bei: F RANZ B ALTZAREK , Schlesien im Übergang von Protoindustrialisierung zur Industrialisierung. Ein Bericht, in: Wirtschaft im Umbruch. Strukturveränderungen und Wirtschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert (Festschrift für Lothar Baar zum 65. Geburtstag), W OLFRAM F ISCHER / U WE M ÜLLER / F RANK Z SCHALER (Hrsg.), St. Katharinen 1997, 400. 66 J OHANNES Z IEKURSCH , Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung, Breslau 1927, 2. Aufl., Nachdruck Aalen 1978, 47f. 67 B OLDORF , Leinenregionen (wie Anm. 23), 173. <?page no="143"?> Marcel Boldorf 144 Landbesitz zu erwerben, wie zahlreiche Einzelfälle in den Kaufmannsgilden belegen. Diese erfahrenen Leinenexporteure waren nicht ohne weiteres zu ersetzen. Durch ihre Geschäftsaufgabe ging dem Fernhandel ihr soziales Kapital und ihr wirtschaftliches Know-how verloren. Zwar vermehrte sich infolge der Gewerbefreiheit die Zahl der Dorfhändler stark, doch verfügten diese emporgekommenen Geschäftsleute nicht über die notwendige Erfahrung, um die brach liegenden Handelskontakte mit den entfernten Handelshäusern wiederherzustellen. Wie einige Jahrzehnte zuvor richtete sich der Handel dieser Neueinsteiger zunächst auf die umliegenden Märkte und Messen aus. Abschließend gilt es, die führenden schlesischen Leinenkaufleute in eine von Stefan Gorißen vorgeschlagene Typologie einzuordnen, die zwei für unseren Kontext relevante Begriffe vorschlägt: a. den „Nur-Kaufmann“, der sich der Vermarktung von Gütern widmete, an dessen Produktion er keinen Anteil hatte; b. den „Verleger-Kaufmann“, der die „dezentralen heimgewerblichen Exportgewerbe koordinierte und das entscheidende Scharnier zwischen der regionalen protoindustriellen Produktion und den entfernten Arbeitsmärkten bildete.“ 68 Während Gorißen die zweite Gruppe als die für den Textilsektor typische bezeichnet, verortet er die erste Gruppe zum einen in der Kleinkrämerei, zum anderen in der Fernhandelskaufmannschaft, die in Seehäfen, Messeplätzen und zentralen Warenumschlagsplätzen des Binnenlandes ansässig war. Die schlesischen Stadtkaufleute schienen zwischen diesen beiden Gruppen zu stehen, entsprachen der Mentalität nach aber stärker dem „Nur- Kaufmann“: Sie handelten zwar vorwiegend mit einem Produkt, banden sich aber nicht an die Produktionssphäre, hielten das Anlagekapital niedrig und scheuten betriebliche Investitionen. Dennoch übernahmen sie die dem Verleger-Kaufmann zugeschriebene Funktion des Verkaufs der regional produzierten Textilien auf internationalen Märkten und waren nicht nur um eine Koordinierung, sondern sogar um eine Regulierung der Produktion bestrebt. In einem zusätzlichen Differenzierungsschritt könnten sie als Branchenkaufleute bezeichnet werden, die nicht im Produktionssektor verwurzelt waren. 69 Mit ihrer überlokalen Dominanz, ihren Abschottungsstrategien und ihrer Innovationsfeindlichkeit übten sie einen starken Einfluss auf die Deindustrialisierung bzw. „Entgewerblichung“ der schlesischen Leinenregion aus. 68 G ORIßEN , Handelshaus (wie Anm. 2), 371. 69 Entgegen der Annahme von G ORIßEN , Handelshaus (wie Anm. 2), 381, dass eine Spezialisierung auf bestimmte Produkte nicht bei Großhändlern, sondern allenfalls bei Einzelhändlern und Krämern stattfand. <?page no="144"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann. Theoretische Dimensionen und historische Spezifität kaufmännischen Handelns Alexander Engel Der folgende Beitrag unternimmt eine Theoretisierung des kaufmännischen Handelns in der Vormoderne sowie umgekehrt eine historische Relativierung der verwendeten Theorie. 1 Das gleichsam doppelte Ziel ist es also, wirtschaftsgeschichtliche und wirtschaftstheoretische Perspektiven in einer sich wechselseitig erhellenden Weise zusammenzuführen: Inwieweit erlaubt der Rückgriff auf die Ökonomik - hier konkret: auf die neoklassische Markttheorie und die betriebswirtschaftliche Funktionenlehre - einen strukturierenden und analytischen Zugriff auf die Handelsgeschichte? Und inwieweit zeigt sich umgekehrt in der Anwendung und ideengeschichtlichen Reflexion der vorgeblich universalistischen ökonomischen Theorie eine historische Spezifität? Im Mittelpunkt der Überlegungen steht zunächst der neoklassische Modellakteur des Homo oeconomicus. Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die Eigenheiten dieses Geschöpfs wird eine historische Vorlage für diesen speziellen „wirtschaftenden Menschen“ identifiziert, nämlich die Figur des ehrbaren Kaufmanns. An die Historisierung des Homo oeconomicus schließt, in Umkehrung der Perspektiven, eine Theoretisierung des Kaufmanns an. Darauf aufbauend lässt sich ein systematisierender Zugriff auf die Handelsgeschichte unternehmen, die hier nicht als eine Sozialgeschichte der kaufmännischen Person, sondern als Wirtschaftsgeschichte der kaufmännischen Funktion verstanden wird. Dies führt zur Frage, inwiefern kaufmännisches Handeln auch bei anderen Akteursgruppen zu beobachten ist, etwa bei Konsumenten. Abschließend lässt sich für den hier behandelten Gegenstand des kaufmännischen Handelns überschauen, ob und inwiefern eine wechselseitige Verzahnung theoretisch reflektierter Wirtschaftsgeschichtsforschung und historisch relativierter Wirtschaftstheoriebildung gewinnbringend sein könnte. 1 Dieser Artikel fußt nicht allein auf einem Referat beim IV. Irseer Arbeitskreis im März 2004, sondern ebenso - und vielleicht mehr noch - auf einem weiteren Beitrag zum VI. Arbeitskreis im März 2006, der unter dem Leitthema „Wirtschaft und Wissen“ stand. Ich danke Mark Häberlein und Christof Jeggle für die Möglichkeit, einen Aufsatz auf Basis beider Vorträge erarbeiten zu können. <?page no="145"?> Alexander Engel 146 1. Die Natur des Homo oeconomicus Neoklassisches Denken ist der meist gescholtene, und folglich wohl auch der einflussreichste Ansatz moderner wirtschaftswissenschaftlicher Theoriebildung. 2 Neoklassische Wirtschaftstheorien eroberten ab den 1870er Jahren die wissenschaftlichen Debatten, wurden im Gefolge der Weltwirtschaftskrise zwischenzeitlich vom Keynesianismus in den Schatten gestellt und erlebten ab den 1970er Jahren mit dem Siegeszug des Monetarismus eine Renaissance. Der Begriff der „Neoklassik“ geht auf Alfred Marshall zurück, der damit eigentlich eine Kontinuität zu den Autoren der wirtschaftswissenschaftlichen Klassik wie Adam Smith oder David Ricardo herstellen wollte. Faktisch überwiegen jedoch die Diskontinuitäten: Die Neoklassik thematisiert vorrangig die Distribution, nicht mehr die Produktion von Gütern. Sie ersetzt die objektivistische durch eine subjektivistische Wertlehre - das heißt nicht mehr die Arbeitskosten der Anbieter, sondern der individuelle Nutzen der Nachfrager gilt als entscheidende Determinante der Preisbildung. Und schließlich begreift sich die Neoklassik nicht mehr als politische Ökonomie, sondern als rein analytische, an mathematischer Formalisierung orientierte Wissenschaft. Bei alldem ist die Neoklassik einem methodologischen Individualismus verpflichtet - allgemeine Gesetzmäßigkeiten und Strukturen werden also als Aggregat individueller Handlungen interpretiert. Am Anfang der neoklassischen Modellbildung steht daher die Modellierung der Handlungsmuster wirtschaftender Menschen. Es wird ein vereinfachter Modellakteur konstruiert, aus dessen Verhaltenslogik sich letztlich alle ökonomischen Befunde ableiten: Dies ist der „Homo oeconomicus“ der Rational-Choice-Theorie. Er definiert sich allein über die eine Eigenschaft, in Entscheidungssituationen - insbesondere im Kaufen und Verkaufen - durch ungebundenes und rationales Abwägen seinen eigenen, individuellen Nutzen zu maximieren. 3 Theoretisch begründete Abneigungen gegen die Neoklassik machen sich vor allem an diesem irritierend asozialen und amoralischen Modellakteur fest. Tatsächlich aber, so etwa der Ökonom Stergios Skaperdas, wird der 2 Brauchbare Übersichten zur Geschichte der ökonomischen Ideen bieten zum Beispiel J ÜRG N IEHANS , A History of Economic Theory. Classic Contributions, 1720-1980, Baltimore / London 1990; K ARL P RIBRAM , Geschichte des ökonomischen Denkens, 2 Bde., Frankfurt a. M. u. a. 1992; F RITZ S ÖLL- NER , Die Geschichte des ökonomischen Denkens, 2. Aufl., Berlin u.a. 2001; H ENRY W ILLIAM S PIEGEL , The Growth of Economic Thought, 3. Aufl., Durham / London 1991. 3 Ausführlich beispielsweise: G EBHARD K IRCHGÄSSNER , Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 2000; R EINER M ANSTETTEN , Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg 2002; R OBERT R OLLE , Homo oeconomicus. Wirtschaftsanthropologie in philosophischer Perspektive, Würzburg 2005; D OROTHEE W OLF , Ökonomische Sicht(en) auf das Handeln. Ein Vergleich der Akteursmodelle in ausgewählten Rational- Choice-Konzeptionen, Marburg 2005. <?page no="146"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 147 Homo oeconomicus diesem Ruf eigentlich nicht gerecht: „The Homo economicus of traditional economics is far from being completely selfinterested, rational, or as individualistic as he is purported to be; he will haggle to death over price but will not take what he wants by force. Implicitly, he is assumed to behave ruthlessly within a well-defined bubble of sainthood.“ 4 Der neoklassische Homo oeconomicus ist also insofern kein totaler rationaler Nutzenmaximierer, als er sein Handeln einem restriktiven Set gemeinschaftlicher Spielregeln, etwa des Markthandelns, unterwirft - selbst wenn ihm dies in konkreten Situationen Nachteile einbringt bzw. ihm zusätzliche langfristige Nutzenvorteile entgehen. Diese Moralität des „ehrlichen Spielens“ ist dabei nicht allein Ausfluss seiner Rationalität. Er befolgt Spielregeln nicht allein deshalb, weil drohende Sanktionen langfristig betrachtet den durch den Regelbruch erzielbaren Nutzen zunichte machen könnten. Vielmehr ist der Homo oeconomicus bereits als ein moralisch gezügelter Akteur konstruiert: Er kann nur im Rahmen der in einer Entscheidungssituation extern vorgegebenen Alternativen wählen und nicht selbst den Kanon der Wahlmöglichkeiten erweitern: Er kann also ein Gut zu bestimmten Preisen kaufen oder auch nicht, aber es kommt ihm nicht in den Sinn, es zu stehlen. 5 Die dem Konstrukt des Homo oeconomicus inhärente, gewöhnlich nicht thematisierte moralische Zügelung ist demnach - noch vor der Nutzenmaximierung - oberste Handlungsprämisse. Da die neoklassische Theorie (tausch-)wirtschaftliches Geschehen möglichst präzise beschreiben will, ist sie auf eine treffende Modellierung der Akteure angewiesen. Ist es aber tatsächlich adäquat, (tausch-)wirtschaftende Menschen als individuelle, rationale und moralisch gezügelte Nutzenmaximierer zu portraitieren? Der Zürcher Ökonom Armin Falk hat mit spieltheoretischen Experimenten nachgewiesen, dass nur ein Teil seiner Probanden zur individuellen Nutzenmaximierung neigt, der andere dagegen zur gemeinschaftlichen Nutzenmaximierung durch Reziprozität - „gibst Du mir, geb ich Dir“. 6 Auch die Rationalitätsannahme ist bei Tauschhandlungen 4 S TERGIOS S KAPERDAS , Restraining the Genuine Homo Economicus. Why the Economy cannot be divorced from its Governance, in: Economics & Politics 15 (2003), 135-162, hier 135. 5 Es sei denn, im Rahmen einer spezifischen wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellung wird „illegitimes“ Handeln selbst zu einer Alternative gemacht, deren Preis durch die mittlere zu erwartende Sanktion bestimmt ist. Ein Beispiel wäre die Frage, ob es auf lange Sicht lohnender ist, auf öffentlichen Autostellplätzen Parkscheine zu ziehen oder alternativ konsequent darauf zu verzichten und gelegentliche Bußgelder zu zahlen. Obwohl die Variante der Bußgeldzahlung eine Ordnungswidrigkeit darstellt, wird sie im Rahmen der Fragestellung zu einer wählbaren, und damit im Sinne der Regeln der Fragestellung legitimen Alternative erhoben. Die Bußgeldzahlungen zu verweigern wiederum wäre in dieser Entscheidungssituation ein undenkbarer Regelbruch. 6 Wobei zu bemerken ist, dass in Falks Versuchen die reziproke Nutzenmaximierung im Vergleich zur individuelle Nutzenmaximierung stets riskanter ist, für den Erfolgsfall aber größeren Nutzen verspricht. A RMIN F ALK , Homo Oeconomicus versus Homo Reciprocans. Ansätze für ein neues Wirtschaftspolitisches Leitbild? , in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 4 (2003), 141-172. <?page no="147"?> Alexander Engel 148 praktisch zumeist nicht strikt 7 und etwa im Fall spontaner Kaufentscheidungen sicher kaum erfüllt. 8 Rationalität und Willen zur Nutzenmaximierung sind ebenso wenig anthropologische Konstanten wie Individualität, ungebundene Wahl und moralische Zügelung universelle soziale Charakteristika von Tauschwirtschaften darstellen. 9 Dennoch ist die Konstruktion des neoklassischen Modellakteurs kein unrealistisches Vorgehen - es ist lediglich zeitgebunden. Tatsächlich, so die These dieses Beitrags, wurde der Homo oeconomicus nach dem Vorbild eines realen zeitgenössischen Schlüsselakteurs geformt: Der vor- und frühindustrielle Großkaufmann stand ihm Modell. In einem ersten, relativ ausführlichen Schritt soll im Folgenden diese Behauptung plausibel gemacht werden. Hierzu wird der fortwährende historische Prozess der Normierung kaufmännischen Handelns im Spiegel ausgewählter Quellen des 15. und des 18. Jahrhunderts ausschnittsweise illustriert. Das Produkt dieses Normierungsprozesses ist ein Idealtypus des „ehrbaren Kaufmanns“, 10 der zum Vorbild für den neoklassischen Homo oeconomicus genommen wurde. 7 Insbesondere fehlt es Akteuren praktisch immer an den notwendigen Informationen, um tatsächlich rational entscheiden zu können. Hier setzen Konzepte von „Bounded Rationality“ an, vgl. etwa: A RIEL R UBINSTEIN , Modeling Bounded Rationality, Cambridge, MA 1998; A RTHUR T. D ENZAU / D OUG- LASS C. N ORTH , Shared Mental Models. Ideologies and Institutions, in: Elements of Reason. Cognition, Choice, and the Bounds of Rationality, A RTHUR L UPIA / M ATHEW D. M C C UBBINS / S AMUEL L. P OPKIN (Hrsg.), Cambridge / New York 2000, 23-46. Das resultierende Problem der Effizienz einer auf rationalem, Nutzen maximierendem Verhalten basierenden Ökonomie wird scharfsinnig diskutiert von J ENS B ECKERT , Grenzen des Marktes. Die sozialen Grundlagen wirtschaftlicher Effizienz, Frankfurt a. M. 1997. 8 Hiergegen ließe sich einwenden, dass jeder infolge mangelnder Reflexion beim ‚Spontankauf’ entgangene Nutzen (etwa der Ersparnis durch einen späteren Kauf nach gründlichen Preisrecherchen) mehr als aufgewogen wird durch die Freude am Spontankauf, so dass dieser eben doch im Moment der Entscheidung als Nutzen maximierend zu betrachten ist. Letztlich ließe sich so jede Entscheidung ex post als rational bezeichnen, gemessen an den Kriterien, die der Entscheider im Augenblick der Entscheidung angelegt hat. Ein derart erweitertes neoklassisches Modell würde allerdings keinerlei Voraussagen mehr erlauben, da die vom jeweiligen Individuum und individuellen Kontexten abhängenden Entscheidungskriterien ex ante gar nicht bestimmt werden könnten. Und die Aussagekraft der neoklassischen Markttheorie rührt gerade daher, dass sie von Individuen und individuellen Situationen abstrahiert, indem sie unterstellt, dass es keine Präferenzen für bestimmte Zeitpunkte, Orte, Umstände und Partner (potentieller) Transaktionen gibt. 9 Zu alternativen Formen ökonomischen Handelns: M ARK G RANOVETTER , The Nature of Economic Relations, in: Understanding Economic Processes, S UTTI O RTIZ / S USAN L EES (Hrsg.), Lanham, MD 1992, 21-37; R ICHARD R. W ILK , Economies and Cultures. Foundations of Economic Anthropology, Boulder, CO 1996; S TEPHEN G UDEMAN , The Anthropology of Economy. Community, Market and Culture, Oxford 2001. 10 Zur Ideengeschichte des ‚ehrbaren Kaufmanns‘ aus Sicht der betriebswirtschaftlichen Dogmengeschichte: D ANIEL K LINK , Der ehrbare Kaufmann - Das ursprüngliche Leitbild der Betriebswirtschaftslehre und individuelle Grundlage für die CSR-Forschung, in: Corporate Social Responsibility, J OACHIM S CHWALBACH (Hrsg.), Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Special Issue 3 (2008), 57-79. <?page no="148"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 149 2. Die Normierung kaufmännischen Handelns an der Schwelle zur Neuzeit Das ökonomische Denken der Vormoderne war, anders als in der Moderne, primär akteursbezogen. Abstrakte ökonomische Mechanismen wie das Gesetz von Angebot und Nachfrage wurden als Nebenbedingungen ökonomischen Handelns aufgefasst, sie waren als Erfahrungswissen gegeben und galten nicht selbst als erklärungswürdig. Das Nachdenken über ökonomisches Handeln wiederum vollzog sich häufig im Spannungsfeld zweier Pole, zum einen der Notwendigkeit einer funktionierenden Wirtschaft zur Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse, und zum anderen der Notwendigkeit einer religiös und gesellschaftlich verträglichen Lebensführung der ökonomischen Akteure. Dieses Spannungsverhältnis produzierte eine ganze Reihe von theoretischen Dilemmata, von den scholastischen Nöten zur Rechtfertigung von Zins und Profit bis hin zum viel diskutierten Adam- Smith-Problem - der Vereinbarkeit seines moralphilosophischen mit seinem ökonomischen Hauptwerk. Neben eher philosophisch angelegten Publikationen finden sich auch eine Reihe praxisnaher Schriften, welche speziell kaufmännische Praktiken reflektieren und die ethisch richtige Ausübung der kaufmännischen Tätigkeit lehren. 11 Wesentlicher, wenn auch nicht einziger Punkt ist dabei die kaufmännische Preisgestaltung und die Frage nach dem Profit. Ein frühes Beispiel hierfür stellt ein Traktat aus dem 15. Jahrhundert dar, „De Contractibus Mercatorum“. 12 Es wurde von Johannes Nider verfasst, einem kirchenpolitisch einflussreichen Dominikaner, der unter anderem eine Professur an der Universität Wien innehatte. Nider starb 1438, das auf ihn zurückgehende Manuskript wurde erstmals 1468 in Köln gedruckt. „Von den kaufmännischen Verträgen“ ist ein fast sechzigseitiger praktischer Ratgeber zu den ethischen Fragen des Tauschgeschäfts, nicht allein für Kaufleute, sondern für jedermann, der etwas kauft oder verkauft. Nider definiert den Begriff des Tauschgeschäfts penibel, etwa in Abgrenzung zur Schenkung, und leitet die Notwendigkeit des Tauschens für die menschliche Gesellschaft aus der Arbeitsteiligkeit des Wirtschaftens ab. Damit bleibt nur das Problem, wie ein Tauschvorgang in moralisch richtiger Weise abzuhandeln ist. Hierzu bemüht Nider in scholastischer Tradition das Aristotelische Prinzip der Gleichgewichtigkeit: Ein Tauschvorgang ist gerecht, wenn Leistung und 11 Zur kaufmännischen Ausbildung allgemein: H ANNS -P ETER B RUCHHÄUSER , Kaufmannsbildung im Mittelalter. Determinanten des Curriculums deutscher Kaufleute im Spiegel der Formalisierung von Qualifizierungsprozessen, Köln 1989. 12 In moderner Edition: J OHANNES N IDER , On the Contracts of Merchants [De Contractibus Mercatorum, 1468], R ONALD B. S HUMAN (Hrsg.), Norman 1966. <?page no="149"?> Alexander Engel 150 Gegenleistung denselben Wert haben. Dieser verbreitete Ansatz verursacht zwei potentielle Probleme. Zum ersten stellt er Kaufleute - trotz Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit - in den Generalverdacht der Amoralität, da sie ein und dieselbe Ware im Grundsatz teurer verkaufen als einkaufen, obwohl sie beide Male denselben Wert haben muss. Bei Nider löst sich das Problem in eleganter Weise, da er sich nicht auf den Tausch von Waren beschränkt, sondern Nutzungsrechte und Dienstleistungen einbezieht. Der Kaufmann wird für seine Vermittlungstätigkeit und den Warentransport also zu Recht mit einem Profit honoriert, nach dem Prinzip der Gleichgewichtigkeit ist ein Profit bei dieser Betrachtungsweise sogar moralisch zwingend erforderlich. Die Höhe des vertretbaren Profits richtet sich einerseits nach dem Aufwand und Risiko des Kaufmanns und andererseits nach dem Grad der gesellschaftlichen Nützlichkeit und entsprechenden Nobilität des Warenhandels. So verdient einerseits ein Fernhandelskaufmann einen höheren Profit als ein lokaler Krämer, da Aufwand und Risiko im Fernhandel viel größer sind. Andererseits - und diese Antithese löst Nider nicht auf - verdient ein lokaler Anbieter von Grundnahrungsmitteln einen höheren Profit als ein Fernhändler, der mit weniger notwendigen Luxusgütern handelt. Die Frage der gesellschaftlichen Nützlichkeit gehandelter Gütergruppen ist übrigens ein immer wiederkehrendes Motiv in Diskursen über Kaufleute. 13 Das Luxusargument schwächt sich im Zuge der frühneuzeitlichen Konsumrevolution verständlicherweise immer weiter ab, und entsprechend steigt das Renommee des Fernhandelskaufmanns bis zum 19. Jahrhundert erheblich an. Das zweite und eigentliche Problem, welches sich aus dem Prinzip der Gleichgewichtigkeit für den Tauschhandel ergibt, ist dasjenige der Wertbestimmung. Ein Warenpreis ist gerecht, falls er dem Warenwert entspricht. Was aber ist objektiv betrachtet der wahre Wert einer Ware? Das lässt sich praktisch nicht exakt bestimmen, es gibt bestenfalls den Anhaltswert des üblichen Preises, also des normalen Marktpreises, in den gleichsam die allgemeine Expertise der Wertbestimmung eingeflossen ist. Nider kehrt das Problem daher um: Ein Tauschgeschäft ist gerecht, solange es guten Gewissens abgehandelt wird und sich beide Tauschpartner keiner Ungerechtigkeiten bewusst sind. Es zählt also der Wille zur Gleichgewichtigkeit, nicht die tatsächlich erreichte Gleichgewichtigkeit. Nider entwickelt daher im mittleren Teil seiner Abhandlung 24 Regeln, die - zumeist anhand konkreter Geschäftssituationen - Ratschlag erteilen, bis zu welchem Grad sich ein 13 So gründet sich etwa Luthers Abneigung gegen Großkaufleute gerade auf den Bezug zu Luxusartikeln, nicht auf eine Ablehnung des Handels an sich: J OHANNES B URKHARDT , Martin Luther. Kritik des Kaufhandels aus dem Geiste der Reformation, in: Geschichte der Ökonomie, D ERS . / B IRGER P. P RIDDAT (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2000, 673-681. <?page no="150"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 151 Tauschpartner der moralischen Richtigkeit seines Tuns sicher sein kann. Zwei Beispiele: Regel 11 besagt, dass wenn man ernsthaft im Zweifel ist über den gerechten Preis einer Sache, und angenommen man hält den Käufer für einen Experten [soll heißen: man kann ruhigen Gewissens annehmen, dass er den gerechten Preis in etwa kennt], und angenommen man verkauft in gutem Glauben und bemerkt nicht, dass dieser Käufer in Wahrheit beschränkt oder unerfahren ist, unter diesen Umständen kann man im Hinblick auf die eigene Preisgestaltung nicht der Ungerechtigkeit bezichtigt werden. [...] Die 16. Regel. Ebenso wie es zur Selbstvergewisserung beiträgt, wenn ein Verkäufer den Käufer nicht durch Schmeicheln oder Einschüchtern zur Akzeptanz eines höheren Preises bewegt, als er normalerweise zu zahlen bereit wäre, so erhöht das Gegenteil die moralische Zweifelhaftigkeit. 14 Unzweifelhaft ist der wirtschaftende Mensch bei Nider - und das gilt wohl für die meisten wirtschaftstheoretischen Überlegungen des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit - alles andere als ein Homo oeconomicus im neoklassischen Sinn, er ist vielmehr (in den Worten des Philosophen Odo Marquard) ein Homo compensator, 15 oder besser noch (mit einem Ausdruck des bereits erwähnten Armin Falk) ein Homo reciprocans. 16 Das Abzielen auf Gleichgewichtigkeit und gerechte Gegenseitigkeit verweist deutlich auf den später zunehmend bestrittenen Vorrang des Gemeinnutzes vor dem Eigennutz. 17 Daneben finden sich bei Nider aber auch Aspekte, die im gesamten noch folgenden Diskurs wichtige Konstanten darstellen. Zum ersten, mit Blick auf Regel 11, gibt es Grenzen der Gemeinverantwortung. Der individuelle Akteur haftet nicht für Versäumnisse und Unzulänglichkeiten seiner Tauschpartner, sofern er diese nicht wissentlich ausnutzt. Er ist jenseits des gesunden Menschenverstands nicht verpflichtet, die Handlungsbedingungen anderer Akteure in Erfahrung zu bringen, um die Gerechtigkeit der Tauschhandlung abzusichern. 18 Ein Merkmal des neoklassischen Homo oeconomicus, die Individualität des Handelns, ist hier bereits angelegt. Zum zweiten, Regel 16, betont Nider die Notwendigkeit zur Rationalität im Tauschgeschäft. Um die Gerechtigkeit der Tauschhandlung zu wah- 14 Eigene Übersetzung von N IDER , De Contractibus Mercatorum (wie Anm. 12). 15 O DO M ARQUARD , Homo compensator, in: Philosophie des Stattdessen, D ERS . (Hrsg.), Stuttgart 2000, 11-29. 16 Vgl. Anm. 6. 17 Vgl. W INFRIED S CHULZE , Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über Normenwandel in der Ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 591-626. 18 Hierzu sei angemerkt, dass ein solch aufwändiges Kundigmachen mit der geschäftlichen Praxis auch gar nicht vereinbar gewesen wäre; ein entsprechend anspruchsvolles ethisches Programm hätte somit keine praktische Wirkung erzielen können. <?page no="151"?> Alexander Engel 152 ren, ist Unvoreingenommenheit erforderlich. In Verbindung mit - wiederum - der Individualität des Handelns erscheint darum die emotionale Beeinflussung des Tauschpartners in dessen selbst zu fällendem Urteil als besonders verwerflich. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich Kaufleute betont freundlich geben und ihre Ware vorteilhaft präsentieren - denn, so impliziert Nider, dies ist Usus und von jedem potentiellen Kunden daher beim Bedenken des Tauschgeschäfts zu berücksichtigen. 3. Die Normierung kaufmännischen Handelns an der Schwelle zur Moderne Halten wir nun eine Stimme aus dem 18. Jahrhundert dagegen - die von Johann Georg Büsch, Gründer der Hamburger Handlungsakademie, einer Art Privatschule zur Ausbildung von Kaufleuten. 19 Schon auf der ersten Seite seiner 1792 erschienenen „Theoretisch-praktische[n] Darstellung der Handlung“ definiert Büsch unumwunden: Die Absicht und Hofnung des Gewinns muß zum Grunde aller Handlung liegen: es mag dieselbe hintennach erfüllt werden, oder nicht. 20 Ist hier also, indem das Jahrhundert und auch die Seiten - vom Ethiker zum Praktiker - gewechselt wurden, Niders Maxime gerechter Gleichgewichtigkeit ins Gegenteil verkehrt? Nein - denn verlagert hat sich gleichsam nur die Ebene, auf der Gerechtigkeit herzustellen ist. Nider fordert dies für die einzelnen Transaktionen des Handels, wobei er zugleich zugibt, dass die Gerechtigkeit aufgrund des Problems der Werteinschätzung nur schwer herzustellen ist. Die Logik des 18. Jahrhunderts ist dagegen gleichsam eine statistische. Büsch definiert: Handeln heißt: einen Vorrath von Producten [...] andern mit Vorteil, oder den Umständen nach mit Verlust wieder abtreten. 21 Ob mit einer bestimmten Transaktion Gewinn oder Verlust gemacht wird, ist a priori völlig unklar, da Preisschwankungen, das Verderben oder gar der Verlust der Ware beim Transport möglich sind. Die Gerechtigkeit des 18. Jahrhunderts fordert, dass der Kaufmann zumindest auf lange Sicht für seine Arbeit entlohnt werden muss. Da ihm immer wieder unvorhergesehene und unverschuldete Verluste drohen und er seinen angemessenen Lohn gleichsam nur im Mittelwert erzielen kann, muss er von seinen erfolgreichen Transak- 19 Vgl. für diese Zeit auch: D ANIEL A. R ABUZZI , Eighteenth-Century Commercial Mentalities as Reflected and Projected in Business Handbooks, in: Eighteenth-Century Studies 29 (1995), 169-189; W OLFGANG R UPPERT , Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur, Diss. München 1977, 65-142; J OHN W ALTER V AN C LEVE , The Merchant in German Literature of the Enlightenment, Chapel Hill, NC 1986. 20 J OHANN G EORG B ÜSCH , Theoretisch-praktische Darstellung der Handlung, Hamburg 1792, 3. 21 B ÜSCH , Darstellung der Handlung (wie Anm. 20), 3. <?page no="152"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 153 tionen mehr profitieren als es im Einzelfall eigentlich gerechtfertigt ist. Er muss also immer nach Gewinnmaximierung streben, um auf das Ganze gesehen der Gerechtigkeit überhaupt Genüge tun zu können. Die Situation der Kaufleute ist demnach eine gänzlich andere als die der Produzenten wie Handwerker oder Bauern, die normalerweise nur durch eigenes Verschulden Verluste erleiden können, indem sie das Werkstück oder die Ernte durch eigenes Unvermögen ruinieren. 22 Der Philosoph Christian Garve - der im Anhang zu seiner deutschen Edition von Ciceros „Pflichten“ eigene moralphilosophische Überlegungen, darunter rund 50 Seiten zur Moral des Kaufmannsstands, entwickelte - hält darum fest: Jedes Geschäft, jeder Stand in der Welt, hat seine eigene Moral. Die allgemeinen Regeln des Rechts schränken sich ein durch die Natur des Gegenstandes; oder verfälschen und verderben sich durch die Leidenschaft, welche derselbe erregt. 23 Dementsprechend, so Garve weiter, ist es sogar amoralisch, der Forderung nach dem Gewinnstreben nicht nachzukommen: Einem Kaufmann wird es von Personen seines eigenen Standes zu einem großen Verbrechen angerechnet, wenn er unter den gewöhnlichen Preisen (gesetzt auch, diese wären unbillig hoch), verkauft, als wenn er seine Käufer übersetzt. Es heißt, er schleudert. - Es ist darin etwas wahres. Die größte Pflicht hat jeder Mensch gegen die, mit welchen er in der nächsten Verbindung steht. Der fremde Käufer ist für den Kaufmann nur ein Mensch, dem er die Pflichten der allgemeinen Menschenliebe schuldig ist. Sein Mitverkäufer ist sein Nächster, gegen den er auch die Pflichten eines besonderen gesellschaftlichen Verhältnisses zu leisten hat. Die Habsucht, die Eigenliebe dessen, welcher schleudert, ist größer, als dessen der überbietet. Es schadet mehrern, und schadet länger. Den wohl größten Einfluss auf die Handlungsnormen von Kaufleuten hat also, mit einem modernen Begriff, die „peer group“ der Kaufmannschaft. Das lenkt den Blick auf die Ausbildung von Kaufleuten, in der die Praktiken und Werte des Kaufmannsstands vermittelt werden. Neben tradierten Merkregeln und Sprichwörtern der Kaufleute existieren - angefangen beim 1715 veröffentlichten „Wohl-Unterwiesene[n] Kauffmanns-Jung“ von Paul Jacob Marperger - eine Reihe von ausführlichen Handreichungen für angehende Kaufleute im deutschsprachigen Raum, in welchen diese im richtigen Ver- 22 Der Ernteausfall ist natürlich auch witterungsbedingt und in dieser Hinsicht dem bäuerlichen Einfluss entzogen. Dies trifft aber im Allgemeinen alle Bauern einer Region gleichermaßen. Da bei allgemeinen Missernten angesichts der starren Nachfrage nach Lebensmitteln die Preise überproportional ansteigen, sind dies zumindest für Produzenten mit hoher Marktquote - also einem im Verhältnis geringen Eigenverbrauch - sogar Prosperitätsphasen. Vgl. W ILHELM A BEL , Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 2. Aufl., Hamburg 1966, 23-26. 23 C HRISTIAN G ARVE , Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten. Anmerkungen zu dem Zweyten Buche, Breslau 1792, 55-103, hier 55. <?page no="153"?> Alexander Engel 154 halten unterwiesen werden. 24 Diese Schriften weisen untereinander starke Ähnlichkeiten und Bezüge auf, sie vermitteln sehr ähnliche Botschaften. Im Folgenden zitiert werden Johann Carl Mays „Einleitung in die Handlungswissenschaft“ und die „Erkenntniß aller Handlungs-Wissenschaften“ aus der Feder von Samuel Jacob Schröckh. 25 Beide Autoren sind, wie Marperger und die meisten anderen Vertreter der Handlungswissenschaft des 18. Jahrhunderts, gelernte Kaufleute. May skizziert den primär erforderlichen Charakterzug eines Kaufmanns: So bald man den Vorsatz gefasset hat, selbst zu handeln, muß man sich alle Widerwärtigkeiten vorstellen, die bey der Handlung vorfallen können, und sich angewöhnen, sie, wenn sie hereinbrechen, unter einer standhaften Unempfindlichkeit zu verbergen. Es ist dem Credit eines Handelsmannes sehr nachtheilig, wenn seine finstere Stirne und niedergeschlagene melancholische Augen einen jeden Unfall, eine jede unglückliche Unternehmung verrathen. Die Heiterkeit des Gesichtes ist dann am nöthigsten; damit solche aber nicht gezwungen, und folglich verdächtig sey, so muß man sich diesselbe so eigentümlich als eine Naturgabe zu machen suchen. Selbst bey angenehmen Fällen ist die Unempfindlichkeit nütze: Wenn man einen sehr vortheilhaften Handel mit jemand schließet, und lässet seine Freude darüber blicken; so wird derselbe einen Verdacht schöpfen, man habe ihn betrogen, und sich ein andernmal hüten, etwas mit uns zu unternehmen. Die Leidenschaften gleichen den Elementen; sie sind nützliche Diener, aber grausame Herren; man muss sich ihrer bedienen, und ihre Herrschaft fliehen. 26 Der hier eingeforderte primäre Charakterzug ist die Beherrschung der Emotionalität, also Rationalität 27 - nicht einfach als geistige Kondition, sondern als Kernaspekt eines kaufmännischen Habitus. Rationalität ist nicht allein im Kalkulieren gefordert, sondern auch als zur Schau getragene charakterliche Mäßigung in der Begegnung mit Menschen. Entsprechend finden sich in der Ratgeberliteratur auch immer wieder Mahnungen zur freundlichen Höflichkeit im Schriftwechsel wie im Gespräch mit Kunden, 24 Einen Einblick in die deutsche Quellenlage vermitteln mehrere eklektische Editionen von Schlüsselpassagen: H ANNS -P ETER B RUCHHÄUSER , Quellen und Dokumente zur Berufsbildung deutscher Kaufleute im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Köln 1992; D ERS ., Quellen und Dokumente zur kaufmännischen Berufsbildung im 18. Jahrhundert, Köln 1999; M ANFRED H ORLEBEIN , Quellen und Dokumente zur Geschichte der kaufmännischen Berufsbildung 1818-1984, Köln 1989; Über kaufmännische Erziehung. Ein Quellen und Lesebuch mit Texten aus Zeitschriften, Broschüren und (Lehr-)Büchern des 18. Jahrhunderts, K LAUS P OTT (Hrsg.), Rinteln 1977. 25 J OHANN C ARL M AY , Versuch einer allgemeinen Einleitung in die Handlungswissenschaft, Wien 1763, I. Theil, 360-377; S AMUEL J ACOB S CHRÖCKH , Einleitung zu einer allgemeinen Erkenntniß aller Handlungs-Wissenschaften, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1785, III. Theil, 357-401. 26 M AY , Einleitung in die Handlungswissenschaft (wie Anm. 25), 363. 27 Eine Historisierung des Konzepts der Rationalität mit besonderem Blick auf die Wissenschaftsgeschichte: L ORRAINE D ASTON , Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. u. a. 2001. <?page no="154"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 155 und zwar sowohl an den Kaufmann wie an seine Gehilfen. Dies ist nicht nur im hier vorgetragenen Sinn der eigenen Risikominimierung wichtig, sondern es ist zentral für kaufmännisches Handeln, welches eine erhebliche kommunikative und soziale Kompetenz erfordert, um sich einen Kreis von Lieferanten und Kunden aufzubauen und vor allem auch zu erhalten. Hierzu Samuel Jacob Schröckh: Ein ehrliebender und wohldenkender Mensch wird seines Orts aller Chicanen müßig gehen und keinen Ruhm darunter suchen, wenn er unter den Leuten als ein Chicaneur bekannt wird. Dieses Wort schildert einen Menschen von dem heßlichsten und niederträchtigsten Gemüthscharacter, der aller Ränke und Betrügereien fähig ist, und dessen Klugheit in einem Gewebe von heimlichen, boshaften und tückischen Anschlägen bestehet. - Wenn solche Leute ihre Handlungswissenschaft gründlich gelernt hätten und ein Trieb der Redlichkeit in ihnen wäre, so würden sie nicht nöthig haben zu schlechten und niederträchtigen Ränken ihre Zuflucht zu nehmen. - Gemeiniglich führen sie die Leute mit ihrer vermeintlichen Politik nur einmal an, ihr Charakter wird bald bekannt, und sie werden sodann einem jeden ehrliebenden Menschen verhaßt und zum Abscheu, und läßt sich sodann niemand gern in Geschäfte mit ihnen ein. 28 Schröckh liefert eine doppelte Begründung für die moralische Zügelung des Eigennutzes. Zum ersten ist es das eingangs etwas zur Seite geschobene Argument spieltheoretischer Rationalität: Wer die gemeinsamen Spielregeln verletzt, riskiert das Ausscheiden aus den kaufmännischen Beziehungsnetzwerken und mindert damit künftigen Nutzen. Zum zweiten ist es aber auch eine Frage des Selbstbildes, von Selbstwertgefühl und professioneller Reputation: Wenn solche Leute ihre Handlungswissenschaft gründlich gelernt hätten [...] so würden sie nicht nöthig haben zu [...] Ränken ihre Zuflucht zu nehmen. Betrüger sind also eigentlich Stümper, auf welche die Kaufmannschaft und die gesamte Gesellschaft verächtlich herabblicken sollten. Gegen die Befriedigung durch Ehrgefühl und Könnerschaft stehen allerdings die Lockungen der Ruchlosigkeit, die der Arroganz und dem Ränkespiel innewohnen - denn es ist ja im Prinzip möglich, Ruhm darunter zu suchen, irrational, expressiv und moralisch ungezügelt zu handeln. Eben weil diese Gefahr der Korrumpierung des kaufmännischen Wirkens in seiner geforderten Form besteht, muss das Handlungsmodell des ehrbaren Kaufmanns - des moralisch gezügelten, rationalen Gewinnmaximierers - explizit als Norm forciert werden. Der Erfolg dieser im Grunde Jahrhunderte zurückreichenden Sozialisierungstradition lässt sich an der Wirkmächtigkeit der Figur des ehrbaren Kaufmanns ablesen, die bis in die industrielle Moderne ausstrahlt und sogar neuerdings wieder - angesichts des Ansehensverlusts von Spitzenmanagern - 28 S CHRÖCKH , Erkenntniß aller Handlungs-Wissenschaften (wie Anm. 25), 392. <?page no="155"?> Alexander Engel 156 als unternehmerisches Leitbild propagiert wird. 29 Festzuhalten ist gleichwohl, dass klassische Warenhändler als ökonomische Schlüsselakteure in der Zeit um 1900 allmählich von modernen Unternehmern und „Geschäftsleuten“ abgelöst wurden. Man könnte, wie es der Kaufmann Oswald Bauer in einer kleinen, 1906 erschienen Schrift ausführte, auch umgekehrt von einer umfassenden Ausweitung des Kaufmannsstands sprechen: Der Begriff „Kaufmann“ ist aber nach dem Handelsgesetzbuch gegenüber den eigentlichen Warenhändlern noch wesentlich erweitert. Er umfaßt - wir nehmen nur einige Gruppen heraus, um die Weite des Begriffs zu kennzeichnen - die ganze Gruppe der Fabrikanten, Bankiers, Spediteure, Kommissionäre, Buchhändler, Apotheker, Viehhändler, Fleischer, Bierbrauer, Makler und andere. […] Wir verfolgen bei unserer andeutungsweisen Klassifikation lediglich den Zweck, uns vor Augen zu führen, wie weit der Begriff Kaufmann gefasst werden kann und vielfach auch praktisch gefaßt wird. 30 Angesichts der Diversität der betrachteten Personengruppe erscheinen allerdings Bauers Beschwörungen eines gemeinsamen kaufmännischen Standesbewusstseins und einer durch ethische Geschäftspraktiken zu wahrenden Standesehre etwas anachronistisch. Der ehrbare Kaufmann scheint sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Rückzug zu befinden: Und welche Blüten treibt dann manchmal das Geschäftsleben! Da bestimmt der Käufer oft rein willkürlich die Zahlungsfrist, da werden Aufträge annuliert, die längst gegeben sind, weil irgend ein finanziell schwach gewordener Konkurrent nachträglich billige Preise stellt, da wird mit den unglaublichsten Zahlungsmitteln, Wechsel auf außereuropäisches Ausland, Koupons, die erst nach Monaten fällig sind, bezahlt, da wird Barskonto nach vielen Monaten abgezogen und der Verkäufer wagt nicht dagegen anzugehen, um nur ja nicht den „guten“ Kunden zu verlieren. […] Deutscher Kaufmann, wahre in solchen Fällen die Würde Deines Standes und bedenke dann, daß andere Güter im Leben denn doch erstrebenswerter sind, als der auf diese Weise errungene blanke Mammon! 31 4. Der Homo oeconomicus, historisch reflektiert Inwiefern ist nun der Gewinn maximierende, eigennützige, und doch durch seine Sozialisation und Ausbildung in seinem Eigennutz moralisch gezügelte Kaufmann als Vorlage des Homo oeconomicus zu betrachten? 29 Der ehrbare Kaufmann: modernes Leitbild für Unternehmer? , J OACHIM S CHWALBACH / G ÜNTER F ANDEL (Hrsg.), Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Special Issue 1 (2007); K LINK , Der ehrbare Kaufmann (wie Anm. 10). 30 O SWALD B AUER , Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, Dresden 1906, 3f. 31 B AUER , Der ehrbare Kaufmann (wie Anm. 30), S. 91f. <?page no="156"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 157 Zunächst einmal sind jene Akteure, die Adam Smith als eigennützig im Sinne des Gemeinnutzes anführt, gerade nicht Kaufleute - sondern Handwerker: It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest. We address ourselves, not to their humanity but to their self-love, and never talk to them of our own necessities but of their advantages. 32 Die Handwerke aber haben eigentlich, mit Garve gesprochen, aus den Besonderheiten ihres Gegenstandes und ihrer Geschichte heraus eine je eigene Moral, also eigene Handlungsnormen, die gerade nicht denjenigen der Kaufmannschaft entsprechen können: In einem Geschäfte, welches geflissentlich Gewinnst, und zwar Geldgewinnst zur Absicht hat, scheinen eigennützige Maaßregeln erlaubter, als in jedem anderen, wo der vorgegebene Endzweck das gemeine Beste, oder das Beste der besonderen Person ist, mit welcher man zu thun hat. 33 Der Homo oeconomicus des Utilitarismus und der wirtschaftswissenschaftlichen Klassiker ist also gerade nicht getreu dem ehrbaren Kaufmann geformt. 34 Es handelt sich zwar um einen eigennützig wirtschaftenden Menschen, doch ist er gar kein Nutzenmaximierer und auch noch nicht explizit rational. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zwischen politökonomischer Klassik und analytischer Neoklassik. Der Utilitarismus der Klassiker wie Smith ist moralisch-ordnungspolitisches Programm, die Nutzenorientierung der neoklassischen Urväter Walras, Jevons oder Menger dagegen epistemologisch motiviert. 35 Die Modellierung wirtschaftlicher Realität unter Rückgriff auf die Kategorie des Nutzens ist für sie der Schlüssel zur Bewältigung einer wirtschaftswissenschaftlichen Problemstellung - der Lösung des Wertparadoxons. Das Wertparadoxon besteht kurz umrissen darin, dass der Preis der Dinge offenbar nicht zwingend mit ihrer objektiven Nützlichkeit zusammenhängt - Wasser ist im Allgemeinen weit nützlicher als Gold, und doch ist es wesentlich billiger. Die Neoklassiker schlugen daher vor, die Einschätzung der Nützlichkeit individuell zu betrachten, also eine subjektive Wertbe- 32 A DAM S MITH , An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776, 1. Buch, Kap. 2, Abs. 2. 33 G ARVE , Anmerkungen zu Cicero (wie Anm. 23), 62. 34 Der Begriff des Homo oeconomicus war und ist auch jenseits neoklassischer Modellbildung ein gebräuchlicher Begriff; gemeint ist stets eine zunehmende Prägung menschlichen Verhaltens durch und Ausrichtung auf ökonomische Belange, wie sie etwa die Literaturwissenschaft konstatiert hat: W OLF- GANG R IEDEL , „Die unsichtbare Hand“. Ökonomie, Sittlichkeit und Kultur der englischen Mittelklasse (1650-1850), Tübingen 1990; L AURENZ V OLKMANN , Homo oeconomicus. Studien zur Modellierung eines neuen Menschenbilds in der englischen Literatur vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Heidelberg 2003; W ERNER W UNDERLICH , Der literarische Homo oeconomicus, Bern / Stuttgart 1989. 35 W ILLIAM S TANLEY J EVONS , The Theory of Political Economy, London 1871; C ARL M ENGER , Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, Wien 1871; L ÉON W ALRAS , Éléments d’économie politique pure ou théorie de la richesse sociale, 2 Bde., Lausanne 1874/ 77. <?page no="157"?> Alexander Engel 158 stimmung zugrunde zu legen. Léon Walras bediente sich zur Illustration des Bilds einer Warenauktion. 36 Eben hier kommt der ehrbare Kaufmann als idealtypischer Akteur ins Spiel. Grafik 1: Eine Lösung des Wertparadoxons - Kaufleute auf einer Auktion Walras stellte sich ganz bildlich eine Gruppe von potentiellen Käufern auf einem Marktplatz vor, die Einheiten eines bestimmten Gutes erwerben möchten. Jeder Nachfrager überlegt sich aufgrund der jeweiligen Stärke seines Bedürfnisses bzw. Nutzens einen maximalen Preis, den er selbst für das Gut zu zahlen bereit wäre. Den Anbietern wird unterstellt, alle von ihnen angebotenen Einheiten des Gutes verkaufen zu wollen - also eine Markträumung anzustreben -, und zwar zum höchsten Preis, für den dies möglich ist. Wenn es keine individuellen Absprachen oder sonstigen Einflüsse gibt und sich ein einheitlicher Marktpreis für alle Transaktionen herausbildet, wie hoch wird dieser sein? Er wird der subjektiven Bewertung des Grenznutzens, also der Maximalpreisvorstellung des marginalen erfolgreichen Käufers entsprechen - das heißt jenes Nachfragers, der die letzte Einheit des Gutes erwirbt, wenn die Einheiten der Reihe nach zuerst an jene Konsumenten mit dem größten Bedürfnis veräußert werden. Denn setzte man den Marktpreis niedriger an, so würde - weil es sogar noch mehr potentielle Käufer gäbe - der Markt zwar auch geräumt, aber nicht zum höchstmöglichen Preis. Setzte man den Marktpreis höher an, fänden sich nicht genügend willige Nachfrager, und der Markt würde nicht geräumt. Auch auf der Seite der Nachfrager ist eine akzeptable Situation erreicht. Es wird daher - sofern keine anderen Umstände hineinspielen - von der Stabilität dieser Lösung, also einem Gleichgewichtspreis ausgegangen. 36 Plastisch beispielsweise bei L ÉON W ALRAS , Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirtschaftlichen Güter. Vier Denkschriften, Stuttgart 1881, Nachdruck Glashütten 1972. <?page no="158"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 159 Warum nun ist diesem Prinzip zufolge Wasser billiger als Gold? Das Angebot an Wasser ist so groß und der Aufwand der Bereitstellung so gering, dass damit nicht nur Durst gelöscht, gekocht und gewaschen werden kann, sondern noch viele weitere, weitaus belanglosere Verwendungszwecke realisiert werden können. Dem Grenznutzenprinzip gemäß wird der Wasserpreis allein durch das am wenigsten dringende Bedürfnis nach Wasser bestimmt, welches angesichts der subjektiven Abwägungen von Aufwand und Ertrag gerade noch befriedigt wird. Angesichts des riesigen Angebots wird es sich um ein sehr nachrangiges Bedürfnis handeln, für das der entsprechende Konsument nur einen äußerst geringen Preis zu zahlen bereit ist. Umgekehrt kann Gold angesichts seiner Knappheit nur wenige all der denkbaren Verwendungszwecke befriedigen. Wer einen Briefbeschwerer kaufen möchte, würde für einen Goldbarren, der nur dieser Funktion dient (wozu alternativ auch ein Stein benutzt werden könnte), bei weitem keinen so hohen Betrag bieten wie jemand, der daraus prestigeträchtigen Schmuck fertigen möchte. Da sehr wenig Gold vorhanden ist, erhält allein der Goldschmied etwas - und zwar zu einem hohen, aber für ihn akzeptablen Betrag. Entsprechend kommt der Goldpreis weit über dem Wasserpreis zu liegen. Ausgangspunkt der neoklassischen Modellbildung ist also, wie eingangs angedeutet, das individuelle Akteursverhalten. Von diesem muss im weiteren Argumentationsprozess abstrahiert werden, um zu formalen - über mathematische Funktionsbeziehungen miteinander verknüpften - Größen wie Angebot und Nachfrage zu gelangen. 37 Die individuelle Nachfrage wird hierzu aggregiert: Für jeden potentiellen Marktpreis werden die Bedürfnisse all jener Nachfrager addiert, die zu diesem Preis tatsächlich Güter kaufen würden. Jedem hypothetischen Preis lässt sich so eine effektive Gesamtnachfrage zuordnen - es entsteht eine mathematische Funktion. Der Funktionsgraph wird dabei die Form einer fallenden Kurve annehmen, denn je höher der Preis, desto geringer die effektive Gesamtnachfrage. Analog lässt sich auch eine Angebotskurve einführen, die eine steigende Form hat: Je höher der erzielbare Preis, desto größere Gütermengen bemühen sich die Anbieter bereit zu stellen. Schneidet man beide Kurven, so erhält man das einzige für beide Seiten akzeptable Szenario, der Schnittpunkt gibt mithin den realisierbaren Marktpreis und die passende Gütermenge an. Indem man einzelne Parameter ceteris paribus verändert, können durch entsprechendes Verschieben der Kurven präzise Aussagen über die resultierende Marktentwicklung 37 Zum Folgenden vgl. A MITAVA K RISHNA D UTT , Aggregate Demand - Aggregate Supply Analysis. A History, in: History of Political Economy 34 (2002), 321-363; R OBERT F RANK , Das „Gesetz von Angebot und Nachfrage“. Eine theoriegeschichtliche und theoretische Analyse von Preisdynamik und der Stabilität von Marktgleichgewichten, München 1996; F RANZ -U LRICH W ILLEKE , Entwicklung der Markttheorie, Tübingen 1961. <?page no="159"?> Alexander Engel 160 getroffen werden. 38 Welche Wirkung auf Umsatz und Preis hat zum Beispiel eine Verteuerung der Produktion um einen bestimmten Betrag? Grafik 2: Abstraktion des Marktgeschehens in mathematische Funktionen 39 Solche Überlegungen argumentieren allein mit funktionalen Zusammenhängen abstrakter formaler Größen, nicht mehr mit konkretem Akteursverhalten. Jedoch bleiben im modelltheoretischen Abstraktionsprozess vom Markt als virtueller Marktveranstaltung hin zum Schneiden zweier Kurven die Charakteristika einer Marktveranstaltung als Modellannahmen erhalten. Wendet man also das abstrakte neoklassische Marktmodell zur Analyse auf einen realen Gütermarkt von gleichsam volkswirtschaftlichen Ausmaßen an, so wird implizit unterstellt, dass alle Anbieter und Nachfrager in dieser Volkswirtschaft so agierten, als wären sie Kaufleute auf ein und demselben realen Marktplatz: Sie kommunizieren ohne spürbare Zeitverzögerung und sind über das Geschehen „vor Ort“ sehr gut informiert. Der im verborgenen Inneren des neoklassischen Modells wirtschaftende Mensch erscheint also als Kaufmann - und zwar als ein regeltreuer, den etablierten Bräuchen und Normen des Markthandelns folgender Kaufmann: Der Homo oeconomicus ist modelltheoretisches Äquivalent des ehrbaren Kaufmanns. 38 Einschlägige Einführungen in die neoklassische Preistheorie sind: A LFRED E UGEN O TT , Grundzüge der Preistheorie, 3. Aufl., Göttingen 1989; J ÜRGEN S IEBKE , Preistheorie, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, 8. Aufl., München 2002, Bd. 2, 63-125; S USANNE W IED -N EBBELING , Markt- und Preistheorie, 3. Aufl., Berlin u.a. 1997. 39 In der Herleitung wurden hier die Preise als Funktionsargumente und die Gesamtnachfragemengen als Funktionswerte interpretiert. Praktisch werden eher die Mengen auf der x-Achse und die Preise auf der y-Achse abgetragen, man betrachtet also die Umkehrfunktionen. Da die beiden Ursprungskurven monoton fallen (umgekehrt proportionale Zuordnung) bzw. steigen (proportionale Zuordnung), zeigen die Umkehrfunktionen dasselbe Verhalten: Die Nachfragekurve fällt und die Angebotskurve steigt, unabhängig von der Wahl der Achsen. <?page no="160"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 161 Dies kann nach den bisherigen Ausführungen insofern nur noch wenig überraschen, als zur Zeit der Etablierung der neoklassischen Markttheorie in den 1870er Jahren den Zeitgenossen noch die klassische vormoderne Marktorganisation vor Augen stand: Ehrbare Kaufleute bildeten noch immer eine Schlüsselgruppe, und Preisbildungsprozesse waren vor allem für relativ unspezifische Güter (wie Lebensmittel, Rohstoffe und Halbfertigwaren) auf polypolistischen Märkten zu beobachten. Komplexe, hochspezifische industrielle Produkte auf Märkten mit tendenziell oligopolistischer Struktur, auf denen Unternehmen mit Marktmacht und nicht mehr einzelne Kaufleute ohne Marktmacht agierten, standen noch nicht im Fokus. Die Popularität der neoklassischen Markttheorie im 20. und 21. Jahrhundert fällt also paradoxerweise in eine Zeit, in der die ursprünglich modellierten Marktverhältnisse gar nicht mehr gegeben sind. Im Grunde ist die Neoklassik eher eine Theorie für vormoderne als für moderne Märkte. 5. Die Figur des Kaufmanns, theoretisch reflektiert Eben weil die Neoklassik davon ausgeht, dass ökonomische Akteure ehrbar handeln und die Resultate des Marktgeschehens unwidersprochen akzeptieren, lässt sich das System der freien Marktwirtschaft tatsächlich als eine Wirtschaftsordnung, also als regulierendes System verstehen. 40 Paul Samuelson, einer der namhaftesten Vertreter neoklassischen Denkens im 20. Jahrhundert, bemerkt in seiner klassischen Einführung in die Makroökonomie: „Das eigentliche Wunder besteht aber darin, dass dieses ganze System ohne Zwang oder zentrale Lenkung funktioniert. Man bedenke: Hier beteiligen sich buchstäblich Millionen von Unternehmen und Konsumenten an freiwilligen Geschäftsbeziehungen, und ihre Handlungen und Interessen werden unsichtbar von einem System von Preisen und Märkten koordiniert.“ 41 Hier ist die Rede von Konsumenten und „Unternehmen“, also Anbietern. Kaufleute erscheinen jedoch nicht. Tatsächlich kommt der Kaufmann - bzw. in der Abstraktion: der Handel - im volkswirtschaftlichen Mainstream des 20. Jahrhunderts neben Produktion und Konsumtion überhaupt nicht mehr vor. Dies trifft einerseits durchaus die Realität des 20. Jahrhunderts, in der Kaufleuten als eigenständigen ökonomischen Akteuren tatsäch- 40 Es sei hier kurz angemerkt, dass Kritik an unregulierter freier Marktwirtschaft - wie sie etwa Gunnar Myrdal, der Vater des schwedischen Wohlfahrtsstaates, äußerte - oft an diesem Punkt ansetzt: Myrdal zufolge unterwerfen sich Akteure in immer geringerem Maße den Marktmechanismen, vielmehr koalieren sie auf Anbieter- und Nachfragerseite, um mit vereinter (Markt-)Macht die Marktmechanismen eigennützig zu unterlaufen und auszuhebeln: G UNNAR M YRDAL , Jenseits des Wohlfahrtsstaates, Stuttgart 1961. 41 P AUL . A S AMUELSON / W ILLIAM D. N ORDHAUS , Volkswirtschaftslehre. Übersetzung der 15. Auflage, Wien / Frankfurt a. M. 1998, 50. <?page no="161"?> Alexander Engel 162 lich eine weitaus geringere Bedeutung als früher zukommt. Andererseits ist es verblüffend, da doch gerade Kaufleute für den im neoklassischen Marktmodell impliziten Modellakteur zum Vorbild genommen wurden. Diese Unstimmigkeiten rühren zu einem großen Teil von dem bislang in diesem Beitrag recht monolithisch gehaltenen Begriff des Kaufmanns her. Im Folgenden wird diese Figur daher gleichsam in ihre sozial-, kultur- und wirtschaftshistorischen Komponenten zerlegt, präziser gesagt in kaufmännische Person, kaufmännisches Verhalten und kaufmännische Funktion differenziert. Damit wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die kaufmännische Funktion in einer Ökonomie von anderen Personengruppen als darauf spezialisierten Akteuren ausgeübt wird, oder dass sich Akteure auch ohne Wahrnehmung einer kaufmännischen Funktion „kaufmännisch“ verhalten, oder auch dass umgekehrt kaufmännische Personen kein kaufmännisches Verhalten zeigen. Unter kaufmännischem Verhalten werden dabei jene Normen und Handlungsmuster verstanden, die das - im Vorangegangenen in seiner Entstehung erörterte - Ideal des ehrbaren Kaufmanns ausmachen. Mit kaufmännischer Person sind nur jene spezialisierten Akteure wie Fernhandelskaufleute oder (als institutionelle „Person“) Kaufhäuser gemeint, die sich primär im Warenhandel betätigen. Bei weitem nicht jeder „Kaufmann“ im handelsrechtlichen Sinn ist also im hier gedachten Sinn eine „kaufmännische Person“; die oben von Oswald Bauer genannte „Geschäftsleute“ wie Fabrikanten, Bankiers, Spediteure, Fleischer oder Bierbrauer fallen nicht darunter. Im Hinblick auf die kaufmännische Funktion in einer Ökonomie kann auf eine breite betriebswirtschaftliche Diskussion Bezug genommen werden, die seit den 1930er Jahren den Handelssektor gegen den verbreiteten Vorwurf mangelnder Produktivität und Nützlichkeit zu rechtfertigen versucht hat. 42 Zumeist wird hierbei auf die 1930 von Karl Oberparleiter entworfene Systematik Bezug genommen, die später verschiedentlich modifiziert wurde. 43 Im Kern lassen sich bei all diesen Vorschlägen zwei Hauptgruppen kaufmännischer Teilfunktionen unterscheiden: 42 Entsprechende Aufstellungen finden sich in jedem betriebswirtschaftlichen Lehrbuch zum Handel. Theoriegeschichtliche Reflexionen bieten H ANS -O TTO S CHENK , Geschichte und Ordnungstheorie der Handelsfunktionen. Entwicklungsgeschichtliche und ordnungstheoretische Untersuchung zur Lehre von den Handelsfunktionen in Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft, Diss. Berlin 1969; K LAUS B ARTH , Die erkenntnisfördernde Bedeutung der Handelsfunktionen. Plädoyer für einen verkannten Forschungsansatz, in: Mitteilungen des Instituts für Handelsforschung an der Universität zu Köln 34 (1982), 106-111. 43 K ARL O BERPARLEITER , Funktionen und Risiken des Warenhandels, Wien 1930. Einige weitere Diskussionsbeiträge: A RTUR L ISOWSKY , Zur Theorie und Systematik der Handelsfunktionen, Berlin u. a. 1937; H ERIBERT M ARRÉ , Funktionen und Leistungen des Handelsbetriebes, Köln 1960; E D- MUND S UNDHOFF , Die Funktionen der Großhandlung, Diss. Köln 1944; R UDOLF S EYFFERT , Wirtschaftslehre des Handels, Köln 1951. <?page no="162"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 163 Zur ersten Gruppe, den Umsetzungsfunktionen, zählt erstens die Umgruppierung von Gütern zu einem Sortiment (Qualitäts- oder Sortimentsfunktion), also zum Beispiel die Zusammenstellung mehrerer Kaffeesorten unterschiedlicher Produzenten, was dem Konsumenten Such- und Vergleichskosten spart. Zweitens ist die Anpassung der Größe von Gütereinheiten zu nennen (Quantitäts- oder Mengenfunktion), wie das Teilen eines im Großhandel erworbenen Kaffeesacks in kleine Beutel für den Einzelverkauf. Drittens schließlich, bereits an der Grenze zum Produktionssektor, finden sich verschiedene Varianten der Veredelung von Gütern, wie beispielsweise das Aussortieren minderwertiger Kaffeebohnen aus einer Lieferung (Homogenisierung) oder das Rösten und Mahlen von Kaffeebohnen (Präparation) - beides gegebenenfalls bis hin zur Schaffung eigener Produkte, etwa einem Blend aus unterschiedlichen Ausgangssorten. Im Prinzip ließe sich diese dritte Teilfunktion auch als weiterer Aspekt der Qualitätsfunktion auffassen. Die zweite Gruppe - Überbrückungsfunktionen - umfasst in erster Linie die kaufmännische Befähigung, zeitliche Diskrepanzen im Wirksamwerden von Angebot und Nachfrage durch Lagerbildung zu puffern (Zeitüberbrückungs- oder Lagerfunktion) und räumliche Distanzen zwischen Angebot und Nachfrage zu überwinden. Die Raumüberbrückung gliedert sich dabei genau genommen noch in eine Transport- und eine Transferaufgabe. Der Transport wird hier - anders als in der betriebswirtschaftlichen Literatur oft üblich - nicht als kaufmännische Teilfunktion aufgefasst, sondern als eigenständige logistische Dienstleistung. 44 Im Unterschied zum Spediteur wird ein kaufmännischer Akteur Eigentümer des bewegten Gutes und setzt sich somit in die Lage, über den Verbleib des Gutes selbst zu entscheiden. Der kaufmännische Aspekt der Raumüberbrückung ist hier also der aktiv vermittelte Transfer von Verfügungsrechten über ein Gut, und damit vom bloßen physischen Transport des Gutes zu trennen. Aus den beiden Überbrückungsfunktionen im engeren Sinn ergeben sich zwei weitere, die im Prinzip auch als weitere Aspekte von Raum- und Zeitüberbückung aufgefasst werden können. Die Transferfunktion erfordert, dass zunächst überhaupt Akteure ausfindig gemacht werden, die zu einem Gütertransfer willens und in der Lage sind. Die kaufmännische Funktion beinhaltet also - wenn nicht sogar vorrangig - die Vermittlung von Produzenten und Konsumenten, bzw. allgemeiner gesprochen von vorgelagerten Anbietern und nachgelagerten Nachfragern. Vermittelt werden dabei nicht allein - indirekte - Kontakte unter den Tauschwilligen, sondern auch Informationen über deren jeweilige Bedürfnisse und Möglichkeiten, was ge- 44 Dies erscheint insofern sinnvoll, als Ortsveränderungen nicht per se einen Besitzwechsel von Gütern implizieren. Man denke hier etwa an eine auf räumlich getrennte Anlagen verteilte Industriegüterproduktion eines Unternehmens oder an Umzüge von Privathaushalten. <?page no="163"?> Alexander Engel 164 genseitige Anpassungen ermöglicht (Kontakt- und Informationsfunktion). Die Pufferung von Angebots- und Nachfrageveränderungen schließlich bezieht sich genau genommen nicht nur auf den Gütertransfer, sondern auch auf die jeweilige Gegenleistung - also die Bezahlung. Wenn die Zeitpunkte von Gütertransfer und Bezahlung auseinander treten, werden faktisch Darlehen gegeben (Kreditfunktion). Diese Form der Kapitalschöpfung kann durchaus volkswirtschaftlich relevante Dimensionen annehmen, wie gerade das Beispiel des vorindustriellen Handelskapitalismus belegt. 45 6. Systematisierende Überlegungen zur Handelsgeschichte Es ist denkbar, dass verschiedene der genannten Teilaspekte der kaufmännischen Funktion von verschiedenen Akteursgruppen - eventuell als nachrangige Betätigung neben anderen ökonomischen Funktionen - ausgeübt werden, oder dass eine spezialisierte Akteursgruppe - also kaufmännische Personen - dieses Funktionsspektrum als primäre Aufgabe an sich zieht. Es lassen sich, in äußerst grober Vereinfachung, drei historische Formen der Ausübung der kaufmännischen Funktion unterscheiden. Dem entsprechen drei Phasen der europäischen Wirtschaftsgeschichte, in denen jeweils eine Form besonders bedeutsam war. Im europäischen Früh- und Hochmittelalter - also zu Zeiten relativ unsicherer rechtlicher Rahmenbedingungen für Transaktionen, welche die Grenzen von Herrschaftsbereichen überschritten - dominierte der Handel von Angesicht zu Angesicht. Überlokaler Handel war folglich immer Wanderhandel. Für solche Geschäfte ist die Vertrauensbildung verhältnismäßig einfach durchführbar, da Tauschwerte und Tauschpartner direkt begutachtet werden konnten. Die Nachteile des Wanderhandels lagen zum einen im hohen Aufwand und im persönlichen Risiko des Reisens und zum anderen in der Beschränkung der Absatzmöglichkeiten: Verkauft werden konnte nur an die Personen, die sich am selben Ort aufhielten wie der Kaufmann gerade selbst. Eine Minderung dieser Nachteile wurde durch die Verdichtung und „Rhythmisierung“ des Handels erreicht, indem sich eine Vielzahl von Akteu- 45 Was in diesem Katalog kaufmännischer Funktionen nicht thematisiert wird, sind Probleme wie Produktkonstruktion und Präferenzenbildung. Wie werden Produkte entwickelt, definiert und am Markt platziert? Wie werden Präferenzen für diese Produkte gebildet? Welche Rolle spielen verschiedene Akteursgruppen dabei, inwieweit beeinflussen sie sich gegenseitig? Solche Fragen stehen außerhalb einer Wirtschaftswissenschaft im neoklassischen Verständnis, da dabei die zu untersuchenden Güter als gegeben und die Akteure als autonom begriffen werden. Folglich können solche Aspekte in diesem Beitrag, der sich auf einen Dialog von Handelsgeschichte und neoklassischem Denken beschränkt, nicht thematisiert werden. Dazu A LEXANDER E NGEL , Von Commodities zu Produkten. Die Transformation des Farbstoffmarktes im 18. und 19. Jahrhundert, in: Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, H ARTMUT B ERGHOFF (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2007, 61-86. <?page no="164"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 165 ren regelmäßig zu einem bestimmten Termin an einem bestimmten Ort versammelte: Auf regionaler Ebene entstanden Systeme von Wochenmärkten, deren Bedeutung für die städtische Lebensmittelversorgung selbst heute beachtlich geblieben ist, und auf der überregionalen Ebene begann die Herausbildung eines bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein relevanten, kalendarisch abgestimmten Systems von Jahrmärkten und Messen. Obgleich Wanderhandel prinzipiell auch von Gewerbetreibenden zwecks Absatzes ihrer eigenen Erzeugnisse betrieben werden kann und insbesondere in der frühen Neuzeit auch betrieben wurde, dominierten bei dieser Form des Austauschs dennoch die Spezialisten: Die kaufmännische Funktion lag in den Händen distinkter kaufmännischer Personen wie den frühen Hansekaufleuten. Als Wandlerhändler erfüllten sie überdies die Raumüberbrückungsfunktion vollständig, das heißt, sie besorgten neben dem Transfer auch den Transport der Waren selbst. Mit dem Einzug der Schriftlichkeit in kommerzielle Aktivitäten besonders seit dem späteren 13. Jahrhundert begann der Rückzug des wandernden Kaufmanns in ein Kontor: Hier koordinierte er, gestützt auf eine Buchführung, mehrere Austauschbeziehungen gleichzeitig und dehnte seine Unternehmung auf diese Weise virtuell aus. Mit zunehmender Sicherheit des Reisens verlor das Problem an Bedeutung, Waren während des Transports schützen zu müssen, und konnte separaten Spediteuren überlassen werden. Das Kaufen und Verkaufen von Gütern an entfernten Plätzen wurde durch den Einsatz von Agenten bewältigt, die an Stelle ihrer Prinzipale handelten - wobei verschiedene Stufen der Abhängigkeit denkbar waren. Insbesondere stützte man den Handel auf Netzwerke unabhängiger Kaufleute, die durch Korrespondenz organisiert und durch persönliche Bekanntschaft aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen und gelegentlicher Begegnungen auf Messen verwirklicht bzw. kontrolliert wurden. Indem die Ausübung der kaufmännischen Funktion an die Aufrechterhaltung eines sozialen Beziehungsnetzes gebunden wurde, rückte das Problem langfristiger Vertrauensbildung in den Vordergrund. Mag für autonom agierende kaufmännische Personen das Wort des Mephistopheles gelten - „Krieg, Handel und Piraterie / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen“ 46 - so sind in Netzwerke eingebundene Akteure geradezu gezwungen, permanent die Legitimität ihres Handelns zu belegen. 47 Aus dieser spezifischen Organisationsform kaufmännischer Personen erwuchs also das Erfordernis zu einem kaufmännischen Verhalten, wie 46 J OHANN W OLFGANG VON G OETHE , Faust, E RICH T RUNZ (Hrsg.), München 1986, Faust II, Vers 11187f. 47 Gemeint ist die Legitimität im Sinn des Netzwerks, und nicht eine Legitimität in Bezug auf den gesellschaftlichen Rahmen. Auch das organisierte Verbrechen stellt einen ökonomischen Netzwerkverbund dar, dessen Mitglieder gezwungen sind, nach den Regeln des Netzwerks zu agieren - also im Sinn des Netzwerks und nicht im Sinn der Gesellschaft legitim zu handeln. <?page no="165"?> Alexander Engel 166 es in den vorangegangenen Abschnitten thematisiert wurde. Dieser Imperativ der Ehrbarkeit verstärkte sich noch dadurch, dass ein Teil der kaufmännischen Personen über die kaufmännische Funktion hinaus zunehmend gesellschaftliche Schlüsselaufgaben an sich zog - etwa politische Führungsrollen in Städten - und es diesen Status moralisch zu legitimieren galt. Auch im ökonomischen Bereich erweiterte sich das von kaufmännischen Personen ausgeübte Funktionsspektrum. So wurde oftmals die kaufmännische Kreditfunktion zur Bankierstätigkeit ausgebaut, oder es fand ein Engagement im Produktionsbereich statt, indem man den Betrieb von Textilverlagen, Manufakturen bzw. überseeischen Plantagen dem Handelsgeschäft vorlagerte. An die Stelle „reiner“ kaufmännischer Personen traten im Bereich des Groß- und Fernhandels also zunehmend „Merchant Banker“ und Entrepreneure. Im Laufe des langen 19. Jahrhunderts kulminierte diese Entwicklung, als der in temporären Unternehmungen und losen Netzwerkbeziehungen organisierte Einzelakteur in seiner Funktionsausübung allmählich von Organisationen - Unternehmen also - abgelöst wurde. Die kaufmännischen Personen delegierten Aufgaben zunehmend an einen funktional gegliederten Personalapparat und wurden dadurch zu Unternehmern - wobei sich umgekehrt die neue Akteursgruppe der Unternehmer nicht nur aus kaufmännischen Personen, sondern etwa auch aus dem technischen Expertentum und schließlich durch Aufsteiger aus dem unternehmerischen Personalapparat speiste. Die „klassische“ kaufmännische Person blieb im Wesentlichen nur im Bereich des Einzelhandels erhalten, selbst wenn auch hier zunehmend größere Einzelhandelsunternehmen an Bedeutung gewannen. Mit dem weitgehenden Verschwinden kaufmännischer Personen ist die Ausübung der kaufmännischen Funktion auf die kaufmännischen Abteilungen der modernen Unternehmen übergegangen, und dabei oft zu einer sekundären Aufgabe geworden. Von dieser strukturellen Veränderung unberührt, bleibt kaufmännisches Verhalten - also die Orientierung an jenen Normen des ehrbaren Kaufmanns, die infolge der sozialen Einbettung kaufmännischer Personen in der zweiten Phase ausgebildet wurden - weiterhin an die Ausübung der kaufmännischen Funktion geknüpft. Das deutsche Handelsgesetzbuch verpflichtet Geschäftsleute - in der Regel gilt jeder Gewerbetreibende als Kaufmann im Sinne des HGB - sogar explizit zur Ehrbarkeit, indem es in § 346 fordert, „auf die im Handelsverkehre geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen.“ 48 Da kaufmännisches Verhalten trotz des offenkun- 48 Die juristische Person des Kaufmanns definiert das HGB - hier zitiert auf dem Stand nach den Änderungen vom 21.12.2007 - in § 1 wie folgt: „(1) Kaufmann im Sinne dieses Gesetzbuchs ist, wer ein Handelsgewerbe betreibt. (2) Handelsgewerbe ist jeder Gewerbebetrieb, es sei denn, dass das Unternehmen nach Art oder Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb nicht erfordert.“ Insofern gilt juristisch praktisch jeder Unternehmer als Kaufmann, und der Kaufmann als <?page no="166"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 167 digen Verschwindens genuiner ehrbarer Kaufleute als korrektes Geschäftsgebaren fortbesteht, sind die Grundannahmen der Neoklassik - um auf das zu Beginn dieses Abschnitts angesprochene Paradoxon zurückzukommen - im 20. Jahrhundert keineswegs unrealistischer geworden. Indem der ehrbare Kaufmann zum ehrbaren Geschäftsmann wurde, modelliert der Homo oeconomicus eben nicht allein Akteure der Distribution, sondern auch der Produktion. 7. Kaufmännisches Handeln von Konsumenten? Im Sinn der im vorherigen Abschnitt vorgenommenen Differenzierung ist es durchaus denkbar, dass kaufmännische Funktionsausübung und kaufmännisches Verhalten auch jenseits der - vormodernen oder modernen - „Geschäftswelt“ angetroffen werden können. Besonders interessiert dies im Hinblick auf eine in dieser Abhandlung bislang kaum thematisierte ökonomische Akteursgruppe - die Verbraucher. Der Konsum spielt in der neoklassischen Theoriebildung insofern eine - gerade im Vergleich zur wirtschaftswissenschaftlichen Klassik - relativ wichtige Rolle, als es die individuellen Nutzeneinschätzungen der Nachfrager sind, welche für die Preisbildung letztlich verantwortlich gemacht werden. Zeigen Konsumenten, zumindest in bestimmten historischen Kontexten, das Verhalten ehrbarer, rational kalkulierender Kaufleute? Für moderne Konsumgesellschaften ist dies sicher nicht durchgängig der Fall. Andererseits ist auf die seit der Schlüsselpublikation von Karl Polanyi 49 laufende Diskussion darüber zu verweisen, dass in modernen Gesellschaften das Marktprinzip offenbar selbst jenseits des klassischen ökonomischen Bereichs zunehmend zur Grundlage sozialen Handelns wird. Laut Ulrich Bröckling kulminiert der Prozess, quasi im Zuge einer „neoliberalen Wende“, seit den 1970er Jahren darin, dass selbst Konsumenten ein „unternehmerisches Selbst“ entwickeln. 50 Diese Datierung ist allerdings jüngst von Jan-Otmar Hesse - etwa unter Verweis auf die neoklassiche Modellbildung des späten 19. Jahrhunderts, welche bereits einen unternehmerisch/ kaufmännischen Nachfrager/ Konsumenten impliziert - zurückgewiesen worden. 51 juristische Person ist von der ‚kaufmännischen Person’ im Sinn dieser Abhandlung durchaus verschieden. 49 K ARL P OLANYI , The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien 1977 (engl. 1944). 50 U LRICH B RÖCKLING , Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007. 51 J AN -O TMAR H ESSE , Der Konsument als Unternehmer. Fünf Einwände und ein Interpretationsvorschlag, in: Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und <?page no="167"?> Alexander Engel 168 Tatsächlich ist festzuhalten, dass auch Verbraucher zu allen Zeiten eher in der Regel denn als Ausnahme kaufmännische Funktionen (mit-)erfüllen. Dies ergibt sich aus dem oftmaligen Auseinandertreten von Erwerb und Nutzung eines Gutes. Lebensmittel etwa werden, sofern sie nicht im gastronomischen Kontext erstanden und genossen werden, zeitlich und räumlich separiert vom Kaufakt verbraucht: Konsumenten erfüllen also Überbrückungsfunktionen. Erfolgt eine sukzessive Nutzung einer gekauften Gütermenge (wie bei einem nach und nach verbrauchten Pfund Kaffee) oder werden verschiedene Güter kombiniert und verfeinert (zum Beispiel die gekaufte Müslimischung mit frischen Früchten „aufgepeppt“) so treten auch Umsetzungsfunktionen hinzu. Besonders evident wird der kaufmännische Aspekt des Verbrauchers bei Mehrpersonenhaushalten, in denen in konkreten Fällen (Eltern kaufen Süßigkeiten, Kinder essen sie) kaufmännische Funktionsausübung und tatsächlicher Konsum bei verschiedenen Akteuren liegen können. Aus der Perspektive des Marktes ist gleichwohl nur ein einzelner Verbraucher gegeben - der Haushalt. Damit ist eine Parallele zur Anbieterbzw. Produzentenseite hergestellt, für die zumindest in der Moderne Einzelpersonen ebenfalls zu institutionellen Akteuren - Unternehmen nämlich - zusammengefasst sind. Die Terminologie der modernen Wirtschaftswissenschaften zielt auf diese institutionellen Akteure und spricht im Kontext des Markthandels von Haushalten und Unternehmen, nicht von Einzelpersonen. Eine solche institutionelle Betrachtungsweise hat gerade für die Konsumtionssphäre eine lange Tradition. Nicht umsonst leitet sich der Begriff Ökonomie von oikos ab, der sowohl die Kernfamilie als auch ihre Bediensteten (bzw. Sklaven) umfassenden Hausgemeinschaft der griechische Antike. Beginnend mit der Hausväterliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts artikulierte sich, in einer langen Kette von Ratgebern und Lehrbüchern zur idealen Haushaltsführung, eine durchgängige gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber der ökonomischen Schlüsselfigur eines solchen Hauhalts - sei es der vorindustrielle Hausvater, 52 oder die Hausfrau des 19. und 20. Jahrhunwirtschaftshistorischer Perspektive, R UTH R OSENBERGER / M ORTEN R EITMEYER (Hrsg.), Essen 2008, 319-335. 52 M ANFRED L EMMER , Haushalt und Familie aus der Sicht der Hausväterliteratur, in: Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit, T RUDE E HLERT (Hrsg.), Sigmaringen 1991, 181-192; J U- LIUS H OFFMANN , Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Ein Beitrag zur Geschichte der Lehre vom Hause und die Bildung für das häusliche Leben, Weinheim 1959; O TTO B RUNNER , Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: Familie und Gesellschaft, F ERDINAND O ETER (Hrsg.), Tübingen 1966, 23-56. Brunner hat den in der Hausväterliteratur entworfenen Idealtypus des Haushalts als einen Realtypus verstanden und als „ganzes Haus“ zu einem sozialgeschichtlichen Schlüsselkonzept erhoben. Kritische Auseinandersetzungen mit diesem in der neueren Forschung weitgehend verworfenen Ansatz bieten V ALENTIN G ROEBNER , Außer Haus. Otto Brunner und die „alteuropäische Ökonomik“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), 69-80; W ERNER T ROSSBACH , Das „Ganze Haus“ - Basiskategorie für das Verständnis der <?page no="168"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 169 derts. 53 Überlegte, spar- und sorgsame Ressourcenbeschaffung, -verwaltung und -nutzung wurde zur Norm des Handelns im und für den Haushalt erhoben, man propagierte - dies ist die daraus resultierende Begriffskonnotation - „haushälterisches“ Handeln. Die Nähe rationalen, Nutzen maximierenden „Haushaltens“ zu ehrbarem kaufmännischem Verhalten ist offensichtlich. Von daher mag der Homo oeconomcius also auch als eine überraschend stimmige Modellierung der Masse frühneuzeitlicher und frühmoderner Verbraucher gelten, welche praktisch ausschließlich Bedarfsgüter konsumierten und auf rationell-kaufmännisches Einkaufsverhalten verwiesen waren. Entsprechend geringer fällt, zumindest der Sache nach, der Impetus zu haushälterischem Verhalten bei Konsumenten mit hohem Einkommen und einem entsprechend hohen Anteil hedonistischen oder demonstrativen Konsums aus. 54 Beispiele sind der mittelalterliche Adel, das vor- und frühindustrielle Großbürgertum und schließlich die Masse der Verbraucher in der modernen Konsumgesellschaft. Paradoxerweise kommt jedoch gerade der frühmoderne bürgerliche Hedonismus als besonders rationaler und moralisch gezügelter Konsumstil daher. Nicht zufällig wird etwa im 17. und 18. Jahrhundert der bittere, den Kopf klärende und das Denken anregende, gleichzeitig „Genuss und Nüchternheit“ 55 versprechende Kaffee zum bürgerländlichen Gesellschaft in der frühen Neuzeit? , in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 (1993), 277-314. 53 G UNILLA -F RIEDERIKE B UDDE , Des Haushalts „schönster Schmuck“. Die Hausfrau als Konsumexpertin des deutschen und englischen Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), H ANNES S IEGRIST / H ARTMUT K AELBLE / J ÜRGEN K OCKA (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1997, 411-440; B ÄRBEL K UHN , „Vom Schalten und Walten der Hausfrau“. Hausarbeit in Rat, Tat und Forschung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zur historischen Genese gegenwärtiger Probleme, B IRGIT B OLOGNESE - L EUCHTENMÜLLER / M ICHAEL M ITTERAUER (Hrsg.), Wien 1993, 43-66; S ARAH A. L EAVITT , From Catherine Beecher to Martha Stewart. A Cultural History of Domestic Advice, Chapel Hill / London 2002. 54 Auch „Conspicuous Consumption“ lässt sich im Sinne einer Zweck-Mittel-Rationalität verstehen, bei der gleichsam ökonomisches in soziales Kapital konvertiert wird. Dennoch funktioniert solcher Prestigekonsum ja gerade in der expliziten Verachtung haushälterischer Rationalität; kaufmännisches Verhalten wird also bewusst nicht an den Tag gelegt. Zur Theorie des demonstrativen Konsums: T HOR- STEIN V EBLEN , The Theory of the Leisure Class, New York 1899; R OGER S. M ASON , The Economics of Conspicuous Consumption. Theory and Thought since 1700, Cheltenham 1999. 55 So der Titel einer hier einschlägigen Publikation: Genuss und Nüchternheit. Geschichte des Kaffees in der Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, R OMAN R OSSFELD (Hrsg.), Baden 2002; vgl. ferner: Kaffee im Spiegel europäischer Trinksitten, D ANIELA U. B ALL (Hrsg.), Zürich 1991; R OSS W. J AMIESON , The Essence of Commodification. Caffeine Dependencies in the Early Modern World, in: Journal of Social History 35 (2001), 269-294; R OMAN S ANDGRUBER , Genußmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994/ 1, 73- 88; W OLFGANG S CHIVELBUSCH , Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genussmittel, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1983. <?page no="169"?> Alexander Engel 170 lichen Getränk 56 - und zwar in Abgrenzung zum adeligen, später weiblich konnotierten süßen Kakao einerseits, und zum vorgeblich extensiven Alkoholkonsum der Unterschichten andererseits. 57 Auch im Theoretisieren über Wirtschaft und Gesellschaft ist die Koppelung von Hedonismus und Rationalität unübersehbar. Der Utilitarismus betrieb die gesellschaftliche Legitimation individueller Bedürfnisbefriedigung und sinnierte zugleich buchhalterisch über die ideale Verteilung des Glücks zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft. Hermann Heinrich Gossen, der in einer zunächst völlig unbeachteten Publikation 58 zwanzig Jahre vor den Urvätern der Neoklassik das Grenznutzenprinzip erstmalig formulierte, ging es um die optimale Lebensgestaltung eines Hedonisten: Wie soll man seine Lebenszeit auf jene Vergnügungen verteilen, denen man sich hingeben möchte, um das persönliche Glücksempfinden über seine gesamte Lebensspanne zu maximieren? Gossens Lösung besteht darin, den erwarteten Genuss bzw. Nutzen der Vergnügungen vorausschauend zu quantifizieren und dann rational, nüchtern und emotionslos ein optimales mathematisches Verhältnis zu kalkulieren. 59 Nicht nur Intermediäre und Produzenten, sondern auch und gerade (haushalterische ebenso wie hedonistische) Konsumenten als ehrbare Kaufleute zu porträtieren, ist also eine dem Zeitgeist durchaus konforme Idee der frühen Neoklassiker. Ebenso evident ist aber auch, dass damit manche 56 Im ‚bürgerlichen’ 19. Jahrhundert schließlich entwickelte sich Kaffee - ergänzt um preisgünstige Kaffeesurrogate - zu einem Bedarfsgut der gesamten Bevölkerung, insbesondere der in ihrer Arbeitsleistung stark geforderten Industriearbeiterschaft. 57 Wobei etwa Bier zunächst ein allgemeines Grundnahrungsmittel darstellte, dessen sich die oberen Schichten zunehmend enthalten konnten. Die von bürgerlicher Seite im 18. Jahrhundert erhobenen Klagen zielten eher auf den Spirituosenkonsum städtischer Unterschichten, im englischen Fall etwa auf den Gin. 58 H ERMANN H EINRICH G OSSEN , Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, Braunschweig 1854. 59 Gossens Lösung, D ERS ., Gesetze des menschlichen Verkehrs (wie Anm. 58), 4f. bzw. 12, besteht aus zwei Leitsätzen, die in der Ökonomie bis heute als Gossensche Gesetze bekannt sind. Erstens: Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit der Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt. Zweitens: Der Mensch, dem die Wahl zwischen mehren Genüssen freisteht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten, muss, wie verschieden auch die absolute Größe dieser Genüsse sein mag, um die Summe seines Genusses zum Größten zu bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle teilweise bereiten, und zwar in einem solchen Verhältniß, daß die Größe eines Genusses in dem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt. Der Grenznutzen aller Vergnügungen - also jener Genuss, der zum Zeitpunkt des Abbruchs eines Vergnügens noch besteht - soll also identisch sein. Angenommen also, man konsumiert jeden Morgen Kaffee, wird des Kaffees im Sinne des ersten Gossenschen Gesetzes im Laufe der Jahre immer überdrüssiger und wechselt irgendwann zu Tee, welchen man - wiederum mit abnehmender Freude - bis zu seinem Tode trinkt. Wenn nun die Freude am letzten Kaffee größer war als die Freude am letzten Tee, hätte man noch etwas länger in seinem Leben Kaffee trinken sollen. Ist die Freude am letzten Tee größer als am letzten Kaffee, hätte man umgekehrt das Teetrinken früher beginnen sollen. Ist die Freude an beiden letzten Tassen gleich groß, so - dies weist Gossen in formaler Weise nach - war der Umstellungszeitpunkt optimal, nämlich der aus dem Heißgetränkekonsum insgesamt gezogene Genuss im Leben maximal. <?page no="170"?> Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann 171 Grundannahmen der Neoklassik in der vorindustriellen Zeit noch nicht, und in der postindustriellen Moderne nicht mehr gegeben sind. Der Homo oeconomicus ist das Kind einer Übergangszeit, in der sich einerseits die moderne Konsumgesellschaft und die gesellschaftliche Schlüsselrolle des Marktes bereits andeuteten und der Fokus auf den Nachfrager und seine Bedürfnisbefriedigung verschoben wurde, in der aber andererseits noch polypolistische Marktbeziehungen, unspezifische Bedarfsgüter und moralisch gezügeltes, rationales Verhalten der ökonomischen Akteure dominierten. Während das dem Homo oeconomicus affine Verhalten eines ehrbaren Kaufmanns ein historisch gewachsenes und damit für frühere Epochen nicht einfach gegebenes Handlungsmuster ist, verliert es sich in der modernen Konsumgesellschaft - vor allem angesichts der Auflösung klassischer Milieus und der daher abnehmenden bürgerlichen „Kaufmannhaftigkeit“ hedonistischen Konsums - auch zusehends wieder. 8. Schlussfolgerungen Die Handelsgeschichte widmet sich vorrangig (europäischen) Kaufleuten der vorindustriellen Zeit, ihrer gesellschaftlichen Einbettung und den von ihnen generierten Handels- und Zahlungsströmen. Im Grunde vereint die Disziplin also die Sozialgeschichte der kaufmännischen Person, die Kulturgeschichte kaufmännischen Verhaltens und die Wirtschaftsgeschichte der kaufmännischen Funktion. Dabei beschränkt sie sich aber zugleich auf jenen Gegenstand, der aus epochenspezifischen Gründen das größte Potential dafür aufweist, ihn unter allen drei Perspektiven gleichermaßen zu betrachten - eben die mittelalterliche und vor allem frühneuzeitliche Kaufmannschaft. Nur wenige handelsgeschichtliche Studien jedoch vereinen tatsächlich alle drei Perspektiven. Konzentriert man sich zum Beispiel auf den Untersuchungsbereich der kaufmännischen Funktionen, so ist eine Limitierung auf „klassische“ vorindustrielle Kaufleute nicht notwendig; man könnte sich ebenso gut den Ein- und Verkaufsabteilungen moderner Unternehmen oder auch vorindustriellen Konsumenten widmen, also die Begrenzung auf kaufmännische Personen aufheben. Definiert man also Handelsgeschichte weniger aus ihrem traditionellen Gegenstand und mehr aus den traditionell verfolgten theoretischen Dimensionen, so lässt sich der Zugriffsbereich der Handelsgeschichte in sinnvoller Weise sachlich und zeitlich erweitern, das Vergleichen und Einordnen handelshistorischer Phänomene auf eine höhere Ebene heben und schließlich die Anschlussfähigkeit an andere Forschungsrichtungen wie etwa Konsum- oder Unternehmensgeschichte stärken. <?page no="171"?> Alexander Engel 172 Schließlich hätte ein systematischerer und von den Spezifika bestimmter Epochen oder Kontexte potentiell abstrahierender Zugriff auf kaufmännisches Handeln den Vorteil, als bessere Folie für eine historisch sensible ökonomische Theoriebildung dienen zu können. Die Nützlichkeit der neoklassischen Marktheorie in einer Vielzahl von Kontexten ist unbestritten. Gleichwohl handelt es sich, auch wenn Mainstream-Ökonomen dies zumeist nicht vor Augen steht, 60 um ein in seiner Entstehung zeitgebundenes, im Hinblick auf die modellierte ökonomische Realität partiell anachronistisches und damit ergänzungsbedürftiges Modell. Einige implizierte „Anomalien“ - dass etwa Unternehmen keine Preispolitik betreiben und als Preisnehmer langfristig keine Gewinne machen können - rühren daher, dass bei der Theoriebildung nicht von modernen „industriellen“ Märkten, sondern von den zu jener Zeit noch vorwiegenden polypolistischen Märkten mit unspezifischen Gütern ausgegangen wurde. Auch für heutige Märkte letzterer Art liefert die neoklassische Preistheorie immer noch sehr gute Vorhersagen - zumindest, sofern die Marktspielregeln nicht durch Koalitions- und Manipulationspraktiken unterminiert werden, wie sie dem Homo oeconomicus fremd und dem ehrbaren Kaufmann zuwider sind. 60 Vgl. hierzu auch G EOFFREY M. H ODGSON , How Economics Forgot History. The Problem of Historical Specificity in Social Science, London / New York 2001. <?page no="172"?> 2. Kaufmännische Praktiken im späten Mittelalter <?page no="174"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert. Wie Cosimo de’ Medici seine Bank im Kampf gegen seine inneren Gegner einsetzte Kurt Weissen Kurz vor 1400 begann der Aufstieg von Giovanni d’Averardo de’ Medici vom kleinen Bankangestellten zum wichtigsten Bankier der römischen Kurie. Sein Sohn Cosimo führte ab 1429 die Handelsgeschäfte, leitete eigene Produktionsfirmen für Seidenfabrikation und Wolltuchveredelung und machte die Bank zum führenden Geldinstitut Europas seiner Zeit. 1 In signifikanter Korrelation zum Anwachsen seines Vermögens wuchs auch der Einfluss auf die Politik von Florenz an, den er zusammen mit einer Gruppe befreundeter Familien ausübte. Um 1430 geriet dieser Anspruch auf Mitbestimmung der florentinischen Politik in Konflikt mit der herrschenden Oligarchie, deren führende Köpfe Rinaldo degli Albizzi, Niccolò da Uzzano und Palla di Nofri degli Strozzi waren. Cosimo wurde im September 1433 nach Venedig verbannt, konnte aber nach einem Jahr zurückkehren. Die moderne Forschung ist sich zwar uneins, ob er bis zum Tod im Jahre 1464 der de facto Signore einer Kryptosignorie oder das Haupt einer Oligarchie war, doch ist sein weitgehender Einfluss auf alle inneren und äußeren Geschicke von Florenz unbestritten. 2 Es ist längst bekannt, dass Giovanni und Cosimo die finanziellen Möglichkeiten, die ihnen ihre erfolgreiche Bank eröffnete, immer wieder zur Beeinflussung von Italiens Politik im eigenen und im Interesse ihrer Republik eingesetzt haben. Mit großem finanziellem Einsatz und Gewinn hat Giovanni den Aufstieg von Kardinal Baldassare Cossa unterstützt und ihm geholfen, als Papst Johannes XXIII. den Petersstuhl besteigen zu können. Wenn er auch dessen Absetzung auf dem Konzil von Konstanz nicht verhindern konnte, so hat ihm diese Kundenbeziehung doch zu Geschäften mit der Kirchenhierarchie verholfen, mit denen er einen sehr großen Gewinn erzielte 1 Vgl. R AYMOND DE R OOVER , The Rise and Decline of the Medici Bank 1397-1494, Cambridge, Mass. 1963. 2 Von der Kryptosignorie spricht T HOMAS F RENZ , Italien im Mittelalter (950-1454), in: W OLFGANG A LTGELD , Kleine italienische Geschichte, Stuttgart 2002, 15-122, 197. Zu Cosimo als Führer einer Oligarchie vgl. A LISON M. B ROWN , The Humanist Portrait of Cosimo de’ Medici, Pater Patriae, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 24 (1961), 186-221; N ICOLAI R UBINSTEIN , Cosimo optimus civis, in: Cosimo „il Vecchio“ de’ Medici, 1389-1464. Essays in Commemoration of the 600th Anniversary of Cosimo de’ Medici’s, F RANCIS A MES -L EWIS (Hrsg.), Oxford 1992, 5-20. <?page no="175"?> Kurt Weissen 176 und einen wesentlichen Teil des Medici-Vermögens erwirtschaftete. 3 Gleichzeitig konnte er über diese Verbindungen immer wieder politische Allianzen des Kirchenstaates mit Florenz gegen Mailand und Neapel fördern. Finanzielle Unterstützung ließen die Medici ebenso Söldnerführern wie Federico da Montefeltro zukommen, wenn es zum Nutzen der Medici-Bank und der Stadt Florenz war. So waren politische und geschäftliche Interessen in gleichem Maße entscheidend für die Eröffnung einer Filiale in Mailand, nachdem der Condottiero Francesco Sforza den Herzogstitel erworben hatte. Die Potenz der Medici-Bank hat sicherlich auch seinem Enkel Lorenzo letztendlich dabei geholfen, bei Sultan Mehmet II. im Jahre 1479 die Auslieferung des Mörders seines Bruders Giuliano zu erreichen. 4 Noch wenig wissen wir aber über die Rolle der Bank bei der Sicherung des Einflusses von Cosimo de’ Medici auf die florentinische Innenpolitik. Dale Kent und John Padgett haben in umfassenden Studien die Komponenten und Funktionsweisen des politischen, sozialen und kommerziellen Netzwerks um 1430 untersucht und die Bedeutung von Heiratsallianzen, sozialer Patronage und wirtschaftlichen Beziehungen bei der Herrschaftssicherung analysiert. 5 Diese beiden Studien und die Arbeiten von Raymond de Roover über die Bank zeigen auf, mit wem die Medici Geschäfte gemacht haben, wen sie als Partner in ihr Unternehmen nahmen, und wen als Angestellten. Sie geben aber keine Auskunft darüber, ob Cosimo die Bank dazu eingesetzt hat, politische Gegner, von denen viele wie er selbst als Bankiers und Seidenhändler tätig waren, durch kommerzielle Aktivitäten gezielt wirtschaftlich zu schwächen. Es ist schwierig, zu diesen Fragen direkte Quellen zu finden. Die Dokumente der unterlegenen Gegner, in denen sie möglicherweise ricordi über erfahrenes Unrecht, kommerzielle Machenschaften und Intrigen aufgeschrieben haben, sind fast vollständig verloren. Andererseits lag es nicht im Interesse der Medici, schriftliche Aufzeichnungen über diese Vorgänge zu erstellen oder gar zu archivieren. 3 Zu den Beziehungen zwischen Baldassare Cossa und Giovanni de’ Medici vgl. G EORGE A. H OLMES , How the Medici became the Pope’s Bankers, in: Florentine Studies. Politics and Society in Renaissance Florence, N ICOLAI R UBINSTEIN (Hrsg.), London 1968, 357-380; A RNOLD E SCH , Das Papsttum unter der Herrschaft der Neapolitaner. Die führende Gruppe Neapolitaner Familien an der Kurie während des Schismas 1378-1415, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Geschichte Göttingen (Hrsg.), Göttingen 1972, 713-800; D ERS ., „Kein Papst wird das tun, was dieser tut“. Bologneser Kaufmannskorrespondenz über ein Simonie-Geschäft in Rom 1400, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 61 (1974), 433-457. 4 Vgl. R OOVER , Medici Bank (wie Anm. 1), 59, 70f. 5 D ALE V. K ENT , The Rise of the Medici Faction in Florence (1426-1434), Oxford 1978; C HRISTO- PHER K. A NSELL / J OHN F. P ADGETT , Robust Action and the Rise of the Medici, 1400-1434, in: American Journal of Sociology 98 (1993), 1259-1319. <?page no="176"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert 177 1. Die Sphinx Schon die Zeitgenossen bezeichneten Cosimo als undurchschaubare Sphinx. 6 Sein oft passiv wirkendes und verschlossenes Agieren im Hintergrund macht es auch den modernen Historikern sehr schwer, seine direkte Verantwortlichkeit für politische Entscheidungen zu ermitteln. 7 Giovanni hatte miterlebt, wie die Oligarchen um Maso degli Albizzi den Niedergang der einst außerordentlich reichen und mächtigen Familie Alberti durch die Verbannung aus Florenz und wirtschaftliche Sanktionen herbeigeführt hatten. Von ihm hatte Cosimo als junger Mann gelernt, sich politisch möglichst unauffällig zu verhalten, um nicht den Argwohn der Mächtigen auf sich zu ziehen. 8 Nach der Vertreibung dieser Oligarchen nach 1434 traten seine Ambitionen zwar deutlicher zutage, doch agierte auch er weiterhin möglichst im Hintergrund in den consulte e pratiche und schickte an seiner Stelle Vertrauensleute mit Direktiven in die Öffentlichkeit. Er übernahm selber nie für längere Zeit ein republikanisches Amt, hielt in 30 Jahren nur gerade zweimal öffentlich eine Rede und nahm persönlich äußerst selten an Ratsversammlungen teil. 9 Dennoch sind ausreichend Quellen überliefert, die aufzeigen, wie er unternehmerische Mittel in innenpolitischen Auseinandersetzungen einsetzte, um Freunde an sich zu binden und Gegnern zu schaden. 2. Cosimo unter Druck Als Cosimo 1433 durch die Oligarchen in einer nur mit viel Anstrengung zu Ende gebrachten Aktion aus Florenz verbannt wurde, kommentierte der Vertriebene dies in seinen eigenen ricordi mit der Vermutung, man habe ihn durch diese Maßnahme in erster Linie von seinem Vermögen abzuschneiden versucht, um dadurch seinen Bankrott herbeizuführen. 10 Dies wäre fast gelungen und konnte nur durch die vielen in der Stadt verbliebenen Freunde verhindert werden, die alles unternahmen, um die Unternehmen und das Vermögen zu beschützen. 11 Dass Cosimo seine Verbannung im Jahre 1433 vor allem als Versuch sah, ihn wirtschaftlich zu ruinieren, lässt sich ausrei- 6 B ROWN , Humanist Portrait (wie Anm. 2), 186. 7 C URT S. G UTKIND , Cosimo de’Medici. Pater patriae, 1389-1464, Oxford 1938, 124. 8 A RNOLD E SCH , Bankiers der Kirche im Grossen Schisma, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 46 (1966), 277-398, hier 283. 9 Zu den Ämtern C OSIMOS G UTKIND , Cosimo (wie Anm. 7), 110 und 123; A NTHONY M OLHO , Florentine Public Finances in the Early Renaissance, 1400-1433, Cambridge, Mass. 1971, 218; N ICOLAI R UBINSTEIN , The Government of Florence under the Medici, 1434 to 1494, Oxford 1966, 24. 10 A NGELO F ABRONI , Magni Cosmi Medicei vita, 2 Bde., Pisa 1789, Bd. 2, 97. 11 K ENT , Rise of the Medici Faction (wie Anm. 5), 77. <?page no="177"?> Kurt Weissen 178 chend durch die Geschäfte erklären, die er in den davorliegenden Jahren mit der Staatskasse gemacht hatte. Der Krieg von Florenz gegen Lucca verschlang riesige Summen, die nicht aus den Beständen der Staatskasse bezahlt werden konnten. Die Signoria nahm deshalb bei Privatpersonen zwangsweise Geld auf und bezahlte für diese kurzfristigen Darlehen bis zu 60 % Verzinsung. Für den Zeitabschnitt von Ende Dezember 1430 bis August 1432 sind die Unterlagen über diese Zwangsanleihen erhalten. Danach wurden in dieser Zeit 561.098 Fiorini aufgenommen, 155.887 oder 27 % davon kamen allein von Cosimo e Lorenzo de’ Medici e compagni. Ob diese Kredite für die Bank eine Gewinnmaschine bildeten, ist umstritten, auf jeden Fall gerieten die Oligarchen im Gegensatz zu Cosimo in große Schwierigkeiten. Viele von ihnen verfügten zwar über riesige Vermögen, die sie aber zum größten Teil in langfristigen Investitionen gebunden hatten. Es fiel ihnen deshalb immer schwerer, das benötigte Bargeld aufzutreiben. Konnten sie den Forderungen aber nicht mehr nachkommen, so drohte ihnen für immer der Ausschluss aus allen öffentlichen Ämtern. 12 Das Vermögen von Palla di Nofri degli Strozzi sank aus diesem Grunde von 1427 bis 1433 von 101.000 auf 39.000 Fiorini, während sich die Medici im selben Zeitabschnitt von 81.000 auf 140.000 verbesserten. 13 Es gelang Cosimo auch, die für den Einzug und die Verwaltung dieser Gelder zuständige Behörde, den banco, vornehmlich mit Männern seines Vertrauens zu besetzen. Diese ufficiali gerieten aufgrund ihrer weit reichenden Kompetenzen zunehmend in Konflikt mit den von den Oligarchen dominierten Räten der Stadt. In seiner Verbannung ist deshalb auch ein Versuch zu sehen, diese Bedrohung zu zerschlagen. Allerdings hatten die Oligarchen keine Alternative für die Sanierung der Staatsfinanzen zu bieten, was mit ein Grund für die rasche Aufhebung des Banns gegen Cosimo war. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Jahre 1434 war es deshalb eine seiner ersten Aufgaben, die Staatsfinanzen wiederum mit Hilfe von Geldern aus seiner Bank ins Lot zu bringen, und er ließ sich später gerne als Retter des Staates vor dem Bankrott darstellen. 14 In den darauf folgenden Jahren hat er dann selber streng darauf geachtet, Staats- und Bankkasse strikt voneinander zu trennen. 12 M OLHO , Florentine Public Finances (wie Anm. 9), 180-182; Ansell / Padgett, Robust Action (wie Anm. 5), 1309. 13 K ENT , Rise of the Medici Faction (wie Anm. 5), 143. 14 D ALE V. K ENT , I Medici in esilio. Una vittoria di famiglia ed una disfatta personale, in: Archivio Storico Italiano 132 (1976), 3-63. <?page no="178"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert 179 3. Johannes XXIII. und die konkurrierenden Bankiers Dies war nicht der erste Versuch in der florentinischen Geschichte, reiche Bankiers, die politische Macht in der Stadt anstrebten, in den Ruin zu treiben, um ihnen die finanzielle Basis zu entziehen. Leon Battista Alberti, der bekannte Renaissance-Architekt und Humanist, berichtet im vierten Buch seiner „Libri della Famiglia“ über einen Vorfall aus dem Jahre 1414. Er schreibt im Kapitel über die Freundschaft, Papst Johannes XXIII. habe von der Alberti-Bank in Rom verlangt, sie müsste ihm in spätestens acht Tagen mehr als 80.000 Goldgulden ausbezahlen, die er bei der Alberti-Filiale in London als deposito liegen hatte. Diese Forderung trieb das Unternehmen an den Rand des Bankrotts, denn eine dermaßen riesige Summe war als Bargeld in so kurzer Frist kaum aufzutreiben. Dank großer Anstrengungen der gemeinsam handelnden Familie gelang es dennoch, diese Bedrohung abzuwehren. Die Motivation für die Forderung des Papstes nennt Leon Battista occulta und sieht hinter der ganzen Affäre die Feinde der Alberti, die den Papst aufgestachelt hätten: instigato da’ nostri inimici. 15 Er nennt weder die Bank, bei der das eingeforderte Bargeld hinterlegt werden musste, noch nennt er diese Gegner der Familie mit Namen. Selbstverständlich kommen zuerst Maso degli Albizzi und seine Freunde als Initiatoren dieses fehlgeschlagenen Versuchs in Frage. Bedenkt man jedoch, dass als Zahlstelle für das eingeforderte Geld zu diesem Zeitpunkt nur die Bank der Medici in Rom in Frage kam, sie also die hauptsächliche wirtschaftliche Nutznießerin eines Alberti- Falliments gewesen wäre, und der Papst mit Giovanni de’ Medici aufs engste verbunden war, so ist nicht auszuschließen, dass Cosimos Vater hier etwas versucht hat, was zwanzig Jahre später seinem Sohn in ähnlicher Form selber widerfuhr. Seine Beteiligung an diesem Vorgang würde auch die Anonymisierung der Hintermänner in einem 1441 abgeschlossenen Text erklären. 4. Netzwerke Die Kernstruktur des Medicisystems bildete das Netzwerk von parenti, vicini und amici. Die amerikanischen Kliometriker Ansell und Padgett bestreiten, dass die Bank beim Aufbau und Unterhalt dieses Klientelsystems von Bedeutung gewesen sei. Grundlage ihrer These ist die Auswertung großer Datenmengen, die sie in den Steuererklärungen für das Catasto von 1427 und in Listen von 1434 mit den Namen der Medici-Gegner fanden. Als Ergebnis präsentierten sie Modelle, die die Beziehungen zwischen den politischen und 15 L EON B ATTISTA A LBERTI , I libri della famiglia, R UGGIERO R OMANO / A LBERTO T ENENTI / F RAN- CESCO F URLAN (Hrsg.), Torino 1994, 296. <?page no="179"?> Kurt Weissen 180 wirtschaftlichen Eliten von Florenz aufzeigen. Für die sozialen Komponenten der Netzwerkstruktur haben sie die Heiratsallianzen analysiert; als Indikatoren des wirtschaftlichen Netzwerks wurden Handelsbeziehungen, Partnerschaften, Anstellungsverhältnisse und Immobilienbesitz ausgewertet. Sie kamen zum Schluss, dass nur wenige Familien in die Banktätigkeit einbezogen gewesen seien und sich unter den Partnern und Angestellten viele Parteigänger der Oligarchen befunden hätten. 16 Ansell und Padgett berücksichtigen bei ihrer Analyse allerdings drei wichtige Faktoren nicht: Sie zeichnen erstens ein statisches Modell, das den Zustand des Netzwerks um 1433 festhält, und gehen nicht auf Entwicklungen ein. Zweitens beschränken sie sich auf die kleine Gruppe von Familien, die ihrer Definition von Elite entspricht. Dazu gehört für sie das Kriterium der Teilnahme an Sitzungen der städtischen Behörden. Gerade diese Forderung konnten aber Bankangestellte häufig nicht erfüllen, da sie sich ja häufig nicht in Florenz aufhielten. Und schließlich lässt sich die politische Instrumentalisierbarkeit der Bank nicht beurteilen, wenn man weder die Kundenbeziehungen noch die Korrespondenzbanken in die Analyse einbezieht. 5. Die Medici-Bank als Arbeitgeber Die Bank war tatsächlich als Arbeitgeber nur von geringer politischer Bedeutung. Die Politik, bevorzugt Mitglieder aus derselben Familie als leitende Angestellte einzustellen, hatte kaum einen politischen Hintergrund. Dass die Bardi, Portinari und Martelli in so großer Zahl für die Medici arbeiteten, hatte sicherlich mehr mit ihrer beruflichen Qualifikation als mit ihrem politischen Einfluss zu tun. 17 Niemand wurde in die Bank aufgenommen, weil man sich seiner Gefolgschaft versichern wollte. Der Schlüssel zur Bedeutung der Bank findet sich in einer anderen Feststellung von Ansell und Padgett: Die Medici unterhielten mit Familien, mit denen sie Heiratsverbindungen eingingen, keine geschäftlichen Beziehungen. 18 Die Bank eignete sich nämlich ausgezeichnet, um Familien, die nicht zum engeren Kern des Mediciklientelsystems zählten und mit denen man keine Heiratsverbindung eingehen konnte, wirtschaftlichen Schutz und Schirm zu sichern. Ziel dieser Unterstützung war die Stärkung des Zusammenhalts der eigenen Gefolgschaft. Gleichzeitig war die Wirkung auch nach außen gerichtet, da sie die Botschaft aussandte: „Schaut her, wie wir uns um 16 A NSELL / P ADGETT , Robust Action (wie Anm. 5), 1302f. 17 Vgl. L AURO M ARTINES , La famiglia Martelli e un documento sulla vigilia del ritorno dall’esilio di Cosimo de’ Medici 1434, in: Archivio Storico Italiano 118 (1959), 29-43. 18 A NSELL / P ADGETT , Robust Action (wie Anm. 5), 1280. <?page no="180"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert 181 unsere Leute kümmern. Wer sich für uns und damit gegen unsere Konkurrenten entscheidet, für den sorgen wir.“ Dale Kent hat zeigen können, dass Cosimo damit dasselbe tat, was auch seine Gegner eifrig betrieben. Er tat es aber offensichtlich mit mehr Erfolg. 6. Geschenke erhalten die Freundschaft Cosimo hat in vielen Fällen seine amici direkt mit Geld unterstützt. Er überließ ihnen Häuser zu äußerst günstigen Mieten und bezahlte ihre Steuern. Der einfachste Weg, diese Gelder fließen zu lassen, war über die Bank. Durch die Vergabe persönlicher Kredite an Personen, die er an sich binden wollte, versuchte er den Eindruck des Schenkens und des Almosengebens zu vermeiden, gleichzeitig erlaubte ihm dieser Weg, Verluste von der Steuer abzusetzen. Als Gegenleistung erwartete er politische Unterstützung. Ganz offen sprach dies Matteo di Niccolò Cerretani aus, der Cosimo im Juli 1434 um ein Darlehen als Mitgift für seine Tochter bat. Er schrieb, dass es selbstverständlich sei, zu denen zu halten, auf die man sich mit Hilfegesuchen verlassen kann. 19 Umgesetzt hieß dies nichts anderes als: Gib du mir ein Darlehen und ich gebe deinen Kandidaten meine Stimme bei Wahlen. Der Zeitgenosse Cavalcanti berichtet im gleichen Sinne, die Buondelmonti seien wegen des Geldes enthusiastische Medici-Supporter geworden. Über Domenico di Zanobi Frasca berichtet er, dass dieser als Freund von Cosimo zu großem Reichtum gekommen sei, obwohl er ein Niemand gewesen sei. 20 Wie dieses System in der Geschäftswelt funktionierte, lässt sich anhand einiger konkreter Fälle erläutern. Baldassare di Baldassare Bonsi della Ruota gehörte einer Familie an, deren Mitglieder seit vielen Jahrzehnten zu den treuesten Gefolgsleuten der Medici zählten. Er war zweimal Mitglied außerordentlicher Ratsversammlungen, der so genannten balìe, und bekleidete dreimal das hoch angesehene Amt eines priore. Sein älterer Bruder Raffaele gehörte der balìa an, die Cosimo 1434 aus dem Exil zurückrief, und war zwei Jahre später priore. 21 Sein jüngerer Bruder Niccolò wurde bereits 1431 von den Oligarchen aus Florenz verbannt und schrieb von Lübeck aus, wo er sich in die Dienste des Bankiers Gherardo Bueri begeben hatte, Briefe politischen Inhalts an die Medici, von denen einer noch erhalten ist. 22 Als Baldas- 19 K ENT , Rise of the Medici Faction (wie Anm 5), 81. 20 K ENT , Rise of the Medici Faction (wie Anm 5), 78. 21 Zu den Martelli vgl. U GOLINO DI N ICCOLÒ M ARTELLI , Ricordanze dal 1433 al 1483 (La memoria familiare, 3), Rom 1989. 22 Archivio di Stato di Firenze (ASF), Capitani di Parte, numeri rossi, 65, c. 10v-11r. Dort eine Aufstellung seines durch die Stadt beschlagnahmten Besitzes. Transkription eines Briefes von Lübeck an Piero di Cosimo de’ Medici in Florenz vom 23. März 1426 bei K URT W EISSEN , Briefe in Lübeck leben- <?page no="181"?> Kurt Weissen 182 sares Handelsfirma um 1450 in Konkurs ging, wurde er durch die Diener des Wirtschaftsgerichts, der mercanzia, im Gefängnis le stinche eingekerkert. 23 Bereits acht Jahre nach diesem Ruin war er wieder als Kaufmann tätig. Er gründete zwar keine eigenen Gesellschaften mehr, doch leitete er wichtige Unternehmungen anderer Kaufleute in Pisa und Tunis. Auch sozial musste er keinen Abstieg erdulden, denn sonst wäre er nicht schon 1458 wieder priore gewesen. 24 Dass er diesen Ruin ohne größeren Schaden überstand, verdankte er allein Cosimo, der für die Zufriedenstellung der Gläubiger und die soziale Rehabilitation gesorgt hatte. In einem Fall ist sogar ein Mitarbeiter in den Genuss von Hilfeleistungen gekommen, der wegen Verfehlungen entlassen worden war. Neri di Cipriano Tornaquinci war der erste Faktor, den Giovanni de’ Medici 1398 nach Venedig schickte. Die Geschäfte schienen gut zu laufen, und Neri wies in seinen Bilanzen für das Jahr 1402 einen Gewinn von etwa 3.000 Fiorini aus. Doch Giovanni misstraute seinem Faktor und bekam durch eine Untersuchung Recht, die zum Schluss kam, dass in Wahrheit ein Verlust erarbeitet worden war. Tornaquinci hatte oberdeutschen und polnischen Kaufleuten zu großzügig Kredite eingeräumt und einen Schaden von über 14.000 Fiorini angerichtet. Giovanni beendete nicht nur fristlos das Arbeitsverhältnis mit Neri, sondern zog ihn auch vor die mercanzia. Diese verurteilte ihn und ließ seinen Besitz in Florenz verkaufen, was allerdings nur einen Bruchteil des zurückgeforderten Geldes einbrachte. Tornaquinci verließ Italien und ließ sich in Krakau nieder. Doch auch dort reüssierte er nicht und geriet bald in große Armut. Als Giovanni de’ Medici vom Unglück seines ehemaligen Mitarbeiters erfuhr, schickte er ihm ein paar Fiorini. 25 Ganz anders erging es Alessandro Ferrantini, der unter seinem eigenen Namen um 1430 die Filiale der Alberti in England führte. Zwischen den Alberti und den Medici hatte es während Jahrzehnten einen Konkurrenzkampf um die Geschäfte aus dem kurialen Zahlungsverkehr gegeben, der zu einem stillschweigenden Abkommen mit einer Gebietsaufteilung geführt hatte. Über politische Macht in Florenz verfügten sie nach Jahrzehnten der Exilierung nicht mehr. Zusammen mit dem gesamten Filialnetz dieser einst bedeutenden Bankiersfamilie machte auch Ferrantini 1436 Bankrott und kam in den Londoner Schuldturm. Aus dem Gefängnis schrieb er Bittbriefe an Cosimo, ihm in dieser schlimmen Lage zu helfen. 26 Doch Alessandro der Florentiner Kaufleute an die Medici (1424-1491), in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 83 (2003), 53-81, hier 67f. 23 ASF, Mercanzia, 1377, c. 110v. 24 G IOVANNI C AMBI , Istorie, I LDEFONSO DA S. L UIGI (Hrsg.), Florenz 1785-1786, 6, 21, 48, 75, 84, 124. 25 R OOVER , Medici Bank (wie Anm. 1), 240f. 26 ASF, Mediceo Avanti il Principato (MAP), filza 13, Nr. 23 und 39. <?page no="182"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert 183 hatte in den Machtkämpfen nicht auf der Seite Cosimos gestanden, wie seine Briefe an den Oligarchen Matteo di Simone degli Strozzi zeigen. Cosimo ließ sich durch nichts erweichen und reagierte auf die Hilferufe aus London nicht. Ferrantini starb im Londoner Gefängnis. 7. Exil als Bewährungsprobe Wenn sich in den italienischen Städten des Hoch- und Spätmittelalters eine politische Gruppierung gegen eine andere durchsetzen konnte, so war die Folge in der Regel die Verbannung der Unterlegenen aus der Stadt, sehr selten kam es auch zu Hinrichtungen. Bei solchen Exilierungen mussten manchmal mehrere hundert Männer gleichzeitig die Stadt verlassen, um sich an anderen Orten Italiens niederzulassen. 27 Mit diesem Phänomen haben sich im Zusammenhang mit Dante, Petrarca und Machiavelli lange Zeit fast ausschließlich Literaturwissenschaftler beschäftigt. 28 Seit kurzem werden auch wirtschaftliche Aspekte betrachtet, etwa die Immigration der Wechsler aus Asti nach Deutschland durch Winfried Reichert oder der Know-how- Transfer in der Seidenfabrikation durch exilierte Lucchesen durch Luca Molà. 29 Für die großen Gruppen von Florentinern, die während längerer Exilaufenthalte außerhalb ihrer Vaterstadt wirtschaftlich tätig waren, gibt es allerdings noch keine umfassende Darstellung. Für den Einsatz kommerzieller Mittel der Medici in der Auseinandersetzung mit politischen Feinden ist ihr Verhalten gegenüber der kaufmännischen Tätigkeit der Exilierten sehr aufschlussreich. In der Fremde blieb den meisten Florentinern nämlich gar keine andere Möglichkeit, als sich den Lebensunterhalt durch internationale Handels- und Bankgeschäfte zu verdienen. Dabei mussten sie einen Weg finden, mit den marktbeherrschenden Unternehmen der Medici im selben Wirtschaftsfeld tätig sein zu können. Es gab in Florenz keine Gesetze, die Verbannungen reglementierten. Es wurde von Fall zu Fall entschieden, wohin jemand geschickt wurde und für welche Zeitspanne. Ebenso offen war, welche vermögensbezogenen Maßnahmen beschlossen wurden. Es galt aber im Normalfall, dass nur die Männer davon betroffen waren, während die Ehefrauen und die minderjährigen Söhne entscheiden konnten, ob sie ins Exil folgen wollten oder nicht. Das 27 Vgl. R ANDOLPH S TARN , Contrary Commonwealth. The Theme of Exile in Medieval and Renaissance Italy, Berkeley 1982; C HRISTINE S HAW , The Politics of Exile in Renaissance Italy, New York 2000. 28 Vgl. L’exil et l’exclusion dans la culture italienne. Actes du colloque franco-italien; Aix-en-Provence, 19-20-21 octobre 1989, Centre Aixois de Recherches Italiennes (Hrsg.), Aix-en-Provence 1991. 29 La communità dei lucchesi a Venezia: Immigrazione e industria della seta nel tardo Medievo. Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, L UCA M OLA / R EINHOLD M UELLER / C LAUDIO Z ANIER (Hrsg.), Venedig 1994. <?page no="183"?> Kurt Weissen 184 Vermögen wurde beschlagnahmt und - falls notwendig - daraus alle Gläubiger bedient, wobei an erster Stelle die Ehefrau kam, dann der Staat und schließlich die Schulden aus kommerzieller Tätigkeit. Auch während der Verbannung waren die Steuern zu bezahlen, da durch die Exilierung ja nicht das Bürgerrecht verloren ging und die Steuerpflicht als Privileg der Florentiner betrachtet wurde. Das Verbot, auf das eigene Vermögen zuzugreifen, und die Verpflichtung, dennoch dafür Steuern bezahlen zu müssen, führte die meisten in eine Zwangssituation, die entweder den Bankrott oder den Verlust der Bürgerrechte zur Folge hatte. Als sich Cosimo im Frühling 1433 auf die Auseinandersetzung mit den Oligarchen unter Rinaldo degli Albizzi vorbereitete, versuchte er vorsichtshalber seine Vermögenswerte in Sicherheit zu bringen. Er brachte Bargeld zur Verwahrung in Klöster, verkaufte Staatsanleihen und ließ viel Geld vom Hauptsitz der Bank in die Filialen in Rom und Venedig verlagern. 30 Möglichst große Teile der Geschäftstätigkeit in Florenz wurden an die Bank von Antonio di Salvestro Serristori, einem Verwandten der Medici, verlagert. 31 Er überlebte so seine einjährige Absenz in Venedig ohne bedrohliche Probleme, war aber darauf angewiesen, dass seine Freunde in Florenz für die Weiterexistenz seiner Bank kämpften. Sicherlich hätte er seine Geschäfte auch ohne ein Kontor in seiner Heimatstadt abwickeln können, doch wäre dies wohl als Schritt in Richtung Trennung gewertet worden. Durch die Exilierung ging die Zunftzugehörigkeit nicht verloren. Alle wirtschaftlichen Rechte blieben erhalten. Der Verbannte konnte zwar nicht selber zu Verhandlungen der mercanzia nach Florenz kommen, doch war es ihm möglich, hier durch einen Prokurator Forderungen gegenüber Dritten einzuklagen. Die Oligarchen haben diese Rechte 1433 im Maßnahmenkatalog gegen Cosimo nicht eingeschränkt, wie er im Gegenzug diejenigen seiner Feinde im Jahre 1434 nicht beschnitt. Ein Versuch von Maso degli Albizzi, die Wirtschaftstätigkeit der Alberti im Jahre 1412 zu behindern, indem von jedem Florentiner, der sich in ihre Dienste begab, eine Strafsteuer von 1.000 Fiorini verlangt wurde, brachte nicht den gewünschten Erfolg. Die Folge war, dass der Papst sehr verstimmt war, da man seine wichtigsten Bankiers in der Arbeit behinderte, und dass sich die Alberti neu organisierten, wodurch sie noch mehr verdienten als vorher. 32 International tätige Bankiers waren durch Gesetze in Florenz nicht zu behindern. Man konnte sie nur dort zu treffen versuchen, wo sie agierten. 33 Der Bannstrahl der gegnerischen Oligar- 30 R OOVER , Medici Bank (wie Anm. 1), 54. 31 K ENT , Rise of the Medici Faction (wie Anm. 5), 77. 32 S USANNAH F OSTER B AXENDALE , Exile in Practice. The Alberti Family in and out of Florence 1401- 1428, in: Renaissance Quarterly 44 (1991), 720-756, hier 737. 33 F OSTER B AXENDALE , Exile in Practice (wie Anm. 32), 738. <?page no="184"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert 185 chen reichte nur wenig über die Grenzen von Florenz hinaus, während Cosimo mit seinen Bankfilialen auf den Handelsplätzen seiner exilierten Feinde präsent war. Er konnte also kommerzielle Beziehungen von politischem Wohlverhalten abhängig machen. Wie er dies tat, kann anhand seiner Beziehungen zu den Lamberteschi und Strozzi aufgezeigt werden. Beide gehörten zu den reichsten Familien von Florenz, als sie das Schicksal der Verbannung traf. Fünfzig Jahre später waren die Lamberteschi ruiniert und verschwanden vollständig aus der Geschichte; die Strozzi hingegen kehrten noch reicher aus dem Exil zurück und gingen mit den Medici sogar eine wichtige politische und soziale Bindung ein. Lamberto di Bernardo Lamberteschi stammte aus einer sehr alten Familie, die in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts im Tuchhandel ein riesiges Vermögen gemacht hatte. 34 Sein älterer Bruder Domenico war einer der eifrigsten Gefolgsleute von Rinaldo degli Albizzi und wurde im November 1434 nach Verona verbannt. 35 Lambertos Name ist noch im Juli 1436 in Geschäftsunterlagen der Medici von Venedig zu finden. 36 Doch im selben Jahr wurde auch er zum Rebellen erklärt und nach Parma verbannt. Er begab sich jedoch nach Basel, wo er auf dem Konzil als Bankier Geld zu verdienen suchte. Lambertos Frau Lena folgte ihrem Mann über die Alpen nach Basel, 37 wo sie zwischen 1453 und 1457 drei Kinder zur Welt brachte. Als her Lambertus der Lamparter wurde er 1438 Mitglied der Zunft zum Schlüssel und Basler Bürger. 38 Zu dieser Zeit gab es in Basel drei weitere florentinische Banken. Die Konzilsbank von Cosimo de’ Medici mietete sich Räume beim reichen Basler Handelsherrn Heinrich Halbisen. Die Alberti-Bank hatte sich ein Haus am Schlüsselberg gekauft, und die Borromei/ Spinelli hatten ihre Unterkunft bei Wernli von Kilchen. In einiger Distanz zu ihnen wohnte Lamberto am Heuberg. Trotz des Erwerbs des Basler Bürgerrechts hatte Lamberto nur ein Ziel: den Sturz von Cosimo de’ Medici und seine eigene Heimkehr nach Florenz. Zu diesem Zweck hat er sich von Basel aus mit anderen Gleichgesinnten organisiert und sich zusammen mit Rinaldo degli Albizzi dem mailändischen Heer angeschlossen, das im April 1440 unter der Führung des Condottiere Niccolò Piccinino einen militärischen Angriff auf Florenz versuchte. Erst im 34 E LIO C ONTI , L’imposta diretta a Firenze nel Quattrocento (1427-1494), Rom 1984, 73; L AURO M ARTINES , The Social World of the Florentine Humanists, 1390-1460, Princeton 1963, 353. 35 A GENORE G ELLI , L’esilio di Cosimo de’ Medici, in: Archivio Storico Italiano 10 (1882), 53-96, 146- 169, hier 74, 162, 164, 165, 168; Commissioni di Rinaldo degli Albizzi per il Comune di Firenze, C ESARE G UASTI (Hrsg.), 3 Bde., Florenz 1867-1873, Bd. 2, 657f. 36 ASF, MAP, filza 154a, c. 64r. 37 ASF, Catasto (1446, Santa Croce, Carro, portate), Nr. 658 (II), c. 590rv; Staatsarchiv Basel-Stadt (STAB), Gerichtsarchiv, A 36, sabbato ante palmarum 1487. 38 STAB, Öffnungsbuch I, 3 und Missiven A 9, 93. Vgl. P AUL K OELNER , Die Zunft zum Schlüssel in Basel, Basel 1953, 55 und 224. <?page no="185"?> Kurt Weissen 186 Juni wurde diese Truppe in der berühmten Schlacht bei Anghiari geschlagen. 39 Da die Florentiner Lambertos nicht habhaft werden konnten, ließ man durch Andrea del Castagno ein überlebensgroßes Bild von ihm malen, hängte es aus einem Fenster am Palazzo del Podestà und versah es mit einem Spottvers von Antonio Buffone: Io son Lamberto Lamberteschi, a cui Ben si può dire : A te volò il cervello! Con questi traditor farmi rubello Della mia patria, ove già ricco fui. Lamberto figuriert in der Basler Steuerliste von 1454 unter der Bezeichnung der Lamparter mit einem Vermögen von 3.950 Gulden. 40 Er gehörte somit auch in Basel zu den vermögenden Einwohnern, doch verfügte er nur noch über einen Bruchteil des Vermögens, das sein Vater in Florenz besessen hatte. Da seine Geschäftsbücher, die nach seinem Tod an das Basler Barfüßerkloster gegangen sein sollen, verloren sind, bleiben nur wenige Eintragungen im Basler Gerichtsarchiv, die Auskunft über seine Geschäftstätigkeit geben. Sie zeigen, dass er sich als Geschäftspartner vor allem an Bankiers aus Verona hielt. In den dreißiger Jahren war er an einer Gesellschaft beteiligt, die von drei Partnern gebildet wurde. Neben Lamberto Lamberteschi in Basel gehörten zu den Teilhabern noch Pietro de’ Guarienti von Verona, der zuerst in der Rheinstadt eine Konzilsbank und danach eine Bank am päpstlichen Hof betrieb. Der dritte Partner war ein in Genf niedergelassener Florentiner, der ebenfalls zu den Verbannten gehörte. 41 Neben Seidenhandel beschäftigte er sich mit dem Handel von lettere di cambio, für den er mit den Pazzi in Rom und den Orsi in Bologna in Verbindung stand. Am 6. November 1458 wurde die Verbannung von Lamberto um weitere 25 Jahre verlängert. Diese Nachricht hat ihn aber gar nicht mehr erreicht, denn er war bereits am 8. Juli dieses Jahres verstorben und in der Barfüßerkirche bei den Franziskanern bestattet worden. Auf seinem Grabstein, dessen Inschrift dank einer Abschrift aus dem 17. Jahrhundert noch erhalten ist, stand: 39 Der Text von Giovanni Rucellai bei F RANCIS W. K ENT / A LESSANDRO P EROSA , Giovanni Rucellai ed il suo Zibaldone, 2 Bde., London 1960/ 1981, 50. F ABRONI , Magni Cosmi (wie Anm. 10), Bd. II, 149 spricht sicherlich fälschlicherweise von einem Lorenzo Lamberteschi, der jedoch historisch nicht fassbar ist. Lamberteschis Teilnahme an diesem Kriegszug gegen Florenz wird auch von B ENEDETTO D EI , La cronica dall’anno 1400 all’anno 1500, Florenz 1985, 56, erwähnt. 40 G USTAV S CHÖNBERG , Die Finanzverhältnisse der Stadt Basel im 14. und 15. Jahrhundert, Tübingen 1879, 617; K OELNER , Zunft zum Schlüssel (wie Anm. 38), 224. 41 Vgl. F RANZ E HRENSPERGER , Basels Stellung im internationalen Handelsverkehr des Spätmittelalters, Diss. masch. Universität Basel 1972, 277f. <?page no="186"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert 187 „Anno Domini M.CCCC.LVIII Hic jacet LAMPERTUS de BERNHARDI de Lampertescus, civis Basil. expulsus de Florentia indigne. Cuius anima requiescat in pace.“ 42 Von den Hinterbliebenen sind in Basel nur noch einmal Spuren zu finden, als Bernardo di Lamberto von Florenz 1487 meinte, ein vermeintliches Guthaben seines Vaters bei Baslern gerichtlich einfordern zu können. 43 Auch in Florenz war der Ruhm dieses Geschlechtes durch die lange Zeit des Exils verblasst und der überwiegende Teil des riesigen Vermögens verloren. Lena lebte noch zwei bis drei Jahre über den Tod ihres Mannes hinaus mit ihren kleinen Kindern in Basel. 44 Am 26. Oktober 1464 ist sie wieder in Florenz belegt, wo sie einen Palazzo mit Garten in San Miniato al Monte verkaufte. 45 Das zweite Beispiel ist die Geschichte von Matteo di Simone degli Strozzi und seinen Nachfahren. Er war wie Domenico Lamberteschi einer der Hauptakteure bei der Verbannung von Cosimo und wurde nach dessen Rückkehr bereits am 9. November 1434 zu fünf Jahren Verbannung nach Pesaro verurteilt. 46 Dort starb er bereits im folgenden Jahr. Seine Witwe Alessandra kehrte mit den kleinen Kindern nach Florenz zurück. Die Söhne wurden aber bald schon auch unter den Bann gestellt und mussten die Stadt am Arno verlassen. Die Korrespondenz zwischen der Mutter und ihren in der Fremde lebenden Söhnen ist eine der bekanntesten Quellen für das Familienleben im Florenz der Renaissance. Die Söhne begaben sich zur Lehre in die Bankunternehmen von Vettern in Spanien und Brügge. Filippo ging 1447 nach Neapel, wo er eine sehr erfolgreiche Bank aufbaute und einer der wichtigsten Bankiers des Königreichs Neapel wurde. Schon 1455 arbeitete er als Korrespondent der Medicibank. 1466 hob Piero di Cosimo de’ Medici den Bann gegen ihn auf, sodass er endlich in seine geliebte Vaterstadt zurückkehren konnte. 42 Diese Grabplatte ist nach Auskunft von Benno Schubiger vom Historischen Museum in Basel, das sich in der ehemaligen Barfüßerkirche befindet, heute nicht mehr erhalten und nur noch bei J OHAN- NIS T ONJOLA , Basilea sepulta retecta continuata Monumenta sepulchralia templorum, Basel 1661, 251, überliefert. 43 STAB, Gerichtsarchiv A 36, sabbato ante palmarum 1487. J OHANNES A PELBAUM , Basler Handelsgesellschaften im fünfzehnten Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung ihrer Formen, Basel 1915, 118f.; E HRENSPERGER , Basels Stellung (wie Anm. 41), 280f. 44 STAB, GA A 36, sabbato ante palmar, 1487 45 ASF, Carte Gondi, Nr. 10. 1466 ließ sie sich in Florenz durch den aus der Diözese Naumburg stammenden Deutschen Cristoforus Roder vertreten. Vgl. ASF, Notarile Anticosimiano, Nr. 20611, c. 17v. 46 G ELLI , esilio (wie Anm. 35), 162, 165, 169. <?page no="187"?> Kurt Weissen 188 Der Vergleich dieser beiden Familienschicksale zeigt als Gemeinsamkeit, dass die Lamberteschi und die Strozzi versuchten, in der Verbannung ihren Lebensunterhalt im Bank- und Seidenhandelsgeschäft zu verdienen. Neben den kommerziellen Faktoren entschied auch die Einstellung zur eigenen Strafe über den Erfolg dieser Tätigkeit. Lamberto brach alle Verbindungen nach Florenz ab und bekämpfte die Herrschaft der Medici sogar mit Waffengewalt. Als Geschäftspartner arbeitete er mit Nicht-Florentinern oder Männern aus dem Umkreis der ehemaligen Oligarchen zusammen. Seine Frau blieb nicht in Florenz, um die Kinder dort großzuziehen und die Interessen der Familie dort wahrzunehmen. Damit wandte er sich in den Augen seiner florentinischen Mitbürger nicht nur gegen die Medici, sondern gegen die ganze Stadt. Matteo Strozzi und sein Sohn Filippo verfolgten eine völlig andere Strategie. Sie mieden jeden Kontakt zu anderen Exilierten. Alessandra kämpfte in Florenz für die Interessen der Söhne und demonstrierte durch ihre Präsenz auch die ungebrochene Verbundenheit der Strozzi mit Florenz. Im Gegensatz zu Lamberteschi verhielten sie sich gemäß den Erwartungen der florentinischen Commune. Ein Florentiner hatte die Entscheidungen der städtischen Behörden zu akzeptieren, wenn sie auch als noch so ungerecht und hart empfunden wurden. Cosimo selber hat sich an diesen Kodex gehalten, als er in der Verbannung war. Im Protokoll der Ratsversammlung, die zu seiner Rückkehr führte, heißt es, er habe die gegen ihn getroffenen Entscheidungen mit Gleichmut und Gelassenheit ertragen: che Cosimo e Lorenzo avevano con equo animo e benignamente sopportato le cose deliberate contro di loro. 47 Die Art und Weise, in der Exilierte ihre Verbannung akzeptierten, diente als Richtschnur für die Entscheidungen über die Rückkehr der Rebellen in die florentinische Gesellschaft. Die Medici belohnten - abgestützt auf die Werte der florentinischen Bevölkerung der Renaissance - das Verhalten der Exilierten nicht nur durch Verkürzen des Banns, sondern auch durch kommerzielle Zusammenarbeit. Die Integration in das weitgespannte Handelsnetz der Medici konnte ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Rehabilitation sein. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Medici die Möglichkeiten ihrer Bank nicht in aktiver Weise einsetzten, sondern in reaktiver. Sie haben nicht versucht, politische Gegner durch direkte kommerzielle Angriffe auf deren Unternehmen zu schädigen. Umgekehrt sind auch keine Belege bekannt, dass sie Konkurrenten im Bank- oder Handelsgeschäft mittels ihrer politischen Macht einzubinden suchten. 47 F ABRONI , Magni Cosmi (wie Anm. 10), Bd. 2, 91. <?page no="188"?> Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert 189 Politisches und unternehmerisches Entscheiden und Handeln fanden nicht in zwei getrennten Systemen statt, sondern stellte weitgehend eine Einheit dar, in der nach denselben Regeln Politisches und Kommerzielles kommuniziert wurde. Ins Netzwerk der Medici-Klientel brachte die Bank nur wenige eigene Knoten ein. Sie lieferte aber sehr viel von dem Material, aus dem die Verbindungen zwischen den Knoten des Netzwerks geknüpft wurden. <?page no="190"?> Handeln am Oberrhein. Der Basler Kaufmann Ulrich Meltinger Matthias Steinbrink Spätmittelalterlicher Handel war in vielfältiger Weise in ein enges Beziehungssystem zwischen lokalem, regionalem und überregionalem Markt eingebettet. Lassen sich die Mechanismen des Handels bei international agierenden Fernhändlern durch ihre bisweilen umfangreich überlieferten Geschäftsakten noch einigermaßen gut rekonstruieren, 1 bleiben die auf den regionalen Markt ausgerichteten Kaufleute für den Wirtschaftshistoriker oftmals weniger greifbar. Doch waren gerade die vielen Kleineren, die nicht im Maßstab eines Francesco di Marco Datini oder eines Jakob Fugger auftraten, diejenigen, die die übrigen Marktteilnehmer mit Waren aller Art versorgten und somit wichtige Distributionsfunktionen innerhalb des Systems innehatten. Ihre Strategien, ihre Praktiken des Handels zu rekonstruieren, kann daher grundlegende Einblicke in das Funktionieren des spätmittelalterlichen Handels geben und ein Verständnis dafür erbringen, wie die angesprochenen, in der Reichweite des Handels unterschiedlichen Ebenen in diesen Personen eine Vermittlerposition fanden. Dafür eignet sich die Betrachtung von Kaufleuten unter ökonomischbiographischen Gesichtspunkten natürlich in besonderer Weise. Im Zentrum der Untersuchung stehen daher die geschäftlichen Aufzeichnungen von Ulrich Meltinger, der am Ende des 15. Jahrhunderts in Basel lebte und Handel trieb. 2 Nach einer Einführung zum sozialen Hintergrund und zur Biographie Meltingers werden an Hand der Kreditvergabe und der Investitionstätigkeit die unterschiedlichen Ebenen seiner Handelstätigkeit vorgestellt und in Bezug auf ihre Ausgestaltung analysiert. 1 Hier ist zuvorderst an den Italiener Francesco di Marco Datini zu denken, vgl. I RIS O RIGO , „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Lebensbild eines toskanischen Kaufmannes der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335-1410, 3. Aufl., München 1993; F RANZ -J OSEF A RLINGHAUS , Zwischen Notiz und Bilanz. Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/ di Berto-Handelsgesellschaft in Avignon (1367-1373), Frankfurt a. M. u.a. 2000. Für die Durchsicht des Manuskriptes danke ich Dr. Gabriel Zeilinger, Kiel und Prof. Dr. Rainer S. Elkar, München. 2 Es handelt sich bei den Ausführungen um Aspekte meiner Ende 2005 von der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel angenommenen Dissertationsschrift, die inzwischen im Druck erschienen ist: M ATTHIAS S TEINBRINK , Ulrich Meltinger. Ein Basler Kaufmann am Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2007. Der Stand dieses Aufsatzes bezieht sich weitgehend auf den Zeitpunkt der Tagung des Irseer Arbeitskreises 2005 und wurde nur an wenigen Stellen angepasst. <?page no="191"?> Matthias Steinbrink 192 1. Ulrich Meltinger als Basler Bürger Ulrich Meltinger entstammte einer Familie, die bereits vor dem großen Erdbeben 1356 wohl aus Meltingen, ca. 25 km südlich von Basel, dorthin gezogen war. 3 Ob bereits die ersten nach Basel gezogenen Familienmitglieder Gerber waren, lässt sich nicht feststellen, spätestens ab 1370 taucht die Berufsbezeichnung wißgerwer jedoch in den Quellen auf, was auch mit der Lage des Wohnhauses in der Gerbergasse korrespondiert. 4 Doch schon recht bald verließ ein Teil der Familie die Gerbergasse und wechselte neben dem Wohnort auch den Beruf. Mit Ludman Meltinger, dem Vater Ulrichs, wird erstmals ein Vertreter der Familie als panniscida, also Gewandschneider, bezeichnet, wohl zur Unterscheidung von seinem weiter als Gerber arbeitenden Onkel. 5 Während Ulrichs Großvater wohl in lediglich bescheidenem Umfang Tuche produzierte und verkaufte, war Ludman bereits ein bedeutender Kaufmann, den mit Heinrich Halbysen eine große Handelsgesellschaft verband, deren Aktionsradius von Basel bis nach Spanien reichte und die sich vor allem auf den Gewürzeinkauf konzentrierte, aber auch andere Waren verhandelte. 6 Daneben war Ludman Mitglied des Rates und der Schlüsselzunft und an mehreren diplomatischen Unternehmungen mit Henmann Offenburg beteiligt. 7 Meltinger wuchs somit in einer Familie der Basler Oberschicht auf, wobei es sich nicht um den Stadtadel handelte, sondern um die im Fernhandel aktive und wirtschaftlich wie politisch besonders potente Gruppe der Kaufleute. 8 Wann Ulrich geboren wurde und wo er seine Aus- 3 Wie so oft in der Basler Geschichte erschwert das Erdbeben genaue Aussagen für die Zeit vor der Katastrophe durch den fast vollständigen Quellenverlust. Siehe dazu G ERHARD F OUQUET , Das Erdbeben in Basel 1356 - für eine Kulturgeschichte der Katastrophen, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 103 (2003), 31-50. 4 Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS), Ratsbücher (RA), A.2, fol. 56v; StABS, Hist. Grundbuch, ohne Signatur, Gerbergasse, Teil von 57 neben 55. 5 Die Stammtafel bei W ALTHER M ERZ , Die Burgen des Sisgaus, Bd. 2, Aarau 1909, 77, ist nur sehr oberflächlich und an einigen Stellen falsch. Für eine aktualisierte Fassung siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 26. Dort auch weitere Hinweise zur Familiengeschichte. 6 Zu der Halbysen-Gesellschaft siehe J OHANNES A PELBAUM , Basler Handelsgesellschaften im fünfzehnten Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung ihrer Formen, Bern 1915, 17-30; F RANZ E H- RENSPERGER , Basels Stellung im internationalen Handelsverkehr des Spätmittelalters, Zürich 1972; H ANS R UDOLF H AGEMANN , Basler Handelsgesellschaften im Spätmittelalter, in: Festschrift für Frank Vischer zum 60. Geburtstag, P ETER B ÖCKLI u. a. (Hrsg.), Zürich 1983, 557-566. 7 E LSANNE G ILOMEN -S CHENKEL , Henman Offenburg (1379-1459). Ein Basler Diplomat im Dienste der Stadt, des Konzils und des Reichs, Basel 1975, 123; P AUL K OELNER , Die Zunft zum Schlüssel in Basel, Basel 1953, 201. 8 Die Zugehörigkeit Ludman Meltingers zeigt sich auch durch die Heirat mit der Tochter des Johannes Wiler, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu den reichsten Bürgern Basels gehörte und mehrmals das Amt des Ammeisters und einmal das des Oberstzunftmeisters bekleidete; G USTAV S CHÖNBERG , Finanzverhältnisse der Stadt Basel im XIV. und XV. Jahrhundert, Tübingen 1879, 775-777 (Ammeister) und 781 (Oberstzunftmeister); K OELNER , Zunft zum Schlüssel (wie Anm. 7), 193. Zur Einschätzung des sozialen Umfelds siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 46. Eine knappe Übersicht über die Familie Meltingers auch bei D EMS .: Item ich han mit im gerechnet. Das Geschäfts- <?page no="192"?> Handeln am Oberrhein 193 bildung zum Kaufmann erfahren hat, ist unbekannt, anzunehmen ist aber eine Ausbildung im väterlichen Betrieb. Für eine fundierte kaufmännische Fachausbildung spricht vor allem die hohe Kenntnis in buchungstechnischen Fragen, die nicht nur durch das überlieferte Hauptbuch dokumentiert wird, sondern auch durch die in städtischem Auftrag geführten Abrechnungen. 9 Wie seine Brüder Hans und Martin lässt er sich erstmals 1460 in den Zunftarchiven der Schlüsselzunft nachweisen, und nur ein Jahr später war er schon Stubenmeister. 10 Im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern machte Ulrich hingegen in der Zunft Karriere und erreichte zwischen 1475 und 1493 das Amt des Zunftmeisters. Auch innerhalb der Firma übernahm er spätestens 1468 vollständig die Geschäftsführung und drängte seinen ebenfalls noch weiter als Kaufmann auftretenden Bruder Martin in die zweite Reihe ab, so dass dieser in der Folgezeit nur noch als Handlungsgehilfe für Ulrich auftrat, ehe er um 1477 starb. 11 Ebenfalls im Unterschied zu Martin übte Ulrich verschiedene Funktionen und Ämter innerhalb der Stadtgemeinde aus. So war er städtischer Pfleger im Siechenhaus St. Jakob an der Birs, rund 10 km vor den Toren Basels gelegen. Seit 1483 führte er auch die Aufsicht über die Abrechnung der Kirche St. Martin, die er bis 1492 inne hatte. 12 Daneben saß er mehrfach in Rat und Gericht. Meltinger heiratete zweimal. Die längere Zeit war er mit Verena, Witwe des Rudolf Murer, 13 verheiratet und hatte mit ihr mindestens drei Kinder, den Sohn Heinrich und die Töchter Elsbeth und Katharina, allerdings scheinen bei den Töchtern Zweifel an der Ehelichkeit der Geburt angebracht. 14 Doch ist über ihr Schicksal nichts bekannt. Der Sohn Heinrich hingegen wurde zu einer der schillerndsten Persönlichkeiten des frühen 16. Jahrhunderts in Basel. 15 Nach einigen Jahren als Söldnerführer, kam dieser nach Basel zurück, wurde auf den städtischen Burgen Birseck und Waldenbuch des Ulrich Meltinger. Ein Werkstattbericht, in: Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Merchant’s Books and Mercantile Pratiche from the Late Middle Ages to the Beginning of the 20th Century, M ARKUS A. D ENZEL / J EAN C LAUDE H OCQUET / H ARALD W ITTHÖFT (Hrsg.), Stuttgart 2002, 117-123, hier 119f. 9 StABS, St. Jakob. F; St. Martin. B. Zur Buchführungskompetenz Meltingers S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 56-59. 10 K OELNER , Zunft zum Schlüssel (wie Anm. 7), 31 und 247. 11 Die Handelsverbindungen zwischen beiden Brüdern werden ausführlich behandelt in S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 181-183. 12 In beiden Funktionen führte Meltinger die Bücher und stellte Organisation und Abrechnungspraxis um, wie weiter unten erläutert werden wird. 13 Hierzu S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 36. 14 D OROTHEE R IPPMANN , Frauen in Wirtschaft und Alltag des Spätmittelalters. Aufzeichnungen des Kaufmanns Ulrich Meltinger, in: Eine Stadt der Frauen. Studien und Quellen zur Geschichte der Baslerinnen im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit (13.-17. Jh.), H EIDE W UNDER (Hrsg.), Basel / Frankfurt a. M. 1995, 99-117, hier 109; S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 38. 15 Zu Heinrich Meltinger siehe K URT W EISSEN , „An der st u r ist ganz n u tt bezalt“. Landesherrschaft, Verwaltung und Wirtschaft in den fürstbischöflichen Ämtern in der Umgebung Basels (1435-1525), Basel / Frankfurt a. M. 1994, 264. <?page no="193"?> Matthias Steinbrink 194 burg Vogt, heiratete die Tochter eines Junkers und gelangte somit in die Hohe Stube, die ehemalige patrizische Führungsgruppe im Rat. Ihm gelang es, Bürgermeister zu werden, doch musste er 1529 über Nacht fliehen, als er als Anhänger des alten Glaubens gegen die gewaltsame Revolte der protestantischen Gruppe vorgehen wollte. 16 Ulrich Meltingers politisch einflussreiche Stellung innerhalb der Stadtgemeinde fand im Dezember 1493 ein jähes Ende. Ihm wurde vorgeworfen, er habe in seiner Funktion als Pfleger von St. Jakob Gelder unterschlagen, Renten verkauft und Landverkäufe ohne Wissen seines greisen Mitpflegers gesiegelt. Er wurde verhaftet und erst nach einem Schuldeingeständnis und einer Zahlung von 200 Gulden auf Bitten seiner Frau und seiner engsten Freunde wieder auf freien Fuß gesetzt. 17 Als Zeuge und Bürge des guten Leumundes Ulrichs trat unter anderem sein Sohn Heinrich auf. Zur Substanz dieser Anschuldigungen lässt sich heute wenig sagen, da lediglich das Geständnis und ein vager Hinweis in den Ratsprotokollen überliefert sind. 18 Immerhin schienen sie so stark - oder der Druck von außen so groß -, dass Meltinger einen Brief unterschrieb, der ihm zwar die Freiheit brachte, ihn aber auch politisch und gesellschaftlich schwer schädigte, verpflichtete er sich doch darz ù , rat noch gericht f v rbaß me nit [zu] besitzen noch darz ù gezogen zu werden. In Zusammenhang mit diesem Prozess kam es zur Konfiszierung des Hauptgeschäftsbuches, das dadurch überliefert wurde. 19 Bei dem Buch handelt es sich um einen 376 Folios starken, in Leder gebundenen Band, der etwa zu zwei Dritteln beschrieben ist. 20 Es finden sich eine Reihe von Hinweisen, die auf weiteres, leider nicht überliefertes Geschäftsgut deuten. 21 Das Hauptbuch setzt etwa 1468 ein und endet kurz vor der Inhaftierung 1493, wobei deutliche Schwerpunkte in den frühen 70er und frühen 90er Jahren liegen. Eingang haben nahezu alle Bereiche der Handelsaktivitäten Meltingers gefunden, von Warenkäufen und -verkäufen über Bergwerksbeteiligungen und Verlagsverträgen, bis hin zu Immobiliengeschäften und Zinseinkünften. Doch leider entziehen sich immer wieder große Teile des Gesamthandels einer genaueren Betrachtung, da es eben fast zu allen Bereichen 16 R UDOLF W ACKERNAGEL , Geschichte der Stadt Basel, 3 Bde., Basel 1907-1924, Bd. 3, 513. 17 Siehe zur Bedeutung des Ratsprozesses S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 197-203. 18 Das Schuldeingeständnis findet sich im Urkundenbuch der Stadt Basel, R UDOLF W ACKERNAGEL / R UDOLF T HOMMEN / A UGUST H UBER (Bearb.), 9 Bde., Basel 1890-1910, Bd. 9, 137. Damit korrespondiert der Eintrag im Ratsbuch StABS, RB, N.3, fol. 10. 19 Neben dem privaten Hauptbuch wurden auch die beiden erwähnten städtischen Bücher eingezogen. 20 StABS, Privatarchive (PA), 62. 21 So werden ein Vieh-, ein Wein-, ein Zins- und ein altes Buch erwähnt. Siehe dazu noch die knappe Aufstellung bei D OROTHEE R IPPMANN , Bauern und Städter: Stadt-Land-Beziehungen im 15. Jahrhundert, Basel 1990, 181; S TEINBRINK , Item ich han mit im gerechnet (wie Anm. 8), 118; D ERS ., Meltinger (wie Anm. 2), 55. <?page no="194"?> Handeln am Oberrhein 195 spezielle, nicht überkommene Sonderkonten gegeben hat. Dennoch gewährt das Rechnungsbuch einen einzigartigen Einblick in die Geschäftspraktiken eines spätmittelalterlichen Kaufmanns. 22 Bei den Einträgen, die in Form der Personenkonten relativ unsystematisch geführt wurden, 23 handelte es sich naturgemäß überwiegend um kreditbegründende bzw. -erweiternde Einträge oder Tilgungs- und Vollstreckungsvereinbarungen. Das Buch fungierte also als Notiz- und Kreditsicherungsinstrument, damit die, wie noch zu zeigen sein wird, zum Teil sehr langen Kreditlaufzeiten nachgehalten werden konnten. Dabei sind verschiedene Formen der Kreditierung erkennenbar, die den zuvor genannten Beziehungsnetzwerken zugeordnet werden können. Unterscheiden lassen sich dabei Geldkredite, also die Überlassung von Bargeldbeträgen mit einem vereinbarten Rückzahlungstermin, Warenkredite und Verlag, also die zunächst unentgeltliche Überlassung von Waren, deren Zahlung in Geld oder Fertigwaren zu einem oder mehreren späteren Terminen festgesetzt wurde, 22 So ist die Quelle in der Vergangenheit wiederholt für die Beantwortung von Detailfragen herangezogen worden: E HRENSPERGER , Basels Stellung (wie Anm. 6) nutzte es, um die besondere Stellung Basels im Handel am Oberrhein aufzuzeigen; H ANS K ÄLIN , Papier in Basel, Basel 1974 konzentrierte sich auf die Einträge in Zusammenhang mit dem Papierhandel; T RAUGOTT G EERING , Handel und Industrie der Stadt Basel, Basel 1886 und W ACKERNAGEL , Geschichte Basel (wie Anm. 16) zogen daraus Material für ihre stadtgeschichtlichen Untersuchungen, während H EKTOR A MMANN Die Zurzacher Messen im Mittelalter (1923); D ERS ., Neue Beiträge zur Geschichte der Zurzacher Messen, in: Taschenbuch der historischen Gesellschaft des Kantons Aargau (1929), 1-208, den Messeplatz Zurzach im Blickfeld hatte. In jüngerer Zeit haben sich M ICHAEL R OTHMANN , Die Frankfurter Messen im Mittelalter, Stuttgart 1998; S IMONNE A BRAHAM -T HISSE , Les tissus dans le commerce d’Ulrich Meltinger de Bâle: Premiers éléments d’enquête (1469-1493), in: Milieux naturels, espaces sociaux. Études offertes à Robert Delort, É LISABETH M ORNET / F RANCO M ORENZONI (Hrsg.), Paris 1997, 365-377 und B ERND B REYVOGEL , Silberbergbau und Silbermünzprägung am südlichen Oberrhein im Mittelalter, Leinfelden-Echterdingen 2003, mit Teilaspekten befasst und allen voran Dorothee Rippmann mit zwei Veröffentlichungen: R IPPMANN , Bauern und Städter (wie Anm. 21); D IES ., Frauen in Wirtschaft und Alltag (wie Anm. 14). Doch fehlte bislang noch immer eine umfassende Gesamtdarstellung und besonders eine Edition. So schon die Einschätzung bei A PELBAUM , Basler Handelsgesellschaften (wie Anm. 6), 44, und E HRENSPERGER , Basels Stellung (wie Anm. 6), 391, Anm. 23. 23 R IPPMANN , Bauern und Städter (wie Anm. 21), 182, spricht von einer „beschränkte[n] Systematik“, doch muss hier, um dem vielzitierten Diktum Werner Sombarts vom „Mangel an kalkulatorischem und objektivierend-systematischem Sinne“ bei den Kaufleuten des Mittelalters entgegenzuwirken, auf die Zielsetzung des Buches als privatem Notiz- und Kreditsicherungsinstrument hingewiesen werden; W ERNER S OMBART , Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 3 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1916 (ND Berlin 1969), Bd. I.1, 298f. Zur Diskussion von Sombarts Thesen siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 59f.; A LBRECHT C ORDES , Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum, Köln / Weimar / Wien 1998, 30f.; J OCHEN H OOCK , Zum Stand der europäischen Kaufmannsgeschichte, in: Kaufleute in Europa. Handelshäuser und ihre Überlieferung in vor- und frühindustrieller Zeit, J OCHEN H OOCK / W ILFRIED R EININGHAUS (Hrsg.), Beiträge der Tagung im Westfälischen Wirtschaftsarchiv 9. bis 11. Mai 1996, Dortmund 1997, 11-23; B ASIL S ELIG Y AMEY , Notes on Double-Entry Bookkeeping and Economic Progress, in: The Journal of European Economic History 4 (1975), 717-723. <?page no="195"?> Matthias Steinbrink 196 sowie die Beteiligungen an Handelsgesellschaften, bei denen das eingelegte Kapital ebenfalls als Kreditzahlung verstanden werden kann. 24 2. Die innerstädtisch-lokale Ebene: Der Geldkredit Betrachtet man zunächst nur die Geldkredite, so ist zu erkennen, dass diese hauptsächlich im städtischen Umfeld vergeben wurden. Zwar stellten die Warenkredite die weitaus größere Anzahl von Buchungsposten dar, doch vergab Meltinger auch reine Bardarlehen. Diese treten im Rechnungsbuch meist mit den Eintragungen wie bar ferlichen oder ähnlichem auf, doch fehlt auch hier eine durchgängige Systematik. 25 Vielfach wurden ursprünglich als Warenlieferungen begonnene Aktionen durch Zahlung von Bargeld erweitert und umgekehrt. So erhielt der ebenfalls aus Basel stammende Hans von Feldkirch im Mai 1472 zunächst eine Lieferung Fisch von Meltinger, ohne dafür direkt zu zahlen. Die ausstehende Summe wurde in der Folgezeit nicht nur durch Warenlieferung erweitert, sondern auch durch einen Barkredit erhöht. Als dann im September desselben Jahres mit einander gerechnet wurde, machten beide selbstverständlich eine Gesamtschuld aus, die alle Teilbeträge, unerheblich von der Kreditart, mit einschloss. 26 In der täglichen Abrechnungspraxis spielte die Art des Kredites demnach keine große Rolle. Und doch gibt es deutliche Unterschiede: Die Mehrzahl der Geldkredite war nur von geringer Höhe, durchschnittlich liegen sie rechnerisch lediglich bei knapp unter 2 Gulden, was unterstreicht, dass Meltinger sich auf kleinere Geldkredite konzentrierte. So lieh sich beispielsweise die Magd Elsly 1474 mehrfach kleinere Summen zwischen einem und zehn Schilling, um sich Kleidungsstücke davon zu kaufen. Hierbei handelte es sich nach Ausweis des Rechnungsbuches nicht um Lohnzahlungen, sondern ausdrücklich um Geldkredite. 27 Im Gegensatz zu den Warenkrediten waren die Geldzahlungen meist nicht ausdrücklich mit Pfandstücken oder Schuldzetteln gesichert. 28 Dies gilt 24 Zur Bedeutung des Kredits siehe Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, M I- CHAEL N ORTH (Hrsg.), Köln / Weimar / Wien 1991; R OLF S PRANDEL , Das mittelalterliche Zahlungssystem nach hansisch-nordischen Quellen des 13.-15. Jahrhunderts, Stuttgart 1975; M ARTIN K ÖRNER , Kreditformen und Zahlungsverkehr im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Luzern, in: Scripta Mercaturae 21 (1987), 116-157, jeweils mit weiterer Literatur. 25 Fast jede Eintragung im Buch geschah auf der Grundlage eines Kreditgeschäftes, so dass die Einordnung und Unterscheidung oftmals sehr schwierig zu machen ist. In die folgenden Betrachtungen sind daher nur solche eindeutig als Barkredite zu identifizierenden Transaktionen eingegangen. Zu den Krediten bei Meltinger siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 72-92. 26 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 271, Z. 13. 27 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 324. 28 Zu den Sicherungsinstrumenten siehe S PRANDEL , Mittelalterliches Zahlungssystem (wie Anm. 24), 62 und S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 79-97. <?page no="196"?> Handeln am Oberrhein 197 sowohl für kleinere Beträge, wie im gerade gegebenen Beispiel, als auch für die größeren Summen. Bei diesen ist auffällig, an wen Meltinger das Geld verlieh, bzw. von wem er es erhielt. Denn sowohl bei den Kreditoren als auch bei den Debitoren handelte es sich um Personen, die in einem engeren Vertrauensverhältnis zu Meltinger standen. Hier finden sich vor allem sein Bruder und seine Schwestern mit ihren Familien und seine Geschäftspartner in den verschiedenen Handelsgesellschaften und -gemeinschaften. Größter Geldnehmer war Balthasar Hütschy, ein Goldschmied und Wechsler, den eine enge, wohl auch freundschaftliche Beziehung zu Meltinger verband. 29 Größter Gläubiger wiederum war der alte Heinrich Jungermann, der innerhalb der Schlüsselzunft ebenfalls zum Führungszirkel gehörte und einer der vermögendsten Basler um die Mitte des 15. Jahrhunderts war. 30 Auch alle weiteren Gläubiger und Schuldner Meltingers mit substantielleren Beträgen entstammten dieser einflussreichen und engen Gruppe um den Kaufmann. Die Geldkredite werden hier zum Ausweis einer Gruppe von Personen, die in einem engen Vertrauens- und Handelsverhältnis zu Meltinger und ihm sogar räumlich nahe standen, handelte es sich doch fast ausschließlich um Basler. Das Vertrauensverhältnis drückte sich auch durch weitere Merkmale aus. Meltinger war, wie bereits angedeutet, in der Schlüsselzunft und bekleidete dort leitende Posten. 31 Daneben saß er mehrfach im städtischen Rat und im Gericht. Darüber hinaus war er sowohl im Siechenhaus St. Jakob an der Birs Pfleger als auch im Kirchbau St. Martin. Vor allem der letzte Umstand ist bislang in der Forschung völlig unbeachtet geblieben. Doch zeigen die überlieferten administrativen Dokumente der beiden städtischen Einrichtungen, dass man mit Meltinger nicht irgendjemanden aus der städtischen Oberschicht eingesetzt hatte, sondern einen in Finanz- und Buchhaltungsfragen äußerst versierten und erfahrenen Experten, einen „Rechnungsspezialisten“. 32 Mit seinem Antritt als Pfleger in St. Jakob ordnete er zunächst die Finanz- und Güterstruktur neu und stellte das mittelalterliche Naturalsystem auf eine modernere Geldwirtschaft um, in dem die ursprüng- 29 Hütschy war seit 1468 Münzwardein der Reichsmünzstätte in Basel. In Zusammenhang mit dem Basler Münzprozess wurde er 1475 verurteilt und musste seine Ämter niederlegen und zunächst die Stadt verlassen. Doch bereits 1477 war Hütschy wieder geschworener Wechsler und später erneut Wardein. Siehe dazu UB Basel (wie Anm. 18), Bd. 8, 378; F ELIX B URCKHARDT , Der Basler Münzprozess von 1474/ 75, in: Schweizerische numismatische Rundschau 38 (1957), 21-45, hier 25, 37. Er war eng mit der Familie Meltinger verbunden, seine Tochter Magdalena heiratete Meltingers Sohn Heinrich; Wappenbuch der Stadt Basel, W ILHELM R. S TAEHELIN (Hrsg.), 3 Bde., Basel 1917-1928, Bd. 1, o. S. 30 K OELNER , Zunft zum Schlüssel (wie Anm. 7), 239. 31 K OELNER , Zunft zum Schlüssel (wie Anm. 7), 247f. 32 V ALENTIN G ROEBNER , Grosszügigkeit als politische Kommunikation. Geschenke in Basler Rechnungsbüchern des späten Mittelalters, in: Begegnungen mit dem Mittelalter in Basel. Eine Vortragsreihe zur mediävistischen Forschung, S IMONA S LA N ICKA (Hrsg.), Basel 2000, 165-184, hier 167. <?page no="197"?> Matthias Steinbrink 198 liche samstägliche Abgabe von Käse und Fleisch an die Kinder im Siechenhaus durch die Auszahlung von fünf Schilling abgelöst wurde. 33 Daneben fand eine Bewertung der Geldaußenstände und Immobilienwerte statt. 34 Auch in St. Martin wurde mit Meltingers Auftreten eine komplette Neuanlage der Rechnungsführung durchgeführt, die an die in der äußeren Form bereits stark an die doppelte Buchführung erinnernde Rechnungspraxis angelehnt war. 35 Hier findet sich, im Unterschied zur privat geführten Rechnung, eine Trennung zwischen Einnahmen auf der linken Hälfte der Buchdoppelseite und den Ausgaben auf der rechten. 36 Daneben reiste er mit dem bereits erwähnten Balthasar Hütschy im Auftrag der Stadt zum Reichsmünzabschied 1477 nach Frankfurt, auch dies ein Ausweis seiner Fähigkeiten. 37 Meltinger zeigt sich also innerhalb der Stadt eingebunden in ein enges Netz von einander unterstützenden und aufeinander angewiesenen Personen. Zwischen ihnen gab es eine Vielzahl finanzieller und freundschaftlicher Verbindungen, auf die Meltinger auch im Fall der Anschuldigungen von 1493 zurückgreifen konnte. 38 Es waren seine Freunde und Familienangehörigen, die für ihn bürgten und ihn aus dem Gefängnis holten. Doch scheinen diese Netzwerkbeziehungen auch besonders anfällig für störende Einflüsse von außen gewesen zu sein. Nach dem Schuldeingeständnis durfte Meltinger nicht mehr in Rat und Gericht sitzen, somit entfielen zwei wichtige Kommunikations- und Einflussorte. 39 Auch in der Zunft trat er nicht mehr in entscheidender Weise auf. Als vom Rat eingesetzter Pfleger fungierte er danach ebenso wenig wie als Gesandter im Auftrag der Stadt. Und selbst seine Familie wandte sich in der Folgezeit von ihm ab. Sein Sohn zog seine Bürgschaft noch Anfang 1494 zurück, mit ihm wie mit seinem Neffen traf sich Ulrich bis zu seinem Tode 1504 häufig vor Gericht in verschiedenen Erbstreitigkeiten. Das innerstädtisch-administrative Netzwerk war also nur für den erfolgreichen, nicht gerichtlich auffälligen Kaufmann ein sicheres Netz. 33 Die ersten, lediglich in einer Abschrift aus dem 17. Jahrhundert überlieferten Siechenhausordnungen datieren von 1476 und wurden von Meltinger angelegt; StABS, St. Jakob. A.; S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 57, 198. 34 Im Rechnungsbuch des Siechenhauses heißt es in Bezug auf die ausstehenden Schulden: do sollen wir fliß t ù n, brief ze bekomen; StABS, St. Jakob. F, fol. 22r. Über die Gartengrundstücke sollte der alte Birsmeister Auskunft geben und all matten nennen und eigentlich bestimen, daß man die konne inscriben all nochenander; StABS, St. Jakob. F, fol. 139v. 35 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 59. 36 Die Anlage des Rechnungsbuches geschah bereits vor dem Eintritt Meltingers als Pfleger, doch mit seiner Übernahme am 13. April 1486 setzt erst die saubere Buchführung ein; StABS, St. Martin. B, fol. 55v. 37 J OHANN C HRISTOPH H IRSCH , Des Teutschen Reichs Münz-Archiv, Bd. 1, Nürnberg 1756 (ND München 1977), 154. 38 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 49. 39 Zur Bedeutung des Prozesses für Meltinger siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 203f. <?page no="198"?> Handeln am Oberrhein 199 3. Die Umlandbeziehungen: Der Warenkredit Wie verhielt es sich nun mit dem Beziehungsgeflecht zwischen städtischem Kaufmann und ländlichem Umfeld? Im nächsten Schritt soll auf diese Verbindungen eingegangen werden, die der Handelspraxis Meltingers noch näher kommen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Warenkreditvereinbarungen gelegt. 40 Der Schwerpunkt der Handelsaktivitäten Meltingers lag im Woll- und Tuchhandel, gefolgt vom Eisen- und Stahlgeschäft und Viehverstellungen. Das geht sowohl aus den Abrechnungseinträgen im überlieferten Hauptbuch hervor, als auch aus der bereits erwähnten Tatsache, dass es ein spezielles Wollbuch gegeben hat. Im Folgenden sollen einige für den Woll- und Tuchhandel typische Transaktionen vorgestellt werden, die freilich auch als Beispiele für den Handel im Allgemeinen stehen können. Gleich der erste Eintrag des Buches eignet sich hervorragend dafür. Der aus Freiburg im Uechtland stammende Heitze oder Heinrich Lary erhielt im Juni 1470 von Meltinger 22 Zentner und 62 Pfund Wolle. 41 Für einen Zentner musste der Freiburger 5 1/ 2 Pfund Pfennig bezahlen. Er verpflichtete sich, die Hälfte der Summe fünf Monate später im Oktober zurückzuzahlen, den Rest zu Weihnachten 1470. Alternativ könne er auch Tuche, und zwar g ù te blodette fersiglet und damit von den Freiburger Tuchbeschauern in der Qualität geprüfte Ware, schicken, um die Schuld zu begleichen. 42 Und in der Tat sandte Lary die Tuche und einen Teil in Geld fristgerecht zum ersten Termin, den zweiten ließ er nur um zwei Wochen verstreichen. Doch in beiden Fällen fehlte Geld, was damit zusammenhing, dass Meltinger einen Teil der Tuche im Wert wohl niedriger ansetzte, als Lary angenommen hatte: Item er hett mir gebrocht 10 t ù ch, do sind 8 t ù ch besiglett und zwey unbesiglet; sind angeslagen uff 39 fl, dazu gab er noch 11 Gulden in bar, doch blieben 4 Gulden aus. Obwohl Lary an der ursprünglichen Wolllieferung insgesamt 30 Gulden schuldig blieb, standen beide weiterhin in Handelskontakt zueinander. Das ist umso erstaunlicher, als Lary sich zwischenzeitlich sogar absetzte: als er fluchtig was. Doch Meltinger schien keine größeren Probleme mit dem Auffinden des Schuldners zu haben, denn er wusste genau, wohin er den Boten Hans Schaffner schicken musste, um Lary zu erreichen. 40 Zum Warenkredit einführend R OLF S PRANDEL , Art. Warenkredit, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 2002, 2046f. Auf diese meist langjährigen Kredite geht im Besonderen R IPPMANN , Bauern und Städter (wie Anm. 21), 187-192, ein. Siehe auch Kapitel 4.3 in S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2). 41 Dieses und das Folgende nach S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 121f., 227. 42 Zur Tuchbeschau siehe H ELLMUT G UTZWILLER , Die Zünfte in Freiburg i. Ue. 1460-1650, Freiburg i. Ue. 1949, 74. <?page no="199"?> Matthias Steinbrink 200 An diesem Eintrag sind zwei Aspekte für den Meltinger’schen Handel besonders aussagekräftig. Zum einen machte Meltinger als Lieferant der Wolle und Abnehmer der Tuche städtische und ländliche Gewerbetreibende von sich abhängig. Er war die Schnittstelle zwischen Roh- und Endprodukt und konnte dabei auf beträchtliche Wertsteigerungen hoffen. 43 Es ist zwar sehr schwierig, den genauen Konnex zwischen der von Meltinger gekauften und der an die Tuchmacher gelieferten Wolle festzustellen, doch zumindest in einem Fall lässt sich dieses eindeutig rekonstruieren. 1473 kaufte Meltinger vom Schäfer Werly von Leymen, der auch sonst von seinem städtischen Abnehmer und Kreditgeber Meltinger in hohem Maße abhängig war, für rund 3 1/ 2 Gulden pro Zentner Wolle. 44 Diese verkaufte er kurz darauf an den Colmarer Hans Ammann für 6 Gulden pro Zentner, was eine Steigerung von fast 70 Prozent bedeutet, wobei Transport- und andere Kosten oftmals von Meltinger bezahlt wurden, was natürlich den Gewinn schmälerte. 45 Die Verkaufspreise lagen insgesamt durchschnittlich rund 60 Prozent über den Einkaufspreisen. 46 Der zweite maßgebliche Punkt am Beispiel Lary ist die Kreditlaufzeit, die Meltinger seinen Schuldnern gewährte. In diesem Fall wurde der Rückzahlungstermin zwar nur um wenige Wochen überschritten, doch finden sich eine ganze Reihe von Beispielen, in denen Meltinger erheblich länger auf sein Geld warten musste. Dass es dabei nicht nur um große Summen ging, die in Zeiten fehlender Einkünfte bei Bauern, also vor der Ernte und im Frühjahr, geleistet wurden, zeigt sich ebenfalls an dem bereits erwähnten Werly von Leymen. Dieser benötigte nicht nur eine anfängliche Summe von 2 Pfund Pfennig und verpflichtete sich dafür, Wolle zu liefern, sondern er musste sich sogar das Geld für die Säcke leihen, in die er die zu liefernde Wolle bei Meltinger verpacken sollte. 47 Die „Geldknappheit und Verschuldung als notorisches Problem“ des Landes wird an diesen Beispielen besonders deutlich. 48 43 Zum Verlagssystem siehe grundlegend R UDOLF H OLBACH , Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion, Stuttgart 1994. Weiter H ERMANN A UBIN , Formen und Verbreitung des Verlagswesens in der Altnürnberger Wirtschaft, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, S TADTARCHIV N ÜRNBERG (Hrsg.), 2 Bde., Nürnberg 1967, Bd. 2, 620-668; W OLFGANG VON S TROMER , Der Verlag als strategisches System einer an gutem Geld armen Wirtschaft, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 78 (1991), 153-171. 44 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 318. 45 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 320. Die Transaktionskosten lassen sich auf Grund der kaum vorhandenen Überlieferung nicht rekonstruieren. Sie wurden aber je nach Vereinbarung vom Käufer oder vom Verkäufer entrichtet. Zum Fuhrwesen in Basel siehe G EERING , Handel und Industrie (wie Anm. 22), 192f. 46 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 108. 47 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 318. 48 R IPPMANN , Bauern und Städter (wie Anm. 21), 187. <?page no="200"?> Handeln am Oberrhein 201 Dass die Kredite nicht immer gut liefen, bzw. oft auch keine schlussendliche Tilgung stattfand, lässt sich am Beispiel eines anderen Tuchmachers erkennen. Der Wolleinkäufer mit den meisten Einträgen war der Hutmacher Anton Hermann aus Kleinbasel, der zwischen 1470 und 1476 über 20 Zentner Wolle abnahm, aber bereits zuvor mit Meltinger in Handelskontakt gestanden haben muss. 49 Er verpflichtete sich gemeinsam mit seiner Mutter Anfang 1470, die nicht geringe Summe von 14 Gulden, die er sich von Ulrich geliehen hatte, zurückzuzahlen, wie es eigenlich stott im gricht b ù ch enett Rinß, 50 also im Kleinbasler Gerichtsbuch. In den Folgejahren lieferte Meltinger immer wieder Wolle an Hermann, wobei diese aus unterschiedlichen Provenienzen stammte. So befand sich Wolle aus Glarus, Basel, Solothurn und anderen nicht näher bestimmten Orten darunter. Für besonders kostliche Wolle zahlte er 7 Gulden, während er für Raufwolle, also minderwertige Wolle, lediglich 4 Pfund Pfennig für den Zenter an Meltinger gab. 51 Preise und Qualitäten wechselten demnach und konnten vom Lieferanten Meltinger bedient werden. Selbst Wolle aus Lübeck erhielt der Kleinbasler von Meltinger, wobei die L v bsche wull […] von Franckfort geschickt wurde und mit 6 Gulden pro Zentner verhältnismäßig günstig war. 52 Die Menge, die Hermann kaufte, deutet auf einen im Vergleich zu anderen Abnehmern „recht kleinen Hutmacherbetrieb hin, bei dem neben der Mutter auch die Ehefrau tätig war“. 53 Mehrfach nahm sie in Abwesenheit ihres Mannes Wolllieferungen an: Item als er in Swoben waß, gab ich sinr frowen 27 lb luter wull. 54 Trotz einiger Versuche gelang es ihm auf Grund der Begrenztheit seines Gewerbes nicht, die ursprünglich geliehenen 14 Gulden zurückzuzahlen. Vielmehr erhöhte sich seine Schuld gegenüber Meltinger weiter durch die kreditweise Überlassung von Wolle. Ging dieses einige Zeit gut, so musste Meltinger im Januar 1472 das als Pfand eingesetzte Haus in Kleinbasel vor Gericht einfordern: Item uff samstag, was conversio Paulÿ anno 72, fr o nt ich das huß, so mir Anthonius Herman und sin m ù tter ingesetzt hand, kost 3 ß 5 d. 55 Meltinger kam dem Hutmacher aber erneut entgegen, da Hermann im März dem schulthessen in der kleinen statt in sin hand ver- 49 Zu diesen Vorgängen siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 114f. 50 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 232, Z. 25f. 51 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 232, 275. 52 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 297, Z. 6. Zur Handelsverbindung Oberdeutschlands mit dem Hanseraum siehe R OLF H AMMEL -K IESOW , Wer kaufte die Waren des hansischen Handels? Eine Annäherung an die Endverbraucher, in: »kopet uns werk by tyden«. Beiträge zur hansischen und preußischen Geschichte. Festschrift für Walter Stark zum 75. Geburtstag, N ILS J ÖRN / D ETLEF K ATTINGER / H ORST W ERNICKE (Hrsg.), Schwerin 1999, 73-80. 53 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 114. 54 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 232, Z. 28. 55 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 274, Z. 38f. Zum Rechtsinstitut der Frönung siehe H ANS R UDOLF H AGEMANN , Basler Rechtsleben im Mittelalter, 2 Bde., Basel 1981 und 1987, Bd. II, 117. <?page no="201"?> Matthias Steinbrink 202 sprach, das Geld bald zurückzuzahlen. Dennoch liefen die Verbindlichkeiten weiter auf, und Ende 1472 verlangte Meltinger einen erneuten Offenbarungseid, den die Mutter fur sy und irn erben über die alten 14 Gulden und weitere 33 Gulden, die in der Zwischenzeit hinzugekommen waren, ablegte. 56 Diese Maßnahme scheint stärkeren Eindruck gemacht zu haben, denn Meltinger erhielt von nun an immer wieder kleinere Beträge und es wurde kein weiterer Gerichtstermin mehr nötig. Doch sollte es noch bis 1481 dauern, also mehr als elf Jahre nach der ersten Erwähnung Hermanns im Meltingerbuch, bis der Basler seine Darlehen erstattet bekam. 57 Es zeigt sich somit eindrucksvoll, wie schwierig und wirtschaftlich unwägbar die Kreditvergabe für Meltinger war. Zur Absicherung der Kreditrückzahlung standen ihm eine Reihe von Maßnahmen offen. 58 Einige haben sich bereits in den angeführten Beispielen angedeutet. Zunächst ist die Schriftlichkeit des Rechnungsbuches, aber auch kurzfristig benutzter Notizzettel zu nennen, eine Versicherung, die Kreditvereinbarungen nicht zu vergessen, zumal die Zeiträume der Tilgung, wie gesehen, beträchtlich sein konnten. Diese Rechnungsnotizen, mindestens aber das Rechnungsbuch, werden auch vor Gericht öffentlichen Glauben besessen haben. 59 Offizielleren Charakter nahm der Eintrag in das Kaufhausbuch ein, das zentrale Beweis- und Abrechnungsdokument des Basler Kaufhauses. 60 Und so finden sich auch bei Meltinger eine Vielzahl von expliziten Einträgen in das Kaufhausbuch. Bereits mit diesen konnte er vor dem Gericht der Kaufhausherren auf Herausgabe von Pfandstücken oder Geld klagen: Es ist im erkant, […] daß er mich in 14 tagen bezalen sol oder die underkouffer sollend im on aller gnode pfender ußtragen. 61 Fruchtete diese Androhung nicht, so konnte Meltinger vor dem Gericht einen vollstreckbaren Titel erwirken. Dafür war sicherlich die gewissenhafte Dokumentation der Kreditvereinbarungen von großer Bedeutung. Wichtig scheint für Meltinger hingegen weniger die sofortige Rückzahlung als vielmehr die langfristige Zusammenarbeit, ja Abhängigkeit der Produzenten gewesen zu sein. Hier lässt sich somit das zweite Beziehungsnetz 56 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 296, Z. 37. 57 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 374. 58 Die üblichen Formen waren „Schriftlichkeit, Bürgen, Einlager und Depositum“; S PRANDEL , Mittelalterliches Zahlungssystem (wie Anm. 24), 62; S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 79-87. 59 Die rechtliche Bedeutung der kaufmännischen Abrechnungsdokumente vor den Basler Gerichten betont H AGEMANN , Basler Rechtsleben (wie Anm. 55), Bd. II, 97f. und 280, freilich mit der Einschränkung, dass weitere Dokumente vorgelegt werden mussten, um die Aussagen der Privatdokumente zu unterstützen. 60 G EERING , Handel und Industrie (wie Anm. 22), 165; H AGEMANN , Basler Rechtsleben (wie Anm. 55), Bd. II, 280. 61 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 446, Z. 31f. Zur Klagemöglichkeit siehe G EERING , Handel und Industrie (wie Anm. 22), 171. <?page no="202"?> Handeln am Oberrhein 203 ausmachen, das durch Viehverstellungen und Verlagsvereinbarungen noch enger geknüpft wurde. 62 Die Vergabe der Warenkredite wurde hier als Instrument zur Klientelbildung eingesetzt. 63 Das städtische Umland, somit der lokal-regionale Handel, war dadurch eng an die Stadt als Kreditzentrum gebunden. Dabei spielte nicht so sehr der unmittelbare ökonomische Erfolg eine Rolle als vielmehr die Schaffung gerade dieser langfristigen Strukturen. Dem Kredit kommt hier eine soziale Funktion zu; auf beiden Seiten des Kreditvertrages war man sich offenbar bewusst, dass die strukturelle Bargeldknappheit sowohl in der Stadt als auch auf dem Land einen maßvollen Umgang miteinander erforderte. 64 Wie gezeigt werden konnte, brach das städtische Beziehungsnetz Ulrich Meltingers unter dem Druck der Anschuldigungen gegen ihn weitgehend zusammen. Wie verhielt es sich mit den Verbindungen in das Umland? Leider lässt sich dazu keine so eindeutige Aussage treffen, da hierfür die Quellen fehlen. Nach Ausweis des Rechnungsbuches lag der Schwerpunkt der Transaktionen insgesamt zwar in den frühen 70er Jahren, doch schien sich das Geschäft nach einigen Jahren der Stagnation in den 90er Jahren wieder zu verbessern. So lässt sich nur vermuten, dass Meltinger auch nach der Verurteilung noch auf die alten Verbindungen zurückgreifen konnte. Ein Beweis kann freilich nicht beigebracht werden. Es sei hier jedoch noch angemerkt, dass es deutliche Hinweise darauf gibt, dass Meltinger zum Ende seines Lebens in erhebliche Zahlungsschwierigkeiten geraten war. 65 Ob dies auch Ausweis eines Zusammenbrechens des Umlandnetzwerks gewesen ist, muss aber unbeantwortet bleiben. 62 Zu den Viehverstellungen Meltingers, die hier nicht berücksichtigt werden können, siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 169-172 und R IPPMANN , Bauern und Städter (wie Anm. 21), 204-230. 63 Zu Klientelbeziehungen S IMON T EUSCHER , Bekannte, Klienten, Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln / Weimar / Wien 1998. 64 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 91f. Die soziale Bedeutung des Kredits wird in der jüngeren Forschung immer stärker betont. Siehe dazu für den städtischen Bereich V ALENTIN G ROEBNER , Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993; für die Frühe Neuzeit C RAIG M ULDREW , The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke 1998. Sehr informativ dazu auch Soziale Praxis des Kredits. 16.-20. Jahrhundert, J ÜRGEN S CHLUMBOHM (Hrsg.), Hannover 2007. 65 Wie bereits angedeutet, erschien er ab 1500 fast ausschließlich in innerfamiliären Streitigkeiten vor Gericht, kaum noch als Gläubiger. <?page no="203"?> Matthias Steinbrink 204 4. Der überregionale Handel: Investition in Handelsgesellschaften Als dritte Betätigungsebene fällt jene der Handelsgesellschaften und -gemeinschaften ins Auge. 66 Bisher ist Meltinger als Einzelkaufmann skizziert worden, der für sich und auf eigene Rechnung Waren kaufte und verkaufte. Daneben gibt es enge Verbindungen, die sicherlich nicht schriftlich fixiert waren, aber ein Abhängigkeitsverhältnis begründeten. Es ist dabei nicht so sehr an den Schäfer Werly von Leymen zu denken, sondern an die Verbindung mit anderen Kaufleuten wie dem aus Freiburg im Uechtland stammenden Hans Kannengießer oder dem Zürcher Rudolf Maneß. 67 In beiden Fällen war Meltinger Lieferant und Abnehmer substantieller Warenlieferungen. Dabei trat Kannengießer als Vermittler zwischen Meltinger und den Freiburger Tuchmachern auf, er nahm für ihn Tuche an und lieferte Wolle aus und fungierte als Zahlungsinstanz für Gelder. 68 Maneß kümmerte sich vor allem um die Liquidation von Schulden in Zürich, war aber auch Hauptlieferant von Zürcher Stahl. 69 Es handelte sich dabei sicherlich nicht um Handelsgesellschaften im eigentlichen Sinne, aber doch um verstetigte Handelsbeziehungen. In eine ähnliche Richtung weisen auch die Beziehungen zu dem Pforzheimer Stadtschreiber Alexander Hug, dessen Vater seinerseits Schreiber in Kleinbasel war. 70 Mit Alexander hatte Meltinger nach eigener Aussage eine gemeinschaft. 71 Die Transaktionen liefen dabei oftmals ähnlich ab wie in den beschriebenen Fällen. Allerdings gab es einen großen Unterschied: Meltinger und Hug, aber auch dessen Vater, legten Geld ein. 72 Abrechnungen über das eingelegte Kapital finden sich daher auch im Buch. Im ersten Jahr 1488 hatte Hug nach Ablauf des Rechnungsjahres noch knapp 45 Gulden an Meltinger zu zahlen, im zweiten Jahr, in dem ein spezielles Buch angelegt wurde, war es bei 500 eingelegten Gulden ein Gewinn von 35 Gulden. Hug kaufte 66 Mittelalterlicher Handel ist ohne den großen Anteil von gesellschaftlich organisierten Vereinbarungen insgesamt kaum vorstellbar. Für den hansischen Raum gibt eine Übersicht C ORDES , Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel (wie Anm. 23), für Süddeutschland W OLFGANG VON S TROMER , Oberdeutsche Hochfinanz. 1350-1450, 3 Bde., Wiesbaden 1970. 67 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 180. 68 Kannengießer ist eine der am häufigsten genannten Personen im Rechnungsbuch, was seine Bedeutung für Meltingers Handel zwischen Basel und Freiburg im Uechtland unterstreicht. 69 U LRICH V ONRUFS , Die politische Führungsgruppe Zürichs zur Zeit von Hans Waldmann (1450- 1489). Struktur, politische Networks und die sozialen Beziehungstypen Verwandtschaft, Freundschaft und Patron-Klient-Beziehung, Bern u. a. 2002, 307. 70 Zu Hug siehe K URT H ANNEMANN , Vorläufiges zu Alexander Hugens Altpforzheimer Kanzleibuch von 1528, in: Pforzheimer Geschichtsblätter 1 (1961), 29-64. Zu den Handelsbeziehungen S TEIN - BRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 176-178. 71 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 445, Z. 2. 72 Her Allexander Hug, statscriber z ù Pfortzen, z 9 dem han ich in gemein geleit; S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 424, Z. 12. <?page no="204"?> Handeln am Oberrhein 205 für die gemeinsame Handelsunternehmung Tuche in Frankfurt und vor allem aus dem badisch-schwäbischen Tuchrevier um Calw und Geislingen auf und verkaufte sie in unsren gewerb z ù gewin und verlust. 73 Insgesamt ist auffällig, dass Meltinger vor allem als Geldgeber auftrat und das Kapital auch in den folgenden Jahren fast ausschließlich vom Basler gestellt wurde. Für ihn schien freilich die Aussicht, in das wichtige badisch-schwäbische Tuchrevier zu investieren, sehr attraktiv, so dass er das finanzielle Risiko des Verlustes auf sich nahm. Die Gewinne blieben aber über die gesamte Zeit hinter den Erwartungen zurück, und es lassen sich sogar deutliche Hinweise für Fehleinschätzungen und Verlustgeschäfte finden. 74 Anders die „Große Handelsgesellschaft“, die immer wieder als die bedeutendste ihrer Zeit in Basel gerühmt wird, und die bei Meltinger natürlich ebenfalls eine prominente Rolle spielte. 75 Neben Meltinger traten als Gesellschafter Bastian Thold, Ludwig Zscheckapürlin, Andreas Bischoff, der bis zu seinem Tode der Schriftführer der Gesellschaft gewesen sein muss, und Hans Bär auf, und damit durchweg die herausragenden Kaufleute Basels zu dieser Zeit. 76 Ulrich legte hier enorme Summen ein, so 1489 1.800 Gulden, an denen er 928 Gulden Gewinn machte, ein Zuwachs um 52 Prozent innerhalb eines Jahres. 77 Damit war das finanzielle Engagement in der „Großen Gesellschaft“ um ein Vielfaches größer als bei der Gemeinschaft mit Alexander Hug, aber eben auch der Gewinn. 78 Neben den Aktivitäten der Gesellschaft, die mit allen Waren handelte, die auch von den Einzelgesellschaftern verhandelt wurden, engagierten sich alle im Silberbergbau, ohne ausdrücklich Gesellschaftskapital einzusetzen. 79 In Todtnau im Schwarzwald hatte man an mehreren Gruben Anteile und es zeigt sich, dass Meltinger spätes- 73 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 435, Z. 6f. Zur Einlage „zu Gewinn und Verlust“ siehe W OLF- GANG VON S TROMER , Organsiation und Struktur deutscher Unternehmen in der Zeit bis zum Dreissigjährigen Krieg, in: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 13 (1968), 29-37, hier 33. Die rechtliche Struktur dieser Gemeinschaft lässt sich nicht vollständig rekonstruieren, eine Einordnung kann daher hier nicht geschehen. 74 Meltinger und Hug hatten offensichtlich die Märkte falsch eingeschätzt und konnten die schwäbischen Tuche nur mit deutlichen Abschlägen verkaufen; S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 452. 75 Diese Handelsgesellschaft war in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die einzige nennenswerte überregional agierende Gemeinschaft. Zur Einschätzung siehe S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 184-191; H AGEMANN , Basler Handelsgesellschaften (wie Anm. 6), 564 und A PELBAUM , Basler Handelsgesellschaften (wie Anm. 6). 76 Zu den einzelnen Personen siehe K OELNER , Zunft zum Schlüssel (wie Anm. 7). 77 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 437. Nicht deutlich wird freilich, wie lange die Einlage im Gesellschaftskapital stand. Auch die Höhe der Einlagen der Mitgesellschafter wird nicht erwähnt. 78 Zu den Gewinnmöglichkeiten im Gesellschaftshandel siehe die Beispiele bei A LOYS S CHULTE , Die Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, 3 Bde., Stuttgart / Berlin 1923, Bd. 3, 60; W OLFGANG VON S TROMER , Die Nürnberger Handelsgesellschaft Gruber-Podmer-Stromer im 15. Jahrhundert, Nürnberg 1963, 65. 79 Zum Silberbergbau siehe ausführlich B REYVOGEL , Silberbergbau und Silbermünzprägung (wie Anm. 22) und S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 146-149. Zu Meltingers Beteiligungen auch R IPP- MANN , Bauern und Städter (wie Anm. 21), 230-236. <?page no="205"?> Matthias Steinbrink 206 tens in den späten 1480er Jahren über große Summen Geldes verfügt haben muss, die er in Todtnau einsetzen konnte. 80 Insgesamt führte dies zu einem „grosse[n] Basler Investitionsschub“ in die Schwarzwälder Bergwerke. 81 Meltinger zeigte sich dabei an einer breiten Streuung seines Kuxbesitzes interessiert und erwarb von seinen Basler Mitgesellschaftern auch Anteile von Gruben, die weniger lukrativ waren. 82 Ob das hohe finanzielle Engagement sich für ihn auszahlte, kann auf Grund der kaum vorhandenen Daten über Erträge nicht entschieden werden. Es ist aber anzunehmen, dass der Gewinn deutlich niedriger lag als bei anderen Handelsunternehmungen. 83 Interessant ist auch der gemeinschaftliche Besitz eines Gasthauses in Basel. 84 Durch Pfandeinsetzung erhielten die Teilhaber die Möglichkeit, das Gebäude „Zum Rosgarten“, das an prominenter Stelle unter dem Salzkasten an der Schifflände mitten in Basel lag, für 180 Gulden zu erwerben. 85 Doch mussten sie sich zunächst um eine ordentliche Renovierung des Schankraumes kümmern. Die Inneneinrichtung musste erneuert werden, ein Maler wurde engagiert, um die Wände zu bemalen und ein neuer Wirt wurde gefunden. 86 Auch hierbei war das finanzielle Engagement nicht unerheblich. Eine Abrechnung ergab 1490, dass die Gesellschaft Meltinger annähernd 385 Gulden für Holz, Schlösser, Türbeschläge, Nägel und andere Materialien schuldete. 87 Sehr lukrativ kann die Unternehmung jedoch nicht gewesen sein, denn bereits 1494 erhielt ein anderer den Zugriff auf das Haus wegen nicht gezahlter Zinsen. 88 Dennoch zeigt sich eindrücklich, dass die „Große Gesellschaft“, die aus einer Reihe vielleicht auch wechselnder Kaufleute bestand, große finanzielle Möglichkeiten und Spielräume besaß. Man engagierte sich gemeinsam in verschiedenen Unternehmungen und konnte dabei beachtliche Gewinne erzielen, wenn auch nicht jedes Engagement sich auszahlte. Doch innerhalb der Stadt regte sich gegen die Gesellschaften im Allgemeinen und gegen die 80 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 429f., 515f. 81 R IPPMANN , Bauern und Städter (wie Anm. 21), 233. 82 B REYVOGEL , Silberbergbau und Silbermünzprägung (wie Anm. 22), 409. 83 Auch B REYVOGEL , Silberbergbau und Silbermünzprägung (wie Anm. 22), 430 kommt zu der Einschätzung, dass, wenn sie überhaupt anfielen, die Gewinne im Bergbau nur gering gewesen sein können. 84 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 191-193. Ein ähnliches, wenn auch erfolgreicheres Engagement findet sich beim Nürnberger Kaufmann Ulrich Starck; W ILTRUD E IKENBERG , Das Handelshaus der Runtinger zu Regensburg. Ein Spiegel süddeutschen Rechts-, Handel- und Wirtschaftslebens im ausgehenden 14. Jahrhundert, Göttingen 1976, 16. 85 StABS, Gerichtsarchiv, E. 6, fol. 68r. 86 Der Maler war Hans Balduff, der neben den Türen des Orgelprospekts im Münster auch die Räumlichkeiten der Safranzunft ausmalte; F RITZ M OREL , Orgeln und Organisten im Basler Münster, in: Die Orgel im Basler Münster, D ERS . (Hrsg.), Basel 1956, 15-19, hier 16; P AUL K OELNER , Die Safranzunft zu Basel und ihre Handwerke und Gewerbe, Basel 1935, 75. 87 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 438. 88 StABS, Hist. Grundbuch, ohne Signatur, Schifflände 7/ 9. <?page no="206"?> Handeln am Oberrhein 207 „Große“ im Besonderen heftiger Widerstand. 89 Seit der Mitte der 1480er Jahre kam es in einer Reihe von Ratsbeschlüssen zu einer schrittweisen Eindämmung der Aktivitäten von Gesellschaftshandel. So durfte ab 1489 beispielsweise kein Honig mehr gemeinschaftlich gehandelt werden, ab 1491 wurde Gesellschaftskauf außerhalb des Kaufhauses völlig verboten und - speziell auf Meltingers Gesellschaft bezogen - musste der Verkaufsstand der Gesellschaft geschlossen werden. 90 Die wirkende Hand setzte sich in Basel gegenüber der werbenden Hand durch: Die zunächst noch zu zwei Terminen durchgeführte Basler Messe, die erst 1471 erstmalig ausgerichtet wurde, wurde zum Schutz des heimischen Handwerks so stark reglementiert, dass sich nur ein Messetermin halten konnte. 91 Somit fiel auch das letzte Beziehungsnetz Meltingers zusammen. Die Gesellschaft, mit der er wohl seinen größten Umsatz und wahrscheinlich auch seine höchsten Gewinne erwirtschaftet hatte, konnte nach 1491 nie wieder an die alte Größe anknüpfen. Dadurch konnte auch Meltinger keinen finanziellen Erfolg mehr daraus erzielen, obschon er wohl auch weiterhin mit einigen der Gesellschafter gemeinsam Handel trieb. 92 Das Netzwerk der Gesellschafter fing ihn nicht oder nur in begrenztem Umfange auf. 5. Schluss Wie sich zeigen ließ, nutzte Ulrich Meltinger die verschiedenen Praktiken des spätmittelalterlichen Geld- und Warenhandels, um sich innerhalb des städtischen, lokal-regionalen und überregionalen Handels zu positionieren. Dabei wurde deutlich, dass die Mechanismen je nach Bedarf angepasst wurden. Spielten Geldkredite nur im bekannten städtischen Umfeld eine größere Rolle, waren es die Warenkredite, die ländliche Produzenten von Fertigwaren eng an den Kaufmann banden. Das große Geld wurde freilich in der Handelsgesellschaft erwirtschaftet, wenn auch Einsatz und Riskio dort am höchsten waren. Ebenso wurde deutlich, dass Meltinger in ein enges Netz eingebunden war, das die verschiedenen politischen und kaufmännischen Entscheidungsträger der Stadt miteinander verband. Die herausgehobene Stellung als 89 S TEINBRINK , Meltinger (wie Anm. 2), 193f.; H ANS F ÜGLISTER , Handwerksregiment. Untersuchungen und Materialien zur sozialen und politischen Struktur der Stadt Basel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Basel / Frankfurt a. M. 1981, 274f. Dort wird auch die Frage behandelt, ob es sich um alle Handelsgesellschaften oder nur um die „Große“ handelte, wie in der Forschung diskutiert wird. 90 F ÜGLISTER , Handwerksregiment (wie Anm. 89), 247; G EERING , Handel und Industrie (wie Anm. 22), 347. 91 E HRENSPERGER , Basels Stellung (wie Anm. 6), 337. 92 Mit Hans Bär hat er beispielsweise noch 1495 Tuche nach Antwerpen gehandelt; StABS, Missiven, A. 18, 343. <?page no="207"?> Matthias Steinbrink 208 Funktionsträger im städtisch-administrativen Bereich hatte Meltinger sich durch individuelle Leistung erarbeitet und ausbauen können. Seine ökonomischen Aktivitäten beruhten auf den Vorleistungen seines Vaters und den sich daraus ergebenden Handelsbeziehungen. Doch Meltinger intensivierte diese Kontakte vor allem in Richtung der ländlichen Produktion und schaffte sich durch langfristige Kredit- und Abnahmevereinbarungen eine eigene Klientel im Umland der Stadt. Die überregionalen Handelsbeziehungen deckte er mit Hilfe der Handelsgesellschaften und -gemeinschaften ab, konnte dort enorme Gewinne erwirtschaften und so auch nicht vollstreckbare Schuldforderungen kompensieren. Meltinger war somit auf verschiedenen Ebenen aktiv, die jede für sich kaum allein einen wirtschaftlichen Erfolg garantiert hätte. Auf diesen Ebenen spielten soziale und politische Verbindlichkeiten und Verantwortlichkeiten eine entscheidende Rolle. Dieses Netz war freilich nur so lange belastbar, wie man sich an die Regeln hielt. Meltinger scheint dieses nicht getan zu haben und fiel deshalb durch das Netz und verlor den ökonomischen Rückhalt dieser Verbindungen. <?page no="208"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche. Wirtschaften im Netzwerk der spätmittelalterlichen Stadt Arnd Reitemeier Den meisten Kaufleuten im Mittelalter stellte sich die Frage, was mit ihrer Seele nach dem Tod passieren würde, ob sie also bei Gott aufgenommen würde oder ob sie der ewigen Verdammnis anheim fiele. Diese Frage stellte sich allen Menschen im Mittelalter, da sich kaum jemand sicher sein konnte, ein Leben ohne Sünde verbracht zu haben. Kaufleute waren jedoch in besonderem Maß hiervon betroffen - zum einen wegen ihres Reichtums und zum anderen wegen der Gefahr, gegen das Zinsverbot zu verstoßen. 1 Wollte nun ein Kaufmann seine Zeit im Fegefeuer verkürzen, so boten sich ihm diverse Möglichkeiten an: Er konnte gute Werke verrichten, er konnte Armen und Bedürftigen helfen und er konnte Stiftungen in dem Versuch initiieren, Fürbitten zu erhalten. 2 Außerdem gab es in jeder Stadt mehrere zentrale Institutionen, die im weitesten Sinn zum Bereich der Karitas gehörten und deren Leitung im Allgemeinen Kaufleute, selten Handwerker, ehrenamtlich übernahmen. 3 Hierzu gehörten beispielsweise die Hospitäler und Leprosenhäuser. Derartige Einrichtungen beruhten meist auf Stiftungen und waren juristisch eigenständig. Dem Rat aber oblag ihre Kontrolle ebenso wie die Sicherstellung der Stiftungsverpflichtungen. 4 Zu den besonders wichtigen Institutionen in den Städten des Mittelalters zählte die Kirchenfabrik (fabrica ecclesiae). 5 Sie umfasste eine Ansamm- 1 Siehe Lukas 6, 20-21 und 24-25: „Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. [...] Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen“; zit. nach: Die Bibel, Übersetzung nach Martin Luther, Stuttgart, rev. Fassung 1984. 2 A RNOLD A NGENENDT , Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, bes. 712-716. 3 A NGENENDT , Religiosität (wie Anm. 2), 586-596. 4 Zusammenfassend mit weiterer Literatur E BERHARD I SENMANN , Die deutsche Stadt im Mittelalter, Stuttgart 1988, 181-190; siehe auch M ICHAEL B ORGOLTE , Die Stiftungen des Mittelalters in rechts- und sozialhistorischer Sicht, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 74 (1988), 71-94; H ARRY K ÜHNEL , Sinn und Motivation mittelalterlicher Stiftungen, in: Materielle Kultur und religiöse Stiftung im Spätmittelalter, G ERHARD J ARITZ (Red.), Wien 1990, 5-12. Zu Wesel, auf das im Folgenden ausführlich eingegangen wird, siehe I SABELLA B ENNINGHOFF -L ÜHL , Die sozialen Stiftungen Wesels, in: Geschichte der Stadt Wesel, Bd. 2, J UTTA P RIEUR (Hrsg.), Düsseldorf 1991, 71- 106. 5 Ausführlich zur Kirchenfabrik A RND R EITEMEIER , Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Stuttgart 2005, älter: S EBASTIAN S CHRÖCKER , Die Kirchenpflegschaft. Die Verwaltung des Kirchenvermögens durch Laien seit dem ausgehenden Mittelalter, Paderborn 1934; W OLFGANG S CHÖLLER , Die rechtliche Organisation des Kirchenbaus im Mittelalter vornehmlich des Kathedralbaus, Köln / Wien 1989. Der folgende Aufsatz beruht auf den in der Mo- <?page no="209"?> Arnd Reitemeier 210 lung von Besitztiteln, Ansprüchen und Pflichten mit dem Ziel, Altar und Pfarrkirche zu unterhalten. 6 Den Kern jeder Kirchenfabrik bildeten Stiftungen, doch kamen weitere Aufgaben hinzu. Auf der Grundlage der insbesondere im 15. Jahrhundert zunehmenden Anzahl an Stiftungen gehörten die Kirchenfabriken in den Städten am Ende des Mittelalters zu den wirtschaftlich mächtigsten und zu den sozial bedeutendsten Institutionen. 7 Die Vorsteher der Kirchenfabrik hießen in der Mehrzahl der untersuchten Städte Kirchenpfleger oder Gotteshausbzw. Kirchenmeister, wobei die letztgenannte Bezeichnung im Folgenden als gängigster Begriff verwendet wird. 8 Kirchenmeister wurden vom Rat der Stadt bestimmt oder gewählt, wobei die familiäre Herkunft und die soziale Stellung die entscheidenden Kriterien waren. 9 Gegen Ende des Mittelalters wurde außerdem der persönlichen Qualifikation eine immer größere Bedeutung beigemessen. 10 Alle Kirchenmeister mussten ratsfähig sein und über ein gewisses Privatvermögen verfügen. Der Wohnort innerhalb der Gemeinde war wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Die überwiegende Mehrzahl der Kirchenmeister war von Beruf Kaufmann, doch lassen sich in manchen Städten vereinzelt auch beispielsweise Goldschmiede nachweisen. 11 Die Tätigkeit der Kirchenmeister wird in drei Sorten von Quellen überliefert: Urkunden dokumentierten Rechtsakte wie die Übertragung von Besitztümern. Zu dieser Kategorie gehörten auch Verträge, mit deren Hilfe Stiftungen aufgesetzt wurden. Zweitens mussten die Kirchenmeister gegennographie vorgestellten Forschungsergebnissen, so dass der Einfachheit halber vielfach auf diese verwiesen wird. 6 Zusammenfassend R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 101f., siehe auch R OSI F UHRMANN , Kirche und Dorf: Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation, Stuttgart 1995, hier 127, 131 und 135f., S CHÖLLER , Organisation (wie Anm. 5), 185, ähnlich B EAT N. K ÜMIN , The Shaping of a Community: The Rise and Reformation of the English Parish c. 1400- 1560, Aldershot 1996, siehe bes. 256. 7 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 395-521. 8 Umfangreiche Zusammenstellung der Amtsbezeichnungen der Kirchenmeister bei S CHRÖCKER , Kirchenpflegschaft (wie Anm. 5), 172-196, siehe auch E UGEN I SELE , Das Freiburger Münster St. Nikolaus und seine Baulast. Rechtsgeschichte einer Kirche, Freiburg 1955, 30; zu den im Elsass verwendeten Bezeichnungen L UCIAN P FLEGER , Untersuchungen zur Geschichte des Pfarrei-Instituts im Elsass III: Die Einkommensquellen, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 8 (1933), 1-118, hier 15. 9 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 60-72. 10 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), bes. 116-121. 11 Zu den Bamberger Goldschmieden R ENATE B AUMGÄRTEL -F LEISCHMANN , Der Goldschmied Thomas Rockenbach, in: Bericht des historischen Vereins Bamberg 112 (1976), 161-248, hier 175; zu Rothenburg siehe L UDWIG S CHNURRER , Das Goldschmiedehandwerk in Rothenburg, in: Jahresbericht des Vereins Alt-Rothenburg 1977/ 78, 33-176, bes. 123-125; vgl. R OSEMARIE M ERKEL , Münsterpfleger in Freiburg 1311-1600. Münsterpflegerliste, in: 100 Jahre Freiburger Münsterbauverein, H UGO O TT (Hrsg.), Freiburg 1990, 125-154, bes. 128; siehe auch D IES ., Bürgerschaft und städtisches Regiment im mittelalterlichen Freiburg, in: Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum „Neuen Stadtrecht“ von 1520, H EIKO H AUMANN / H ANS S CHADEK (Hrsg.), Stuttgart 1996, 565-596, bes. 580f. <?page no="210"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche 211 über dem Rat der Stadt Rechnung legen und ließen hierfür jährlich ein Rechnungsbuch anfertigen. Schließlich und drittens legten die Kirchenmeister in geringem Umfang Verwaltungsschriftgut an. 12 All dies geschah im Kontext einer Tätigkeit gleichsam als Geschäftsführer einer städtischen Einrichtung und erfolgte damit zusätzlich zu den privaten Geschäften. 1. Die Organisation der Kirchenfabrik Die Kirchenmeister hatten im Wesentlichen fünf Aufgaben: Erstens unterstand den Kirchenmeistern die Kirche als Bauwerk. 13 Dies schloss den Friedhof ebenso wie alle dazugehörenden Gebäude ein. 14 Die Kirchenmeister mussten daher für den Erhalt des Gebäudes sorgen, also die Kirche und alle weiteren Gebäude überwachen und Reparaturen in Auftrag geben. Wurde die Kirche erweitert, so galt es, die notwendigen Geldmittel bereitzustellen, den Fortgang der Bauarbeiten zu kontrollieren sowie dafür zu sorgen, dass Architekt und Baumeister ihren Verpflichtungen nachkamen, also das Gebäude wie geplant und sicher errichtet wurde. Zweitens waren sie für die gesamte Innenausstattung ihrer Kirche verantwortlich, was die Altäre, die Plastiken, die Kirchenbänke und die Kanzel ebenso wie die kostbaren liturgischen Geräte umfasste. 15 Einerseits kostete diese Aufgabe die Kirchenmeister vergleichsweise wenig Zeit, doch andererseits waren sie damit für den kostbarsten Besitz der Kirche verantwortlich. Die Kirchenmeister handelten daher sehr unterschiedlich, denn während manche außerordentlich viel Zeit und Mühe darauf aufwandten, die Innenausstattung so weit als möglich zu pflegen, beschränkten sich andere darauf, das Inventar regelmäßig auf Vollständigkeit zu überprüfen. Drittens organisierten die Kirchenmeister die sakralen Handlungen in der Kirche. 16 Zum einen waren sie beispielsweise für den Einsatz der Orgel, für die Bezahlung und Kontrolle derjenigen, die die Glocken läuteten ebenso wie für die Bereitstellung von Wein und Hostien für die Eucharistiefeier - sowohl für die Kleriker als auch für die Gemeindemitglieder - zuständig. Zum anderen mussten sie dafür sorgen, dass die Privat- oder Memorialmessen vollständig, also mit allen in den Stiftungsbriefen genannten Einzelhei- 12 Ausführlich R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 33-54. 13 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 159-183. 14 Zum Friedhof ausführlich M ONIKA E SCHER -A PSNER , Kirchhöfe - öffentliche Orte der Fürsorge, Vorsorge und Seelsorge christlicher Gemeinschaften im hohen und späten Mittelalter, in: Campana pulsante convocanti, F RANK G. H IRSCHMANN / G ERD M ENTGEN (Hrsg.), Trier 2005, 159-196; siehe auch I NGO H ERKLOTZ , Grabmalstiftungen und städtische Öffentlichkeit im spätmittelalterlichen Italien, in: Materielle Kultur (wie Anm. 4), 233-271. 15 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 219-309. 16 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 311-393. <?page no="211"?> Arnd Reitemeier 212 ten, umgesetzt wurden. 17 Der Umfang war sehr unterschiedlich, denn im Fall großer Messen mussten beispielsweise der Chor aus den Schülern samt dem Schulmeister als Chorleiter, eine gewisse Anzahl an Armen sowie die gewünschte Anzahl an Geistlichen zur Teilnahme verpflichtet werden. 18 Insbesondere die Geistlichen mussten die vom Stifter gewünschte Kleidung aus dem Besitz der Kirchenfabrik tragen. Es galt den Altar entsprechend den Wünschen des Stifters zu schmücken sowie alle Teilnehmer im Anschluss an die Messe zu bezahlen. Viertens mussten sie alle der Kirchenfabrik zustehenden Einnahmen erheben sowie jährlich gegenüber dem Rat der Stadt Rechnung legen. 19 Die Kirchenmeister mussten daher die regelmäßigen Abgaben wie beispielsweise Renten, Zinsen oder Naturalabgaben einziehen. Sie hatten außerdem die in vielen Städten zur Kirchenfabrik gehörenden Höfe zu kontrollieren und die Produkte zu verkaufen. Schließlich war es ihre vornehmste Aufgabe, an Sonntagen mit dem Klingelbeutel in der Kirche zu stehen oder durch die Reihen der Gemeinde zu gehen. 20 Über das gesamte Finanzgebaren mussten sie einmal im Jahr ein Rechnungsbuch anfertigen und dieses dem Rat der Stadt zur Kontrolle vorlegen. Im Zuge der Rechnungskontrolle fragten die Ratsherren beispielsweise nach Veränderungen gegenüber dem Vorjahr, so dass die Kirchenmeister Rede und Antwort stehen mussten. 21 Fünftens waren sie für die Kontrolle, weitgehend auch für die Einstellung des für die Kirche arbeitenden Personals zuständig. Der Umfang dieser Tätigkeit variierte am meisten: Wurden an einer großen Kirche umfangreiche Bauarbeiten durchgeführt, waren teilweise mehrere Dutzend Bauarbeiter tätig. Doch auch ohne derartige Belastungen beschäftigten manche Kirchenmeister eine Vielzahl an Personen. Hierzu gehörten beispielsweise die Küster, die Totengräber, Waschfrauen, Kerzenzieherinnen und viele weitere, von denen aber nur wenige dauerhaft angestellt waren, sondern die Mehrzahl werkbezogen beschäftigt wurde. 22 17 Grundlegend D IETER P LEIMES , Weltliches Stiftungsrecht. Geschichte der Rechtsformen, Weimar 1938; siehe auch R ALF L USIARDI , Stiftung und städtische Gesellschaft. Religiöse und soziale Aspekte des Stiftungsverhaltens im spätmittelalterlichen Stralsund, Berlin 2000; R OBERT B ARTSCH , Seelgerätstiftungen im XIV. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des Testamentes in Österreich, in: Festschrift Karl von Amira, Berlin 1908, 3-58; G ERHARD J ARITZ , Seelgerätstiftungen als Indikator der Entwicklung materieller Kultur im Mittelalter, in: Materielle Kultur (wie Anm. 4), 13-35. 18 Siehe R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 361-380. 19 Zur Rechnungslegung ausführlich R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 60-72. 20 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 431-437. 21 E NDRES T UCHERS Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg, M ATTHIAS L EXER (Hrsg.), Stuttgart 1862, ND Amsterdam 1968, 240f. 22 Zusammenfassend R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 524-556. <?page no="212"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche 213 2. Tätigkeit der Kirchenmeister Die Kirchenmeister übernahmen die genannten Tätigkeiten ehrenamtlich, so dass sie nicht nur keinen oder nur geringen Lohn erhielten, sondern in erster Linie ihrem Beruf nachgehen mussten. Entscheidend war daher die Delegation vieler Aufgaben, damit sich die Kirchenmeister auf die Aufsicht beschränken konnten. Die wichtigsten Mitarbeiter der Kirchenmeister waren die Küster, die die meisten der innerhalb wie außerhalb der Kirche anfallenden Aufgaben wahrnahmen. 23 Sie mussten täglich von früh bis spät in der Kirche präsent sein, die Gegenstände pflegen, bei den verschiedenen Messen mitwirken sowie bei manuellen Tätigkeiten wie beispielsweise der Bestattung von Toten helfen. Im Auftrag der Kirchenmeister nahmen sie die Oblationen entgegen und standen teilweise mit dem Klingelbeutel an der Kirchentür. Dabei waren sie in vielen Städten zugleich dem Rat verpflichtet, da ihnen die Wartung und Aufsicht über die Uhr und die Glocken der Kirchen übertragen wurde, die der Stadt und nicht der Kirche gehörten. 24 Neben den Küstern gab es eine Vielzahl an Personen, die teils dauerhaft, teils werkbezogen tätig wurden. Frauen, die für die Kirchenfabrik beispielsweise als Wäscherinnen arbeiteten oder die die Altäre putzten, waren häufig Witwen. Manche von ihnen waren wirtschaftlich mit der Kirche verbunden, indem sie Renten hielten oder in Häusern der Kirchenfabrik wohnten. 25 Trotz der Delegation vieler Aufgaben mussten die Kirchenmeister bei diversen Anlässen in der Kirche präsent und tätig sein. An den meisten Sonntagen standen sie an den Kirchentüren und baten um Geld für die Kirche. An den großen Prozessionen durch die Stadt, beispielsweise zu Fronleichnam, nahmen sie an prominenter Stelle im Prozessionszug teil. 26 Ab- 23 Zu den Küstern siehe K ARL -H EINRICH S CHAEFER , Zur Entwicklung von Namen und Beruf des Küsters, in: Annalen des Historischen Vereins Niederrhein 74 (1902), 163-178. 24 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 525-530. 25 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 548-551. 26 Zu den Prozessionen siehe J OHANNES B EUMER , Die Prozessionen im katholischen Frankfurt während der Reformationszeit, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 21 (1969), 105-118; X AVER H EIMERL , Das Prozessionswesen des Bistums Bamberg im Mittelalter, München 1937; H ERMANN M AYER , Zur Geschichte der Freiburger Fronleichnamsprozession, in: Freiburger Diözesan-Archiv NF 12 (1911), 338-361; R ICHARD P ERGER , Gehordnung der Wiener Handwerker bei der Fronleichnamsprozession 1463, in: Ausstellungskatalog 850 Jahre St. Stephan. 226. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1997, 147; M IRI R UBIN , Symbolwert und Bedeutung von Fronleichnamsprozessionen, in: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter, K LAUS S CHREINER (Hrsg.), München 1992, 309-318; D IETER S CHELER , Inszenierte Wirklichkeit: Spätmittelalterliche Prozessionen zwischen Obrigkeit und Volk, in: Von Aufbruch und Utopie: Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Festschrift Ferdinand Seibt, B EA L UNDT / H ELMA R EIMÖLLER (Hrsg.), Wien 1992, 119-129; J OHANN W EIßENSTEINER , „Do uns dann nach zeittlicher ableibung nichts dan die guten werich hülfflichen sein“. Bruderschaften, Wallfahrten und Prozessionen an der Domkirche St. Stephan, in: 850 Jahre St. Stephan (wie Anm. 26), 28-30; umfassend A NDREA L ÖTHER , Städtische Prozessionen zwischen repräsentativer Öffentlichkeit, Teilhabe und Publikum, <?page no="213"?> Arnd Reitemeier 214 hängig von der Anzahl der Stiftungen mussten sie bei den diversen Memorialmessen anwesend sein. Zum einen hatten die meisten Stifter die Anwesenheit der Kirchenmeister zur Kontrolle des ordnungsgemäßen Ablaufs vorgeschrieben, und zum anderen mussten sie die Teilnehmer im Anschluss an die Messe bezahlen. Abhängig von der Größe der Kirche konnte die Teilnahme an den Memorialmessen außerordentlich zeitaufwändig sein, da die Kirchenmeister beispielsweise in Ulm über 50 Stiftungsmessen im Jahr besuchen mussten. 27 Bei großen und bedeutenden Kirchen wie beispielsweise St. Sebald in Nürnberg, St. Marien in Lübeck oder auch dem Ulmer Münster dürfte mehrfach pro Woche die Anwesenheit der Kirchenmeister notwendig gewesen sein. 28 Bei kleineren Kirchen war dies anders, da es wesentlich weniger Aufgaben zu bewältigen galt. 3. Kaufleute und die Geschäfte einer städtischen Einrichtung Abhängig von der Größe der Kirche verfügten manche der Angestellten der Kirche über eigene Etats. Laufende Ausgaben beispielsweise für Kerzenwachs oder Lampenöl bestritten die Küster aus einem Unteretat der Kirchenfabrik, über den sie dann gegenüber den Kirchenmeistern Rechenschaft ablegen mussten. 29 In manchen Städten beauftragten die Kirchenmeister Dachdecker mit der regelmäßigen Inspektion und Reparatur des Kirchendachs. 30 Die Delegation der täglichen Finanzgeschäfte entlastete die Kirchenmeister. Folglich mussten die Verwalter der Kirchenfabrik vor allem dann persönlich Ausgaben tätigen, wenn es sich um Geschäfte jenseits der Routinevorgänge handelte, oder wenn sie, wie bei Memorialmessen, zur persönlichen Auszahlung verpflichtet waren. Zugleich bewirtschafteten die Kaufleute nur bedingt das Stiftungskapital, sondern legten es in Grundbesitz oder in Renin: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, G ERT M ELVILLE / P ETER VON M OOS (Hrsg.), Köln / Weimar / Wien 1998, 435-459; sowie D IES ., Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit, Köln / Weimar / Wien 1999. 27 Stadtarchiv Ulm (StadtA Ulm) A 6905 fol. 148v. 28 Zu den Kirchenmeistern von St. Sebald in Nürnberg und Sebald Schreyer im Besonderen E LISABETH C AESAR , Sebald Schreyer. Ein Lebensbild aus dem vorreformatorischen Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 56 (1969), 1-213. 29 J OSEPH G ÉNY , Schlettstadter Stadtrechte (Oberrheinische Stadtrechte, 3. Abt.: Elsässische Rechte Bd. I), Heidelberg 1902, Nr. lx, 730-735, hier: 730f.; G EORG H ABENICHT , Gottesdienstliches Leben in Windsheim vor der Reformation. Die Windsheimer Kirchner- und Organistenordnung, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 70 (2001), 1-27, hier 8, Anm. 41; siehe auch die Edition der Rechnungen des Freisinger Dom-Custos: Die Freisinger Dom-Custos-Rechnungen von 1447-1500, H ANS R AMISCH unter Mitarbeit von C ORNELIA A NDREA H ARRER und A LOIS H Eß (Hrsg.), 2 Bde., München 1998. 30 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 565-570. <?page no="214"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche 215 ten an. 31 Als Kirchenmeister wählten die Kaufleute daher konservative Anlageformen, die zugleich der Strategie entsprachen, die viele auch zur Absicherung ihres Privatvermögens wählten. Ökonomisch gesehen verwalteten die Kirchenmeister daher den Baufonds der Kirche mehr als dass sie ihn wie ein Unternehmen betrieben. Ihr Ziel war der Erhalt des Kapitals, nicht aber seine Vergrößerung. In keiner der Reichsstädte, aus denen Kirchenrechnungen überliefert sind, verwendete ein Kirchenmeister das System der doppelten Buchführung. Vielmehr hielten sie Ausgaben wie Einnahmen auf Notizzetteln fest, die am Ende des Rechnungsjahres in Rechenbücher umgeschrieben wurden. 32 Nahezu alle Kirchenmeister wirtschafteten auf einfachster Grundlage, indem sie die Einnahmen sofort wieder ausgaben. Nur selten wurden Gelder für größere Vorhaben angespart, vielmehr wurden größere Bauvorhaben mit Hilfe zusätzlicher Gelder finanziert, die beispielsweise durch Stiftungen oder Ablassverkäufe sowie mit Hilfe anderer, an Marketingmaßnahmen erinnernder Kampagnen gewonnen wurden. 33 Kam es zu gravierenden Einnahmeausfällen, wurden beispielsweise Bauarbeiten gestoppt oder Personalleistungen nicht erbracht. Alternativ hierzu glichen die Kirchenmeister die Defizite aus ihrem Privatvermögen aus. Zwar versuchten sie dann langfristig, diese eingesetzten Gelder zurückzuerhalten, was aber nicht immer gelang. 34 Es verwundert daher nicht, dass sich eine erhebliche Anzahl der Kirchenmeister auch als Stifter nachweisen lässt: 35 Sie schenkten der Kirchenfabrik beispielsweise liturgische Gewänder oder Leuchter, sie ließen auf eigene Kosten vorhandene Gegenstände aufwändig verschönern oder schenkten Großplastiken wie Öl- und Kalvarienberge. Die Mehrzahl der Kirchenmeister sah damit die Verwaltung der Kirche als eine persönliche Aufgabe an. Sie waren daher auch zu substantiellen privaten Investitionen bereit. Die ökonomisch wie politisch wichtigste Amtshandlung der Kirchenmeister war die Rechnungslegung vor dem Rat der Stadt. Hierfür ließen die 31 Zu hochmittelalterlichen Stiften überblicksartig S CHÖLLER , Organisation (wie Anm. 5), 232f.; knapp auch P ETER W IEK , Das Straßburger Münster. Untersuchungen über die Mitwirkung des Stadtbürgertums am Bau bischöflicher Kathedralkirchen im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins NF 68 (1959), 40-113, bes. 43f.; zur Xantener Stiftskirche S TEPHAN B EISSEL , Geldwerth und Arbeitslohn im Mittelalter, Freiburg im Breisgau 1884, 9f.; ausführlich zu Lübeck A HASVAR VON B RANDT , Der Lübecker Rentenmarkt von 1320-1350, Diss. phil. Kiel 1935; siehe auch R OLF S PRANDEL , Der städtische Rentenmarkt in Nordwestdeutschland im Spätmittelalter, in: Öffentliche Finanzen und privates Kapital im späten Mittelalter und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bericht über die 3. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Mannheim am 9. und 10. April 1969, H ERMANN K ELLENBENZ (Hrsg.), Stuttgart 1971, 14-23. 32 Ausführlich R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 54-60. 33 Zusammenfassend R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 475-478. 34 B AUMGÄRTEL -F LEISCHMANN , Rockenbach (wie Anm. 11), 175, auch 242-248. 35 Für Livland: E RRKI O. K UUJO , Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Pfarrkirchen in Alt- Livland, Helsinki 1953, bes. 192f. <?page no="215"?> Arnd Reitemeier 216 Kirchenmeister einmal pro Jahr vom Stadtschreiber ein Rechnungsbuch anfertigen. 36 Die meisten Rechnungsbücher suggerieren, dass die jeweilige Institution wohlgeordnet war. Die „Sauberkeit“ der Rechnungsbücher aber hatte andere Gründe als eine akribische Genauigkeit bei der Kassen- und Buchführung: Die Anlage der Rechnungsbücher richtete sich nach den Vorgängen bei der Rechnungsprüfung. 37 In einigen wenigen Städten wurden die Rechnungsbücher von einem Ausschuss durchgesehen, der dem Rat Bericht erstattete. Anderswo lag die Zuständigkeit unmittelbar beim Rat der Stadt. In jedem Fall erfolgte die Entlastung weniger auf der Grundlage einer vollständigen Rechnungsprüfung, sondern in erster Linie durch einen Vergleich der verschiedenen Teilsummen des Rechnungsbuches mit den entsprechenden Beträgen des Vorjahres. In von Stadt zu Stadt unterschiedlichem Maß rechnete der Ausschuss die Summen nach. Teilweise mussten die Kirchenmeister auch Differenzen und Unterschiede im Vergleich zum Vorjahr rechtfertigen. Zweck der Rechnungslegung war die Kontrolle von Veränderungen gegenüber dem vergangenen Jahr. Die Rechnungsbücher der Kirchenmeister geben daher nicht den tatsächlichen Geldfluss wieder. Die Ratsherren kontrollierten nicht die Wirtschaftsführung der Kirchenmeister, denn eine solche Prüfung wäre auch nur möglich gewesen, wenn die Kirchenmeister die Notiz- und Rechenzettel eingereicht hätten, was sie ausweislich der erhaltenen Quellen aber nicht taten. 4. Die Entscheidungsspielräume der Kirchenmeister In allen Städten des Mittelalters gab es eine geringe Anzahl politisch wie ökonomisch führender Familien. 38 Ihr hierarchisch geordnetes Verhältnis untereinander drückte sich ganz wesentlich durch Symbole aus. Fragen wie: Wer durfte wo sein Grab in der Kirche haben? Wer durfte mit welchem Ziel eine Stiftung aufsetzen? An welchem Tag gedachte man eines besonders bedeutenden Ratsmitglieds? betrafen die soziale Hierarchie der Stadt und wurden daher, so weit bekannt, vom Rat der Stadt diskutiert und entschieden. Eine Begrenzung der Kompetenz der Kirchenmeister lässt sich auch in anderen Bereichen feststellen. Ökonomisch gehörte die Kirchenfabrik zu den bedeutendsten Institutionen einer Stadt im Mittelalter, schon weil die meisten Kirchenfabriken am Ende des Mittelalters einen großen Teil des Grundbesitzes der Stadt verwalteten. 39 Es war daher durchaus eine Frage von Be- 36 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 36-54. 37 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 60-72. 38 Zur Sozialstruktur der mittelalterlichen Stadt im Überblick I SENMANN , Stadt (wie Anm. 4), 245-284. 39 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 201-207 und 396-410. <?page no="216"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche 217 deutung, welches Haus möglicherweise gekauft oder verkauft wurde, so dass auch diese die Ökonomie berührenden Fragen im Rat der Stadt diskutiert wurden. 40 Dies ergab sich aus der Tatsache, dass viele Stifter den Rat der Stadt mit der Aufsicht über die Stiftung und das Stiftungsvermögen eingesetzt hatten. Der Rat delegierte die Umsetzung der Verpflichtungen an die Kirchenmeister, trug aber letztlich die Verantwortung. 41 In einigen Städten mussten die Kirchenmeister im ausgehenden Mittelalter einen Amtseid gegenüber dem Rat ablegen. 42 Dies ergab sich aus dem wachsenden Aufgabenspektrum der Kirchenmeister. Es war kein Widerspruch, dass der Umfang ihrer Verantwortung zunahm, ihr Entscheidungsspielraum sich aber verringerte. Im 15. Jahrhundert trafen die Kirchenmeister dann juristisch und sozial relevante Entscheidungen nur noch innerhalb eines eng begrenzten Rahmens unter Aufsicht durch den Rat. Die Kirchenmeister agierten folglich nicht nur ökonomisch wie Verwalter, sondern sie wurden auch in eine exekutive Rolle hineingedrängt. Der Straßburger Prediger Johannes Geiler von Kaysersberg fasste die Situation durchaus treffend zusammen, wenn er bemerkte: Es ist etlicher meynung unser frouwen werck und die stat sig ein ding. 43 Angesichts der engen Entscheidungsspielräume der Kirchenmeister repräsentierten diese folglich die herrschenden politischen Verhältnisse in der Stadt. Die Ordnung, die die Kirchenmeister und ihnen nachgeordnet beispielsweise die Küster und andere Angestellte umsetzten, entsprach den Wertvorstellungen der führenden Schicht der jeweiligen Stadt. 40 Zu Wesel siehe Stadtarchiv Wesel (StadtA Wesel) A3/ 3 fol. 29r, A3/ 11 fol. 15v, fol. 93v, fol. 102r, A3/ 12 fol. 39r, A3/ 13 fol. 14v, Archiv Evangelische Kirche Wesel (AEK Wesel) Gefach 37,4, S. 847. 41 P LEIMES , Stiftungsrecht (wie Anm. 17), 167-169. 42 Allgemein zum Eid der Kirchenmeister A LFRED S CHULTZE , Stadtgemeinde und Kirche im Mittelalter, in: Festgabe für Rudolf Sohm, München / Leipzig 1914, 103-142, bes. 129-132; kurz S CHRÖ- CKER , Kirchenpflegschaft (wie Anm. 5), 100f.; zu den Eidesformeln A RMIN W OLF , Gesetzgebung und Stadtverfassung. Typologie und Begriffssprache mittelalterlicher städtischer Gesetze am Beispiel Frankfurts am Main, Frankfurt a. M. 1968, 20; zu den von den Kirchenmeistern in Tirol abzulegenden Eiden F RANZ G RASS , Pfarrei und Gemeinde im Spiegel der Weistümer Tirols, Innsbruck 1950, 126; zu den im Elsass gebräuchlichen Eidformeln L UCIAN P FLEGER , Untersuchungen zur Geschichte des Pfarrei-Instituts im Elsass III: Die Einkommensquellen, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 8 (1933), 1-118, hier: 15f.; zu Frankfurt am Main W OLFRAM H EITZENRÖDER , Reichsstädte und Kirche in der Wetterau. Der Einfluss des städtischen Rats auf die geistlichen Institute vor der Reformation, Frankfurt a. M. 1982, 169f.; zu Freiburg siehe M ERKEL , Münsterpfleger (wie Anm. 11), 128; P ETER P AUL A LBERT , Ordnungen und Satzungen der Münsterkirche. 2. Dienstanweisungen und Bestallungen, in: Freiburger Münsterblätter 1 (1905), 83-90, hier 84f.; Eid der Würzburger Kirchenmeister: K ARL T RÜDINGER , Stadt und Kirche im spätmittelalterlichen Würzburg, Stuttgart 1978, 106, Anm. 18; zu St. Gallen: E RNST Z IEGLER , Kirchenpfleger und Kirchenamt. Bemerkungen zur Verwaltungs- und Archivgeschichte der Stadt St. Gallen im Spätmittelalter, in: Churrätisches und St. gallisches Mittelalter. Festschrift Otto P. Clavadetscher, H ELMUT M AURER (Hrsg.), Sigmaringen 1984, 237-256, hier 242. 43 J OHANNES G EILER VON K AYSERSBERG . Sämtliche Werke, Erster Teil: Die Deutschen Schriften, Abt. 1, Bd. 1, G ERHARD B AUER (Hrsg.), Berlin / New York 1989, 181; hierzu kurz U WE I SRAEL , Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510), Berlin 1997, 237f. <?page no="217"?> Arnd Reitemeier 218 5. Einbindung der Kirchenmeister in die Netzwerke der Stadt Das wichtigste Bindeglied der städtischen Gesellschaft im Mittelalter war die Verwandtschaft. Viele Kirchenmeister stammten aus einer Ratsfamilie bzw. einer ratsfähigen Familie oder sie waren direkt oder indirekt mit einer Ratsfamilie verwandt. 44 Nur selten aber übernahmen Ratsherren die Verantwortung für die Kirchenfabrik. Im Allgemeinen wurden Personen zu Kirchenmeistern gewählt, die sonst eher in der zweiten Reihe standen. Bei manchen handelte es sich um jüngere Söhne von Ratsherren; andere hatten in Ratsfamilien hineingeheiratet. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts lässt sich in manchen Städten nachweisen, dass Personen ohne entsprechende verwandtschaftliche Beziehungen und vorwiegend wegen ihrer administrativen Erfahrung in das Amt berufen wurden. Nicht nur verwandtschaftlich, sondern auch durch die Zugehörigkeit zu Bruderschaften und Gilden waren die Kirchenmeister in die sozialen Strukturen der Stadt eingebunden. Leider sind nur aus sehr wenigen Städten vollständige Verzeichnisse von Bruderschaften oder Gilden überliefert, die mit den Listen der Kirchenmeister korrelierbar sind. Im Fall einer entsprechenden Überlieferungssituation ist es aber durchaus möglich, Kirchenmeister als Mitglieder von Bruderschaften oder Gilden nachzuweisen. 45 6. Beweggründe für die Übernahme eines Amts Prinzipiell gab es drei Gründe, die einen Kaufmann zur Übernahme eines Amtes zusätzlich zu seinen ökonomischen Verpflichtungen bewegen konnten. Die Übernahme der Kirchenfabrik eröffnete erstens die Möglichkeit des politisch-sozialen Aufstiegs. Das Amt war zweitens mit sozialem Prestige verbunden. Drittens konnten religiöse Gründe zur Übernahme des Amts verleiten. Die Verwaltung der Kirchenfabrik konnte einen politisch-sozialen Aufstieg nach sich ziehen. In Hamburg wurden viele Bürger der Stadt erst nach ihrer Tätigkeit als Kirchenmeister in den Rat berufen. 46 Vereinzelt lässt sich dies auch in anderen Städten nachweisen: In Wesel setzte sich der Kaufmann Hermann Saelen zu Beginn des 15. Jahrhunderts sehr für den Bau der Stadtpfarrkirche von St. Willibrord ein und investierte dabei erhebliche Summen. Obwohl er ein Vermögen erwirtschaftet hatte, war ihm der Auf- 44 Ausführlich R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 108-116 und 118-121. 45 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 387-390. 46 R AINER P OSTEL , Die Reformation in Hamburg 1517-1528, Gütersloh 1986, 57-59 mit Anhang 3; siehe auch Die Goldschmiede Hamburgs, E RICH S CHLIEMANN (Hrsg.), 3 Bde., Hamburg 1985, hier Bd. II, 18-39. <?page no="218"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche 219 stieg in die führenden Familien der Stadt Wesel verwehrt geblieben. 47 Als der Rat 1498 die Erweiterung der Altstadtkirche beschloss, war die Umsetzung nur möglich, wenn ein Kirchenmeister bereit war, die Organisation und die Finanzlast zu übernehmen. Herman Saelen nahm beide Belastungen auf sich und wurde schließlich 1501 in den Rat der Stadt aufgenommen. 48 Ein zweiter Grund lag in dem mit dem Amt verbundenen Prestige, das teils aus der exponierten Stellung und teils aus der sozialen wie ökonomischen Verantwortung resultierte. Die Kirchenmeister standen für die „gute Ordnung“ in der Kirche, die das wichtigste und repräsentativste Gebäude der Stadt war. Sie saßen an prominenter Stelle in der Kirche; sie standen Sonntags an den Eingängen der Pfarrkirche; sie gingen an bedeutender Stelle in vielen Prozessionen mit. Das Amt war zeitaufwändig, aber mit erheblichem Prestige verbunden. Drittens ergab sich aus der Verantwortung der Kirchenmeister eine erhebliche ökonomische Macht: Die Kirchenmeister wachten über das größte Gebäude der Stadt und waren folglich für viele Aufträge an lokale Handwerker zuständig. Sie verwalteten einen der größten Fonds der Stadt und waren daher einflussreich, erst recht, als sie nur bei größeren und nicht bei jedem kleinen Auftrag die Genehmigung des Rates benötigten. Geschenke waren in der mittelalterlichen Stadt ein Zeichen von zentraler Bedeutung, um beispielsweise Abhängigkeiten oder Zugehörigkeiten auszudrücken. 49 Die Ausgaben der Kirchenmeister für Geschenke zeigen, dass für sie drei Gruppen wichtig waren: die Mitglieder der politisch wie sozial führenden Schicht, die Mitarbeiter und die bedeutenden Handwerker. 50 Aufträge für Dachdecker, Maurer und Steinmetze wurden jeweils an diejenigen vergeben, die entweder die Ältesten am Ort waren oder die der entsprechenden Gilde oder Zunft vorstanden. Besonders wichtig waren Spezialisten wie Orgelmeister oder Glockengießer, so dass die Kirchenmeister diese manchmal besonders reich beschenkten. Die Krämer, von denen die Kirchenfabrik beispielsweise Wein oder Lampenöl bezog, wurden dagegen ausweislich der Kirchenrechnungen nicht bedacht und folglich als vergleichsweise unwichtig angesehen. 47 Vgl. StadtA Wesel A3/ 8 fol. 35r. Siehe auch J UTTA P RIEUR , Das Leiden Christi. Mäzenatentum und Frömmigkeit im Geist der Devotio Moderna, in: Jerusalem in Wesel, J UTTA P RIEUR / R EINHARD K ARRENBROCK / H OLGER K EMPKENS (Hrsg.), Wesel 1998, 8-43, hier 9-12. 48 StadtA Wesel A3/ 8 fol. 35r, A3/ 10 fol. 6v, fol. 16r, vgl. StadtA Wesel A3/ 8 fol. 7r. Zum Zusammenhang zwischen der Kalvarienbergstiftung und der Ernennung zum Kirchenmeister siehe P RIEUR , Leiden (wie Anm. 47), 9. 49 Zu Geschenken in der Stadt des Mittelalters: V ALENTIN G ROEBNER , Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993, 141f. und 166f., sowie D ERS ., Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000. 50 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 488f. <?page no="219"?> Arnd Reitemeier 220 Viertens standen die Kirchenmeister einer Institution von integrativer Bedeutung für das Zusammenleben in der Stadt vor. 51 In ihrer Verantwortung lag beispielsweise die Kontrolle über den Zugang zu den Reliquien und zum Sakrament und damit zum wichtigsten Besitz der Stadt. 52 Als es in Nürnberg bei einer Kindsgeburt zu Komplikationen kam, ermöglichte der Kirchenmeister der Pfarrkirche St. Sebald der Gebärenden, das Haupt des Hl. Sebald, des Nürnberger Stadtpatrons, zu berühren. 53 Schließlich war die religiöse Überzeugung ein entscheidendes Motiv zur Übernahme des Amtes. So empfand es der Kirchenmeister von St. Sebald in Nürnberg als Höhepunkt seines Lebens, dass er bei der Öffnung des Schreins des Heiligen der Stadt anwesend sein durfte. 54 Zugleich waren alle Kirchenmeister davon überzeugt, dass ihre Tätigkeit ihrem Seelenheil zugute kam. Dies äußerte sich zum einen im zeitlichen Aufwand, den sie für ihr Amt erbrachten. 55 Ebenso wichtig war ihr finanzielles Engagement, das sich nur teilweise aus den Rechnungsbüchern erkennen lässt und mitunter sehr substantiell war: Als der Bamberger Kirchenmeister Thomas Rockenbach während seiner Amtszeit verstarb, musste die Witwe einen Rechtsstreit mit dem Rat der Stadt führen, um für die mehreren hundert Gulden entschädigt zu werden, die ihr Ehemann aus seinem Privatvermögen unter anderem für die Orgel, für neue Ornate und für ein silbernes Kreuz ausgegeben hatte. 56 Nicht von ungefähr gehörten die Kirchenmeister zu den wichtigsten Stiftern von Anniversarien sowie von Ausstattungsgegenständen. 57 Insbesondere Kirchenmeister im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts stifteten Kapellen oder finanzierten mehr oder weniger umfangreiche bauliche Veränderungen an der Kirche. 58 Hierzu gehörten beispielsweise die Schlusssteine der Gewölbe der Kreuzkirche in Dresden. 59 In Anbetracht der umfangreichen Summen, insbesondere im Fall von Bauarbeiten, können keine Zweifel daran bestehen, dass sich die Kirchenmeister etwa 51 Vgl. H ARTMUT B OOCKMANN , Bürgerkirchen im späteren Mittelalter, Antrittsvorlesung Humboldt- Universität 1992, Berlin 1992, 11-13. 52 Vgl. J ÖRG O BERSTE , Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters. Bd. 1: Städtische Eliten in der Kirche des hohen Mittelalters, Bd. 2: Städtische Eliten in Toulouse, Köln / Weimar / Wien 2003, hier Bd. 1, 22. 53 T HEODOR H AMPE , Sebald Schreyer vornehmlich als Kirchenmeister von St. Sebald, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 28 (1928), 155-207, hier: 175f. 54 C AESAR S CHREYER (wie Anm. 28), 103 und 116-148, Bericht Schreyers ediert ebd., 173-179. 55 Zum zeitlichen Aufwand und zur Delegation von Aufgaben R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 576-581. 56 B AUMGÄRTEL -F LEISCHMANN , Rockenbach (wie Anm. 11), bes. 175, siehe auch 242-248. 57 Ausführlich B RIGITTE P OHL -R ESL , Rechnen mit der Ewigkeit. Das Wiener Bürgerspital im Mittelalter, München 1996, 35; vgl. zu Livland K UUJO , Stellung (wie Anm. 35), 192f. 58 A NTJE G REWOLLS , Die Kapellen der norddeutschen Kirchen im Mittelalter, Kiel 1999, 165f. 59 Zu Dresden O TTO R ICHTER , Verwaltungsgeschichte der Stadt Dresden, 2 Abt., davon 2. Abt. in 2 Bänden, Dresden 1885-1891, hier Bd. 2.2, 280. <?page no="220"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche 221 mit der Erweiterung der Pfarrkirche eine Art steinerne Erinnerung schufen. 60 Es lässt sich allerdings nicht entscheiden, ob sie mit gutem Beispiel vorangingen oder ob ihre Schenkungen in den Quellen lediglich besser erschließbar sind. 61 Mehr noch als andere identifizierten sich also die Kirchenmeister mit der Pfarrkirche. Hinzu kamen individuelle Motive: Einzelne wie Sebald Schreyer in Nürnberg gaben große Summen an die Kirche, da sie keine Kinder hatten. 62 Ein indirektes Ziel verfolgte dagegen der bereits genannte Weseler Kaufmann Hermann Saelen: Seit 1490 versuchte er vor der Stadt einen Kalvarienberg mit eigener Kapelle zu errichten, was ihm bislang stets vom Kloster Oberndorf verwehrt worden war, das das Patronat für die Stadt und die Umgebung innehatte. Erst nach seinem Engagement für St. Willibrord konnte das Kloster von der Lauterkeit Saelens überzeugt werden. 63 Hermann Saelen verband also politische, soziale und religiöse Motive mit persönlichen Interessen. Weitere - insbesondere prosopographische - Forschungen sind notwendig, um zu klären, wie häufig sich auch anderswo reiche Bürger aus ähnlichen Beweggründen engagierten. Von großer Bedeutung war schließlich die Memoria. Dies konnte die persönliche Memoria zugunsten der Familie des Kirchenmeisters ebenso umfassen wie die Memoria zugunsten der führenden Geschlechter der Stadt, deren Angehörige in den Kirchen beigesetzt waren. 64 Die Kirchenmeister waren, wie dargestellt, für die korrekte Umsetzung der Stiftungsverpflichtungen und damit zugleich für das Angedenken an die Verstorbenen zuständig. Sie bewahrten die Erinnerung und sorgten für die notwendigen Fürbitten. Letztlich waren die Kirchenmeister die Garanten eines wesentlichen Teils der Memoria der führenden Familien der Stadt. Ihnen kam damit eine wichtige Funktion innerhalb des Netzwerks der führenden Familien der Stadt zu. Dies galt auch ganz direkt, denn viele Kirchenmeister bezahlten einen Teil der an der Pfarrkirche tätigen Kleriker. 65 In den meisten städti- 60 Vgl. O TTO G ERHARD O EXLE , Die Gegenwart der Toten, in: Death in the Middle Ages, H ERMAN B RAET / W ERNER V ERBEKE (Hrsg.), Leuven 1983, 19-77, hier 46-48. 61 P OHL -R ESL , Ewigkeit (wie Anm. 58), 115. 62 Zu diesem Aspekt bei den Stiftungen Schreyers E LISABETH V AVRA , Pro remedio animae - Motivation oder leere Formel. Überlegungen zur Stiftung religiöser Kunstobjekte, in: Materielle Kultur (wie Anm. 4), 123-156, hier 139. 63 Ausführlich P RIEUR , Leiden (wie Anm. 47), 9f. und 25-30; hierzu auch W ERNER A RAND , Pulcherrimae devotionis monumentum, in: 550 Jahre St. Martini, D ERS . (Hrsg.), Wesel 1986, 72-85, hier 72, sowie R EINHARD K ARRENBROCK , Die steinerne Kreuzigungsgruppe des Weseler Kalvarienberges - heute in Dinslaken, in: P RIEUR / K ARRENBROCK / K EMPKENS , Jerusalem in Wesel (wie Anm. 48), 44-87, hier 45f. 64 Zum Begriff der Memoria grundlegend O EXLE , Gegenwart (wie Anm. 61), 25f., sowie DERS ., Memoria als Kultur, in: Memoria als Kultur, D ERS . (Hrsg.), Göttingen 1995, 9-78, bes. 33f.; zu den Kirchenfabriken R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 2), 361-380. 65 R EITEMEIER , Pfarrkirchen (wie Anm. 5), 556-563. <?page no="221"?> Arnd Reitemeier 222 schen Pfarrkirchen gab es eine Vielzahl an Vikaren, deren Pfründen am Ende des Mittelalters inflationsbedingt mehr oder weniger kärglich waren. 66 Für sie bedeuteten die von den Kirchenmeistern verwalteten Anniversarien und weiteren Stiftungen ein zweites regelmäßiges Einkommen. Wird berücksichtigt, dass viele Vikare aus den bedeutenden Familien der jeweiligen Stadt stammten, so fungierte die Kirchenfabrik wie eine Art Katalysator, denn die Seelmessen zugunsten der Verstorbenen wurden von Mitgliedern derselben sozialen Schicht gelesen, aus der die Mehrzahl der Verstorbenen kam. 67 7. Zusammenfassung Die Kirchenmeister waren dem erweiterten, teilweise auch dem unmittelbaren Kreis der herrschenden politischen Familien und damit den Begüterten der Stadt zuzurechnen. Einigen wenigen in das Amt Gewählten gelang ein sozialer Aufstieg, den sie entweder ihren Fähigkeiten oder neu geknüpften verwandtschaftlichen Beziehungen oder ihrem erwirtschafteten Reichtum verdankten. Die Kirchenfabrik war personell wie politisch ein Element städtischer Herrschaft, so dass die Kirchenmeister für die herrschenden politischen Verhältnisse in der Stadt standen. Dies erklärt, warum die Kirchenmeister selbständig keine Entscheidungen trafen, die das soziale Gefüge der Stadt berührten. Wegen der engen Anbindung an den Rat war die Kirchenfabrik nur nominell eine Institution der gesamten Stadt, in erster Linie aber eine Institution unter dem Einfluss der mächtigen Familien. Der Rat aller Städte fühlte sich jedoch dem bonum commune verpflichtet, so dass er seine Aufsichtsfunktion ausüben musste, wollte er nicht den gemein nutzen gefährden. 68 Damit war ein gewinnorientiertes Wirtschaften für die Kirchen- 66 Allgemein H ANS E RICH F EINE , Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. I: Die Katholische Kirche, 2. Aufl. Weimar 1954, 407f.; zu den Kaplänen in Nürnberg H ARTMUT B OOCKMANN , Obrigkeitliche Bindungen von Pfründen und Kirchenvermögen im spätmittelalterlichen und reformatorischen Nürnberg, in: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, B ERND M OELLER (Hrsg.), Heidelberg 1998, 371-380, 376; A LBERT G ÜMBEL , Das Mesnerpflichtbuch von St. Lorenz in Nürnberg vom Jahre 1493, München 1928, 11; zu Leutpriestern ausführlich S ABINE A REND , Zwischen Bischof und Gemeinde: Pfarrbenefizien im Bistum Konstanz vor der Reformation, Leinfelden-Echterdingen 2003, 72f. mit weiterführender Literatur; siehe auch W OLFGANG M ÜLLER , Die Kaplaneistiftung (praebenda sine cura) als spätmittelalterliche Institution, in: Von Konstanz nach Trient. Festschrift August Franzen, R EMIGIUS B ÄUMER (Hrsg.), München u. a. 1972, 301-315, bes. 308-314; E MMA K ATZ , Mittelalterliche Altarpfründen der Diözese Bremen im Gebiet westlich der Elbe, in: Bremisches Jahrbuch 30 (1926), 1-160; grundlegend 10f., zum Chordienst ebd., 74f.; siehe auch K ARL F RÖLICH , Die Rechtsform der mittelalterlichen Altarpfründen in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 20 (1931), 457-544. 67 Siehe insbesondere G EORG M ATTHAEI , Die Vikariestiftungen der Lüneburger Stadtkirche im Mittelalter und im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1928. 68 G ERHARD F OUQUET , Die Affäre Niklas Muffel, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83 (1996), 459-500, hier 481f.; P AUL S ANDER , Die Reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, Leipzig 1902, 98-101; H ANS M ITTAG , Zur Struktur des Haushalts der Stadt Hamburg im <?page no="222"?> Kaufleute als Verwalter der Kirche 223 meister unwichtig. Wesentlich war der Erhalt der ökonomischen Werte zugunsten der langfristigen Aufgaben. Dies erklärt, warum die Kirchenmeister keine Risiken eingingen und nicht profitorientiert wirtschafteten, sondern sich auf den Erhalt der Finanzen beschränkten. Zugleich kam es dem Rat auch nur bedingt darauf an, die Finanzen detailliert nachzuprüfen. Eine zu ausführliche Kontrolle barg das Risiko einer abnehmenden Bereitschaft der Kirchenmeister, ihr eigenes Geld einzusetzen. Außerdem bestand die Gefahr eines sich verändernden Amtsverständnisses, wonach die Kirchenmeister ihr Amt dann weniger als Ehre sondern mehr als Tätigkeit verstanden, für die sie eine Entlohnung verlangen konnten. Schließlich war eine exakte und detaillierte Überprüfung unüblich, denn die Finanzen der Stadt gehörten zu den am besten gehüteten Geheimnissen der städtischen Amtsträger. Bei der Rechnungslegung der Kirchenmeister war somit die Korrektheit der Finanzen nur bedingt von ausschlaggebender Bedeutung. Entscheidend war die Qualität der Amtsführung zugunsten der von der politischen Elite vertretenen Ziele. Die Verwaltung der Kirchenfabrik war daher ohne die Integration der Amtsträger in die sozialen und politischen Netzwerke der Stadt nicht denkbar. Die Kirchenfabrik bildete somit die Schnittmenge zwischen der kirchlichen auf der einen und der politisch-sozialen Ordnung auf der anderen Seite. Mittelalter, Leipzig 1914, 14-18; B ERNHARD K IRCHGÄSSNER , Zur Frühgeschichte des modernen Haushalts. Vor allem nach den Quellen der Reichsstädte Esslingen und Konstanz, in: Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen, E RICH M ASCHKE / J ÜRGEN S YDOW (Hrsg.), Sigmaringen 1977, 9- 44, hier 20 und 38; A NDREAS R ANFT , Der Basishaushalt der Reichsstadt Lüneburg in der Mitte des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1987, 262-264; zum Begriff des gemein nutzen H ANS -C HRISTOPH R UBLACK , Grundwerte in der Reichsstadt im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, H ORST B RUNNER (Hrsg.), Göppingen 1982, 9-36, hier 20f.; P ETER H IBST , Utilitas Publica - Gemeiner Nutz - Gemeinwohl. Untersuchungen zur Idee eines politischen Leitbegriffs von der Antike bis zum späten Mittelalter, Frankfurt a. M. / Bern / New York / Paris 1991, bes. 223f.; W INFRIED E BER- HARD , Kommunalismus und Gemeinnutz im 13. Jahrhundert. Zur Ausbildung einer Stadträson und ihrer Bedeutung in der Konfrontation mit der Geistlichkeit, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift Karl Bosl, F ERDINAND S EIBT (Hrsg.), München 1988, Bd. 1, 271-294, hier 271f. <?page no="224"?> 3. Informationen und mediale Wandlungsprozesse <?page no="226"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert Cecilie Hollberg Venedig, die geheimnisvolle Lagunenstadt und mächtige Republik, auch Serenissima, die Heiterste, genannt, zieht seit Jahrhunderten viele Deutsche in den Bann: Reisende, Kaufleute, Handwerker, Pilger sowie Künstler und zahlreiche Handelsgesellschaften leisteten sich dort eine Niederlassung. Die Lagunenstadt galt den süddeutschen Kaufleuten als die hohe Handelsschule, 1 in die viele ihre Söhne zur Ausbildung schickten. Das vom Import abhängige Venedig zählte im 15. Jahrhundert etwa 100-110.000 Einwohner, 2 unter denen sich die Anzahl der Deutschen wohl auf einige Tausend schätzen lässt. 3 Die Stärke der politisch selbständigen Republik, in der Waren und Kulturen aus Orient und Okzident aufeinander trafen, basierte auf der Seefahrt und dem Handel im Mittelmeer. In Ermangelung eigener Rohstoffe war beides zu einem einzigartigen Monopol verknüpft worden, über das aus Notwendigkeit eifersüchtig gewacht wurde. Durch eine umsichtige Wirtschafts-, Handels- und Machtpolitik erlangte die Republik eine über Jahrhunderte währende Stabilität. Zweimal im Jahr liefen die großen Handelskonvois aus, um Waren aus der Levante, England und Flandern einzuholen und sie am Rialto zu Markte zu tragen. Fremde Kaufleute unterlagen einer ausgesprochen strengen Kontrolle, so dass ihnen eine Reise nach Venedig mit dem Handelsschiff untersagt war, wobei ein eigenständiges Passieren der Lagune ohnedies unmöglich gewesen wäre. Zugleich wusste die Republik aber auch geschickt ihre Handelspartner an sich zu binden, da sie auf die fremden Abnehmer angewiesen war. Deutsche, das heißt vor allem oberbzw. südwestdeutsche, 4 Kaufleute brachten Metalle, Pelze, Leder, Manufakturerzeugnisse oder grobe Leinenstoffe auf dem Landweg nach Venedig und führten als Rückfracht levantinische Gewürze, edle Stoffe und Luxusgüter in 1 A LOYS S CHULTE , Geschichte der großen Ravensburger Handelsgesellschaft (1380-1530), 3 Bde., Stuttgart / Berlin 1923, Bd. 1, 140. 2 J ULIUS B ELOCH , La popolazione di Venezia nei secoli XVI e XVII, in: Nuovo Archivio Veneto N. S. 3 (1902), 1-49, hier 40 und 49; R EINHOLD C. M UELLER , Aspetti sociali ed economici della peste a Venezia nel medioevo, in: Venezia e la peste 1348-1797, Comune di Venezia - Assessorato alla Cultura e Belle Arti (Hrsg.), Venedig 1979, 71-92, hier 72, gibt 110-120.000 an. 3 Zu den Deutschen in Venedig siehe C ECILIE H OLLBERG , Deutsche in Venedig im späten Mittelalter. Eine Untersuchung von Testamenten aus dem 15. Jahrhundert, Göttingen 2005. 4 Die nord- und nordwestdeutschen Städte zählten meist (eine Ausnahme bildete wohl Lübeck) - schon wegen der Entfernungen - zum Handelsraum der Hanse. <?page no="227"?> Cecilie Hollberg 228 die eigene Heimat zurück. 5 Beeindruckend belegt noch heute der so genannte fondaco dei Tedeschi, das Kaufhaus der Deutschen (Abb.) - derzeitig die Hauptpost der Stadt - die besondere Bedeutung der Deutschen am Ort. Keine andere Nation besaß zu so früher Zeit, nämlich seit dem 13. Jahrhundert, ein entsprechendes Gebäude und zudem in einer derart exzellenten Lage am Canale Grande direkt am Rialto, dem Handelszentrum der Stadt und zugleich Knotenpunkt des europäischen Handels. Der fondaco war auf Kosten der Republik errichtet und nach zwei verheerenden Bränden wiederaufgebaut worden. 6 Er diente den deutschen Kaufleuten als Wohn-, Lager- und Handelshaus und war ihre feste Adresse in der Stadt. Hier mussten sie direkt nach ihrer Ankunft absteigen, ihre Waren lagern und ihre Waffen abgeben. Nur hier durften sie im Beisein venezianischer Makler mit Venezianern ihre Geschäfte treiben, damit der Republik nicht die wichtigen und lukrativen Abgaben und Zölle entgingen. 7 Als Gegenleistung bekamen die wertvollen deutschen Kunden Privilegien eingeräumt, denn kein venezianischer Händler durfte Waren nach Deutschland führen; dies blieb das ausschließliche Recht der Deutschen. 8 Am fondaco standen jederzeit Träger und Ballenbinder, Blei-Anleger, Packer, Fährleute sowie Barkenführer oder Waagmeister bereit. 9 Vor allem aber mussten sich die im fondaco wohnenden Deutschen ihre Kunden nicht selber suchen, da diejenigen, die deutsche Waren begehrten, zu ihnen kamen. Im fondaco befand sich eine Taverne, die mit zollfreiem Wein 10 zu günstigen Preisen und in großen Mengen beliefert wurde, denn man kannte die Vorliebe der Deutschen für dieses Getränk und 5 Vgl. A LEXANDER D IETZ , Frankfurter Handelsgeschichte, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1910, Bd. 1, 275 und H ENRY S IMONSFELD , Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig, 2 Bde., Stuttgart 1887, Bd. 2, 103- 106. 6 P IETRO P AOLETTI DI O SVALDO , L’Architettura e la scultura del Rinascimento in Venezia, Venedig 1893, vol. 2, parte seconda, 282. 7 S IMONSFELD , Der Fondaco (wie Anm. 5), Bd. 2, 30. Siehe auch G EORG M ARTIN T HOMAS , Einleitung, in: G IOVANNI B ARTOLOMEO M ILESIO , Beschreibung des deutschen Hauses in Venedig, G E- ORG M ARTIN T HOMAS (Hrsg.), München 1881, 13, dort wird für das Jahr 1470 - nach einem Brief des Senators Paolo Morosini aus dem 17. Jahrhundert - das im fondaco gehandelte Geschäftsvolumen auf eine Million Dukaten beziffert. Milesio führt auf, dass die deutschen Kaufleute in Mailand im Jahre 1514 von der Pflicht der Einquartierung befreit worden seien. Vgl. H EINRICH V. S AUERLAND , Zu den Mailänder Privilegien für die deutschen Kaufleute, in: Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken 5 (1903), 269-273, hier 270. 8 Quod mercatores Venetiarum non vadant cum mercancijs in Alemania. Zitiert nach einem Beschluss des Maggior Consiglio von 1278, vgl. G EORG M ARTIN T HOMAS , Die ältesten Verordnungen der Venezianer für auswärtige Angelegenheiten, München 1873, 42. 9 T HOMAS , Einleitung (wie Anm. 7), 2; S IMONSFELD , Der Fondaco (wie Anm. 5), Bd. 2, 19. 10 W ILHELM H EYD , Das Haus der deutschen Kaufleute in Venedig, in: Historische Zeitschrift 32 (1874), 201. <?page no="228"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 229 schätzte offensichtlich auch dessen umfänglichen Absatz - zumindest aus finanzieller Sicht. 11 In den zahlreichen Untersuchungen zum venezianischen Handel liegt der Schwerpunkt zumeist auf den Handelsbeziehungen zu anderen Ländern im großen Rahmen oder auf wirtschaftspolitischen Eroberungen. 12 Wie aber sah das konkrete Treiben an der Rialtobrücke aus, wie verliefen die alltäglichen Verhandlungen? Gerade der Alltag der Kaufleute, ihr Umgang miteinander, sowie deren geschäftliche und persönliche Beziehungen und Interessen werden immer wieder vernachlässigt. Einigen Aufschluss hierüber gibt uns das seit über 100 Jahren bekannte Sprachlehrbuch des maistro zorzi, welches den Alltag detailliert und lebendig schildert. 13 Abb.: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig. Photo: Cecilie Hollberg 11 S IMONSFELD , Der Fondaco (wie Anm. 5), Bd. 1, 77, Nr. 185 a: 1360 wurde ein Straferlass für einen Pächter der Schänke im Fondaco beantragt, weil er dieselbe auf Wunsch der deutschen Kaufleute länger offen gelassen hatte, als er durfte. 12 Grundlegend hierzu unter anderen: H EINRICH K RETSCHMAYR , Geschichte von Venedig, 2 Bde., Gotha 1920, W ILHELM H EYD , Geschichte des Levantehandels im Mittelalter, 2 Bde., Stuttgart 1879. 13 Ausführlicher hierzu C ECILIE H OLLBERG , Handelsalltag und Spracherwerb im Venedig des 15. Jahrhunderts. Das älteste deutsch-italienische Sprachlehrbuch, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 773-791. <?page no="229"?> Cecilie Hollberg 230 1. Aufbau und Inhalt des Sprachlehrbuches von maistro zorzi Das älteste und erste als solches deklarierte italienisch-deutsche Sprachbuch stammt aus dem 15. Jahrhundert. Es ist nicht nur von linguistischem Wert, sondern wegen der darin enthaltenen Handelsdialoge eine einmalige Quelle zur Mentalitätsgeschichte. Die Dialoge, mit Hilfe derer die Kaufleute die deutsche Sprache nach der Ganzsatzmethode lernen sollen, bieten dem späteren Leser einen reichen und einzigartigen Fundus von hilfreichen Informationen zum vermeintlich Selbstverständlichen: dem Alltag des mittelalterlichen Handels zwischen Venezianern und Deutschen. 14 Das Sprachbuch, der so genannte liber in volgaro, 15 liegt in zwei Abschriften desselben italienischen Schreibers vor: Codex 261 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München 16 und Codex 12514 in der Österreichischen Nationalbibliothek. 17 Auf letzterem basiert diese Untersuchung. Der Text ist zweisprachig und dabei vorwiegend in zwei Kolumnen eingeteilt: Links finden wir meist den italienischen (venezianischen) Text und in der rechten Spalte die deutsche (bzw. augsburgische) 18 Übersetzung. Verfasser der Handschrift ist nach Angaben des Textes ein gewisser Meister Georg (maistro zorzi) aus Nürnberg, über dessen Identität nichts weiter bekannt ist. Vermutlich beruht die in das Jahr 1424 zu datierende Handschrift 19 auf Unterrichtsmitschriften. 20 Das Sprachlehrbuch lässt sich in drei Teile gliedern, von denen der erste vorwiegend aus sachlich geordneten Auflistungen von Wörtern und Sentenzen besteht. Vokabeln zu Essen und Handel nehmen hierbei den meisten Raum ein. Während als zweites ein grammatikalischer Teil folgt, gibt der dritte Teil Dialoge wieder, von denen die ersten beiden in sich geschlossene Handelsgespräche darstellen. Handelspartner sind ein deutscher Kaufmann aus Schwaben und der Venezianer Bartolamio. Handlungsort, an dem der 14 H ENRY S IMONSFELD , Italienisch-deutsche Reise-Sprachführer aus alter Zeit, in: Das Ausland 66/ 27 (1893), 417-424, hat sich als erster damit befasst, in seinem Artikel gibt er allerdings nur den Inhalt wieder, geht jedoch nicht auf Einzelheiten ein. P OUL H ØYBYE , Glossari italiano-tedeschi del Quattrocento. Maistro Zorzi, in: Studi di Filologia Italiana (Bollettino Annuale dell'Accademia della Crusca), Firenze 22 (1904), 167-204 hat eine kritische Edition des Codex 261 herausgegeben. Oskar Pausch hat in: Das älteste italienisch-deutsche Sprachbuch, O SKAR P AUSCH (Hrsg.) Wien / Köln / Graz, 1972, 27, eine kommentierte Ausgabe herausgegeben, die sich jedoch vorwiegend mit der sprachlichen Seite des Textes befasst. Die im Folgenden jeweils in Klammern aufgeführten Folioangaben beziehen sich auf diese Edition. Eine erste ausführliche wirtschafts- und sozialhistorische Untersuchung hierzu findet sich bei H OLLBERG , Handelsalltag (wie Anm. 13). 15 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14). 16 H ØYBYE , Glossari (wie Anm. 14). 17 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), 98. 18 M ARTINA B LUSCH , Ein italienisch-deutsches Sprachlehrbuch des 15. Jahrhunderts. Edition der Handschrift Universitätsbibliothek Heidelberg Pal. Germ. 657 und räumlich-zeitliche Einordnung des deutschen Textes, Frankfurt a. M. 1992, 302. 19 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), 27. 20 A LDA B ART -R OSSEBASTIANO , Vocabolari Veneto-Tedeschi del secolo XV, Savigliano 1983, II. <?page no="230"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 231 Dialog beginnt, ist der so genannte staczen, ein Laden, in dem Verkaufsraum und Wohnung auf verschiedenen Etagen liegen, wobei in der unteren der Handel stattfindet. Der letzte Dialog des dritten Teils befasst sich mit dem Erlernen der deutschen Sprache und bietet einige brauchbare Begrüßungsformeln und Formulierungen für Kurzgespräche. Auffällig ist, dass das öffentliche Leben auf der Straße in den verschiedenen Handelsdialogen nicht thematisiert wird. Einziges Milieu, welches für den Kaufmann außerhalb der Geschäfte von Bedeutung zu sein scheint, ist offensichtlich das „Rotlichtviertel“. 2. Grundlagen des Handels Über Handel und Zölle wachten in Venedig die Visdomini, unter anderem die Visdomini al Fontego dei Tedeschi. Diese venezianischen Beamten hatten die oberste Kontrolle über das Kaufhaus der Deutschen und mussten darin im Wechsel jeweils einen Monat wohnen. 21 Der Aufsicht und Disziplinargewalt der Visdomini unterstanden wiederum die Consoli dei Mercanti, denen die Unterkäufel untergeordnet waren. Wichtigster Ansprechpartner für die deutschen Kaufleute war der jeweilige Unterkäufel, ein Makler, 22 der dafür zuständig war, Ein- und Verkäufe zwischen Venezianern und Deutschen zu vermitteln, um die Rechtsgültigkeit des Handels zu gewährleisten. 23 Aufgabe der Unterkäufel war es, Geschäfte zu vermitteln, den Visdomini schriftlich über Art, Preis und Ware Mitteilung zu machen und die Namen der Geschäftspartner zu melden. 24 Per Dekret mussten die Unterkäufel der deutschen Sprache mächtig sein und eine Dolmetscherfunktion einnehmen. 25 Gabella nannte sich die Warensteuer bzw. Gebühr, die der Kaufmann seinem Unterkäufel, der ihm vom Staat für zwei bis sechs Monate zugeteilt wurde, zahlen musste. 26 Mitte des 13. Jahrhunderts konnte er sowohl vom Käufer als auch vom Verkäufer 0,5 Prozent der verhandelten Ware verlan- 21 A NDREA D A M OSTO , L’Archivio di Stato di Venezia. Indice generale, storico, descrittivo ed analitico, Rom 1937, Bd. 1, 68; D ONALD Q UELLER , Il Patriziato veneziano, Rom 1987, 447. 22 H EYD , Das Haus der deutschen Kaufleute (wie Anm. 10), 212. Nach S IMONSFELD , Der Fondaco (wie Anm. 5), Bd. 2, 23 sind: Sensal, messeta, mezan, sanser Bezeichnungen für einen Makler oder Agenten. 23 G ÖTZ F RHR . VON P ÖLNITZ , Fugger und Medici, Leipzig 1942, 25. 24 Vgl. K ARL -E RNST L UPPRIAN , Il Fondaco dei Tedeschi e la sua funzione di controllo del commercio tedesco a Venezia, Venedig 1978, 1-20, hier 11-17. 25 Capitolare dei Visdomini del Fontego dei Todeschi in Venezia - Capitular des Deutschen Hauses in Venedig, G EORG M ARTIN T HOMAS (Hrsg.), Berlin 1874, 49, c. 130. L UPPRIAN , Il Fondaco dei Tedeschi (wie Anm. 24), 11, zählt die Dolmetscherfunktion nicht mit zu den Pflichten der Unterkäufel, sondern stellt fest, sie hätten nur teilweise als Dolmetscher fungiert, ebd., 5. 26 S IMONSFELD , Il Fondaco (wie Anm. 5), Bd. 2, 26; vgl. T HOMAS , Capitolare (wie Anm. 25), 53 c. 134; 108 c. 219, 158 c. 264. <?page no="231"?> Cecilie Hollberg 232 gen, so dass das Amt des Unterkäufels als begehrte Stelle und Sinekure angesehen wurde. 27 Bevor der Kaufmann die Stadt verließ, musste die Ware im fondaco abgefertigt, Zoll gezahlt, verplombt und gepackt werden. 28 Eine sorgfältige Verpackung der Waren war Voraussetzung für deren sicheren Transport, denn die Straßen waren unwegsam (fol. 86v), und die Ballen mussten häufig umgeladen werden. 29 3. Handelswaren und Qualitätsmerkmale Berücksichtigte Waren in den Dialogen sind, mit Ausnahme einer deutschen Ledertasche und dem Rohstoff Baumwolle (fol. 93r), ausschließlich Stoffe: Vom feinen Mischgewebe aus Baumwolle und Leinen, dem zarten Barchent, zum groben Leinen. Thematisiert werden deren Qualitäten, Transport und Lagerung, wobei der Text mehr Informationen über die italienischen als über die deutschen Waren bietet. Im Vokabelteil des Sprachlehrbuches findet sich eine umfangreiche Auflistung von Stoffsorten (fol. 7r und v), mit denen man in Venedig gehandelt hat. Dazu zählen feine Tuche wie Seide oder Gold-, Silber- und Scharlachtuche sowie diverse Qualitäten von Samt; zudem valessi, ein leichtes Tuch aus Hanf, Barchent (bocchassin, fustagno) und Leinwand. An die Sorten schließt sich eine Liste der Rohstoffe an, die zur Herstellung der genannten Tuche dienten: Flachs, Werg und Hanf. Begriffe wie Zwirn, Faden, Garn und gesponnenes Gold erweitern die technischen Kenntnisse. Im 14. und 15. Jahrhundert stieg der Export von Rohbaumwolle nach Süddeutschland, wo Webereien den Barchent nachahmten und damit zunehmend dem Mittelmeerraum Konkurrenz machten. 30 Rörig spricht von einer regelrechten „Sucht nach besonderer Qualitätsware“, die sich im Mittelalter nachweisen lasse. 31 Gerade in Venedig galten strenge Qualitätsmaßstäbe für die Größe der Stoffe, die Auswahl der Rohstoffe sowie die Zahl der Fäden von Kette und Schuss und die Färbemittel. Dadurch wurde zwar die 27 S IMONSFELD , Il Fondaco (wie Anm. 5), Bd. 2, 28. 28 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14.), fol. 96r, 6; vgl. auch T HOMAS , Capitolare (wie Anm. 25), 101, c. 210: Es war verboten, Ballen in Abwesenheit der sensali (vgl. Anm. 22) fertig zu binden, und sie mussten zuvor in ein Buch eingetragen werden: quaderni del officio ordenatamente tuto quello lo vora far ligar (1400). 29 Vgl. H ARTMUT B OOCKMANN , Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986, 94. 30 H ANS C ONRAD P EYER , Art. Barchent, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München / Zürich 1980, Sp. 1454. 31 F RITZ R ÖRIG , Wirtschaftskräfte im Mittelalter, Köln / Graz 1959, 361. <?page no="232"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 233 Produktion behindert, aber der hervorragende Ruf gleichzeitig gesichert. 32 Zu den weiteren Qualitätsmerkmalen zählten eine gute Verarbeitung (fol. 91v: geburckt), das heißt eine gleichmäßige Webart, 33 sowie die Breite des Stoffes - je breiter gewebt, desto besser. Bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts hat es Tuche in 60 verschiedenen Sorten, Farben und Mustern gegeben. 34 Es gab unterschiedliche Qualitäten, von denen manche durch Gütesiegel gekennzeichnet waren, wie zum Beispiel der fustagno dela corona, der Barchent mit der Krone. 35 Das obrigkeitliche Gütezeichen Venedigs für kontrollierte und akzeptierte Ware war der Markuslöwe. 36 4. Die Handelsdialoge (D) DIo te Salue Bortolamio got gruß dich bortholme (B) Omisier vuj sil ben uegnudo O herr ïr seit got wilchum Ele asay chio no(n) ue ho uezudo Ez ist lang daz ich euch nicht han gesehen [...] Vegni vui adesso dalamagna Chumt ïr ieczunt von deuczen landen (fol. 86r) Der erste Handelsdialog beginnt mit einer Begrüßung, die auf regelmäßige Handelskontakte schließen lässt, denn jeder der Akteure erkundigt sich interessiert nach den Belangen des anderen. Eine der ersten Fragen Bartolamios an den Deutschen ist, ob in deutschen Landen Frieden herrsche. Der deutsche Kaufmann bejaht, jedoch sei das Reisen nach wie vor riskant. Da Not und Seuchen direkte Auswirkungen auf Angebot und Preis hatten, interessieren Bartolamio bei seiner Frage ohne Zweifel die Auswirkungen der Zeitumstände auf seine potentiellen Kunden. Die Kaufleute bewerten die Not in 32 F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3, Aufbruch zur Weltwirtschaft, 3 Bde., München 1986, 142. 33 Vgl. B OOCKMANN , Die Stadt im späten Mittelalter (wie Anm. 29), 105. 34 W OLFGANG VON S TROMER , Tuchhandel im Spiegel oberdeutscher Handelsbücher, in: Produzione, commercio e consumo dei panni di lana, Atti della „Seconda settimana di studio”, Istituto internazionale di storia economica „F. Datini” Prato, M ARCO S PALLANZANI (Hrsg.), Firenze 1976, 325-340, hier 327. 35 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 86v, 23. Die Krone oder der Königskopf war eine Marke, die in Mailand verbreitet war. Da die Krone andererseits ein sehr häufig verwendetes Zeichen war, lässt sich die Herkunft der hier genannten Ware nicht mit Genauigkeit festlegen; vgl. dazu W OLF- GANG VON S TROMER , Die Gründung der Baumwollindustrie in Mitteleuropa, Stuttgart 1978, 160f. 36 V ON S TROMER , Gründung der Baumwollindustrie (wie Anm. 35), 148; vgl. zu den Markenzeichen auch S CHULTE , Ravensburger Handelsgesellschaft (wie Anm. 1), Bd. 1, 250. <?page no="233"?> Cecilie Hollberg 234 ihrem Sinne, denn das italienische Wort carestia wird nicht mit „Not“, sondern tewr übersetzt. 37 Schließlich sinkt bei einer hohen Sterberate die Nachfrage, die das Auskommen des Kaufmanns bestimmt. Bartolamio wirft im Gespräch ein, der Deutsche solle nur den Stoff kaufen, der euch aller nuczt sey zu furn (fol. 86v, 26). Nachdem sich die Handelspartner über persönliche Dinge und Neuigkeiten unterhalten haben, bietet Bartolamio dem Deutschen seine Waren an (fol. 86v), nämlich fustagno, ein schweres und dichtes Baumwollgewebe, bocchassin und valessi in jeder Farbe oder weiß. Während des gesamten Handelsverlaufs lobt er immer wieder deren einmalige Qualität und Einzigartigkeit in Venedig. Dienstbereit führt Bartolamio dem deutschen Kaufmann auf dessen Anfrage einen bestimmten fustagno, jenen mit dem Gütesiegel der chron, vor (fol. 86v, 23). Bevor über den Preis verhandelt wird, bespricht man die zu kaufende Warenmenge. 38 Hierbei erfragt der Kunde zuerst, wie viel der Händler ihm von der verlangten Qualität geben kann. Nachdem Bartolamio ihm versichert hat, dass er so viel haben könne wie er wolle, wünscht der Schwabe 25 Stück. Stolz antwortet ihm der Venezianer, dass er 200 Ballen von dem gewünschten fustagno im Haus habe. 39 In gocz namen (fol. 87r, 12), entfährt es dem Schwaben. Er kann womöglich aufgrund dieser großen Anzahl hoffen, die Ware günstiger zu erhalten, und erkundigt sich, zu welchem Preis Bartolamio ihm die Tuche verkaufen möchte. Schon im Voraus entschuldigt sich der Verkäufer für den Preis, indem er angibt, er würde dem eigenen Vater den Stoff auch nicht günstiger geben können. Schließlich nennt er einen Preis von 4½ Dukaten das Stück (bei 25 Stück also 112,5 Dukaten), 40 was bei seinem Handelspartner Empörung auslöst. Bocchassin soll sogar 6,5 Dukaten kosten. Der Aufforderung, ein Gegenangebot zu machen, entzieht sich der Schwabe jedoch und drückt Unkenntnis über die Marktlage aus, womit er vorgibt, nur über den deutschen Markt und dessen Preise Bescheid zu wissen (fol. 87v). Als er Bedenken äußert, teilt ihm Bartolamio mit, es sei unmöglich, jene Ware zu einem Preis von unter 4 Dukaten zu erhalten (das wären insgesamt 100 Dukaten). Eine Diskussion darüber, ob die gleiche Qualität woanders zu einem günstigeren Preis zu erhalten sei, führt zu grundsätzlichen Äußerungen über die Marktlage. Den 37 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 86r, 25; vgl. M ATTHIAS L EXER , Art. tiure (tewer), in: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Leipzig 1876, Sp. 1445-1447. Die Bedeutung des Wortes tewr wird hier vorwiegend im Sinne von „wertvoll“ (ausgezeichnet, herrlich) übersetzt. Nur im Zusammenhang mit ein tûre jâr steht die Übersetzung hungerjâr. 38 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 87r gibt hierzu den Handelsverlauf wieder. 39 Da in Venedig nur zu bestimmten Zeiten Warenschiffe anlangten, mussten die Händler sich entsprechend bevorraten. 40 M AUREEN F. M AZZAOUI , The Cotton Industry of Northern Italy in the Late Middle Ages, 1150- 1450, in: Journal of Economic History 32 (1972), 262-286, hier 285, ermittelt ebenfalls diesen Preis. <?page no="234"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 235 Abschluss des Gespräches bildet der Wunsch des Deutschen, in den fondaco zum Essen zu gehen, um anschließend mit seinem Unterkäufel wiederzukehren. Bevor er geht, bittet der Venezianer ihn noch zu einem Trunk, der die Vorverhandlungen für den Kauf abschließt. In Anwesenheit eines Unterkäufels findet die Fortsetzung des Handelsgespräches statt, dessen Warenwert sich auf 106¼ Dukaten berechnet, man scheint sich also bei 4¼ Dukaten pro Stück einig geworden zu sein, bevor der Kauf mit dem Handschlag besiegelt wird. 41 Die Gesamtsumme wird gemeinsam errechnet, bezeichnenderweise aber erst, nachdem der Deutsche bereits seine Anzahlung in Höhe eines Pfennigs oder eines Dukaten (Waz ïr wolt ein pfenni(n)gt od(er) ein ducaten oder zwen, fol. 92v, 5-6), die dem Verkäufer irrelevant scheint, geleistet hat. Dieser geringe Prozentsatz von 0,9 Prozent lässt vermuten, dass eine anteilige Höhe der Anzahlungen wohl nicht festgelegt war, so dass jeder Händler dies nach Belieben handhaben konnte. Der Schwabe zahlt 10 Dukaten an, wodurch er seine tatsächliche Kaufabsicht bekundet. Gemeinsam gehen sie, um die ausstehenden 90 Dukaten in die Bank schreiben zu lassen. Zuzüglich der angezahlten 10 Dukaten wären das 100 Dukaten, wie der Deutsche noch einmal konstatiert: Chom dan ich haiß dir newnczick ducaten in die panck schreiben [...] Vnd zehen hastu daran ge habt daz pringt hundert (fol. 93r, 11-15). Oben war aber die Rede von 106¼ Dukaten gewesen. Beim Errechnen des noch zu zahlenden Betrages handelt der Unterkäufel durch Abrunden noch einmal den Preis herunter. Jede Gelegenheit, den Preis zu drücken, wird ausgenutzt, was Bartolamio zwar bemerkt, aber nach einigem Murren hinnimmt (fol. 93r, 20-21 und 95v). Mit Sicherheit hätte er nicht verkauft, wenn die Endsumme für ihn nicht lohnend gewesen wäre. Trotz Abzugs weiterer 10-12 Prozent Eigenkosten 42 bleiben ihm circa 22 Dukaten, die einem Gewinn von etwa 27 Prozent entsprechen. Nachdem die Handelspartner zu einem Abschluss gelangen, wird der Kauf endgültig bestätigt 43 und die Form der Bezahlung geklärt. Träger werden aus dem fondaco gerufen, um die erworbene Ware ins Deutsche Haus zu tragen. Um das Geschäft gänzlich abzurunden, verlangt der Schwabe noch eine Zugabe, wobei ihm Umfang und Qualität der Ware gleichgültig sind (Waz du willd Nur daz du mïr zw gebst, fol. 92v, 41 A DALBERT E RLER , Art. Handschlag, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 1974: Der Handschlag diente im Mittelalter als „allgemeine Bekräftigung aller Gelübde und Verträge. Dabei schlug der eine in die hingehaltene Hand des anderen, daher in Schwaben die Bezeichnung handstreich [...]“ 42 Vgl. F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2, Der Handel, 3 Bde., München 1986, 177; bei ihm ist die Rede von 10-20 Prozent. H EINRICH B ECHTEL , Wirtschaftsstil des deutschen Spätmittelalters, München / Leipzig 1930, 145, setzt für das 15. Jahrhundert zwölf Prozent Eigenkosten an (Zölle, Wegegelder, Transport u. ä.). 43 In P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 90v, 12 ist der erste Handschlag erwähnt, auf fol. 92r, 4 der endgültige. <?page no="235"?> Cecilie Hollberg 236 35). 44 Es ist Brauch der Deutschen, und sie meinen keinen Kauf getan zu haben, ohne eine Zugabe zu bekommen (sy muessen albeg zw gab haben, fol. 93r 1-8), erklärt der Unterkäufel, und so bekommt der Schwabe noch etwas Baumwolle geschenkt. Den Abschluss des Geschäftes bildet wieder ein Trunk, der so genannte leitkauf. 45 5. Strategien des Handels Im Laufe des Dialogs treten verschiedene Methoden und Strategien des Handels zutage. Man macht zum Beispiel die Ware des anderen schlecht (fol. 94r und fol. 95r) oder beeinflusst den Preis über die Menge der Ware. Der Kunde kann bei einem großen Angebot, oder wenn er selbst eine große Anzahl an Ballen kaufen will, hoffen, den Preis drücken zu können. Auf der Basis der Qualität gibt es ebenfalls verschiedene Möglichkeiten, gewinnbringend zu handeln. Bartolamio erhebt die eigene Ware über alle anderen Qualitäten in der Stadt: han ichs euch nicht gesagt ich han den aller pesten der in dieser stat ist (fol. 86vff.). Wenn der Deutsche anschließend mit der Konkurrenz droht, muss er die Marktlage gut kennen. Bartolamio dagegen ist sogar so sehr von der Qualität der eigenen Ware überzeugt, dass er bereit ist, sie dem Deutschen unentgeltlich zu überlassen, sofern dieser an einem anderen Ort tatsächlich entsprechende Qualität zu einem geringeren Preis findet. Beide Handelspartner nutzen psychologische Mittel, wenn beispielsweise der unerfahrene Bartolamio seinen Vater als jemanden zitiert, von dem er weiß, dass er sich bei dem Deutschen großer Anerkennung erfreut, 46 oder indem er äußert, er müsse diesen erst um Rat fragen, obwohl er zuvor behauptet hatte, der Vater ließe ihn gewähren: er lezst mich tun wie ich wil mit der staczen (fol. 90v). Er weist die Verantwortung von sich und entzieht sich damit taktisch klug der Diskussion und dem Drängen seines geschätzten Kunden. Ähnlich subtil ist die Handelsbeeinflussung durch das Provozieren von Mitleid: Der Venezianer appelliert an das Verständnis des erfahrenen Deutschen, indem er ihn vorwurfsvoll fragt, ob er denn nicht wolle, dass Bartolamio an ihm verdiene. 47 Dagegen stellt sich der Deutsche als zu bedauerndes Opfer dar, da 44 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 93r; als Zugabe erhält der Deutsche hier drei Pfund (vermutlich rohe) Baumwolle. 45 Vgl. A LFRED S CHIRMER , Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache auf geschichtlichen Grundlagen, Straßburg 1911, 119: „Trunk beim Abschluß eines Handels; Draufgeld“; vgl. R. S CHMIDT - W IEGAND , Art. Leitkauf, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 41), Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 1842. 46 Der Deutsche fragt stets als erstes nach dem Vater: P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 86r, 29; fol. 89r, 27; auf fol. 92r, 27 kommt diese Anerkennung besonders gut zum Ausdruck. 47 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 91v, 21-22. Hier identifiziert sich Bartolamio plötzlich wieder mit dem staczen, damit der Deutsche sich betroffen fühlt. <?page no="236"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 237 sein Unterkäufel und der Verkäufer sich bereits kennen und womöglich gemeinsame Interessen vertreten. Die Vertrautheit mache ihn stutzig, und er sagt, er als armer Kaufmann habe den Schaden davon zu tragen (fol. 90v), obwohl dieser Handel eher das Gegenteil belegt. Beide Handelspartner appellieren an die kaufmännische Mentalität des anderen. Dennoch versucht sich Bartolamio immer wieder durch Freundlichkeit seinem Kunden gewogen zu machen, indem er auf die guten Beziehungen zwischen dem Deutschen und seinem Vater anspielt, der ihm nach seinen Angaben am liebsten alles schenken würde (fol. 87rf.). Hinter dem „Händlerkodex“, nach dem sich Handel und Kaufmann richten, steht maßgebend der venezianische Rat mit seinen strengen Verordnungen. Man war sehr um die fremden Kaufleute bemüht, denn sie waren letztlich die Abnehmer der venezianischen Waren aus Übersee. In den Gesprächssituationen, in denen Bartolamio den „Händlerkodex“ verletzt, wird er von dem Deutschen und dem Unterkäufel zurechtgewiesen. Priorität haben dabei Vertrauen und Ehrlichkeit. Der Deutsche liefert sich zunächst seinem italienischen Geschäftspartner aus, indem er offen zugibt, sich mit dem valessi nicht gut auszukennen (fol. 88r). Im Laufe des Dialogs entpuppt sich das zwar als Unwahrheit, denn der Deutsche weiß die Qualität sogar sehr genau zu beurteilen (fol. 94r, 20), und es ist kaum anzunehmen, dass er seine weitreichenden Kenntnisse während der Essenspause im fondaco erworben hat. Doch vorerst hätte Bartolamio ihm die schlechteste Qualität zum teuersten Preis verkaufen können. Aber auch Bartolamio hat seine gute Reputation zu verteidigen, denn er möchte schließlich, dass sein staczen weiterempfohlen wird (fol. 92r). 6. Voraussetzungen und Umgangsformen im Handel Im Text erscheinen drei verschiedene Zahlungsformen, die jeweils unterschiedlich gehandhabt werden: Bargeld, Kredit und Tausch. Beim Handel mit Bargeld wird über die Form der Bezahlung erst zum Schluss des Kaufes gesprochen. Das zuverlässige Geld, mit dem der Deutsche bezahlt, kommt neu aus der Münze, wie der Unterkäufel beteuert (fol. 90r). Falsches, minderwertiges, eventuell auch abgenutztes Geld war üblicherweise in Gebrauch. 48 Die Wertprüfung wird zum normalen Geschäftsablauf gehört haben, da sie der Deutsche von sich aus vorschlägt. 49 Beiderseitiger Zustim- 48 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 92v, 22-24; vgl. B OOCKMANN , Die Stadt im späten Mittelalter (wie Anm. 29), 109. 49 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 92v, 10; vgl. R OLF S PRANDEL , Das mittelalterliche Zahlungssystem nach Hansisch-Nordischen Quellen des 13.-15. Jahrhunderts, Stuttgart 1975, 34. <?page no="237"?> Cecilie Hollberg 238 mung bedurften die beiden anderen Zahlungsformen: Kredit und Tausch bzw. Stichhandel. Kredit wurde dem Käufer vom Verkäufer angeboten, diese Zahlungsform war in Venedig selbstverständlich, obwohl man sich durchaus des Risikos bewusst war, wie ein Merkspruch veranschaulicht, der besagt, dass verborgtes Geld verloren sei (fol. 59r). Umso wichtiger waren Vertrauen und ein guter Ruf. Ähnlich dem Kredit verlief das Verfahren beim Stichhandel. Bei dieser Form des Handels wurde eine bestimmte, vorher festgelegte Ware zwischen den Handelspartnern getauscht. Hierzu kommt es, weil der Deutsche kein Geld mehr hat (fol. 93v). Da beim Stichhandel beide Geschäftspartner Interesse an der Ware des anderen als Tauschwert haben müssen, nennen sie vorab das eigene Warenangebot (fol. 94r) und begutachten jeweils das des anderen, worauf der Warenwert gegeneinander aufgerechnet wird. In diesem Fall bleibt beim Stechen eine Differenz, und Bartolamio bietet dem Schwaben an, den ausstehenden Betrag bei seinem nächsten Aufenthalt in Venedig zu begleichen (fol. 95v), also wieder ein Appell an das Vertrauen des Geschäftspartners. Aus der Tatsache, dass die aufgeführten Handelsdialoge analog verlaufen, lässt sich schlussfolgern, dass es sich wohl um ein immer wiederkehrendes stereotypes Schema handelt. Bartolamio ist der Sohn des Ladenbesitzers, in dessen Laden (staczen) der erste Dialog stattfindet. Bei Abwesenheit des Vaters übernimmt der Sohn die Führung des Familienbetriebes. Dass er noch jung und unerfahren ist, kann man den Kommentaren und dem Verhalten des Deutschen entnehmen (fol. 92r-v), der dessen Forderungen und Preise als übertrieben (mich dunck [...] alle dingt zetewer Ich furcht ich mug mit dir nicht vber ain chumen Ich wolt lieber mit deim vater haben ze schaffen ben mit dir, fol. 87r, 24ff.), und dessen Ungeduld er als unangemessen bewertet. Aber der junge Kaufmannssohn ist gewandt in Rede und Benehmen, lässt sich im Zuge der Gespräche belehren, geht im Preis herunter und bietet dem bekannten und geschätzten Handelspartner sofort Kredit an (fol. 93v). Doch der Schwabe handelt nicht gern auf Kredit, es ist nicht seine Gewohnheit, und prompt bietet ihm der Venezianer einen Tauschhandel an: wildu mit mïr stechen ich stich mit dir vmb 25 stuck valessy (fol. 94r, 1-2). Mit der eigenen Ware kennt sich Bartolamio gut aus (fol. 91r-v); weniger vertraut scheint er hingegen noch mit den deutschen Stoffen zu sein. Der schwäbische Kaufmann reist häufig nach Venedig und erwirbt dort verschiedene Stoffsorten, um sie in der eigenen Heimat mit Gewinn zu verkaufen. Er ist dort bekannt und hat sich im Laufe der Zeit einen sichtlich guten Ruf, Anerkennung und Abnehmer für seine Tuche geschaffen, sowie Professionalität und gute Marktkenntnis erarbeitet. Die Bartolamio beiläufig <?page no="238"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 239 erteilten Maßregelungen zeichnen ihn als einen erfahrenen Kaufmann aus, was durch sein sicheres, entschiedenes Handeln bestärkt wird (fol. 91v; fol. 92r): Von vornherein nennt er einen Preis und den ausgerechneten Betrag, den er für seine Waren verlangt (fol. 95). Beim Feilschen ist der Schwabe deutlich geschickter als Bartolamio, denn er schafft es mehrere Male, den Venezianer zu überraschen. Eigentlich stellt er den Prototyp des „guten Kaufmanns“ dar, der sich dennoch oder besonders deswegen selbstverständlich an den Händlerkodex hält. Betrachtet man die im Vokabular aufgeführten Beschimpfungen, scheint der Umgangston in Venedig ziemlich direkt und für unser Verständnis beinahe rüde gewesen zu sein. Hier finden sich Ausdrücke und Wendungen wie narr (fol. 24v), Du pist ein rechter v(er)laugenter Jud (fol. 39v) oder, dir stinckt der aden ruck furder (fol. 5v). Derlei Wendungen waren scheinbar so alltäglich, dass es für wichtig erachtet wurde, sie in das Vokabular aufzunehmen. Trotzdem waren ein gutes Benehmen und eine angenehme Ausdrucksweise gut angesehen (fol. 21r und fol. 27f.). Die Umgangsformen in diesem Text lassen sich in den geschäftlichen und den privaten Bereich gliedern. Der höfliche Umgang zwischen Bartolamio und dem Deutschen entwickelt Höhen und Tiefen. So bekräftigt ein Trunk die freundliche Begrüßung zu Anfang der Dialoge, und erst allmählich werden die Höflichkeiten mit geschäftlichen Interessen verknüpft (fol. 86ff.). Bei den Vorverhandlungen zwischen Käufer und Verkäufer wird ein beinahe übertrieben freundlicher Ton angeschlagen, ein Beispiel dafür ist eine Essenseinladung. Geradezu angetrunken hingegen wirkt der Deutsche, als er Bartolamio sagt, sein Wein sei gut und er selbst noch viel besser: der wein ist guet vnd du pist pesser (fol. 89r, 14). Als es zum Handel mit dem Unterkäufel kommt, ändert sich der Ton zum Teil erheblich (fol. 89v-90v), Anschuldigungen, die Ware überteuert zum Verkauf anzubieten und zu hart zu sein, wechseln sich ab mit Versuchen, den anderen zu umschmeicheln. Doch nach Abschluss des Handels gestaltet sich das Verhältnis wieder freundschaftlich. Bartolamio wird plötzlich nachgiebig und umgänglich, und abermals wird das Ganze durch einen Trunk bekräftigt (fol. 93r). Der Umgang beim Stichhandel stellt sich ganz ähnlich dar. Allmählich spitzt sich auch hier der Ton zu, kleine Rügen an Bartolamio werden eingeschoben (fol. 94v), bis dieser sich zu einer - wie man meinen könnte - ziemlich frechen Äußerung hinreißen lässt, indem er den Deutschen beschuldigt, ein „Großmaul“ zu sein. 50 Allerdings lässt dies den Deutschen unberührt, er übergeht es einfach und fährt in den Verhandlungen fort. Vermutlich ist ein 50 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 95r, 19-20. Vgl. S ALVATORE B ATTAGLIA , Art. cintura, in: Grande Dizionario della Lingua Italiana, Istituto dell’Enciclopedia italiana (Hrsg.), 19 Bde., Turin 1966, Bd. 3, 164, che promette molto ma mantiene poco (der viel verspricht, aber wenig hält). <?page no="239"?> Cecilie Hollberg 240 solcher Ausdruck nichts Außergewöhnliches im Handelsalltag. Erst Bartolamios Forderung nach einem Schuldschein kränkt den Deutschen; Misstrauen scheint eine größere Beleidigung zu sein als ein grober Ausdruck. Doch wird dieses Missverständnis sogleich aufgeklärt (fol. 95v), und auch nach Beendigung dieses Kaufes finden die beiden wieder von ihrem kühlen zu einem familiär-herzlichen Ton (fol. 96r). Zu den Umgangsformen im „privaten“ Bereich zählen das Benehmen sowie die Anrede und der gegenseitige Respekt. Zwar sind die Formen der Anrede im Text nicht ganz einheitlich, aber prinzipiell genau geregelt: 51 Nur der junge Bartolamio wird geduzt. Obwohl er sich manchmal zu recht schnippischen Bemerkungen hinreißen lässt, ist er nicht schlecht erzogen, denn er wahrt in seinen Gesten Anstand und Respekt, indem er beispielsweise dem Deutschen als dem Älteren den Vortritt beim Verlassen des staczen gewährt (fol. 94f.). Des Weiteren beteuert er höflich, nicht vor dem Deutschen trinken zu wollen (fol. 89r) und auch die Essenseinladung, die der junge Venezianer wie selbstverständlich ausspricht, deutet auf eine großzügige Gastfreundschaft hin. 7. wolt ir nicht ein trunck tun Der trunck spielt beim Handel eine wichtige Rolle, und er kommt in verschiedenen Varianten vor. Eingangs bietet Bartolamio seinem Kunden einen Willkommens- oder Freundschaftstrunk an, der die Grundlage des Handels herstellen soll (fol. 89r). Von dem anfangs dargebotenen trunck unterscheidet sich der den rechtlichen Abschluss eines Handels besiegelnde leitkauf, den Käufer und Zeugen gemeinsam einnehmen. Als dritte Form ist der Abschiedstrunk zu nennen (fol. 96r), dem zwar durchaus eine geschäftliche Aufgabe zukommt, der aber im Übrigen eher zum höflichen Umgang zählt. (B) No voli uuj far colazion wolt ir nicht ein trunck tun (D) Eno sa ele massa pertempo Ich Waizz sein nicht ez ist ze frue El no e Mio Vsanza Abeuer Cossi Per tempo Ez ist nich mein gewanheit alz frue ze trincken (B) Questo he ben meraueia daz ist wol ein bunder Imp(er)o el no e vsanza di thodeschi daru(m)b ez ist der deuczen gebonhait nicht (D) di pur anche ti cossi che le todeschi sian imbriagi Sprich nür du auch allso daz die deuczen truncken sein 51 Einige Ausnahmen der Anrede sind zu verzeichnen, die vermutlich auf die Unaufmerksamkeit des Autors zurückzuführen sind. Zum Beispiel duzt Bartolamio in P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 92r den Deutschen. <?page no="240"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 241 Ehi talianj no falla miga qua(n)do elli senabati Vnd die walich fellen nicht wen(n) si dar zu chumen Ben che ly todeschi habia la wol daz die deuczen den nomen haben nomina(n)za/ Che astu dabeuer astu niente de bon/ waz hastu ze trincken hastu ichcz guecz (fol. 88r-v) Das Trinken sei Gewohnheit der Deutschen, sie seien Trunkenbolde; dieses Vorurteil gegen seine Landsleute in dem hier abgedruckten Gesprächsauszug missfällt dem Schwaben, und er beschuldigt zugleich die Italiener (walich = welsch), nicht besser zu sein, wenn sich ihnen die Gelegenheit böte. Für ihre Trinkfreudigkeit waren die Deutschen in Venedig durchaus bekannt. Gegen diese Einschätzung wehrt sich der Schwabe zwar durch seine Äußerung, er tränke nie zu so früher Stunde (alz frue), 52 lässt sich dann aber mit den rechtfertigenden Worten, aus reiner Höflichkeit zu trinken, doch ein Glas reichen, um jeden Verdacht von sich zu weisen (fol. 89r). Bei den drei in den Dialogen genannten Weinsorten handelt es sich um Romanier, rainfoln (fol. 88v) und Malvasier (fol. 96r). Während der Malvasier ein gold- oder bräunlich-gelber Süßwein ist, gilt der Rheinwein als besonders fein. 53 Erstaunlich ist, dass Bartolamio dem Deutschen ausgerechnet aus Kreta bzw. deutschen Landen importierte Weine anbietet, wodurch er vielleicht besonders zuvorkommend und freundlich sein und dem anderen eigene, gewohnte Qualität anbieten möchte, vielleicht sind diese edlen Weinsorten aber auch als eine Art Statussymbol zu betrachten und als ein Zeichen von Wohlstand. 8. Schlussbemerkungen Auf regelmäßige Handelsbeziehungen lässt die herzliche Begrüßung zu Beginn der Handelsgespräche schließen: Ez ist lang daz ich euch nicht han gesehen. Wohl jeder (deutsche) Kaufmann kann sich diese Worte beim Betreten eines (venezianischen) staczen nur wünschen. Das lange Fehlen des Deutschen fiel auf, man vermisste ihn, den Kaufmann, den Abnehmer, aber auch den Menschen. Der persönliche Umgang der Kaufleute miteinander bestätigt die Intensität des Austausches zwischen Deutschen und Venezianern, deren Kontakt sich nicht nur auf das Nötigste im Handel beschränkte, son- 52 P AUSCH , Sprachbuch (wie Anm. 14), fol. 88r. Hieraus kann man entnehmen, dass er zu anderen Zeiten trinkt, was natürlich nicht gleich heißen muss, dass er ein Trunkenbold ist. 53 Art. Wein, in: J OHANN H EINRICH Z EDLER , Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Halle / Leipzig 1731-1754, ND Graz 1982, Bd. 54, Sp. 419. <?page no="241"?> Cecilie Hollberg 242 dern weit darüber hinausging. Dafür sprechen beispielsweise die private Einladung zum Essen des Bartolamio sowie sein Angebot, dem Deutschen Wein in den fondaco zu schicken. Man war daran interessiert, Erfahrungen auszutauschen und bemühte sich um die Kenntnis von Gewohnheiten und Eigenarten der Fremden, auch wenn sie nicht immer angenehm waren: Sprich nür du auch allso daz die deuczen truncken sein lesen wir beispielsweise als Reaktion auf eine wenig schmeichelhafte Äußerung des Venezianers. Man sah offenbar keinen Grund, dieses - wohl nicht ganz unbegründete - Vorurteil nicht offen auszusprechen. Maistro zorzi malt ein prächtiges Bild vom Handelsalltag der Kaufleute in der Serenissima. Er veranschaulicht die Charaktere der Personen, die von ihnen genannten Preise lassen sich - wie oben belegt - durch andere Quellen bestätigen, und der Autor fixiert ungeschönt und lebhaft das Beobachtete. Die exemplarisch vorgeführten Dialoge sind in sich schlüssig, in ihren einzelnen kaufmännischen Details belegbar und daher als durchaus realistisch anzusehen. Lehrend stellt maistro zorzi den Handelsalltag dar und gibt gleichzeitig einen Einblick in die Gewohnheiten beider Handelsnationen. Vieles über den Handel würde den Leser wohl noch interessieren, doch war es nicht primäre Absicht des Autors, eine Abhandlung über den Handelsalltag zu schreiben, sondern eher ein positives Nebenprodukt seines Sprachunterrichtes. Diese Tatsache verstärkt die Vermutung, dass es sich nicht um weltfremde Gespräche handelt, sondern um spontan erfundene Handelsdialoge aus einem Bereich, der dem Autor offensichtlich durchaus - vielleicht aus eigener Erfahrung - vertraut war. Die Lebensnähe von Inhalt und Ausdruck schließt aus, dass das Sprachlehrbuch nur für „Schöngeister“ bestimmt war, wozu hätten diese beispielsweise das Schimpfen lernen sollen? Maistro zorzis weitreichende Kenntnisse über den Handel und in den beiden Sprachen machen ihn durch dieses Sprachbuch zu einer wertvollen Quelle zur Mentalitätsgeschichte und dem individuellen Verhalten im privaten wie im kaufmännischen Umgang. Gerhard Rösch schrieb, die Republik habe eine rigorose Stapelpolitik vollzogen, „wie sie derart rüde keine andere Handelsnation exekutiert“ habe, 54 doch lassen sich dem Text keine negativen Äußerungen zu der strengen venezianischen Gesetzgebung entnehmen. Die staatlichen Auflagen schienen niemanden einzuschränken. Eher belegen die regelmäßigen Handelsfahrten des Deutschen nach Venedig, dass sich die Geschäfte mit der Serenissima für die Deutschen durchaus lohnten, wobei Vergnügen und Unterhaltung nicht fehlen durften. Ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für den venezianischen Handel waren sich die Deutschen durchaus bewusst, sonst hätten sie bei 54 E VA -S IBYLLE R ÖSCH / G ERHARD R ÖSCH , Venedig im späten Mittelalter. 1200-1500, Freiburg 1991, 148. <?page no="242"?> Deutsch-venezianischer Handelsalltag im 15. Jahrhundert 243 einem Streit mit den ihnen vorgesetzten Visdomini nicht mit Stolz zu äußern wagen dürfen: trista questa terra quando non sarà Todeschi in fontego, 55 arm wird dieses Land sein, wenn es keine Deutschen mehr im fondaco geben wird. 55 M ARINO S ANUDO , I Diarii. 1496-1533. Dall’autografo Marciano Ital. Cl. VII Codd. CDXIX- CDLXXVII, R INALDO F ULIN u. a. (Hrsg.), 58 Bde., Venedig 1879-1903, Bd. 2, 1880, 719. <?page no="244"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? Die Neuen Geschäftsmedien des 16. Jahrhunderts und ihr Einfluss auf die Praktiken des frühneuzeitlichen Börsenhandels am Beispiel der Nürnberger Preiscourants (1586-1640) Sven Schmidt 1. Die Kommunikations- und Medienrevolution des 16. und 17. Jahrhunderts In der historischen Forschung scheint sich die Auffassung zu etablieren, dass die durch den Buchdruck eingeleitete Medien- oder Kommunikationsrevolution 1 der entscheidende Antrieb gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in der Frühen Neuzeit war. 2 Im Hinblick auf die Bedeutung der Druckmedien für die Partizipation breiter gesellschaftlicher Schichten an religiösen, sozialen und politischen Meinungsbildungsprozessen seit dem Zeitalter der Reformation und die Verdichtung des wissenschaftlichen Austauschs scheint eine solche Interpretation der Epoche gerechtfertigt. 3 Bisher noch unzureichend erforscht wurden die Rückwirkungen medialer Umwälzungen auf die Wirtschaft Europas. Ohne deren Einbeziehung lässt sich jedoch die Bedeutung neuer Medien und Kommunikationssysteme für gesellschaftlichen Wandel nicht umfassend bewerten. 4 1 Vgl. zum Begriff Kommunikationsrevolution M ICHAEL N ORTH , Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der frühen Neuzeit, München 2000, 2-6; D ERS ., Einleitung, in: Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, D ERS . (Hrsg.), Köln / Weimar / Wien 1995, 10f., 14; J OHANNES B URKHARDT , Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617, Stuttgart 2002; zur so genannten Medienrevolution der Frühen Neuzeit auch W ERNER F AULSTICH , Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400-1700), Göttingen 1998; eine neue, kritische Zusammenfassung des Forschungsstandes zur Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit liefern U TE L OTZ - H EUMANN / H OLGER Z AUNSTÖCK , Einleitung: Forum / Neuere Publikationen zur Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Sehepunkte 4 (2004), Nr. 9. 2 B URKHARDT , Reformationsjahrhundert (wie Anm. 1), 56f., 200-203; vgl. am Beispiel des Buchdrucks M ICHAEL G IESECKE , Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1995, 21- 23. 3 Nach B URKHARDT , Reformationsjahrhundert (wie Anm. 1), 202, auch 15, 136, kann die frühneuzeitliche Konfessionsbildung geradezu als Reaktion auf die Herausforderung der neuen Mediensituation betrachtet werden. 4 Die aktuelle Frühneuzeitforschung kennzeichnet eine gewisse Tendenz, den Begriff Kommunikation als eine Metakategorie im Sinne der systemtheoretischen Konzeption von Niklas Luhmann zu konzeptionalisieren. Zwar wurde so die Möglichkeit geschaffen, den Begriff zu einer integrierenden und gan- <?page no="245"?> Sven Schmidt 246 Zwar widmete sich die wirtschaftshistorische Forschung in den letzten Jahren der Untersuchung kaufmännischer Kommunikation, vernachlässigte es aber, die Entstehungskontexte und -bedingungen der im 16. Jahrhundert neu auftretenden, zum Teil konkurrierenden Kommunikationssysteme und Medien zu beleuchten. 5 Deren Bedeutung für die Integration europäischer Waren- und Geldmärkte seit dem Mittelalter wurde in einigen Studien erarbeitet, ebenso ihre Rolle für die Verbreitung kaufmännischer Innovationen und eine Professionalisierung des kaufmännischen Wissensmanagements. 6 Zudem thematisierten Wirtschaftshistoriker, angeregt durch die Neue Institutionenökonomie, 7 Informationskosten als Determinante wirtschaftlicher Entwicklung. 8 Das Konzept fand jedoch kaum auf die Untersuchung medialen Wandels Anwendung. 9 Aktuelle Studien diskutieren die Bedeutung der seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts Verbreitung findenden neuen Geschäftsmedien für die Fortentwicklung des Fernhandels kontrovers. Francesca Trivellato vertritt die Ansicht, neue Medien, wie Preis- und Wechselcourants oder Gazetten, ze Themenfelder aufschlüsselnden historischen Kategorie zu erheben (vgl. L OTZ -H EUMANN / Z AUNSTÖCK , wie Anm. 1), doch mindert man auf diese Weise gleichzeitig seinen heuristischen Wert zur Analyse der Wechselwirkungen von sozialstrukturellen und -funktionellen sowie medienstrukturellen und -funktionellen Entwicklungen, obwohl gerade solche Erkenntnisse für die Einordnung aktueller medialer Wandlungsprozesse von hoher Relevanz wären. 5 Ähnliches gilt für kommunikationswissenschaftliche Arbeiten. Zwar gibt es unzählige Studien, die sich mit einzelnen Medien auseinandersetzen, aber nur einige wenige, die konkurrierende Medien untersuchen, vgl. R UDOLF S TÖBER , What Media Evolution Is. A Theoretical Approach to History of New Media, in: European Journal of Communication 19/ 4 (2004), 483-505, hier 484. 6 Vgl. die auf dem XIII. International Economic History Congress in Buenos Aires vom 22.-26. Juli 2002 gehaltenen Beiträge in: From Commercial Communication to Commercial Integration. Middle Ages to 19 th Century, Stuttgart 2004; zum Zusammenhang zwischen der Erweiterung des kommerziellen Medienspektrums, der Verbreitung kaufmännischer Innovationen und der Fortentwicklung des kaufmännischen Wissensmanagements vgl. M ARKUS A. D ENZEL , Professionalisierung und sozialer Aufstieg bei oberdeutschen Kaufleuten, in: Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, G ÜNTHER S CHULZ (Hrsg.), München 2002, 413-442, hier 427, 432-439, 440, 442. 7 Vgl. den in diese Thematik einführenden Sammelband Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, K ARL -P ETER E LLERBROCK / C LEMENS W ISCHER- MANN (Hrsg.), Dortmund 2004. 8 Vgl. die Studie von D OUGLASS C. N ORTH , Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988. North schreibt der Senkung von Informationskosten und Transaktionskosten im Wettbewerbsprozess über die Fortentwicklung von Institutionen entscheidende Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Europas zu; vgl. auch J OHN H. M UNRO , The „New Institutional Economics“ and the Changing Fortunes of Fairs in Medieval and Early Modern Europe: the Textile Trades, Warfare, and Transaction Costs, in: Vierteljahrschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 88 (2001), 1-47. 9 Das heißt, die Frage, inwiefern sich bestimmte Medien in kaufmännischen Kreisen etablierten, weil sie eine Senkung der Kosten - bzw. aufzuwendende Zeit, Mühe und Arbeit - für die Produktion und Verbreitung bestimmter Informationen ermöglichten, wurde kaum gestellt. Eine Ausnahme: J OHN M C C USKER , Information and Transaction Costs in Early Modern Europe, in: Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung. Festschrift für Jürgen Schneider zum 65. Geburtstag, R AINER G ÖMMEL / M AR- KUS A. D ENZEL (Hrsg.), Stuttgart 2002, 69-83. <?page no="246"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 247 wirkten kaum integrativ auf frühneuzeitliche Märkte, da sie die asymmetrische Informationsverteilung zwischen den großen Handelskompanien und der Gesellschaft nicht überwanden. John McCusker kam zu einer gegenteiligen Auffassung. 10 2. Konzeption und Ziel der Studie Die folgende Fallstudie möchte am Beispiel der Einführung von publizierten Geschäftsmedien auf dem Nürnberger Börsenplatz seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts das revolutionäre Potential neuer Medien für den Fernhandel bewerten. Dabei sollen zum einen die bisher vernachlässigte Frage nach der Bedeutung von Informationskosten für die Rezeption und Konkurrenzfähigkeit neuer Medien gestellt und zum anderen ihre Entstehungskontexte und -bedingungen berücksichtigt werden, um den Ursachen für die Erweiterung des kommerziellen Medienspektrums im 16. Jahrhundert nachspüren zu können. Nürnberg gehörte vom Spätmittelalter bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zu den wichtigsten Nachrichtenumschlagplätzen sowie zu den führenden Handelsmetropolen Europas. Die Stadt an der Pegnitz besaß für die Adaption medialer und handelstechnischer Innovationen ein günstiges Umfeld, wofür die Forschung, neben der internationalen Zusammensetzung der städtischen Einwohnerschaft und der weltoffenen Haltung kaufmännisch geprägter Führungsschichten, ihre politische Bedeutung sowie ihre zentrale Lage im Netz der kontinentaleuropäischen Handelsstraßen verantwortlich macht. 11 10 F RANCESCA T RIVELLATO , Discourse and Practise of Trust in Business Correspondence during the Early Modern Period. Dieses Paper wurde präsentiert auf dem Economic History Workshop, Yale Department of Economics, 13. Oktober 2004, Working paper, einsehbar unter: www.econ.yale.edu/ seminars/ echist/ eh04/ trivellato-041013.pdf (Zugriff: 30.07.2009); J OHN M C C USKER , The Demise of Distance: The Business Press and the Origins of the Information Revolution in the Early Modern Atlantic World, in: American Historical Review 110 (2005), 295-321, hier 296. In seiner Studie nimmt J ÜRGEN H ABERMAS , Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, 26, 32-36, eine dritte Position ein und postuliert einen entscheidenden Entwicklungsschritt im kaufmännischen Kommunikationswesen erst mit dem Auftreten des Merkantilismus in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, gekennzeichnet durch die Publizität von Medien und das Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit als Adressat der Obrigkeit. Die frühen periodischen und publizierten Geschäftsmedien des 16. und 17. Jahrhunderts nimmt Habermas nicht zur Kenntnis, ebenso wenig die in der Renaissance Öffentlichkeit erzeugenden Pamphlete. Vgl. zu diesen Medien etwa den Beitrag von O LAF M ÖRKE , Pamphlet und Propaganda, in: Kommunikationsrevolutionen (wie Anm. 1), 15-32; vgl. zur kritischen Diskussion von Habermas' Modell zur Entwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit den Beitrag von C ARL A. H OFFMANN „Öffentlichkeit“ und „Kommunikation“ in der Forschung zur Vormoderne. Eine Skizze, in: Kommunikation und Region, C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IEßLING (Hrsg.), Konstanz 2001, 69-112, hier 91-95. 11 T HEODOR G USTAV W ERNER / posthum F RIEDRICH W ILHELM H ENNING (Hrsg.), Das kaufmännische Nachrichtenwesen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit und sein Einfluss auf die Ent- <?page no="247"?> Sven Schmidt 248 Seit den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts waren die Kaufleute und die Verwaltung Nürnbergs bemüht, die städtischen Markteinrichtungen zu verbessern, indem sie institutionelle Neuerungen adaptierten, wie sie sich in den mit der Reichsstadt kommerziell eng verbundenen Handelsmetropolen Venedig, Lyon und Antwerpen durchgesetzt hatten. Den Kaufleuten gelang es, eine Börsenordnung für den städtischen Herrenmarkt und eine Verbesserung und Zentralisierung des Nachrichten- und Transportwesens beim städtischen Rat einzufordern. 12 Seit 1583 gingen schließlich städtische Warenmakler und später der Handelsvorstand schrittweise von einer halbprivaten zu einer obrigkeitlich kontrollierten Publikation von Marktinformationen über. Wie die Korrespondenzen des mit Nürnberg in Geschäftskontakt stehenden Leidener Kaufmanns Daniel van der Meulen aus den Jahren 1580-1600 belegen, kursierten die Nürnberger Preiscourants dieser Zeit europaweit. 13 Welche Bedeutung besaß diese aufkeimende „business press“ für die kaufmännische Kommunikation im Zeitalter der Zweiten Kommerziellen Revolution? Bestand ein Wirkungszusammenhang zwischen ihrer Verbreitung und der in dieser Periode zu beobachtenden Fortentwicklung kaufmännischer Organisationspraktiken? 14 Zur Klärung dieser Fragen werden in den folgenden Abschnitten 3. und 4. zunächst der Gebrauch von Preiscourants im kaufmännischen Kommunistehung der handschriftlichen Zeitungen, in: Scripta Mercaturae 2 (1975), 3-52, hier 10, 28-30; L O- RE S PORHAN -K REMPEL , Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700, Nürnberg 1968, 13, 19f.; vgl. zur Verbreitung von Innovationen im frühneuzeitlichen Nürnberg J ÜRGEN S CHNEIDER , Nürnberg und die Rückwirkungen der europäischen Expansion (16.-18. Jahrhundert), in: Nürnberg - eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, H ELMUT N EUHAUS (Hrsg.), Nürnberg 2000, 293-362; auch R AINER G ÖMMEL , Die Vermittlerrolle Nürnbergs zwischen Italien und Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert aus wirtschaftlicher Sicht, in: Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen, V OLKER K APP / F RANK -R UTGER H AUSMANN (Hrsg.), 39-48, hier 39f., 45. 12 P IUS D IRR , Der Handelsvorstand Nürnberg 1560-1910. Zur Erinnerung an sein 350jähriges Bestehen und zur Einweihung seines neuen Hauses, Nürnberg 1910, 9, 12, 18f.; vgl. auch M ICHAEL D IE- FENBACHER , Handel und Kaufmannschaft, in: Stadtlexikon Nürnberg, M ICHAEL D IEFENBACHER / R UDOLF E NDRES (Hrsg.), Nürnberg 2000, 403. 13 Gemeentelijke Archiefdienst Leiden (GAL), Collection Daniel van der Meulen, Nr. 92. Wahrscheinlich liefen dessen Kontakte nach Nürnberg über seinen Bruder Andreas van der Meulen (†1611). Zu ihm vgl. die Genealogie der Familie van der Meulen im Regional Archief Leiden, LB 6146pf. Dieser Bruder von Daniel van der Meulen könnte mit dem in Amsterdam wohnhaften Andreas van der Meulen identisch sein, der verwandtschaftliche Beziehungen zu dem in Nürnberg ansässigen Handelshaus der Perez / Calandrini unterhielt; vgl. L AMBERT F. P ETERS , Der Handel Nürnbergs am Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Strukturkomponenten, Unternehmen und Unternehmer - eine quantitative Analyse, Stuttgart 1994, 554; zu Andreas und Daniel van der Meulen R OBERT VAN R OOSBROECK , Niederländische Glaubensflüchtlinge, in: Führungsschichten der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350-1850, Büdinger Vorträge 1968-1969, H ERBERT H ELBIG (Hrsg.), Limburg / Lahn 1973, Teil I, 121-148, hier 128-133. 14 Vgl. zu den kaufmännischen Innovationen des 16. und 17. Jahrhunderts J ÜRGEN S CHNEIDER , Innovationen und Wandel der Beschäftigungsstruktur im Kreditgewerbe vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Innovationen und Wandel der Beschäftigungsstruktur im Kreditgewerbe, H ANS P OHL (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1988, 21-39, hier 30-33, 37-39; zur Kommerziellen Revolution des 16. Jahrhunderts J AN DE V RIES , The Dutch Economy in the Golden Age 1500-1700, New Haven 1974, 4ff. <?page no="248"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 249 kationswesen und die Ursachen ihrer Diffusion untersucht; Abschnitt 5. beleuchtet dann über den Zeitraum von 1586 bis 1640 deren Publikation in Nürnberg. Anhand von Quellen aus der Ratskanzlei, dem Zoll- und Waagamt sowie des Handelsvorstands werden die Produzenten und Produktion der Preiscourants sowie ihre Vertriebsorganisation rekonstruiert und im städtischen Marktwesen verortet. Abschließend werden am Beispiel des Textilhandels ihr Gebrauch und ihre funktionale Einbettung im Börsenhandel dargestellt. 3. Gebrauch und Verbreitung von Preiscourants im kaufmännischen Kommunikationswesen der Frühen Neuzeit Preiscourants oder Lauffzettel/ aller Sort Wahren, 15 wie sie im 16. Jahrhundert in Nürnberg genannt wurden, sind veröffentlichte Warenpreislisten. 16 Man 15 Die bisher bekannten Nürnberger Preiscourants sind im Gemeente-Archief Leiden (GAL), im Stadtarchiv Nürnberg (StAN) und in der Stadtbibliothek Nürnberg (StBN) überliefert. Die Preiscourants werden im Folgenden abgekürzt zitiert: PC (für Preiscourant) I (die römische Ziffer steht für Monat der Publikation, hier Januar) 1626 (Jahr der Veröffentlichung); PCIII1586: GAL Collection Daniel van der Meulen, Nr. 92; PCVIII1615: Stadtbibliothek Nürnberg Nor. 944.2; PCI1626, PC I1627 (Fragment, nur Spalte 4 und 5 (Rückseite) erhalten), PCVIII1639, PCIX1639, PCXI1639, PCI- II1640: Stadtarchiv Nürnberg E8 (3504). In Oberdeutschland sind zur Bezeichnung von Preiscourants im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Umschreibungen Lauffzettel aller Sort Wahren (Nürnberg) oder Leuf der Wahren belegt (Frankfurt, vgl. GAL Collection Daniel van der Meulen, Nr. 92). Auf dem Leipziger Ostermarkt wurde 1590 die Bezeichnung Lauffzettel gebraucht, vgl. T HEODOR G USTAV W ERNER , Kursberichte von 1590 von der Frankfurter und Leipziger Messe. Ein Beitrag zur Geschichte des Börsenwesens, in: Scripta Mercaturae, 1/ 2 (1969), 95-100, hier 96. Das Wortbestandteil Lauf bezog sich auf den Cours, das Steigen und Fallen der Preise, vgl. Art. Cours, in: J OHANN H EINRICH Z EDLER , Grosses vollständiges Universallexicon, Halle / Leipzig 1732-1754, Bd. 6, Sp. 763. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts ist der Ausdruck Kurszettel zuerst in einem Augsburger Geschäftsbrief nachweisbar, der von der Liste der amtlichen Durchschnittskurse der Genueser Wechselmessen berichtet, vgl. W ERNER , Kursberichte, 96. Das Wort „Kurrant“, „Current“ oder „Courant“ vom italienischen „corrente“ fand im deutschen Sprachraum erst im 16. Jahrhundert Verbreitung, vgl. Art. Kurrant, in: G RIMM , Wörterbuch, Bd. 11, Sp. 2818; J OHN M C C USKER / C ORA G RAVESTEIJN , The Beginnings of Commercial and Financial Journalism. The Commodity Price Currents, Exchange Rate Currents, and Money Currents of Early Modern Europe, Amsterdam 1991, 204. Das Wort Zettel bezeichnete im Nachrichtenwesen die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstärkt Verbreitung findenden handgeschriebenen Zeitungen, die Korrespondenzen anstatt eines post scriptum beigelegt und durch Trennung vom Brief sowie Weiterverbreitung ohne Brief anonymisiert wurden, vgl. A LESSANDRO C ATALANO , Die Tagbücher und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.-18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, J OSEF P AUSER / M ARTIN S CHEUTZ / T HOMAS W INKELBAUER (Hrsg.), Wien / München 2003, 781-789, hier 783-785. In Nürnberg waren solche Zettel unter den Kaufleuten in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts stark verbreitet, vgl. J OHANN F ERDINAND R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels. Ein Versuch, 4 Bde., Leipzig 1800, Bd. 1, 108, 281; vgl. auch die Darlegung von S PORHAN -K REMPEL , Nürnberg als Nachrichtenzentrum (wie Anm. 11), 113-127. 16 M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 22; eine zeitgenössische Definition findet sich bei Z EDLER , Art. Preiscourants, in: D ERS ., Universallexicon (wie Anm. 15), Bd. 29, Sp. 303f.: Preisscouranten, sind in grossen Handels-Städten gedruckte Zettel, welche <?page no="249"?> Sven Schmidt 250 unterscheidet private 17 Preiscourants einzelner Unternehmungen von offiziellen Preiscourants frühneuzeitlicher Handelsmetropolen. 18 Letztere sind erstmalig für Antwerpen (circa 1540), Frankfurt am Main (1581), Venedig (1585), Nürnberg (1586) und Hamburg (159[2? ]) belegt. Die Nürnberger Preiscourants waren offizielle Preislisten der auf der städtischen Börse gehandelten Waren. 19 Vorläufer der offiziellen Preiscourants waren private Preisnotierungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kaufleute, die dem Kaufmannsbrief als post scriptum oder auf separaten Zetteln beigefügt wurden. Mit ihrer Hilfe übermittelten sich geschäftlich verbundene oder befreundete Kaufleute, die an verschiedenen Handelsplätzen ansässig waren, Informationen über Preisbildung und Warenangebot. Italienische Kaufleute waren die Initiatoren eines regelmäßigen und teilweise bereits standardisierten firmeninternen Informationsaustauschs. Ihr Einfluss auf die später handgeschrieben oder gedruckt publizierten offiziellen Preiscourants lässt sich, neben der Übernahme des von den Italienern eingeführten Formats, auch an der Verwendung der italienischen Sprache für viele Preiscourants aus den 80er und 90er Jahren des 16. Jahrhunderts erkennen. 20 Nils Brübach vermutet eine zweite Wurzel des Mediums in der städtischen Marktpolizei. 21 Ein Vorgänger der Preiscourants innerhalb obrigkeitlicher Behördenorganisationen ist aber nicht belegt. Vielmehr kursierten sie, wie im Folgenden auch am Beispiel Nürnbergs dargelegt wird, zunächst einige Jahrzehnte auf private Initiative, bevor ihre Publikation offiziell von städtischen Verwaltungen reguliert wurde. 22 Um die Stellung und Anwendungsbereiche der Preiscourants im kommerziellen Kommunikationswesen ermitteln zu können, ist es notwendig, die dem Kaufmann in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden Medien und ihre jeweilige Verwendung etwas näher zu bewöchentlich des Freytags ausgegeben werden, und darinne den Kaufleuten der Preiß der Waare kund gemachet wird, was sie selbige Woche gegolten. 17 Wie der bereits von der Forschung ausgewertete Preiscourant eines Handelshauses aus Nantes, vgl. M ARKUS A. D ENZEL , Der Preiscourant des Handelshauses Pelloutier & C ie aus Nantes (1763-1793), Stuttgart 1997. 18 Zur Vereinfachung wird im Folgenden die Bezeichnung Preiscourants mit offiziellen Preiscourants gleichgesetzt. 19 Vgl. zu den Nürnberger Preiscourants Abschnitt 6. dieser Studie und Anm. 15; zu den Hamburger Preiscourants R ICHARD E HRENBERG , Ein Hamburgerischer Waaren- und Wechselpreiscourant aus dem XVI. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 12 (1883), 165-169; zu den übrigen Preiscourants M C C USKER , Information and Transaction Costs (wie Anm. 9), 78f.; M C C USKER / G RA- VESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15); zum Leipziger Preiscourant W ER- NER , Kursberichte von 1590 (wie Anm. 11), 99. 20 C ORA G RAVESTEIJN , Amsterdam and the Origins of Financial Journalism, in: N ORTH , Kommunikationsrevolutionen (wie Anm. 1), 61-72, hier 63f. 21 N ILS B RÜBACH , Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig (14.-18. Jahrhundert), Stuttgart 1994, 352. 22 Auf ein ähnliches Vorgehen in den Niederlanden deutet die Quellenlage in Amsterdam hin, vgl. M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 44. <?page no="250"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 251 trachten. Sie lassen sich anhand der jeweils übermittelten Informationen in vier Gruppen unterteilen: 1. Medien, die spezielle und über einen längeren Zeitraum gültige Informationen über bestimmte Handelsplätze übermittelten, zum Beispiel Maße, Gewichte, Warenmarken und -standards sowie lokale Gepflogenheiten bei der Abwicklung von Geschäften, auch Sprachhilfen, die zum Teil in eigens für den Handel erstellten Wörterbüchern Verbreitung fanden. 23 Ein Sammelbecken für Informationen solcher Art waren Kaufmannshandbücher, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in gedruckter Form Verbreitung fanden. Im deutschen Sprachraum war das Handelsbuch des Nürnberger Rechenmeisters Lorenz Meder das erste dieser Gattung. 24 Hinzu kamen Reiseberichte mit kaufmännischen Inhalten und Unkostenbücher für verschiedene Handelsplätze. 25 Im Spätmittelalter dominierten in dieser Mediensparte der Kaufmannsbrief, vor allem aber der mündliche Informationsaustausch in der Kaufmannsausbildung und im Alltagsgeschäft. 26 Bedeutung für die Wissensvermittlung in der Ausbildung besaßen auch die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit gebräuchlichen Kaufmannsnotizbücher. 27 2. Bei der zweiten Kategorie handelt es sich um Geschäftsmedien, die mittelfristig gültige Ereignisinformationen über wirtschaftliche, politische und ökologische Begebenheiten lieferten. Sie waren insofern wichtig, als religiöse Unruhen, Kriege oder der Ausbruch von Seuchen immer auch die Konjunktur des Handels beeinflussten. Im Spätmittelalter war auch in dieser Kategorie der Kaufmannsbrief das entscheidende Medium. In der Frühen 23 Vgl. den Beitrag zu den ersten mittelalterlichen Sprachlehrbüchern von Cecilie Hollberg in diesem Band. 24 Handelsbräuche des 16. Jahrhunderts. Das Meder’sche Handelsbuch und die Welser’schen Nachträge, H ERMANN K ELLENBENZ (Hrsg.), Wiesbaden 1974. 25 Zu den Handelspraktiken allgemein D ONALD J. H ARRELD , An Education in Commerce. Transmitting Business Information in Early Modern Europe, Vortrag auf dem Gustav Wasa Seminar in Helsinki, 10.-11. Juni 2005, 15f., 17f.; W OLFGANG K AISER , Ars Mercatoria - Möglichkeiten und Grenzen einer analytischen Bibliographie und Datenbank, in: Ars Mercatoria. Eine analytische Bibliographie, Band 3, Analysen (1470-1700), J OCHEN H OOCK / P IERRE J EANNIN / D ERS . (Hrsg.), Paderborn / München / Wien / Zürich 2001, 1f.; vgl. auch M ARKUS A. D ENZEL , Handelspraktiken als wirtschaftshistorische Quellengattung. Eine Einführung, in: Kaufmannshandbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, H ARALD W ITTHÖFT / J EAN C LAUDE H OC- QUET / D ERS . (Hrsg.), Stuttgart 2002, 8-46. Bevor publizierte Handelspraktiken in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Verbreitung fanden, führten Kaufleute private Notizbücher mit ähnlichen Inhalten. Vgl. zum Beispiel das Kaufmannsnotizbuch der Paumgartner, das vom Beginn des 16. Jahrhunderts datiert; vgl. D ENZEL , Handelspraktiken, 17-20. Die handschriftlichen Nachträge zum Mederschen Handelsbuch belegen die Benutzung gedruckter Handelspraktiken durch Kaufleute. Die Autoren ließen sich bei ihren Aufzeichnungen von Meders Darstellung leiten, vgl. K ELLENBENZ , Handelsbräuche (wie Anm. 24), 73-121, 300-453. 26 W ERNER , Das kaufmännische Nachrichtenwesen (wie Anm. 11), 6, 8-14, 24-52, 10, besonders 28- 30; zur Kaufmannskorrespondenz T RIVELLATO , Discourse and Practice of Trust (wie Anm. 10), 7; zur direkten Kommunikation zwischen Kaufleuten auf Marktplätzen sowie in Gasthäusern und Tavernen vgl. H ARRELD , An Education in Commerce (wie Anm. 25), 15f. 27 Vgl. D ENZEL , Professionalisierung und sozialer Aufstieg (wie Anm. 6), 432, <?page no="251"?> Sven Schmidt 252 Neuzeit kamen handschriftliche und Neue Zeitungen, auch Avisen, Novissima oder Tidinge genannt, hinzu. Diese Gattung wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts um Messrelationen, Monatsblätter und Wochenzeitungen ergänzt. Aber auch die mündliche Übermittlung von Informationen blieb von Bedeutung. 28 3. Medien, die exakte und nur relativ kurzfristig gültige Daten über die sich vergleichsweise schnell verändernden Gegebenheiten eines Marktes lieferten, wie zum Beispiel Warenpreise und Sortimente als Indikatoren für Angebot und Nachfrage auf den europäischen Handelsplätzen. 29 Der Transfer solcher Informationen war ebenfalls eine zentrale Aufgabe der Kaufmannskorrespondenz, aber auch die spezielle Aufgabe der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in den großen Handelsmetropolen handschriftlich oder gedruckt publizierten Preis- und Wechselcouranten. 30 4. Medien, die auf die Vermittlung von kaufmännischen Fertigkeiten und Techniken mit entsprechender Nachhaltigkeit konzentriert waren. Diese Sparte umfasst vor allem die seit dem Spätmittelalter publizierten Arithmetiken und Buchhaltungstraktate. 31 Eine Mischung aus den eben genannten handgeschriebenen und gedruckten Medien sowie der verbale Austausch bildeten also die Vermittlungsgrundlage, um dem Kaufmann trotz der stark asymmetrischen Informationsverteilung und Unsicherheit frühneuzeitlicher Märkte kalkulierbares Handeln zu ermöglichen. Das heißt in erster Linie, neben Kenntnissen zu kaufmännischen Praktiken und Fertigkeiten, die Informationsgrundlage zur Abschätzung der Gewinnchancen und Risiken einzelner Geschäfte in einer Vorkalkulation zu liefern. 28 Vgl. R ENATE P IEPER , Communication Networks of the Habsburg Empire (1493-1598), in: Commercial Communication (wie Anm. 6), 21-35, hier 22f.; allgemein zu den Zetteln bzw. Neuen Zeitungen vgl. R ENATE P IEPER , Informationszentren im Vergleich. Die Stellung Venedigs und Antwerpens im 16. Jahrhundert, in: Kommunikationsrevolutionen (wie Anm. 1), 45-60, 46f.; vgl. zu ihren spezifischen Inhalten W ERNER , Das kaufmännische Nachrichtenwesen (wie Anm. 11), 24-44; J O- HANNES K LEINPAUL , Die Fuggerzeitungen 1568-1605, Leipzig 1921, Nachdruck Vaduz / Lichtenstein 1992, zum Inhalt der Fuggerzeitungen, 112-123; zur Bedeutung der kaufmännischen Korrespondenz T RIVELLATO , Discourse and Practice of Trust (wie Anm. 10), 7; vgl. auch Anm. 15. 29 Die Volatilität der Preise war im Börsenhandel von Produktart zu Produktart sehr unterschiedlich ausgeprägt, was seine Ursache vor allem in einer mehr oder weniger gesicherten Warenbeschaffung bzw. in der Konstanz des Angebots und der Informationen über das Angebot hatte. Während die Textilpreise auf der Nürnberger Börse nur marginalen Schwankungen ausgesetzt waren und meist über mehrere Monate konstant blieben, unterlagen die Zuckerpreise starken Schwankungen, vgl. PCVIII, IX, XI1639 und PCIII1640 (wie Anm. 15) mit Preisen für Canarienzucker auf der Nürnberger Börse: August 1639: 70 fl., September 1639: 63 fl., November 1639: 60-64 fl., März 1640: 60-62 fl. Die Preise belegen monatliche Preisschwankungen mit einem Durchschnitt zwischen fünf und zehn Prozent. Die Angaben von monatlichen Preisspannen (zum Beispiel 60-64 fl.) deuten auf wöchentliche Preisveränderungen von bis zu sechs Prozent hin. 30 Hierzu ist grundlegend die Studie von M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15). 31 H OOCK / J EANNIN / K AISER , Ars Mercatoria (wie Anm. 25), 1, 18. <?page no="252"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 253 Das skizzierte Spektrum der Medien lässt das Anwendungsprofil der Preiscourants hervortreten. Im Gegensatz zu der, aufgrund der Vielfalt an vermittelten Informationsarten, als multifunktional zu charakterisierenden Kaufmannskorrespondenz waren sie auf die Vermittlung kurzfristig relevanter Marktdaten (Preise, Sortimente usw.) spezialisiert. In Zedlers Universallexikon wird im Artikel über die Preißcouranten für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ausdrücklich ihre komplementäre Aufgabe zum Ereigniswissen der Zeitungen und Gazetten verdeutlicht. 32 Letzteres diente dem Kaufmann zunächst einmal zum Aufspüren von Marktchancen, indem er Preisentwicklungen prognostizierte: Preisveränderungen siehet nun ein kluger Kauffmann zum Steigen oder Fallen vielfältig vorher, und richtet dannenhero seinen Ein- und Verkauff darnach ein [...] Vor allen erforschet er die Ursache der Waaren Steigens und Fallens ob solche aus Mißwachs, See, Krieg, Wetter, Wasser, Feuer und Feindschaden, aus Mangel oder Vielheit der Waaren, Käuffer oder Verkäuffer aus falsch ausgesprengten oder wahrscheinlich befundenen Zeitungen, von der Ankunft einer reichen Schiffsflotte, guten Erndte, Fischfang, und dergleichen herkommen. 33 Hatte sich der Kaufmann für ein Geschäft entschieden, griff er auf die Preiscourants zurück, um anhand ihrer Preise und Sortimente, die Angebot und Nachfrage der vergangenen Woche oder des vergangenen Monats wiedergaben, also tatsächlich realisierte Preise, die in Abgleich mit den prognostizierten Preisen unter Berücksichtigung der Unkosten in einer Vorkalkulation die Chance auf Arbitragegewinne zu erkennen gaben, seinen Agenten die notwendigen Informationen für Ein- und Verkauf zu erteilen. Er erkundigt sich ferner alle Wochen oder Posten täglich in den gedruckten und geschriebenen Preiscourants oder Zetteln, was diese oder jene Waare, dieses letztere mal oder diesen abgewichenen Monat, Posttag oder Wochen verkaufft worden, richtet hierauf seine Mesures ein, ertheilet Befehl zum Ein- oder Verkauff, hält die zu Haus bey sich habende Waaren im Preis, oder schlägt sie von der Hand weg, und führt sich überhaupt dergestalt damit auf, daß er allezeit gewinne, aber doch zum wenigsten keinen Schaden erleide. 34 Preiscourants eröffneten, im Gegensatz zum Ereigniswissen, einen unmittelbareren und glaubwürdigeren Zugang zum Marktgeschehen, stellten jedoch höhere Ansprüche an ihre Nutzer als andere Nachrichtenquellen. Kommerziell relevantes Ereigniswissen entstammte einer Kette von Erhebungen und Interpretationen häufig unbekannter Produzenten, Informanten und Vermittler. Es war einer direkten Nutzung durch den Kaufmann zugänglich, sieht man von seiner auch in Zedlers Universallexikon am Beispiel 32 Art. Preißcouranten, in: Z EDLER , Universallexicon (wie Anm. 15), Bd. 29, Sp. 303f. 33 Art. Preißcouranten, in: Z EDLER , Universallexicon (wie Anm. 15), Bd. 29, Sp. 303f. 34 Art. Preißcouranten, in: Z EDLER , Universallexicon (wie Anm. 15), Bd. 29, Sp. 303f. <?page no="253"?> Sven Schmidt 254 der Zeitungen betonten Unzuverlässigkeit ab, die eine Überprüfung über parallele Nachrichtenkanäle ratsam erscheinen ließ. Die Marktdaten der Preiscourants waren genauer, erforderten aber eine umfassende Dekodierung und zielorientierte Auswertung. 35 Das heißt die Produktion von Handlungswissen aus den gespeicherten Marktdaten lag vollständig beim Nutzer. Wie ein Vergleich von Geschäftskorrespondenzen dreier europäischer Fernhandelskaufleute um 1550, 1590 und 1780 zeigt, ergänzten und ersetzten die gedruckten Preis- und Wechselcourants im europäischen Fernhandel in zunehmendem Maße die handschriftliche Notierung von exakten Marktinformationen, die Kaufmannsbriefen traditionell als post scriptum oder auf einem separaten Zettel beigefügt wurden. Die Kaufleute legten die einzeln oder als Abonnement erworbenen Preis- und Wechselcouranten einfach ihren Geschäftsbriefen bei. 36 Im Briefbuch des Antwerpener Kommissionskaufmanns Pieter van der Molen lässt sich der Beginn dieser Entwicklung beobachten. Die von ihm zwischen 1538 und 1544 erhaltenen Briefe enthielten, neben Nachrichten zu politischen, militärischen und ökonomischen Ereignissen, die für Kaufmannsbriefe dieser Zeit typischen kurz- und mittelfristigen Marktinformationen: Listen von Warenpreisen und Wechselkursen, Berichte über die Ankunft großer Lieferungen an Gewürzen, Getreide etc. sowie Schilderungen der Geschäftslage auf den Messen von Antwerpen und Bergen-op-Zoom. Beginnend mit dem 22. August 1540 wurden dann, wie das Briefbuch berichtet, gelegentlich anstatt handgeschriebener Nachrichten gedruckte Preislisten beigelegt. 37 Die im Nachlass des Leidener Kaufmanns Daniel van der Meulen überlieferten Geschäftskorrespondenzen, die den ersten bisher bekannten Nürnberger Preiscourant, der vom März 1586 datiert, enthalten, zeigen ein ähnli- 35 Zur Qualität der Preiscourants vgl. Anm. 65, 66, 67. Trivellato setzte kürzlich Preiscourants, Gazetten und allgemeine Zeitungen bei einer Bewertung des kaufmännischen Nutzwertes von publizierten Geschäftsinformationen fehlerhafter Weise gleich, vgl. T RIVELLATO , Discourse and Practice of Trust (wie Anm. 10); zur Genauigkeit und den Anwendungsgebieten von allgemeinen Zeitungen und Gazetten vgl. M ICHEL M ORINEAU , Die Holländischen Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Kommunikationsrevolutionen (wie Anm. 1), 33-43, hier 33; Renate P IEPER , Communication Network of the Habsburg Empire (wie Anm. 28), 24; vgl. zur Bedeutung paralleler Nachrichtenkanäle für die Qualitätssicherung von Ereignisinformationen R EGINA D AUSER , Informationskultur und Beziehungswissen. Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531-1598), Tübingen 2008, 152-157. 36 Dieses Verfahren der Trennung der persönlichen Briefinhalte von Informationen, die zur seriellen Weitergabe bestimmt waren, hatte sich bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts herausgebildet, vgl. W ERNER , Das kaufmännische Nachrichtenwesen (wie Anm. 11). 37 F LORENCE E DLER , The van der Molen, Commission Merchants of Antwerp. Trade with Italy 1538- 44, in: Medieval and Historiographical Essays in Honor of James Westfall Thompson, J AMES L EA C ATE / E UGENE N. A NDERSON (Hrsg.), Chicago 1938, 78-145, hier 81; vgl. auch M C C USKER , Demise of Distance (wie Anm. 10), 299f. <?page no="254"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 255 ches Bild. 38 In den Jahren 1585 bis 1600 treten zu den handschriftlichen Preisnotierungen aus Amsterdam, Frankfurt, Nürnberg, Venedig, Bologna und von weiteren italienischen Handelsplätzen Preiscourants aus Nürnberg (1586), Frankfurt (1593 und 1598) sowie aus Venedig (1588-1600, teils monatlich). Es handelt sich um einige der ältesten erhaltenen Preiscourants. Der Briefverkehr der Nürnberger Handlung Förster und Günther (1742-1842) belegt schließlich, dass sich Preis- und Wechselcourants als Bestandteil der Kaufmannskorrespondenz im europäischen Fernhandel dieser Zeit etabliert hatten. Im Nachlass der Firma finden sich für den Zeitraum von circa 1780-1800 regelmäßig Exemplare aus Frankfurt, Amsterdam, Triest, Paris, Hamburg, Bremen, London, Breslau, Köln, Nantes, Rotterdam, La Rochelle, Magdeburg, Marseille, Breslau, Bordeaux, Leipzig und Liverpool, darunter auch private Preiscourants von mit Förster und Günther in Geschäftskontakt stehenden Firmen. 39 Karte: Diffusion der Publikation von Preiscourants in Europa 1540-1774 40 38 GAL Collection Daniel van der Meulen. Nr. 92, Blatt Nr. 2; Daniel van der Meulen flüchtete im September 1585 mit seinem Bruder Andreas und seiner Familie nach Bremen. Daniel weilte am 19. Januar 1586 in Nürnberg, vgl. R OOSBROECK , Niederländische Glaubensflüchtlinge (wie Anm. 13), 128-133. Der in seiner Korrespondenz erhaltene Nürnberger Preiscourant stammt vom März 1586. 39 StAN E9/ 001. 40 Die auf der Karte verzeichneten Jahreszahlen bezeichnen das Jahr der jeweils erstmalig bekannten Überlieferung von Preiscourants aus den genannten Orten. Quellen: Für die Nürnberger Preiscourants vgl. Anm. 15; zu den Preiscourants von Förster und Günther vgl. StAN E9/ 001; zu den übrigen Preiscourants Anm. 19. <?page no="255"?> Sven Schmidt 256 4. Verhaltensmuster, Organisations- und Kostenstrukturen kaufmännischer Kommunikation im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert Wie erklärt sich die Diffusion des neuen Mediums? Das Streben nach genauer und aktueller Information zeichnete bereits den mittelalterlichen Fernhandelskaufmann aus. 41 Der Erwerb und die Verwendung von Preiscourants lässt sich auf den ersten Blick nicht mit dem Nutzenkalkül von Kaufleuten zur Deckung bringen, denn sie verursachten zusätzliche Kosten, ohne dass sie ergänzende Informationen zur traditionellen Kaufmannskorrespondenz übermittelt oder die Informationskosten durch eine Beschleunigung der Informationsübermittlung gesenkt hätten. 42 Die augenfälligste Neuerung, die mit ihrer Verbreitung in Verbindung stand, war zunächst die Tatsache ihrer Publizität und damit ihre Erreichbarkeit für jedermann, der bereit war, für sie zu zahlen oder im kaufmännischen Austausch eine andere Gegenleistung zu erbringen. Ihre Publikation lässt sich als Bestandteil einer seit der Mitte des 16. Jahrhunderts generell zu beobachtenden Tendenz zu einer „Demokratisierung“ des kommerziellen Informationszugangs begreifen. Sie resultierte aus einem veränderten Umgang von Kaufleuten, städtischen Verwaltungen, kaufmännischen Lehrern und Schriftstellern mit ökonomischen Informationen und Wissen. 43 Sowohl für die Praktiken des Handels als auch für den Umgang mit geschäftsrelevanten Informationen galt im Mittelalter und noch zu Beginn der Frühen Neuzeit das Gebot der Verschwiegenheit. Kaufleute hielten deshalb vereinzelt noch bis in die Neuzeit hinein Preise, die sich aus Markt-, Börsen- und Messegeschäften ergaben, geheim. 44 Einblick in die zeitgenössische Wahrnehmung einer Veränderung des Umgangs mit kommerziellem Wissen ermöglichen die frühen Autoren kaufmännischer Literatur seit dem 16. Jahrhundert. Der Nürnberger Rechenmeister Lorenz Meder entgegnete in der Einleitung zu seinem 1558 erschienenen Handelsbuch potentiellen Kritikern an seiner Veröffentlichung vormals geheim gehaltener Handelspraktiken, ihre Offenlegung würde zwar den Nutzen einiger großer Kaufleute beeinträchtigen, 41 F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, Bd. 2, Der Handel, 3 Bde., München 1986, 178, 445-450. 42 F ERNAND B RAUDEL , The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II, 2 Bde., New York 1972, Bd. 1, 369. 43 N ORTH , Kommunikation (wie Anm. 1), 6; vgl. auch den Beitrag von Clé Lesger im vorliegenden Band. 44 M C C USKER , The Demise of Distance (wie Anm. 10), 298f.; vgl. auch W IELAND S ACHSE , Wirtschaftsliteratur und Kommunikation bis 1800, in: Die Bedeutung von Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Referate der 12. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 22.-25. April 1987 in Siegen, H ANS P OHL (Hrsg.), Stuttgart 1989, 199-215, hier 206; vgl. W ERNER , Kursberichte (wie Anm. 15), 95. <?page no="256"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 257 aber den Nutzen vieler befördern. 45 Auf eine nahezu identische Argumentation rekurrierte auch Jacob Savary in der Einleitung zu seinem Lehrbuch Der Vollkommene Kauf- und Handelsmann (1675). Hinter solchen Rechtfertigungen verbergen sich sicherlich auch handfeste Interessen der Autoren, die Exklusivität ihrer Werke zu betonen, um potentielle Leser zu gewinnen. Unabhängig davon, ob nun ihre spezifischen Themen tatsächlich einer großen Gruppe von Kaufleuten Neuheiten boten, markiert der Übergang zur Publizität kaufmännischer Wissensbestände, der sich auch im Erscheinen der ersten Hand- und Lehrbücher vollzog, einen Strukturbruch in der kaufmännischen Wissensvermittlung. War vormals lokales Geschäftswissen nur durch langjährige Tätigkeit vor Ort, Generationen übergreifende Weitergabe oder enge Geschäftsbeziehungen zu Einheimischen zu erwerben, das heißt von langfristigen und lokal fixierten Investitionen in ökonomische und soziale Ressourcen bzw. in soziales Kapital abhängig gewesen, konnte es nun, solcher Beschränkungen enthoben, gegen die einmalige Zahlung eines Entgelts auf den europäischen Buchmärkten erworben werden. Im Ergebnis besaß ein größerer Kreis von interessierten Kaufleuten und Laien Zugang zu den kommerziellen Wissensbeständen verschiedener europäischer Lokalitäten. 46 Die im Mittelalter vorherrschenden diskreten Kommunikationsmuster des Fernhandels materialisierten sich im bis zum Beginn der Neuzeit im transeuropäischen Binnenhandel verbreitetsten Typus kaufmännischer Geschäftsorganisation und seinem Informationsmanagement. Während des Spätmittelalters und noch bis ins letzte Drittel des 16. Jahrhunderts wurde er von den großen, mit hohem Kapitalaufwand betriebenen Familiengesellschaften dominiert. Die Informationsbeschaffung dieser Firmen erfolgte in erster Linie innerhalb ihrer Filialnetze, die als exklusive Systeme der Nachrichtenerhebung und -übermittlung betrachtet werden können. 47 Die Teil- 45 K ELLENBENZ , Handelsbräuche (wie Anm. 24), 3f., 72. 46 J ACOB S AVARY , Der vollkommene Kauf- und Handelsmann, Genf 1676, Neudruck der deutschen Übersetzung Frankfurt a. M. 1968, Vorrede, 10ff.; vgl. D ENZEL , Professionalisierung und sozialer Aufstieg (wie Anm. 6), 432-435: Meder beging mit seiner Veröffentlichung bislang „verborgener Künste“ zumindest für den oberdeutschen Raum mit der Offenlegung streng gehüteter kaufmännischer Geheimnisse einen Tabubruch. 47 Allgemein zu den Kommunikationssystemen oberdeutscher Handelsgesellschaften vgl. M ARK H ÄBER- LEIN , Handelsgesellschaften, Sozialbeziehungen und Kommunikationsnetze in Oberdeutschland zwischen dem ausgehenden 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: H OFFMANN / K IEßLING , Kommunikation und Region (wie Anm. 10), 305-326, hier 309, 317; zu den Kommunikationssystemen der Welser und Fugger W ERNER , Das kaufmännische Nachrichtenwesen (wie Anm. 11); am Beispiel der Fugger vgl. H ARTMUT S CHIELE / M ANFRED R ICKER , Betriebswirtschaftliche Aufschlüsse aus der Fuggerzeit, Berlin 1967, 71, 76, 98f., 79f.; zur Organisationsstruktur von Fernhandelsfirmen im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit C LEMENS B AUER , Unternehmung und Unternehmungsformen im Spätmittelalter und in der beginnenden Neuzeit, Jena 1936, 17-19, 33-36, 44f.; vgl. zum kaufmännischen Informationsmanagement im Faktoreinetz das Beispiel der Informationspolitik der Welser in Hamburg. Diese ließen sich um 1611 wöchentlich von ihrem dortigen Faktor Philip Hensler Zeitungen zusammenstellen. Neben Nachrichten zur politischen und allgemeinen Geschäftslage enthielten diese „Zeitungen“ Erörterungen über die aktuelle Nachfrage nach Spezereien und deren Preise; H ER- <?page no="257"?> Sven Schmidt 258 haber und Faktoren waren bezüglich der Geschäftsnachrichten zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wobei, wie es für die Welser oder Fugger bekannt ist, Informationen zwischen kooperierenden Firmen ausgetauscht und allgemeinere, das heißt vor allem politische Nachrichten oder Kuriositäten einer weiteren Öffentlichkeit, vor allem befreundeten Mitgliedern kaufmännischer, klerikaler, gelehrter und adeliger Führungsschichten zugänglich gemacht wurden. 48 Da der Unterhalt exklusiver Vertretungs- und Nachrichtennetze mit hohen absoluten Fixkosten verbunden war, die zum Beispiel für die Anmietung und den Unterhalt eines Faktoreigebäudes sowie die Besoldung des Personals aufzuwenden waren, konnten sich nur kapitalkräftige Handelshäuser ihren Betrieb leisten. Große Handelsgesellschaften verfügten deshalb über einen für ihre ökonomische Vormachtstellung entscheidenden Informationsvorsprung. 49 Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte sich dann im transeuropäischen Fernhandel Nordwest- und Mitteleuropas eine alternative Form kaufmännischer Vertretungs- und Nachrichtennetze durch. Eine zunehmende Zahl von kleineren Unternehmungen, Einzelkaufleuten und Gesellschaften, die sich - nach italienischem Vorbild - gegenseitig im Kommissions- und Speditionsgeschäft oder innerhalb anderer Organisationsformen vertraten und im Ergebnis Vertretungs- und Nachrichtennetze mit geringeren Aufwendungen an Fixkosten etablieren konnten, machten den großen Familiengesellschaften Konkurrenz und begannen diese abzulösen. 50 Die auf den Überseehandel spezialisierten, staatlich privilegierten Handelskompanien bildeten seit dem beginnenden 17. Jahrhundert eine MANN K ELLENBENZ , Unternehmerkräfte im Hamburger Portugal- und Spanienhandel 1590-1625, Hamburg 1954, 162f. 48 W ERNER , Das kaufmännische Nachrichtenwesen (wie Anm. 11), 33f. 49 H ÄBERLEIN , Handelsgesellschaften, Sozialbeziehungen und Kommunikationsnetze (wie Anm. 47), 309, 317; zum Informationsvorsprung großer Handelsgesellschaften vgl. E LMAR L UTZ , Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften in der Zeit der Fugger, 2 Bde., Tübingen 1976, Bd. 1, 90f., 92 (Anm. 334), 119f., 123. 50 Zum Aufstieg zahlreicher kleinerer und kosteneffektiver wirtschaftender Fernhandelsfirmen im 16. Jahrhundert B RAUDEL , The Mediterranean (wie Anm. 41), 212; vgl. zum Aufstieg vielseitig kooperierender Einzelkaufleute am Beispiel Nürnbergs P ETERS , Der Handel Nürnbergs (wie Anm. 13), 583; C HRISTEL W ARNEMÜNDE , Augsburger Handel in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts und dem beginnenden 17. Jahrhundert, Diss. Freiburg i. Br. 1965, 22-25; vgl. auch E RICH L ANDSTEI- NER , Kein Zeitalter der Fugger: Zentraleuropa 1450-1620, in: F RIEDRICH E DELMAYER / P ETER F ELDBAUER / M ARIJA W AKOUNIG (Hrsg.), Globalgeschichte 1450-1620. Anfänge und Perspektiven, Wien 2002, 97-106. Der Seehandel der Hanse und Venedigs basierten bereits im Mittelalter auf einer flexiblen Zusammenarbeit von Einzelkaufleuten und Handelsgesellschaften, vgl. den Beitrag von U LF C HRISTIAN E WERT und S TEPHAN S ELZER in diesem Band und F REDERIC C. L ANE , Seerepublik Venedig, München 1980; vgl. zur Entwicklung kaufmännischer Organisationsformen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts J ÜRGEN S CHNEIDER , Die Bedeutung von Kontoren, Faktoreien, Stützpunkten (von Kompagnien), Märkten, Messen und Börsen im Mittelalter und früher Neuzeit, in: P OHL , Die Bedeutung von Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 44), 37-63, hier 55f.; E IKE E BERHARD U NGER , Nürnbergs Handel mit Hamburg im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 54 (1966), 1-85, hier 76f.; zum Kommissionsgeschäft im allgemeinen B RAUDEL , Der Handel (wie Anm. 41), 258. <?page no="258"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 259 weitere, alternative, wenn auch den innereuropäischen Fernhandel dieser Epoche in keiner Weise dominierende Unternehmensform aus. 51 Ihre Informationspraktiken ähnelten strukturell denjenigen der großen Familienhandelsgesellschaften. Sie unterhielten einen firmeninternen Nachrichtenverkehr, publizierten aber zum Teil private Preiscourants, um Abnehmer über ihre Waren und Preise auf dem Laufenden zu halten. 52 Der Aufbruch geschlossener Systeme der Nachrichtenerhebung und -übermittlung, wie sie in den großen Familienhandelsgesellschaften des Mittelalters üblich waren, und die verstärkte Verbreitung unternehmensübergreifend organisierter Informationsnetze im binnenländischen Fernhandel Europas zogen aus einer strukturellen Notwendigkeit heraus eine verstärkte Nachfrage nach externen Informationsquellen nach sich. Diese Entwicklung ist deshalb als eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen einer nachhaltigen Nachfrage nach publizierten Geschäftsinformationen und die Etablierung spezialisierter Informationsdienstleister zu werten. Ungeklärt bleiben aber weiterhin die Anreize, die Kaufleute bewogen haben könnten, ihre Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Neben den geschilderten organisatorischen Wandlungsprozessen, ergaben sich auch aus einer erhöhten Frequenz, räumlichen Ausweitung und einem steigenden Aufkommen des Güteraustausches sowie einer Ausdifferenzierung des Güterangebots neue Herausforderungen für die Kommunikationspraktiken von Kaufleuten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Das periodische Messegeschäft wurde auf den großen Handelsplätzen Zentral- und Nordwesteuropas in Amsterdam, Hamburg, London, Nürnberg und Frankfurt durch den permanenten Börsenhandel ergänzt und ersetzt. 53 Auf der Nürnberger Börse nahm das Gütersortiment von 112 Waren im Jahr 1586 über 223 Waren 1615 auf 429 Waren im Jahr 1626 zu. Für die Entwicklung des Nürnberger Textilhandels wurde nachgewiesen, dass sich mit dem Sortiment zwischen 1520 und 1640 auch die Bezugs- und Absatzgebiete der gehandelten Waren ausweiteten. 54 Aufgrund der geringen produktbezogenen Spezialisierung frühneuzeitlicher Kaufleute ist davon auszugehen, dass die Erhöhung der Frequenz, die qualitative und räumliche Differenzierung und die Mengenzunahme der umgesetzten Güter den kaufmännischen Bedarf 51 Zu den Handelskompanien K RISTOF G LAMANN , Der Europäische Handel, in: Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2: Sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, C ARLO M. C IPOLLA / K NUT B ORCHARDT (Hrsg.), 5 Bde., Stuttgart / New York 1979, 271-334, hier 325-327. 52 Im Bestand der Nürnberger Firma Förster & Günther befinden sich gedruckte Preislisten der Ostindischen Kompanie aus Amsterdam und Rotterdam der Jahre 1783; StAN E9/ 001 (33), (34), (39), (47), (53), (77). 53 D IEFENBACHER , Handel und Kaufmannschaft (wie Anm. 12), 403. 54 S VEN S CHMIDT , Das textile Sortiment der Nürnberger Preiscourants (1586-1640), Magisterarbeit im Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bamberg 2005, 173f. <?page no="259"?> Sven Schmidt 260 nach exakten Marktinformationen erhöhten. 55 Geht man von stabilen Stückkosten bei der Produktion von Geschäftsinformationen aus, hätte eine gestiegene Informationsproduktion zur Deckung des ausgeweiteten Bedarfs zu einer Zunahme der von Kaufleuten für die Informationserhebung aufzuwendenden relativen und absoluten Kosten geführt. Inwiefern lässt sich die Adaption der Preiscourants aus der Motivation von Kaufleuten erklären, ihre im Steigen begriffenen Informationskosten zu senken? Vergleicht man die zu erwartenden Informationskosten nach dem traditionellen Muster einer exklusiven Produktion und Verbreitung von Informationen innerhalb von Handelsgesellschaften oder Handelsnetzwerken mit der alternativen Variante einer Arbeitsteilung zwischen öffentlicher oder halbprivater Informationserhebung, Kontrolle und Vermarktung auf der einen Seite und privater Informationsübermittlung auf der anderen Seite, wie sie für die Verwendung der Preiscourants typisch war, wird ihr kostensenkendes Potential deutlich. Zum einen eröffnete der Vertrieb von Informationen über Märkte ihren Produzenten die Möglichkeit, ihre Produktionskosten auf einen größeren Kreis von Rezipienten umzuschlagen, als dies Kaufleute in personell begrenzteren Handelsgesellschaften oder Handelsnetzwerken vermochten, und damit höhere Skalenerträge erzielen. 56 Die Produzenten der Preiscourants konnten ihre Marktdaten deshalb zu geringeren Kosten vertreiben. 57 Zum anderen waren die mit der Erhebung der Preiscourants 55 Vgl. zur absoluten Zunahme des Handelsaufkommens und zur Differenzierung der Handelsströme im 16. Jahrhundert E DWIN S. H UNT / J AMES M. M URRAY , A History of Business in Medieval Europe, 1200-1550, Cambridge 2006, 244f. 56 Vgl. am Beispiel Amsterdam, Antwerpen und London im 17. Jahrhundert, M C C USKER / G RA- VESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 44, 86, 292f.; am Beispiel Nürnbergs weiter unten im Text. 57 Für einen Handelsplatz lässt sich das Potential der Preiscourants zur Senkung der Kosten, die bei der Erhebung exakter Marktdaten aufzuwenden waren, mathematisch wie folgt simulieren: KG = Gesamtkosten der Informationserhebung an einem Handelsplatz; n = Anzahl der Teilnehmer, die Geschäftsinformationen an einem Handelsplatz selbst erheben bzw. von einem Makler nachfragen. Bei den Teilnehmern kann es sich um Kaufleute oder Repräsentanten von Unternehmen oder Handelsnetzwerken handeln, die die erhobenen Informationen an ihre Korrespondenten an anderen Handelsorten weitergaben. k = aufzuwendende Kosten pro Teilnehmer bei einer individuellen Erhebung exakter Marktdaten. Sie werden zur Vereinfachung für alle Teilnehmer als konstant angenommen; kp = durchschnittliche Kosten eines Teilnehmers an einem Handelsplatz bei der Nutzung von Preiscourants. Die Gesamtkosten für die Informationserhebung an einem Handelsplatz ergeben sich nach dem Muster einer exklusiven Marktdatenerhebung und -übermittlung durch jeden Teilnehmer aus folgendem Zusammenhang: KG(n) = k*n. Das heißt, die Gesamtkosten steigen proportional mit der Anzahl der Teilnehmer, die Informationen selbständig erheben, an. Die durchschnittlichen Kosten pro Kaufmann betragen unbeeinflusst von der Menge der Teilnehmer k. Geht man im alternativen Szenario einer alleinigen Marktdatenerhebung und -publikation durch einen Warenmakler davon aus, dass dieser ohne Gewinnabsicht agiert und lediglich die bei seiner Erhebungstätigkeit anfallenden Kosten auf alle Teilnehmer umschlägt, würden die Gesamtkosten der Informationserhebung aller Teilnehmer an einem Handelsort lediglich die Kosten einer einmaligen Informationserhebung umfassen: Kg = k. Die durchschnittlichen Kosten pro Teilnehmer betragen dann kp = k/ n. Das heißt, je mehr Teilnehmer (n) sich an einem Handelsplatz der Preiscourants bedienten, desto geringer fielen ihre durchschnittlichen Kosten für die Erhebung exakter Marktdaten aus. Sie tendierten bei einer kontinuierlichen Zu- <?page no="260"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 261 betrauten städtischen Warenmakler verpflichtet, für mögliche Streitfälle über jedes Geschäft Buch zu führen. Weil sie bei der Erstellung der Warenpreislisten auf diese Informationen zurückgreifen konnten, ist davon auszugehen, dass sie die Erhebung von aktuellen Preisen und Sortimenten als eine Art Kuppelprodukt zu geringeren Kosten durchführen konnten als Kaufleute. 58 Die alternativen Erhebungskosten lassen sich in Vergleich setzen. In Amsterdam wurde ein jährliches Abonnement der wöchentlich erscheinenden Preiscourants im Jahr 1613 für umgerechnet ca. 2,9 Nürnberger Kreuzer vertrieben, in Nürnberg im Jahr 1652, vertraut man den Angaben von Roth, der sich auf ein städtisches Ämterbuch bezieht, zu 1,7 Kreuzer. Der Stundenlohn eines durchschnittlich besoldeten Handelsdieners einer großen Handelsgesellschaft betrug im beginnenden 17. Jahrhundert ca. 6,8 Kreuzer. 59 Der Preis-Lohnvergleich verdeutlicht, dass es Kaufleuten kaum möglich gewesen sein dürfte, eine umfassende Erkundung der Preise mehrerer hundert Güter an einem Handelsplatz unterhalb des Kaufpreises der Preiscourants zu realisieren. Indem Kaufleute offizielle Preiscourants an ihrem jeweiligen Handelsort erwarben und diese mit den Preiscourants ihrer Geschäftspartner an anderen europäischen Standorten austauschten, ersparten sie sich bzw. ihren Agenten das zeitraubende und kostenintensive Sammeln von exakten Marktinformationen zu Preisen, Sortimenten, Wechselkursen und Handelsusancen und konnten ihre eigenen Markterkundungsaktivitäten auf den Börsen, Messen, nahme der Teilnehmer gegen 0. Für die reale Situation in Nürnberg ist jedoch davon auszugehen, dass die Makler aus Gewinnabsichten heraus nicht alle Kostenvorteile (Skalenerträge) an die Markteilnehmer weitergaben. Um einen Absatz für ihre Preiscourants zu finden, waren sie jedoch gezwungen, mit ihrem Verkaufspreis pro Stück die Kosten einer selbständigen Informationserhebung pro Kaufmann (=k) zu unterschreiten. In Nürnberg und Amsterdam wurde der Preis der Preiscourants obrigkeitlich reguliert, vgl. Anm. 58; M C C USKER , Information and Transaction Costs (wie Anm. 9), 78f., der den Wandel der Produktionsorganisation exakter Marktinformationen, der mit der Einführung von Preiscourants einherging und ihr kostensenkendes Potential ignorierte, vertritt die hier widerlegte Auffassung, dass Preiscourants die Informationskosten von Kaufleuten nicht verringerten, jedoch ihre Transaktionskosten abgesenkt hätten, indem sie ihnen glaubwürdigere und regelmäßigere Informationen vermittelt hätten. 58 Vgl. die Aufgaben der Unterkäufel (Makler) auf der Nürnberger Börse nach dem Marktbuch von 1582, StAN E8 (573), 249f. und nach den Pflichten der Unterkäufel StAN E8 (829), StAN E8 (129); vgl. auch die Kompilation der Preiscourants am Beispiel Londons, in: M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 296. 59 R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 15), Bd. 4, 333. Der Nürnberger Preis wurde umgerechnet mit dem offiziellen Wechselkurs von 1623-1700, vgl. H IRONOBU S AKUMA , Die Nürnberger Tuchmacher, Weber, Färber und Bereiter vom 14. bis 17. Jahrhundert, Nürnberg 1993, 45; der Amsterdamer Preis aus M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 19), 45, wurde umgerechnet mit den 1619 in Amsterdam gültigen Wechselkursen, entnommen aus M ARKUS A. D ENZEL , Währungen der Welt IX. Europäische Wechselkurse von 1383 bis 1620, Stuttgart 1995, 89. Für den Stundenlohn wurde von einer durchschnittlichen Jahresbesoldung von 500 fl. bei einer Arbeitszeit von 12 Stunden ausgegangen, vgl. zu den Löhnen von Handelsdienern R EINHARD H ILDEBRANDT , Diener und ihre Herren. Zur Anatomie großer Unternehmen im Zeitalter der Fugger, in: Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils, J OHANNES B URK- HARDT (Hrsg.), Berlin 1996, 149-174, hier 169f. <?page no="261"?> Sven Schmidt 262 Marktplätzen sowie in den städtischen Kaffee- und Gasthäusern europäischer Marktzentren auf die Einholung des für die Abschätzung der Konjunkturentwicklung wichtigen ökonomischen, politischen und ökologischen Ereigniswissens und das Eruieren lukrativer Einzelgeschäfte konzentrieren. Die auf den Preiscourants verzeichneten Marktdaten konnten einmal produziert, ohne zusätzliche Erhebungskosten personell und geographisch nahezu unbegrenzt, lediglich durch die Dauer ihrer Aktualität beschränkt, kursieren. Je größer die Gruppe von Kaufleuten, die bei ihren Informationserhebungen an einem Handelsplatz auf die Informationsdienstleistungen der städtischen Warenmakler zurückgriff, desto geringer waren die durchschnittlichen Informationskosten, die ein Kaufmann für das Erheben exakter Marktinformationen aufwenden musste. 60 Doch nicht nur das Kostenargument sprach für ihre Nutzung. Paul C. Milgrom, Douglas C. North und Barry R. Weingast haben gezeigt, dass im vormodernen Handel die Aufrechterhaltung von Handelsgeschäften in einem weiten geographischen Raum mit wechselnden Partnern, zum Beispiel Kommissionären, eine größere Unsicherheit für das Handeln des Kaufmannes implizierte als das Handeln in kleinen, von starker sozialer Kohäsion geprägten Gruppen, die sich in einem begrenzteren Wirtschaftsraum bewegten. Weil Informationen über das frühere Geschäftsverhalten eines vielleicht nur flüchtig bekannten Handelspartners wegen der hierfür aufzuwendenden hohen Informationskosten kaum in Erfahrung gebracht werden konnten, war die potentielle Gefahr sozialer Sanktionen bei Regelabweichungen nicht mehr gleichermaßen wie in kleineren Gruppen, zum Beispiel in den Filialsystemen von Handelsgesellschaften, geeignet, die reziproke Erfüllung von Aufträgen sicherzustellen. Unter solchen Bedingungen konnte es profitabel sein, Abmachungen, die mit Kosten verbunden waren, zum Beispiel das akkurate Ausführen übertragener Informationsdienste, nicht einzuhalten. 61 Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer erläutern exemplarisch die kulturellen, sozialen und politischen Kontexte, die die Funktionsfähigkeit des Reziprozitätsprinzips in den Handels- und Kommunikationsnetzen Hansischer Kaufleute sicherstellten: die geographische Beschränkung ihres Wirtschaftsraums 60 Vgl. Anm. 57. Sinkende Produktionskosten bei zunehmender Verbreitung sind ein generelles Charakteristikum von Information als ökonomisches Gut. Mit zunehmender Verbreitung der Information werden die einmalig aufzuwendenden Kosten der Produktion auf immer mehr Kopien verteilt, so dass die Durchschnittskosten pro Stück abnehmen. Diese Fixkostendegression ist eine Ursache von Konzentrationstendenzen in informationsintensiven Branchen, wie zum Beispiel der Medien- und Softwareindustrie, vgl. A RNOLD P ICOT / R ALF R EICHWALD / R OLF T. W IGAND , Die Grenzenlose Unternehmung. Information, Organisation und Management, Wiesbaden 2001, 63f. Wie das Beispiel der Preiscourants zeigt, war dieser Zusammenhang beim marktförmigen Vertrieb von Informationen auch für die frühe Neuzeit gültig; vgl. auch den Beitrag von C LÉ L ESGER in diesem Band, Anm. 35. 61 P AUL L. M ILGROM / D OUGLASS C. N ORTH / B ARRY R. W EINGAST , The Role of Institutions in the Revival of Trade. The Law Merchants, Private Judges and the Champagne Fairs, in: Economics and Politics 2 (1990), 1-21. <?page no="262"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 263 auf den nord- und nordwesteuropäischen Raum, die starke Kongruenz von Handels- und Verwandtschaftsbeziehungen, die gemeinsame Sprache des Niederdeutschen, die Zugehörigkeit zum Lübischen Rechtsraum und ihr politisch abgesichertes Präferenzsystem. Bedingungen, die eine geschlossene Koalition von Kaufleuten hervorbrachte, in welcher die als „Butenhansen“ bezeichneten Fremden bis ins ausgehende Mittelalter nur schwer einzudringen und zu konkurrieren vermochten. Auf der anderen Seite begrenzte jedoch die funktionale Abhängigkeit ihrer Geschäftsorganisation von einer umfassenden kulturellen, sozialen und politischen Einbettung in ein geographisch fixiertes Umfeld ihre Fähigkeit zur räumlichen Expansion. 62 Fernhandelskaufleute des transeuropäischen Binnenhandels, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Netzwerken geringerer sozialer und kultureller Kohäsion in einem weiten geographischen Raum agierten, mussten also, wie auch Unger hervorgehoben hat, in Betracht ziehen, dass Geschäftspartner ihre Verpflichtungen zur Erhebung von Marktinformationen aus Kostengründen nicht sorgfältig genug erfüllten. 63 Wie Milgrom, North und Weingast am Beispiel der Gerichtsbarkeit der Champagne-Messen im 13. Jahrhundert herausgearbeitet haben, besaß die Produktion und Verbreitung von Informationen zu Regelabweichlern in einer zentralen Institution das Potential, die disziplinierende Wirkung des Reziprozitätsprinzips in einem großen geographischen Raum mit wechselnden Geschäftspartnern sicherzustellen. 64 Im System der Preiscourants lässt sich ein alternativer institutioneller Mechanismus zur Entschärfung der Vertrauensproblematik sozial, kulturell und geographisch entbetteter Geschäftsbeziehungen feststellen. 65 Offizielle Preiscourants wurden mit den Unterschriften oder Initialen der städtischen Warenmakler versehen, die mit ihrer Publikation beauftragt worden waren. Die vereidigten Makler traten den Kaufleuten auf den frühneuzeitlichen Märkten als unparteiische Vermittler gegenüber und konnten deshalb die Qualität ihrer Marktdaten einem großen Kreis von Kaufleuten unterschiedlichster Herkunft glaubwürdig versichern, auch wenn ihre Geschäftsbeziehungen parallele soziale oder kulturelle Bindungen vermissen ließen. Städtische Ordnungen verpflichteten die Makler am Nürnberger Herrenmarkt seit dem 16. Jahrhundert zu Verschwiegenheit, Nüchternheit 62 U LF C HRISTIAN E WERT / S TEPHAN S ELZER , Wirtschaftliche Stärke durch Vernetzung. Zu den Erfolgsfaktoren des Hansischen Handels, in diesem Band, 60-66. 63 U NGER , Nürnbergs Handel mit Hamburg (wie Anm. 50), 50. 64 M ILGROM / N ORTH / W EINGAST , The Role of Institutions (wie Anm. 61) 1, 8f., 18, 19ff. 65 Vgl. J ENS B ECKERT , The Great Transformation of Embeddedness: Karl Polanyi and the New Economic Sociology. MPIfG Discussion Paper 07/ 1, Köln 2007, 19-21. <?page no="263"?> Sven Schmidt 264 und Impartialität. 66 Bei der Vermittlung zwischen Käufern und Verkäufern hatten sie von jeglichem persönlichen Vorteil und von auf einige Weise portion nehmen Abstand zu halten. Um geschäftliche Parteinahmen auszuschließen, durften Unterkäufel keine eigene Handlung weder mit Wahrn noch Wechseln in Proprio oder Commission thun, noch mit jemandes sey Tacitè oder Public in Societaet stehen. 67 Ausdrücklich untersagt wurden im 16. und 17. Jahrhundert Parteinahmen für Einheimische gegenüber Fremden und für große gegenüber kleinen Kaufleuten. Wobei natürlich die durch den Rat festgesetzten Zugangsbeschränkungen zu den Nürnberger Märkten für bestimmte Gruppen, zum Beispiel jüdische Kaufleute, von den Sensalen zu berücksichtigen waren. 68 Die Unterkäufel waren in den Ordnungen angehalten, ihre Glaubwürdigkeit durch eine transparente Verhandlungsführung zu demonstrieren. Der Sensal sollte seinen Partheyen redlich und richtig schließen, allen betrug und gefährd vermeiden und niehmals persuasionen oder listige Räncke gebrauchen, um zum zweck seiner absicht oder einigung zu gelangen. 69 Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts verlieh ein in den Ordnungen festgesetzter Preisbildungsmechanismus der Impartialität der Wechselmakler noch stärkeren Nachdruck. Die Ordnung der Wechselsensalen exemplifizierte das gewünschte Vorgehen der Makler am Beispiel des Abschlusses eines Venezianischen Wechsels: wann viel Geld vorhanden ist, also daß sich mehr Geber als Nehmer zeigen, so soll der Sensal den Geber vermahnen und zureden, daß er nicht gar zu niedern Preyß verdinge, damit nicht andere vorgehen, und er hernach mit seinem Gelde nicht mehr unterkommen könne; hingegen wann wenig Geld oder Geber sich auf dem Markt ertzeigen, hat er den Nehmer zu errinnern, daß er nicht zu hartt auf seiner Meynung beharre und dadurch die occasion verkännt, und geschiehet öffters daß zu einer Marktzeit das Geld Largo ist (daß ist viel vorhanden) also daß man die Preyß schießt auf 147, so bald aber wann sich viele Nehmer finden, und sich daß Geld u[nd] Geber verliehren, kommen die Wechsel herab auf 146 oder noch weniger sodan, also daß der Mangel von Geld und die Vielheit der Nehmer, wie auch hingegen die Fülle des Geldes, u[nd] der Mangel der Nehmer den Cours auf- und absteigend macht, und solche Beschaffenheit hat es auch mit den Wechseln auf andere Plätze; darum hat sich der Sensal alle Wochen einmal gehöriger Orthen fleißig zu erkundigen, wie die wechsel auf außwärtige Plätze coursiren, weil solche fast alle 8 oder 14 Tage sich 66 StAN E8 (129). Die Begriffe werden ausdrücklich in einer nicht genau datierbaren Ordnung aus der Mitte des 18. Jahrhunderts genannt, in den älteren Ordnungen lediglich implizit umschrieben. 67 StAN E8 (129). 68 Vgl. zu den Beschränkungen jüdischer Kaufleute im Nürnberger Großhandel M ARKUS A. D ENZEL , Der Nürnberger Wechselmarkt im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: G ÖMMEL / D ERS ., Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung (wie Anm. 9), 176-189. 69 StAN E8 (129). <?page no="264"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 265 verändern, damit er seinen Cours Zettl, alle Wochen Verfertigen u[nd] demjengen so solche nöthig haben u[nd] Verlangen alsogleich ertheilen kann. 70 Dem Preisfindungsmechanismus der Wechselsensalen lag eine alltagstheoretische Formulierung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage zu Grunde. Im Falle eines Geldüberhangs - mehr Geber als Nehmer - sollte sich der Sensal bei der Vermittlung der Preise dem Angebot des Nehmers annähern, der einen niedrigeren Preis forderte, im Falle von Geldknappheit - mehr Nehmer als Geber - dem Angebot des Gebers, der einen höheren Preis wünschte. Wie die Ordnung darlegt, zielte dieser Preisbildungsmechanismus darauf ab, solche Preise zu empfehlen, die sich an der realen Geldknappheit auf dem Herrenmarkt orientierten und die deshalb einen möglichst umfassenden Ausgleich von Angebot und Nachfrage nach sich zogen, das heißt auf eine Räumung des Marktes hin tendierten. Um starrsinnige Kaufleute zu überzeugen, waren die Makler angehalten, ihre vermittelnden Preisvorschläge als Konsequenz des Gesetzes von Angebot und Nachfrage zu erklären, gewissermaßen „Markterziehungsarbeit“ zu leisten, damit zum Beispiel nicht der Nehmer zu hartt auf seiner Meynung beharre und dadurch die occasion des Marktes verkennen würde. 71 Dem Denken in Marktgleichgewichten kam also auf dem Nürnberger Börsenmarkt spätestens seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts eine prominente Rolle zu. Die Ordnung der Wechselsensalen sicherte formell einen unpersönlichen und transparenten, da an einem allgemeinen Modell von Angebot und Nachfrage orientierten Preisfindungsmechanismus ab, der die Glaubwürdigkeit der vereidigten Makler als unparteiische Vermittler sowohl unter einheimischen als auch fremden Kaufleuten unterstützte. Die Verfertigung und Publikation von Courszetteln wurde von den städtischen Behörden als Bestandteil der Bemühungen der Makler verstanden, einen möglichst umfassenden Ausgleich von Angebot und Nachfrage herbeizuführen. Wechsel- und Preiscourants stellten den Teilnehmern exakte und unparteiische Marktinformationen zur Verfügung. Sie dienten als Ersatz für die zunehmend mit Beschränkungen und Kostennachteilen behaftete sozial, kulturell oder landsmannschaftlich gebundene Erhebung von Marktdaten. Der Preisfindungsmechanismus der Nürnberger Wechselsensalen der frühen Neuzeit ähnelt im Kern der Walras-Auktion, die als gedankliches Modell dem modernen Börsenhandel zu Grunde liegt. Léon Walras 72 modellierte in seinem allgemeinen Gleichgewichtsmodell aus dem Jahre 1874, das als Pionierwerk der neoklassischen Gleichgewichtstheorie gilt, einen Auktionator, um die marktförmige Findung von Gleichgewichtspreisen mathema- 70 StAN E8 (129). 71 StAN E8 (3822) 72 L ÉON W ALRAS , Eléments d’économie politique pure ou théorie de la richesse sociale, Lausanne 1874. <?page no="265"?> Sven Schmidt 266 tisch zur Darstellung zu bringen. 73 Seine Aufgabe besteht darin, zufällig bestimmte Preise für verschiedene Güter auszurufen, worauf Anbieter und Nachfrager ihre Mengen kalkulieren und dem Auktionator bekanntgeben. Entsprechen sich angebotene und nachgefragte Mengen nicht, was naturgemäß der Fall ist, gibt der Auktionator nun höhere (bei einem Nachfrageüberschuss) oder niedrigere Preise (bei einem Angebotsüberschuss) aus. Durch mehrfache Wiederholung dieses Vorgehens nähern sich die Preise dem Gleichgewichtspreis mehr und mehr an, bis er schließlich erreicht ist. Der Auktionator lässt nun alle Geschäfte zu einem Zeitpunkt ausführen, was zur vollständigen Räumung des Marktes führt. 74 Im Unterschied zum statischen Gedankenmodell von Walras war das alltagspraktische Modell der Sensalen an den Marktprozess der Nürnberger Börse angepasst. Dort agierten Anbieter und Nachfrager nicht als reine Mengenanpasser, sondern formulierten zunächst Preiserwartungen, die sich an den realisierten Kursen der zurückliegenden Woche, wie sie von den Maklern auf den Geldpreiszetteln notiert worden waren, orientierten. Der Sensal, der über einen aktuelleren und umfassenderen Überblick über das Marktgeschehen als die Marktteilnehmer verfügte, vermittelte dann zwischen disparaten Preisvorstellungen von Anbietern und Nachfragern, indem er einen mittleren Preis vorschlug, der der aktuellen Situation von Angebot und Nachfrage Rechnung trug. Am Ende einer Geschäftswoche ermittelte der Sensal die realisierten Wechselkurse der zurückliegenden Woche, die wiederum in der folgenden Geschäftswoche den Marktakteuren als neuer Referenzwert für ihre individuellen Kalkulationen dienten. Die Sensalen fungierten also wie der Auktionator im Modell von Walras als Informationssammelstellen für ihre Klienten, um ihnen die für ein marktrationales Verhalten benötigten Informationen zur Verfügung zu stellen und im Ergebnis Angebot und Nachfrage auf dem Nürnberger Herrenmarkt an ein Marktgleichgewicht annähern zu können, das sich jedoch permanent verlagerte und deshalb nie erreicht werden konnte. Die Reputation der Makler, ihres Preisfindungsmechanismus und ihrer Geschäftsinformationen wurde durch die städtische Verwaltung öffentlich garantiert. Zu diesem Zweck dokumentierten die Überschriften der Preis- und Wechselcourants die offizielle Herkunft der publizierten Geschäftsmedien. 75 Die ökonomischen Beurkundungen großer frühneuzeitlicher Handelsstädte, wie sie vor allem auch in der Form städtischer Warenzeichen üb- 73 Zu Walras’ Einfluss auf die Gleichgewichtstheorie vgl. F RITZ S ÖLLNER , Die Geschichte des ökonomischen Denkens, Berlin 2001, 105f. 74 Vgl. zum Walrasschen Auktionator W ERNER N EUS , Einführung in die Betriebswirtschaftslehre aus institutionenökonomischer Sicht, Tübingen 2001, 81f. 75 Vgl. die in Anm. 15 genannten Preiscourants. <?page no="266"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 267 lich waren, 76 verfügten über ortsübergreifende Reputation, konnten also auch die Qualität der Preiscourants in einem europäischen Rahmen versichern. Aber auch der Marktprozess selbst unterstützte positive Qualitätserwartungen der Rezipienten, denn ihre Produzenten konnten nur dann mit einer nachhaltigen Nachfrage rechnen, wenn ihre Dienstleistungen den Erwartungen der Kaufleute entsprachen. 77 Preiscourants bzw. ihre Institutionalisierung in den städtischen Verwaltungen und Märkten konnten also insgesamt die Qualität von Marktinformationen glaubwürdiger und mit größerer personeller und geographischer Reichweite versichern, als es einzelnen Kaufleuten möglich gewesen wäre. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Preiscourants waren eine an die veränderten Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen Handels angepasste Alternative zu einem aus dem Mittelalter überkommenen, eher geschlossenen System kommerzieller Kommunikation. Die geographische Ausweitung des Handels und die Vergrößerung und Ausdifferenzierung des Handelsaufkommens führten zum Eintritt neuer Wettbewerber und erhöhten die von Kaufleuten aufzuwendenden Informationskosten. 78 Stabile Kommunikationsbeziehungen waren innerhalb geographisch, kulturell und sozial entgrenzter Handelsbeziehungen, wie sie sich verstärkt seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im transeuropäischen Binnenhandel verbreiteten, nicht mehr ausschließlich über den traditionellen Mechanismus kaufmännischer Reziprozität zu erreichen. Preiscourants unterstützten Kaufleute bei einer 76 K URT K ELLER , Das messer- und schwerterherstellende Gewerbe in Nürnberg von den Anfängen bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit, Nürnberg 1981, 147. 77 Dieser historische Zusammenhang zeigt Parallelen zum modernen Google-Paradoxon. Die Nachfrage von Informationsanbietern und -nutzern nach einer möglichst umfassenden dezentralen Vernetzung auf einem unübersichtlich organisierten Markt eröffnete spezialisierten Vermittlungsdienstleistern, den Suchmaschinenbetreibern, eine Marktnische, vgl. M ARCEL M ACHILL / M ARKUS B EILER , Suchmaschinen als Vertrauensgüter. Internet-Gatekeeper für die Informationsgesellschaft? , in: Informationelles Vertrauen für die Informationsgesellschaft, D IETER K LUMPP / H ERBERT K UBICEK / A LEXANDER R OßNAGEL / W OLFGANG S CHULZ (Hrsg.), Heidelberg 2008, 159-172, hier 159-161, 170; B ERND - P ETER L ANGE , Medienwettbewerb, Konzentration und Gesellschaft, Wiesbaden 2008, 42; vgl. A R- NOLD P ICOT / R ALF R EICHWALD / R OLF T. W IGAND , Die Grenzenlose Unternehmung. Information, Organisation und Management, Wiesbaden 2001, 64f. Die zunehmend dezentral organisierte Vernetzung von Informationsbeständen und Informationsnutzern steht also nur in einem scheinbaren Widerspruch mit der Entfaltung hierarchischer Vermittlungsorganisationen, denn beide Entwicklungen ereigneten sich symbiotisch. Die Geschichte der Preiscourants zeigt, dass solche Entwicklungszusammenhänge bereits im 16. Jahrhundert wirksam waren. Die Publikation der Preiscourants in Amsterdam und Nürnberg wurde mehreren Börsenmaklern übertragen, weil die Preise jedoch einheitlich von den städtischen Behörden reguliert wurden, traten sie den Nachfragern als monopolistischer Anbieter gegenüber. In London agierten von ca. 1670 bis mindestens 1730 mehrere Anbieter mit städtischen Konzessionen und eine offizielle Preisregulierung lag nicht vor, vgl. M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 44, 86, 291-295; für das Nürnberger Beispiel vgl. den folgendenAbschnitt. 78 Wie Anm. 50; vgl. auch H UNT / M URRAY , A History of Business (wie Anm. 56), 244f.; vgl. zur Spezialisierung kaufmännischer Tätigkeit seit dem 16. Jahrhundert auch J OSEF K ULISCHER , Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Zweiter Band. Die Neuzeit, 2 Bde., München 1958, 278-281. <?page no="267"?> Sven Schmidt 268 Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen. Sie senkten Informationskosten und sicherten das für eine Verbreitung exakter Marktdaten notwendige soziale Vertrauen durch die Glaubwürdigkeitsversicherungen eines obrigkeitlich regulierten Produktionsmonopols oder -oligopols für exakte Marktdaten ab. Aus der hier entfalteten institutionellen Perspektive betrachtet, lässt sich die Entwicklung der Preiscourants als Outsourcingprozess beschreiben, bei dem autonome Marktteilnehmer ihre unternehmensintern organisierte Informationsproduktion gegen die Zahlung von Gebühren an eine zentrale Instanz delegierten, die sich auf die Erhebung, Kontrolle, die Qualitätssicherung und den marktförmigen Vertrieb von Geschäftsinformationen spezialisierte. 5. Die Einführung von Preiscourants auf der Nürnberger Börse (1586-1640) Neben dem individuellen Interesse der Kaufleute an dem neuen Medium stellt sich die Frage, welche Gründe die Verwaltungen frühneuzeitlicher Handelsmetropolen bewogen haben, die Publikation von Preiscourants in die städtischen Marktordnungen zu integrieren. Zur Beantwortung werden im Folgenden ihre Funktion im städtischen Marktwesen und die Organisation ihrer Publikation am Beispiel des Nürnberger Börsenplatzes untersucht. Die freie Reichsstadt Nürnberg gehört nach Antwerpen (circa 1540), Amsterdam (1585) und Frankfurt (1581) zu den ersten Handelsplätzen Europas, für die Preiscourants überliefert sind. 79 Der älteste bisher bekannte Nürnberger Preiscourant stammt vom März 1586. Er wurde im bereits erwähnten Archiv des Leidener Kaufmanns Daniel van der Meulen zusammen mit gedruckten Preiscourants und handschriftlichen Preisnotierungen aus Nürnberg, Frankfurt, Amsterdam, Venedig, Bologna und von anderen italienischen Handelsplätzen überliefert. 80 Einige Hinweise lassen darauf schließen, dass es sich bei diesem handschriftlich verfassten Preiscourant um einen Vorgänger der seit 1615 in halbgedruckter Form überlieferten handelt. Die ungewöhnlich saubere Ausarbeitung sticht aus den sonstigen in van der Meulens Korrespondenzen erhaltenen, häufig in flüchtiger Schrift geschriebenen Preisnotierungen hervor: 81 Die zugrunde liegende Tabelle wurde mit Lineal vorgezeichnet und dann mit sehr sauberer Schrift ausgefüllt. Dabei ist das Papierformat genau 79 Vgl. hierzu Anm. 19. 80 GAL Collection Daniel van der Meulen, Nr. 92, Blatt Nr. 2. 81 Vgl. die Abschrift des venezianischen Preiscourants in: GAL Collection Daniel van der Meulen, Nr. 92, Blatt Nr. 2. <?page no="268"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 269 den Spalten der Warenlisten angepasst worden. Außerdem hat der Schreiber auf der rechten Hälfte des Blattes begonnen, wodurch das für die Nürnberger Preiscourants des 17. Jahrhunderts typische Format entstanden ist. Weiterhin gleichen sich auch die verzeichneten Warengattungen sowohl inhaltlich als auch in der Reihenfolge ihrer Listung. 82 Die Preiscourants der Jahre 1586 und 1615 unterscheiden sich jedoch durch zwei Merkmale von den zwischen 1626 und 1640 publizierten. Sie notieren am Ende der Preislistungen Wechselkurse, was für Preiscourants dieser Zeit nicht untypisch ist, 83 und enthalten keinerlei Hinweise auf eine offizielle Publikation. Das Fehlen von Wechselkursnotierungen auf den seit 1626 überlieferten Preiscourants deutet auf die Existenz eines spezialisierten Wechselcourants hin. Exemplare davon sind davon in Nürnberg seit 1715 erhalten, es gibt aber eindeutige Hinweise, dass sie bereits seit 1650 veröffentlicht wurden. 84 Erstmalig verzeichnet ein Preiscourant von 1626 Informationen zu den Verfassern und gibt Hinweise auf eine offizielle Publikation. Wie am Ende der Warenlistungen vermerkt wurde, war für die Veröffentlichung ein gewisser Steffano Mair Sanssai die questa Citta in Norimbergo verantwortlich. 85 Der italienische Begriff „Sanssai“ bezeichnete wie die beiden deutschen Begriffe „Sensal“ oder „Unterkäufel“ einen Warenmakler. 86 Das erste, 1582 angelegte Marktbuch Nürnbergs, das der Nürnberger Börse ihr formalrechtliches Gerüst gab, bestätigt in einer bereits 1562 angelegten Liste, welche die Underkheufel am Marckht verzeichnet, dass Steffan Mayr seinen Dienst als vereidigter Makler am Herrenmarkt 1603 aufgenommen hat. 1626 wandte er sich mit seinen Kollegen Heinrich Scherl dem Jüngeren, Hans Craft Hundertpfund und dem Bewerber Hieronymus Schiller an den Rat, um für Letztgenannten eine Anstellung als Unterkeufel am Markt, als Nachfolger seines Vaters, dem bettrüstigen Peter Schiller, der in kürz die Schuld der natur bezah- 82 Die erhaltenen Nürnberger Preiscourants des 17. Jahrhunderts wurden auf zwei Seiten eines Papiers gedruckt, das dann mittig, sowohl senkrecht als auch waagerecht, gefaltet wurde. Dabei lag der Falz links. Dadurch entstanden vier lange, schmale Seiten mit jeweils circa 40 cm Länge und 8 cm Breite. Jede dieser Seiten enthält eine Preislistung. Auf der oben liegenden Seite findet sich dann die gedruckte Überschrift mit der Angabe des Gültigkeitszeitraumes des Preiscourants. Obwohl die Ausmaße des handgeschriebenen Preiscourants von 1586 leicht von den späteren (1615-1640) halb gedruckten abweichen - eine der vier Einzelspalten misst 32,5 cm in der Länge und 11 cm in der Breite - ist er ihrem Format auffallend ähnlich. Dies gilt auch für das den Preiscourants von 1615-1640 zugrunde gelegte halbgedruckte Formular, die verwendete Druckschrift und die inhaltliche Gliederung; Nachweise zum Bestand siehe Anm. 15. 83 M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 22. 84 Vgl. M C C USKER , Information and Transaction Costs (wie Anm. 9), 79; vgl. zu den Nürnberger Wechselpreiscourants die Angaben von R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 15), Bd. 4, 263. 85 PCI1626, PCI1627. 86 Zum Begriff „Sanssai“ F LORENCE E DLER , Glossary of Mediaeval Terms of Business. Italian Series 1200-1600, Cambridge 1934, 269. <?page no="269"?> Sven Schmidt 270 len möchte, zu erwirken. Die Supplikation war erfolgreich, denn Hieronymus ersetzte seinen Vater im darauf folgenden Jahr. 87 Die Preiscourants von 1639 und 1640 enthalten als Hinweise auf die Verfasser lediglich am Schluss der Preislistung jeweils die Abkürzung B.B. 88 Die Initialen bezeichnen mit großer Wahrscheinlichkeit den Unterkäufel Benjamin Pali, der seinen Dienst als Makler auf dem Herrenmarkt 1638 aufnahm. 89 Die für die Publikation der Preiscourants verantwortlichen Unterkäufel am Markt waren wie die Wechselsensalen städtisch vereidigte Makler und auf die Abwicklung von Börsengeschäften spezialisiert. Die anderen geschworenen und auf verschiedene Produktgruppen spezialisierten Unterkäufel waren auf den städtischen Märkten des Lokal- und Regionalhandels eingesetzt. Ihre Ordnungen wurden nicht von dem für die Regulierung des Börsenwesens zuständigen Handelsvorstand erlassen, sondern finden sich zum Teil in der Nürnberger Handwerksordnung, wobei die strikte Trennung von Klein- und Börsenhandel deutlich wird. 90 Aus den Unterschriften bzw. Kürzeln am Ende der Preiscourants lässt sich schließen, dass jeweils einer von den drei, später fünf geschworenen Unterkäufeln für die Publikation verantwortlich war. Auch auf den Börsenplätzen in Amsterdam und Hamburg wurden Preiscourants ausschließlich von geschworenen Maklern zusammengestellt. 91 Die erste Börsenordnung der Stadt Nürnberg im Marktbuch von 1582 enthält auch die ersten Regelungen bezüglich ihrer Publikation. In der erneuerten Pflicht für die Unterkäufel von 1642, die eine im Jahr 1553 erlassene ergänzt, heißt es: zue gleichem sollen sie alle bürgermaisterfrag einen laufzetel der Specerey und waahren zu dem Zolambt ibergeben und darmitt darinen destoweniger irthumb begangen werde solche Laufzetel [Wort nicht lesbar] durch einen geschworenen Saffra Schauer übersehen lassen. 92 Die im 1537 angelegten Eid- und Pflichtbuch der Ratskanzlei - auf das alle städtischen Beamten vereidigt wurden - erhaltene Dienstanweisung der Unterkäufel enthält in einer Ergänzung von 1654, die nach dem Januar 1761 wieder gestrichen wurde, eine fast gleich lautende 87 StAN E8 (3823) und StAN E8 (573), 249r. 88 PCVIII-XI1639; PCIII1640. 89 StAN E8 (573). Er könnte mit Benjamin Bailli identisch sein, einem wichtigen Geschäftskunden der in Nürnberg vertretenen niederländischen Firma de Braa um 1625. Er stammte aus den Niederlanden oder England und kam über Bremen nach Nürnberg. Bei der Bürgeraufnahme 1622 gab Bailli sein Vermögen mit 6.000 Talern an. 1624 heiratete er Susanna von Brecht, Tochter des Goldschmiedes Anthonius von Brecht aus Antwerpen. Seine Verwandten Deonis Bali und Nicolaes Bailly waren um 1625 in Amsterdam als Kaufleute tätig. Anthony sowie Nicolas Ballis zählten 1619 in Hamburg zu den führenden Kaufleuten, vgl. P ETERS , Der Handel Nürnbergs (wie Anm. 13), 46. 90 StAN B11 (146); vgl. zum Beispiel die in der Handwerksordnung genannten Unterkäufeln uff Leder, in: A UGUST J EGEL , Alt-Nürnberger Handwerksrecht und seine Beziehung zu anderen, Nürnberg 1965, 4f.; zu den Wechselsensalen vgl. StAN (573), 249r. 91 M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 29. 92 StAN E8 (573). <?page no="270"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 271 Passage. 93 Diese Dienstpflichten dokumentieren ähnliche Charakteristika der Publikation von Preiscourants, wie sie von der Forschung für das 16. und 17. Jahrhundert in Antwerpen, Amsterdam und Hamburg festgesellt wurden. Nämlich die obrigkeitliche Organisation und Überwachung ihrer Produktion und die Regelmäßigkeit der Publikation. 94 Die städtischen Unterlagen zeigen, dass die Unterkäufel spätestens seit 1642 die Preiscourants alle „Bürgermeisterfrag“, also alle vier Wochen, 95 im Zollamt, das sich seit 1571 in der neuen Waage befand, 96 abliefern und vorher von den Safranschauern prüfen lassen mussten. 97 Das Zollamt war der zentrale Ort des Nürnberger Warenverkehrs. Alle Import-, Exportsowie Transitgüter mussten eine der beiden reichsstädtischen Waagen passieren. Hier wurde der Qualitäts- oder Pfundzoll festgelegt sowie das Fracht- und Fuhrwesen beaufsichtigt und koordiniert. 98 Roth berichtet zudem in seiner Geschichte des Nürnberger Handels: „Auch sind in diesem Zollhause viele Gewölber, darinnen Fremde ihre Waaren hinlegen, auch zum Theil verkaufen“. 99 Ein Hinweis, dass man einen Teil der Börsengeschäfte, die man sonst unter freiem Himmel abwickelte, im Zoll- und Waagamt verhandelte. Dieser Ort hätte somit optimale Bedingungen für einen Vertrieb der Preiscourants besessen. Dass die Safranschauer mit der Überprüfung der Preiscourants beauftragt wurden, könnte damit zusammenhängen, dass die Mitglieder dieses zum Teil aus Großkaufleuten bestehenden Gremiums, dessen Expertise bei der Qualitäts- und Preisbewertung von Spezereien „europäischen“ Ruf genoss und auch von anderen Städten und Regionen in Anspruch genommen wurde, ein gutes Wissen und Erfahrung für die Bewertung von Warenqualitäten und Preisen besitzen mussten. 100 Die Methodik der Zusammenstellung der auf den Preiscourants verzeichneten Warenpreise und -sortimente durch die Börsenmakler lässt sich anhand der städtischen Verordnungen nicht rekonstruieren. Jedoch gibt es Hinweise von anderen frühneuzeitlichen Messe- und Börsenplätzen. Die auf den Preiscourants notierten Preise waren üblicherweise Durchschnittspreise der bei Käufen und Verkäufen in der zurückliegenden Marktperiode erziel- 93 StAN E9 (157). Die Datierung der Streichung nach dem 30. Januar 1761 ist daran ersichtlich, dass ein anderer Eintrag aus dieser Zeit mit dem gleichen Federstrich getilgt wurde. 94 Vgl. besonders zur Situation in Amsterdam N ICOLAAS W ILHELMUS P OSTHUMUS , Inquiry into the History of Prices in Holland. Bd. 1. Wholesale Prices at the Exchange of Amsterdam 1585-1914. Rates of Exchange at Amsterdam 1609-1914, 2 Bde., Leiden 1946, 22-25; im Allgemeinen M C C US - KER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 21-31, 201f. 95 W ERNER S CHULTHEIß , Kleine Geschichte Nürnbergs, Nürnberg 1966, 45. 96 R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 15), Bd. 4, 263. 97 PCVIII1615. 98 K LAUS O BERNDÖRFER , Das Zollwesen der Reichsstadt Nürnberg, Diss. Erlangen 1965, 117, 121- 124. 99 R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 15), Bd. 4, 264. 100 R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 15), Bd. 4, 220-223. <?page no="271"?> Sven Schmidt 272 ten Preise. 101 Ein Verfahren, das auch Zedlers Universallexikon für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts benennt, wo von den Preisen der zurückliegenden Woche oder Monats ausgegangen wird. 102 Da die Nürnberger Börsenmakler über die städtischen Dienstanweisungen verpflichtet waren, über das Marktgeschehen exakt Buch zu führen, um bei Streitfällen zwischen zwei Handelspartnern vor Gericht als maßgebliche Zeugen auftreten zu können, wäre für sie eine Zusammenstellung der für die Preiscourants notwendigen Daten ohne größeren zusätzlichen Aufwand zu bewerkstelligen gewesen. 103 Mit dem Erlass der neuen Pflichten der Warenmäckler um 1677 wurde die Publikation der Preiscourants abgeändert und konkretisiert. In den Instructionen zu den neuen Pflichten wird der Warenmakler - hier wird das Wort Makler erstmalig in den städtischen Dienstanweisungen verwendet - verpflichtet, daß er alle Montag oder ersten Wercktage in der Wochen denen Marktvorstehern den Preißzettel der Wahren an Herrn Markt übergebe, solche aber selbst nicht aus dem Land sende, noch mit frembden außer der Stadt, sie wohnen nahoderfern Correspondire und wann er bemerckt, dass es an ein und anderen Ort h[inken? ] will ihnen davon geheime anzeig thun. 104 Die wöchentliche Abgabe der Preiszettel lässt auf eine wöchentliche Publikation schließen, die erstmals ein Preiscourant vom September 1766 eindeutig belegt. 105 Die Kontrolle ihrer Publikation ging mit der Erneuerung der Pflicht auf die Marktvorsteher über. Diesem 1566 eingeführten Gremium oblag die Dirigirung des Plazes, 106 das heißt die Oberaufsicht über die Marktordnung. 107 In dem an die Makler gerichteten Verbot, Marktinformationen oder Preiscourants eigenständig zu verbreiten, wird der Wunsch der städtischen Behörden nach einer Monopolisierung und zentralen Kontrolle der Preiscourants besonders deutlich. 108 Wie erfolgte ihr Vertrieb? Roth berichtet mit Bezugnahme auf ein nicht näher belegtes Ämterbuch von 1652, dass die Sensalen für die von ihnen alle Dienstage dem Kaufmann ausgegebenen wöchentlichen Waren-, Wechsel- und Geldpreiszettel jährlich einen Taler erhielten. 109 Dies lässt auf eine Art 101 W ERNER , Kursberichte von 1590 (wie Anm. 15), 95f. 102 Art. Preißcouranten, in: Z EDLER , Universallexicon (wie Anm. 15), Bd. 29, Sp. 303f. 103 Vgl. die Pflicht der Unterkäufel im Marktbuch von 1582, StAN E8 (573), 249f. 104 StAN E8 (129), Pflicht der Waaren-Sensale (1677-1755). 105 StAN E8 (174). 106 StAN E8 (575), Abschrift des zweiten Marktbuches, 5-12. 107 R UDOLF E NDRES , Die selbständig handelnde Kaufmannschaft, in: Im Zeichen der Waage. Wirtschaft und Gesellschaft im Wandel. 425 Jahre Nürnberger Handelsvorstand, Industrie- und Handelskammer Nürnberg (Hrsg.), Nürnberg 1985, 35-44. 108 Vgl. zur obrigkeitlichen Überwachung und Beeinflussung von Marktpreisen B RÜBACH , Reichsmessen (wie Anm. 21), 352. Brübach geht davon aus, dass es das Ziel der Obrigkeit war, ausgehend vom scholastischen Denkkonzept des pretium iustum, eine freie Preisbildung unter Ausschluss von Faktoren, die man modern als Preiskartell bezeichnen würde, zu gewährleisten. 109 R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 15), Bd. 4, 333. <?page no="272"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 273 Abonnement durch die Kaufleute schließen, wie es in Amsterdam üblich war, wo der Kaufmann für vier Gulden (circa 2,5 Nürnberger Gulden) 110 ein Jahresabonnement der wöchentlich publizierten Preiscourants erhielt. Zudem mussten die fünf für die Publikation verantwortlichen Makler, die so genannten Prijs-Courantiers, mehrere Preiscourants im Büro des Bürgermeisters, beim Stadtältesten, in der Stadtverwaltung und beim Oberhaupt der Maklergilde deponieren. 111 Die aus den Archivalien gewonnenen Informationen belegen, dass die Einführung der Preiscourants in Nürnberg eine Maßnahme zur organisatorischen Fortentwicklung der Nürnberger Börse darstellte. Erstens wurden die Preiscourants von verpflichteten Börsenmaklern erstellt, zweitens finden sich die ersten Regelungen bezüglich ihrer Publikation in der Ordnung der städtischen Börse bzw. des Herrenmarkts. Es ist bekannt, dass die Nürnberger Kaufmannschaft die Börsengewohnheiten von Lyon und Antwerpen auf ihre Heimatstadt übertrug. 112 Die Organisation der Publikation exakter Marktdaten in Nürnberg und ihre Einbindung in die Marktordnung ähnelt, wie in Hamburg, London und Frankfurt, sehr stark den Gegebenheiten in Amsterdam. 113 Die Amsterdamer Börse scheint der Prototyp für ihre Verbreitung in Nürnberg und auf den anderen west- und mitteleuropäischen Börsen- und Messeplätzen gewesen zu sein. 114 Börsengründungen in Nordwesteuropa und die Verbreitung von Preiscourants 115 Antwerpen Amsterdam Frankfurt Nürnberg Hamburg Leipzig Börsengründungen 1460 1530 1585 1560 1558 1635 Früheste Belege für Preiscourants 1540 1585 1581 (Messe) 1586 159[2? ] 1592 (Messe) 110 Berechnet mit den 1619 in Amsterdam gültigen Wechselkursen, entnommen aus D ENZEL , Währungen der Welt IX (wie Anm. 59), 89. 111 Vgl. M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 45. 112 D IRR , Der Handelsvorstand (wie Anm. 12), 6. 113 Zur Publikation und Organisation der Preiscourants in diesen Städten vgl. M C C USKER / G RA- VESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 25-28, 30f. 114 M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 46f. Die Frankfurter (1581) und Leipziger Messen (1590) übernahmen die Preiscourants von den führenden Börsenplätzen Europas; B RÜBACH , Reichsmessen (wie Anm. 21), 195, 355f.; vgl. zu den Leipziger Preiscourants W ERNER , Kursberichte von 1590 (wie Anm. 15), 96. 115 Die Daten zu den Börsengründungen wurden entnommen aus J ÜRGEN S CHNEIDER , Zur Bedeutung von Börsen. Ein Forschungskonzept dargestellt am Beispiel der Hamburger Börse (16.-19. Jahrhundert), in: Nordwesteuropa in der Weltwirtschaft 1750-1950, M ICHAEL N ORTH (Hrsg.), Stuttgart 1993, 245-256, hier 249. Die Daten zu den Preiscourants basieren auf den in Anm. 15 genannten Studien sowie M C C USKER , Information and Transaction Costs (wie Anm. 9), 78f.; E HRENBERG , Ein Hamburgerischer Waaren- und Wechselpreiscourant (wie Anm. 19). <?page no="273"?> Sven Schmidt 274 Obwohl die Nürnberger Preiscourants bereits seit 1586 belegt sind, ist die formale Organisation ihrer Publikation in den Akten der städtischen Verwaltung erst 1642 zu fassen. Anscheinend wurden bei der offiziellen Eingliederung der Preiscourants in die Organisation des Nürnberger Herrenmarktes lediglich ältere Gewohnheiten und Handelsbräuche verbindlich festgeschrieben, wie es sich auch für die Formalisierung der Börse im Jahr 1560 feststellen lässt. 116 In Amsterdam wurde die Publikation von Preiscourants zunächst ebenfalls ohne obrigkeitliche Regulierung von fünf Börsenmaklern vorgenommen. Erst 1613 wurde sie von den Bürgermeistern reguliert. 117 Nachdem also die überlieferten Nürnberger Preiscourants der Jahre 1586 und 1615 wahrscheinlich zunächst auf Eigeninitiative der städtischen Makler erstellt und vertrieben worden waren, um sich Zusatzeinkünfte zu verschaffen und ihre Vermittlungstätigkeit durch Vorinformation der Kaufleute effizienter zu gestalten, beauftragte der Handelsvorstand zu einem unbekannten Zeitpunkt zwischen April 1615 und Januar 1626 erstmalig einen der geschworenen Unterkäufel mit ihrer Publikation. 1642 wurden sie dann offiziell in die städtische Marktbzw. Börsenordnung integriert. Die Regulierung belegt, dass die Preiscourants im Interesse des Handelsvorstands lagen. Sie vergrößerten die Markttransparenz und sorgten so für effizientere Geschäftsabschlüsse auf der Börse. 118 Zugleich waren sie eine europaweit wirksame Werbemaßnahme für die in Nürnberg gehandelten Güter. 119 Das heißt, ihr Vertrieb beförderte insgesamt die Einnahmen der Stadt. Die Tatsache, dass der Nürnberger Preiscourant bis in die 40er Jahre des 17. Jahrhunderts in halbgedruckter Form erschienen, deutet auf eine relativ geringe Auflage hin. 120 Anscheinend war es nicht rentabel, jeden Monat ein neues Formular mit aktuellen Preisen von einer Druckerei erstellen zu lassen. Stattdessen aktualisierte man die Preise handschriftlich. Dies wurde, wie spätere Exemplare zeigen, auch noch im 18. Jahrhundert so gehandhabt. Der erste voll gedruckte Nürnberger Preiscourant stammt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 121 In Amsterdam war man bereits 1609 zu einem voll- 116 Vgl. D IRR , Handelsvorstand (wie Anm. 12), 9, 12, 18f. 117 M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 44f. 118 Wie die Untersuchungen von P ETERS , Der Handel Nürnbergs (wie Anm. 13), 53, und D IRR , Der Handelsvorstand Nürnberg (wie Anm. 15) belegen, war der von Großkaufleuten dominierte Rat Nürnbergs auf Eingaben der Kaufmannschaft hin bemüht, bezüglich des städtischen Exporthandwerks und der Organisation der Börse sowie des Banco Publico handelsfördernde Maßnahmen durchzusetzen, vgl. P ETERS , Der Handel Nürnbergs (wie Anm. 13), 46. Besonders die obrigkeitliche Normierung und Kontrolle sowie Umstrukturierung der Börse und ihrer Infrastruktur sollten Käufer und Verkäufer schneller zusammenführen. Deshalb kann hier von der Bemühung des Rates um Markttransparenz und -effizienz gesprochen werden. 119 M C C USKER , The Demise of Distance (wie Anm. 10), 303f. 120 StAN E8 (174). 121 StAN E8 (176). <?page no="274"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 275 ständig gedruckten Preiscourant übergegangen, der dort schon seit 1613 wöchentlich erschien. 122 6. Preiscourants als Informationsträger des frühneuzeitlichen Börsenhandels Der am Beispiel Nürnbergs nachgewiesene Zusammenhang zwischen der Verbreitung der Preiscourants und der Entwicklung des Börsenhandels in den europäischen Handelsmetropolen wirft die Frage auf, welche funktionelle Verbindung zwischen dem neuen Medium und dem börsenartigen Produkthandel bestand. Zur Beantwortung sollen im Folgenden die auf den Nürnberger Preiscourants verzeichneten Informationen am Beispiel der textilen Sortimente aufgeschlüsselt und bewertet werden. Ihr Informationsgehalt scheint zunächst lediglich aus seriellen Listen von Warenpreisen und Wechselkursen zu bestehen. Bei genauerer Analyse entpuppt sich dieses Medium jedoch als ein ausgesprochen ergiebiger Informationsspeicher der kaufmännischen Nachrichtenübermittlung. Der Zugriff auf die enthaltenen Informationen wird dem interessierten Historiker dadurch erschwert, dass zunächst die verzeichneten oder für eine Dekodierung als bekannt vorausgesetzten Waren-, Währungs-, Mengen-, Gewichts- und Längenstandards zu entschlüsseln sind. Preiscourants enthalten keine Legende der verwendeten Bezeichnungen, 123 vielmehr bildeten die Warenkunde und das Wissen um Währungen, Maße und Gewichte einen wichtigen Bestandteil der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kaufmannsausbildung. Mit dem Erscheinen von Handelspraktiken und Lehrbüchern für Kaufleute wurden solche Informationen erstmalig in einem Medium gebündelt und zu kommerziellen Zwecken publiziert. Da auch der frühneuzeitliche Kaufmann zumindest Teile seines Wissens aus solchen Publikationen bezog, sind Handelspraktiken für eine Dechiffrierung von Preiscourants geeignet. 124 Eine Untersuchung am Beispiel der in den Nürnberger Preiscourants gelisteten textilen Sortimente ergab, dass es sich bei den gehandelten Waren ausschließlich um Investitionsgüter handelte, das heißt Roh- und Halbfertigprodukte, die nicht für den direkten privaten Verbrauch bestimmt waren, sondern der gewerblichen Weiterverarbeitung und dem Zwischenhandel dienten. 125 Die Gewebe wurden üblicherweise in einer im Großhandel dieser 122 Vgl. M C C USKER / G RAVESTEIJN , Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 15), 28, 44-49. 123 Solche Anleitungen sind seit dem 18. Jahrhundert bekannt, vgl. P AUL J ACOB M ARPERGER , Erläuterung der Hamburger und Amsterdamer Waaren Preiß=Covranten, Dresden 1722. 124 Zu den Handelspraktiken vgl. Anm. 25. 125 S CHMIDT , Das textile Sortiment (wie Anm. 54). <?page no="275"?> Sven Schmidt 276 Zeit gebräuchlichen Länge von circa 13-40 Metern pro Stück gehandelt. Bei billigerer Massenware wurden aber auch größere Mengeneinheiten, zum Beispiel Leinwand auf Rollen mit etwa 1.000 Metern Stoff und Barchent mit circa 600 Metern Stoff per Fardel verwendet. Der Verkauf per Elle war nur bei den teuersten Seidengeweben wie zum Beispiel Samt, Atlas oder Damast üblich. Seidenfäden und Garne handelte man per Pfund, Carte oder Spule. Die verzeichneten Seidenwaren, Tuche, Barchente und Leinwand waren etablierte Marken des Fernhandels, mit denen der Kaufmann konkrete Produktqualitäten verbinden konnte. Zusätze wie unterschiedliche Stoffbreiten oder Farben wurden den Sortenbezeichnungen beigefügt, Verkaufseinheiten jedoch nur dann gelistet, wenn sie vom üblichen Standard des Warenvertriebs abwichen. 126 Durch die Angaben zur Qualität, zur Menge und zum Nettopreis sowie gegebenenfalls zu Farbe oder speziellen Varianten der Zubereitung waren die gehandelten Waren exakt spezifizierbar und konnten deshalb auch ohne physische Präsenz und Begutachtung vor Ort gehandelt werden, sie waren also fungibel. 127 Die Preiscourants versetzten den Kaufmann somit in die Lage, ohne vorherige persönliche Sondierung der Marktverhältnisse vor Ort, durch Konsultierung eines Unterkäufels, an Ein- und Verkäufen auf dem Herrenmarkt teilzunehmen oder seinem Kommittenten bzw. Prinzipal in der komprimierten Form einer seriellen Datenliste Informationen über Sorten, Preise, Qualitäten, Varianten und Verkaufseinheiten von mehreren hundert Gütern (1626 zum Beispiel insgesamt 431) zu senden; das heißt exakte Marktdaten, die dieser für den Bezug oder Verkauf auf der Nürnberger Börse benötigte. 128 Dieser konnte dann seinem Kommissionär oder Faktor eine entsprechende Ordre für den Einkauf oder Verkauf erteilen. Preiscourants erleichterten also Kaufleuten die Disposition von Waren über Raum und Zeit in geographisch entgrenzten Netzwerken. Neben den Informationen zu Warenangebot, Warenqualität, Preisen und Verkaufseinheiten waren für den Kaufmann die notierten Wechselkurse und Usancen, das heißt die Preise des internationalen Zahlungsverkehrs und die Zahlungs- und Lieferungsfristen des Warengeschäfts von Interesse. Nürnberger und Frankfurter Preiscourants, die Nürnberger Reformation von 1564, 129 die Ordnungen der städtischen Unterkäufel 130 und das Meder- 126 S CHMIDT , Das textile Sortiment (wie Anm. 54), 24f. 127 Vgl. B RÜBACH , Reichsmessen (wie Anm. 21), 354f. 128 PCI1626, Spalte 4 und 5. 129 Die Nürnberger Reformation regelte die Eigentumsverhältnisse für den Zeitraum, in dem der Kauf geschlossen, aber die Lieferung oder Bezahlung noch nicht erfolgt war. Wertmindernde oder wertsteigernde Veränderungen am Gut werden, sofern Wertminderungen nicht auf Fahrlässigkeit des Verkäufers zurückzuführen sind, dem Käufer überantwortet, vgl. Der Stat Nürmberg verneute Reformation, 90a, 90b, einsehbar unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ drwNuernbergRef1564/ 0264 (Zugriff: 4.12.2005). <?page no="276"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 277 sche Handelsbuch 131 nehmen Bezug auf „Geschäfte auf Zeit“, zu deren Eigenheit es gehörte, dass man Geschäftsabschluss und Bezahlung nicht zum selben Zeitpunkt abwickelte, sondern die Handelspartner sich Zahlungs- oder Lieferungsfristen einräumten, das heißt sich Kredite gewährten. Die Nürnberger und Frankfurter Preiscourants der Jahre 1586-1615 legten für solche Geschäfte ein Ziel von sechs Monaten fest. 132 Wollte ein Kaufmann die Bezahlung der Ein- und Verkäufe auf dem Wege internationaler Wechseltransaktionen abwickeln, konnte er sich auf dem Herrenmarkt an die geschworenen Wechselmakler wenden. Die Wechselcourants, auch die Preiscourants selbst - wie für Ausgaben der Jahre 1586 und 1615 belegt - zeigten einem Kaufmann die aktuellen Wechselkurse des Nürnberger Rechnungsgulden gegenüber der Fremdwährung des jeweiligen Bezugs- oder Absatzortes an, die bei einem internationalen Vertrieb seine Selbstkosten beeinflussten. Über die briefliche Mitteilung dieser Informationen konnte er seinem Auftraggeber oder Auftragnehmer die für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs notwendigen Informationen mitteilen. Seit 1650 ist die Publikation eines spezialisierten Wechselpreiscourants behauptet worden. 133 1615 war die Notierung der Wechselkurse von Währungen folgender Orte auf den Nürnberger Preiscourants vorgesehen: 134 Genua, Frankfurt, Bisentzone (Genueser Wechselmessen in Piacenza), Antwerpen, Mailand, Lyon, Köln, Danzig, Augsburg, Amsterdam, Middelburg, Venedig, Leipzig, Hamburg. Während für Warenkreditgeschäfte auf den Nürnberger und Frankfurter Preiscourants von 1586 und 1615 ein Ziel von sechs Monaten angegeben war, finden sich keine Hinweise auf die Usancen von Wechselgeschäften. Diese konnten je nach der Entfernung der Orte einer Wechselverbindung zwischen mehreren Tagen und Monaten betragen. 135 Die Preisnotierungen belegen, dass man Börsengeschäfte weitgehend in Rechengeld abwickelte, wie es in der städtischen Verwaltung Verwendung 130 In einer Ordnung zu den Pflichten von 1677 ist zu lesen: Der Unterkäufel auf Spezerei und andere Waren soll die Bedingung der qualität der Waaren des Preißes ihr Ziel, sowohl in Lieferung der Waaren, als der Zahlung wohl beobachten, und solche beder Partheyen richtig anzeigen; StAN E8 (129). 131 K ELLENBENZ , Handelsbräuche (wie Anm. 24), 392f. 132 Vgl. die Nürnberger und Frankfurter Preiscourants vom März 1586, GAL Collection Daniel van der Meulen. Nr. 92. In den Überschriften der Preiscourants wird auf Geschäfte auf Zeit Bezug genommen. So heißt es auf dem Nürnberger Preiscourant von 1615: Wahren wie solche alhie auffs halb Jar verkaufft werden, am Ende des Preiscourants steht: Interesse auf halb Jar. In den Überschriften der Jahre 1639/ 40 ist zu lesen: wie solche [Waren] im Monat Maertz auf Zeit verkaufft werden. Die Preiscourants weisen also darauf hin, dass Geschäftsabschluss und Bezahlung nicht zum selben Zeitpunkt erfolgten. 133 PCIII1586; PCVIII1615; zu den spezialisierten Wechselpreiscourants vgl. R OTH , Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 15), Bd. 4, 263. 134 PCIII1615. 135 Vgl. zu den Usancen am Beispiel Amsterdams zu Beginn des 17. Jahrhunderts M ARKUS A. D ENZEL , „La Practica della Cambiatura“. Europäischer Zahlungsverkehr vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. Stuttgart 1994, 403. <?page no="277"?> Sven Schmidt 278 fand. Der Bancogulden stand zu dem auf den Preiscourants notierten Rechnungsgulden in der festen Parität 1: 1. 136 Weil die Bezahlung Nürnberger Börsengeschäfte seit 1621 über den Giroverkehr des Banco Publico abgewickelt wurde, konnten die Kaufleute auf den Tausch der im Wert unsteten und in der Kipper- und Wipperzeit von starker Inflation betroffenen kleinen Silbermünzen verzichten und somit zusätzliche Kosten der Münzprobe umgehen. 137 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Nürnberger Preiscourants ein komplexer Informationsträger des Börsenhandels mit Produkten waren, die Kaufleuten die Raum und Zeit übergreifende Disposition von Geschäften auf Warenbörsen durch die Speicherung der für eine Ordre notwendigen exakten Marktinformationen in seriellen Datenlisten erleichterten. 7. Zusammenfassung Preis- und Wechselcourants waren dem mittelalterlichen Kaufmannsbrief, der noch alle notwendigen Informationen zum Abschluss von Handelsgeschäften in einem Medium bündelte, als Informationsspeicher exakter, serieller Marktinformationen überlegen und fanden in der kaufmännischen Korrespondenz als Medium des Börsen- und Messhandels seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zunehmend Verbreitung. Sie traten dabei nicht in Konkurrenz zum Kaufmannsbrief, vielmehr können sie als eine Art vormoderne Speichererweiterung dieses Mediums betrachtet werden, das auf diese Weise an die gestiegene Komplexität der Fernhandelsmärkte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angepasst werden konnte. 138 Diese Entwicklung ist als Bestandteil einer seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden funktionellen Ausdifferenzierung kaufmännischer Medien zu interpretieren, sichtbar zum Beispiel an der vermehrten Nutzung von Preis- und Wechselcourants, Gazetten, Handelspraktiken, Neuen Zeitungen usw., die dem Kaufmann jeweils zur Speicherung und Übermittlung spezieller Informationen dienten. 136 P ETERS , Der Handel Nürnbergs (wie Anm. 13), 46. 137 Vgl. zur Inflation und Entwertung der silbernen Kleinmünzen W ALTER B AUERNFEIND : Materielle Grundstrukturen im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Preisentwicklung und Agrarkonjunktur am Nürnberger Getreidemarkt von 1339 bis 1670, Nürnberg 1993, S. 50f. 138 Wolfgang Riepl stellte die unter der Bezeichnung Rieplsches Gesetz verbreitete Hypothese auf, dass es gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens angesehen werden kann, dass die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur dass sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen. Im fortschreitenden Prozess der Arbeitsteilung fänden alle Medien genügend Raum und Aufgaben zu ihrer Entfaltung, bemächtigten sich verlorener Gebiete und eroberten sich Neuland, vgl. W OLFGANG R IEPL , Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer, Berlin 1913, 5. <?page no="278"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 279 Die Loslösung privater Informations- und Wissensbestände von seriellen, anonymen und für die Verbreitung bestimmten Informationen, welche sich bereits seit der Wende zum 16. Jahrhundert mit der Trennung des post scriptum vom Brief und der Verbreitung der so genannten handgeschriebenen Zeitungen abzeichnete, ist auch für die Entstehung der Preiscourants charakteristisch. Der Ausgangspunkt für die Etablierung des neuen Mediums ist in der Transformation kaufmännischer Organisations- und Kommunikationsstrukturen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu suchen: Aus eher geschlossenen, unternehmensinternen Netzwerken der Informationsbeschaffung und -übermittlung entwickelte sich eine Kommunikation in eher offenen Netzwerken. Dieser Prozess verband sich mit der Anpassung kaufmännischer Kommunikation an die starke Zunahme der für den Fernhandelskaufmann relevanten Daten. Ein erhöhter Informationsbedarf beförderte das Entstehen von zunächst halböffentlichen und dann öffentlichen Organisationen, die sich auf die Erhebung und den marktförmigen Vertrieb exakter Marktinformationen spezialisierten und diese zu geringeren Kosten anbieten konnten, als dies einzelnen Handelsgesellschaften oder -netzwerken möglich gewesen wäre. Die Behörden europäischer Handelsmetropolen beförderten über ihre Publikation eine reibungsfreie Abwicklung von Geschäften auf ihren Börsenmärkten und die Produktivität des Handels. Zudem wirkte ihr Engagement der tendenziell zunehmenden Unsicherheit der kaufmännischen Informationsbeschaffung in einem größeren Handelsraum mit wechselnden Geschäftspartnern entgegen, indem sie die Qualität exakter Marktdaten sicherstellten. 8. Ausblick: Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? Der Soziologe und Begründer der funktional-strukturellen Systemtheorie Niklas Luhmann erkennt in der Evolution von Verbreitungsmedien seit der Frühen Neuzeit einen Übergang von hierarchischer zu heterarchischer Ordnung und den Verzicht auf räumliche Integration gesellschaftlicher Operationen. Die Durchsetzung dieser Medien in Europa und deren Verbreitung über Märkte habe - im Gegensatz zu China und Korea - letztendlich Hierarchien, auch die der Politik und des Rechts gezwungen, sich mit einer prinzipiell heterarchisch kommunizierenden Gesellschaft auseinanderzusetzen. 139 Dem Buchdruck schreibt Luhmann für diesen Transformationspro- 139 N IKLAS L UHMANN , Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2002, Bd. 1, 292, 293f. <?page no="279"?> Sven Schmidt 280 zess frühneuzeitlicher Kommunikation nicht nur quantitative, sondern qualitative Bedeutung zu. 140 Die aus der Untersuchung der Preiscourants gewonnenen Ergebnisse fügen sich in dieses Bild medialen und kommunikativen Wandels nicht ohne weiteres ein. Denn gerade die durch Obrigkeiten monopolisierte Publikation der Preiscourants und deren strikte Kontrolle durch öffentlich tätige Experten schufen die Voraussetzungen, dass die Kaufleute den enthaltenen Informationen Vertrauen entgegenbringen konnten und diese adaptierten. Preiscourants und andere obrigkeitlich publizierte Medien beförderten auf diese Weise die Verbreitung von heterarchisch organisierten Kommunikationssystemen im Fernhandel. Die hierarchische und zentralisierte Informationssammlung und -kontrolle sowie die heterarchische Informationsverbreitung und -nutzung standen also in einem symbiotischen Entwicklungsverhältnis. Der Buchdruck hatte für die Diffusion von Preiscourants im kaufmännischen Nachrichtenwesen nur quantitative Wirkung. Nicht die durch den Druck ermöglichte preisgünstige Vervielfältigung von Information schuf den Anreiz für die Kaufleute, das neue Medium zu adaptieren, welches in Nürnberg zuerst handgeschrieben und bis in die Neuzeit hinein nur in halbgedruckter Form erschien. Seine Verbreitung resultierte aus einer Informationskostensenkung, die das Ergebnis einer Spezialisierung von öffentlich regulierter Informationsproduktion und privater Informationsübermittlung war. Möchte man exemplarisch am Phänomen Preiscourants den heuristischen Wert des Begriffs Kommunikationsrevolution für den engeren Bereich der Entwicklungen im Fernhandel bewerten, muss man drei Tatsachen konstatieren: 1. Die Entwicklung der Preiscourants verlief evolutionär. 2. Die Fortentwicklung der Verbreitung exakter Marktdaten mittels öffentlicher und serieller Medien ist als eine Anpassung kaufmännischer Informationspraktiken an eine quantitative Zunahme und qualitative Ausdifferenzierung des Warenhandels und eine strukturelle Öffnung kaufmännischer Informationssysteme zu interpretieren. Die Entwicklung des Mediums folgte also zeitlich der Entwicklung von Handelsaufkommen und Handelsorganisationen. 3. Das 16. und vor allem das beginnende 17. Jahrhundert zeichneten sich nicht nur durch eine vermehrte Diffusion serieller und sozial entbetteter Verbreitungsmedien sowie neuer Kommunikationssysteme aus. Neue Handelsinstrumente wie das Indossament, der Diskont oder der Handel mit vertretbaren Gütern ermöglichten den Vertrieb von Forderungen und Waren ohne individuelle Begutachtungen von Warenqualitäten oder die Prüfung der Kreditwürdigkeit aller Teilnehmer einer Wechselkette. Das heißt die 140 L UHMANN , Die Gesellschaft (wie Anm. 138), 312-314. <?page no="280"?> Kommunikationsrevolution oder Zweite Kommerzielle Revolution? 281 Verbreitung sozial entbetteter und seriell gestalteter Austauschprozesse war nicht nur ein Phänomen kommunikativen Wandels, sondern eine allgemeine Entwicklungstendenz im Fernhandel seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Die evolutionäre Entwicklung der Preiscourants, ihre Fortentwicklung zur Publizität als zeitverzögerte Anpassung und die Tatsache, dass sich ihre wesentlichen verbreitungstechnischen Charakteristika auch im Waren- und Geldverkehr dieser Epoche feststellen lassen, sprechen gegen die These, dass die kommerziellen Umwälzungen des 16. und 17. Jahrhunderts ihren Ausgang in der revolutionären Wirkung neuer Medien und Kommunikationssysteme nahmen. Die Modernisierungstheorie des Soziologen Anthony Giddens liefert, legt man als Randbedingungen die hier präsentierten Ergebnisse zur Verbreitung der Preiscourants zu Grunde, einen alternativen Erklärungsansatz. Giddens erkennt in formellen Institutionen und Medien des Austausches, „die sich umherreichen lassen, ohne dass die spezifischen Merkmale der Individuen und Gruppen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihnen umgehen, berücksichtigt werden“ müssen - dazu können auch Preiscourants, fungible Waren und Forderungen oder Buchgeld gezählt werden - ein grundlegendes Phänomen des Globalisierungsprozesses der Moderne seit dem 16. Jahrhundert. Sie erlaubten eine effiziente Interaktion von Personen über Raum- und Zeitspannen hinweg, indem sie das hierzu nötige Vertrauen auf abstrakte Systeme vermittelten. 141 Der Kaufmann hatte nun nicht mehr nur Vertrauen in den Handelspartner, sondern vermehrt auch in die formelle Absicherung von Transaktionen und Informationen, zum Beispiel durch die normierte Produktmarke, obrigkeitlich publizierte Preiscourants oder das seit dem 16. Jahrhundert zunehmend kodifizierte Wechsel- und Handelsrecht. 142 Soziale und kulturelle Vertrauensbildungsprozesse zwischen Kaufleuten wurden um institutionelle Mechanismen mit größerer personeller und geographischer Reichweite und um die vertrauensbekräftigende Wirkung von marktförmigen Spezialisierungs- und Konzentrationsprozessen ergänzt. Die kommerziellen Umwälzungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lassen sich aus dieser Perspektive als die Lösung von Vertrauensproblemen interpretieren, die aus komplexer werdenden Austauschbeziehungen resultierten. Eine Komplexitätszunahme resultierte vor allem aus einer Zunahme des Einsatzes von geographisch und funktional spezialisierten Intermediären, wie Banken, Kommissionären oder Spediteuren, und aus der wachsenden Bedeutung geographisch entgrenzter Austauschbeziehungen. 141 A NTHONY G IDDENS , Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, 34-40; Jens Beckert hat kürzlich den empirischen Einfluss von Giddens’ Theorie für die Vertrauensforschung nachgezeichnet, vgl. B ECKERT , The Great Transformation of Embeddedness (wie Anm. 65), 20f. 142 Das 16. und beginnenden 17. Jahrhundert kennzeichnet eine zunehmende Institutionalisierung des Handelsrechts und der Handelsgerichte, vgl. H ERMANN K ELLENBENZ , Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1. Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 1977, 281. <?page no="281"?> Sven Schmidt 282 Es kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Begriff Kommunikationsrevolution, wenn er impliziert, dass neue Medien und Kommunikationssysteme den Wandel gesellschaftlicher Strukturen auslösen, für die Entwicklung des Fernhandels im 16. Jahrhundert in dieser Form nicht zutrifft. Nicht zu bestreiten sind die umwälzenden kulturellen Veränderungen bei der Produktion und Verbreitung kommerzieller Informationen und Wissensbestände. Sie sind jedoch eher als Bestandteil einer Zweiten Kommerziellen Revolution in der Mitte des 16. Jahrhunderts zu deuten, die sich als Begleiterscheinung eines Spezialisierungsschubs auf den zwischen dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts und der Mitte des 16. Jahrhunderts hinsichtlich Handelsaufkommen und geographischer Reichweite stark expandierten europäischen Fernhandelsmärkten ereignete. 143 143 Anhand der hier in Ausschnitten rekonstruierten Entwicklung der Nürnberger Börse lassen sich bisher kaum untersuchte institutionelle Voraussetzungen und Entwicklungen untersuchen, die dazu führten, dass soziale, durch das Reziprozitätsprinzip gesteuerte Austauschbeziehungen kleinerer Gruppen um abstrakte, durch Preise gesteuerte Marktprozesse ergänzt wurden. Diese Entwicklungen begründen die Spezialisierungs- und Produktivitätsvorteile moderner Marktwirtschaften, vgl. dazu V ERNON L. S MITH , Rationality in Economics. Constructivist and Ecological Forms, Cambridge 2008, 4, 6f., 15f., 29, 45, 322-325. Ein entscheidender Stimulus für die europaweite Verbreitung abstrakter Marktstrukturen scheint mir die ruckartige Zunahme gewerblicher Entfaltungsmöglichkeiten in einem relativ kurzen Zeitraum zwischen dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts und der Mitte des 16. Jahrhunderts gewesen zu sein. Aufgrund des Ausbaus der europäischen Güterproduktion, des Anstiegs der Bevölkerung, der zunehmenden Bedeutung von außereuropäischen Bezugs- und in geringerem Maße von Absatzmärkten und der Zunahme des obrigkeitlichen Kreditbedarfs nahmen die Partizipationsmöglichkeiten im transeuropäischen Fernhandel quantitativ sowie qualitativ stark zu und ihre geographische Verbreitung verbesserte sich. Diese Entwicklungen beförderten eine geographische und funktionale (zum Beispiel im Kommissions- oder Speditionshandel) Spezialisierung von Kaufleuten. Das Ausschöpfen von Spezialisierungspotentialen setzte allerdings die Anpassung, Neuentwicklung und Verbreitung von privaten und obrigkeitlich gesteuerten Institutionen voraus, die das Vertrauen der Marktteilnehmer in einen anonymeren Marktprozess beförderten und dessen Ordnung sicherten. Diese Geschehnisse lassen sich nicht als zielgerichtete Entwicklung, sondern nur als wechselseitiger, mehrfacher, in seinen Elementen ungleichzeitig verlaufender Prozess erklären, der von der Exploration neuer ökonomischer Potentiale, über ihre schrittweisen Realisierung bis zur Anpassung gesellschaftlicher Strukturen führte, die das erreichte Niveau an Marktaktivitäten und Spezialisierung stabilisierten und weitere Expansion in Aussicht stellten. Fragt man nach den strukturellen Voraussetzung eines solchen Adaptionsprozesses, könnten die Flexibilität städtischer Ordnungen, die Dominanz von gewerblich tätigen Führungsgruppen in der städtischen Politik sowie die dezentrale politische Struktur Europas, welche eine starre zentralstaatliche Regulierung ökonomischer Aktivitäten nicht zuließ und Lern- und Austauschprozesse städtischer Behörden bei der Bewältigung ökonomischer Problemstellungen beförderte, eine Antwort geben. <?page no="282"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 Clé Lesger Der Erfolg einer Handelskompanie hängt zum großen Teil von der Kenntnis ihrer Waren und ihrer Märkte ab. Diese Kenntnis aber steht nicht gebrauchsfertig zur Verfügung, sondern sie entsteht durch einen Prozess subjektiver Auswahl, Interpretation und Verarbeitung derjenigen Informationsströme, zu denen eine Person oder eine Kompanie Zugang hat. Der subjektive Faktor beim Erwerb von Wissen impliziert, dass eine große Fülle hochwertiger Informationen allein noch keine hinreichende Voraussetzung für den Erfolg als Kaufmann ist; eine notwendige ist sie jedoch allemal. Dabei war Information die Grundlage des Kaufmannsberufes, für den einzelnen Händler ebenso wie für die Gesamtheit der Kaufleute. Die rasche Expansion des Amsterdamer Handelsnetzes, die sich stetig vergrößernde Dominanz der Stadt unter den ‚gateways‘ Hollands und Seelands sowie die internationale wirtschaftliche Bedeutung Amsterdams standen in engstem Zusammenhang mit dem Umfang und der Qualität der in Amsterdam verfügbaren Informationen. In den Jahrzehnten um 1600 entwickelte sich die Stadt zum Zentrum eines reibungslos funktionierenden Systems des Informationsaustausches, das die Wirtschaftsregionen Europas untereinander verband und auch Regionen außerhalb der europäischen Grenzen erfasste. Amsterdam war, mit den Worten eines englischen Beobachters in der Stadt, ein großer Umschlagplatz für Nachrichten. 1 Und von Zesen bemerkte in seiner Beschreibung der Stadt Amsterdam über die Amsterdamer Börse: Ja hier erfähret man den zustand aller Königreiche und länder der gantzen welt, auch was sich in den selben denkwürdiges begiebet. 2 Ich danke den Teilnehmern der Irseer Arbeitskreises, vor allem Mark Häberlein und Hans-Jörg Künast, für ihre Anmerkungen und Anregungen zum freien Informationsverkehr in Handelszentren. Der Informationsaustausch wird auch in meinem Buch C LÉ L ESGER , The Rise of the Amsterdam Market and Information Exchange. Merchants, Commercial Expansion and Change in the Spatial Economy of the Low Countries, c. 1550-1630, Aldershot 2006 besprochen. Für die Übersetzung des Textes aus dem Englischen danke ich Christian Rödel, Mark Häberlein und Christof Jeggle. 1 James Howell an seinen Bruder, 1. April 1617: This city of Amsterdam, though she be a great staple of News, yet I can impart none unto you at this time; J AMES H OWELL , Familiar Letters or Epistolae Hoelianae, 3 Bde., London 1903, Bd. I, 12. Zur Bedeutung von Information und lokalem Wissen siehe auch E DWARD J. M ALECKI , Creating and Sustaining Competitiveness. Local Knowledge and Economic Geography, in: Knowledge, Space, Economy, J OHN R. B RYSON u. a. (Hrsg.), London / New York 2000, 103-119. 2 F ILIPS VON Z ESEN , Beschreibung der Stadt Amsterdam, Amsterdam 1664, 233. <?page no="283"?> Clé Lesger 284 In diesem Aufsatz werde ich den Anteil des Buchdrucks am Aufstieg von Amsterdam zum Nachrichtenzentrum in den Blick nehmen. Durch den Einsatz der Druckerpresse im großen Stil, so lautet meine These, wurden die Schwierigkeiten des ansonsten auf mündlichen oder handschriftlichen Nachrichten basierenden Informationsaustausches abgemildert. Doch diesen Effekt konnte die Druckerpresse nur zeitigen, weil im Vergleich mit anderen kommerziellen Zentren der Informationsverkehr in Amsterdam relativ frei war. Kommen wir aber zuerst zu den herkömmlicheren Formen des Informationsaustausches: dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort. 1. Traditionelle Mittel des Informationsaustausches Nachrichten kamen auf zwei Wegen nach Amsterdam: physisch, durch Personen, die sie anderswo erlangt hatten, und durch Korrespondenz. Unter den Personen, die selbst Träger von Nachrichten waren, finden wir Seeleute, Kaufleute und Handelsagenten. Obwohl die Mehrzahl der Seeleute im ländlichen Nord-Holland oder in Städten wie Enkhuizen, Hoorn, Medemblik und Edam lebte, war Amsterdam doch der bei weitem wichtigste Seehafen der Republik, und seine Bedeutung stieg bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts unaufhaltsam an. Tausende von Seeleuten kamen ein- oder zweimal im Jahr nach Amsterdam und erzählten von den Ländern, die sie bereist hatten; Kapitäne erstatteten Kaufleuten oder Reedern Bericht und wurden zweifellos über ihre Erfahrungen in fremden Häfen und die Neuigkeiten, die dort kursierten, befragt. Wenn die gewünschten Informationen in Amsterdam nicht verfügbar waren, wurden manchmal gezielt Leute zu ihrer Beschaffung losgeschickt. Bekannt ist die Mission von Cornelis und Frederik de Houtman, die 1592 von den Direktoren der Compagnie van Verre nach Lissabon geschickt wurden, um heimlich Informationen über den Asienhandel und die Präsenz der Portugiesen in Asien zu sammeln. Um so unauffällig wie möglich zu wirken, gaben sie sich als Handelsagenten aus und empfingen Warensendungen aus Amsterdam. 3 Auch jene Abenteurer, die auf eigene Faust in ferne Länder reisten, fungierten als Informanten. Als Cornelis und Frederik de Houtman in Lissabon gerade mit ihrer Arbeit des Sammelns von Informationen begonnen hatten, kehrte Jan Huygen van Linschoten aus Goa in Indien in die Niederlande zurück. Seine Erkenntnisse und die von Willem Lodewycksz, 3 K EES Z ANDVLIET , Mapping for Money. Maps, Plans and Topographic Paintings and their Role in Dutch Overseas Expansion during the 16 th and 17 th Centuries, Amsterdam 1998, 37. <?page no="284"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 285 der in Westafrika gewesen war, wurden von der Compagnie van Verre nutzbringend verwendet, als diese ihre erste Asienreise vorbereitete. 4 Selbstverständlich reisten auch Kaufleute selbst noch immer sehr viel und sammelten auf ihren Reisen Informationen über fremde Mächte. Augustijn Boel und Hans Thijs zum Beispiel verließen Amsterdam 1585, um sich vorübergehend im Ostseeraum niederzulassen. Die Kompanie, deren Teilhaber Boel war, konnte auf diese Weise den Zwischenhandel ausschalten und ihre Tierhäute direkt von den Gerbern in den Ostseeländern kaufen. Hans Thijs hingegen hatte sich wegen der größeren Nähe zu seinen wichtigsten Kunden zum Umzug entschlossen. Er verkaufte Edelsteine vor allem an den deutschen, polnischen und skandinavischen Adel. 5 Die beiden Kaufleute kehrten 1594 bzw. 1595 nach Amsterdam zurück, doch damit war ihre Reisetätigkeit nicht beendet. Von Hans Thijs wissen wir zumindest, dass er nach seiner Rückkehr in die Niederlande noch befreundete Kaufleute in Middelburg, Antwerpen und Hamburg besuchte. 6 Für Mobilität und damit den Informationsfluss nach Amsterdam sorgte auch die Gewohnheit der Kaufmannsfamilien, Verwandte auf einen längeren oder kürzeren Aufenthalt in die anderen Handelszentren Europas zu schicken. Die berühmte Amsterdamer Kaufmannsfamilie Hooft scheint diese Strategie ganz bewusst verfolgt zu haben. 7 Während Cornelis Pietersz Hooft, der Bürgermeister, und sein Bruder Willem die Familieninteressen in Amsterdam vertraten, saßen zwei weitere Brüder, Jan und Gerrit, in Danzig, wohin die Familie nach 1566 geflohen war, als Amsterdam für Protestanten zu unsicher wurde. Auch drei Vettern der Hooft-Brüder standen mit der Firma in Verbindung und ließen sich 1584 oder kurz danach in Norwegen, La Rochelle und Aveiro in Portugal nieder. Die Informationen, die Bürger Amsterdams oder andere Einwohner der Republik von ihren Reisen mitbrachten, wurden durch die Nachrichten von Ausländern ergänzt und erweitert. Manche waren nur auf der Durchreise, doch in den Jahren seiner großen Expansion müssen hunderte von ausländischen Kapitänen und Seeleuten Amsterdam besucht haben, und zahllose Besucher müssen aus seinem kontinentalen Hinterland in die Stadt gekommen sein. Wir wissen nicht, wie zahlreich oder wie bedeutend sie waren; fest steht jedoch, dass viele ausländische Kaufleute Amsterdam besuchten, dort 4 V IBEKE D. R OEPER / G. J. D IEDERICK W ILDEMAN , Om de Zuid. De Eerste Schipvaart naar Oost- Indië onder Cornelis de Houtman, 1595-1597, opgetekend door Willem Lodewycksz, Nijmegen 1997, 9-16. 5 O SCAR G ELDERBLOM , Zuid-Nederlandse kooplieden en de opkomst van de Amsterdamse stapelmarkt (1578-1630), Hilversum 2000, 97f. 6 G ELDERBLOM , Zuid-Nederlandse kooplieden (wie Anm. 5), 131f. 7 Das Nachfolgende basiert auf M ILJA VAN T IELHOF , The Mother of all Trades. The Baltic Grain Trade in Amsterdam from the late Sixteenth to the early Nineteenth Century, Leiden 2002, Kapitel 1. <?page no="285"?> Clé Lesger 286 ihre Geschäfte abwickelten und Nachrichten aus ihrer Heimat mitbrachten. Andere ließen sich für längere Zeit oder dauerhaft in der Stadt nieder und erwarben sogar das Bürgerrecht. Die meisten derjenigen, die in den Jahrzehnten um 1600 bei der Eintragung in die Bürgerlisten Großhandel als ihr Gewerbe angaben, waren in den Niederlanden und den angrenzenden Teilen Frankreichs und Deutschlands geboren, doch auch aus England und Schottland, Osteuropa (Danzig und Reval) und aus Portugal kamen Neubürger nach Amsterdam. Nicht alle diese Neuankömmlinge waren vor ihrer Ankunft in Amsterdam Großhandelsgeschäften nachgegangen; doch von den Märkten in ihren Heimatländern hatten sie mit Sicherheit einige Kenntnis. Viele Nachrichten erreichten die Stadt auch per Brief, und in diesem Zusammenhang waren Netzwerke von Kaufleuten von großer Bedeutung. Ein mittelgroßer Geschäftsmann wie der Antwerpener Kaufmann Jan van Immerseele unterhielt beispielsweise Briefwechsel mit etwa 120 Korrespondenzpartnern in den Niederlanden und darüber hinaus. 8 Daniel van der Meulen, dessen Geschäft einen größeren Umfang hatte, korrespondierte zwischen 1584 und 1600 mit etwa 300 Partnern in den wichtigsten europäischen Handelsstädten, die ihn über die Geschehnisse in ihrer jeweiligen Region auf dem Laufenden hielten. 9 Doch natürlich waren Kaufleute nicht die einzigen, die Briefe schrieben. Niederländische Kartographen korrespondierten mit Personen im Ausland, um ihre geographischen Kenntnisse zu erweitern. Einen solchen Brief schrieb 1628 der Amsterdamer Kartograph Hessel Gerritsz an den dänischen Hof. Darin berichtet Gerritsz, dass er gerade an einer neuen Karte Dänemarks, Norwegens und Schwedens sowie der benachbarten Gebiete bis Moskau und Archangelsk arbeite. Für Schweden stehe ihm exzellentes Material zur Verfügung, doch was Dänemark und Norwegen betreffe, wäre er über genaue geographische Skizzen sehr froh. Falls solche nicht verfügbar seien, hoffe er auf einige verbale Beschreibungen. Er bat auch um die Zusendung dänischer Erlasse bezüglich der Seefahrt, des Handels und der Zölle, welche hier bei uns in niederländischer Sprache gedruckt würden unter dem Titel eines ‚Dänischen Seerechts‘, zusammen mit dem Seerecht anderen Länder. 10 8 K RISTA M EES , Koopman in troebele tijden: Jan van Immerseele (1550-1612), in: Spiegel Historiael 19 (1984), 545-551, hier 547. 9 G ISELA J ONGBLOET - VAN H OUTTE , De belegering en de val van Antwerpen belicht vanuit een koopmansarchief. Daniël van der Meulen, gedeputeerde van de Staten van Brabant ter Staten-Generaal (1584-1585), in: Bijdragen en Mededeelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 91 (1976), 23-43, hier 25. Aus dieser Zeit ist über die Korrespondenz von Amsterdamer Handelsfirmen praktisch nichts bekannt. Die Beispiele Van Immerseeles und Van der Meulens geben jedoch einen guten Eindruck von der Ausdehnung solcher Korrespondenznetze. 10 Zitiert nach H ENDRIK D IFEREE , De geschiedenis van den Nederlandschen handel tot den val der Republiek Amsterdam 1908, 150f. Selbstverständlich holten sich die niederländischen Kartographen auch viel Wissen aus gedruckten und ungedruckten Werken. Von Petrus Plancius und dem Verleger <?page no="286"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 287 Die Briefe von Agenten und Partnern aus dem Ausland enthielten wirtschaftliche Informationen im engeren Sinne, aber auch allgemeinere Anmerkungen zur politischen Lage vor Ort. Adriaen Speelman berichtete aus Antwerpen seinem Arbeitgeber in Lissabon, welche Auswirkungen die Revolte auf die südlichen Niederlande hatte: Felder lagen brach, und Don Juans Armee plünderte und brandschatzte das Land. 1581 erfuhr Claes Adriaensz van Adrichem durch seine Korrespondenzpartner von Gerüchten, denen zufolge Frankreich und England in Kürze Spanien den Krieg erklären wollten. 11 Nachrichten dieser Art, die für einen Kaufmann lebenswichtig sein konnten, kamen nicht nur in Form von privaten Briefen nach Amsterdam, sondern auch in Form sogenannter nouvelles, handgeschriebener Zeitungen. Die wichtigsten Interessenten solcher Berichte waren die zentralen und städtischen Verwaltungen. 12 Die Urheber waren von den Generalstaaten ins Ausland geschickte Agenten, aber auch private Unternehmer sammelten Nachrichten und schrieben Zeitungen. Einer dieser Privatunternehmer war Hendrik van Bilderbeke aus den südlichen Niederlanden, der sich in Köln als Notar niedergelassen hatte. Neben seiner Arbeit als Notar fand er Zeit, die Generalstaaten mit Nachrichten zu versorgen, eine Tätigkeit, die nach seinem Tod sein Sohn Hendrik junior fortführte. Die wöchentlichen Zeitungen, die er und sein Sohn von den 1590er Jahren an aus Köln schickten, beruhten auf Berichten aus Rom, Venedig und Köln. Aus Rom kam Material über Italien, Sizilien, Malta, Spanien und Frankreich. Venedig war eine wichtige Informationsquelle für den Mittelmeerraum (Konstantinopel, Alexandria) und Köln der Sammelpunkt für Nachrichten aus Deutschland, Mitteleuropa und den südlichen Niederlanden. 13 Die handschriftlichen Zeitungen der Van Bilderbekes wurden in Den Haag kopiert und an Magistrate in anderen Städten und Provinzen weitergeleitet. Doch Van Bilderbeke schickte von Köln aus auch Kopien direkt nach Amsterdam, wo sie eine wichtige Grundlage für die (handschriftlichen) Nouvelles van den Comptoiren van Amsterdam darstellten. Diese Amsterdamer Zeitung war weniger ausführlich als Van Bilderbekes Original, aber sie enthielt zusätzliche Nachrichten, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Amsterdam vorlagen, und war deshalb in dieser Hinsicht aktueller als die Berichte aus Köln. In Amsterdam fand sie so ihren eigenen Markt. 14 Cornelis Claesz weiß man zum Beispiel, dass sie 25 Karten des portugiesischen Kartographen De Lasso erwarben; vgl. Z ANDVLIET , Mapping for Money (wie Anm. 3), 43. 11 A NNIE S TOLP , De eerste couranten in Holland. Bijdrage tot de geschiedenis der geschreven nieuwstijdingen, Haarlem o. J., 12f. 12 S TOLP , De eerste couranten (wie Anm. 11), Kap. 3. 13 S TOLP , De eerste couranten (wie Anm. 11), 61ff. Siehe vor allem die informativen Diagramme auf 63f. 14 Kopien der nouvelles aus Amsterdam wurden in Middelburg, Groningen, Utrecht und Arnheim gefunden. Tatsächlich kursierten mehrere dieser handschriftlichen Zeitungen in Amsterdam. Sie wurden <?page no="287"?> Clé Lesger 288 So hoch mithin die Dichte der Information in Amsterdam war, so gering war andererseits ihre Reichweite, da ihre Verbreitung von Mund zu Mund oder handschriftlich erhebliche Nachteile barg. Vor allem erreichte sie so nur schwer alle Mitglieder der Kaufmannschaft. Als Beispiele seien die Kenntnisse von Seeleuten über die von ihnen befahrenen Küsten und Gewässer oder angelaufenen Häfen genannt: Vieles von dem Wissen und Können, das man zur Navigation benötigte, wurde mündlich und nur im kleinen Kreis weitergegeben. So kamen neue Erkenntnisse nur schwer bei denjenigen an, die auch davon profitieren konnten. Dasselbe galt per definitionem für Informationen in der privaten Korrespondenz von Kaufleuten. Doch selbst die Reichweite der handgeschriebenen Zeitungen war begrenzt. Ihr Preis und die Art ihrer Vervielfältigung schränkten ihre Bedeutung für die Kaufmannschaft ein. Nur einige wohlhabendere Kaufleute konnten es sich leisten, diese Zeitungen zu subskribieren. Ein auf mündlichem und handschriftlichem Nachrichtenaustausch aufgebautes Informationssystem ist darüber hinaus anfällig für eine Vielzahl von Fehlern und Missverständnissen. In erster Linie betrifft dies natürlich die mündliche Weitergabe von Neuigkeiten, doch gilt es auch für handgeschriebene Texte und von Hand kopierte Bilddarstellungen wie etwa Landkarten. Im allgemeinen nimmt die Qualität von mündlichen und per Hand vervielfältigten Informationen mit steigender Zahl der Kopien rapide ab. Das dritte und wichtigste Defizit der traditionellen Informationsverbreitung war das Fehlen von Rückmeldungen und der Möglichkeit der Korrektur, wenn eine Nachricht sich als falsch oder unvollständig erwies. Jeder Rezipient einer neuen Information musste ihren Wahrheitsgehalt wohl oder übel durch eigene Erlebnisse herausfinden, doch auch für diese Erfahrungen gab es dann keine Möglichkeit, sie festzuhalten und einem größeren Kreis zugänglich zu machen. Bereits im 15. Jahrhundert hatte es in den Niederlanden Handbücher der europäischen Gewässer in Manuskriptform gegeben. Sie enthielten Beschreibungen von Seewegen, Windrichtungen, Landmarken und manchmal gezeichnete Küstenansichten. Auch handgezeichnete Karten zirkulierten früh, doch sie waren von begrenztem Wert und hatten mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen wie mündliche Informationen. 15 unter anderem von dem Notar und Schulmeister David Mostart, einem Einwanderer aus Antwerpen, und von Loys Elle, ebenfalls einem Amsterdamer Notar, produziert; S TOLP , De eerste couranten (wie Anm. 11), 57f. 15 Vgl. G ÜNTER S CHILDER / W ILLEM F. J. M ÖRZER B RUYNS , Zeekaarten en navigatie-instrumenten, in: Maritieme Geschiedenis der Nederlanden 1. Prehistorie, Romeinse tijd, middeleeuwen, 15de en 16de eeuw, G USTAAF A SAERT u. a. (Hrsg.), 4 Bde., Bussum 1976, 239-348, und C AROLUS A. D A- VIDS , Zeewezen en wetenschap. De wetenschap en de ontwikkeling van de navigatietechniek in Nederland tussen 1585 en 1815, Amsterdam / Dieren 1986. „Portolane“ oder Manuskripthandbücher für das Mittelmeer waren schon seit dem 13. Jahrhundert bekannt, vgl. E LIZABETH L. E ISENSTEIN , <?page no="288"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 289 Über Karten schreibt Eisenstein: „Statt einer ‚kontinuierlichen Entwicklung‘ wird eine Serie handkopierter Darstellungen normalerweise qualitative Erosion und Verfall aufweisen.“ Sie zitiert Lloyd Brown, der schreibt: „Mehr als 600 Karten und Skizzen aus der Zeit zwischen 300 und 1300 haben die Wirren der Zeitläufe überstanden […] ungeachtet ihrer Größe oder handwerklichen Qualität ist es unmöglich, in ihnen einen Entwicklungsprozess aufzuspüren, eine gedankliche Weiterentwicklung […] Desgleichen lassen sie sich nicht nach ihrer Genauigkeit oder Nützlichkeit einstufen.“ 16 All dies änderte sich, als die Druckerpresse in großem Stil bei der Informationsverbreitung in der Amsterdamer Geschäftswelt zum Einsatz kam. 2. Die Drucktechnik Im Gegensatz zu Manuskripten, die sich, je öfter sie kopiert wurden, desto weiter vom Original entfernten, erlaubte der Druck die Herstellung zuverlässiger Kopien in großer Zahl. 17 Dieser Umstand allein gewährleistete freilich noch nicht die Verlässlichkeit der Nachricht selbst. Wenn das Original Fehler enthielt, wurden diese natürlich mitkopiert. Tatsächlich gingen die ersten gedruckten Handbücher und Karten auf sehr unzuverlässige Manuskripte und auf das Werk des Ptolemäus zurück. Doch die Verbreitung übereinstimmender Texte in gedruckter Form änderte die Situation dahingehend, dass nun die gedruckten Werke mit der geographischen Realität verglichen und die Verlässlichkeit verschiedener nautischer Werke erreicht werden konnte. Druckerzeugnisse waren schließlich nicht anonym, sondern trugen den Namen des Autors und des Druckers auf dem Titel, so dass der Benutzer sie zur Kenntnis nehmen konnte. 18 Autoren und Drucker hatten ein großes Interesse daran, dass ihr Werk den Ruf der Verlässlichkeit und Nützlichkeit erwarb, was wiederum den Anstoß gab, Korrekturen aufgrund der Rückmeldungen von Lesern aufzunehmen. Offensichtlich war der häufig auf den Titelseiten angegebene Hinweis, dass es sich um eine verbesserte oder vermehrte Ausgabe handelte, ein zugkräftiges Verkaufsargument. Dass dieses Argument bei den Käufern zog, zeigt, dass Rückmeldung und Korrektur als wichtige Elemente im Prozess der Aneignung von Wissen betrachtet wurden. Praktische Informationen aus erster Hand waren nun für jedermann zugäng- The Printing Press as an Agent of Change. Communication and Cultural Transformation in Early Modern Europe, Cambridge 1979, 512f. 16 E ISENSTEIN , The Printing Press (wie Anm. 15), 479. 17 Vgl. E ISENSTEIN , The Printing Press (wie Anm. 15), besonders 29, 112f. und Kap. 5. 18 P AUL D IJSTELBERGE , De Cost en de Baet. Uitgeven en drukken in Amsterdam rond 1600, in: Holland 26 (1994), 217-234, hier 226, weist darauf hin, dass der Autor in Werken dieser Art sehr nachdrücklich gegenwärtig war. <?page no="289"?> Clé Lesger 290 lich, und mit der wachsenden Menge gedruckt veröffentlichter Informationen wurde es sowohl für gelehrte Kartographen als auch für Hersteller von Handbüchern und Karten für den praktischen Gebrauch einfacher, die Qualität und Nützlichkeit ihrer eigenen Werke mit denen anderer zu vergleichen und, wenn nötig, zu verbessern. Das angesammelte Wissen von Seefahrern und anderen Reisenden ging nicht mehr verloren, sondern wurde dem Reservoir verfügbarer und verwendbarer Information hinzugefügt. Das Aufkommen der berühmten Seemannshandbücher in Holland zeigt dies sehr deutlich. Sie bestanden aus einer Kombination von Text, Küstenansichten und Seekarten. Zuerst erschien 1584 der von Lucas Jansz Waghenaer aus Enkhuizen zusammengestellte Spieghel der Zeevaerdt im Druck. Er benutzte eine große Zahl von handschriftlichen und gedruckten Quellen, die er um seine eigenen Erfahrungen als Steuermann ergänzte. 19 Der Spieghel war ein großer Erfolg und wurde ins Lateinische, Französische, Deutsche und Englische übersetzt. Bald fand er viele Nachahmer: Nur ein Jahr darauf folgten ihm die Amstelredamsche Zeecaerten von Albert Haeyen. Die schnelle Ausweitung der holländischen Schiffahrt und des Seehandels ließ allerdings den Inhalt schnell veralten, und 1592 brachte Waghenaer seinen Thresoor der zeevaert auf den Markt. Dieser war auf dem neuesten Stand, übernahm aber auch erfolgreiche Teile aus Konkurrenzwerken. Der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Seemannshandbüchern und die leichte Verfügbarkeit gedruckten Materials sorgten dafür, dass die Kompilatoren laufend verbesserte und aktualisierte Ausgaben produzierten. In seinem erfolgreichen Licht der Zeevaert (welches auf Englisch als The Light of Navigation erschien) schrieb Willem Jansz Blaeu, er hätte seit nunmehr einigen Jahren mit größtem Eifer und Sorgfalt, und ohne Zeit und Kosten zu scheuen alles zusammengetragen, was dem Seemann nützlich und hilfreich sein kann, und dasselbe, meinem Versprechen gemäß, ans Licht gebracht nach vorheriger reiflicher Prüfung […] in diesem dritten Teil meines ‚Licht der Zeevaert‘. Er erwähnte auch ausdrücklich als Vorlage das Werk Willem Barentsz’, doch fügte er hinzu, dieses nicht nur […] an einigen Stellen verbessert, sondern auch stark erweitert zu haben. 20 Der Wettbewerbsdruck wird in einem Brief Waghenaers an den Delfter Kaufmann Claes Adriaensz van Adrichem ganz deutlich. Waghenaer hatte gehört, dass sein Amsterdamer Verleger Cornelis Claesz an einigen Karten oder Büchern arbeitete, die Waghenaers eigenen Ausgaben erheblich schaden 19 Vgl. S CHILDER / M ÖRZER B RUYNS , Zeekaarten en navigatie-instrumenten (wie Anm. 15); D AVIDS , Zeewezen en wetenschap (wie Anm. 15), 86-102 und F REDERIK J OHANNES D UBIEZ , ‚Int Schrijfboek‘. De Amsterdamse boekdrukker en boekverkoper Cornelis Claesz, in: Ons Amsterdam 12 (1960), 206-213, 240-248. 20 W ILLEM J ANSZ [B LAEU ], ’t derde deel van’t Licht der Zee-vaert inhoudende De Beschrijvinghe der zeecusten van de Middelandtsche Zee, Amsterdam 1621. Die Zitate stammen aus der Widmung an die Generalstaaten und Prinz Moritz sowie aus dem Vorwort „An den geneigten Leser“. <?page no="290"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 291 würden. Deshalb fragte er bei van Adrichem an, ob dieser nicht unter dem Vorwand, dass die Kapitäne seiner Schiffe die Karten benötigten, für ihn die Materialien beschaffen könne. Dies sollte natürlich mit allergrößter Diskretion geschehen und ohne Waghenaers Name gegenüber Claesz zu erwähnen. 21 Auch Blaeus Licht der Zeevaert setzte die Konkurrenz zu. 1620 publizierte Joannes Janssonius eine unautorisierte Ausgabe, und Blaeu hatte keine andere Möglichkeit, seinen Marktanteil zurückzugewinnen, als eine verbesserte Ausgabe herauszubringen. Diese erschien 1623 als Zeespiegel. Neun Jahre später waren Blaeus Marktführerschaft und sein guter Ruf erneut bedroht, diesmal durch Jacob Aertsz Colom, einen Neuling in der Kartographie, dessen De vyerighe Colom („Die Feuersäule“) für Blaeu einen ernstzunehmenden Rivalen darstellte. Erneut reagierte Blaeu mit der Publikation einer Neuauflage, dem Havenwyser van de oostersche, Noordsche en Westersche Zeen (1634). 22 So unangenehm der harte Wettbewerb für die direkt Beteiligten auch gewesen sein mag, so förderlich wirkte er sich auf die Weiterentwicklung des kartographischen Wissens aus. 23 Um ihre Marktstellung zu behaupten, waren die Kompilatoren zu ständigen Verbesserungen und Ergänzungen ihrer Produkte gezwungen. 24 Auch waren sie umso leichter miteinander zu vergleichen und der Druck, die Karten und Atlanten zu verbessern und zu erweitern umso höher, als die ganze Branche in Amsterdam konzentriert war. Am Beginn des 17. Jahrhunderts war die Stadt zum wichtigsten Zentrum kartographischen Wissens geworden. Wenige Jahrzehnte später fand der in Amsterdam angehäufte Reichtum geographischer Kenntnisse seinen Ausdruck in Joan Blaeus Atlas major oder Grooten atlas, der das gesamte zu diesem Zeitpunkt vorhandene kartographische Wissen zusammenfasste und in strukturierter Form dauerhaft zugänglich machte. Auch auf Gebieten außerhalb der Kartographie bewirkte die Drucktechnik enorme Veränderungen. Bücher zur Handelspraxis, die für Kaufleute gedacht waren, wurden nördlich der Alpen erst bekannter, als sie im Druck 21 D UBIEZ , ‚Int Schrijftboeck‘ (wie Anm. 19), 241f. 22 Vgl. S CHILDER / M ÖRZER B RUYNS , Zeekaarten en navigatie-instrumenten (wie Anm. 15), 173-177. Colom behauptete, in seinem Werk würden die Fehler und Irrtümer der genannten Licht oder Spieghel der Zee offengelegt und berichtigt, ebd. 175. 23 Der gleiche Mechanismus griff im Hinblick auf die Kenntnis der außereuropäischen Welt. Berühmte Geographen oder Kartographen wie Plancius und Van Linschoten machten zunächst Wissen zugänglich, das von portugiesischen und spanischen Seefahrern gesammelt worden war. Erst später, als der niederländische Überseehandel in Gang kam, wurde dieses Material durch neue Informationen ergänzt und korrigiert, vgl. Z ANDVLIET , Mapping for Money (wie Anm. 3), Kap. 1 und 9. 24 Zu diversen kartographischen Innovationen vgl. D AVIDS , Zeewezen en wetenschap (wie Anm. 15), 86-102. <?page no="291"?> Clé Lesger 292 erschienen. 25 Wie bei der Kartographie zeigte sich auch bei diesen Werken derselbe Mechanismus der Anleihen, der Kompilation und Erweiterung. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden, mit fallenden Druckkosten, diese Bücher immer umfassender. Diese Ausweitung war nicht das Ergebnis einer größeren, der Buchführung selbst gewidmeten Seitenzahl, sondern der Hinzunahme immer neuer praktischer Fragen und der entsprechenden Antworten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts machten diese etwa ein Drittel des jeweiligen Buchumfanges aus, doch in der Jahrhundertmitte bestanden mehr als zwei Drittel des Textes niederländischer Kaufmannshandbücher aus Fragen und Antworten. Weil das Konzept der Ausbildung vor allem auf der ständigen Übung praktischer Problemlösungen und nicht auf theoretischem Wissen gründete, kann davon ausgegangen werden, dass im Laufe des Jahrhunderts der praktische Wert dieser Handbücher für die Kaufleute stieg. 26 Je umfassender sie wurden, desto mehr akkumulierten und konservierten die Bücher das Wissen und die Erfahrung von Generationen in zugänglicher Form. Der Effekt, den der Buchdruck auf die Verbreitung von kaufmännischem Wissen hatte, zeigt sich deutlich an den Zinstabellen, mit denen ganz einfach Zinsen und Zinseszinsen berechnet werden konnten. Diese Tabellen waren lange in Manuskriptform unter den Kaufleuten kursiert, wurden jedoch von ihren Besitzern wie Schätze gehütet und geheimgehalten. 27 Erst 1582 erschien die erste gedruckte Zinstabelle zum allgemeinen Gebrauch. Ihr Kompilator, Simon Stevin, war Geldwechsler und Buchhalter in Antwerpen gewesen, von woher er möglicherweise handschriftliche Zinstabellen kannte. Sein Buch Tafelen van Interest schrieb er, als er in Leiden lebte. Die erste Ausgabe erschien bei Plantijn in Antwerpen, doch die zweite, vermehrte von 1590 in Amsterdam, wo die Expansion des Handels für Nachfrage nach solchen Handreichungen für Kaufleute sorgte. 28 25 W OLFGANG S TARKE , Ein nye Rekensboeck vp aller Koepmanshandelingen - kommerzielles Wissen in den niederdeutschen Arithmetiken des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Der Hansische Sonderweg? Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Hanse, S TUART J ENKS / M ICHAEL N ORTH (Hrsg.), Köln / Weimar / Wien 1993, 235-254, hier 236. 26 Vgl. M ARJOLEIN K OOL , Die conste van den getale. Een studie over nederlandstalige rekenboeken uit de vijftiende en zestiende eeuw, met een glossarium van rekenkundige termen, Hilversum 1999, mit einem Diagramm der Anleihen, 279, und zum steigenden Umfang der Bücher, 231. Ein vergleichbares Diagramm, aber für die italienische Buchhaltung, in P IETER G ERARDUS A DRIANUS DE W AAL , De leer van het boekhouden in de Nederlanden tijdens de zestiende eeuw, Roermond 1927, 284. 27 S IMON S TEVIN , zitiert nach C ORNELIS M. W ALLER Z EPER , De oudste intresttafels in Italië, Frankrijk en Nederland met herdruk van Stevins „Tafelen van Interest“, Amsterdam 1937, 11, Anm. 3. 28 W ALLER Z EPER , De oudste intresttafels (wie Anm. 27), 42f.; siehe auch den Anhang, wo Stevins Tabelle vollständig abgedruckt ist. In der Zeit nach der Etablierung der Republik war auch eine steigende Nachfrage für Nicolaus Petris populäre Bücher für Kaufleute vorhanden; D E W AAL , De leer van het boekhouden (wie Anm. 26), 161. Für die steigende Bedeutung Amsterdams als Erscheinungsort solcher Veröffentlichungen vgl. Ars mercatoria. Handbücher und Traktate für den Gebrauch des Kaufmanns, 1470-1820. Eine analytische Bibliographie, J OCHEN H OOCK / P IERRE J EANNIN (Hrsg.), 6 Bde., Paderborn, Bd. I, 1991; Bd. II, 1993; in Bd. I, Tafel 2a-2g, wo sich der Transfer von Antwerpen nach Amsterdam hervorragend ablesen lässt, und in Bd. II, Tafel 2. <?page no="292"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 293 Private Korrespondenz enthielt sehr spezifische, für den jeweiligen Empfänger bestimmte Informationen, oft aber auch allgemeine Nachrichten über die Marktsituation, die gerade begehrten Waren und die Preise, die dafür gezahlt wurden. Es gab allerdings auch spezialisierte Nachrichtenbeschaffer in Amsterdam. Einer von ihnen, Henrick Huybrechtsz, schickte detaillierte Briefe über den Amsterdamer Markt an den Kaufmann Claes Adriaensz van Adrichem in Delft. Der Kern dieser Marktberichte war die Liste von Preisen für verschiedene Waren. Die standardisierte Form dieser Preislisten und die Art und Weise, wie Huybrechtsz sie durch einen Mitarbeiter kopieren ließ, verraten den professionellen Charakter dieser Informationsversorgung. Huybrechtsz’ Berichte waren die Vorläufer der gedruckten Preiskuranten für Handelswaren, die in Amsterdam kurz vor oder im Jahre 1585 zu erscheinen begannen. Anfangs waren nur wenige Waren gelistet, doch ihre Zahl stieg schnell, und 1635 fanden sich bereits 350 verschiedene Sorten und Güteklassen von Handelswaren auf den Listen. 29 Die in den Kuranten angegebenen Preise gründeten sich auf von Maklern eingeholte Informationen. 30 Den Daten lag also eine breite Basis von Beobachtungen zugrunde, und sie waren aktuell; ihre Verlässlichkeit und Genauigkeit wurde von den städtischen Behörden garantiert. Darüber hinaus erschienen die Preiskuranten mit strenger Regelmäßigkeit einmal wöchentlich, waren für jedermann erhältlich und zu einem geringen Preis zu haben. Eine Ausgabe kostete zwei stuiver beim Börsendiener, man konnte sie aber auch subskribieren und sich Kopien nach Hause schicken lassen. In den Preiskuranten war sozusagen das geballte Wissen der mehreren hundert Makler zusammengefasst und für die gesamte Kaufmannschaft insgesamt nutzbar gemacht. Nirgendwo sonst in Europa wurden vergleichbar umfassende und zuverlässige Preisinformationen mit solcher Häufigkeit publiziert. 31 Es waren in erster Linie die Händler in Amsterdam, die von den Preiskuranten profitierten, doch die gedruckten Listen wurden auch Briefen an Kaufleute beigefügt oder abgeschrieben und 29 J OHANNES C. W ESTERMANN , Beschouwingen over de opkomst en den bloei des handels in de Gouden Eeuw, in: Zeven eeuwen Amsterdam, A NTOINE E VERARD D ’A ILLY (Hrsg.), 6 Bde., Amsterdam o. J., Bd. II, 65-120, hier 88. Die Gesamtzahl steigerte sich durch weitere Differenzierung und das Aufkommen neuer Handelsgüter bis 1686 auf 550. 30 J OHN J. M C C USKER / C ORA G RAVESTEIJN , The Beginnings of Commercial and Financial Journalism. The Commodity Price Currents, Exchange Rate Currents, and Money Currents of Early Modern Europe, Amsterdam 1991, 43-49. Es existiert ein Vertrag von 1682, aus dem hervorgeht, dass die Kompilatoren der Preiskuranten Informationen von auf verschiedene Waren spezialisierten Maklern einholten, die dafür Geld bekamen, J OHANNES G. VAN D ILLEN , Termijnhandel te Amsterdam in de 16de en 17de eeuw, in: De Economist 76 (1927), 503-523, hier 504. 31 Zur Popularität der Amsterdamer Preiskuranten vgl. M C C USKER / G RAVESTEIJN , Beginnings of Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 30), 74, Anm 9. <?page no="293"?> Clé Lesger 294 erreichten so interessierte Leser im Rest der Republik und außerhalb. 32 Den ausländischen Markt bedienten italienische, französische und später englische Übersetzungen. Die älteste bekannte italienische Ausgabe einer Amsterdamer Preisliste datiert von 1619. 33 Nachrichten aus vielen Teilen Europas erreichten Amsterdam in Form von handgeschriebenen Zeitungen. Von etwa 1618 an sahen findige Amsterdamer eine Marktlücke für eine gedruckte Zeitung. Der Übergang vom Manuskript zum Druck bot hierbei dieselben Vorteile für die Informationsversorgung, wie sie schon für den Druck von Karten, Seemannshandbüchern oder Kaufmannshandbüchern besprochen wurden. Einer dieser Vorteile war, dass gedruckte Informationen in wesentlich größerem Maße zugänglich wurden, nicht nur wegen des geringeren Preises. 34 Die handschriftlichen Zeitungen erwuchsen aus der Tradition der privaten Kaufmannskorrespondenz. Sie wurden vom Kompilator oder Kopisten direkt an den Kunden geschickt und ihre Zahl blieb begrenzt, nachdem der Urheber selbst weder Gelegenheit noch Anreiz zu einer Auflagensteigerung hatte, da er in jedes neue Exemplar die gleiche Menge Zeit und Aufwand investieren musste, also die Grenzkosten nahezu konstant blieben. 35 Die Druckmedien waren in einer völlig anderen Situation: Kompilator und Drucker hatten nun sowohl die technische Möglichkeit als auch den ökonomischen Anreiz, die Auflage zu erhöhen. Schließlich kosteten zusätzliche Exemplare sehr wenig, und da die Grenzkosten (vorerst) niedriger als der Deckungsbeitrag blieben, wuchs der Gesamtprofit. Die vergrößerte Auflage wurde dann unter die Leute gebracht, indem man für die Zeitung in größtmöglichem Umfang die Werbetrommel rührte. Es kann daher nicht überraschen, dass die ersten gedruckten Zeitungen Amsterdams auf die Initiative der Drucker und der Buchhändler zurückgehen. Sie nahmen das neue Produkt in ihr Sortiment auf und schlugen einen Teil der Auflage, wie es auf dem Buchmarkt gang und gäbe war, über andere Buchhändler los. 36 32 Das zeigen die handschriftlichen Kopien gedruckter Preiskuranten, die M C C USKER / G RAVESTEIJN , Beginnings of commercial and financial Journalism (wie Anm. 30), 49, im Archiv Daniel van der Meulens fanden. 33 Französische Versionen sind von 1632 und englische von 1678 überliefert. M C C USKER / G RAVE - STEIJN , Beginnings of Commercial and Financial Journalism (wie Anm. 30), Taf. 1.3. 34 Zu den Preisen gedruckter und handschriftlicher Zeitungen vgl. S TOLP , De eerste couranten in Holland (wie Anm. 11), 9. 35 Der Profit resultierte aus der Tatsache, dass die Fixkosten - nämlich die Kosten der Informationsbeschaffung, die dem Kompilator des corantos entstanden - auch bei der Ausfertigung mehrerer Exemplare nur einmal anfielen. 36 Die ältesten bekannten Produzenten von gedruckten corantos in Amsterdam waren Joris Veseler, Caspar van Hilten und Broer Jansz, vgl. F OLKE D AHL , Amsterdam - Cradle of English Newspapers, in: The Library: The Transactions of the Bibliographical Society, 5th series, 4 (1949), 166-178, hier 172-174. Sie finden sich auch in dem Verzeichnis von Druckern und Buchhändlern in: J AN A. G RUYS / C LEMENS DE W OLF , Thesaurus 1473-1800. Nederlandse boekdrukkers en boekverkopers met plaatsen en jaren van werkzaamheid, Nieuwkoop 1989, 205f. <?page no="294"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 295 Konnte man sich einen Ruf der Genauigkeit und Aktualität aufbauen, half dies ebenfalls die Auflage zu steigern. Dieser gute Ruf war immens wichtig, da der Käufer gedruckter Exemplare viel leichter zwischen den verschiedenen Zeitungen vergleichen konnte als der Leser handschriftlicher couranten. Die auf dem Nachrichtenmarkt tätigen Unternehmer waren so zu Verbesserungen und Erweiterungen ihrer Produkte gezwungen. Das könnte der Grund dafür sein, dass die gedruckten Zeitungen tatsächlich in größerer Ausführlichkeit und über ein breiteres Themenspektrum informierten als die handschriftlichen. 37 Zusätzlich zu den herkömmlichen militärischen und politischen Nachrichten informierten sie auch über Zahl und Ladungen einlaufender Schiffe, ökonomische Abhandlungen und die Auswirkungen politischer und militärischer Vorgänge auf den Handel. Die Produzenten dieser Zeitungen bewiesen ein sicheres Gespür für nachfrageträchtige Themen, indem sie etwa den Wundern der Natur oder den Schicksalen der europäischen Fürstenhäuser breiten Raum widmeten. Eine Rubrik, die zu Leserzuschriften aufrief, befriedigte ebenso das Verlangen der Öffentlichkeit nach Sensationen und Unterhaltung. Schließlich umfassten die gedruckten Zeitungen auch Anzeigen, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf neuerschienene Bücher lenkten - kein Zufall im Hinblick auf die Branche, aus der die Produzenten kamen. 38 Offensichtlich war die Nachrichten- und Informationsversorgung durch Zeitungen ein Geschäft, das von kommerziell orientierten Unternehmern betrieben wurde, die sowohl auf Wünsche ihrer Kunden als auch auf die Aktivitäten ihrer Konkurrenten ein scharfes Auge hatten. Und die Konkurrenz war groß in Amsterdam. Dahl hat nachgewiesen, dass vor 1645 mindestens zehn verschiedene couranten pro Woche in Amsterdam erschienen. Ihre Titel verraten das weitgefächerte Themenspektrum: Außereuropäische Nachrichten aus verschiedenen Gegenden, Europäische [Dienstags-, Donnerstags- oder Samstags-] Zeitung, Zeitung aus Italien und Deutschland, etc. und Nachrichten aus verschiedenen Gegenden. 39 Die Menge der in der Stadt verfügbaren Information und die große Anzahl von Zeitungen machten Amsterdam in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Wiege und zum Zentrum der modernen periodisch erscheinenden Presse. Nicht nur Kaufleute und interessierte Laien nutzten die 37 S TOLP , De eerste couranten in Holland (wie Anm. 11), 87. 38 Das war zumindest bei den ersten gedruckten couranten der Fall; spätere Anzeigen deckten ein wesentlich breiteres Feld ab. Ein Überblick über diese gedruckten couranten findet sich in F OLKE D AHL , Amsterdam. Earliest Newspaper Centre of Western Europe. New Contributions to the History of the first Dutch and French Corantos, in: Het Boek 25 (1939), 161-197, hier 175-83. 39 D AHL , Amsterdam. Earliest Newspaper Centre of Western Europe (wie Anm. 38), 186. Die ältesten erhaltenen Zeitungen aus Amsterdam sind Courante uyt Italien, Duytslandt etc. (1618) und Tijdinghen uyt verscheyde Quartieren (1619). <?page no="295"?> Clé Lesger 296 Amsterdamer Zeitungen, um sich zu informieren, sondern auch fremde Mächte. Fast 1300 Exemplare von Zeitungen aus der Zeit zwischen 1618 und 1665, größtenteils aus Amsterdam, wurden als Beifügungen von Briefen schwedischer Agenten an ihre Regierung in Stockholm gefunden. 40 Der internationale Ruf der Amsterdamer couranten zeigt sich auch in der Rolle, die ihre englischen und französischen Ausgaben bei der Entwicklung des Pressewesens in diesen Ländern spielten. Lange Zeit begnügten sich England und Frankreich mit der Zweitverwertung niederländischen Materials. 41 Die Initiative zur kommerziellen Publikation von gedruckten couranten ging von den Amsterdamer Buchhändlern und Druckern aus. Das kann nicht überraschen, da der Sektor in der Zeit nach der Etablierung der Republik große Veränderungen durchmachte. Mitte des 16. Jahrhunderts spielten der Buchhandel und die Publizistik nur eine untergeordnete Rolle bei der Informationsverbreitung. Bürgermeister Cornelis Pietersz Hooft schrieb über diese Zeit: Etwa fünf oder sechs Jahre vor Beginn der Wirren […] gab es nicht mehr als zwei große Buchhändler hier, einer mit [dem Zeichen] der fetten Henne, der andere mit der Bibel. 42 Außer diesen beiden Buchhändlern gab es um 1560 noch zwei kleinere in der Stadt. 43 Nur einer von den vieren überlebte mit seinem Geschäft bis in die 1570er Jahre, als Amsterdam isoliert war, umgeben von einer unter der Kontrolle der Generalstaaten stehenden Provinz Holland, nämlich Jansz Muller (unter dem Zeichen der vergoldeten Kompasse in der Warmoesstraat). 44 Nach der Entstehung der Republik stieg die Zahl der Drucker auf fünf im Jahre 1585, 20 im Jahre 1600 und etwa 45 im Jahre 1630. Von den 1590er Jahren an entwickelte sich Amsterdam rasch zum wichtigsten Zentrum für Publikationen über Handel und Seefahrt in der Republik und weit darüber hinaus. 45 Das war vor allem das Verdienst des sehr umtriebigen und bedeutenden Verlegers Cornelis Claesz, der zwischen 40 D AHL , Amsterdam. Earliest Newspaper Centre of Western Europe (wie Anm. 38), 170f.; vgl. auch F OLKE D AHL , Dutch Corantos 1618-1650. A Bibliography, Den Haag 1946 mit vielen Faksimiles. 41 S TOLP , De eerste couranten in Holland (wie Anm. 11), 81f., und D AHL , Amsterdam. Earliest Newspaper Centre of Western Europe (wie Anm. 38), 194-197. Jüngst hat Arblaster auf D AHL , Amsterdam - Cradle of English Newspapers (wie Anm. 36) mit der Feststellung erwidert, dass auch Antwerpen für englische Zeitungskompilatoren in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer noch ein wichtiger Informationsknotenpunkt war, vgl. P AUL A RBLASTER , London, Antwerp and Amsterdam: Journalistic Relations in the first Half of the Seventeenth Century, in: The Bookshop of the World: The Role of the Low Countries in the Book-Trade 1473-1941, L OTTE H ELLINGA u. a. (Hrsg.), Houten 2001, 145-150. 42 H. A. E NNO VAN G ELDER , Memoriën en Adviezen van Cornelis Pietersz. Hooft Werken uitgegeven door het Historisch Genootschap, dritte Serie, 48, Utrecht 1925, 268. 43 Das geht zumindest aus dem auf uns gekommenen gedruckten Material aus dieser Zeit hervor. Vgl. hierzu G RUYS / D E W OLF , Thesaurus (wie Anm. 36), 204f., aus dem die folgenden Einzelheiten über die Zahl der Drucker und Publizisten stammen. 44 G RUYS / D E W OLF , Thesaurus (wie Anm. 36), 204; J OHANNES G ERARD VAN D ILLEN , Amsterdam in 1585. Het kohier der capitale impositie van 1585, Amsterdam 1941, 24. 45 Für gelehrte Veröffentlichungen war Leiden der wichtigste Erscheinungsort in der Republik. <?page no="296"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 297 1581 und seinem Tod 1609 hunderte von Büchern, Karten, Pamphleten und Drucken herausbrachte. Über die Biographie Cornelis Claesz’ ist wenig gesichert. Er wurde um die Mitte des 16. Jahrhunderts in den südlichen Niederlanden geboren, wahrscheinlich in Löwen. 46 Noch als Kind nahmen ihn seine Eltern nach Emden mit, wo er das Buchbinderhandwerk erlernte. Als junger Buchbinder ging er 1572 von Emden nach Köln, einem großen Zentrum des Verlagswesens. 1578 taucht er als Besitzer eines Buchladens in Enkhuizen auf, wo er unter anderem Bücher von Plantijn aus Antwerpen verkaufte. Seine Enkhuizener Zeit hatte wahrscheinlich entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung des Bestandes, den er später in Amsterdam aufbaute, denn die Städte Nordhollands - Enkhuizen zumal - waren die wichtigsten Zentren der Seemannschaft dieser Zeit, und die Seeleute, die Hollands Schiffe bemannten, lebten in den ländlichen Gebieten Nordhollands. Van Selm glaubt, dass Claesz in Enkhuizen jene Kontakte knüpfte, die es ihm später ermöglichten, das Wissen von Seeleuten, Navigatoren, Entdeckern, Geographen und Kartographen aus Nordholland zu verwenden. Vielleicht erkannte er auch hier das kommerzielle Potential dieses Materials. Sicher ist, dass er in seinem Enkhuizener Laden Pieter Heijns’ Atlas, den Spieghel der werelt, gedruckt von Plantijn, verkaufte. 47 In jedem Fall zog er sofort nach der Gründung der Republik von Enkhuizen nach Amsterdam. In einem Haus am Damrak nahe der Alten Brücke, im Zeichen des Notizbuches auf dem Wasser, ging er fast 30 Jahre lang seinem Geschäft nach. Als Buchhändler führte Claesz ein außerordentlich breites Sortiment, das er hauptsächlich von der Frankfurter Buchmesse und anderen Druckern bezog. Allein in den Jahren 1604-1608 enthielt sein Angebot 1273 Neuerscheinungen, die er in Frankfurt erworben hatte. 48 Darunter waren viele Titel über (protestantische) Theologie, Geschichte und Philosophie, für die er in Amsterdam einen Markt sah. Doch von der Größe seines Buchhandels abgesehen (und Claesz war zweifellos der größte Buchhändler der Republik) beruhte das Ansehen seines Unternehmens auf den kartographischen und nautischen Werken, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden. Als Claesz 1578 in Amsterdam ankam, waren Publikationen dieser Art dort schwer zu bekommen. In verhältnismäßig kurzer Zeit baute er praktisch aus dem Nichts einen beeindruckenden Katalog auf und machte sein Geschäft - 46 Angaben zur Biographie von Cornelis Claesz wurden zuletzt zusammengestellt von B ERT VAN S ELM , Een menighte treffelijcke boecken. Nederlandse boekhandelscatalogi in het begin van de zeventiende eeuw, Utrecht 1987, 176-179. 47 V AN S ELM , Een menighte treffelijcke boecken (wie Anm. 46), 178 und 182. 48 V AN S ELM , Een menighte treffelijcke boecken (wie Anm. 46), 215, Tafel 10 und 11. <?page no="297"?> Clé Lesger 298 und damit Amsterdam - zum wichtigsten Bezugsort der Republik für kartographische und nautische Literatur. Von den 269 Titeln dieses Katalogs, die Van Selm aufgespürt hat, beschäftigen sich 40 Prozent mit Handel und Seereisen im weitesten Sinne, darunter solche Klassiker wie Waghenaers Thresoor der Zeevaert, Van Linschotens Itinerario, der Caert-tresoor und Ausgaben des Mercator-Atlasses, veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Jodocus Hondius und Johannes Janssonius. Aber Claesz führte nicht nur solche berühmten Werke. Er produzierte für den Markt und passte sein Angebot der Nachfrage an. Dies bedeutete vor allem, dass er sich neben so innovativen Werken wie Waghenaeer auch nicht scheute, ältere Seehandbücher wie die des berühmten Seefahrers Govaert Willemsz aus Holysloot oder Adriaen Gerritsz aus Haarlem neu aufzulegen; Werke, die zu Lebzeiten ihrer Autoren gar nicht erschienen waren. 49 Seine enormen Aktivitäten auf diesem Gebiet machten Claesz’ Geschäft zum wichtigsten Vorratslager für Material dieser Art, zu dem Ort, von dem aus die Informationen über nahe und ferne Länder verbreitet wurden, ihre Waren und wie man sie erreichte. Die Geschwindigkeit, mit der Amsterdam zum Mittelpunkt kartographischen und nautischen Wissens wurde, wird zurecht dem praktischen Wissen und der Erfahrung der holländischen Seeleute zugeschrieben, der so genannten nordholländischen geographischen Schule, und dem Beitrag der kartographischen Tradition in den südlichen Niederlanden. Doch erst durch die technischen Möglichkeiten des Buchdrucks und den rastlosen Unternehmergeist von Leuten wie Cornelis Claesz konnte dies alles zusammenwirken. 50 Dessen Motive waren rein kommerzieller Natur; in Amsterdam bestand eine Nachfrage nach Karten, Tafeln und Werken über Navigation, die Claesz befriedigte. In der Rückschau erwies sich dieser Teil seiner Aktivitäten als Buchhändler und Drucker als von immenser Bedeutung für die Expansion des niederländischen Seehandels und für den Aufstieg von Amsterdam als Nachrichtenzentrum, doch für Claesz selbst bestand vermutlich kein prinzipieller Unterschied zu seinen übrigen Geschäften. Vielleicht die beste Beschreibung seines Standpunktes ist seine eigene Entgegnung auf den Vorwurf, dass er unchristliche und unwahrhaftige Almanache drucke und publiziere: Wir betreiben unser Geschäft ‚propter sanctum denarium‘, für den runden Gott [Geld]. Die Welt will betrogen werden, und ich kann es ebenso gut tun wie ein anderer. 51 Das Motiv des Profits bei Druckern und Autoren war 49 D UBIEZ , ‚Int Schrijftboeck‘ (wie Anm. 19), 209-211. 50 Für die nordholländische kartographische Schule vgl. S CHILDER / M ÖRZER B RUYNS , Zeekaarten en navigatie-instrumenten (wie Anm. 15), 168f.; Z ANDVLIET , Mapping for Money (wie Anm. 3), Kap. 3. 51 Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Bd. 10, Leiden 1937, Sp. 173. Unter deutschen Druckern und Buchhändlern findet sich ein vergleichbarer Unternehmergeist: E RDMANN W EY- <?page no="298"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 299 ein wesentlicher Anstoß für die Verbreitung des in Amsterdam akkumulierten Informationsfundus. 3. Ein relativ freier Informationsfluss Und doch sind umfangreiche Handelsbeziehungen und die von ihnen generierten Informationen, der Einsatz der Druckerpresse und das Profitstreben der Drucker und Autoren zwar notwendige, aber noch keineswegs hinreichende Voraussetzungen für den Aufstieg des Amsterdamer Informationssystems. Ebenso bedeutsam ist das Fehlen von Kräften, die den freien Informationsaustausch zwischen allen Schichten der Kaufmannschaft und der Öffentlichkeit insgesamt behinderten. Offenkundig erreichte nicht jede Information die Öffentlichkeit. In einem kompetitiven Umfeld werden sich Kaufleute immer eifersüchtig bemühen, jene Informationen sorgsam zu hüten, die ihnen einen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten verschaffen könnten. Sie hatten also allen Grund, aus privater Korrespondenz Erfahrenes für sich zu behalten. Ebensowenig konnte jedermann Einsicht in die Berichte niederländischer Konsuln im Ausland oder Angehöriger der Vereinigten Ostindische Kompanie (VOC) nehmen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen kommerziellen Zentren war in Amsterdam eine große Menge an Informationen zu einem geringen Preis offen zugänglich. Dadurch waren auch kleinere Kaufleute und Firmen im Besitz von Wissen, das andernorts nur von Unternehmen erlangt werden konnte, die groß genug waren, um ein eigenes Netz von Korrespondenten und Informanten zu unterhalten. Dies führt zu der Frage, warum Informationen aus der Welt des Handels - die normalerweise umso wertvoller sind, je weniger Konkurrenten Kenntnis von ihnen haben - überhaupt veröffentlicht wurden. Die Frage ist umso interessanter, weil in den Jahrzehnten um 1600 die Stadtväter Amsterdams in Handel und Schifffahrt sehr aktiv waren und sowohl Grund genug als auch die Mittel gehabt hätten, den freien Informationsverkehr zu unterbinden. Den Zugang zu Information zu beschränken war im frühneuzeitlichen Europa nichts Ungewöhnliches. Nürnberg beispielsweise, eine der bedeutendsten Handelsstädte Kontinentaleuropas vom 15. bis ins 17. Jahrhundert, hatte einen entsprechend hohen Zustrom an Informationen. 52 1528 nannte RAUCH , Das Buch als Träger der frühneuzeitlichen Kommunikationsrevolution, in: Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, M ICHAEL N ORTH (Hrsg.), Köln / Weimar / Wien 1995, 1-13, hier 10. 52 Nürnberg war auch der Mittelpunkt eines ausgedehnten Fernstraßennetzes, vgl. die Karte in: H ANS - J ÖRG K ÜNAST , „Getruckt zu Augspurg“. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555, Tübingen 1997, Karte 2 im Anhang. <?page no="299"?> Clé Lesger 300 Luther die Stadt sogar „Das Auge und Ohr Deutschlands“. 53 Doch der Stadtrat übte eine strenge Kontrolle über die Verbreitung von Nachrichten aus. Drucker und Verleger bzw. Buchhändler und sogar Briefmaler und Formschneider waren der Zensur und Vorzensur unterworfen. Ab 1513 mussten alle Druckerzeugnisse von Zensoren überprüft werden, bevor sie in Druck gingen. 54 Vor allem Zeitungen bereiteten dem städtischen Magistrat Kopfzerbrechen und obwohl er nie die vollständige Kontrolle über Verbreitung und Inhalt handschriftlicher Nachrichten erlangte, verhinderte er das Erscheinen gedruckter Zeitungen bis ins späte 17. Jahrhundert. 55 In der Praxis bedeutete das, dass die nach Nürnberg einströmenden Informationen nur den Spitzen der Gesellschaft zugänglich waren: den politischen und ökonomischen Eliten. Doch auch in Handelszentren mit einer weniger restriktiven Zensur war Information nicht jedem zugänglich. In Augsburg fungierte das Haus Fugger, wenn auch nur aufgrund der Größe und Ausdehnung seiner Handelsbeziehungen, als eigener Nachrichtendienst. Es versorgte deutsche Fürsten in seinen berühmten Fugger-Zeitungen mit Informationen, doch diese handgeschriebenen Zeitungen wurden nicht veröffentlicht und die enthaltenen Neuigkeiten standen dem Publikum nicht zur Verfügung. Und was auf die Fugger zutrifft, gilt ebenso für die großen Handelshäuser anderer europäischer Städte. Sie sammelten große Mengen an Informationen, doch aus kommerziellem Eigeninteresse unterblieb deren Veröffentlichung. Wie bereits erwähnt, hielten Antwerpener Handelsfirmen sogar ihre Zinstabellen streng geheim. Bevor der Frage nachgegangen wird, warum in Amsterdam relativ einfach an Informationen heranzukommen war, ist klarzustellen, dass die politischen und ökonomischen Eliten Amsterdams keineswegs aus prinzipiellen Erwägungen Verfechter der Informationsfreiheit waren. Wenn sie es als für sich vorteilhaft ansahen, hielten sie ebenso leicht Informationen vor der Öffentlichkeit zurück wie die Eliten anderer Städte. Dies war zum Beispiel der Fall bei den umfangreichen Bodenspekulationen des Bürgermeisters Frans Hendricksz Oetgens, seines Schwagers und Mitbürgermeisters Barthold Cromhout und des zukünftigen Bürgermeisters Jonas Cornelisz Witsen. 56 Sie waren die Schlüsselfiguren einer mächtigen Gruppe innerhalb des Amsterdamer Magistrats und übten nicht nur großen Einfluss auf die Gestaltung der großen Stadterweiterung von 1612 aus, sondern sollten davon auch im- 53 L ORE S PORHAN -K REMPEL , Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700, Nürnberg 1968, 21. 54 S PORHAN -K REMPEL , Nürnberg als Nachrichtenzentrum (wie Anm. 53), 68ff. 55 S PORHAN -K REMPEL , Nürnberg als Nachrichtenzentrum (wie Anm. 53), 67 und 139. 56 J OHAN E. E LIAS , De vroedschap van Amsterdam, 1579-1795, 2 Bde., Haarlem 1903/ 1905, Bd. 1, LXII-LXXVI. <?page no="300"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 301 mens profitieren. In aller Stille und zu niedrigen Preisen kauften diese Spekulanten große Mengen des Bodens, den sie selbst für die Erweiterung der Stadt vorgesehen hatten. Die Lage des neuen Bezirkes und die äußerst günstigen Konditionen, zu denen sich die Spekulanten den Grund beschafft hatten, wurden allerdings erst viel später bekannt gegeben, so dass der politischen Elite samt ihrer Freunde und Verwandten ausreichend Gelegenheit blieb, sich zu günstigen Bedingungen mit Land einzudecken. Auch die Direktoren der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC) nutzten ihren Einfluss, um mit Anteilen der Kompanie zu spekulieren und lancierten sogar Gerüchte, um den Aktienkurs zu ihrem Vorteil zu beeinflussen. 57 Auch hier begrenzte die Elite den freien Informationsfluss an die gesamte Geschäftswelt. Warum also wurde diese Politik nicht bis zu ihrem logischen Ende, der Begrenzung kommerzieller Information auf die Spitzen der Gesellschaft, fortgeführt? Eine vollständige Beantwortung dieser Frage setzt weitere komparative Forschung voraus, doch für den Moment möchte ich den Blick auf drei Faktoren lenken: 1. das Fehlen eines Informationsmonopols in der Hand großer Firmen oder Gruppen innerhalb der Amsterdamer Kaufmannschaft; 2. die Konkurrenz anderer Handelszentren; und 3. die politische Struktur der Republik der Niederlande. An anderer Stelle habe ich ausgeführt, dass während des größten Teils des 16. Jahrhunderts Amsterdam einer der Knotenpunkte eines Systems war, das auch andere ‚gateways‘ der Niederlande umfasste. 58 Innerhalb der niederländischen Provinzen hatte jeder Knotenpunkt eine bestimmte und begrenzte Funktion. Amsterdam war offensichtlich ein wichtiges ‚gateway‘ für den Handel mit Norddeutschland, Skandinavien und der Ostseeregion. Durch den Hafen von Amsterdam wurden Nahrungsmittel, Rohstoffe und veredelte Waren aus diesen Regionen in die Niederlande eingeführt und gegen in den Niederlanden verarbeitete oder hergestellte Waren gehandelt. Die meiste Zeit des 16. Jahrhunderts war Antwerpen die bei weitem wichtigste Handelstadt der Niederlande. Doch trotz seiner gewaltigen Ausdehnung hatte auch der Handel Antwerpens ganz bestimmte regionale Schwerpunkte: das deutsche Hinterland und Mitteleuropa, England und die iberische Halbinsel. Über Land hatte Antwerpen Anschluss an Städte wie Köln, Frankfurt, Nürnberg und Augsburg, von wo aus seine Waren nach Mitteleuropa, Norditalien und darüber hinaus gelangten. Es waren nicht nur in den Niederlanden selbst produzierte Güter, die in diese Regionen transportiert wurden, 57 S IMON VAN B RAKEL , De Hollandsche handelscompagnieën der zeventiende eeuw. Hun ontstaanhunne inrichting, Den Haag 1908, 132f. 58 Vgl. C LÉ L ESGER , The Rise of the Amsterdam Market and Information Exchange; Merchants, Commerical Expansion and Change in the Spatial Economy of the Low Countries, c. 1550-1630, Aldershot 2006, bes. Kap. 1-3. <?page no="301"?> Clé Lesger 302 sondern auch englisches Tuch, Gewürze aus Portugal und andere Produkte des internationalen Handels. Verglichen mit Antwerpen war Amsterdam nur ein nachgeordnetes ‚gateway‘, dessen Kaufleuten es obendrein am Kapital, am praktischen Sachverstand und dem Prestige ihrer Antwerpener Kollegen mangelte. Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich dies grundlegend geändert. Die Revolte der Niederlande, und vor allem der Fall Antwerpens an die Armee des Herzogs von Parma (1585) destabilisierten das System der ‚gateways‘. Die Spezialisierung, die sich mit der Zeit herausgebildet hatte, wurde nun zum ernsten Problem, denn die Einnahme und Blockade Antwerpens unterbrach die Verbindung zwischen den nördlichen Niederlanden und Deutschland, Südeuropa und der außereuropäischen Welt. Das Problem war umso drängender, weil der Zusammenbruch der Produktionskapazität in den südlichen Niederlanden und die Ankunft zahlreicher Migranten der holländischen Exportindustrie einen enormen Schub gaben. In Amsterdam, das bereits vor der Revolte zum wichtigsten ‚gateway‘ zum Norden hin geworden war, eröffneten sich dadurch neue kommerzielle Möglichkeiten. Diese wiederum fielen auf fruchtbaren Boden, da seit der Vertreibung des prospanischen Stadtmagistrats 1578 kommerzielle Interessen die Politik der Stadt noch mehr dominierten als zuvor. Innerhalb weniger Jahrzehnte erweiterte sich der kommerzielle Horizont Amsterdams über Ost- und Nordeuropa hinaus nach Russland, ins Mittelmeer, nach Kleinasien, Afrika, Amerika und dem fernen Osten. Im selben Zeitraum nahmen auch der Wert der in Amsterdam gehandelten Waren und das Schiffahrtsaufkommen in seinem Hafen sprunghaft zu. Auf den freien Informationsaustausch hatten die oben skizzierten Entwicklungen wesentlichen Einfluss. Als Ende des 16. Jahrhunderts die großen Veränderungen im System der ‚gateways‘ den Handel Amsterdams in die Höhe schnellen ließen, gab es keine eingesessene kommerzielle Elite, die den Handel dominierte, sich den Zugang zu wichtigen Informationen vorbehielt und die Konkurrenz auszuschließen versuchte. Im Zeitraum vor 1585 fehlten große Firmen wie jene in Antwerpen, Augsburg oder Nürnberg. Überdies verließen viele Mitglieder der älteren merkantilen Elite die Stadt, als sie sich dem Protestantismus zuwandte. Ein Nachrichtenmonopol einiger weniger Firmen oder Gruppen innerhalb der Kaufmannschaft war auch aufgrund der Tatsache, dass die expandierenden Handelsgeschäfte mit Russland, dem Mittelmeer, Afrika, Amerika und Asien völliges Neuland für die Stadt darstellten, ausgeschlossen. Keine einzelne Firma oder Gruppe von Kaufleuten war in allen Handelszweigen dominierend und hatte Zugang zu allen wirtschaftlichen Informationen. Dies förderte natürlich den Austausch und die Verbreitung von Informationen innerhalb der Geschäftswelt insgesamt. <?page no="302"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 303 Die politische Elite, in der Kaufleute dominierten, die sich der Vorteile eines exklusiven Zugriffs auf Informationen wohlbewusst waren, stellte noch andere Überlegungen an. Den Zugang der mittleren und kleineren Kaufmannschaft zu Nachrichten zu beschränken mochte verlockend sein, hätte aber langfristig katastrophale Folgen für die kommerzielle Expansion Amsterdams und damit für den eigenen Profit und das eigene Ansehen gehabt. Denn die Stadt hatte auf ihrem Weg zum bedeutenden Handelsplatz durchaus Rivalen. In Amsterdam hatten viele die Sorge, dass der Handel früher oder später nach Antwerpen zurückkehren würde. Außerdem erweiterten ‚gateways‘ wie Enkhuizen, Hoorn, Rotterdam und vor allem Middelburg ihren Handel und ihre Schifffahrt ebenfalls und machten Amsterdamer Kaufleuten auf einheimischen und ausländischen Märkten Konkurrenz. So war also den finanziellen (und politischen) Interessen der Elite am besten damit gedient, die Ausweitung von Handel und Schifffahrt ihrer Heimatstadt zu fördern. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Kaufleute, die die politische Elite bildeten, ungeachtet ihrer Regulierungsmacht Institutionen gründeten, die den ungehinderten Informationsaustausch förderten (die Börse und die Preiskuranten), und so gut wie niemals private Unternehmer an der Veröffentlichung von Zeitungen, Karten oder Kaufmannshandbüchern hinderten. Nur in Fällen, in denen das Handels- und Informationsmonopol der VOC bedroht war, wurde der Zugang zu geschäftlichen Informationen eingeschränkt. Schließlich muss hervorgehoben werden, dass auch die politische Struktur der Republik der Niederlande zur relativen Freiheit des Informationsaustausches beitrug. Im Gegensatz zu England gab es hier keine zentrale Regierung, die aus fiskalischen Gründen die Organisation des Handels in Monopolgesellschaften befahl und damit den Zugang zu Informationen auf die Mitglieder dieser Gesellschaften beschränkte. Erst mit der Gründung der VOC (1602) stand der Zugang zu Informationen über eine Sparte des Handels, den nach Ostindien, nicht mehr jedermann offen. Wie die Stadtväter in vielen anderen Handelszentren fürchtete auch die politische Elite Amsterdams, dass Nachrichten und Meinungen in Büchern und Zeitungen von fremden Mächten ungünstig aufgenommen würden und Handel und Schifffahrt schädigten. 59 Doch anders als fast alle anderen Handelszentren mussten sich die niederländischen Magistrate keine Gedanken machen über die Empfindlichkeiten ihres eigenen Herrschers, ob nun Kaiser, König oder Fürst. Im übrigen wäre die Einschränkung der Pressefreiheit auch nur sehr schwer zu bewerkstelligen gewesen: Sowohl die religiöse und politische Heterogenität 59 Vgl. S PORHAN -K REMPEL , Nürnberg als Nachrichtenzentrum (wie Anm. 53), 68; K ÜNAST , „Getruckt zu Augspurg“ (wie Anm. 52), 215, und W ILLEM F RIJHOFF / M ARIJKE S PIES , 1650. Bevochten eendracht. Nederlandse cultuur in Europese context, Den Haag 1999, 267. <?page no="303"?> Clé Lesger 304 der Republik als auch das Selbstbewusstsein vieler Autoren, Drucker und Verleger/ Buchhändler standen dem im Wege, denn sie konnten in der politisch fragmentierten niederländischen Republik relativ einfach in eine andere Stadt ziehen, wenn ihnen das Pflaster zu heiß wurde. 60 Auch die existierenden restriktiven Gesetze konnten unter solchen Umständen nur schwer durchgesetzt werden, und in der Praxis genossen die Einwohner der Vereinigten Provinzen einen Grad an individueller Freiheit (Gewissens-, Meinungs- und Pressefreiheit), der im frühneuzeitlichen Europa ohne Beispiel war. 4. Schluss Auf dem gesprochenen oder handgeschriebenen Wort basierende Informationssysteme haben schwerwiegende Nachteile wie die beschränkte Reichweite der umlaufenden Informationen, Fehleranfälligkeit bei Kopie oder Übermittlung und fehlende Verknüpfung und Weiterentwicklung. Die Kaufmannschaft von Amsterdam konnte seit den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts diese Unzulänglichkeiten zum größten Teil durch den Einsatz des Buchdrucks bei der Produktion von Seekarten, Navigationshandbüchern, Rechenbüchern, Kaufmannshandbüchern, Preiskuranten und Zeitungen überwinden. Verglichen mit mündlichen und handschriftlichen Nachrichten vergrößerte der Druck die Reichweite der vorhandenen Informationen, ermöglichte exakte Kopien zu wesentlich günstigeren Preisen und verstärkte die Speicherung und Verbesserung der Information durch Verknüpfung und Rückmeldungen der Leser. Es ist allerdings hervorzuheben, dass nichts von alledem vollkommen neu war. Die Druckerpresse war schon seit wenigstens hundert Jahren in Gebrauch, Preiskuranten waren in Italien schon lange vor Ende des 16. Jahrhunderts bekannt; handschriftliche Zeitungen waren keine niederländische Erfindung, ebenso wenig Seekarten und Seemannshandbücher. Die Besonderheit Amsterdams war - neben der Ausdehnung seiner Handelsbeziehungen und der Menge der in der Stadt verfügbaren Informationen - der Umfang, in dem der Buchdruck für die Produktion und Verbreitung von kommerziellen Informationen eingesetzt wurde. Amsterdam konnte die Vorteile des Druckverfahrens voll zur Geltung bringen, weil der freie Informationsverkehr nicht durch politische, ökonomische oder religiöse Autoritäten 60 F RIJHOFF / S PIES , Bevochten eendracht (wie Anm. 59), 264f.; vgl. auch J ACOB L. P RICE , Culture and Society in the Dutch Republic during the 17 th Century, London 1974, Kap. 7. Ein komparativer Ansatz zur Geschichte der niederländischen Republik findet sich in: A Miracle Mirrored. The Dutch Republic in European Perspective, K AREL D AVIDS / J AN L UCASSEN (Hrsg.), Cambridge 1995. <?page no="304"?> Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600 305 beeinträchtigt wurde. In dieser Hinsicht wich die Situation in Amsterdam von der sonst in Europa üblichen Praxis ab. Ich habe dargelegt, dass die radikalen Veränderungen der Wirtschaftsräume und der politischen Struktur der Niederlande diese glückliche Ausnahme von der Regel immens begünstigten. Da keine Firma oder einzelne Gruppe innerhalb der Amsterdamer Kaufmannschaft ein Handels- oder Informationsmonopol besaß, war auch niemandem daran gelegen, den freien Fluss kommerzieller Informationen zu unterbinden. Und die politische Elite zog aus dem Wettbewerb mit anderen ‚gateways‘ in den Niederlanden die Konsequenz, den Aufschwung des Amsterdamer Handels so effektiv wie möglich zu fördern. Nicht nur, dass sie kaum mit Restriktionen in den freien Informationsaustausch eingriff, sie verstärkte ihn im Gegenteil sogar durch die Versorgung der Amsterdamer Kaufleute unter anderem mit einer Börse, einer regulierten und vereidigten Maklergilde und Warenpreiskuranten, deren Verlässlichkeit von den städtischen Behörden garantiert wurde. Schließlich wurde ausgeführt, dass die politische Struktur und der religiöse Pluralismus in der niederländischen Republik ein Umfeld schufen, in dem individuelle Freiheit und die Pressefreiheit nicht ohne weiteres durch die Obrigkeit beschnitten werden konnten. <?page no="306"?> 4. Verwandtschaftsbeziehungen und soziale Netzwerke <?page no="308"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse. Der Generationenwechsel nach dem Nürnberger Kaufmann Leonhart II. Tucher (1487-1568) in der historischen Darstellung und in Briefen Christian Kuhn Die Nürnberger Ratsgeschlechter des 15. und 16. Jahrhunderts genossen in der Reichsstadt große wirtschaftliche und politische Privilegien. Gegen Ende dieses Zeitraums war die von der Verfassung abgesicherte Sonderstellung jedoch durch externe Faktoren gefährdet. Handelskrisen, politische Umbrüche, Kriege und zunehmender internationaler Wettbewerb führten zu zahlreichen Bankrotten. Nicht allein äußere Veränderungen bedrohten den patrizischen Wohlstand, sondern es traten gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch endogene Probleme der Handelsgesellschaften besonders deutlich hervor. Dies lässt am Beispiel des Generationenwechsels in der Nachfolge Leonharts II. Tucher zeigen. Die Kontinuitätsprobleme werden anhand von historiographischen und flankierenden brieflichen Quellen zu den Patriziersöhnen Sixtus und Herdegen untersucht. Dabei steht neben Praktiken des Fernhandels und der Kaufmannsbildung deren Einbettung in das Wertesystem dieses mächtigen Nürnberger Patriziergeschlechts im Mittelpunkt. Die Tucher waren um 1500 eine der bedeutendsten Familien in der Reichsstadt Nürnberg. 1 Träger dieses Namens erzielten wirtschaftliche Erfolge im Fernhandel und hatten politische Führungspositionen, darunter mehrfach auch das bedeutende Amt eines Losungers, inne. 2 Einer dieser Würdenträger, Anton II. Tucher (1458-1524), beförderte maßgeblich die Einführung der Reformation in Nürnberg, während er neben weiteren Mitgliedern der Familie Tucher mit Albrecht Dürer Mitglied der humanistischen Gesellschaft „Sodalitas Staupiziana“ war. 3 Zu einem Protagonisten dieser kulturell und stadtgeschichtlich einschneidenden Entwicklung wurde Anton Tucher aber auch durch seine Korrespondenz mit dem Kurfürsten von Sachsen. Die 1 V ALENTIN G ROEBNER , Ratsinteressen, Familieninteressen. Patrizische Konflikte in Nürnberg um 1500, in: Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, U LRICH M EIER / K LAUS S CHREINER (Hrsg.), Göttingen 1994, 278-308, hier 282. 2 L UDWIG G ROTE , Die Tucher. Bildnis einer Patrizierfamilie, München 1961. 3 W OLFGANG R EINHARD , Die Anfänge der Reformation in Nürnberg, in: Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen, V OLKER K APP / F RANK -R UTGER H AUSMANN (Hrsg.), Tübingen 1991, 9-24, hier 10. <?page no="309"?> Christian Kuhn 310 Spitzenstellung des Geschlechts Tucher lässt sich an der Vielfalt und Anzahl der von ihnen eingerichteten Stiftungen sowie an der Qualität von Repräsentations- und Kunstgegenständen ablesen. 4 Für die Repräsentation der Familie bedeutsam ist dabei insbesondere das „Große Tucherbuch“, das in Text und Bild die Genealogie des Tuchergeschlechts zur Darstellung bringt. Zwar legten auch andere Nürnberger Geschlechter Stamm- oder Geschlechterbücher an. Die Familiengeschichte aber, die die Tuchersche Familienstiftung gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Auftrag gab und mit der eine Vorarbeit von 1542 verändert und erweitert werden sollte, unterschied sich deutlich von anderen Beispielen dieser Gattung. 5 Die Einleitung zu dieser Handschrift wurde 52 Jahre nach der ersten Fassung abgeschlossen, jedoch sind in der Folge auch spätere Ereignisse eingetragen worden. 6 Das Ergebnis lässt sich zwar formell als Stammbuch bezeichnen, jedoch hebt es sich durch seinen repräsentativen Charakter und die ungewöhnlich wertvolle graphische und kalligraphische Gestaltung von anderen Stammbüchern ab und ist so von der Forschung zu den wertvollsten Geschlechterbüchern seiner Zeit gezählt worden. 7 Die Interpretationsprobleme einer solchen Bild-Text- Kombination sind bereits ansatzweise in ihrer Komplexität benannt worden. 8 Auch die Beschreibung des Sohnes Leonharts II., des Kaufmanns Herdegen IV. Tucher im „Großen Tucherbuch“, ist daher von vornherein als Teil einer instrumentellen Geschichtsschreibung zu deuten, handelt es sich doch um eine Form von diskursbestimmter Repräsentation. 9 Ihre Aufgabe war es, die Familie aufzuwerten, ja zu monumentalisieren. 10 4 Dazu zusammenfassend M ICHAEL D IEFENBACHER , Das Nürnberger Stiftungswesen - Ein Überblick, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 91 (2004), 1-34. 5 Zu dieser Einschätzung kommt W ILHELM S CHWEMMER , Dr. Lorenz Tucher (†1503) und seine Familienstiftung, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 63 (1976), 131- 144, hier 136. 6 Eingetragen ist beispielsweise der Tod Endres’ IV. Tucher im Jahre 1604; Das Große Tucherbuch, Stadtarchiv Nürnberg (StadtAN), E 29/ III Nr. 258 fol. 193, zitiert nach der CD-Edition Das Große Tucherbuch. Eine Handschrift zum Blättern aus dem Stadtarchiv Nürnberg, Signatur StadtAN E29/ III Nr. 258, Stadtarchiv Nürnberg (Hrsg.), Nürnberg 2004, im folgenden GTB-CD. 7 Zu einem Vergleich verschiedener Geschlechterbücher vgl. H ELMUT F REIHERR H ALLER VON H AL- LERSTEIN , Nürnberger Geschlechterbücher, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 65 (1978), 212-235, hier 211-214. 8 Vgl. hierzu die Rezension zur Edition des Großen Tucherbuchs http: / / hsozkult.geschichte.huberlin.de/ rezensionen/ 2005-3-108 (Zugriff 24.08.2005). 9 Zur methodischen Diskussion historischer Diskursanalysen vgl. A CHIM L ANDWEHR , Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001. 10 Zu instrumentellen Formen der Geschichtsschreibung vgl. zusammenfassend für die mittelalterliche Tradition B EATE K ELLNER , Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004; sowie auch zu frühneuzeitlichen Ausformungen der Genealogieforschung: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, K ILIAN H ECK / B ERNHARD J AHN (Hrsg.), Tübingen 2000. <?page no="310"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 311 1. Handelspraxis als Bewertungskriterium eines Generationenwechsels in der historischen Darstellung Die Lebensbeschreibung Herdegens IV. Tucher erscheint zunächst durchaus mit den Werten einer Kaufmannsfamilie konform: Herdegen Tucher der Vierte diß Namens No. 104 Herrn Leonhard Tuchers Lossunghern/ der zway vnd Zwaintzigisten Generation vnd Katharina Nützlin Sohn/ ward geborn den Siben vnd Zwaintzigisten Augusti/ Anno 1533. welchen herbst ein grosser Sterb zu Nürnberg war/ vnd von seiner Jugent auff zur Schuelen/ Rechnen vnd Schreiben zulernnen gehalten/ ist im 1547. Jar erstlich in Franckreich gen Lyon geschickt vnd alßbald mitt vnd bey dem Handel auffertzogen worden/ heyratt zu Jungckfrawen Katharina Sebalden Pfintzings am Obßmarckt vnd Foelicitas Welsserin Tochter/ hielt Hochtzeit den dreyssigisten May/ Anno 1564, auff dem Rathhauß/ Ertzeuget mitt Ihr einen Sohn vnd ein tochter/ kauffet vnd bewohnet Hannß Oelhaffens Behaüssung auff der Vördern Füss/ gleichfals sein Güeth vnd Sytz zu Feucht/ welches Er auch von gründtauff New erbawet/ ward mit vnd neben seinem Brüdern Paulus im Handel/ vnd warttet demselben fleissig ab. 11 Die am Ende stehende Bewertung der Handelspraxis Herdegen Tuchers, ward mit vnd neben seinem Brüdern Paulus im Handel/ vnd warttet demselben fleissig ab, ist die einzige explizit positive Wertung des gesamten Abschnittes. Dieser Befund verleiht dem Porträt einen sehr ambivalenten Charakter, denn der Text unterfüttert keineswegs die abschließende Bemerkung durch frühere positive Darstellungen, vielmehr sei Herdegen zur Schuelen/ Rechnen vnd Schreiben zulernnen gehalten, nach Frankreich geschickt und alßbald mitt vnd bey dem Handel auffertzogen worden. Diese Worte stellen Herdegen einseitig als Objekt von Erziehungsmaßnahmen dar. Mit Bezug auf die praktische Handelstätigkeit wird mit Ausnahme des Minimallobs fleissig keine eigene Initiative geschildert. Das insgesamt blasse Lob kontrastiert mit anderen Persönlichkeitstableaus, im Vergleich zu denen die Tätigkeitsbeschreibung eher kalt und nüchtern wirkt. So werden andere Söhne Leonharts weit ausführlicher gelobt; über Paulus ist zwar auch der zu Herdegen zitierte Satz zu lesen, darüber hinaus werden jedoch Lebensstationen gleichsam als Erfolgs- und Bewährungsetappen benannt und durch den sonstigen beflissenen Lebenswandel untermauert: Er hatt mitt obgedachter seiner lieben Ehewürtin in werendem ehestandt/ in alle Lieb vnd Freundtschafft/ die sie mitt/ vnd gegen einander/ die gantze Zeitt Ihrer Ehe gehabt/ vnd sich beflissen/ biß in das Acht vnd dreyssigiste Iar/ 11 GTB (wie Anm. 6), fol. 170v. <?page no="311"?> Christian Kuhn 312 Rhüemblich/ Tugentlich vnd wol gelebt/ vnd mitt Ihr Achtzehen Kinder/ als namblich Acht Söhn vnd zehen Töchter ertzeugt. 12 Wie hier am Beispiel des Ehelebens hervorgehoben wird, war Paulus’ Leben von Tugend bestimmt. Eine solche Darstellung ist unübersehbar auch Teil der im Tucherbuch durchgehend so verwendeten Topik, denn diese Familiengeschichte entwirft Charakterbilder gemäß dem Wertesystem des späten 16. Jahrhunderts. Die rhetorische Gleichartigkeit der Persönlichkeitsbilder wird mit Blick auf andere Personenporträts deutlich, finden sich doch ähnliche Bezeichnungen auch in den Porträts anderer verheirateter Söhne von Leonhart. 13 Innerhalb des topischen Darstellungssystems hat das Fehlen von begründeter Ehrerweisung und Ergebnissen kluger Handlungen große Bedeutung. Im Rahmen einer auf die Grenzen der Familie und der sozialen Gruppe sich erstreckenden Öffentlichkeit legt dieses Vorgehen eine negative Bewertung gewissermaßen „zwischen den Zeilen“ nahe. Die verhaltene Bewertung der Handelspraxis Herdegen Tuchers stimmt mit einem weiteren Anzeichen für große Ambivalenz überein. Die sonst üblichen Angaben zum Todeszeitpunkt und Begräbnisort fehlen. Freilich liegt das Todesjahr 1614 weit nach dem Abschluss der Einleitung zum Tucherbuch im Jahr 1590, auch nach der Übergabe des fertiggestellten Tucherbuchs an die Familie 1604, weshalb die Frage, warum Angaben späterer Ereignisse fehlen, auf den ersten Blick kaum sinnvoll erscheint. Dem widerspricht jedoch der Zeitpunkt von eingetragenen Ereignissen, die nach 1604, wenn auch dem Gegenstand nach vor Herdegens Todesjahr 1614 stattgefunden haben. Warum wurde der Eintrag des Sohnes des vermutlich bedeutendsten Tucher nicht nachträglich aktualisiert, wenn damit nicht eine negative Wertung oder fehlende Verehrung verbunden war? Die Tuchersche Familienstiftung, die den Anstoß zu diesem monumentalen Stammbuch gegeben hatte, ließ nachweislich noch bis 1620 Ergänzungen genealogischer Informationen vornehmen. 14 Diese Kontinuität der Stiftungstätigkeit geht auch aus Honorarzahlungen hervor. Somit hätte die Ergänzung des Abschnittes zu Herdegen nahe gelegen, zumal gerade er als Auftraggeber der Prachtausgabe des „Großen Tucherbuchs“ im Dienste der Familienstiftung fungiert hatte. Vor allem auf diese Tätigkeit hat sich die Forschung bei der 12 GTB (wie Anm. 6), fol. 164v. 13 Offenbar war ein Kriterium für die Abbildung eines Familienmitglieds die Verheiratung. Christoff, GTB (wie Anm. 6), fol. 120r, Gabriel, Sixt(us), Daniel, Maximilianus, alle GTB, fol. 120v, erlebten zwar ein heiratsfähiges Alter, heirateten jedoch nie. Sie wurden als Söhne Leonharts listenartig verzeichnet, wobei lediglich Geburtsort, Lebensstand (vnuerheyratt) und Todesjahr und -ort Aufnahme fanden. 14 Dies weist anhand von Honorarzahlungen W ILHELM S CHWEMMER , Das Mäzenatentum der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher vom 14.-18. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 51 (1962), 18-59, hier 52, nach. <?page no="312"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 313 positiven Bewertung Herdegens berufen. 15 Dieses Bild wird jedoch durch die Darstellung im Tucherbuch nicht bestätigt. Es ließe sich vermuten, dass das Ende des Abschnitts zu Herdegen eine grundlegendere Bewertung vornimmt, da er eine schwerwiegende Ausnahme darstellt. Im „Großen Tucherbuch“ schließen die meisten historischen Personenporträts mit der Angabe der Begräbnisortes und der Lokalität des „Gedechtnisses“ der beschriebenen Person. Auch der andere Sohn des Losungers Leonhart Tucher (1487-1568), der verheiratet war, Paulus, folgt diesem Schema. Es ist daher denkbar, dass der Abschnitt zum 1614 verstorbenen Herdegen bei dessen Ableben bewusst nicht durch die noch bei Paulus vermerkten üblichen Angaben vervollständigt wurde: Er bl[ie]b in vnverrucktem Wittibstandt/ biß er endlich den dreyssigsten tag Augusti Anno 1603 in Gott seeligklich entschlaffen/ seines alters neun vnd sibentzig Jar vnd viertzehen tag tzu Wehrt in der Kirchen bey seiner Ehewürtin begraben/ daselbsten dann sein gedechtnus. 16 Die Bedeutung einer solchen bewussten Auslassung wäre maßgeblich für die bilanzierende Bewertung Herdegens, denn die Erinnerung an die Toten besaß noch im 18. Jahrhundert eine besondere Bedeutung. 17 In Kontinuität zum Mittelalter drückte die Totenmemoria die unmittelbare Gegenwart der Toten in der Gesellschaft der Lebenden aus. Aus diesem Umstand erhielten Seelmessen und fromme Stiftungen, aber eben auch Begräbnisorte einen kaum isoliert von Jenseitsfürsorge denkbaren säkularen Charakter. Die erinnerten Toten wurden weiterhin als anwesend betrachtet. Dabei bezog sich das Totengedenken immer auch auf das gesamte Geschlecht und durchaus nicht ausschließlich auf einzelne Personen. Insbesondere bei städtischen Eliten war der Bezug solcher Vermächtnisse auf das Gesamtgeschlecht sichtbar und stand im Vordergrund. 18 Das Tucherbuch bildet eine zusätzliche Vermittlungsebene von eher unmittelbar intendierten Formen von Memoria wie Stiftungslegaten usw. Es vermittelt die Erinnerung neu und gibt ihr dabei einen neuen Sinn. Einerseits wird die Memoria aktualisiert und verlängert, andererseits wird sie auch in den Zusammenhang der Gesamtfamilie um die Mitte des 16. Jahrhunderts und deren spezifische Bedürfnisse gestellt. Vor dem Hintergrund dieser Dimension von Memoria würde eine bewusste Auslassung oder Nichteintragung des Begräbnisortes Herdegens ihre Bedeutung gewinnen. 15 Vgl. dazu S CHWEMMER , Mäzenatentum (wie Anm. 14), 33. 16 GTB (wie Anm. 6), fol. 164v. 17 Die Argumentation folgt O TTO G ERHARD O EXLE , Die Gegenwart der Toten, in: Death in the Middle Ages, H ERMANN B RAET / W ERNER V ERBEKE (Hrsg.), Leuwen 1983, 19-77. 18 Zu dieser die ganze Familie umfassenden Bedeutung, vgl. C HRISTINE K LAPISCH -Z UBER , La maison et le nom. Stratégies et rituels dans l’Italie de la Renaissance, Paris 1990. <?page no="313"?> Christian Kuhn 314 Die familiengeschichtliche Brisanz erschließt sich jedoch nicht nur auf der Vergleichsebene der historiographischen Behandlung innerhalb der Familie gleichberechtigter Söhne, sondern auch aus dem Blickwinkel des Generationenübergangs vom so bedeutenden Leonhart II. Tucher. Der Kontrast zwischen Herdegen und seinem Vater ist im Vergleich mit dem anderen Bruder Paulus ungleich schärfer: Beispiellos sei Leonhart gewesen als Familienvater und Politiker, Funktionen, die in seinem Porträt seine ebenfalls sehr erfolgreiche Tätigkeit als Kaufmann geradezu verdecken: Handlet mitt seinen Vettern gen Lion 19 ist die einzige Erwähnung dieses Teils seines Lebens. Dennoch war er offenbar so vermögend, dass er erhebliche Stiftungen in seinem Testament vornehmen und die Tuchersche Familienstiftung fördern konnte. Insgesamt sei seine Tätigkeit jedoch vor allem auf eine ethische Grundhaltung zurückzuführen: Ehrngedachter Herr Leonhard Tucher/ ward von Gott dem Allmechtigen Reichlichen gesegnet/ nicht allein an Leibsfrüchten vnd Nahrung/ wie oben vermelt/ sondern auch an ehrn vnd Alter/ sambt andern furtrefflichen Tugenden/ Verstandt vnd hohen Gaben. 20 Er verkörpert jedoch nicht nur individuelle Leistung und Größe, sondern wird zugleich als Teil des familiären Traditionszusammenhanges dargestellt. Die von den Vorgängern empfangenen Werte hat er übernommen und gepflegt: War ein Gottsfurchtig/ Weys/ verstendig vnd fleissig Mann/ von seinen Eltern welche nicht weniger in der forcht Gottes Ehr vnd allen tugenden gelebt/ auch Zu allen tugenden/ Erbarkeitt vnd Redlichkaitten ertzogen. 21 Gleichermaßen hat er jedoch beabsichtigt, diese Prägung und das Gelernte auch an Jünger[e] weiterzugeben, also an die nachfolgenden Generationen: Sahe die Sachen gern befürdert/ vnd vermahnet Jedertzeitt die Jüngern denselbigen/ was Ihnen beuolhen mitt fleis abtzuwarten/ hielt sie in guetter forcht/ vnd hatte in allem/ alß ein getrewer Vatter vnd Regent guette fürsehung/ was der hoffart vnd stoltz Zuwider/ Schlecht vnd Gerecht/ in seinen Handlen güettig vnd freundtlich/ gegen den Armen freywillig/ vnd also in all seinem thuen beschaffen/ dass man nach seinem Tödtlichen abgang seiner sehr mangelt. 22 Bemühte er sich als Regent um die Verbesserung der Regierung, so verkörperte und vermittelte er auch als Vatter, also als Zeuger und Lehrer, den nachfolgenden Generationen eine im Grunde bürgerliche Leistungsethik. Trotz seines hohen Alters habe Leonhart Tucher sich nicht aus dieser Rolle 19 GTB (wie Anm. 6), fol. 118v. 20 GTB (wie Anm. 6), fol. 118v. 21 GTB (wie Anm. 6), fol. 118v. 22 GTB (wie Anm. 6), fol. 118v. <?page no="314"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 315 als Erziehungsinstanz zurückgezogen, so dass seine essentielle Bedeutung erst nach dem Ableben deutlich wurde. Die für das Tucherbuch ungewöhnliche Ausführlichkeit mag diese Passage als besonders bedeutsam markiert haben, eine Vermutung, die durch den stark aufwertenden Inhalt bestätigt wird. Der abschließende Satz, dass man [...] seiner sehr mangelt, verwischt jedoch jede Möglichkeit, zwischen einer Interpretation der Zeitgenossen des Todes Leonharts und einer Interpretation aus der Sicht der Zeit der Niederschrift des Tucherbuchs zu unterscheiden. Erschien der Verlust Leonhart Tuchers den Zeitgenossen seines Todesjahres 1568 als Verlust oder hatte sich dieser Befund erst ca. drei Jahrzehnte später den Autoren des Tucherbuchs und deren Auftraggebern als solcher erwiesen? Die retrospektive historiographische Darstellung Leonharts bestätigt somit ebenfalls den nahe liegenden Anschein von Herdegens Versagen als Kaufmann. Wurde Leonhart also gezielt zu einem Beispiel für die Größe der Familie stilisiert und diente damit der Exemplifizierung des Wertesystems einer späteren Zeit? Argumente für diese Annahme lassen sich aus dem Kontext dieser Geschichte einer Kaufmannsfamilie ablesen. 2. Die Familienhistoriographie als Medium eines Kontinuitätsdiskurses Zur Bewertung der Handelspraxis Herdegens muss die Programmatik des Großen Tucherbuchs herangezogen werden. Die Ausführungen in den biographischen Tableaus zeigen Spuren einer durchgehenden Programmatik, wie in der Einleitung und dem Vorwort zum Großen Tucherbuch deutlich wird. In einer Vorstufe von 1542 hatte der Autor des textlichen Grundstocks eine Widmung verfasst, die in der abschließenden, repräsentativ gestalteten Fassung erhalten geblieben ist als Herren Doctor Christoff Scheürl Schreiben vnd Eingang deß Tucherbüechs Den Erbarn vnd Vesten Herrn Leonharten Lossungherrn Wollfen Wolffen des Innern Raths. 23 Der Nürnberger Ratskonsulent hatte in die Tucherfamilie eingeheiratet und war somit selber ein Teil der Familie, deren Geschichte er schrieb, aber doch auch ein neues Mitglied. Seine Ausführungen sind von der Sorge um den Fortbestand der Familie geprägt. Schon die Widmung liefert eine rückblickende Bestandsaufnahme der Geschichten anderer Familien und dazu verfasster Darstellungen, die die Gefahr dokumentieren, dass eine Familie unbedeutend und vergessen wird: 23 GTB (wie Anm. 6), fol. 23r. <?page no="315"?> Christian Kuhn 316 Erbar Veste liebe Herrn vnd Ohaimen/ Vil Erbarer Geschlecht dieser Kay. Statt haben allerley Buchlein Ihre Gefreundten derselben Geburt, heyrat, sterben vnd begrebnus inhaltent Fürnemblich aber, welcher gestaltt dieselben auffkommen vnd widerumb abkommen vnd Zum theil gentzlich abgestorben sein/ Wie ich dann obhundert Erbarer wolbekanter geschlecht wüste zunennen/ die Gemaine Statt regirt haben/ Inn Ehr vnd Guth gesessen vnd entlich verstorben sein. 24 Diese Passage ist inhaltlich durch die Gegenüberstellung zweier Entwicklungsmöglichkeiten einer Familie bestimmt, nämlich der Wahrnehmung einer machtvollen politischen Rolle in der Reichsstadt und der Auslöschung des Geschlechtes. Das Tucherbuch perspektiviert die mahnende Erinnerung an die Wandelbarkeit menschlichen Glückes gezielt auf den Fortbestand der Familie hin. 25 Demnach liegen zwar einerseits die Wendungen des Schicksals nicht kontrollierbar in den Händen der Menschen. Sie sind fremdbestimmt und lassen dem Menschen lediglich den Freiraum, mit diesem Schicksal umzugehen. Andererseits jedoch, und zur „Schicksalskomponente“ des menschlichen Lebens im Widerspruch, ist die göttliche Gnade nach Wohlverhalten und Verehrung verteilt. Das sprachliche Bild des Mannes, dessen Samen 26 sich so über der Erde verbreitete, ist wohl auf die historische Entwicklung der Familie bezogen. Offenbar war die doppelte heilsgeschichtliche wie realgeschichtliche Applizierbarkeit dieser Bildlichkeit beabsichtigt, denn auch die Vater- und Stammvatermetaphorik des empirischen Teils des Tucherbuchs deckt sich mit einer solchen Interpretation der heilsgeschichtlichen Passagen. 27 Die Mahnung, das Vermächtnis der berühmten Tucher zu sichern, mag teilweise zur Aufwertung, ja Hypostasierung des Geschlechtes gedient haben. So verweist die opulente Ausgestaltung des Großen Tucherbuchs auf eine Repräsentations- und Überbietungsabsicht. Andererseits verdeutlichte noch die Einleitung reale Bedrohungen der Familie durch das Ausbleiben von Erben: 24 GTB (wie Anm. 6), fol. 23r. 25 Die protestantische Kreuzestheologie kommt in der Prachtversion des Tucherbuchs auch durch das Bildprogramm der Kreuzigung auf der Vorderseite des äußeren Buchdeckels zum Ausdruck. Dort ist zentral eine Kreuzigungsszene mit dem besiegten Tod zu finden. Diese inhaltlich eher herkömmliche künstlerische Umsetzung der protestantischen Heilsgeschichtsauffassung wird dann mit Allegorien der Kardinaltugenden und dem Tucherwappen in Verbindung gesetzt. Vgl. Kommentar zur vorderen Außenseite in: GTB-CD (wie Anm. 6). 26 GTB (wie Anm. 6), fol. 23r. 27 Psalm 2. und 3. Selig ist der Mann so den Herren fürchtet in seinen gebotten, sein Samen würdt mechtig sein auff dem Erdtreich die Geburt der frommen würdt gesegnet Ehr vnd reichtumb werden in seinem Hauß sein […] Matthei. 24 Der Gerecht würdt Plüen wie ein Palm vnd wie ein Eeder im Packoffen gemanigualtigt darumb stehet geschriben Syrach 44 . Wir sollen Redliche Menner loben vnd vnsere Eltern in Ihrer geburt vnd das weitter die Gütter bleiben bey Irem Samen, das ist ein hailige Erbschafft. Vgl. GTB (wie Anm. 6), fol. 23r. <?page no="316"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 317 Es ist aber in diesem vnserem der Tucher Geschlecht Register oder Stammbuch innsonderhaitt/ Gott zu Ehren vnd danck zu erinndern [sic! ] / Daß diß vnser Geschlecht zum drittenmal auff ainer aintzelichen Person gestanden [...] vnd dannoch auß Göttlichen genaden erhalten. 28 Eine tatsächliche Bedrohung durch ausgebliebenen Nachwuchs ist jedoch nicht zu erkennen, wie allein die Anzahl von 18 Nachkommen bei Leonhart und Paulus Tucher zeigt. Dennoch beließ die Tuchersche Familienstiftung, die Auftraggeberin der Prachtversion des Tucherbuchs, Scheurls Widmung in der Familiengeschichte und knüpfte daran an. Die Vorrede von 1590 verweist jedoch auf eine ganz andere Art von Kontinuitätsproblem. Das Tuchersche Geschlecht habe von Vierhundert Jaren hero/ vnd länger/ bey dieser Statt herkommen vnd häußlich gesässen; auch sei sie bey der [Reichsstadt Nürnberg] von so vilen Jaren hero/ mitt höchstem/ hohen vnd anderen Amptern/ verehrt vnd gebraucht / als wolgehaltene Leütt/ vnd bis auff disen Tag Rathsstandts genossen vnd Rathmessig 29 gewesen, gehöre also legitim der städtischen Elite und aus Herkommen der städtischen Führungsschicht an. Genedigklich gesegnet seien daher die Tucher, dass sie nicht wie andere Edle Alte woluerdiente Geschlecht absterben/ vnd wie man pflegt/ Schildt vnd Helm mitt den Todten be[graben] 30 worden seien. Geradezu im Gegensatz dazu prangt der Heilige Mauritius als der Tuchersche Wappenmohr repräsentativ wenige Seiten von diesen Zeilen entfernt und symbolisiert die Blüte des ratsfähigen Geschlechts. 31 Die Kontinuitätsthematik wird gegen Ende des 16. Jahrhunderts wieder aufgenommen. Die Frage des Aussterbens stellte sich nicht akut, so dass zu vermuten ist, dass die Familiengeschichte und Repräsentationsleistung einen anderen aktuellen Bezug hatten. Die Belehrungen lassen sich in eine grundlegende ethische Beziehung zur Handelspraxis setzen: vnd deren yetzt in so gutter antzahl [...] vnd vnseren Nachkommen Zu einem Exempel/ Ihrer Voreltern vnd Stammens sich gemeß zuhalten/ Gott gemainem Vatterlandt vnd Ihren selbst/ Zu Lob/ Ehren vnd gutten/ Ihrer Voreltern Löbelichen Fußstapffen nach Zuschreitten vnd diser allein/ (vnd keiner andern mainung) dises vnser Stambuch der gestalt wie es vor Aügen Zuuernewen vnd vermehren dieser Zeitt fürgenommen. 32 Mögen die Tucher auch verschiedentlich andere Berufe ergriffen haben als den des Kaufmanns, so erwarben sie doch weiterhin ihren Reichtum mit dem um die Mitte des 16. Jahrhunderts allgemein, wenn auch nicht mit 28 GTB (wie Anm. 6), fol. 19r. 29 GTB (wie Anm. 6), fol. 14v. 30 GTB (wie Anm. 6), fol. 14v. 31 Die Märtyrerleiden des „Mohren“ Mauritius symbolisieren nach Vermutungen der bisherigen Forschung die Beständigkeit und Fortdauer der Tucher und ihre Treue zur Vaterstadt; Kommentar zu fol. 24r-26v in: GTB-CD (wie Anm. 25). 32 GTB (wie Anm. 6), fol. 14v. <?page no="317"?> Christian Kuhn 318 spezifischen Auswirkungen für die Tucher, krisengeschüttelten Fernhandel. 33 Viele der oberdeutschen Kaufleute gerieten zunehmend unter Druck, der zu zahlreichen Bankrotten in Augsburg führte. 34 Daher war eine starke Triebfeder vnßer der tucher Stambuch, auch die Zeyttliche Wolfahrt zuschaffen, das heißt den materiellen Wohlstand zu sichern. 35 Offenbar schien es geboten, die zahlreichen Nachkommen an das leistungs- und statusbezogene Vermächtnis ihrer Väter zu erinnern. Die Entstehung des Tucherbuchs als familiäre Anstrengung legt nahe, dass diese Reflexionen den Generationenwechsel nach Leonhart zentral betreffen. Die Familiengeschichte versammelt die Tugenden und das Vermächtnis der dargestellten Personen. Das könnte möglicherweise dazu geführt haben, dass eine glorifizierende und harmonisierende Visualisierungsstrategie in den Abbildungen zur Anwendung kam, die Verfehlungen und Konflikte systematisch ausblendete. 36 Dabei bildet die Lebensbeschreibung Herdegens wohl deswegen eine Ausnahme, weil Leser den Dargestellten teilweise noch aus eigener Erfahrung kannten. Der Tendenz zur Ästhetisierung stand somit eine Rückbindung an die verifizierbare Gegenwartswahrnehmung entgegen. Allzu starke Widersprüche hätten dem Tucherbuch viel von seiner Überzeugungskraft und Monumentalisierungswirkung genommen. Um diesem vorherrschenden Ziel Evidenz zu verleihen, wird hier zusätzlich an das Gewissen der Leser appelliert Ihren selbst/ Zu Lob/ Ehren vnd gutten. 37 Diese Worte fordern zur richtenden Selbstreflexion auf, eine bedeutende Tradition im Protestantismus. Das Gewissen war von Luther zum bestimmenden Mittel und zentralen Richtmaß der christlichen Frömmigkeit erhoben worden. Das individuelle Gewissen bildete somit einen Grundzug des lutherischen Menschenbildes. Im Tucherbuch wird das Theologumen in 33 Hierzu R EINHARD H ILDEBRANDT , The Effects of Empire: Changes in the European Economy after Charles V, in: Industry and Finance in Early Modern History. Essays presented to George Hammersley on the Occasion of his 74th birthday, I AN B LANCHARD / A NTHONY G OODMANN / J ENNIFER N EWMAN (Hrsg.), Stuttgart 1992, 58-76. 34 Einen konkreten Fall nimmt zum Ausgangspunkt M ARK H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998. 35 GTB (wie Anm. 6), fol. 19r. 36 Zeichenhafte Elemente der Abbildung Herdegens (offene Beinhaltung, Haltung der Hände, unbedecktes Haar, kurzer Mantel) lassen sich auch bei anderen Abbildungen wieder finden, so dass ein schemenhaftes Bildprogramm vermutet werden muss. Die stärker diversifizierte Kleidung der Figuren scheint zumindest teilweise historisch zu sein, jedoch lassen sich darüber auf Grundlage des derzeitigen Forschungsstandes noch keine für die Fragestellung tragfähigen Aussagen zum Befund formulieren; vgl. H ARTMUT B OCK , Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance - Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat, Frankfurt a. M. 2001, 417f.; G REGOR R OHMANN , Das Ehrenbuch der Fugger: Darstellung, Transkription, Kommentar, Augsburg 2004. 37 GTB (wie Anm. 6), fol. 14v. <?page no="318"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 319 seiner sozialen Umsetzung, seiner Instrumentalisierung als Steuerungs- und Erziehungsmittel erkennbar. 38 Das Tucherbuch beanspruchte ausdrücklich, einem gesamtgeschlechtlichen Kontinuitätsdiskurs Ausdruck zu verleihen. Die Auftraggeber sahen offenbar die Weitergabemechanismen, die bisher den Fortbestand der Familie gesichert hatten, in Gefahr, weshalb sie beabsichtigten, eine Ersatzposition einzunehmen. Der Vorspann ist eine theologisch und ethisch untermauerte Programmatik der Personentableaus, die einer rein biographischen Topik folgen. Die wechselseitige Referenz beider Bedeutungsebenen ist trotzdem sehr deutlich, die eher heilsgeschichtliche Argumentation der Vorworte und die eher weltlich-lebenspraktische der biographischen Abrisse sind aufeinander zu beziehen. Daher ist auch begründet zu vermuten, dass das Große Tucherbuch familiäres Konfliktpotential überbrückte und ein geschöntes, ästhetisiertes Bild von Generationenübergängen hervorgebracht hat. Die Reichweite solcher historiographischer Eingriffe lässt sich dabei jedoch nicht ausschließlich aufgrund der hier dargestellten Zielsetzung der Familiengeschichte erschließen. Dazu ist vielmehr auf flankierende Quellen zurückzugreifen. Für einen solchen doppelten Zugang bietet sich im Einzelfall, für einzelne Personen, Gelegenheit. Die überlieferten brieflichen Quellen erscheinen hierbei geeignet, die Leistungen sowie die Beanspruchung der Sinngebung in der historiographischen Darstellung einzuschätzen. Briefe als Zeugnisse der Kommunikation zwischen den Generationen verleihen der Kontinuitätssicherung einen spezifischen Ausdruck und machen Probleme sichtbar, ohne dass sie von einer Familiengeschichtsschreibung überformt wurden. Verdeutlichte die Einleitung des Tucherbuchs die Probleme des Generationenwechsels von ihren Auswirkungen her, so treten in den Briefen die Ursachen auf der Ebene des Alltags eines Fernhandelskaufmannes hervor. 3. Die Kontinuitätsproblematik in Jung-Alt-Beziehungen während der Auslandslehre Mit Blick auf die Handelspraxis erscheint Sixtus Tucher (1528-1585) in verschiedenen überlieferten brieflichen Quellen durchgehend als besonders kritikwürdig. So erhält der Vater Beschwerden seiner Lehrmeister, schreiben seine Brüder von ihren Erfahrungen mit Sixtus und geben auch die Droh- 38 Die christliche Bewertung von Gewissen überblicksartig bei F RIEDHELM K RÜGER , Gewissen III, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XIII, Berlin / New York 1984, 219-225, hier 222f.; in größeren Zusammenhängen argumentiert H EINZ D. K ITTSTEINER , Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1991, hier 34-48. <?page no="319"?> Christian Kuhn 320 briefe des Vaters Auskunft über das Fehlverhalten des Sohnes. 39 Offenbar bemängelten Lehrer während der Auslandslehre sein Verhalten sowie Lernerfolg und Leistung. Sein Bruder Gabriel informierte 1546 den Vater über Einzelheiten des unangemessenen Betragens und bezog dabei auch Bereiche wie fehlendes Geschick und fehlende Höflichkeit in der Konversation in die Liste geschäftsrelevanter Ausfälle ein. 40 Die Verhaltensmängel seien gepaart mit Widerwilligkeit und Starrsinn bei Korrekturen sowie der Weigerung, dem Vater regelmäßig und respektvoll zu schreiben. Dieser Befund deckt sich mit zwei Briefen Leonharts an seine Söhne Sixtus vom 24. Februar 1547 und Herdegen vom 27. Juni 1560, Briefen, die inhaltlich einer vergleichbaren Topik folgen, obwohl sie im Abstand von 13 Jahren entstanden sind. An diesen Beispielen lassen sich die zeitübergreifend konstanten Maßstäbe der väterlichen Bewertung erschließen, jedoch geben sie auch fallspezifisch Auskunft über Sixtus’ und Herdegens Verhalten. Der in Kopie erhaltene Brief Leonhart Tuchers an seinen 19-jährigen Sohn Sixtus formuliert in geraffter Form die mit der Auslandslehre verbundenen Ziele. Dieses Schreiben muss Teil einer länger andauernden Korrespondenz zu Verhaltensmängeln gewesen sein, ermahnt der Vater seinen Sohn doch noch mahl zum trawlichsten. 41 Brachten bisherige Ermahnungen und Verbote offenbar nicht den gewünschten Besserungseffekt, fordert der Vater jetzt endgültig eine Verhaltensänderung: Will[s]t du dem also nach kumen so schreib mi[r] nit allein zw sunder sich das der massen solchs Ins werck volziehung thun. So will ich dagegen auch der gepur erzaigen. Solt ich aber ein anders wissen oder gewar werden so will ich mich dennest mit gottes gnad u hilff aber nach gelegenhaitt darein schicken das d[u] mein Ernst solst spurn. 42 Diese Worte markieren den Höhe- und Endpunkt eines Erziehungskonflikts zwischen Vater und Sohn. 43 Offenbar hatten die Briefe des Sohnes erziehungskonformes Verhalten vorgetäuscht und war der Vater so lange irregeführt oder hingehalten worden, bis dieser unabhängig von seinem eigenen Sohn anders lautende Informationen erhalten hatte. Das Vertrauensverhältnis scheint daher nachhaltig gestört gewesen zu sein. Der Vorfall belegt jedoch auch die Dichte der brieflichen Kommunikation, dass nämlich nach Nürnberg mit mehreren Personen regelmäßiger und vertrauter Kontakt be- 39 Die verschiedenen Zugänge zur Erziehungssituation verzeichnet quellennah M ATHIAS B EER , Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400-1550), Nürnberg 1990, 137. 40 B EER , Kinder (wie Anm. 39), 137. 41 StadtAN E29 I 13b, Blatt 20. 42 StadtAN E29 I 13b, Blatt 20. 43 Diesen Eindruck bestätigt B EER , Kinder (wie Anm. 39), 136-142. <?page no="320"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 321 stand, um den Betrug auffliegen zu lassen. Sie dienten offenbar als Informationsinstrument, schufen aber ebenso eine virtuelle Präsenz des Vaters im Leben des Sohnes während seines Lyoner Lehraufenthalts. Die briefliche Kommunikation lässt somit die Rolle des Vaters während der Auslandslehre deutlich werden. Einerseits schreibt der gut informierte Leonhart einen tadelnden Brief und hält es für wirksam, über die lange Distanz zwischen dem wichtigsten Handelsstützpunkt der Tucherschen Handelsgesellschaft, Lyon, und Nürnberg hinweg Sanktionen anzudrohen. Andererseits scheint seine Autorität auch vertretungsweise auf den Lehrmeister übergegangen zu sein, wie an mehreren Stellen deutlich wird: Das du dester emssiger vnd fleyssiger seyest. Dem Jacob Reyther mit allem thun hilfflig gehorsam vnd wilige seist. Was er dir wirt bevelhen vnd hayssen also nach zw kumen doch solchs nit nach deinem willen aber gut beduncken anderst wollest thun dan wie man dirs bevolhen hatt. 44 Aus diesem Gehorsamsgebot wird deutlich, dass die Autorität des Vaters prinzipiell auf den Handlungsdiener Reyter übertragen ist. Dieser hatte zu kontrollieren, dass die Weisungen des Lehrmeisters auch ausgeführt wurden. Das war offenbar nicht der Fall, denn der Vater griff nunmehr als eine höhere Instanz disziplinarisch und einzelfallbezogen ein, damit der Hauptzweck der Auslandslehre erfüllt wurde: wolst vill mer dich befleyssigen das schreiben Rech[n]en vnd was des Handels notturft ist zw lernen vnd dich stettigs damit zw vben. Vnd sunderlich was Einem Jung zw der Ehr vnd lob Raicht sich emssiglich fleyssen zw pessern zw folgen vnd dem vnErttigen Zorn vnd Thorette gehorsam meyden. Vnd dich davon ab zw ziehen vnd so das geschiht das haist vom vbell abgestanden vnd den verstandt zw fassen. Damit ein Junger zw deren Erkantnus kumpt das das vorhaben der Juge[n]t nichts wert ist welc[h]s die straff von den Elttern oder von den die Im für gesetzt sein nit gutlich an Nehmen will. 45 Die Eigenwilligkeit und Unbelehrbarkeit des Sohnes, sein selbstbestimmtes und daher gefährliches Handeln will der Vater durch den Hinweis auf die negativen Konsequenzen maßregeln. Die Forderung [v]om vbell abgestanden kann der Sohn und Lehrling demnach überhaupt nur dann einhalten, wenn er die Autorität der Elttern oder von den die Im für gesetzt sein anerkennt. Im Zuge dieser Argumentation wird die vom Vater ausgehende, aber durch den Lehrmeister ausgeübte Autorität aus altersbezogenen Gründen hergeleitet. Leonhart erwartet von seinem Sohn das, was Einem Jung zw der Ehr vnd lob Raicht. Die Altersbezogenheit der Normen strukturiert die gesamte Argumentation: 44 StadtAN E29 I 13b, Blatt 20. 45 StadtAN E29 I 13b, Blatt 20. <?page no="321"?> Christian Kuhn 322 Das du dester Emssiger vnd fleyssiger seyest [...] Vnd dich nit wollen beduncken lassen wie die Jung [? ] welt [...] wollen verantwortten. Damit wollen sie Irn vnertigen aigenwilligen poßhafftigen will verthaidigen. 46 Der Gemeinplatz von der moralisch gefährdeten und Gefahren ahnungslos begegnenden Jugend hatte auch die bereits angeführten Worte motiviert, der junge Mensch könne überhaupt keinen ehrbaren Lebenswandel haben, außer er respektiere und beherzige die Strafen seiner Eltern, möglicherweise eben gleichzeitig im Wortsinne von „Älteren“ und deren Stellvertretern. Tatsächlich konnte aber wohl jedes Mitglied der Familie oder auch des Hauses eine wichtige Rolle bei der Vermittlung und Kontrolle von Erziehungszielen spielen. Diese familiäre Vergesellschaftung der väterlichen Autorität wird durch die in der Forschung intensiv diskutierte Bezeichnung „Privatbrief“ verdeckt. 47 Denn die briefliche Kommunikation ermöglichte es, die Familienmitglieder miteinander zu vernetzen und übereinander zu informieren. Hinter etzlich anzeigung [...] nach dem der gabriehl IN Spania wer 48 können vorrangig wirtschaftliche Nachrichten vermutet werden, jedoch auch persönliche Informationen. Häufig übermittelten reisende Familienmitglieder auch Briefe an die Brüder, Vettern oder Handelspartner, wobei aus briefgeschichtlicher Perspektive und aufgrund von wenigen Anhaltspunkten in den Briefen davon auszugehen ist, dass der Bote den Inhalt gekannt haben muss. Leonhart ließ seinen Brief an Sixtus kopieren und in einem umfassenden Briefarchiv aufbewahren, um die Entwicklung von Sixtus in schriftlichen Zeugnissen festzuhalten. 49 Dieser Umgang mit Briefen lässt deren Vergesellschaftung erahnen, die selten so deutlich greifbar wird wie bei den Sixtus verordneten erzieherischen Zwangslektüren der Briefe seines Vaters. 50 Die das Schreiben ausfertigende Schreibstube und die Person des Schreibers verhinderten sicher ebenfalls, dass der Brief streng privatim entstehen und aufbewahrt werden konnte. Der Umgang mit diesem Material war zudem von gelegentlichen Lektüren durch den Vater geprägt, der den Inhalt in der stark durch persönliche Anwesenheit der Mitglieder konstituierten face-toface-Gemeinschaft der Haushaltsfamilie verbreiten und in Erinnerung rufen konnte. In vielen Briefen finden sich Anmerkungen darüber, dass die Mutter oder der den Brief überbringende Sohn beteiligt gewesen und vom Brief in 46 StadtAN E29 I 13b, Blatt 20. 47 Vgl. B EER , Kinder (wie Anm. 39), 34-71. 48 StadtAN E29 I 13b, Blatt 20. 49 Die erziehungsbezogene These zur Überlieferungsbildung bei M ATHIAS B EER , „Et sciatis nos fortiter studere“. Die Stellung des Jugendlichen in der Familie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Das Andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, M ARTIN K INTZINGER / W OLFGANG S TÜRMER / J OHANNES Z AHLTEN (Hrsg.), Köln 1991, 385-407, hier 395. 50 B EER , Kinder (wie Anm. 39), 139. <?page no="322"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 323 Kenntnis gesetzt seien. Von dieser familiären Öffentlichkeit brieflicher Kommunikation lassen sich in einem ausführlicheren Beispiel deutliche Spuren finden. Die brieflichen Ermahnungen zur Handelspraxis verweisen zum einen ansatzweise auf das Curriculum. 51 Darüber hinaus jedoch ermöglichen sie die Untersuchung der inhaltlichen und ethischen Begründung der Handelspraxis als Teil der bürgerlichen Erziehung. Die Ermahnungen des zitierten Briefes sind daher nicht lediglich als Benimm zu charakterisieren, sondern beziehen sich ganz essentiell auf ein ehrebezogenes Wertsystem der sozialen Gruppe der politisch und wirtschaftlich privilegierten Fernhandelskaufleute und ihrer Selbstwahrnehmung als „Patrizier“. 52 Über die Entfernung der Schauplätze hinweg erhält sich eine städtische und gruppenbezogene repräsentative Öffentlichkeit von Ehr, also des Rufs und des moralisch bestimmten Standes, den Sixtus durch sein Verhalten beschädigt. In einem Rechtfertigungsbrief hatte Sixtus in polemischer Absicht auf diesen Informationsfluss als eine unsichere Quelle hingewiesen, die den Vater am marck oder sunst durch gesellen täuschen könne. 53 Auf diesem Wege hatte der Vater offenbar von Sixtus’ bewusstem Fehlverhalten erfahren, weil auch die Ehre des Vaters und damit des gesamten Geschlechts von der Abwertung betroffen war. Damit wurde Sixtus endgültig vom Hoffnungsträger zum „Sorgenkind der Familie“ 54 , also einem geschäftsschädigenden Faktor. 55 Wenn er vom Vater ermahnt wird, handelt es sich aber zusätzlich auch um ein generelles familiäres Kontinuitätsproblem. Dieser Eindruck wird durch einen stärker krisenbewussten, im Ganzen sogar resignierenden Brief des Vaters von 1560 an den anderen Sohn Herdegen erhärtet. Die Ereignisse im Vorfeld des Briefes Leonharts an Herdegen vom 27. Juni 1560 lassen sich begründet erschließen. 56 Offenbar hatten die Ermahnungen früherer Briefe eher generelle Probleme der Leistungsbereitschaft Herdegens und seines Verhaltens zum Gegenstand. Dadurch müssen sich die Spannungen zwischen Vater und Sohn bereits drastisch erhöht haben, bevor der gichtkranke Vater schließlich aus einem konkreten Anlass zur Feder griff: 51 Dieses Erkenntnisinteresse verfolgt H ANNS -P ETER B RUCHHÄUSER , Quellen und Dokumente zur Berufsbildung deutscher Kaufleute im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Köln 1992, 65-71, 117- 130. 52 Die wertende Aufladung dieser Bezeichnung ist von G ROEBNER , Familieninteressen (wie Anm. 1) problematisiert worden. Er zeigt die damit verbundenen, und häufig von der Landesgeschichtsschreibung unbewusst an den Leser weitergegebenen Definitionsprobleme auf und verdeutlicht Möglichkeiten einer pragmatischen Vorgehensweise. 53 Zitat nach B EER , Kinder (wie Anm. 39), 138. 54 Zitat nach B EER , Kinder (wie Anm. 39), 138. 55 Zur sozialen Dimension von Kreditwürdigkeit vgl. C RAIG M ULDREW , The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke 2001. 56 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. <?page no="323"?> Christian Kuhn 324 Es sindtt ytz aber mal 8 paln Saffran genumirtt heraus kumen, die haben No 79 80 81 82 83 84 85 86 soln sein die sindtt genumirtt gewest nemlich No 79 80 81 82 vnd dan 4 paln aber mitt No. 79 80 81 82 darauff gestanden darpey spurtt man den fleis deren die solchs thun haben nun aber dis vergangen iar her ser vill paln falsch genumirtt heraus kumenn, dan sich der inhalltt vill anderst hie am auff thun hatt dan in den ausentt Zettell her kumen, in sich gehalten das ist nun zu E[t]lich mal hinein solcher yrttumb geschriben aber kein pesserung will hernach volgen, Ir solltt pillich Ein Registerlen davon halltten so palltt man was Ein machtt das No darneben zu settzen vnd der aus des aus sendtt Zettell sollen gemachtt vnd abgelassen werden, wan man dan mitt solichen Leuttern handell also vnfleissig vmbgehett wie gett der dan in andern sachen zu. 57 Leonhart beschreibt die Mängel des gelieferten Safrans an einem aktuellen Beispiel der Doppeltvergabe von Zählnummern; er kann zudem auf frühere Fälle dieser Art verweisen. Seiner Interpretation zufolge ist es nicht möglich, dass es sich dabei um ein zufälliges Versehen handelt. Es ist Indiz für die Unaufmerksamkeit des Sohnes bei der Ausführung oder Beaufsichtigung von Grundoperationen kaufmännischer Tätigkeiten. 58 Offenbar waren diese Verwechslungen und damit die Schädigung der Handelsbeziehungen hier rein zufällig ans Licht gekommen. Die kurzfristigen kaufmännischen Konsequenzen fallen bei der Bewertung nicht so sehr ins Gewicht wie die langfristig daraus resultierenden Folgen. Deren Bedeutung sieht Leonhart Tucher vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung. Wie könne jemand bei solcher Unachtsamkeit und Vertrauensunwürdigkeit im Umgang mit seinen Kunden ein geachtetes Mitglied der städtischen Gesellschaft sein, fragt er mehrfach. 59 Über die Einzelheiten der Rolle Leonharts in den Geschäftsaktivitäten seiner Söhne lassen sich in diesem Fall keine genaueren Aussagen treffen; deutlich zeigen seine Worte jedoch ethische Bedenken. Handel war Vertrauenssache, die auf einen guten Ruf aufbauen musste, um als Leuttern handel, 60 als lautere Geschäftstätigkeit zu gelten. 61 Diese Voraussetzung besaß umso mehr Bedeutung für Fernhandelskaufleute, als die Ware erst nach Erhalt besichtigt und geprüft werden konnte. Besondere Bri- 57 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 58 Zu einem umfassenden Überblick über Kaufmannsfertigkeiten vgl. H ANNS -P ETER B RUCHHÄUSER , Kaufmannsbildung im Mittelalter. Determinanten des Curriculums deutscher Kaufleute im Spiegel der Formalisierung von Qualifizierungsprozessen, Köln 1989, 223-230. 59 Zur umfassenden Bedeutung von Ehre in der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft vgl. Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit, K LAUS S CHREINER / G ERD S CHWERHOFF (Hrsg.), Köln 1995. 60 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 61 Vgl. dazu auch H ÄBERLEIN , Brüder (wie Anm. 34), 274-287. <?page no="324"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 325 sanz mag dieser Vorfall und seine Vorgeschichte durch die Tatsache gewonnen haben, dass es sich bei Safran um einen Haupthandelsgegenstand der Nürnberger Fernhandelskaufleute und der Familie Tucher handelte. 62 Die geschäftlichen Anweisungen erschöpfen sich nicht in handelspraktischer Hinsicht und sind nur scheinbar Teil einer bloßen Liste von erzieherischen Ermahnungen. Tatsächlich heben sie sich vom Kanon deutlich ab und sind erst Auslöser und Ausgangspunkt für eine umfassende Kritik am Lebenswandel des Sohnes Herdegen. Leonhart Tucher beschreibt die Handelspraxis als Element und Ausdruck eines kaufmännisch zuträglichen Verhaltens, das er als relevant für den Fortbestand der familiären Handelsgesellschaft wahrnimmt. Dabei steht für ihn als Vater eine Erfolg versprechende Handelstätigkeit in einem funktionalen Verhältnis zur Lebensführung im umfassenden Sinne. Die Abhängigkeit des Kaufmanns vom Vertrauen seiner Kunden prägt die Worte Leonharts leitmotivisch, jedoch ergänzt er diese Überlegung, indem er die Kontingenz von Generationenwechseln ins Auge fasst. Er argumentiert mit einem Beispiel zweier hinterbliebener Söhne des ehrbaren Kaufmanns Orttel. Demnach habe noch der Vater einen besonders guten Ruf genossen, während nach seinem Tode die Söhne durch ihr Verhalten dieses Privileg verspielt hätten. Maßlosigkeit beim Alkoholgenuss und mangelnde Zuverlässigkeit gehörten demnach zu den Hauptfehlern: nym das Exempell für die handtt wie es ytz mit paider orttell als das florentzius auch Seb[a]lt orttels seligen nach gelasne sunen gestalltt ist vnd nitt vill andern der gleichen mer also stett das sie nitt mer zu andern Erlichen sachen durffen kumen oder sehen lassen das volgt wan man der welt mitt wolust der mossen nach henckt das man darin Erdringtt vnd zu thornd wirtt, darvmb so hatt es die vrsach nit wie forgemelt hayllossen leicht ferttigen leuten mit vbermessigen drincken vnd andern vberstandt befleckt sein nit allein keins Lob werdtt sunder man soll in nit allein nit nach hencken sunder sich vill me Irer geselschafftt meyden. 63 Dieser gescheiterte Generationenwechsel drücke sich vor allem im Ehrverlust aus, so dass die Brüder bei andern Erlichen sachen, also bei seriösen Geschäften, nicht mehr als Geschäftspartner akzeptiert würden. Maßgeblich dafür sei ihr Lebenswandel, die wolust, verantwortlich; die Orientierung an den trügerischen Affekten führe zu undiszipliniertem Alkoholgenuss und falscher Gesellschaft. Herdegen solle die beiden gerade deswegen als negatives Beispiel bedenken, weil der Ehrverlust irreversibel sei. Offenbar wäre zwar die Ehre prinzipiell wieder herstellbar und das System der Ehre dyna- 62 Vgl. dazu L AMBERT F. P ETERS , Strategische Allianzen, Wirtschaftsstandort und Standortwettbewerb, Nürnberg 1500-1625, Frankfurt a. M. 2005, sowie überblicksartig M ICHAEL N ORTH , Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit, München 2000, 22 und 62. 63 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. <?page no="325"?> Christian Kuhn 326 misch genug für eine solche Zuweisung; 64 die Entehrten sind zu einer Verhaltensänderung jedoch gar nicht mehr in der Lage, denn das volgt [...] das man darin Erdringtt vnd zu thornd wirtt. Diese Folgen könnte auch Herdegen zu spüren bekommen. Daher solle er die Widersprüche zwischen solchem Umgang und den ihm zuträglichen Normen des nutz, das heißt wohl des Gewinns, erkennen: Es hat kein vernunftigen verstandt das man mit solichen leuten Je zu Zeitten muss heben und legen dan es kan kein nutz mit in oder pey in gesucht aber erlangtt wern, Erstlich so wirtt einer durch sie mitt allem verfurtt sunder auch mit in zu schanden, vnd kumpt in das vnwessen das sich ainer nit me davon kan Enthalten. 65 Die Argumentation ist hier jedoch keinesfalls allein auf das geschäftsschädigende Fehlverhalten einzelner Kaufmannssöhne bezogen; vielmehr muss dem 1560 schon 73 Jahre alten Leonhart Tucher die Situation der Tucherschen Handelsgesellschaft vor Augen gestanden haben. Im erzählten Beispiel der missratenen Brüder spiegelt sich nur zu deutlich die vergleichbare Problemlage der Familie Tucher. Leonhart Tucher ging es somit um die gefährdete Kontinuität des familiären Ganzen. Von dem im Falle Herdegens angemahnten Verhalten wusste der Vater durch andere Informationswege, er war nicht allein auf Briefe seines bereits 27 Jahre alten Sohnes angewiesen. An diesem Beispiel wird die spezifische Informationsfunktion von Privatbriefen deutlich. Es ging nicht um den Austausch von Informationen im Sinne einer Vorstufe der Zeitung; 66 zwar schrieben Kaufleute Briefe, um Informationen vertraulich übermitteln zu können, jedoch wurden vor allem persönliche Einschätzungen in Briefen ausgetauscht. Die Ehre eines Kaufmanns konnte aber nicht allein durch Briefe kommuniziert werden, sondern wurde in verschiedenen Formen der Soziabilität vermittelt und verbreitet oder durch Handelsreisende befördert und konnte so auch über die Entfernung zwischen Lyon und Nürnberg vermittelt werden. 67 Diese informellen Wege, neben brieflichen Mitteilun- 64 Zu den statisch-sozialen und dynamischen Elementen von Ehre vgl. U LINKA R UBLACK , Anschläge auf die Ehre. Schmähschriften und -zeichen in der städtischen Kultur des Ancien Régime, in: S CHREINER / S CHWERHOFF , Verletzte Ehre (wie Anm. 59), 381-411, hier 381f. 65 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 66 Bereits Beers Definitionsversuche haben die Schwierigkeiten eindeutiger Festlegung bei Funktion und Genus des „Privatbriefs“ aufgezeigt, B EER , Kinder (wie Anm. 39), 31-71. Sinnvolle definitorische Festlegungen sollten die unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation in verschiedenen Briefen verdeutlichen, wie etwa die vertrauensvolle Kommunikation zwischen Vätern und Söhnen über geschäftsrelevante Informationen zu Politik und Wirtschaft so weit ging, dass familienväterliche Kompetenzen aufgeweicht wurden, der Vater dem subjektiven Urteil des Sohnes vertraute. 67 Solche Formen von Soziabilität verfolgt der Sammelband Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, S USANNE R AU / G ERD S CHWERHOFF (Hrsg.), Köln 2004. <?page no="326"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 327 gen von Angehörigen des Tucherschen Hauses, nimmt der Vater offenbar als Informationsquellen über seinen Sohn ernst: Du werst mein yttzigen vorigen schreib[en] zu hertzen nemen vnd dich darnach richtten vnd sunderlich des strefflich lesterlichen vbermessen drincken damitt man meintt Ein rein zu erlangen […] damit das wider spill von verstendigen vnd Erlichen leutten geachtt vnd geredtt dan wo ich des mer soltt in Erfarung kumen Es wer in vnsserm oder auserhalb vnsers haus nit Ein gerings misfallen darob Empfahen. 68 Vordergründig hoffte der Vater also, vom Fehlverhalten auch zu erfahren, ohne dass der Sohn ein solches gestehe. Ehre wurde interlokal und interurban kommuniziert und war zur gleichen Zeit in verschiedenen europäischen Handelsorten relevant. Eine differenziertere Form ehr- und nutz-gefährdenden Verhaltens erläutert Leonhart Tucher in aller Ausführlichkeit am Beispiel des Geldleihens. Aus seiner Sicht hatte die Fülle an verfügbarem Geld Gabriel und Herdegen dazu verführt, mehr aus privaten Sympathien und freundschaftlichen Beziehungen heraus Geld zu verleihen als aus Verdienstüberlegungen. Dies habe ihnen einerseits wirtschaftlichen Schaden eingetragen, seien sie doch auf das Wohlwollen ihrer Schuldner angewiesen und würden weitere Anfragen zum Leihen kaum begründet ablehnen können. Daher habe es auch aus prinzipiellen Gründen dem Ansehen beider geschadet, überhaupt Geld verliehen zu haben. Ein weiterer Grund, der gegen das informelle Verleihen von Geld an Bekannte spreche, sei das Fehlen von Sicherheiten. Auch der Kaufmann solle seinen Kunden vertrauen können, beim Geldleihen auf privater Basis sei das jedoch kaum möglich: du pist pis her mit solchen vnd der gleichen personen vill gemeinschafftt vnd geselschafft gesuchtt wie es mitt dem selben yttz gestalltt ist das siechst du voraugen vnd solst pillich ob solchen Ein Exempell nemen, dich vor der gleichen leutt Zu huetten die dich zu Im gehaymsen dich vmb gellt zu betriegen hast vrsach genong Es sey dir von mir verpotten niemendtt vnvorwissen oder erlaubtnus zu leyhen, oder für standtt zu thun, die weill du zuuor in solichen verachtt seist kumen du hast woll ettlich nurmberger [die] so in Einem grossen ansehen sindtt die man ittz schauhtt damitt ist der federn nitt zu trauhen. 69 Manchen Menschen sei auch nach schriftlicher Garantie nicht zu trauen, begründet der Vater sein generelles Leihverbot für Herdegen. Am besten sei es, hauszuhalten und voraussschauend sparsam zu sein: wolst dich auch Sunst des glei[che]n hin vnd wider leyhen auch Enthalltten dan du bedenckst nitt was aus dem s[e]lben für leichttferttigkaitt Ervolgtt, wolst 68 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 69 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. <?page no="327"?> Christian Kuhn 328 auch Sunst all vnser thun mit pesten fleis vnd nach zu dencken aus wartten dan Es pey den sorglichen vnd schweren leufften woll nott ist auch im haus halten pey den spreden gewinnung was man vber flüssiges abschneiden vnd Ersparn kan in achtung haben sunderlich so der gabriell vnd hutter nitt dinen sein vnd den andern ein gutt Exempell vortragen mitt allem andern thun sich wessenlich zu halltten. 70 Geld zu verleihen widerspricht dem eigenen Sparsamkeitsgebot und damit einer kaufmännischen Kardinaltugend. 71 Auch für die Leihenden erwächst aus dem Umgang mit geliehenem Geld Gefahr, negative Folgen für andere Menschen mithin, die Herdegen noch gar nicht absehen könne und die ehrschädigend auf ihn als Verleiher zurückfielen. Als er Geld verliehen habe, sei er jedoch nicht durch das Leihen und die schlechte Gesellschaft allein in solchen Verruf gekommen, sondern zusätzlich auch durch sein eigenes öffentliches Auftreten. Er habe ehrbare Menschen grundlos „hitzig“ angefahren und durch sein aggressives Gebahren, mit leichtferttigen reden, 72 verschreckt. Der Vater benennt im Folgenden die Gründe für diese Entwicklung; demnach lasse sich Herdegens Umgang mit der Handelspraxis auf falsche Gesellschaft zurückführen, also den Umgang mit vertrauensunwürdigen Kollegen: Es mir in sunder [...] für kumen das du Ehrlichen Jungen so in geselschafft pey ander gewest dich ser beruembt haben [sollst], wie du vbermessig vill weins vormogst drincken vnd gedultten das mich nit wenig so Es wer worn von dir beschwert, mus Erst bedencken das durch solch dein drincken in dem vnradt mit weinkman [die Ulmer Familie Weickmann] vnd orttell geraten pist das sindtt die werck! So daraus ervolgen wen man sagtt man muss pey den leutten Je ein vberichs thun, das Eurer lieber gerictt das sindtt nitt Erber hendell oder solche geselschaft dan nach Zu volgen ist. 73 Offenbar hatte Herdegen, seiner gesellschaftlichen Stellung unangemessen, Züge der Soziabilität von Geächteten (vnradt) übernommen und praktiziert. Der Alkoholgenuss habe zu einer engeren Verstrickung mit diesem Milieu geführt. Leonhart rät daher, ausschließlich gemischten, verdünnten Wein zu trinken. Seiner repetitiven ethischen Argumentation gegen Schäden an „Seele, Leib und Ehre“ 74 verleiht er einmal ausdrücklich durch medizinische Bedenken rhetorische Evidenz. So müsse es Herdegen doch einleuch- 70 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 71 Vgl. dazu E RICH M ASCHKE , Das Berufsbewusstsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, in: Beiträge zum Berufsbewusstsein des mittelalterlichen Menschen, P AUL W ILPERT (Hrsg.), Berlin 1964, 306- 335, hier 309f. 72 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 73 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 74 sel, leib und er, StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. <?page no="328"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 329 ten, dass der Missbrauch von Alkohol gefährlich sei, insbesondere weil er auch noch Ertzney oder Drogen eingenommen habe: ich hab dich pis her woll Etliche mall gewarntt die wein nit vngemueschtt zu drincken von wegen deins gesindts vnd der andern nach dem ich infarunng befindt das irs Jars etliche mall pflegtt Ertzney Einnemen das ist zu mein Zeitten von mir noch andern nit geprauch worn, do hab ich mich vermindt es kum aus dem das ir die wein d[r]ing[t] vngemuschtt man mir zu mein Zeitt nitt gedultt noch gestatt hatt zu druncken so mus ich yttz yrttaln das solchs aus dem vbermessigen wein trincken ervolgtt das doch ein schentlich lesterlich werck vor gott vnd der welltt pillig soll gehalten vnd geacht wern, das mit zum hochsten entgegen vnd nichtts gutts kan darzu reden noch gegen den selben zu verthaidigen ir habst Je von mir nitt gesehen noch gelerntt mus also gedencken wan etwan vnradtt in lion oder auserhalb zu fallen das aus solchen vbermessigen wein sauffen vnd durch die straff gottes verhengtt wirtt. 75 Die Argumentation ist hier, wie insgesamt in diesem sehr langen Brief, nicht völlig einsträngig, sondern überlagert verschiedene Begründungen und belegt sie mit anschaulichen Beispielen. Wie an der zitierten Stelle enthält der gesamte Brief religiöse Invokationen und Beschwörungen der göttlichen Gnade und Strafe. Am Anfang, und sonst nur ein einziges weiteres Mal, tritt dagegen im obigen Abschnitt eine Generationensetzung als Argument auf, bei der die ethischen Maßstäbe der gegenwärtigen Lebenswelt mit denen kontrastiert werden, in denen Leonhart Tucher aufwuchs und lebte. Dieser freilich konstruierte und deklarierte Gegensatz von historischen Erfahrungshorizonten und Handlungsräumen ist auch als Teil eines belehrenden Textes relevant für generationengeschichtliche Überlegungen zur Kaufmannsbildung. Offenbar schien es Leonhart Tucher situativ ein geeignetes Erziehungsmittel, seine eigene Sozialisation nicht nur der des eigenen Sohnes entgegenzustellen, sondern das Argument auch historisch an einen gesellschaftlichen Wandel rückzubinden. 76 Er hatte bereits zu Beginn des Briefes auf die ytzigen vngezogne wellt als Schreibgrund hingewiesen: ich hab dir lang nitt geschriben [weil] die hendtt ser vnglenck worn wie woll Es von notten das ich vill vnd offt mal allerley ErInerung pey der ytzigen vngezogne welltt hinein schreiben so will 75 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 76 Der Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird hier jedoch gesetzt. Eine Generationenlagerung im Sinne Karl Mannheims liegt nicht notwendigerweise vor. Der heuristische Wert dieses sozialwissenschaftlichen Modells ist von Lepsius bestritten worden, da der substantialistische Mannheimsche Generationenbegriff empirisch nicht zu belegen sei, sondern vielmehr deduktiv zur Anwendung komme. Diese methodologische Kritik an „deduktiv“ vorgehender Generationengeschichte betrifft den hier behandelten Befund jedoch nicht, da die „Generationenlagerung“ auf der Ebene von Wahrnehmung von Geschichte und von Geschichtsbewusstsein vorliegt; vgl. M. R AINER L EPSIUS , Kritische Anmerkungen zur Generationenforschung, in: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, U LRIKE J UREIT / M ICHAEL W ILDT (Hrsg.), Hamburg 2005, 45-52, hier 52. <?page no="329"?> Christian Kuhn 330 doch palltt vergessen wern, vnd das vnwessen gegen gott noch der der welt nit mehr gef[ar] hat noch zu hertzen genomen sein. 77 Die von Leonhart angenommene Erziehungsrelevanz dieser Beschreibung ist auch bedeutungsvoll für eine Wahrnehmungs- und Erfahrungsweise historischen Wandels um die Mitte des 16. Jahrhunderts, vor allem aber für ein generationengeschichtlich strukturiertes Geschichtsbild. Die kanonartigen Belehrungen für das Erlernen und die Ausführung der Handelspraxis erlangen dadurch ihre Bedeutung. Herdegens Verhalten ließ sich damit womöglich auf die schlechten Umstände seiner Zeit zurückführen und entschuldigen. Von solchen Ursachenerwägungen unabhängig ist jedoch die Gefahr, die von dem von der älteren Forschung positiv bewerteten Herdegen IV. Tucher für die familiäre Kontinuität ausging. 78 4. Zusammenfassung und Ausblick Der hier gewählte kulturanthropologische Ansatz ist abschließend zur Forschungslage in Beziehung zu setzen. Die Wirtschafts- und Handelsgeschichte der Frühen Neuzeit war strukturgeschichtlich dominiert. 79 Dabei standen quantifizierende Ansätze zu Warenströmen oder zur kommunikativen Infrastruktur Europas im Mittelpunkt, aber auch ausgeprägt prosopographische Ansätze abstrahierten häufig von der Perspektive der wirtschaftlich tätigen Menschen, einem „unsichtbaren“ Hauptfaktor des Wirtschaftssystems. Die Ausbildung von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kaufleuten wurde daher schwerpunktmäßig in Bezug auf diese großen Strukturen und als ihr Ausdruck untersucht, obwohl doch gerade sie prägend für die Handelspraktiken war. 80 Die Ausbildung kann jedoch nicht getrennt vom familiären Einfluss dargestellt werden, bezog doch auch die Auslandslehre der Patriziersöhne eine intensive väterliche Betreuung mit ein, wie sich in Bruchhäusers Quellenauswahl zeigt. Auch anthropologische Interpretations- 77 StadtAN E29 I 10c, Blatt 20. 78 So wurde insbesondere die Rolle bei der Auftraggebung des Tucherbuchs positiv hervorgehoben; S CHWEMMER , Mäzenatentum (wie Anm. 14), 33. 79 Eine eher am handelnden Menschen orientierte Wirtschaftsgeschichte der vorindustriellen Epoche verfolgt Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit, M ARK H ÄBERLEIN / C HRISTOF J EGGLE (Hrsg.), Konstanz 2004. 80 So konzentrierte sich Bruchhäusers umfassende Studie zur Auslandslehre deutscher Kaufleute vor allem auf die kurrikulare Gestaltung dieses von den Eltern kontrollierten Lebensabschnittes junger Menschen und Angehöriger städtischer Eliten, mithin auf die vermittelten Kompetenzen. Solche lehrplanpraktisch fixierten Ausbildungsziele interpretiert er als einen Spiegel des kaufmännischen Alltags und dessen Professionalisierung; B RUCHHÄUSER , Kaufmannsbildung (wie Anm. 58). Anthropologische Aspekte der Berufsausbildung blieben dagegen ein Desiderat, vgl. K LAUS A RNOLD , Familie- Kindheit-Jugend, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, 6 Bde., C HRISTA B ERG / N OTKER H AMMERSTEIN (Hrsg.), München 1996, Bd. I, 135-152, hier 145. <?page no="330"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 331 ansätze haben bisher die familienbezogene Bedeutung der Kaufmannsausbildung mit Blick auf ihre Rolle im Rahmen von Konfliktregelung und Kontinuitätsstiftung in dieser sozialen Gruppe nur im Ansatz behandelt. Gerade diese Fragestellungen haben sich jedoch in der von der Mediävistik ausgehenden epochenübergreifenden Verwandtschaftsforschung, zuletzt bei Rogge und in der Analyse historischer Netzwerke, als sehr fruchtbar erwiesen. 81 Vor diesem Hintergrund wurde die zeitgenössische Familiengeschichtsschreibung zunächst empirisch unter dem Aspekt der Handelspraxis auf Darstellungsspielräume befragt. Dabei zeigte sich die historische Darstellung als ein zentrales Element der Selbstwahrnehmung des Tucherschen Geschlechts. Das historische „Abschneiden“ eines Familienmitglieds war Teil der schematisierten historischen Lebensdarstellung. Die Wertung ließ sich jedoch nicht ohne weiteres aus einer unvermittelten Darstellung erschließen; vielmehr erschienen die Personenporträts als ein Produkt zielgerichteter historiographischer Gestaltung, welches durch die repräsentative Inhaltsauswahl und -gestaltung Differenzen durchscheinen ließ. Der bruchartige Generationenwechsel von Leonhart Tucher zum gescheiterten, ungehorsamen und erfolglosen Herdegen IV. wurde so überbrückt, wobei möglicherweise vor allem die hier nicht vertieft untersuchte Sinnebene der Abbildungen die Nahtstelle verdeckte. Auf der Textebene des Großen Tucherbuches zeigte die Bewertung Herdegens starke Ambivalenzen in Form von auffälliger Zurückhaltung im Lob und von Auslassungen. Erklärungen für diese verschleiernde Konfliktdarstellung bot der Gesamtrahmen des Großen Tucherbuches von 1590. Sowohl die bei der abschließenden Herstellung beibehaltene, wieder reproduzierte Vorrede Scheurls aus dem Jahr 1542 als auch die Erläuterungen vom Ende des 16. Jahrhunderts bestätigten die Annahme, dass die Darstellungen in dieser Familiengeschichte Beispiele einer instrumentalisierten Geschichtsschreibung sind. Ihre Einzelheiten waren daher als funktionale Elemente im Dienste eines übergreifenden Sinnzusammenhangs zu deuten, nämlich eines Kontinuitätsdiskurses der gesamten Geschichte des Geschlechts. Um den Rezipienten aus der eigenen Familie oder den Mitgliedern nahe stehender Familien ein nachahmenswertes Bild dieser Kontinuität darzubieten, musste der, vom Standpunkt einer Kaufmannsfamilie aus gesehen, gescheiterte Generationenwechsel von Leonhart zu Herdegen geglättet werden. Die positive Zeichnung von Herdegen IV. Tucher in der Geschichtsschreibung hat die ältere Forschung in ihr Bild des Patriziersohnes übernommen. 81 Vgl. dazu H ÄBERLEIN , Brüder (wie Anm. 34); J ÖRG R OGGE , Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. <?page no="331"?> Christian Kuhn 332 Die Tragfähigkeit der Thesen zum Konstruktionsgrad des Großen Tucherbuchs bekräftigten briefliche Quellen. Zwei väterliche Briefe, die im Abstand von 13 Jahren entstanden sind, tragen zwar inhaltlich topische Züge; gerade diese stereotype Gestaltung scheint jedoch nicht sinnentleertes Ritual gewesen zu sein, sondern ein Beharren auf den Standpunkten, die das ordnungsgemäße Familienleben organisieren sollten. Die bewährten Grundsätze der Handelspraxis und in der Folge davon auch Fertigkeiten waren von Sixtus und Herdegen Tucher verletzt worden. Durch den Konfliktfall, den Verstoß gegen kaufmännische Verhaltensstandards und Tugenden wurden die im Regelfall ohne Aufhebens erfüllten Normen aktualisiert und ausgesprochen. Es handelte sich dabei um pädagogische Anforderungen, die mindestens in ihren großen Linien zeittypisch waren. 82 Stärker einzelfallbezogen als die allgemeinen Belehrungen scheinen die Mittel rhetorischer Evidenz gewesen zu sein, die teilweise sogar den Körper, vor allem aber Beispiele aus der Gesellschaft und situative Erzählungen umfassten. In diesem präzisierten Sinne von pragmatischer Schriftlichkeit wäre es wohl am ehesten sinnvoll, von Briefen als Selbstzeugnissen zu sprechen. 83 Teilweise alternativ dazu, so scheint mir, betonen Ozment und Beer die individuell-emotionale Komponente der Briefe. Das Auftreten emotionaler Sprache werten sie als Indikatoren für Selbstzeugnisqualitäten von Privatbriefen, unter Berufung auf die überrestartige Überlieferungsform dieser Textzeugnisse. 84 Dagegen standen hier die überindividuellen Gehalte der Briefe im Vordergrund, die anhand des Beispiels der Tucherbriefe hervorgehoben wurden. Um eine „Annäherung an den Menschen“ 85 zu erreichen wurde das Medium des Briefes als Vermittlungsfaktor hervorgehoben. In Briefen und in den historiographischen Selbstdarstellungen scheint der Kontinuitätsdiskurs der Familie Tucher, also eines Teils der städtischen Elite gegen Ende des 16. Jahrhunderts, ein Medium mit jeweils spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten gefunden zu haben. Beide, in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten entstandenen und verschiedenen Präsentationsstragien entsprungene Medien, sollten eine Kontinuitätsgeschichte sichern. Am Leitfaden der Kaufmannsbildung und Handelspraxis wurde die 82 Mit Blick auf die Erziehungsliteratur dieser Zeit erscheinen die Briefe geradezu stereotyp, vgl. dazu J ÖRG W ICKRAM , Knabenspiegel. Der Jungen Knaben Spiegel [...] in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, J AN -D IRK M ÜLLER (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1990, 679-810. 83 Zur Diskussion über Selbstzeugnisse vgl. B ENIGNA VON K RUSENSTJERN , Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 462-471. 84 Vgl. zu dieser Einschätzung S TEVEN E. O ZMENT , Three Behaim Boys. Growing Up in Early Modern Germany. A Chronicle of their Lives, New Haven 1990; B EER , Kinder (wie Anm. 39). 85 Vgl. dazu W INFRIED S CHULZE , Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. <?page no="332"?> Handelspraxis als Gegenstand familiärer Kontinuitätsdiskurse 333 familienbezogene Dimension der Berufsausübung in einer Zeit skizziert, als die Laufbahn von Kaufmannssöhnen sogar der erfolgreichsten Familien immer weniger zwangsläufig auf den Handel abzielte. 86 86 Vgl. zur Nutzung von Berufsoptionen M ARK H ÄBERLEIN , Sozialer Wandel in den Augsburger Führungsschichten des 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000 und 2001, G ÜN- THER S CHULZ (Hrsg.), München 2002, 73-96, hier 96. <?page no="334"?> Der Kopf in der Schlinge: Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 Mark Häberlein 1. Einleitung Im Januar 1552 appellierte Leonhard Winkler, Bürger von Nürnberg, gegen ein Urteil, welches das Nürnberger Stadtgericht in einer Auseinandersetzung zwischen ihm und einem Mitbürger, dem Kaufmann Sebastian Kötzler, gesprochen hatte, an das Reichskammergericht in Speyer. Die Summe von 500 Gulden, die Winkler vom Nürnberger Gericht wegen seiner gehabten mühe zugesprochen worden waren, erachtete dieser als bei weitem nicht ausreichend, weil Kötzler ihn unverschuldet ins Gefängnis gebracht habe und ihm dadurch Kosten in Höhe von mindestens 1.500 Gulden entstanden seien. Doch damit nicht genug: Winkler sei den Ausführungen seines Anwalts zufolge nur gegen das Versprechen aus der Haft entlassen worden, dass er sich jeder zeit auff der Antorffischen ancleger erfordern widerumb in die gefencknus verfügen werde. Diese verstrickung sei für ihn höchst nachteilig, da er deswegen in stetiger sorg stecken must, auch weder fur sich selbst handeln, noch sich in ainiche dienst konntte begeben. Um dem Reichskammergericht zu demonstrieren, mit welchen geschwinden praticken der appellat [Kötzler] vmbgangen, biß er seinen Kopff auß der schlingen gezogen vnnd dargegen dem appellanten [Winkler] die strick an die hörner gepracht habe, sei es notwendig, den vrsprung solcher handlung, sambt anderm so sich derhalben zugetragen, kurz zusammenzufassen. 1 Die Geschichte, die Winklers Anwalt Melchior Schwarzenberger dem Gericht erzählte, und der Prozess, der sich daraus entspann, sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Aus wirtschaftshistorischer Perspektive beleuchtet der Fall die Handelsaktivitäten der bislang wenig bekannten deutschen Kaufleute Sebastian Kötzler und Hans von der Ketten im kommerziel- Für Quellenhinweise danke ich Dr. Walter Bauernfeind (Nürnberg) und Dr. Peter Geffcken (München). 1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Bestand Reichskammergericht (BayHStA, RKG), Fasz. 13954, Nr. 10, Gravamina von Leonhard Winklers Anwalt Melchior Schwarzenberger, fol. 2r-5r. Ein Hinweis auf diese Akte findet sich bei C HRISTA S CHAPER , Handelsprozesse Nürnberger Bürger vor dem Reichskammergericht, in: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege V. Festschrift für Hermann Kellenbenz, J ÜRGEN S CHNEIDER (Hrsg.), 5 Bde., Stuttgart 1981, Bd. 5, 93-133, hier 112, 131 Anm. 69. <?page no="335"?> Mark Häberlein 336 len Verkehr zwischen den Metropolen Antwerpen und Sevilla um 1540. Der Fall erlaubt sowohl die Rekonstruktion von Praktiken im neutralen, analytischen Sinn des Wortes auf einer Handelsroute, die in den mittleren Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts enorm an Bedeutung gewann, als auch Einblicke in das zeitgenössische Verständnis von Praktiken als unerlaubte, hinterlistige und betrügerische Manöver - eine Bedeutungsebene, auf die der Anwalt Leonhard Winklers abzielte, wenn er von Sebastian Kötzlers geschwinden praticken sprach. Aus rechts- und kulturhistorischer Sicht schließlich wirft die Auseinandersetzung zwischen Winkler und Kötzler ein Schlaglicht auf Formen des Austrags ökonomischer Konflikte und auf Argumentationsmuster vor Gericht. 2. Die Handelsgeschäfte von Sebastian Kötzler und Hans von der Ketten zwischen Antwerpen und Sevilla Dokumente, die im Laufe des Reichskammergerichtsprozesses vorgelegt wurden, vermitteln in Kombination mit weiteren Quellen zumindest in Umrissen ein Bild von der Handelsfirma, um die es in dieser gerichtlichen Auseinandersetzung ging. Demnach hatten der Nürnberger Bürger Sebastian Kötzler und Hans von der Ketten, Bürger zu Köln, im Spätjahr 1540 eine vffrichtige vnnd redliche Gemeinschafft und geselschaft, auf 4 jar vnd 3 Monat vereinbart, in die jeder der Teilhaber eine Kapitaleinlage einbrachte. Die Laufzeit des Gesellschaftsvertrags begann zum 1. November 1540 und endete zum 1. Februar 1545. Kötzler sollte den gemeinsamen Handel von Sevilla aus, von der Ketten hingegen von Antwerpen aus verwalten. Die beiden Teilhaber sandten sich gegenseitig Waren und Wechselbriefe zu. 2 Eine Buchung in einem Journalfragment der Faktorei der Augsburger Handelsgesellschaft Bartholomäus Welsers am Spanischen Hof deutet allerdings darauf hin, dass die geschäftliche Zusammenarbeit der beiden Kaufleute bereits weiter zurückreichte. Demnach hatte die Welser-Faktorei in Sevilla im April 1538 mit Hans von der Ketten in der Ketzler von Nürenberg namen eine librantz [Zahlungsanweisung] über rund 110.000 Maravedis von ainem maestre de nao [Schiffskapitän] genant Juan de Pastranack vmb 72.000 M[aravedis] abkauft, die der königliche Schatzmeister Alonso de Baeca be- 2 Diese Fakten gehen aus einem Prozess hervor, den der Frankfurter Bürger und Ratsherr Philipp Aufstender 1555 vor dem Nürnberger Stadtgericht gegen Sebastian Kötzler wegen unbezahlter Forderungen anstrengte. Nachdem das Stadtgericht Kötzler 1559 zur Zahlung der geforderten Summe verurteilt hatte und dieses Urteil 1564 in zweiter Instanz bestätigte, verschaffte sich Leonhard Winkler für seinen Reichskammergerichtsprozess im Jahre 1566 eine notarielle Abschrift der Prozessunterlagen; vgl. BayHStA, RKG 13954, Nr. 40, Instrument des Nürnberger Notars Leopold Eber vom 16. März 1566. <?page no="336"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 337 zahlen sollte. 3 Sebastian Kötzler ließ dem Reichskammergericht später vortragen, er habe im Jahre 1543 vnnd etliche jar daruor […] einen kauffmanshandel in Hispania vff die Niderlandt gehen Antorff getribenn. Er habe damals sein handels leger zu Sibillia gehabt vnnd daselbst sein eigen bestandt haußt vnnd cram gehaltenn. Wenn er auf Geschäftsreise gewesen sei, hätten sich seine Handelsdiener in Sevilla um seine Angelegenheiten gekümmert. 4 Dem Stammbuch der Nürnberger Familie Kötzler zufolge war Sebastian Kötzler, ein Sohn des Georg (I) Kötzler (1471-1529? ) und seiner dritten Frau Barbara Imhoff, am 11. Mai 1520 geboren; er war also zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit Hans von der Ketten erst zwanzig Jahre alt. Die Gründung der Gesellschaft im Jahre 1540 könnte demnach durch eine Erbschaft oder durch Kapital aus einer Familienhandelsgesellschaft der Kötzler finanziert worden sein. Eine Verbindung zur Augsburger Welser-Gesellschaft ergibt sich aus dem Umstand, dass Sebastian Kötzlers Vater Georg in zweiter Ehe mit Martha Hoffmann, einer Tochter des Caspar Hoffmann und der Barbara Schlüsselfelder, verheiratet war. Martha Hoffmanns Schwester Magdalena war mit Marx Pfister d. Ä., einem Teilhaber der Welser, verheiratet. Ihr Bruder Cyriakus ist in den 1520er Jahren als Diener der Welser in Ravensburg bezeugt. 5 Ein Interesse der Familie an der Iberischen Halbinsel könnte auch aus der Tatsache herrühren, dass Sebastian Kötzlers Mutter Barbara Imhoff offenbar eine Schwester Jörg Imhoffs war, der sich von 1526 bis zu seinem Tod 1537/ 40 in Indien aufhielt und dort die Interessen der Handelsgesellschaften Jörg Herwarts und Hans Welsers vertrat. 6 Als Handelsdiener Kötzlers wird Christof Fugger „vom Reh“ genannt - ein Mitglied desjenigen Zweiges der berühmten Augsburger Kaufmannsfamilie, der nach dem Bankrott ihrer Handelsgesellschaft in den 1490er Jahren verarmte und im 16. Jahrhundert vor allem Handwerker und kaufmännische Angestellte hervorbrachte. Dieser Christof Fugger war offensichtlich ein Sohn Gastel Fuggers d. J., von dem es im so genannten Ehrenbuch der Fugger, einer 1543 angelegten, aufwändig illustrierten Familienchronik heißt: Gastel Fuggers des eltern eelicher Sone, Jst in Jndia gewesen, Jetzund dem Herren von der Kettin mit dienstenn verwandt. 7 Gastel Fugger vertrat die Handelsgesellschaft Anton Fuggers zwischen 1528 und 1535 in Nürnberg und hatte 3 Studienbibliothek Dillingen, Welserfragmente 29, fol. 36a. 4 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 13, Exceptionsschrift von Sebastian Kötzlers Anwalt Alexander Reiffstock. 5 Stadtarchiv Nürnberg, GSI 152 (Genannte des Größeren Rats). 6 C HRISTA S CHAPER , Die Hirschvogel von Nürnberg und ihr Handelshaus, Nürnberg 1973, 167, Anm. 673 gibt als Todesjahr 1537 an, W OLFGANG K NABE , Auf den Spuren der ersten deutschen Kaufleute in Indien, Anhausen 1993, 93f. hingegen 1540. 7 G REGOR R OHMANN , Das Ehrenbuch der Fugger, Augsburg 2004, Bd. 1, 285, mit Hinweis auf R ICHARD K LIER , Nürnberger Fuggerstudien, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 30 (1970), 253-272, hier 266. <?page no="337"?> Mark Häberlein 338 1533 ein Depositum von rund 5.000 Gulden in der Fuggerfirma liegen. Außerdem gehörte er zwischen 1515 und 1538 als Genannter dem Großen Rat der Reichsstadt Nürnberg an. Da er um die Jahreswende 1538/ 39 starb, dürfte sich die Bemerkung im Fuggerschen Ehrenbuch auf seinen Sohn Christof beziehen. 8 Die Gesellschaft von Sebastian Kötzler und Hans von der Ketten begegnet mehrfach in Sevillaner Notariatsakten, wo ihre Namen hispanisiert wurden: von der Ketten begegnet als Juan de la Cadena, während Sebastian Kötzlers Nachname zu Quiseler, Quiceler oder gar Quinixaer verballhornt wurde. Am 8. Juli 1542 schloss Hans von der Ketten, der sich damals am Guadalquivir aufhielt, mit den Sevillaner Bürgern Gaspar Jorge und Rodrigo de Torres eine Vereinbarung, in der er versprach, bestimmte Handelswaren (ciertas mercaderías) aus Flandern, die zu diesem Zeitpunkt in Cádiz lagerten, binnen 30 Tagen zu liefern. Als Sicherheit übergab von der Ketten seinen Geschäftspartnern 200 Dukaten. 9 Vier Monate später, am 8. November 1542, quittierte der Baske Miquel de Recabarren Sebastian Kötzler den Empfang von 300 Golddukaten. Recabarren hatte einen Wechselbrief Hans von der Kettens vorgelegt, der damit von Gonzalo de Jaca in Malaga einen halben Anteil an dem Schiff San Nicolas erworben hatte. Am selben Tag stellte der Engländer Ricardo Duquí (Richard Duke? ) in Sevilla eine Vollmacht für Hans von der Ketten und Sebastian Kötzler aus. 10 Vom 1. Februar 1543 datiert eine Zahlungsverpflichtung des Sevillaner Bürgers Pero Barba de la Vega, der Kötzler und von der Ketten 45.000 Maravedis für verschiedene Metallwaren - plata y clavos y otras cosas - schuldig war. 11 Im März 1543 hielt sich Hans von der Ketten nochmals in Sevilla auf und war in dieser Zeit an mehreren notariell beglaubigten Geschäften beteiligt. Am 10. März zedierte ihm Diego López Marín, Bürger der Stadt Almodóvar del Campo, eine Schuldforderung, die aus einem Geschäft zwischen zwei Flamen in der Neuen Welt herrührte. Pero Hernández, flamenco und 8 R OHMANN , Ehrenbuch (wie Anm. 7), Bd. 1, 278, 285; N ORBERT L IEB , Die Fugger und die Kunst. Bd. 1: Im Zeitalter der Spätgotik und der frühen Renaissance, München 1952, 19, 317; H ELENE B URGER (Bearb.), Nürnberger Totengeläutbücher III. St. Sebald 1517-1572, Neustadt an der Aisch 1972, Nr. 8869; Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500-1620, W OLFGANG R EINHARD (Hrsg.), Berlin 1996, 143 (Nr. 238). 9 Oberdeutsche Kaufleute in Sevilla und Cádiz (1525-1560). Eine Edition von Notariatsakten aus den dortigen Archiven, H ERMANN K ELLENBENZ / R OLF W ALTER (Hrsg.), Stuttgart 2001, 183f. (Nr. 110). - Es gelang Kellenbenz und Walter allerdings nicht, Juan de la Cadena und seinen Geschäftspartner Sebastian Quiceler (Quiseler, Quinixaer) zu identifizieren. Stattdessen schreiben sie: „In den vorliegenden Quellen tauchen wiederholt zwei deutsche Kaufleute auf, deren Identifizierung derzeit offen bleiben muß. Sie bildeten wohl eine gemeinsame Gesellschaft und es deutet einiges darauf hin, daß sie sich vornehmlich im Einflußkreis von englischen und flämischen Kaufleuten bewegten.“ Ebd., 38. 10 K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 189f. (Nr. 121, 122). 11 K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 194f. (Nr. 129). <?page no="338"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 339 Einwohner von Trujillo in Neu-Kastilien (los reinos de la Nueva Castilla de la Indias del mar océano), hatte 1537 seinem Landsmann namens Pablos Calvo, Einwohner von Ciudad de los Reyes, einen schwarzen Sklaven und verschiedene andere Dinge (un esclavo negro y otras cosas) verkauft und ihm dafür einen Schuldschein über 244 Goldpesos ausgestellt. Da Calvo die Schuld nicht beglich, hatte Pero Hernández Diego López Marín mit der Einbringung der Forderung beauftragt. Marín reichte diese Forderung nun für 100 Goldpesos an Hans von der Ketten weiter, und dieser transferierte sie drei Tage später an den ursprünglichen Schuldner Pero Hernández. Hernández verpflichtete sich seinerseits, Hans von der Ketten die 100 Goldpesos wieder zu bezahlen. 12 Wiederum vier Tage später, am 17. März 1543, trat von der Ketten als Bevollmächtigter des Engländers Ricardo Duquí auf und quittierte gemeinsam mit mehreren englischen Kaufleuten den Empfang von Geldbeträgen, die ihnen aufgrund von Verlusten aus einer Havarie zustanden. 13 Am 24. März schließlich stellte Hans von der Ketten seinem Geschäftspartner Sebastian Kötzler eine Generalvollmacht aus - ein Indiz, dass er im Begriff war, Sevilla zu verlassen, wahrscheinlich um nach Antwerpen zurückzukehren. 14 Aus diesen Dokumenten ergibt sich, dass der Warenhandel zwischen Flandern und Spanien das Kerngeschäft von Hans von der Ketten und Sebastian Kötzler bildete. Die Firma besaß selbst Anteile an mindestens einem Schiff und hatte offensichtlich gute Beziehungen zu flämischen und englischen Kaufleuten. Allerdings scheint die Firma schon nach kurzer Zeit in Liquiditätsengpässe geraten zu sein. Der Frankfurter Kaufmann Philipp Aufstender sagte 1555 vor dem Nürnberger Stadtgericht aus, er habe im August 1542 Hans Stoltz, einem Diener von Sebastian Kötzler und Hans von der Ketten, vff sein anlangen zu gemeinem iren handel inn Antorf auf wechsel per Franckfurt zubezalen 1272 fl den gulden zu 65 creutzer gerechnet, zugestelt vnd geben. Der Wechselkredit sei auf der Frankfurter Fastenmesse des Jahres 1543 fällig gewesen. Zu diesem Termin habe Aufstender aber nur 600 Gulden von seinen Schuldnern empfangen, die übrigen 672 Gulden samt Zinsen seien unbezahlt geblieben. 15 Dass sich die Firma spätestens im Sommer 1543 in ernsthaften Schwierigkeiten befand, zeigen sowohl Antwerpener als auch Sevillaner Dokumente. Am 12. Juni 1543 bevollmächtigte der aus Nürnberg stammende Johann Felberger in Antwerpen einen spanischen Kaufmann damit, sämtliche Güter und Schuldforderungen Sebastian Kötz- 12 K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 195-197 (Nr. 132-134). 13 K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 197f. (Nr. 135). 14 K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 198f. (Nr. 136). 15 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 40. <?page no="339"?> Mark Häberlein 340 lers und Hans von der Kettens mit Beschlag zu belegen, um seine Forderungen an sie sicherzustellen. 16 Zweieinhalb Monate später, am 27. August, protestierte der flämische Kaufmann Juan de Coque (Jan de Cocq) vor einem Sevillaner Notar einen Wechselbrief über 43.782 Maravedis, den Sebastian Kötzler am 9. Juli desselben Jahres in Cádiz ausgestellt hatte. 17 Im September 1543 schließlich widerrief Hans von der Ketten, der sich mittlerweile in der Stadt Santiponce aufhielt, die seinem Partner Sebastian Kötzler ein halbes Jahr zuvor erteilte Generalvollmacht und beauftragte Jácome Fandomele, Bürger von Puerto de Santa María, mit der Wahrnehmung seiner Interessen. 18 Hans von der Ketten wird noch in zwei Antwerpener Notariatsdokumenten aus den beiden folgenden Jahren fassbar: Im November 1544 betraute er seinen in Köln wohnenden Bruder Mathias mit der Durchführung von Rechts- und Kaufgeschäften, und im Juni 1545 bevollmächtigte Laurenz Zeghers aus Diest einen Einwohner der Stadt Arnemuiden, seinem Gläubiger Johann von der Ketten vor dem Stadtgericht von Middelburg sein Haus zu übertragen. 19 Weiteres ist über ihn bislang nicht bekannt. Auch wenn die Handelsgesellschaft Sebastian Kötzlers und Hans von der Kettens nur wenige Jahre Bestand hatte und letztlich nicht erfolgreich war, wirft ihre Existenz doch ein Schlaglicht auf die Bedeutung, die die Handelsroute Antwerpen - Sevilla um 1540 hatte. Antwerpen verdankte seinen Aufstieg zur kommerziellen Drehscheibe Nordwesteuropas im frühen 16. Jahrhundert insbesondere der Entscheidung der portugiesischen Krone, den über die neu entdeckte Seeroute aus Asien importierten Pfeffer über die Scheldestadt auf die nord- und westeuropäischen Märkte zu bringen. 1508 wurde zu diesem Zweck eine königlich-portugiesische Handelsniederlassung, die Feitoria de Flandes, eingerichtet. Da die Portugiesen für ihren Afrika- und Asienhandel vor allem Silber und Kupfer benötigten, wurden die süddeutschen Kaufleute, die das in den mitteldeutschen, alpenländischen und oberungarischen Bergwerken gewonnene Metall vermarkteten, ihre wichtigsten Handelspartner. Die Augsburger und Nürnberger Kaufleute, die Silber und Kupfer nach Antwerpen lieferten, konnten sich dort ihrerseits mit Gewürzen und mit englischen Tuchen, für die Antwerpen schon seit Mitte des 15. Jahr- 16 J AKOB S TRIEDER , Aus Antwerpener Notariatsarchiven. Quellen zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1930 (ND Wiesbaden 1962), 150f. (Nr. 207). Im Mai 1544 bevollmächtigte Felberger die Spanier Melchior de Carion und Garcia de Bascones mit der Vertretung seiner Forderungen gegenüber Hans von der Ketten und Sebastian Kötzler: ebd., 166 (Nr. 238), 412 (Nachtrag, Nr. 238a). - Felberger war mit einer Niederländerin verheiratet und arbeitete bei einem Schiffstransport u. a. mit dem Welser-Faktor Hieronymus Sailer zusammen: ebd., 161f. (Nr. 229), 355 (Nr. 682). 17 K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 212f. (Nr. 157). 18 K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 215 (Nr. 162). 19 S TRIEDER , Aus Antwerpener Notariatsarchiven (wie Anm. 16), 171 (Nr. 254), 181 (Nr. 280). <?page no="340"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 341 hunderts der wichtigste kontinentaleuropäische Umschlagplatz war, eindecken. Der Aufschwung der Stadt geriet zu Beginn der 1520er Jahre allerdings ins Stocken, als die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Habsburgern und der französischen Krone den Handelsverkehr störten und sich der traditionelle Gewürzhandel über die Levantehäfen und Venedig wieder belebte, so dass die Portugiesen ihre zeitweilig beherrschende Stellung auf dem europäischen Gewürzmarkt wieder verloren. Bis Mitte der 1530er Jahre hatte Antwerpen diese Krise jedoch weitgehend überwunden, und um 1540 setzte ein erneuter Aufschwung ein, der vor allem drei Gründe hatte. Erstens erholte sich der Transithandel mit englischen Wolltuchen und Gewürzen von der Iberischen Halbinsel wieder. Zweitens entwickelte sich Antwerpen zum Verteilerzentrum für Qualitäts- und Luxusgüter wie italienische Seide, kostbare Stoffe, flämische Tapisserien, Farbstoffe und Zucker. Spanien bezog einen großen Teil der für den Aufbau seines amerikanischen Kolonialreichs benötigten Schiffbaumaterialien und gewerblichen Produkte über Antwerpen und lieferte dafür Wolle, Wein, Salz, Zucker, Südfrüchte und Öl, vor allem aber Silber, das von den amerikanischen Silberflotten in immer größeren Mengen nach Europa transportiert wurde. Drittens stieg Antwerpen nun auch zu einem Finanzzentrum auf, weil die stets geldbedürftigen europäischen Fürsten sich zunehmend des dortigen Anleihemarkts bedienten und Innovationen auf dem Handels- und Finanzsektor - die Einrichtung der Börse 1531, spezialisierte Kredit- und Warenmakler, die Indossierbarkeit von Obligationen und Wechselbriefen, gedruckte Preislisten und die Möglichkeit, Seetransporte zu versichern - die Kapitalflüsse erleichterten. 20 Die seit den 1520er Jahren zunehmend enger werdenden Verflechtungen zwischen Antwerpen und Sevilla, dem Monopolhafen für den spanischen Amerikahandel, eröffneten auch deutschen Handelsfirmen neue kommerzielle Chancen. Dies gilt sowohl für Großfirmen wie die Unternehmen Anton Fuggers und Bartholomäus Welsers als auch für kleinere und stärker spezialisierte Firmen. Die Fuggerfirma transportierte in den 1530er und 40er Jahren Kupfer, Messing, oberdeutschen Barchent, niederländische und englische Tuche von Antwerpen nach Spanien, während in umgekehrter Richtung amerikanisches Silber sowie Quecksilber aus den Minen von Al- 20 F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15. -18. Jahrhunderts, Bd. 3, Aufbruch zur Weltwirtschaft, 3 Bde., München 1986, 158-167; H ERMAN VAN DER W EE / J AN M ATERNÉ , Antwerp as a World Market in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Antwerp, Story of a Metropolis (16 th -17 th centuries), J AN VAN DER S TOCK (Hrsg.), Gent 1993, 19-32; M ICHAEL L IMBERGER , „No town in the world provides more advantages“: Economies of Agglomeration and the Golden Age of Antwerp, in: Urban Achievement in Early Modern Europe: Golden Ages in Antwerp, Amsterdam and London, P ATRICK O’B RIEN u. a. (Hrsg.), Cambridge 2001, 39-62. <?page no="341"?> Mark Häberlein 342 madén spediert wurden. 21 Auch die Welser-Gesellschaft verschiffte um die Mitte der 1530er Jahre beträchtliche Mengen Quecksilber aus Almadén nach Antwerpen, die dort unter anderem an die Kaufleute Paulus van Gemert und Jacob van Berchem verkauft wurden. 22 In diesem Zusammenhang sind jedoch vor allem die mittleren und kleineren Firmen von Interesse, die auf dieser Route operierten. Bereits 1525 schickte der aus Berlin stammende Kaufmann Joachim Pruner, der sich in Antwerpen niedergelassen hatte, ein Schiff von ca. 250 Tonnen nach San Lucár de Barrameda, dem Ausfuhrhafen Sevillas. Die Ladung wurde zwar in dem entsprechenden Notariatsdokument nicht spezifiziert, doch wurden Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass das Schiff Früchte lud. Joachim Pruners Bruder Hans starb 1531 in Lissabon, von wo aus er auch Kontakte nach Sevilla unterhalten hatte. 23 Die in Antwerpen ansässigen Flamen Jan van Blassendonck und Cornelis de Voss sowie ihr in Sevilla lebender Teilhaber Jan van Damme sandten 1535 den aus Olpe im Fürstbistum Münster gebürtigen Bernhard Schoutert nach Peru, um dort für sie Edelmetalle zu erwerben. 24 Aber nicht nur in Antwerpen schlossen sich Kaufleute zusammen, um vom Aufschwung der Seehandelsroute nach Sevilla zu profitieren. Enrique Otte hat bereits vor Jahrzehnten in einem grundlegenden Aufsatz gezeigt, dass der Handel zwischen Sevilla und Amerika um die Mitte des 16. Jahrhunderts zu einem beträchtlichen Teil von mittelgroßen und kleinen Handelsfirmen bzw. Geschäftspartnerschaften getragen wurde. Neben den kapitalkräftigen ausländischen und einheimischen Sevillaner Kaufleuten beteiligten sich auch wohlhabende Gewerbetreibende am Amerikahandel und bildeten zu diesem Zweck eigene, oftmals auf bestimmte Waren bzw. Warengruppen spezialisierte Compañías. 25 In diesem Umfeld, das von neuen kommerziellen Möglichkeiten und hohen Gewinnerwartungen geprägt war, in dem aber insbesondere für Handelsfirmen mit begrenzter Kapitaldecke 21 H ERMANN K ELLENBENZ , Die Rolle der Verbindungsplätze zwischen Spanien und Augsburg im Unternehmen Anton Fuggers, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 65 (1978), 1-37; D ERS ., Die Fugger in Spanien und Portugal bis 1560. Ein Großunternehmen des 16. Jahrhunderts, 2 Bde. und Dokumentenband, München 1990, Bd. 1, 437-448; K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 60-62 und passim; M ARK H ÄBERLEIN , Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367-1650), Stuttgart 2006, 80. 22 Städtische Kunstsammlungen Augsburg, Grafik 1993, Welserfragmente, Mappe 7, fol. 7r-7v, 9r; Mappe 11, fol. 29r. 23 S TRIEDER , Aus Antwerpener Notariatsarchiven (wie Anm. 16), 18-21 (Nr. 13), 73-75 (Nr. 85). 24 S TRIEDER , Aus Antwerpener Notariatsarchiven (wie Anm. 16), 341f. (Nr. 665). 25 E NRIQUE O TTE , Träger und Formen der wirtschaftlichen Erschließung Lateinamerikas im 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 4 (1967), 226-266, wieder abgedruckt in D ERS ., Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens, G ÜNTER V OLL- MER / H ORST P IETSCHMANN (Hrsg.), Stuttgart 2004, 269-298. <?page no="342"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 343 auch die Risiken beträchtlich und die Gefahr des Scheiterns entsprechend groß waren, operierten offensichtlich auch der Kölner Hans von der Ketten und sein Nürnberger Partner Sebastian Kötzler. 3. Winkler contra Kötzler: Der Prozessverlauf In dem Prozess, den Leonhard Winkler 1552 vor dem Reichskammergericht gegen Sebastian Kötzler anstrengte, 26 porträtierte Winklers Anwalt seinen Mandanten als einen angesehenen Kaufmann, der von dem Beklagten betrogen und in den Ruin getrieben worden sei. Mehrere Kaufleute deutscher und niederländischer Herkunft - Jacob Cagener, Jacob Diuys, Adrian de Grosse, Jacob de Grosse, Christopher Radmacker und Jörg Chrafft - hätten bezeugt, dass Winkler im Jahre 1543 selbs ein statlich anwesen vnd handel in der Stadt Cádiz gehabt hätte vnnd vber sein tegliche vnderhaltung ein dapffers damit hat gewinnen können. Sebastian Kötzler sei vilfeltiger seiner schulden halber aus Sevilla zu Winkler, den er dazumal für einen vettern gehalten, nach Cádiz gekommen und habe ihm berichtet, wie er in Sibilia vil schuldig wer. Von Gläubigern an anderen Orten habe er ihm indessen kein wort gemeldet. Winkler sei bereit gewesen, Kötzler als einem angebnen vettern vnnd landsman guten willen zuerzaigen und habe auf dessen Vorschlag hin für etlich hundert ducaten zucker auff porg, in einem halben jar zubezalen, auffgenomen. Kötzler sollte den Zucker gewinnbringend verkaufen und mit dem Erlös etliche seiner Gläubiger ausbezahlen. Daraufhin habe Kötzler Winkler gebeten, mit ihm nach Sevilla zu kommen und sich vorübergehend um seine Geschäfte zu kümmern, da sein Handelsdiener Christof Fugger erkrankt sei. Obwohl Winkler in seinen aignen geschefften [… ] genug zuthun gefunden hätte, habe er seine Angelegenheiten zu Cádiz seinem Geschäftspartner Lazarus Reichel übertragen und sei mit Kötzler nach Sevilla gegangen. 27 Etliche Tage nach ihrer Ankunft in Sevilla habe Sebastian Kötzler plötzlich behauptet, dass er von seinen Brüdern einen Brief beunruhigenden Inhalts empfangen habe: Sein Teilhaber Hans von der Ketten sowie ein gewis- 26 Verfahren vor dem Reichskammergericht bilden zwar schon seit einiger Zeit einen Schwerpunkt rechts- und sozialhistorischer Untersuchungen zur Frühen Neuzeit, doch sind Prozesse über ökonomische Streitgegenstände dabei bislang nur selten thematisiert worden. Vgl. A NJA A MEND , Gerichtslandschaft Altes Reich im Spiegel einer Wechselbürgschaft, in: Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, A NJA A MEND u. a. (Hrsg.), Köln / Weimar / Wien 2007, 7-15; D IES ., Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2009; M ARK H ÄBERLEIN , Der Fall d’Angelis: Handelspraktiken, Kreditbeziehungen und geschäftliches Scheitern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Bamberg in der Frühen Neuzeit. Neue Beiträge zur Geschichte von Stadt und Hochstift, D ERS . / K ERSTIN K ECH / J OHANNES S TAUDENMAIER (Hrsg.), Bamberg 2008, 173-198. 27 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 10, fol. 5r-5v. <?page no="343"?> Mark Häberlein 344 ser Hans Veldeberger (Felberger) hätten vil schulden [… ] zu Antorff gemacht. Da der Wert der Güter, die Kötzler ihnen zugesandt habe, höher gewesen sei als die Darlehen, die von der Ketten und Felberger aufgenommen hätten, müsse Kötzler auf Anraten seiner Brüder nach Antwerpen reisen und mit seinen Geschäftspartnern, abrechnen, ehe sie ihn vmb leyb, ehr vnnd gut prechten. Vor seiner Abreise habe sich Kötzler noch mit seinen Sevillaner Gläubigern sowie mit dem Faktor der Welser-Gesellschaft 28 beratschlagt, wie zu verhindern sei, dass Hans von der Ketten oder Hans Felberger während seiner Abwesenheit am Guadalquivir auftauchten und dem Handelsdiener Christof Fugger die dort lagernden Warenbestände abnötigten. Die Lösung habe darin bestanden, dass Sebastian Kötzler mit Leonhard Winkler einen notariellen Scheinkauff abschloss und ihm seine Aktiva in Sevilla übertrug. Dadurch sollten diese wider des Kettens vnnd Veldebergers anspruch den Sibilianischen creditorn zu gutem [… ] erhalten werden. Kötzler habe versprochen, er wolle nach der Abrechnung mit von der Ketten und Felberger Winckler allerding schadloß halten. Unter diesen Voraussetzungen habe Winkler sich auf das Geschäft eingelassen. 29 Nach Kötzlers Ankunft in Antwerpen sei dann aber alles ganz anders gekommen: Statt mit seinen Partnern Rechnung zu halten, habe er sich in Antwerpen verborgen gehalten und sei dann in Richtung Nürnberg abgereist, wo er sich eben so wenig als zu Antorff finden oder ansichtig werden ließ. Obwohl es ihm ein Leichtes gewesen wäre, gegen Felberger vorzugehen, habe er Winkler mit brieflichen Zusicherungen hingehalten, sei stattdessen andern geschefften vnd hanndlungen in Franckreich nachgegangen und habe mitler weil den Winckler in der Suppen stecken lassen. Auch nach seiner Rückkehr aus Frankreich scheucht er das liecht vnnd verpirgt sich, begert kein Rechnung mit dem Ketten oder Veldeberger zuhalten, bezalt auch seine gläubiger nicht, denen er doch zu Antorff ein gute anzal hat. Da die Antwerpener Gläubiger nicht in Erfahrung bringen konnten, wo Kötzler sich aufhielt, hätten sie ihn schließlich für bancaroupta gehalten. Unterdessen habe Winklers Partner in Cádiz, Lazarus Reichel, die Geschäftspartnerschaft mit ihm gelöst, und Winkler selbst habe sich auf den Heimweg über Antwerpen nach Nürnberg gemacht. Der Grund für seine Abreise lag offenbar darin, dass Kötzler ihm 28 Als Faktor der Augsburger Welser-Gesellschaft in Sevilla fungierte in den Jahren 1537 bis 1541 der aus Mailand stammende Pedro Jacome Gacio, der zuvor für die Firma auf Santo Domingo tätig gewesen war. Nach 1541 erscheint er als selbständiger Kaufmann in Sevilla, war aber weiterhin für die Welser-Gesellschaft, die ihre Faktorei in Sevilla vermutlich Ende 1541 aufgelöst hatte, als Kommissionär tätig; vgl. K ELLENBENZ / W ALTER , Oberdeutsche Kaufleute (wie Anm. 9), 34-37 und passim; O TTE , Von Räten, Reedern und Piraten (wie Anm. 25), 143; G ÖTZ S IMMER , Gold und Sklaven. Die Provinz Venezuela während der Welser-Verwaltung (1528-1556), Berlin 2000, 108, 191, 204f., 233, 328f. 29 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 10, fol. 6r-6v. <?page no="344"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 345 geschrieben hatte, dass er versuchen solle, sich mit den Sevillaner Gläubigern auf die Rückzahlung der Hälfte der Schulden zu einigen. Auch wenn der Anwalt sich hütete, dies so zu formulieren, lässt sich seiner Schrift zwischen den Zeilen entnehmen, dass Winkler daraufhin kalte Füße bekam und sich aus Sevilla absetzte. In Antwerpen jedenfalls sei er von solcher handlung wegen [… ] durch die Kötzlerischen Creditores gefengklich eingezogen vnnd peinlich angeclagt worden. Dies alles wäre nicht geschehen, hätte ihn Kötzler zu dem scheinkauff nicht listiglich beredet. 30 Es blieb Christof Fugger vorbehalten, die Güter der Handelsgesellschaft Kötzler-von der Ketten in Sevilla zu verkaufen und aus dem Erlös den Engellender - möglicherweise den in Notariatsdokumenten fassbaren Ricardo Duquí (Richard Duke? ) - vnnd andere etliche gläubiger zu befriedigen. Anschließend habe Fugger die Handelsbücher der Gesellschaft mit nach Nürnberg genommen und Kötzler dort Rechnung gelegt. 31 Der Vorwurf, den Leonhard Winklers Anwalt gegen Sebastian Kötzler erhob, lautete also, dass dieser seinen Mandaten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu dem Scheinkauf überredet hatte. Statt mit seinen Geschäftspartnern abzurechnen, habe er die Flucht vor seinen Gläubigern ergriffen. Er habe Winkler das Ausmaß seiner Verschuldung bewusst verschwiegen und ihm vorenthalten, dass er bei von der Ketten, den Antwerpener Kaufleuten Hans Felberger, Johann de Preun und Jörg Österlein sowie bei zahlreichen anderen Personen in der Kreide stand. Ebenso habe er Winkler über den Charakter seiner Handelsgesellschaft mit Hans von der Ketten im Unklaren gelassen. 32 Diese Täuschung sei allein darumb beschehen, damit er [Kötzler] den kopff aus der schlingen ziehen, vnnd vor des Ketten ankunfft auß Sibilia verraisen, vnnd den appellanten zu annemung des scheinkauffs desto eher bereden, vnnd an sein stat für die lücken stecken möchte. 33 Weil Sebastian Kötzler sich vor seinen Gläubigern verborgen hielt, habe man ihn für bancaroupta gehalten und Leonhard Winkler als Helfershelfer eines Bankrotteurs angeklagt. Selbst als Winkler bereits im Gefängnis saß, hätten ihn Kötzler und seine Brüder weiter mit Briefen hingehalten, in denen sie beteuerten, dass alles in Ordnung kommen werde, weil die Güter in Sevilla allein Kötzler gehörten und er in Antwerpen nichts schuldig sei. Unterdessen habe er sich mit Antwerpener Gläubigern wie Heinrich von Aichel auf Teilrückzahlungen geeinigt. 34 30 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 10, fol. 6v-7v, 12r-13r. 31 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 11, Gravamina von Leonhard Winklers Anwalt, 13. Juni 1553, Zitat fol. 5r. 32 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 11, fol. 8r-9v. 33 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 11, fol. 10r-10v. 34 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 11, fol. 11r-16r (Zit. 12r). <?page no="345"?> Mark Häberlein 346 Der Anwalt Sebastian Kötzlers, Alexander Reiffstock, stellte den Gang der Ereignisse in seiner Erwiderung völlig anders dar. Reiffstock zufolge war es Winkler, der Kötzler aus eigener Initiative aufsuchte, als er von dessen geplanter Reise nach teutschlandt erfahren habe, und von sich aus angeboten habe, dessen Güter in Sevilla während seiner Abwesenheit zu verwalten. Dies sei auch keineswegs aus landsmannschaftlicher oder verwandtschaftlicher Verbundenheit geschehen, sondern aus schnödem Eigeninteresse: Winkler sei nämlich kein wohlhabender Kaufmann, sondern ein gelernter Goldschmied, der sich mit seinem Handwerk mehr schlecht als recht durchgeschlagen habe, und er habe gehofft, in Kötzlers Haus sein tegliche cost vnnd vffenthalt zu finden. Kötzler habe zwar vorgehabt, Winkler mit einer zimlichenn verehrung zu bedenken, falls dieser seine Güter treu verwaltete. Die von diesem geforderten 500 Gulden seien jedoch völlig abwegig gewesen, zumal es Winkler mit allem seinem thun, hantwerck vnnd geschickligkhait nit wol müglich gewest wäre, in zehen jaren ein solche summa ehrlich zuerobern. Winkler habe von seinen Eltern wenig geerbt, und da er überdies seins hantwercks ein vbelkhünnender goltschmid sei, der allein seinem handwerck nachgezogenn sei, habe er in der Erkrankung des Handelsdieners Christof Fugger eine Gelegenheit erblickt, in Kötzlers Handelsgeschäft die tegliche leibs narung zu habenn. 35 Indem Kötzler auf dieses Angebot eingegangen sei, habe er Winkler ein hohes Maß an Vertrauen entgegen gebracht und sich obendrein erhebliche Kosten für dessen Unterhalt aufgebürdet. 36 Anders als von Winklers Anwalt behauptet, sei Kötzler nach Antwerpen gereist, weil Hans von der Ketten mit ime betruglicher weiß vmbgangen sei und er dadurch gezwungen worden sei, da gegenn die gepürende weg fürzunehmen, dardurch sollicher vorstehender gefar begegnet, die güter von falscher prattickenn geschutzt, vnnd gegen meniglich trauen vnnd glauben erhalten werdenn mochte. 37 Nicht Sebastian Kötzler sei bei seinen Geschäftspartnern verschuldet gewesen, sondern Hans von der Ketten und Hans Felberger seien ihm etliche tausend Gulden schuldig geblieben. Von den Schulden, die von der Ketten in den Niederlanden angehäuft hatte, habe Kötzler zum Zeitpunkt seiner Abreise aus Spanien noch nichts gewusst. Dennoch hätten Anthoni von Bamberg (Anton van Bombergen 38 ) und andere Antwerpener 35 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 13, Exceptiones von Kötzlers Anwalt Alexander Reiffstock, 1553, fol. 2r-4v. 36 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 13, fol. 5r-6r. 37 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 13, fol. 6v. 38 Van Bombergen vertrat über viele Jahre hinweg die Interessen der Augsburger Kaufleute Andreas und Lucas Rem in Antwerpen. Noch 1545 ist er dort als Vertreter der Erben Lucas Rems belegt; vgl. Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494 bis 1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg, B ENEDIKT G REIFF (Hrsg.), in: 26. Jahresbericht des Historischen Kreisvereins von Schwaben und Neuburg, Augsburg 1861, 1-110, hier 102 (Anm. 206); S TRIEDER , Aus Antwerpener Nota- <?page no="346"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 347 Kaufleute Kötzler als ihren Schuldner ausgegeben, obwohl er mit ihnen nie Geschäfte gemacht habe. 39 Auch Leonhard Winklers Reise nach Antwerpen und die dortigen Geschehnisse stellte der Anwalt seines Kontrahenten anders dar. Winkler sei bis 1545 in Sevilla gewesen und habe dort in Kötzlers Haus gewohnt. Dann sei er aus eigenem Antrieb, ohne Kötzlers vorwissenn, begern vnnd beuelch, in die Niederlande gereist, wo ihm van Bombergen und andere Kaufleute vorwarfen, er habe Kötzlers Güter zu betrug vnnd nachtheill seiner glaubiger entwendet, versteckt vnnd entfernt. Diese Vorwürfe hätten auch Kötzlers Reputation geschadet. Nachdem die Kläger eingesehen hätten, dass Winkler zu Unrecht inhaftiert worden war, hätten sie den angesehenen Kaufmannsbankier Lazarus Tucher 40 eingeschaltet, um seine Freilassung zu erwirken. Als Entschädigung habe man Winkler 100 Carolusgulden angeboten, doch da dieser hartnäckig 300 Carolusgulden gefordert habe, sei keine Einigung zustande gekommen, und er sei erneut verhaftet worden. Nach etlichen Wochen hätten die Kläger schließlich die Freilassung Winklers angeordnet und ihm zur Bestreitung seiner Unkosten ein summa geltz gegeben. 41 Die Auseinandersetzung vor dem Reichskammergericht drehte sich auch um die Aufgabenverteilung, die während Sebastian Kötzlers Abwesenheit von Sevilla zwischen Leonhard Winkler und Christof Fugger herrschte. Kötzler behauptete, er habe Winkler in Spanien Waren und Schulden im Wert von ca. 5.000 Dukaten anvertraut, wofür dieser ihm noch Rechnung legen müsse. Winkler könne sich nicht damit herausreden, dass dies Christof Fuggers Aufgabe gewesen sei, denn Winkler und Fugger hätten die Güter gemeinsam verwaltet. Außerdem habe Fugger Spanien vor Winkler verlassen und diesem alle verbleibenden Waren, Schulden und Hausrat überlassen. 42 Winklers Anwalt entgegnete, es sei zwar zutreffend, dass Fugger vor Winkler aus Sevilla abgereist sei. Er habe diesem aber annders nichts, dann etliche böse schulden sowie ettlichenn geringschetzigen haußrath hinterlassen. Durch Aussagen von Jacob Dinis und Hans Stenglin sei erwiesen, dass damals ein gemain gerüch[t] in Sevilla umgegangen sei, dass Christof Fugger deß Sebastian Kötzlers glaubiger zufriden stellet, souil der hinderlaßnen güetter werth anwirff. riatsarchiven (wie Anm. 16), 116 (Nr. 150), 129f. (Nr. 166), 144f. (Nr. 193), 168 (Nr. 244), 175 (Nr. 258), 182 (Nr. 281), 412 (Nr. 674a). 39 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 13, fol. 7v-12v. 40 Zu seiner Person vgl. R ICHARD E HRENBERG , Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahrhundert, 2 Bde., Jena 1896, passim (siehe Register); S TRIEDER , Aus Antwerpener Notariatsarchiven (wie Anm. 16), 31 (Nr. 20), 35f. (Nr. 24), 145 (Nr. 193), 168 (Nr. 244), 182 (Nr. 281), 290 (Nr. 554), 380f. (Nr. 730), 424-432 (Anhang 2). Interessanterweise war ein Bruder Christof Fuggers vom Reh namens Hans in den 1540er Jahren zu Antorf bey Latzaro Tucher mit diensten verpflicht; R OHMANN , Ehrenbuch, Bd. 1 (wie Anm. 7), 284. 41 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 13, fol. 12v-14r. 42 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 14, Exceptiones von Sebastian Kötzlers Anwalt, 30. August 1553. <?page no="347"?> Mark Häberlein 348 Fugger und Winkler hätten 1544 abgerechnet, wobei eine Restschuld Winklers in Höhe von 45.598 Maravedis oder 121 Dukaten verblieben sei. 43 Der Prozess zog sich mit zahlreichen Eingaben und Repliken noch fast zwei Jahrzehnte lang hin. Aus einer Schrift, die Leonhard Winklers Anwalt im Frühjahr 1562 dem Gericht vorlegte, geht hervor, dass auch Lazarus Tucher wegen seiner Rolle bei den Antwerpener Ereignissen befragt wurde. Tucher sagte jedoch aus, er wisse sich deß jhenigen darumb er gefragt nit zuerinnernn, weil dergleichen sachenn vil für ine kommenn vnnd durch ine verrricht werdenn, die er aber alle im gedechtnus nicht behaltenn konne. Der Anwalt fügte hinzu, Tucher sei einn alter verlebter Herr, der mit vilenn wichtigen geschefftenn beladenn, dem dergleichenn sachen leichtlich abfallenn mögenn. 44 Die Gedächtnislücke Lazarus Tucher erstaunt in diesem Fall jedoch insofern, als Sebastian Kötzler im September 1554 Katharina Plödt, eine Tochter des Nürnberger Genannten Christoph Plödt und der Katharina Tucher, geheiratet hatte und damit zur angeheirateten Verwandtschaft Lazarus Tuchers gehörte. 45 In dem Urteil, welches das Gericht am 20. Mai 1572 fällte, wurden den Erben des mittlerweile verstorbenen Leonhard Winkler 46 1.200 Gulden für die vffgewendte costen vndt erlittenen schaden zugesprochen. 47 Sebastian Kötzler starb ein Jahr später ohne Erben in den Niederlanden. 48 Der Prozessverlauf lässt viele Fragen offen: Warum übertrug Sebastian Kötzler Leonhard Winkler Waren und Schulden im Wert von Tausenden von Gulden, wenn dieser angeblich nur ein armer Schlucker war? Waren Winkler und Kötzler tatsächlich miteinander verwandt? Was bezweckte Winkler damit, dass er Kötzler nach Antwerpen nachreiste? Warum unternahm in Nürnberg niemand etwas gegen Sebastian Kötzler, wenn dieser angeblich in Antwerpen so hoch verschuldet war? Wie sahen die gegenseitigen Verpflichtungen zwischen den Teilhabern Sebastian Kötzler und Hans von der Ketten aus - und wer schuldete tatsächlich wem wie viel? In welchem Verhältnis stand Hans Felberger zu den beiden Gesellschaftern? Auch wenn die „Wahrheit“ im Fall Winkler contra Kötzler weitgehend im Dunkeln bleibt, gewähren die konkurrierenden Erzählungen der Prozessparteien 43 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 16, Appellatio Replicae von Leonhard Winklers Anwalt, 29. August 1554, fol. 10r-11v. 44 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 36, Replik von Leonhard Winklers Anwalt, 11. März 1562. 45 Stadtarchiv Nürnberg, GSI 152 (Genannte des größeren Rats). - In einem Brief vom 15. September 1554 gratulierte Lienhart Tucher in Nürnberg seinem Vetter Lazarus in Antwerpen zur Hochzeitsabrede von dessen ‚Muhme’, der Tochter des verstorbenen Cristof Ploeden, mit dem ehrbaren Sebastiani Ketzler. Stadtarchiv Nürnberg, E 29/ IV, Tucher-Briefarchiv ältere Linie, Nr. 392. 46 Dem Totengeläutbuch der Nürnberger Pfarrei St. Sebald zufolge starb ein Linhart Winckler hinder dem Predigerkloster zwischen dem 18.12.1566 und dem 19.2.1567. B URGER , Totengeläutbücher III (wie Anm. 8), Nr. 8574. 47 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Urteil. 48 Stadtarchiv Nürnberg, GSI 152 (Genannte des Größeren Rats). <?page no="348"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 349 doch aufschlussreiche Einblicke in Argumentationsmuster sowie in Distinktions- und Diffamierungsstrategien von Kaufleuten vor Gericht. 4. Distinktion, Diffamierung und „geschwinde Praktiken“ Die Darstellung des Prozessverlaufs hat gezeigt, dass beide Kontrahenten bemüht waren, sich selbst als namhafte und angesehene Kaufleute zu präsentieren. Winkler hatte seinem Anwalt zufolge in Cádiz ein statlich anwesen vnd handel geführt, Kötzler in Sevilla ein handels leger besessen. Mit dieser Strategie der Distinktion korrespondiert der Versuch, das jeweilige Gegenüber zu diffamieren und ein negatives Bild von ihm zu entwerfen. In einem Fall handelte es sich um das Negativbild des armen Handwerkers, im anderen um das des betrügerischen Bankrotteurs. Leonhard Winkler wurde von Sebastian Kötzlers Anwalt als umherziehender Goldschmied porträtiert, der weder über nennenswertes Vermögen noch über besonderes Geschick verfügte. An einer Stelle behauptete er sogar, Winkler sei in Hispania werckloß vmbgangen und habe die teglich cost gesucht. 49 Wie Patrick Schmidt vor kurzem nochmals hervorgehoben hat, verfügten Handwerker in frühneuzeitlichen Städten allgemein über kein hohes Sozialprestige, und im patrizisch regierten Nürnberg - der Heimatstadt von Leonhard Winkler und Sebastian Kötzler - war ihre Geringschätzung besonders ausgeprägt. Handwerksmeister wurden innerhalb der Nürnberger Ständeordnung gemeinsam mit Gesellen und Tagelöhnern dem fünften und letzten Rang zugerechnet, und der Jurist Christoph Scheurl charakterisierte in seiner Darstellung der Nürnberger Stadtverfassung von 1516 die „Genannten“ des Größeren Rats der Stadt als leut eins erbarn lebens und wandels, die ir narung mit eherlichen dapfern gewerben und nicht mit verachtem hantwerke uberkomen, außgenomen etlich wenig hantwerksleut, so in ansehenlichen wesen schweben. 50 Mit der Diffamierung Winklers als armem Goldschmied bediente sich Kötzlers Anwalt also eines zentralen Distinktionsmusters der Ständegesellschaft, dem zufolge sich „schlechte“ Handwerker von „stattlichen“ Kaufleuten hinsichtlich ihrer Ehre, ihres Vermögens und Ansehens stark unterschieden. 51 49 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 13, fol. 2r-6r. 50 P ATRICK S CHMIDT , Die symbolische Konstituierung sozialer Ordnung in den Erinnerungskulturen frühneuzeitlicher Zünfte, in: Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, P ATRICK S CHMIDT / H ORST C ARL (Hrsg.), Berlin 2007, 106-139, Zitat 112. 51 Vgl. zu diesem Themenkomplex P AUL M ÜNCH , Grundwerte in der ständischen Gesellschaft: Aufriß einer vernachlässigten Thematik, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, W INFRIED S CHULZE (Hrsg.), München 1988, 53-72; B ARBARA S TOLLBERG -R ILINGER , Gut vor Ehre oder Ehre vor Gut? Zur sozialen Distinktion zwischen Adels- und Kaufmannsstand in der Ständeliteratur der <?page no="349"?> Mark Häberlein 350 Mit der Behauptung, dass Sebastian Kötzler in Sevilla für bancaroupta gehalten worden sei, griff Leonhard Winklers Anwalt seinerseits einen Diskurs auf, der in süddeutschen Städten im Verlauf des 16. Jahrhunderts, als sich Konkurse von Kaufleuten und Handelsgesellschaften zu häufen begannen, zunehmend in Bedeutung gewann. In Bankrottprozessen stellten geschädigte Gläubiger ihre Schuldner oft als gerissene Betrüger dar, die ihr Vertrauen missbraucht hätten. Der Anwalt des Augsburger Kaufmanns Christoph Manlich warf 1558 den bankrotten Brüdern Hans und Sebastian Weyer vor, sie hätten aller erbarkheit zugegen gehandelt und ihm sein Geld mit geringer erbarkheit entpfremdet. Nach dem Konkurs der Brüder Hans und Friedrich Rentz im Jahre 1544 musste nach Ansicht ihrer Gläubiger dafür Sorge getragen werden, dass gemeiner Rentzen namens vnnd stammens, guoter leumbd vnd wesen nit gar vmbgestossen, sonnder […] erhalten werde. 52 In zeitgenössische Chroniken fand der Diskurs über betrügerische und ehrlose Bankrotteure ebenso Eingang 53 wie in die Gesetzgebung. In die Reichspoliceyordnung von 1548 wurde ein Abschnitt Von verdorbenen Kauffleuthen eingefügt, der zwischen unverschuldeten, aufgrund widriger Umstände eingetretenen und vorsätzlichen, durch betrügerische Machenschaften, geschäftlichen Leichtsinn oder verschwenderische Lebensweise herbeigeführten Konkursen unterschied. 54 In diesem Zusammenhang kommt auch den im Prozess Winkler contra Kötzler verwendeten Begriffen des „Vertrauens“, des „Glaubens“ und der „Praktiken“ besondere Bedeutung zu. Winklers Anwalt zufolge hatte Kötzler behauptet, er müsse nach Antwerpen reisen, damit seine Interessen von falscher prattickenn geschutzt würden und gegen meniglich trauen vnnd glauben erhalten werde. Winkler habe Kötzlers Worten glauben gegeben. Indem er ihn über das wahre Ausmaß seiner Verschuldung und seine geschäftliche Verbindung mit Hans von der Ketten im Unklaren gelassen habe, sei Kötzler jedoch gegenüber Winkler mit geschwinden praticken […] vmbgangen. Kötzlers Anwalt hingegen behauptete, sein Mandant habe dem Angebot Winklers, sich während seiner Abwesenheit um seine Angelegenheiten in Sevilla zu Frühen Neuzeit, in: Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils, J OHANNES B URKHARDT (Hrsg.), Berlin 1996, 31-45. 52 M ARK H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998, 275f. 53 Vgl. M ARK H ÄBERLEIN , „Die Tag und Nacht auff Fürkauff trachten“. Augsburger Großkaufleute des 16. Jahrhunderts in der Beurteilung ihrer Zeitgenossen und Mitbürger, in: B URKHARDT , Augsburger Handelshäuser (wie Anm. 51), 46-68. 54 M ATTHIAS W EBER , Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition, Frankfurt a. M. 2002, 198f.; H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger (wie Anm. 52), 264f. Zum frühneuzeitlichen Diskurs über Bankrotte vgl. auch R OBERT B EACHY , Bankruptcy and Social Death: The Influence of Credit-Based Commerce on Cultural and Political Values, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 4 (2000), 329-343. <?page no="350"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 351 kümmern, geglaubt und beschlossen, alles vff sein des appellanten [Winklers] angepotten vertrostenn [zu] stellen vnnd [zu] vertrawen. 55 Damit rekurrierten die Kontrahenten zum einen auf die fundamentale Bedeutung, die gegenseitigem Vertrauen als Basis funktionierender Geschäftsbeziehungen zukam. Angesichts erheblicher ökonomischer Risiken und Unsicherheiten sowie langer Kommunikationswege war frühneuzeitlicher Fernhandel ohne Vertrauen zwischen den Handelspartnern kaum möglich. 56 Zum anderen sahen sich beide Seiten angeblich mit den „falschen“ bzw. „geschwinden Praktiken“ von Geschäftspartnern konfrontiert, denen sie vertraut hatten. In Texten des 16. Jahrhunderts wurde der Begriff der „Praktik(en)“ in Verbindung mit Adjektiven wie „heimlich“, „seltsam“ oder eben „geschwind“ häufig für unerlaubte Kunstgriffe, Hinterlist und Ränke gebraucht. 57 Valentin Groebner, der dieses Wortfeld eingehender untersucht hat, führt aus, dass im 15. Jahrhundert zunächst das mittellateinische practica als Begriff „für die Ausübung oder Anwendung eines juristischen oder medizinischen Verfahrens“ bzw. das italienische praticha im Sinne einer „Vorgehensweise und Gebrauchsanweisung“ eingedeutscht wurde. Um 1500 werden mit „Praktiken“ dann zunehmend illegitime Transfers und unlautere Verhaltensweisen bezeichnet - zunächst im politischen und diplomatischen Schriftverkehr, dann auch in Chroniken, Traktaten und Polemiken. Im frühen 16. Jahrhundert bezeichnet der Terminus manipulierte Wahlen, Bestechung, politische Intrigen, Betrug und Täuschung. „Praktik“ wird Groebner zufolge „zum Begriff für alle Machenschaften, die man nicht sehen kann.“ In Berichten über die politischen Manöver der Kandidaten um die Kaiserwahl von 1519 ist der Begriff „allgegenwärtig“, in Schriften über den Bauernkrieg erscheint er ebenso wie in Texten der Reformatoren. 58 Die Argumentation der Anwälte im Prozess Winkler contra Kötzler zeigt, dass der Begriff der „Praktiken“ um die Mitte des 16. Jahrhunderts auch in die Sphäre der Ökonomie und des Austrags zivilrechtlicher Konflikte vorgedrungen war. Mit ihm ließen sich die Täuschung von Geschäftspart- 55 BayHStA, RKG, Fasz. 13954, Nr. 10, fol. 5r-6v; Nr. 13, fol. 5v-6r. 56 C RAIG M ULDREW , Zur Anthropologie des Kapitalismus. Kredit, Vertrauen, Tausch und die Geschichte des Marktes in England 1500-1750, in: Historische Anthropologie 6 (1998), 167-199; S TE- FAN G ORIßEN , Der Preis des Vertrauens. Unsicherheit, Institutionen und Rationalität im vorindustriellen Fernhandel, in: Vertrauen. Historische Annäherungen, U TE F REVERT (Hrsg.), Göttingen 2003, 90-118. 57 J ACOB G RIMM / W ILHELM G RIMM , Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854-1960, Bd. 13, 2052f. nennt u.a. als Beispiele: kann man ine […] mit geschwinder vinanz oder pratick abfertigen sowie dein pratick geschwind / die du getriben, die zurint. 58 V ALENTIN G ROEBNER , Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000, 251-265, Zitate 251, 255, 260. <?page no="351"?> Mark Häberlein 352 nern, die Manipulation finanzieller Transaktionen und die Verschleierung wirtschaftlicher Sachverhalte wirkungsvoll charakterisieren. Wenn Leonhard Winklers Anwalt Sebastian Kötzler obendrein vorwarf, dieser habe durch seine Täuschungsmanöver seinen Kopff auß der schlingen gezogen und statt dessen denjenigen Winklers hinein gesteckt, wird deutlich, dass „geschwinde Praktiken“ auch im wirtschaftlichen Bereich kein Kavaliersdelikt waren, sondern über Gedeih und Verderb entscheiden konnten. Die Zahlungsschwierigkeiten, die er 1543 in Sevilla hatte, und die Vorwürfe Leonhard Winklers hatten für Sebastian Kötzler zwar insofern keine unmittelbar nachteiligen Folgen, als er von seiner Heirat 1554 bis zu seinem Tod 1573 als Genannter dem Größeren Rat der Reichsstadt Nürnberg angehörte und damit über beträchtliches Ansehen in seiner Heimatstadt verfügte. 59 Dass das Reichskammergericht den Erben Winklers 1572 eine beträchtliche Summe als Schadenersatz zusprach, macht indessen deutlich, dass Kötzlers „Praktiken“ dort nicht nur als lässliche Jugendsünde angesehen wurden. 5. Zusammenfassung Als der Kölner Hans von der Ketten und der Nürnberger Sebastian Kötzler eine gemeinsame Gesellschaft für den Handel zwischen Antwerpen und Sevilla gründeten, versuchten sie - wie viele andere Unternehmen ihrer Zeit - vom starken Aufschwung des spanisch-niederländischen Handels im Kontext der atlantischen Expansion Spaniens zu profitieren. Das Kerngeschäft der Firma bildete offensichtlich der Warenhandel, für den Kötzler und von der Ketten Anteile an mindestens einem Schiff erwarben und Kontakte mit flämischen und englischen Kaufleuten pflegten. Das offensichtlich relativ kapitalschwache Unternehmen geriet jedoch bereits nach wenigen Jahren in Schwierigkeiten, die Sebastian Kötzler 1543 veranlassten, Sevilla zu verlassen und die dortigen Geschäfte einem anderen Nürnberger namens Leonhard Winkler zu überlassen. Winkler wurde später von den Antwerpener Gläubigern Sebastian Kötzlers und Hans von der Kettens gefangen gesetzt. Für diese Inhaftierung machte er Schadenersatzforderungen geltend, die schließlich zu dem Reichskammergerichtsprozess führten, der im Zentrum dieses Beitrags steht. Der Prozess zwischen Leonhard Winkler und Sebastian Kötzler erlaubt es nicht nur, in Verbindung mit Antwerpener und Sevillaner Notariatsdokumenten Grundzüge dieses Handelsunternehmens deutscher Kaufleute zu rekonstruieren, sondern er gewährt auch Einblicke in die Argumentationsmuster von Kaufleuten vor Gericht. Beide Seiten verfolgten eine Strategie 59 Stadtarchiv Nürnberg, GSI 152 (Genannte des Größeren Rats). <?page no="352"?> Praktiken deutscher Kaufleute im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen um 1540 353 der Distinktion und Diffamierung: während sie sich selbst als ehrbare und vermögende Kaufleute darstellten, diffamierte Kötzler Winkler als armen Handwerker, Winkler seinen Kontrahenten als Bankrotteur. In den Auseinandersetzungen spielten auch das Vertrauen zwischen Geschäftspartnern sowie der Vorwurf „geschwinder Praktiken“ eine zentrale Rolle. Die Parteien in diesen Konflikten rekurrierten also auf Grundwerte der Ständegesellschaft ebenso wie auf fundamentale Normen kaufmännischen Handelns. Mit ihrem Reden über „Praktiken“ adaptierten sie geläufige Diskurse aus dem Bereich der Politik und Diplomatie und machten sie für ihre eigenen Interessen nutzbar. <?page no="354"?> Netzwerke des Handels und der Macht. Die Finanzierung des Kriegs und die Direktoren der Ostindienkompanie im Amsterdam des 17. Jahrhunderts Marjolein ’t Hart „En Hollande l’intérêt de l’État sur le fait du commerce fait celui du particulier, ils marchent d’un même pas.“ 1 So zitierte Fernand Braudel die Sicht eines Franzosen auf die frühneuzeitlichen Niederlande. Der Satz ist typisch für den Eindruck, den Ausländer von der Republik gewannen. Auch in der neueren und weniger neuen Historiographie finden sich solche Ansichten. 2 Tatsächlich hatten die Kaufleute Hollands einen gewichtigen Einfluss auf das politische Leben, und am augenfälligsten ist das enorme Gewicht und die Macht der Niederländischen Ostindischen Kompanie. 1602 mit Anlegerkapital aus dem Verkauf von Aktien gegründet, beherrschte diese erste Gesellschaft mit beschränkter Haftung der Welt bald den Fernhandel zwischen Europa und Asien. 3 Innerhalb der Republik war die Kompanie darüber hinaus fest in das die Städte verbindende politische System integriert, wodurch sie ihre hochprofitablen Privilegien und das Monopol über den niederländisch-ostasiatischen Handel bis zum Ende des 18. Jahrhunderts aufrechterhalten konnte. Doch „Staatsinteresse“ und „Privatinteresse“ gingen nicht von selbst Hand in Hand. Sicherlich nicht alle niederländischen Kaufleute erfreuten sich einer staatlichen Hilfestellung, wie sie die Ostindienkompanie erfuhr. Als Beispiel sei auf die instabile Position der Kaufleute in der Westindischen Kompanie verwiesen. 4 Es mussten noch andere Faktoren hinzutreten, wie etwa militärisch-strategische Überlegungen, die Möglichkeiten der Überwachung und Steuerung, gute Erfahrungen und Erfolge in der Vergangenheit und die Dominanz bestimmter politischer Gruppen - mit einem Wort: Es 1 „In Holland begegnen sich auf dem Handelssektor Staats- und Privatinteresse, sie gehen Hand in Hand.“ F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, 3 Bde., München 1986, 222. Der Beitrag wurde von Christian Rödel, Mark Häberlein, und Christof Jeggle aus dem Englischen übersetzt. 2 Vgl. unter anderen E RNST B AASCH , Holländische Wirtschaftsgeschichte, Jena 1927, 353; I MMANUEL W ALLERSTEIN , The Modern World-System II. Mercantilism and the Consolidation of the European World-economy (1650-1750), New York u. a. 1980, 50f., G EOFFREY V. S CAMMELL , The World Encompassed. The first European maritime empires c. 800-1650, London 1981, 403f. 3 N IELS S TEENSGAARD , The Dutch East India Company as an Institutional Innovation, in: Dutch Capitalism and World Capitalism, M AURICE A YMARD (Hrsg.), Cambridge 1982, 235-257. 4 H ENK DEN H EIJER , Goud, ivoor en slaven. Scheepvaart en handel van de Tweede Westindische Compagnie op Afrika, 1674-1740, Zutphen 1997, 23. <?page no="355"?> Marjolein ’t Hart 356 musste gegenseitiges „Vertrauen“ gegeben sein. 5 Dieses Vertrauen wird typischerweise von Netzwerken gestützt, insbesondere solchen, die Einzelpersonen mit übergeordneten Institutionen von Staat und Gesellschaft verbinden. Netzwerke haben allerdings nicht nur verbindende Funktion; im gleichen Maße, wie sie ihre Mitglieder zusammen führten, schließen sie gleichzeitig andere aus. Dieser Aufsatz betrachtet die Herausbildung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem niederländischen Staat und der Ostindienkompanie und seine Aufrechterhaltung durch das System. Die Analyse konzentriert sich auf die Bücher eines mächtigen Beamten der Finanzverwaltung: des Amsterdamer Steuereinnehmers Johannes Uijttenbogaert (1608-1680). Uijttenbogaert war gleichzeitig als Staatsbankier tätig, unter anderem durch die Auflage von Anleihen, die der Kriegsfinanzierung dienten. In welchem Ausmaß investierten die einzelnen Direktoren der Niederländischen Ostindienkompanie in diese Papiere? Wie verstärkten diese Geschäfte die bestehenden Verbindungen zwischen der niederländischen Republik und dieser mächtigen Gruppe von Kaufleuten? Welche institutionellen Arrangements stützten das gegenseitige Vertrauen? Zunächst skizziert dieser Beitrag die Entwicklung der Niederländischen Ostindienkompanie, insbesondere die Organisation der Kammer von Amsterdam. Darauf folgen die Entwicklung der Staatsanleihen in der Republik und die Besonderheiten des Amsterdamer Steuereinnehmeramtes. Sodann werden die Investitionen der Direktoren in Staatsanleihen analysiert, vor allem für den Zeitraum 1665-1675, eine Zeit der Kriege und Notlagen für die Republik. Schließlich werden die Ergebnisse in einen größeren vergleichenden Zusammenhang gestellt. Die finanziellen Netzwerke waren wichtige Stützen sowohl eines Systems der öffentlichen Kreditaufnahme, das seiner Zeit weit voraus war, als auch gleichzeitig eines eher altmodischen oligarchischen Staatswesens. 1. Die Niederländische Ostindienkompanie Die Vereenigde Oost-Indische Compagnie (VOC) entstand 1602. Zuvor hatten die enormen Profite aus dem Ostindienhandel eine so erbarmungslose Konkurrenz unter niederländischen Unternehmern entfesselt, dass der Handel insgesamt dadurch beeinträchtigt wurde. Nachdem private Kaufleute versucht hatten, ihre verschiedenen Geschäfte in Ostindien stärker miteinander zu koordinieren, ergriff man seitens des niederländischen Staates die 5 B ARBARA A. M ISZTAL , Trust in Modern Societies, Cambridge 1996; F RANCIS F UKUYAMA , Trust. The Social Virtues and the Creation of Prosperity, London 1995. <?page no="356"?> Netzwerke des Handels und der Macht 357 Gelegenheit, eine einzige Gesellschaft mit einem Monopol auf den Handel mit Ostasien zu errichten. In der Konzession für das Monopol wurden an die VOC auch die Souveränitätsrechte für die Überseegebiete delegiert - die Kompanie konnte Festungen errichten, Soldaten anwerben und erhielt das Recht zur Kriegserklärung und zum Abschluss von Friedensverträgen. Über Aktien war das Anfangskapital aufgebracht worden. Die Geschäftsleitung selbst wurde sechzig Direktoren übertragen, eingeteilt in sechs Kammern, die ihren Sitz in je einer größeren Stadt hatten. Dreimal im Jahr kamen Delegierte der sechs Kammern im Direktorium der Heeren Zeventien zusammen, das die Richtungsentscheidungen für die Politik der Kompanie traf. Die föderale Organisation der VOC brachte deutlich die Bedeutung der Städte in der politisch-ökonomischen Struktur der Republik zum Ausdruck. 6 Anfangs tat sich die Kompanie schwer, auf eine Dividende mussten die Aktionäre bis 1610 warten. Die Regierung musste einspringen: 1609 war das erste in einer Reihe von Jahren, in denen die Generalstaaten die VOC subventionierten. Doch in den 1620er Jahren stellten sich bald große Erfolge ein. Im Fernen Osten übernahm sie nach und nach die früheren portugiesischen und spanischen Handelsimperien. Das Fundament der überseeischen Macht der Niederländer war dabei der Aufbau eines permanenten Handelskapitals in Asien selbst. Statt wie die meisten ihrer europäischen Konkurrenten alle Einnahmen in die patria zu transferieren, gestatteten die Direktoren, dass substantielle Mittel in den Region verblieben. Außerdem gelang es den Niederländern, asiatischen Seehändlern den größten Teil des regionalen Handels aus der Hand zu nehmen. Das Ergebnis war eine Kette starker Handelsposten mit dem Schwerpunkt um Batavia (heute Djakarta) auf Java. 7 Innerhalb der föderalen Ordnung der Kompanie dominierte die Kammer von Amsterdam. Sie brachte den Hauptanteil des Kapitals auf und regulierte einen Großteil des Handels und der Schifffahrt. 1602 hatten nicht weniger als 1.143 Personen Anteile an der Gesellschaft erworben, deren Wert zwischen 50 und 85.000 fl. betragen konnte. 1612 waren davon nur noch 830 übrig, weil die kleineren Anteile oft von den größeren Aktionären aufgekauft wurden. Die zögerlichen Anfänge der VOC und das Fehlen eines Vertriebsnetzes zum Verkauf der Dividenden, die manchmal in Handelswaren ausbezahlt wurden (Muskatblüte, Muskatnuss und Pfeffer), hatten klei- 6 M ARJOLEIN ’ T H ART , The Dutch Republic: the Urban Impact upon Politics, in: A Miracle Mirrored. The Dutch Republic in European Perspective, K AREL D AVIDS / J AN L UCASSEN (Hrsg.), Cambridge 1995, 57-98. 7 F EMME S. G AASTRA , De Geschiedenis van de VOC, Zutphen 2002, 40; in deutscher Sprache gekürzt erschienen als D IES ., Die Vereinigte Ostindische Compagnie der Niederlande - ein Abriß ihrer Geschichte, in: Kaufleute als Kolonialherren: Die Handelswelt der Niederländer vom Kap der Guten Hoffnung bis Nagasaki 1600-1800, E BERHARD S CHMITT / T HOMAS S CHLEICH / T HOMAS B ECK (Hrsg.), Bamberg 1988, 1-90. <?page no="357"?> Marjolein ’t Hart 358 nere Investoren abgeschreckt. Direktor konnte nur werden, wer zu den größten Anteilseignern mit einem Aktienpaket von mindestens 6.000 fl. zählte. Die Kammer von Amsterdam hatte 20 Direktoren. Die Ernennung auf diese äußerst erstrebenswerte Position wurde von den städtischen Bürgermeistern vorgenommen. Unter der ersten Charter, die von 1602-1622 in Kraft war, hatten die Direktoren Anspruch auf ein Prozent der für die Ausrüstung der Schiffe notwendigen Summe und auf ein Prozent der Erlöse aus den Retourflotten. 1623 wurde dies auf ein Prozent der Retourschiffe herabgesetzt, und ab 1647 erhielten die Direktoren ein Fixgehalt von 3.100 fl., das entsprach etwa dem, worauf die höchsten Amtsträger der Republik Anspruch hatten. Beeindruckend war die Anzahl der Beschäftigten, die bei der VOC-Kammer von Amsterdam beschäftigt waren: etwa 40 in der Verwaltungszentrale, zwischen 1.000 und 2.000 in den Arsenalen, Reeperbahnen und Werften. 8 In den Überseekontoren und an Bord der Schiffe lag die Zahl bei ungefähr 20.000. 9 Zwischen der Amsterdamer VOC-Kammer und dem Stadtregiment bestanden enge Verbindungen. Zahlreiche Großaktionäre saßen im Stadtrat, einige waren sogar Bürgermeister. Schlüsselpositionen nahmen jene Direktoren ein, die über einen bestimmten Hintergrund in der Finanzwelt verfügten, vor allem in der Amsterdamer Wechselbank. Trotz des großen Erfolges der VOC wurden mitunter kurzfristig flüssige Mittel benötigt, für die die Kompanie entweder Anleihen mit kurzer Laufzeit (obligaties) auflegte, die an Privatpersonen verkauft wurden, oder sie nahm Kredite bei typischen städtischen Institutionen wie der Wechselbank auf. Umgekehrt nahm das Stadtregiment gelegentlich auch kurzfristige Kredite bei der VOC auf, so etwa 1672. Darüber hinaus investierten VOC-Direktoren in Staatsanleihen. Doch bevor diese Finanzbeziehungen näher betrachtet werden können, ist ein Überblick über das niederländische Anleihewesen notwendig. 2. Die Staatsschuld der Republik der Niederlande Der lange Krieg mit dem habsburgischen Spanien, der seit den 1570er Jahren andauerte, war eine äußerst kostspielige Angelegenheit. 10 Doch die junge Republik zeigte ein bemerkenswertes Durchhaltevermögen, das von einer expandierenden Wirtschaft und einer umsichtigen Verwaltung der Staatsschuld mitgetragen wurde. Vor allem die Finanzkraft der Provinz Holland 8 Das Arsenal der VOC war damals das größte Gebäude Amsterdams. J AN W AGENAAR , Amsterdam in zyne opkomst, aanwas, geschiedenissen […]. Bd. II, Amsterdam 1765, 84. 9 G AASTRA , Geschiedenis (wie Anm. 7), 25f., 32-35, 82, 85, 163; W ILLEKE J EENINGA , Het Oostindisch huis en het Sint Jorishof te Amsterdam, Zwolle 1995. 10 M ARJOLEIN ’ T H ART , The Making of a Bourgeois State. War, Politics and Finance during the Dutch Revolt (1620-1650), Manchester 1993, 60f. <?page no="358"?> Netzwerke des Handels und der Macht 359 war außergewöhnlich. Die Regierung der Provinz konnte auf der Tradition der bereits im 16. Jahrhundert erfolgten „finanziellen Revolution“ aufbauen, in der ein freier Markt für öffentliche Anleihen der Provinz entstanden war, die durch neue, von der Provinz erhobene Verbrauchssteuern (Akzisen), gedeckt waren. 11 Das Vertrauen in diese Anleihen war groß, was sich in einer Senkung der allgemeinen Zinssätze niederschlug. Diese sinkenden Zinssätze bei insgesamt steigendem Anlagevolumen (siehe Tabelle 1) waren ein wichtiges Charakteristikum der Niederlande im 17. Jahrhundert. Tabelle 1: Verschuldung der Provinz Holland (gerundet) und Zinssätze 1632-1720 12 Jahr Volumen (Gulden) Verzinsung 1632 056.000.000 6,25 % 1647 125.000.000 0,05 % 1667 132.000.000 0,04 % 1720 307.000.000 0,03 % Quelle: E DUARD H UBERT M ARIE D ORMANS , Het tekort. Staatsschuld in de tijd der Republiek, Amsterdam 1991, 47, 81. Die Anleihen wurden von den Steuereinnehmern in den verschiedenen Bezirken der Provinz aufgelegt. Jedem Bezirkseinnehmer wurde ein bestimmter Anteil der insgesamt benötigten Summe zugeteilt. Als Sicherheit für die Anleihezinsen dienten die regelmäßigen Einnahmen aus den vielerlei Steuern, vor allem den Akzisen. Diese Aufschläge auf Verbrauchs- und Handelsgüter brachten in einer städtisch-kommerziell geprägten Umgebung große Einnahmen. Die Steuern waren zum großen Teil an örtliche und regionale Steuerpächter vergeben, deren Pacht im Normalfall über ein halbes oder ein ganzes Jahr lief. Die Steuerpacht wurde öffentlich von der örtlichen Regierung verkauft, wobei Delegierte der Provinz assistierten, um die größtmöglichen Einnahmen zu erzielen. Nach dem Friedensschluss von 1648 wurde die Republik von neuen Kriegen heimgesucht, deren Kosten wiederum neue Einnahmen nötig machten. Die Zuverlässigkeit der niederländischen Steuereinnahmen bildete die Basis für die Auflage neuer Anleihen, und man trat mit immer neuen Forderungen an die Steuereinnehmer der Provinz heran. 1683 sah die Verteilung der von den holländischen Einnehmern aufgenommenen Anleihen wie folgt aus: 11 J AMES D. T RACY , A Financial Revolution in the Habsburg Netherlands. Renten and Renteniers in the County of Holland, 1515-1565, Berkeley 1985, 110; W ANTJE F RITSCHY , A ‚Financial Revolution’ Reconsidered: Public Finance in Holland during the Dutch Revolt 1568-1648, in: The Economic History Review, Second Series 56 (2003), 57-89. 12 Die Zinsangaben beziehen sich auf rückzahlbare Renten und Obligationen, für die die Zinsen gleich waren. Die Zinsen für Leibrenten betrugen normalerweise das Doppelte. <?page no="359"?> Marjolein ’t Hart 360 Tabelle 2: Verteilung der Anleihen zwischen den Bezirkseinnehmern und dem Generalsteuereinnehmer von Holland (1683) Bezirk Anteil in Prozent Dordrecht 007,2 Haarlem 008,4 Delft 011,5 Leiden 009,3 Amsterdam 022,3 Gouda 004,9 Rotterdam 006,3 Gorinchem 001,7 Brielle 001,9 Generalsteuereinnehmer, Den Haag 026,5 Südholland 13 insgesamt 100,0 Quelle: Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie Holland 3.01.29, inv. no. 853 Der Generaleinnehmer von Holland mit Sitz in Den Haag hatte die meisten Mittel aufzubringen. Danach kam der Amsterdamer Steuereinnehmer mit 22 Prozent der Anleihen. Ob es diesen Staatsbankiers gelang, ihre Quoten zu erfüllen oder nicht, hing von der lokalen Wirtschaft und den Netzwerken und der Kreditwürdigkeit des jeweiligen Steuereinnehmers ab. Amsterdam fiel wiederholt als diejenige Ausgabestelle in Holland auf, die am wenigsten Schwierigkeiten hatte, Zeichner für ihre Anleihen zu finden. 14 Alles in allem hatten die Steuereinnehmer relativ freie Hand bei der Beschaffung der Kredite. Es gab im Allgemeinen drei Arten von Staatsanleihen: rückzahlbare Rentenanleihen (losrenten), Leibrenten (lijfrenten) und Obligationen (obligaties, penningen op interest). Die rückzahlbaren Rentenanleihen waren Papiere mit langer Laufzeit, die mit der Rückerstattung des eingelegten Kapitals an den Investor abliefen. Leibrenten hatten als Laufzeit die Lebensdauer von einer (oder zwei) Personen; die Zinszahlungen endeten mit dem Tode des Zeichners bzw. bei zwei Personen nachdem beide Zeichner gestorben waren. Für solche Anleihen wurde das Kapital nicht zurückgezahlt. Diese Papiere können im Wesentlichen als mittelfristige Anleihen bezeichnet werden. Obligationen wurden als kurzfristige Anleihen mit einer Laufzeit von nur sechs Monaten verkauft, wurden aber im Regelfall jährlich verlängert, so dass auch sie in der Praxis eine mittlere oder lange Laufzeit 13 Südholland: Holland mit Ausnahme der Region nördlich von Haarlem und Amsterdam; Nordholland: Holland nördlich von Haarlem und Amsterdam. 14 C ORNELIS H OP / N ICOLAAS V IVIEN , Notulen gehouden ter Staten-Vergadering van Holland (1671- 1675), N ICOLAAS J APIKSE (Hrsg.), Amsterdam 1903, 92. <?page no="360"?> Netzwerke des Handels und der Macht 361 hatten. Alle diese Papiere konnten frei weiterveräußert werden, obwohl Obligationen (oft auf „N.N.“ ausgeschrieben) am leichtesten übertragbar waren, da ihre Zinsen dem jeweiligen Überbringer ausgezahlt wurden. Rentenpapiere erforderten einen höheren Verwaltungsaufwand, da sie namentlich ausgestellt waren. Außerdem brauchte man für Leibrenten einen Nachweis, dass der ursprünglich Bezugsberechtigte der Anleihe noch am Leben war. Die Renten standen offensichtlich in der Tradition der wohlbekannten städtischen Kreditinstrumente. Die Städte Hollands hatten rückzahlbare Renten und Leibrenten seit dem 14. Jahrhundert ausgegeben, die mit den regulären Einnahmen aus den städtischen (Bier-)Akzisen gedeckt wurden. Im Falle finanzieller Engpässe hatten die Steuereinnehmer den Zinszahlungen auf diese Renten Vorrang vor allen anderen Zahlungsverpflichtungen einzuräumen. Die von der Provinz aufgelegten Anleihen führten diese Praxis fort und machten sich das Vertrauen in dieses allseits bekannte Kreditgebaren der Städte zunutze. Ein bestimmter Anteil an den Einnahmen der Verbrauchssteuern der Provinz war immer für die Zinszahlungen reserviert. Im Gegensatz dazu waren Obligationen weniger direkt an die Steuereinnahmen gekoppelt. Obwohl auf Verlangen der Provinzregierung verkauft, zählte hier vor allem die persönliche Kreditwürdigkeit und das Vermögen der Steuereinnehmer. Zwar war es ihnen selbstverständlich erlaubt, Steuermittel für die Zinszahlungen heranzuziehen; Steuergelder wurden tatsächlich auch dafür benutzt. Doch mit Rücksicht auf das persönliche Risiko, das der Einnehmer trug, durfte er eine Provision von 0,5 Prozent beanspruchen, die ein sehr gutes Einkommen erbrachte. 15 Während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überstieg die Zahl der als Obligationen verkauften Anleihen schließlich die der traditionelleren Anlageformen: Tabelle 3: Verteilung der Anleihearten aller Ausgabestellen in Südholland (1683) Art der Anleihe Alle Ausgabestellen Ausgabestelle Amsterdam Rückzahlbare Renten 022,3 % 004,9 % Leibrenten 013,0 % 011,1 % Obligationen 064,7 % 084,0 % Gesamt 100,0 % 100,0 % n= (Gulden) 5.420.444 1.210.403 Quelle: Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie Holland 3.01.29, inv. no. 853. 15 D IRK H OUTZAGER , Hollands lijfen losrenteleningen vóór 1672, Schiedam 1950, 53. Zu den Leibrenten in Holland: J AMES C. R ILEY , Life Annuity-based Loans on the Amsterdam Capital Market toward the End of the Eighteenth Century, in: Economisch en Sociaal-Historisch Jaarboek 36 (1973), 102-130. <?page no="361"?> Marjolein ’t Hart 362 Die Art der ausgegebenen Anleihen unterschied sich zwischen den einzelnen Bezirken erheblich: Im Vergleich verwaltete der Einnehmer von Amsterdam mit 84 Prozent die meisten Obligationen. Die rückzahlbaren losrenten waren hingegen unter anderem in den traditioneller orientierten Ausgabestellen Rotterdam und Gouda am beliebtesten. Offensichtlich hatten nicht alle Städte so viel Gelegenheit zum Verkauf von Obligationen wie Amsterdam mit seinen starken Finanzinstitutionen. Die verschiedenen Anlageformen zogen auch unterschiedliche Investoren an. Für einige bedeutete die rückzahlbare Anleihe einen höheren Grad an Sicherheit. Für andere war die leichte Übertragbarkeit der Obligationen von größerer Bedeutung. Außerdem wurden Obligationen niedriger besteuert. Aus diesem Grund bevorzugte die holländische Regierung die Ausgabe von rückzahlbaren Anleihen gegenüber Obligationen, doch kamen über die Rentenanleihen allein nicht genügend Mittel herein. 16 Neben den holländischen Steuereinnehmern waren auch andere halböffentliche Staatsbankiers am Geschäft mit Renten und Obligationen mit dem Ziel beteiligt, Gelder (vor allem) für den Krieg bereitzustellen, unter anderem die Einnehmer der anderen Provinzen und die Generaleinnehmer der Admiralitäten. Zusätzlich gab die Stadt Amsterdam eigene Anleihen heraus. 17 Auf dem privaten Sektor verkauften die Ostindienkompanie und die Westindienkompanie gelegentlich Anleihen. 18 Die häufigere Art für große und kleine Reedereien, sich Kapital zu verschaffen, war jedoch die so genannte parten-rederij, bei der eine Anzahl von Investoren eine einzelne Fahrt eines bestimmten Schiffes finanzierte. Andere Investitionsmöglichkeiten waren Häuser und Land, die einen sicheren, wenn auch eher niedrigen jährlichen Zins von drei Prozent abwarfen. Kurzlebige Kompanien für bestimmte Projekte (Drainage, Torfgewinnung) waren oft lohnender, allerdings auch riskanter. 19 In diesem gesamten Bereich der mittel- und langfristigen Anleihen galten die von den holländischen Steuereinnehmern verkauften als die sichersten Investitionen mit vernünftigen Zinssätzen. Unter den wohlhabenden Bürgern der Niederlande waren sie sehr begehrt und auch weniger Betuchte, die etwas Geld zum Investieren übrig hatten (beispielsweise aus einer 16 H OUTZAGER , Hollands lijfen losrenteleningen (wie Anm. 15), 103. 17 M ARTIJN VAN DER B URG / M ARJOLEIN ’ T H ART , Renteniers and the Recovery of Amsterdam’s Credit (1578-1605), in: Urban Public Debts. Urban Government and the Market for Annuities in Western Europe (14 th -18 th Centuries), M ARC B OONE / K AREL D AVIDS / P AUL J ANSSENS (Hrsg.), Turnhout 2003, 197-218. Zu den niederländischen Admiralitäten vgl. J AAP R. B RUIJN , The Dutch Navy of the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Columbia, S.C. 1993. 18 O SCAR G ELDERBLOM / J OOST J ONKER , Completing a Financial Revolution: The Finance of the Dutch East India Trade and the Rise of the Amsterdam Capital Market, 1595-1612 in: Journal of Economic History 64 (2004), 641-672. 19 J AN DE V RIES / A D VAN DER W OUDE , The First Modern Economy. Success, Failure, and Perseverance of the Dutch Economy, 1500-1815, Cambridge 1997, 202. <?page no="362"?> Netzwerke des Handels und der Macht 363 Erbschaft), nutzten die Vorteile regelmäßiger Zinseinkünfte von öffentlichen Amtsträgern. 20 3. Der Steuereinnehmer von Amsterdam und seine Anleihen Das Amt des Amsterdamer Steuereinnehmers gab es seit 1578, nachdem Amsterdam sich der Revolte der Vereinigten Provinzen angeschlossen hatte. Die für die im Folgenden betrachtete Buchführung verantwortliche Person war Johannes Uijttenbogaert (1608-1680). Wie üblich wurde er 1638 auf Vorschlag der örtlichen Bürgermeister von der Provinz ernannt. 21 1642 heiratete er Lucretia van Hoorn, die Tochter eines Weinhändlers, und kaufte ein Haus an der vornehmen Herengracht, das seinen sozialen Status nach außen repräsentierte. 22 Durch Heirat und Abstammung war Johannes Uijttenbogaert mit einigen der mächtigsten Familien Amsterdams verwandt. Seine eigene Familie hatte eine Anzahl Bürgermeister vorzuweisen: Seine Mutter Maria Reael war eine Tochter des Bürgermeisters Johan Pietersz Reael; seine Frau Lucretia van Hoorn war eine Schwester des Bürgermeisters Simon van Hoorn; seine Schwester, Hillegond Uijttenbogaert war mit Bürgermeister Albert Dircksz Pater verheiratet; und das sind nur die Verbindungen des engsten Umfelds. Auch in der Welt der Finanzverwaltung der Provinz war er aufgrund seiner Herkunft beileibe kein Neuling: Sein Vater Augustijn Uijttenbogaert war Schreiber (commies) im Büro Johann Pietersz Reaels gewesen, des Amsterdamer Bezirkssteuereinnehmers von 1581 bis 1621. Als Kind lebte Johannes Uijttenbogaert im selben Haus wie sein Amtsvorgänger Johann Pietersz Reael, bevor er mit zehn Jahren das Internat besuchte: sein Vater Augustijn war mit in das Haus seines Schwiegervaters gezogen. Johannes’ Großvater Frans Bogaert (1555-1602), der sich nach dem Namen seines eigenen Urgroßvaters in Uijttenbogaert umbenannt hatte, war cameraar, Stadtkämme- 20 S IR W ILLIAM T EMPLE , Observations upon the United Provinces of the Netherlands [1673], G EORGE C LARK (Hrsg.), Oxford 1972, 130. 21 H ANS B ONTEMANTEL , De regeeringe van Amsterdam soo in’t civiel als crimineel en militair, G ER- HARD W ILLEM K ERNKAMP (Hrsg.), 2 Bde., Den Haag 1897, Bd. I, 124. Die vier Bürgermeister von Amsterdam wurden jährlich vom „Alten Rat“, dem Gremium der ehemaligen und amtierenden Bürgermeister und Richter (schepenen) gewählt. Die mächtigsten Politiker konnten das Amt mehrmals erlangen. Der Rat war in seiner Wahl vollständig souverän, nur in Zeiten schwerer Krisen konnte sie von außen beeinflusst werden (1618, 1672). 22 J OHAN E. E LIAS , De vroedschap van Amsterdam 1578-1795, 2 Bde., Amsterdam 1963, Bd. 1, 447- 449; Vier eeuwen Herengracht: geveltekeningen van alle huizen aan de gracht […], I SABELLA H. VAN E EGHEN (Hrsg.), Amsterdam 1976, Nr. 108. Ihm gehörte auch das Haus In ’t Witte Paert an der Herengracht, das er aber nicht bewohnte. Des weiteren war er Hauptmann und Leutnant der Miliz in seinem Wohnbezirk. Sein Gehalt betrug 3.300 fl.; R UUD L IESKER / W ANTJE F RITSCHY , Gewestelijke financiën ten tijde van de Republiek der Verenigde Nederlanden, Bd. 4, Holland 1572-1795, Den Haag 2004, 47. <?page no="363"?> Marjolein ’t Hart 364 rer, von Utrecht gewesen. Sein Neffe, ein weiterer Frans Uijttenbogaert (1606-1661), war Generaleinnehmer der Provinz Utrecht. 23 Über seine Mutter Maria Reael war Uijttenbogaert daher eng mit den Amsterdamer Bezirkssteuereinnehmern verwandt. Die folgende Tabelle zeigt die Amtsinhaber seit dem Beginn der Republik: Tabelle 4: Steuereinnehmer von Holland, Bezirk Amsterdam, 1578-1696 Name Verwandtschaft mit Vorgänger Amtszeit I. Reynier Simonsz Van Neck († 1581) 1578-1581 II. Johan Pietersz Reael (1543-1621) Schwiegersohn Reyniers (I) 1581-1621 III. Pieter Reael (1569-1643) Sohn Johans (II) 1621-1638 IV. Johannes Uijttenbogaert (1608-1680) Neffe Pieters (III); Enkel Johans (II) 1638-1676 V. David le Wilhelm (1628-1707) Seine Frau war die Cousine von Pieter (III) und Johannes (IV) 1676-1695 Der erste Steuereinnehmer, Reynier van Neck, gehörte einer bekannten Kaufmannsfamilie im Amsterdam des 16. Jahrhunderts an. Während der Herrschaft Albas war er aus dem Land geflohen, und seine Verbindungen zur neuen republikanischen Regierung waren exzellent: 1581 wurde er zum Bürgermeister gewählt. 24 Seine Tochter, Hillegond Reyniersdr van Neck, hatte Johan Pietersz Reael geheiratet, der nach dem Tod seines Schwiegervaters 1581 neuer Steuereinnehmer werden sollte. Dieser Johan Reael hatte seinerseits exzellente Beziehungen zum Stadtregiment von Amsterdam: er war sogar selbst zweimal Bürgermeister. 25 Sein Sohn Pieter Reael, ein bedeutender Kaufmann, wurde 1621 sein Nachfolger. Pieter heiratete Weyntge Oetgens, eine Tochter Frans Oetgens’, eines der mächtigsten Bürgermeister, die Amsterdam je hatte. 26 1638 schließlich wurde Johannes Uijttenbogaert der Nachfolger seines Onkels Pieter Reael. Nach dem Rücktritt Johannes’ 1676 wurde ein Steuereinnehmer, der nicht ganz so eng mit seinem Vorgänger verwandt war, ernannt: David le 23 Nach dem Stammbaum in: H ENDRIK C ORNELIS R OGGE , Brieven en onuitgegeven stukken van Johannes Wtenbogaert, 3 Bde., Utrecht 1868, Bd. 1, Anhang. 24 E LIAS , Vroedschap (wie Anm. 22), Bd. 1, 28. 25 E LIAS , Vroedschap (wie Anm. 22), Bd. 1, 260. Zu Laurens Jacobsz Reael, dem Schwager Johan Reaels, vgl. J OH . C. B REEN , Laurens Jacobsz Reael, in: Bijdragen tot de Vaderlandse Geschiedenis en Oudheidkunde, Reeks 3, Bd. 10 (1897), 69-124. Laurens Jacobsz war unter anderem Rekenmeester Amsterdams und Einnehmer der Capitale lening von 1599. 26 E LIAS , Vroedschap (wie Anm. 22), Bd. 1, 102, 260. Pieters jüngerer Bruder Reynier Reael sollte eine Schwester von Weyntge Oetgens, Maria, heiraten, was auf ein extrem enges Band zwischen den Familien Oetgens und Reael hindeutet, ebd., 262. <?page no="364"?> Netzwerke des Handels und der Macht 365 (oder „de“) Wilhelm. Doch auch er hatte private Verbindungen: Davids Frau Hillegond van Beuningen war eine Cousine von Johannes; in ihrer Jugend hatten die beiden zudem Tür an Tür gewohnt. 27 Durch seine frühere Stellung als Kämmerer Extraordinär der Amsterdamer Regierung und später als Kommissar der Bank van Leening (des örtlichen Leihhauses) war David mit der Geld- und Finanzwelt wohlvertraut. Außerdem kam Davids Frau Hillegond aus einer Familie, die einige mächtige Amsterdamer Bürgermeister hervorgebracht hatte. Es war der Einfluss ihres Bruders Coenraad van Beuningen, des vielfachen Bürgermeisters von Amsterdam und eines der mächtigsten Politiker der niederländischen Republik, der David le Wilhelm in das Amt des Steuereinnehmers brachte. 28 Zweifellos fielen diese familiären Verbindungen ebenso wie gute Beziehungen zur Amsterdamer Regierung bei der Ernennung zum Bezirkseinnehmer ins Gewicht. Selbstverständlich war auch das Vermögen ein wichtiger Faktor. Der Einnehmer Reynier van Neck hatte seines als Kaufmann erworben. Johan Reael war vermutlich Getreidehändler und hinterließ seiner Witwe die beträchtliche Summe von 170.000 fl. Pieter Reael war eine der reichsten Personen der Stadt (er wurde 1631 für die Vermögenssteuer auf 130.000 fl. veranlagt) und tätigte Handelsgeschäfte unter dem Firmennamen Pieter Jansz Reael. David le Wilhelm verdiente sein Geld im Ochsenhandel. Johannes Uijttenbogaert ist zwar nicht für seine geschäftlichen Verbindungen bekannt, besaß aber bereits in den 1630er Jahren ein beachtliches Vermögen und investierte, wie andere auch, große Summen in Gemälde und Drucke. Johannes hatte auch den Vorteil eines Studiums der Rechte, das allmählich für Posten wie den seinen zur Regel wurde. Sein Nachfolger David hatte ebenfalls einen Juraabschluss. Die Investoren, die Anleihen des Bezirkssteuereinnehmers von Amsterdam gekauft haben, lassen sich anhand der Aufzeichnungen über Zinszahlungen zurückverfolgen. Obligationen wurden normalerweise anonym verkauft, doch die Rentenbücher lieferten recht wertvolle Hinweise. 29 Die detaillierten Informationen über die Uijttenbogaert-Anleihen zwischen 1665 27 E LIAS , Vroedschap (wie Anm. 22), Bd. 2, 603; Kohier van den tweehondertsten penning voor Amsterdam en onderhoorige plaatsen over 1631, J OHANNES G ODEFRIDUS F REDERIKS / P IETER J ACOBUS F REDERIKS (Hrsg.), Amsterdam 1890, 50. Die Verbindungen reichten sogar noch weiter zurück: Coenraads und Hillegonds Großmutter Maritge Geldsack war gleichzeitig die Schwester von Geertruyd Geldsack (1578-1634), der zweiten Frau Augustijn Uijttenbogaerts nach dem Tode Maria Reaels. 28 E LIAS , Vroedschap (wie Anm. 22), Bd. 1, 265, Anm. 1. 29 Bei den rückzahlbaren Renten sind nur die Namen aufgeführt; bei den Obligationen, wenn sie nicht anonym gekauft wurden, ebenfalls. Die Aufzeichungen über die Leibrenten enthalten eine Menge Informationen über die Identität der Anleger: die Namen, aber auch das Alter des Anlegers, wenn die Anleihe auf sein eigenes Leben geschrieben war; sonst waren die Begünstigten oft Verwandte, was wiederum Rückschlüsse auf die Identität zulässt. Die erhaltenen Bücher liegen im Nationalarchiv in Den Haag. <?page no="365"?> Marjolein ’t Hart 366 und 1675 30 wurden mit den von Pieter Reael 1628 und den von Uijttenbogaert 1648-50 aufgelegten verglichen. 31 Im Großen und Ganzen war ein genereller Anstieg des Investitionsvolumens der einzelnen Personen zu verzeichnen: Tabelle 5: Verteilung von Renten und Obligationen, Bezirkssteuereinnehmer von Amsterdam, ausgewählte Jahrgänge 1628 1648/ 50 1665/ 75 Betrag in Gulden Rückzahlbare Renten/ Obligationen Rückzahlbare Renten/ Obligationen Rückzahlbare Renten/ Leibrenten 0 - 500 005,4 005,0 002,6 501 - 1000 032,4 016,8 012,0 1001 - 2000 027,0 025,1 028,7 2001 - 5000 024,3 034,6 033,5 5001 - 10000 008,1 009,5 015,8 10001 und mehr 002,7 0 V 8,9 00 7,5 Gesamt 100,0 100,0 100,0 N= 74 152 348 Quelle: ’ T H ART , Public Loans and Lenders (wie Anm. 31), 129f.; Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie Holland 3.01.29, inv. no. 367 Rentenboeken. Die Nennwerte der einzelnen Papiere stiegen nach und nach. Die Anzahl derjenigen Personen, die weniger als 500 fl. investierten, sank von über fünf auf unter drei Prozent, diejenigen mit mehr als 5.000 fl. stiegen auf über 23 Prozent gegenüber gerade einmal zehn Prozent vorher (vgl. Tabelle 5). 32 4. Analyse der Anleihen 1665-1675 Die Anleihen von 1665-1675, die hier betrachtet werden, brachten der Regierung etwa 1,4 Millionen Gulden von 348 verschiedenen Investoren ein. Fünfmal traten Körperschaften als Investoren auf: die Weeskamer (Waisenkasse), das Burgerweeshuis (Amsterdamer Waisenhaus), die Kirchenvorsteher der Nieuwe-Zijds-Kapelle, das Armenhaus der Oude Zijde und die Amsterdamer Admiralität. Traditionell waren die verschiedenen Waiseneinrichtun- 30 Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie van Holland 3.0.29, Nr. 367 rentenboeken. Diese Bücher wurden 1687 neu strukturiert, so dass die mittlerweile verfallenen Leibrenten herausfielen. NB: Diese Renten waren bereits zwölf bis 22 Jahre gelaufen. 31 M ARJOLEIN ’ T H ART , Public Loans and Lenders in the Seventeenth Century Netherlands, in: Economic and Social History in the Netherlands 1 (1989), 119-140. 32 Der Anstieg muss noch höher gewesen sein, da Obligationen (in den untersuchten Jahren 1628 und 1648/ 50) tendenziell über größere Summen gezeichnet wurden als Renten. <?page no="366"?> Netzwerke des Handels und der Macht 367 gen, nachdem sie das Vermögen mancher wohlhabender Waisen verwalteten, immer wichtige Investoren in Anleihen. 33 Die Investitionssumme solcher Institutionen war im Normalfall größer als die von Einzelpersonen. Weitere sechzehn Anleihen wurden von Personen gekauft, die zusammen oder im Namen anderer handelten, etwa als Vormünder für Waisen. Unter Ausklammerung solcher kollektiver und institutioneller Anlagen kommen wir auf einen Anteil von 70 Prozent männlicher und 30 Prozent weiblicher Investoren. Männer investierten tendenziell höhere Beträge, wie Tabelle 6 zeigt: Tabelle 6: Einzelheiten zu Anleihen, Bezirkssteuereinnehmer Amsterdam (in Gulden) Investoren Durchschnitt Steuereinnehmer Amsterdam, 1628 gesamt 02300 Steuereinnehmer Amsterdam, 1648/ 50 gesamt 03600 Steuereinnehmer Amsterdam 1665/ 75, gesamt 04000 männliche 04400 weibliche 02600 Sammelinvestitionen, Personen a 03700 Sammelinvestitionen, Institutionen b 14500 Direktoren der VOC 08560 a = hauptsächlich Vormünder b = Waisenhaus etc. Quelle: ’ T H ART , Public Loans and Lenders (wie Anm. 31), 129f.; Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie Holland 3.01.29, inv. no. 367 Rentenboeken. Die Investoren kamen aus unterschiedlichen Milieus. Von Jan de Witt, dem führenden Staatsmann der Republik der Niederlande, ist bekannt, dass er Anleihen kaufte. Der Generaleinnehmer der Admiralität von Amsterdam, Elbert Spiegel, 34 war der größte Einzelinvestor mit 44.950 fl. Aber auch der bekannte Maler Ferdinand Bol fällt unter den Investoren auf. Jannetge Dirxc, vermutlich die Dienstbotin im Hause Huijdekoper, erwarb 1665 eine rückzahlbare Rentenanleihe. 35 33 Zur Rolle der weesmeesters bei der Aufbringung öffentlicher Gelder vgl. auch V AN DER B URG / ’ T H ART , Renteniers and the Recovery of Amsterdam’s Credit (wie Anm. 17); A NNE E. C. M C C ANTS , Civic Charity in a Golden Age. Orphan Care in Early Modern Amsterdam, Urbana / Chicago 1997, 154-159. 34 E LIAS , Vroedschap, (wie Anm. 22), Bd. 1, 401. 35 L UUC K OOIJMANS , Vriendschap en de kunst van het overleven in de zeventiende en de achttiende eeuw, Amsterdam 1997, 145. <?page no="367"?> Marjolein ’t Hart 368 Für diesen Beitrag von besonderem Interesse sind die Anlagen der Direktoren der Amsterdamer Kammer der Ostindienkompanie. Von den Amsterdamer Direktoren haben 10 nachweislich eine Rente der einen oder anderen Art gekauft. Insgesamt kamen sie auf weit überdurchschnittliche Beträge: etwa 8.500 fl. Ihre Namen sind Tabelle 7 zu entnehmen. 36 Tabelle 7: Direktoren der VOC-Kammer von Amsterdam und ihre Investitionen (in Gulden) Name Investition in Renten 1665-1675 Heer Cornelis Backer 12.900 Nicolaas Rochusz van de Capelle 02.800 Heer Pieter de Graaf 12.200 Heer Cornelis Graafland 16.200 Heer Johan Huijdekoper 01.400 Heer Joan Hulft 11.500 Heer Joan Munter 04.200 Heer Nicolaas Pancras 03.000 Heer Lambert Reijnst 05.600 Heer Gillis Valckenier 15.800 Gesamt 85.600 Quelle: Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie Holland 3.01.29, inv. no. 367 Rentenboeken. Die aufgeführten Beträge geben jedoch nicht notwendigerweise alle Investitionen wieder. Die Direktoren können ohne weiteres auch anonyme Obligationen gekauft haben oder vor 1665 bzw. nach 1675 weitere Rentenanleihen erworben haben. 37 Die meisten der in der Tabelle aufgeführten Persönlich- 36 Für Details zu diesen Direktoren vgl. F EMME S IMON G AASTRA , Bewind en beleid bij de VOC: de financiële en commerciële politiek van de bewindhebbers, 1672-1702, Zutphen 1989, 255-258 und die prosopographische Studie von E LIAS , Vroedschap (wie Anm. 22) zu: Cornelis Backer (Bd. 1, 507); Nicolaas van de Capelle (Bd. 1, 514); Pieter de Graaf (Bd. 1, 422); Cornelis Graafland (Bd. 1, 524); Johan Huijdekoper (Bd. 1, 518); Joan Hulft (Bd. 1, 533); Joan Munter (Bd. 2, 626); Nicolaas Pancras (Bd. 1, 467); Lambert Reijnst (Bd. 1, 452); Gillis Valckenier (Bd. 1, 478). Die anderen Direktoren im Zeitraum 1665-1675 waren (einige nur für wenige Jahre): Hendrik Becker (Bd. 2, 561); Daniel Bernard (Bd. 2, 609); Jean le Gouche (Bd. 1, 336); Jeronimus de Haze (Bd. 2, 601); Isaac Hochepied (Bd. 2, 619); Pieter van Loon (Bd. 1, 443); Gerard van Papenbroek (Bd. 1, 267); Jacob Roch (Bd. 1, 407); Hendrik Scholten (Bd. 1, 466); Hendrik Spiegel (Bd. 1, 399); Dirck Tulp (Bd. 1, 349) und Cornelis van Vlooswijck (Bd. 1, 482). Ein Sitz war für einen Haarlemer Direktor reserviert: Cornelius Silvius, und einer für Leiden: Hendrik Brouwer, später Johan Vesanevelt. Der Sekretär der VOC, Pieter van Dam, findet sich in Bd. 1, 206. Einzelheiten zu den Direktoren im Folgenden sind, soweit nicht anders angegeben, diesen Werken entnommen. 37 Desgleichen können jene Direktoren, die in der vorhergehenden Anmerkung, nicht aber in Tab. 7 auftauchen, in ähnlicher Weise Anleihen getätigt haben, ohne sicher nachweisbar zu sein. Nur Direktor Cornelis van Vlooswijck dürfte mit einiger Sicherheit keine Anleihe gekauft haben - von ihm weiß man, dass er (wegen seiner Frau) weit über seine Verhältnisse lebte und sich 1667 in großen finanziellen Schwierigkeiten befand; vgl. B ONTEMANTEL , Regeeringe (wie Anm. 21) Bd. II, 493f.; vgl. auch K OOIJMANS , Vriendschap (wie Anm. 35), 139. <?page no="368"?> Netzwerke des Handels und der Macht 369 keiten trugen den Titel Heer, der ihren hohen Stand verdeutlicht. Nur die Inhaber eines Landgutes durften sich so nennen. Dabei handelte es sich um die einzig mögliche Art der Standeserhöhung in den Niederlanden: Adelstitel wurden in der Republik nicht vergeben. Ein Gut konnte käuflich erworben werden, oft mit dem hervorhebenden Zusatz hofstede, womit gleichzeitig der Titel Heer vergeben wurde. Obwohl Nicolaas van de Capelle in der Tabelle der einzige ohne Titel ist, besaß auch er eine hofstede und stand damit den anderen nicht nach. Pancras und De Graaf kauften nur rückzahlbare Renten, doch die anderen in der Tabelle erwarben auch Leibrenten. Der Direktor Cornelis Graafland investierte von allen am meisten, etwa 16.000 fl., für seine Söhne Cornelis, Pieter, Johannes und Jacobus und seine Töchter Brechje und Brigitta. Zum Zeitpunkt des Geschäfts war Brigitta erst drei Monate alt und die jüngste Begünstigte dieses Samples. Der Sohn Cornelis hingegen war bereits 26 Jahre alt. Auch für das Einkommen seiner vierjährigen Nichte Brigitta trug Graafland Sorge. Dicht gefolgt wurde Graafland von Gillis Valckenier, der 15.800 fl. in Renten investiert hatte. Valckenier war einer der prominentesten politischen Akteure der Zeit und neunmaliger Bürgermeister von Amsterdam. Seine Renten zeichnete er für seine Kinder Wouter, Rebecca, Eva Catharina, Jacoba, Pieter Anna, Clara und Pieter Ranst. Seine Schwägerin Anna Ranst, die unverheiratet war und unter derselben Adresse wohnte, kaufte Renten in der gleichen Höhe wie ihr Schwager: 15.800 fl., ebenfalls für die Kinder der Valckeniers. Heer Cornelis Backer, Sohn eines ehemaligen VOC-Direktors und seit 1659 selbst Direktor, kaufte sieben Leibrenten für 12.900 fl., jede mit einem Zinsertrag von 100 fl. pro Jahr, für seine zwei Söhne und seine Tochter, drei für seine Neffen und eine für seine Nichte. Backer war Mitglied des Stadtrats und Kommissar der Wechselbank. Nicolaas Rochusz van de Capelle, Direktor und Großkaufmann im Ostseeraum, erwarb zwei Renten mit hundert Gulden jährlichem Zinsertrag für seine beiden Töchter. Heer Joan Hulft investierte 11.500 fl. für seine Kinder Jan, Pieter, Johanna und Balichje sowie eine auf zwei Leben verschriebene Anleihe für seinen Neffen und seine Nichte. Heer Joan Munter, Kaufmann und Bürgermeister, kaufte Anleihen im Wert von 4.200 fl. für seine Kinder Dirck, Johannes, Cornelia und Anna. Heer Lambert Reijnst kaufte für 5.600 fl. Renten für seine Kinder Gerrit, Cornelis, Elisabeth und Aartje (Arendina). Heer Huijdekoper scheint der genügsamste Investor gewesen zu sein mit 1.400 fl., in Form einer Leibrente auf Elias und Josephus Coymans. Letztere waren jüngere Brüder seiner Frau und eng mit seinen eigenen Kindern be- <?page no="369"?> Marjolein ’t Hart 370 freundet. 38 Von Huijdekoper ist bekannt, dass er häufig als Patron für seine Familie und Freunde auftrat. Der erste Sekretär der Kompanie, Pieter van Dam (er diente der Amsterdamer VOC über 50 Jahre lang), war ebenfalls unter den Anlegern. Er kaufte eine Anleihe für seine Tochter Adriana. Cornelia Francx, Witwe des verstorbenen Direktors Hendrik Spiegel, 39 investierte 1672 3.400 fl. für ihre Kinder. Ihr Sohn kaufte im gleichen Jahr ebenfalls Anleihen, verschrieben auf sein eigenes Leben und auf das seiner Nichte und seines Neffen. Diese Liste ließe sich fortsetzen: zwei Schwestern von Joan Hulft kauften Renten, ebenso die Schwägerin von Gillis Valckenier usw. Die normale Verzinsung einer Leibrente betrug 100 fl., doch größere (bis zu 250 fl.) und kleinere (25 fl.) Erträge waren möglich. Zinssatz war der „vierzehnte Pfennig“, also 7,14 Prozent, so dass für 100 fl. Zinsen 1.400 fl. Kapital angelegt werden mussten. Wie oben erwähnt, wurden die meisten Leibrenten auf die eigenen Kinder abgeschlossen, nämlich 83 Prozent. Die übrigen 17 Prozent entfielen auf Neffen, Nichten, Cousins und Schwiegerverwandte. Insgesamt wurden Söhne etwas mehr als Töchter begünstigt: 25 Renten wurden für Söhne gekauft, 19 für Töchter, wobei allerdings die für Töchter eingezahlten Summen im Durchschnitt etwas höher waren, so dass auf die gesamten für die eigenen Kinder getätigten Anleihen gerechnet 52 Prozent auf die Söhne entfielen und 48 Prozent auf die Töchter. Tabelle 8: Investitionen von VOC-Direktoren in Leibrenten für die eigenen Kinder und andere Familienmitglieder, aufgeschlüsselt nach Geschlecht, 1665-1675 (in Gulden) Geschlecht Söhne/ Töchter andere Gesamt Männlich 26.600 07.700 34.300 Weiblich 24.500 02.800 27.300 Gesamt 51.100 10.500 61.600 Quelle: Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie Holland 3.01.29, inv. no. 367 Rentenboeken. Zum Zeitpunkt des Abschlusses waren die Jungen durchschnittlich 15 Jahre alt, eine ganze Reihe hatte allerdings auch schon die zwanzig überschritten. Mädchen waren im Mittel jünger, nämlich zehn Jahre alt. Nur eine Tochter war über 20 (21 Jahre). 40 Dadurch liefen die auf Mädchen abgeschlossenen 38 Zu Elias und Josephus Coymans vgl. K OOIJMANS , Vriendschap (wie Anm. 35), 165, 177. 39 E LIAS , Vroedschap (wie Anm. 22), Bd. 1, 400. 40 Französische Leibrenten in der Ära Jacques Neckers wurden vornehmlich auf neunjährige Mädchen aus der Oberschicht abgeschlossen, die im gesunden Klima Genfs wohnten: sie hatten die meisten Kinderkrankheiten überstanden und versprachen ein hohes Lebensalter zu erreichen; R ILEY , Lifeannuity Based Loans (wie Anm. 15), 108. <?page no="370"?> Netzwerke des Handels und der Macht 371 Leibrenten länger, nämlich 48 Jahre, während die der Knaben eine durchschnittliche Laufzeit von 45 Jahren erreichten. Was geschah mit den Papieren nach dem Kauf? Der kleinere Teil wurde verkauft, aber die meisten Anleihen blieben in der Obhut der eingetragenen Begünstigten. Obwohl manche Renten erheblich rentabler waren als andere, machte die Zinslast für alle zusammen (mit insgesamt 200.000 fl.) etwa 3,3 Prozent aus. Nimmt man den Umstand dazu, dass das eingelegte Kapital nicht zurückerstattet wurde, ergab sich aus den 200.000 fl. Zinszahlungen für die Leibrenten eine zwar beträchtliche, aber keine horrende Belastung für den Bezirkssteuereinnehmer von Amsterdam. 5. Die Macht der Netzwerke Über die Organisation des öffentlichen Kreditwesens waren also viele Direktoren der VOC dem Staat verpflichtet. Doch diese Beziehung zeigte sich auch in anderen Verbindungen. Die Tatsache, dass einige Direktoren Mitglieder des Stadtrats waren und sogar den Posten eines Bürgermeisters bekleideten, wurde schon erwähnt. Am prominentesten waren in dieser Hinsicht Joan Huijdekoper und Gillis Valckenier. Doch auch im Kreis der Bürgermeister kam nicht jedermann gleichermaßen für ein Amt in Betracht; um den Sitz im VOC-Direktorium zu bekommen, musste Huijdekoper sich der Valckenier-Gruppe anschließen. 41 Politische Macht war bei weitem nicht der einzige Anknüpfungspunkt, und schon gar nicht der sicherste, denn Faktionskämpfe spalteten regelmäßig die Stadtregierungen. So sah der hier betrachtete Zeitraum beispielsweise den Aufstieg und Fall der Valckenier- Gruppe, ihre Ablösung durch die Backer-Faktion und ihren anschließenden Wiederaufstieg. Dennoch bewirkte die Lebenszeitstellung der Direktoren, dass politische Umschwünge nicht unmittelbar auf die Geschäftsführung der VOC durchschlugen. Im hier untersuchten Zeitraum betrug die durchschnittliche Verweildauer im Amt 23 Jahre. Van de Capelle und De Graaf waren 43 Jahre lang Mitglieder des Direktoriums, Joan Munter sogar 47 Jahre. 42 Anhänger verschiedener Parteien waren somit gezwungen, innerhalb der Kompanie zusammenzuarbeiten. Einige VOC-Direktoren waren mit dem Steuereinnehmer Uijttenbogaert bereits über ein anderes Netzwerk verbunden. Von Pancras, Hulft, Munter, Vlooswijk und dem einflussreichen Sekretär Van Dam weiß man, 41 B ONTEMANTEL , Regeeringe (wie Anm. 21), Bd. II, 139. Valckenier war 1672 auch Mitglied der Provinzregierung. 42 G AASTRA , Bewind en beleid (wie Anm. 36), 34. <?page no="371"?> Marjolein ’t Hart 372 dass sie einer bestimmten religiösen Sekte, den Remonstranten, angehörten. 43 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte diese Gruppe begonnen, sich den orthodoxeren Calvinisten zu widersetzen. Die Remonstranten legten mehr Wert auf Frieden als auf Krieg, auf Handel als auf Beute, und schätzten Toleranz höher als Intoleranz. Insgesamt handelte es sich um eine typische Bewegung einer gesellschaftlichen Oberschicht, der viele der wohlhabenderen Kaufleute angehörten oder mit ihr sympathisierten. Johannes Uijttenbogaert selbst war ein sehr exponiertes Mitglied der Remonstranten. 44 Tatsächlich war das Amt des Bezirkssteuereinnehmers von Amsterdam während des größten Teils des 17. Jahrhunderts in der Hand von Remonstranten, sehr zum Vorteil der Republik, da diese Gruppe einen großen Teil der ungebundenen finanziellen Mittel kontrollierte. Verbindungen bestanden auch zwischen der VOC-Kammer und zahlreichen städtischen Einrichtungen. Am bedeutsamsten in dieser Hinsicht war die Amsterdamer Wechselbank, die in der Regel gar keine Kredite vergab, es sei denn an öffentliche Institutionen der Stadt und an die Amsterdamer Kammer der VOC. Eine recht große Zahl von VOC-Direktoren, zehn insgesamt, waren gleichzeitig Commissarissen der Wechselbank. Es gab aber noch weitere Verbindungen. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Beziehungen und veranschaulicht die Doppelrolle der Direktoren. 43 Vermutlich traf das auf weitere Direktoren zu, die den Umstand jedoch besser geheimzuhalten verstanden. G ERHARD W ILLEM K ERNKAMP , Einführung zu Bontemantel, Regeeringe (wie Anm. 21), Bd. I, lxiv-lxv. 44 Wie den meisten Nicht-Calvinisten war auch den Remonstranten die Unterhaltung eines eigenen Kirchenraumes gestattet, solange er nicht von außen als solcher kenntlich war. In der Amsterdamer schuilkerk hing ein Porträt des Steuereinnehmers. Dieser recht auffällige Umstand wies auf seine prominente Position hin. Zur Remonstrantenkirche in Amsterdam und dem Porträt vgl. W AGENAAR , Amsterdam (wie Anm. 8), Bd. II, 189. <?page no="372"?> Netzwerke des Handels und der Macht 373 Abbildung 1: Netzwerke der Direktoren der Amsterdamer VOC-Kammer: Direkte Verbindungen von ca. 1665 bis ca. 1675. Das obige Diagramm zeigt den enormen Einfluss der VOC-Kammer auf die politische Ökonomie Amsterdams. Siebzehn VOC-Direktoren hatten gleichzeitig einen Posten in einer städtischen Einrichtung inne, manche sogar mehrere. Die zehn Direktoren, die direkt in das Kreditwesen der Provinz involviert waren, dominierten auch die anderen Beziehungsgeflechte: über diese zehn liefen 70 Prozent der persönlichen Verbindungen, für die anderen 15 Direktoren bleiben 30 Prozent übrig. In der Realität waren die Beziehungen wohl noch intensiver, da nicht alle Fakten über alle Direktoren bekannt sind. Vor allem die Verbindungen zu anderen Gewerben und der Gemein- Städtische Regierung (7 Bürgermeister und Räte, 7 Räte) Städtische Einrichtungen (10 Wechselbank, 6 Vorsteher der Waisenkasse, 6 Stadtkämmerer, 4 Kommission für Seeangelegenheiten, 3 Kämmerer Extraordinär, 3 Versicherungskammer, 3 Bank van Leening, 2 Einnehmer direkte Steuern, 2 Einnehmer Schifffahrtsabgaben, 1 Städtische Seilerei, 1 Städtische Befestigungen, 1 Städtische Artillerie) Andere Gewerbe und Gemeinschaft der Kaufleute (11 Kaufleute, 2 in der Schwedischen Faktorei 2 Seiler, 2 Ochsenhändler, 2 Versicherer, 2 Direktoren der Kolonie Guyana) Remonstranten (4) 4 Admiralitäten (4 Admiralität von Amsterdam, 1 Admiralität von Nord-Holland) Direktoren VOC-Kammer Amsterdam (25) 10 1 5 14 17 Kreditwesen der Provinz Bezirk Amsterdam (10) Regierung der Provinz (1) Andere Städte in Holland (1 Leiden, 1 Haarlem) 2 15 <?page no="373"?> Marjolein ’t Hart 374 schaft der Kaufleute, zu den Remonstranten und zum Kreditwesen der Provinz müssen stärker gewesen sein, konnten aber nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. 45 Darüberhinaus wurden indirekte Verbindungen nicht mit einbezogen, wie etwa die Witwe eines verstorbenen Direktors, die in Anleihen der Provinz investierte. Bezeichnenderweise waren die Verbindungen mit der Provinzregierung (nur Valckenier) und mit den Admiralitäten außerhalb Amsterdams (nur Reijnst) insgesamt sehr spärlich. Die gegenseitigen Verbindungen der eher städtisch orientierten Direktoren waren viel stärker. Der größte Netzwerker war unzweifelhaft Joan Hulft, auf dessen Konto elf Doppelungen gehen, dicht gefolgt von Nicolaas van de Capelle (9) und Cornelis Graafland (8). In dieses Bild passt, dass die beiden, die Beziehungen zur Provinzregierung und zur Admiralität von Nordholland aufwiesen, Lambert Reijnst und Gillis Valckenier, zu den am wenigsten vernetzten gehörten, mit nur drei bzw. zwei Verbindungen, ihrer gewichtigen Position als Bürgermeister zum Trotz. Darin zeigt sich erneut der überragende Einfluss Amsterdams innerhalb der politischen Ökonomie der Republik. Viele Posten in den städtischen Körperschaften hatten den Vorzug, dass in ihnen finanzieller Sachverstand erworben werden konnte: Außer der Wechselbank sind hier auch die Vorsteher der Waisenkasse (weesmeesteren) zu nennen, die enorme Summen aus den Erbschaften elternloser Amsterdamer investierten, die Amsterdamer Kämmerei, die über den städtischen Haushalt gebot, die Kammer Extraordinär, die für viele der in Amsterdam erhobenen direkten Steuern verantwortlich war, die Bank van Leening (Kreditbank), die mit dem städtischen Pfandgeschäft großen Profit erwirtschaftete, und das sind nur die wichtigsten. Doch auch andere Ämter waren interessant. Die Versicherungskammer und die Kommission für Seeangelegenheiten überwachten Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten über Fragen des Versicherungswesens und des Überseehandels. Einige Ämter, wie die Aufsicht über die städtische Artillerie, die Festungen oder die Admiralität, vermittelten Korrespondenzen im Kriegswesen. Für die Ausrüstung der 45 Sichere Doppelrollen: Bürgermeister (und Stadträte): Munter, Valckenier, Hijdekoper, Reijnst, Pancras, Spiegel, Van Vlooswijk; Stadträte: Hulft, Van de Capelle, Backer, De Graaf, Graafland, Becker, Tulp; Wechselbank: Backer, Becker, Van de Capelle, De Graaf, Huijdekoper, Munter, Reijnst, Tulp, Pancras, Hulft; Stadtkämmerei: Huijdekoper, Pancras, Valckenier, Reijnst, Munter, Spiegel; Kammer Extraordinär: Roch, Van de Capelle, De Haze; Städtische Artillerie: Backer, Graafland; Rekenmeesteren: Van de Capelle, Hulft; Schifffahrt-Sonderabgabe: Van de Capelle, Van Loon; Städtische Seilereien: Graafland; Weesmeesteren: Spiegel, Pancras, Huijdekoper, Tulp, Graafland, Vlooswijk; Stadtbefestigung: Graafland; Provinzregierung: Valckenier; Kommission für Seeangelegenheiten: Backer, De Graaf, Graafland, Huijdekoper; Kommissare der Bank van Leening: Tulp, Hulft, Backer; Kommissare der Assurantiekammer: Tulp, Hulft, Van Loon; Admiralität von Amsterdam: Spiegel, Vlooswijck, Huijdekoper; Admiralität von Nordholland: Reijnst. Hulft und Graafland waren Direktoren der Schwedischen Faktorei, Hulft und Van de Capelle Direktoren der Kolonie Guyana; beide waren auch im Seilerei- und im Versicherungsgeschäft tätig. De Graaf und Pancras handelten mit Ochsen. <?page no="374"?> Netzwerke des Handels und der Macht 375 Schiffe war die städtische Seilerei bedeutsam, aber auch die Mitgliedschaft im Admiralitätskollegium. Einige VOC-Direktoren hatten ihre eigene Reederei und waren als Großkaufleute bekannt, so etwa Graafland, Van de Capelle, Munter, De Haze, Bernard, Le Gouche, Roch, Scholten, Van Papenbroek, Becker und Van Loon. Einige Direktoren betrieben Ochsenmast; ihr Pökelfleisch war als Schiffsproviant von Bedeutung. 46 Und schließlich hatte die (halb-)private Schwedische Faktorei das Monopol auf den Export schwedischer gegossener Geschütze und Feuerwaffen. Alle diese Verbindungen ermöglichten wechselseitige Unterstützung und zahlreiche inoffizielle Absprachen. Munition, Feuerwaffen und Geschütze wurden regelmäßig zwischen der VOC und den städtischen Stellen gehandelt oder ausgetauscht. Geld wurde reibungslos zwischen der Bank van Leening, der Stadtkämmerei und der VOC transferiert. 47 In Krisenzeiten waren diese Verbindungen besonders wertvoll. Alle diese Posten, Beziehungen und Netzwerke ermöglichten es den VOC-Direktoren, in der Welt der Finanzen, des Handels und der Politik sowohl mit Authentizität und Gewicht als auch mit Leichtigkeit zu agieren. 6. Zusammenfassung Alles in allem waren die Netzwerke des öffentlichen Anleihewesens nur Teil jener zahlreichen Beziehungsgeflechte, die zwischen der Regierung von Amsterdam, der Admiralität, den Finanzinstitutionen und der VOC bestanden. Das gegenseitige Vertrauen wurde immer aufs Neue gestärkt. Wenn es nötig war, konnte die VOC sich hilfesuchend an die städtischen Einrichtungen wenden. Im Gegenzug leistete die VOC militärische Hilfe, wie etwa durch die Bereitstellung von Schiffen während des zweiten niederländischenglischen Krieges. 1672, in einem der besten Jahre der Kompanie und einem der bittersten Krisenjahre der Republik, half die VOC dem Staat mit einer „Gratis“-Lieferung von Salpeter (zur Herstellung von Schießpulver) 46 B ONTEMANTEL , Regeeringe (wie Anm. 21), Bd. II, 505. Zu den Schwierigkeiten, die De Graaf mit der Fleischversorgung der VOC-Schiffe hatte, da Interessenkonflikte nicht erlaubt waren und man De Graaf angezeigt hatte, an der Lieferung seiner eigenen Ochsen an die VOC beteiligt gewesen zu sein, vgl. W ILMA G IJSBERS , Kapitale ossen. De internationale handel in slachtvee in Noordwest-Europa (1300-1750), Amsterdam 1999, 251. Über das Schifffahrtsgeschäft im 18. Jahrhundert vgl. die detailreiche Untersuchung von J ERZY G AWRONSKI , De equipage van de Hollandia en de Amsterdam. VOC-bedrijvigheid in 18 de -eeuws Amsterdam, Amsterdam 1996. Zu den Verbindungen der frühen VOC mit anderen Handelssparten vgl. H ANS DEN H AAN , Moedernegotie en grote vaart. Een studie over de expansie van het Hollandse handelskapitaal in de 16 e en 17 e eeuw, Amsterdam 1977. 47 Stadtarchiv Amsterdam, Archief van Burgemeesters: Stadsrekeningen, no. 5014, inv. No. 125: beispielsweise Verkauf von Schusswaffen und Geschützen an die VOC durch die Stadtkämmerei Amsterdam für 12.822 fl. (1667). <?page no="375"?> Marjolein ’t Hart 376 und finanziellen Mitteln in Höhe von zusammen etwa 2,1 Millionen Gulden. 48 Dafür wehrte die Regierung Ansprüche ihrer Anteilseigner an die VOC ab, die auf Zinszahlungen aus ihren eigenen Anleihen bestanden; diese konnte die VOC vorübergehend aussetzen, ohne juristische Konsequenzen befürchten zu müssen. 49 Die Tatsache, dass die Republik sich immer wieder den Anforderungen von Kriegszeiten gewachsen zeigte - sie wurde auch schon als effizienter Kriegs- und Steuerstaat bezeichnet 50 - geht zweifellos zum Teil auf die starke Verbindung mit der VOC zurück. In diesem Gesamtbild muss noch einmal auf die charakteristische Rolle der Staatsschuld der niederländischen Republik hingewiesen werden. Von finanziellen und politischen Überlegungen abgesehen, gestatteten es die Anleihen des Bezirkssteuereinnehmers von Amsterdam den VOC-Direktoren, ein Bedürfnis zu erfüllen, das die anderen Netzwerke nicht befriedigen konnten: Für ihre Lieben zu sorgen und die Kontinuität ihrer Familie für die Zukunft abzusichern. Durch den Kauf einer Rente auf das Leben eines Kindes wurde diesem Kind in Zukunft ein gesichertes Einkommen garantiert und seine Position gefestigt. Knaben erhielten oft am Beginn ihres Studiums oder beim Aufbruch zu ihrer Grand Tour eine Rente. Mädchen waren häufig jünger, doch die Anleihe verbesserte ihre Aussichten auf dem Heiratsmarkt der Oberschicht und gewährte ihnen zumindest ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von ihrem zukünftigen Ehemann. Auf diese Weise vertrug sich das Gemeinwohl sehr gut mit dem Wohl einiger mächtiger Familien. Julia Adams hat dieses Phänomen in einem neueren Buch als charakteristische Eigenschaft eines „familial state“ bezeichnet. 51 Durch den dezentralen Staatsaufbau der Republik hatte das örtliche Patriziat erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der sich herausbildenden öffentlichen Verwaltung in ihrem eigenen Sinne und dem ihrer Familien. So erfolgreich dieses System allerdings im 17. Jahrhundert gewesen war, so wenig erwies sich diese Konstellation im 18. Jahrhundert noch als tragfähig, da mittlerweile der Konkurrenzdruck im militärisch-strategischen Bereich in 48 Dies entsprach etwa einer Dividendenzahlung von 30 Prozent. In diesen außergewöhnlich guten Jahren wurden Dividenden von 40 und 60 Prozent gezahlt. Normalerweise waren die Dividenden bescheidener, vgl. G AASTRA , Bewind en beleid (wie Anm. 36), 96, 114f. Als Ausgleich für die finanzielle Hilfe verlangte die VOC Obligationen, die über die Ausgabestelle Uijttenbogaerts gedeckt wurden. Eine Liste im Nationalarchiv Den Haag, Archief Financie van Holland 3.01.29, inv. No. 276 beziffert die Gesamtsumme dieser Obligationen auf 1.148.015 fl., verteilt auf 723 verschiedene Papiere mit Nennwerten von 645 bis 6.000 Gulden. Offenbar wollte die VOC diese Einzelpapiere für Dividendenzahlungen an ihre Anteilseigner verwenden. 49 G AASTRA , Geschiedenis (wie Anm. 7), 27. 50 J AN G LETE , War and the State in Early Modern Europe. Spain, the Dutch Republic and Sweden as Fiscal-Military States, 1500-1660, London / New York 2002. 51 J ULIA A DAMS , The Familial State. Ruling Families and Merchant Capitalism in Early Modern Europe, Ithaca 2005; D IES .: The Familial State: Elite Family Practices and State-Making in the Early Modern Netherlands, in: Theory and Society 23 (1994), 505-539. <?page no="376"?> Netzwerke des Handels und der Macht 377 Europa selbst und auch in den Überseekolonien neue Dimensionen erreicht hatte. Den neuen Anforderungen erwies sich der dezentrale Staat nun nicht mehr gewachsen. Die damals in Amt und Würden befindlichen Familienoberhäupter arbeiteten weiter mit den vorhandenen Netzwerken, die so gut funktioniert hatten, als es darum ging, sie selbst an ihre jetzige Position zu bringen. Die Zinsen, die für die hoch begehrten Leibrenten anfielen, mussten durch ein Steuersystem aufgebracht werden, das vor allem auf Verbrauchssteuern aufgebaut war und daher die unteren und mittleren Schichten am meisten belastete. Trotz der Einführung neuer Vermögenssteuern trugen die weniger Begüterten einen unverhältnismäßig großen Teil der Steuerlast. 52 Gleichermaßen versäumte es die VOC, durch notwendige Reformen ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber rivalisierenden Mächten zu erhalten. Unter anderem hätte die Kompanie ihre Position wohl durch die Ausgabe neuer Aktien erheblich verbessern können, doch diesen Kurs hatte sie zu keiner Zeit eingeschlagen. Das Grundkapital von 1602 wurde nie erhöht. Neue Aktien hätten freilich die Möglichkeit eröffnet, dass neue Familien in Führungspositionen der VOC gelangen könnten, was nach Auffassung der Direktoren verhindert werden sollte: Sie bevorzugten es, die Ämter innerhalb ihres exklusiven Zirkels zu verteilen. Stattdessen musste die Kompanie immer wieder kurzfristige Obligationen ausgeben, 53 bis sie Ende des 18. Jahrhunderts unter ihrer Schuldenlast zusammenbrach. 1782 musste die Amsterdamer Regierung zur Stützung der VOC einspringen, indem sie einen Kredit über fünf Millionen Gulden gewährte, der wiederum über die Amsterdamer Wechselbank abgewickelt wurde. Um die Mittel für weitere Kredite an die VOC aufzubringen, entschloss sich die holländische Regierung 1789 sogar zu einer extrem unpopulären Maßnahme, nämlich einer Zwangsanleihe. Damit wurde Hollands eigener öffentlicher Kredit, der so lange auf dem System freiwilliger Anleihen beruht hatte, erheblich geschädigt. Zehn Jahre später, während der Revolutionszeit, mussten sowohl die Republik als auch die VOC (deren Schuldenstand sich mittlerweile auf über 219 Millionen Gulden belief) neuen, zentralisierten Institutionen weichen. 54 52 Dies führte zu einem Lohnanstieg, der als Erklärung für die verspätete niederländische Industrialisierung im achtzehnten Jahrhundert herangezogen wird. C HARLES W ILSON , Taxation and the Decline of Empires: An Unfashionable Theme, in: Bijdragen en Mededelingen van het Historisch Genootschap 77 (1963), 10-23; J OEL M OKYR , Industrialization in the Low Countries, 1795-1850, New Haven 1976, 193. 53 G AASTRA , Bewind en beleid (wie Anm. 36), 29. Diese Anleihen waren mit vier Prozent verzinst, in Notzeiten allerdings zuweilen mit fünf oder gar acht Prozent. Dafür riss sich der Markt um die Aktien, die regelmäßig etwa 400 Prozent brachten. 54 J OHANNES G. VAN D ILLEN , Van rijkdom en regenten. Handboek tot de economische en sociale geschiedenis van Nederland tijdens de Republiek, Den Haag 1970, 638-640; G AASTRA , Geschiedenis (wie Anm. 7), 170. <?page no="378"?> Kaufmännisches Verhalten und Familiennetzwerke im niederländischen Russlandhandel (1590-1750)* Jan Willem Veluwenkamp Einleitung Vom Ende des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts waren die Niederlande die bedeutendste europäische Handelsmacht. 1 Ihre intensive Geschäftstätigkeit erstreckte sich auf alle Teile Europas sowie Asien, Afrika und Amerika. Der außereuropäische Handel der Niederlande wurde von zwei großen Monopolkompanien betrieben: in Asien von der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC), in Afrika und Amerika von der Westindienkompanie (WIC). Der bei weitem größte Teil des Handels fand jedoch innerhalb Europas statt und wurde von zahllosen selbständigen Familienfirmen getragen. 2 Die Beschäftigung mit der niederländischen Wirtschaft der frühen Neuzeit führt früher oder später zu der Einsicht, dass diese Familienunternehmen nicht isoliert voneinander arbeiteten, sondern durch vielschichtige Geschäfts- und Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verflochten waren. Alle Kaufleute hatten zahlreiche Verwandte, die in derselben Branche tätig waren. Ihre Väter, Brüder und Söhne waren ebenso Kaufleute wie ihre Schwiegerväter, Schwiegersöhne und Schwäger, und in vielen Fällen gehörten auch weibliche Familienangehörige, in der Regel Witwen dazu. Diese Verwandten wiederum handelten häufig in denselben Ländern und mit denselben Waren. Eine Reihe von Autoren hat dieses Phänomen in den Blick genommen. Louwrens Hacquebord weist darauf hin, dass in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts viele der Direktoren in den verschiedenen Kammern der Noordse Compagnie, der damaligen niederländischen Walfangkompanie, miteinander verwandt waren. Darüber hinaus waren die meisten von ihnen Kaufleute, die sich bereits aus anderen Zusammenhängen kannten und auch in anderen Geschäftsaktivitäten zusammenarbeiteten. 3 Piet de Buck betont, dass im frühen Der Text wurde von Christian Rödel, Mark Häberlein und Christof Jeggle aus dem Englischen übertragen. 1 J ONATHAN I. I SRAEL , Dutch Primacy in World Trade, 1585-1740, Oxford 1989. 2 Siehe zum Beispiel J AN W ILLEM V ELUWENKAMP , Archangel. Nederlandse ondernemers in Rusland, 1550-1785, Amsterdam 2000, 165-169; P IET DE B UCK , De Russische uitvoer uit Archangel naar Amsterdam in het begin van de achttiende eeuw (1703 en 1709), in: Economischen Sociaalhistorisch Jaarboek 51 (1988), 126-193, hier 144-145, 152. 3 L OUWRENS H ACQUEBORD , Smeerenburg. Het verblijf van Nederlandse walvisvaarders op de westkust van Spitsbergen in de 17de eeuw, Amsterdam 1984, 63. <?page no="379"?> Jan Willem Veluwenkamp 380 18. Jahrhundert zwischen den im Russlandhandel tätigen Kaufleuten vielfältige Verwandtschaftsbeziehungen bestanden, wobei eine Reihe der prominentesten dieser Kaufleute zu weit verzweigten, in dieser Branche aktiven Familien gehörten. 4 Peter Klein beschreibt die Konzentration der englischen Kaufleute im Rotterdam des 17. und 18. Jahrhunderts auf den Handel mit ihrem Heimatland und ihre gegenseitigen Verwandtschafts-, Heirats- und Geschäftsbeziehungen. 5 Maarten Prak erwähnt einen Kreis wohlhabender wallonischer Familien im Leidener Textilgeschäft des 18. Jahrhunderts, in dem gegenseitige Heiratsallianzen eine wichtige Rolle spielten. 6 Thomas Lindblad zeigt für Schweden, dass im 18. Jahrhundert die meisten der maßgeblichen Kaufleute im Stockholmer Handel mit der Republik der Niederlande durch ein ausgedehntes Netz von Verwandtschaftsbeziehungen verbunden waren. 7 Beispiele für ähnliche Familienbeziehungen und auch Netzwerke innerhalb spezifischer Branchen sind in der frühneuzeitlichen niederländischen Handelswelt leicht zu finden. Auch ist klar, dass diese Bindungen und Netzwerke ein Muster formten, das aus sozialen und kommerziellen Verhaltensweisen hervorging, die ihrerseits wiederum auf starken und eindeutigen Antriebskräften beruhten. Diese Verhaltensweisen und Antriebskräfte wurden an anderer Stelle analysiert, um eine Erklärung für die den Familienbeziehungen und Netzwerken zugrunde liegenden Muster zu finden. Im Laufe der Jahre fügten sich verschiedene Erkenntnisse über kaufmännisches Verhalten und Familiennetzwerke des niederländischen Handelssystems zu einem theoretischen Erklärungsmodell. 8 Im Jahr 2000 kam dieser theoretische Ansatz in der Untersuchung der niederländischen Russlandkaufleute über den langen Zeitraum von 1550 bis 1785 hinweg zur Anwendung. 9 Diese Monographie, „Archangel“, analysiert das Geschäftsgebaren der niederländi- 4 D E B UCK , De Russische uitvoer (wie Anm. 2), 174. 5 P ETER W. K LEIN , „Little London“. British Merchants in Rotterdam during the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Enterprise and History. Essays in Honour of Charles Wilson, D ONALD C. C OLEMAN / P ETER M ATHIAS (Hrsg.), Cambridge 1984, 116-134, hier 122, 128, 131f. 6 M AARTEN P RAK , Gezeten burgers. De elite in een Hollandse stad. Leiden 1700-1780, Den Haag 1985, 174. 7 J. T HOMAS L INDBLAD , Sweden’s Trade with the Dutch Republic, 1738-1795, Assen 1982, 54. 8 J AN W ILLEM V ELUWENKAMP , ‘’N huis op Archangel’. De Amsterdamse koopmansfamilie Thesingh, 1650-1725, in: Jaarboek Amstelodamum 69 (1977), 123-139; D ERS ., Ondernemersgedrag op de Hollandse stapelmarkt in de tijd van de Republiek. De Amsterdamse handelsfirma Jan Isaac de Neufville & Comp., 1730-1764, Meppel 1981; D ERS ., De Leidse lakenondernemer Daniel van Eys, 1688-1739, in: Leids Jaarboekje (1992), 108-124; D ERS ., Familienetwerken binnen de Nederlandse koopliedengemeenschap van Archangel in de eerste helft van de achttiende eeuw, in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 108, 4 (1993), 655-672; D ERS ., Dutch Merchants in St. Petersburg in the Eighteenth Century, in: Tijdschrift voor Skandinavistiek 16, 2 (1995), 235-291; D ERS ., The Arkhangelsk Business Venture of the Amsterdam Merchant David Leeuw, 1712-1724, in: Around Peter the Great. Three centuries of Russian-Dutch relations, C AREL H ORSTMEIER u. a. (Hrsg.), Groningen 1997, 92-102. 9 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2). <?page no="380"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 381 schen Russlandkaufleute und verfolgt die Aktivitäten vieler am Handel mit Russland beteiligter Personen in einer Langzeitperspektive. Einerseits wird so die Theorie überprüft, während gleichzeitig Muster kaufmännischen Handelns und die Art und Weise, wie diese sich in der Bildung von kommerziellen Familiennetzwerken niederschlugen, betrachtet werden. Andererseits fördert ein solcher Zugang das Verständnis für das Handeln einzelner Kaufleute oder Kaufmannsgruppen. Der vorliegende Aufsatz gibt einen Überblick über meine Thesen zum kaufmännischen Verhalten und zu den daraus resultierenden familiären Netzwerken. Weiterhin wird exemplarisch gezeigt, wie mit Hilfe dieser Thesen die Vorgänge im niederländischen Russlandhandel näher erklärt werden können. Nach meiner Überzeugung gilt dieses theoretische Modell nicht nur für das niederländische Handelssystem, sondern lässt sich mit ebensoviel Gewinn auf andere Kaufmannsgruppen und Handelssysteme der frühen Neuzeit übertragen. 1. Das Geschäftsgebaren niederländischer Kaufleute Ein Grundmotiv für die Entwicklung multipler familiärer Bindungen zwischen niederländischen Kaufleuten aus derselben Branche war das tief verwurzelte Gefühl der Verpflichtung, die soziale Position der Familie zu erhalten, zu verbessern und an die nächste Generation weiterzugeben. Diese Verpflichtung wurde vom sozialen Umfeld eines Kaufmannes verstärkt und ihm immer wieder von neuem vermittelt: von der Familie selbst, der Kirche, der Einkommensgruppe, den Berufskollegen. Sie wurde, unter anderen, von Luuc Kooijmans und Maarten Prak hervorgehoben. 10 Die Grundelemente der sozialen Position waren, nach Weber, Wohlstand, Macht und Prestige. Zumindest was die Kaufleute anging, richteten sich diese drei Elemente hauptsächlich nach der Größe des Einkommens und des Besitzes, die sich wiederum vor allem aus dem Umfang und dem Ertrag des Unternehmens ergab. Die Kaufleute sahen sich dadurch in der Pflicht, die Kontinuität ihrer Firma zu erhalten und das bestmögliche Geschäftsergebnis zu erzielen. Damit im Zusammenhang stand die Verpflichtung, das Unternehmen dem Sohn oder Schwiegersohn zu übergeben, wenn sie selbst zu alt zur Wahrnehmung der Geschäfte wurden. 11 Die Weiterführung des Unternehmens 10 L UUC K OOIJMANS , Risk and Reputation. On the Mentality of Merchants in the Early Modern Period, in: Entrepreneurs and Entrepreneurship in Early Modern Times. Merchants and Industrialists within the Orbit of the Dutch Staple Market, C LÉ L ESGER / L EO N OORDEGRAAF (Hrsg.), Den Haag 1995, 25-34; D ERS ., Vriendschap. Een 18e-eeuwse familiegeschiedenis, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis 18 (1992), 48-65; P RAK , Gezeten burgers (wie Anm. 6), 150. 11 L EOS M ÜLLER , The Merchant Houses of Stockholm, c. 1640-1800. A Comparative Study of Early- Modern Entrepreneurial Behaviour, Uppsala 1998, 24-27, 276f.; K OOIJMANS , Risk and Reputation <?page no="381"?> Jan Willem Veluwenkamp 382 war für die Familie lebenswichtig. Für die potentiellen Nachfolger der Firmeninhaber kam überhaupt nur eine einzige Alternative dazu in Betracht: eine noch eminentere und lukrativere Position, etwa ein politisches oder ein wichtiges administratives Amt, das den Zugang zu den höheren Kreisen der Gesellschaft eröffnete. 12 Die Übergabe der Firma an die nächste Generation war eine recht unkomplizierte Angelegenheit, da es sich bei den Firmen im Handelssystem der Niederländer meist um Familienunternehmen handelte, deren Kern der Ein- Mann-Betrieb bildete. 13 Die Finanzierung dieser Firmen beruhte meist zum größten Teil - zu zwei Dritteln oder mehr - auf Eigenkapital; dazu kam der Kredit der Lieferanten. Die Vermögenswerte der Handelsfirmen bestanden im Wesentlichen aus Warenlagern und Außenständen, zu denen nur ein kleiner Anteil an festem Vermögen wie Grundbesitz, Anlagen, Werkzeug oder Schiffe kam. 14 Wahrscheinlich setzte sich auch das Vermögen von Industrieunternehmen so zusammen, wenigstens derer, die ihre eigenen Rohstoffe oder halbveredelten Produkte weiterverarbeiteten. 15 Auf den ersten Blick war das alles, was der Kaufmann seinem Nachfolger übergab: Waren, Schulden und Forderungen. Kapital ganz anderer Art, aber nicht weniger wichtig, erschien hingegen nicht in der Bilanz: die Kenntnis des Geschäftes, der Geschäftsbeziehungen und der Geschäftspartner. Diese waren die Folge der drei wichtigsten Strategien, von deren Anwendung sich die Kaufleute anhaltenden kommerziellen Erfolg versprachen: sie spezialisierten sich, sie unterhielten dauerhafte Beziehungen zu Kunden und Lieferanten und sie kooperierten, insbesondere mit Verwandten. 16 Spezialisierung zielte auf optimale Kenntnis von Märkten und Waren ab. Die Kaufleute mussten wissen, welche Waren in welcher Menge, welcher Qualität und zu welchem Preis auf welchem Markt zu welchem Zeitpunkt angeboten oder nachgefragt wurden. Diese Informationen waren eine wichtige Waffe im Kampf um Profit und Marktanteile. Und da es unmöglich war, alle Märkte für alle Handelsgüter zu kennen, spezialisierten sich die Kaufleute bis zu einem gewissen Grad auf bestimmte Waren und bestimmte Herkunfts- und Absatzregionen. 17 Das Hauptgeschäft von Jacob, Louis und (wie Anm. 10), 25-34; D ERS . Vriendschap (wie Anm. 10), 53; V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 666f.; P RAK , Gezeten burgers (wie Anm. 6), 150. 12 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 104. 13 P ETER W. K LEIN / J AN W ILLEM V ELUWENKAMP , The Role of the Entrepreneur in the Economic Expansion of the Dutch Republic, in: The Dutch Economy in the Golden Age, K AREL D AVIDS / L EO N OORDEGRAAF (Hrsg.), Amsterdam 1993, 27-53, hier 36-39. 14 V ELUWENKAMP , Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 68-72; P ETER W. K LEIN , De Trippen in de 17e eeuw. Een studie over het ondernemersgedrag op de Hollandse stapelmarkt, Assen 1965, 426. 15 K LEIN / V ELUWENKAMP , The Role of the Entrepreneur (wie Anm. 13), 38. 16 V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 666. 17 V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 667; D ERS ., Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 23-28, 113, 117-122. <?page no="382"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 383 Hendrick Trip, Kaufleuten des 17. Jahrhunderts, war beispielsweise der Handel mit Waffen, Eisen und Teer, 18 und die Amsterdamer Firma Jan Isaac de Neufville & Comp. war 1730-1764 auf das Leinengeschäft spezialisiert. De Neufville kaufte sein Leinen in einigen deutschen Territorien, Flandern und der niederländischen Republik und verkaufte es vor allem nach England und in die Republik selbst. Als der englische Markt an irische und schottische Produzenten verloren ging, wechselte er in den Handel mit Pottasche. Diese Entscheidung lässt sich damit erklären, dass Pottasche zum Bleichen von Leinen verwendet wurde und De Neufville sich also auch auf diesem Markt ausgekannt haben muss. 19 Die Begriffe „Spezialisierung“ und „Branche“ werden hier recht unscharf gebraucht, da der Versuch rigider Exaktheit an den Sachverhalten vorbeigehen würde. War der Handel mit Spanien oder einem anderen Land oder einer Region eine eigene Branche? Lag die Spezialisierung im Leinenhandel, oder im Leinenhandel mit England? Die Grenzen zwischen „Spezialisierungen“ und „Branchen“ waren überall fließend. Kaufleute beteiligten sich oft an benachbarten Geschäftsfeldern. Der Handel war ständig wechselnden Marktbedingungen unterworfen, und alles hing von der Fähigkeit des Unternehmers ab, sich an neue Gegebenheiten anzupassen und neue Entwicklungen zu seinem Vorteil zu nutzen. Der Geschäftsmann musste ein Gleichgewicht zwischen den Vorzügen von Expertenwissen und der Gefahr der „Monokultur“ finden - zwischen dem Vorteil, seine Interessen über eine Anzahl von Waren- und Marktkombinationen zu verteilen, und der Gefahr, den Kontakt zu seinen Märkten zu verlieren. 20 Darüber hinaus gingen Kaufleute üblicherweise zahlreichen Nebengeschäften nach, die im Verhältnis zum Gesamtumsatz und -profit zwar zweitrangig, für die Geschäftsentwicklung jedoch notwendig waren. Nebengeschäfte waren manchmal das Ergebnis günstiger Gelegenheiten oder von Experimentierfreude und, in den meisten Fällen, der Notwendigkeit, auf Geschäftsfreunde einzugehen - auch wenn deren Wünsche mitunter nur wenig mit dem eigenen Kerngeschäft zu tun hatten. Freunden musste man entgegenkommen, um sie zu behalten. 21 Diese Einsicht leitet über zur zweiten Strategie, mit der nachhaltiger Erfolg im Handelsgeschäft erreicht werden sollte: der Pflege dauerhafter Beziehungen zu Kunden und Lieferanten. Eine Stammkundschaft hatte den Vorteil, dass der Umfang des Umsatzes und die Vertragsbedingungen bis zu einem gewissen Grade vorhersagbar waren. Stammlieferanten wiederum ermöglichten es dem Kaufmann, die Quantität, die Qualität und den Preis 18 K LEIN , De Trippen (wie Anm. 14), 422-424. 19 V ELUWENKAMP , Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 23-28, 113-114, 117-121. 20 K LEIN / V ELUWENKAMP , The Role of the Entrepreneur (wie Anm. 13) 41. 21 V ELUWENKAMP , Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 121f. <?page no="383"?> Jan Willem Veluwenkamp 384 seiner Einkäufe mit dem seiner erwarteten Verkäufe abzustimmen. 22 Die Folge solcher langfristiger Geschäftsbeziehungen war, dass der Handel sich überwiegend in überschaubaren und vertrauten Verhältnissen abspielte, in denen persönliche Beziehungen zur Begrenzung der Risiken beitrugen. 23 Ein zusätzlicher wichtiger Vorteil solcher angestammten Kundenbeziehungen war, dass sie Vertrauen begründeten, das sich dann auch in Empfehlungen, Bürgschaften und Krediten niederschlug. Vertrauen war vermutlich sogar noch wichtiger als die eigenen Mittel der Firma, deren Hauptfunktion der Aufbau von Vertrauen, und damit Kredit, war (und ist). Geld ist Vertrauen - und diese Gleichung ist umkehrbar. 24 Die Praktiken, mit denen man sich um die Loyalität der Kunden bemühte, können nach der Bezeichnung des Marktes, den sie hervorbringen, als „monopolistischer Wettbewerb“ charakterisiert werden. Beim monopolistischen Wettbewerb handelt es sich um eine relativ verbreitete Marktstruktur, in der viele Firmen Produkte anbieten, die einander im Grunde gleichen, aber doch gerade so weit voneinander differenziert sind, dass jeder Anbieter eine gewisse Kontrolle über den Preis seines eigenen Produktes hat. Diese Differenzierung kann in den Produkteigenschaften selbst begründet liegen - wie beispielsweise seiner Qualität - oder in den Rahmenbedingungen des Kaufes - wie etwa der Reputation des Anbieters. Anbieter und Abnehmer finden auf diese Weise auf der Basis ihrer jeweiligen Präferenzen zueinander, wobei die Anbieter bis zu einem gewissen Grad vor jenen härteren Bedingungen geschützt sind, die in einem idealen Wettbewerbsmarkt herrschen würden. 25 Ein Beispiel für die Pflege solcher langfristigen Geschäftsbeziehungen liefert wieder die Firma Jan Isaac de Neufville & Comp. Potentiellen Kunden kam De Neufville anfangs mit einem Exemplar zur Probe entgegen, von dem wir keinen Zweifel haben, dass es Euch für die Zukunft ermutigen wird. 26 Nach fünfzehn Jahren im Geschäft, 1745, kauften seine fünfzehn größten Kunden drei Viertel von De Neufvilles gesamtem Warenumschlag. Von diesen fünfzehn Abnehmern waren dreizehn länger als zehn Jahre De Neufvilles Kunden. 27 Wie oben erwähnt, war der Ein-Mann-Betrieb der Kern des Familienunternehmens im niederländischen Handelssystem. Im internationalen Handel war es andererseits häufig üblich, dass zwei oder mehr Kaufleute 22 V ELUWENKAMP , Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 7f., 22-28, 104, 113, 117-120. 23 P ETER W. K LEIN , Handel, gelden bankwezen in de Noordelijke Nederlanden 1650-1795, in: Algemene Geschiedenis der Nederlanden 8, Bussum 1979, 160-184, hier 177. 24 V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 667. 25 V ELUWENKAMP , Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 7f.; R ICHARD G. L IPSEY / P ETER O. S TEINER , Economics, New York u. a. 1978, 920; E DWIN H. C HAMBERLIN , The Theory of Monopolistic Competition. A Reorientation of the Theory of Value, Cambridge, Mass. 1969 (zuerst 1933), 56. 26 V ELUWENKAMP , Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 99. 27 V ELUWENKAMP , Ondernemersgedrag (wie Anm. 8), 84, 92, 94, 98. <?page no="384"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 385 zusammen eine Firma betreiben, entweder dauerhaft oder für einen begrenzten Zeitraum. In diese Firma investierten sie Arbeit, Kapital oder beides zugleich. 28 Diese Form der Zusammenarbeit war die dritte kommerzielle Strategie. Der Zweck der Zusammenarbeit war es, gegenseitig vom Wissen, den Verbindungen und dem Kapital des anderen zu profitieren, Umsatz und Profit zu steigern und die Risiken zu verteilen. Aus Gründen praktischer Notwendigkeit, wenn die Interessen eines Unternehmens an weit auseinander liegenden Orten wahrgenommen werden mussten, teilte man oft die Arbeit auf. Zusammenschlüsse waren aber auch die natürliche Lösung, wenn große Investitionen nötig waren und eine Verteilung des Risikos wünschenswert war. Kooperation musste nicht bedeuten, dass eine gemeinsame Firma das einzige Unternehmen der Teilhaber war. Jeder von ihnen konnte, allein oder wiederum in Zusammenarbeit mit anderen, Kapital und Energie in mehrere Projekte zugleich investieren, die von einfachen Transaktionen auf gemeinsame Rechnung bis hin zu Handels- und Gewerbeunternehmen, Schiffen, Handelsreisen oder Privilegien reichen konnten. 29 Doch Kooperationen hatten nicht nur Vorteile, sondern konnten auch zusätzliche Risiken von Misserfolg und Täuschung mit sich bringen, insbesondere dann, wenn man dem Partner große Geldbeträge oder die Verantwortung für weit reichende Entscheidungen anvertraut hatte. Daher mussten Unternehmer ihre Geschäftspartner sorgfältig auswählen. Man musste, zumal in einer Welt erschreckend niedriger Rechtssicherheit, sich ihrer Vertrauenswürdigkeit sicher sein. Die bevorzugten Geschäftspartner waren deshalb Verwandte. Seine eigenen Familienmitglieder kannte jeder am besten, verfolgte mit ihnen viele gemeinsame Interessen und teilte sich die Verantwortung für den Wohlstand und die soziale Position der Familie. Jeder Kaufmann hatte zumindest zu einigen Verwandten auf der Basis regelmäßiger Kontakte und emotionaler Nähe enge und verlässliche Beziehungen entwickelt. Letztendlich waren diese „Freunde“ die einzigen, denen er wirklich trauen konnte. 30 Die Vorliebe für die Zusammenarbeit mit Verwandten führte dazu, dass viele Unternehmer die Tochter oder Schwester eines Kollegen aus der gleichen Branche heirateten. Manchmal heirateten Unternehmer die Schwester, Tochter oder Witwe eines Kompagnons. In diesen Fällen vertiefte die Heirat das Vertrauen innerhalb einer bestehenden Geschäfts- 28 Siehe zum Beispiel K LEIN , De Trippen (wie Anm. 14), 418-473; sowie I SRAEL , Dutch Primacy (wie Anm. 1), 45, 60, 64. 29 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 63; M ÜLLER , The Merchant Houses (wie Anm. 11), 31; K LEIN / V ELUWENKAMP , The Role of the Entrepreneur (wie Anm. 15), 36f. 30 M ÜLLER , The merchant houses (wie Anm. 11), 31f., 246; L UUC K OOIJMANS , Andries & Daniel. Vriendschap in de vroegmoderne Nederlanden, in: Groniek (Oktober 1995), 8-25; D ERS ., Risk and Reputation (wie Anm. 10), 28. <?page no="385"?> Jan Willem Veluwenkamp 386 partnerschaft. In anderen Fällen begannen Kaufleute eine Partnerschaft mit Verwandten ihrer Frau erst nach der Hochzeit. Dann wurde durch die Heirat Verwandtschaft, und damit eine tragfähige Grundlage für Kooperation, erzeugt. Möglicherweise waren Verwandte beider Seiten schon vorher in derselben Branche tätig gewesen. War das nicht der Fall, so verlagerte oder erweiterte eine der beiden Seiten ihre Handelsaktivitäten nach der Eheschließung. 31 Zu Beginn dieses Abschnittes wurde erwähnt, dass ein Kaufmann seinen Nachfolgern nicht nur Warenbestände, Schulden und Außenstände hinterließ, sondern auch Wissen, Beziehungen und Partner. Es ist nun deutlich geworden, was damit gemeint ist: Kenntnis der Märkte und Güter, Beziehungen zu Lieferanten und Kunden sowie Geschäftspartner waren Vorteile, die nicht weniger wichtig waren als Kapital und Warenlager. 32 Damit ist auch die eingangs gestellte Frage nach den Ursprüngen der Familiennetzwerke niederländischer Kaufleute aus derselben Branche beantwortet. Derartige kommerzielle Familiennetzwerke waren das direkte Resultat von vier weit verbreiteten Geschäftsstrategien. Kaufleute spezialisierten sich, pflegten langfristige Beziehungen zu Kunden und Lieferanten, kooperierten mit Kaufleuten ähnlicher geschäftlicher Ausrichtung, vorzugsweise Verwandten, und übertrugen ihre Firma schließlich an die nächste Generation. Diese Analyse basiert vorrangig auf der Untersuchung von Firmenarchiven, die die Geschäftsbücher und Korrespondenz einzelner Unternehmen enthalten. Allerdings sind nur wenige solcher Firmenarchive erhalten. Gleiches gilt für die Archive der niederländischen Russlandkaufleute. Von nur einem einzigen am Handel mit Russland beteiligten Kaufmann sind die Aufzeichnungen erhalten und stehen der empirischen Erforschung des Geschäftsgebarens dieser Gruppe zur Verfügung. Der betreffende Kaufmann ist der Amsterdamer Geschäftsmann David Leeuw (1682-1755). Sein Nachlass befindet sich im Gemeindearchiv Amsterdam. 33 Es gibt einzigartige Einblicke in die Abläufe des Russlandhandels. Allerdings ist einzuschränken, dass Leeuw nicht als niederländischer Russlandkaufmann im eigentlichen Sinne betrachtet werden kann. Er ließ sich als Geschäftsmann Anfang des 18. Jahrhunderts nieder und handelte vor allem mit Textilien aller Art. Er unterhielt Geschäftskontakte in England und Deutschland sowie in geringerem Maße im Ostseeraum, den nördlichen und den südlichen Niederlanden. 1712 unternahm Leeuw den Versuch, sich im Handel mit Russland über Archangelsk zu etablieren. Doch sein Geschäftsvolumen in Russland war nie 31 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 192; Ders., Familienetwerken (wie Anm. 8), 667f. 32 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 104; K LEIN / V ELUWENKAMP , The Role of the Entrepreneur (wie Anm. 15), 38f.; V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 667. 33 I SABELLA H. VAN E EGHEN , Inventaris van het familie-archief Brants, Amsterdam 1959. <?page no="386"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 387 sehr groß oder stetig, und nach zwölfjährigen Mühen endete sein dortiges Engagement 1724 mit einer Enttäuschung. 34 Das weitgehende Fehlen von Firmenunterlagen hat zur Folge, dass sich jede eingehende Überprüfung des hier vorgestellten theoretischen Gerüstes auf weniger unmittelbare, „indirekte“ Quellen wie die Aufzeichnungen von Kirchengemeinden oder öffentlichen Notaren stützen muss. Kirchenregister, in denen Taufen, Eheschließungen und Beerdigungen erfasst sind, gestatten die detaillierte Analyse der Familienverhältnisse der Kaufleute; sie geben jedoch keine Auskunft über deren Geschäfte. Die Notariatsakten sind ebenfalls in großem Umfang vorhanden, enthalten aber für unsere Zwecke nur wenig in die Tiefe gehendes Material. Kaufleute und andere Personen suchten Notare auf, um ihre Verträge, Aussagen oder Verlautbarungen beglaubigen zu lassen. Notariatsakten erlauben einen Blick auf den Kreis der Geschäftspartner eines Kaufmanns, geben jedoch nur punktuelle Hinweise auf seine Unternehmungen und verraten nur wenig über den Grad seiner Spezialisierung oder die Beständigkeit seiner Kunden- und Lieferantenbeziehungen. In der oben erwähnten Studie „Archangel“ wurde das theoretische Gerüst anhand der Geschichte der niederländischen Russlandkaufleute erprobt. Aufgrund des Mangels an Firmenunterlagen wurde darin auf indirekte Quellen ausgewichen. Das unternehmerische Verhalten der Russlandkaufleute bestätigte die Theorie. Die Studie zeigt auch, dass das theoretische Gerüst helfen kann, die den eher oberflächlichen Aussagen der indirekten Quellen zugrunde liegenden Strukturen und Prozesse zu verstehen und unser Verständnis der Aktivitäten einzelner Kaufleute zu vertiefen. Es folgt nun ein Überblick über die Entwicklung des niederländischen Handels mit Russland, der den Rahmen setzt für den Kern dieses Aufsatzes, die Beschreibung der Geschäfte einer bestimmten Familie von Russlandkaufleuten. 2. Der Handel der Niederländer mit Russland Der niederländische Handel mit Russland erreichte um 1560 erstmals ein nennenswertes Volumen, nachdem Zar Iwan IV. mit der Eroberung des livländischen Hafens Narva im Jahre 1558 einen direkten Zugang zur Ostsee erzwungen hatte. Bis in die 1570er Jahre blieb die Stadt ein Umschlagplatz für Kaufleute aus den Niederlanden, die zu diesem Zeitpunkt vor allem aus Antwerpen kamen. Dann jedoch blockierten die Schweden den Hafen und eroberten ihn schließlich 1581, so dass Russland erneut von der Ostsee abgeschnitten war. Die Niederländer waren inzwischen dazu übergegangen, einen 34 V ELUWENKAMP , The Arkhangelsk Business Venture (wie Anm. 8), 93. <?page no="387"?> Jan Willem Veluwenkamp 388 alternativen Seeweg nach Russland zu benutzen, der im hohen Norden durch das Weiße Meer und an die Mündung der Nördlichen Dwina führte. Dieser Weg war in den 1550er Jahren von den Engländern entdeckt und genutzt worden. 1583 gründete Iwan IV. hier, am Delta der Dwina, die Hafenstadt Archangelsk, und 1585 beschloss sein Sohn und Nachfolger Fjodr, dass sie der einzige Hafen für Russlands Handel mit Westeuropa sein solle. 35 Die Blütezeit des niederländischen Handels mit Russland begann bereits in den 1590er Jahren, als die Niederländer selbst die Engländer in einem solchen Ausmaß übertrafen, dass der Handel mit der Republik - genauer: Amsterdam - etwa 75 % des gesamten russischen Handelsvolumens mit Westeuropa ausmachte. Diese niederländische Dominanz im Russlandhandel hielt das gesamte 17. Jahrhundert hindurch an. Ihr Wettbewerbsvorteil war die Multilateralität ihres Handels, die es den Niederländern erlaubte, zu kaufen was angeboten und zu liefern was nachgefragt wurde. Sämtliche ihrer Konkurrenten, auch die Engländer als die bedeutendsten, betrieben den Handel nur bilateral und somit in wesentlich geringerem Umfang. Die Engländer kauften in der Hauptsache für den heimischen Markt bestimmte Produkte und verkauften in England hergestellte Waren, 36 während die Niederländer nicht nur den Russlandhandel dominierten, sondern im 16. Jahrhundert zu „einer den Welthandel beherrschenden Position“ 37 aufgestiegen waren und das internationale Geschäft im 17. Jahrhundert so klar dominierten, dass sie die „führende europäische Wirtschaftsmacht“ 38 waren. Durch den Handel mit den Niederländern stieg die Ausfuhr aus Archangelsk von knapp unter 149.000 Rubel, also ca. 1,1 Mio. fl., im Jahre 1604 auf etwa 430.000 Rubel bzw. 2,3 Mio. fl. im Jahre 1642, so dass die Stadt sich zu einem der wichtigsten Handelszentren Nordeuropas entwickelte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts machten Pelze fast die Hälfte der russischen Exporte aus, die andere Hälfte bestand vorwiegend aus Juchtenleder und Talg. In manchen Jahren exportierte Russland große Mengen Roggen, Weizen und Gerste, allerdings nur, wenn die Kornpreise in Westeuropa eine außergewöhnliche Höhe erreicht hatten und wenn außerdem die russische Regierung dazu ihre Genehmigung gab. Die russischen Importe während des gesamten 17. Jahrhunderts bestanden hauptsächlich aus Silber und Gold, Perlen und Edelsteinen, wertvollen Stoffen, Feuerwaffen, Schieß- 35 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 16-21, 27-32. 36 J AN W ILLEM V ELUWENKAMP , Èkonomi 2 eskie otnošenija meždu Zapadnoj Evropoj i Rossiej (1600- 1800), in: Inoslavnye cerkvi v Sankt-Peterburge, C HRISTIAAN H ENDRIK S LECHTE u. a. (Hrsg.), St. Petersburg 2004, 32-35, hier 32; D ERS ., Archangel (wie Anm. 2), 37, 43, 67, 107f. 37 I SRAEL , Dutch Primacy (wie Anm. 1). 38 D OUGLASS C. N ORTH , Structure and Change in Economic History, New York / London 1981, 154. <?page no="388"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 389 pulver, Buntmetallen, exotischen Nahrungsmitteln wie Wein, Zucker und Gewürzen, Farbstoffen, Schreibpapier und Glas. 39 Die Handelsgeschäfte zwischen Niederländern und russischen Kaufleuten in Archangelsk wurden im August während der jährlichen Messe und unter der Aufsicht der russischen Behörden getätigt. Jedes Jahr trafen Dutzende von Niederländern, die mit ihren Waren aus Amsterdam angereist waren, mit zahlreichen russischen Händlern aus dem Inneren des Landes zusammen. Die Niederländer fuhren dabei als Passagiere auf den Handelsschiffen; die meisten von ihnen kauften kleine, aber wertvolle Mengen Pelz und Leder und mieteten dann, für den Transport nach Amsterdam, Laderaum auf den Schiffen jener wenigen Kaufleute, die große Ladungen transportierten. Die niederländischen Schiffe verließen die im Norden Hollands gelegene Reede von Texel Ende Mai und erreichten Archangelsk etwa vier Wochen später. Den Schiffsführern war daran gelegen, im September die Rückreise antreten zu können, um im Herbst wieder in Holland zu sein. Verließen sie Archangelsk zu spät, etwa im Oktober oder gar erst Anfang November, bestand die Gefahr, in schweres Wetter zu geraten und in einem norwegischen Fjord überwintern zu müssen, um Unfällen vorzubeugen. Manchmal blockierte Eisgang die Dwinamündung schon im Frühherbst, so dass die Schiffe in Archangelsk selbst überwintern mussten. 40 Das Herzstück der Archangelsker Messe waren die Gostinye dvory oder „Kaufmannshöfe“, wo russische und ausländische Händler für die Dauer ihres Aufenthaltes in Archangelsk wohnten, ihre Waren lagerten und ihre 39 A NDREJ V. D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo v Rossii v XVII v., 2 Bde. Moskau 1994, Bd. 1, 72-75, 99, 105-108; Bd. 2, 36; E RIC H. W IJNROKS , Jan van de Walle and the Dutch Silk-Trade with Russia, 1578-1635, in: Russians and Dutchmen. Proceedings of the Conference on the Relations between Russia and the Netherlands from the 16 th to the 20 th Century held at the Rijksmuseum Amsterdam, June 1989. Essays, J OOST B RAAT / A REND H. H UUSSEN JR . / B RUNO N AARDEN / C EES W IL- LEMSEN (Hrsg.), Groningen 1993, 41-58, hier 50, 54-57; P IET DE B UCK , De Amsterdamse handel op Archangel, in: Amsterdam, haven in de 17de en 18de eeuw, Amsterdam 1990, 28-33, hier 30; V IKTOR N. Z ACHAROV , Torgovlja zapadnoevropejskich kupcov v Rossii v konce XVII-pervoj 2 etverti XVIII v., in: Istori 2 eskie Zapiski 112 (Moskau 1985), 177-214, hier 195; P AUL B USHKOVITCH , The Merchants of Moscow, 1580-1650, Cambridge 1980, 44-56, 59-64, 68f., 153-156; A RTUR A TT- MAN , The Russian and Polish Markets in International Trade 1500-1650, Göteborg 1973, 88, 91; H ERMANN K ELLENBENZ , The Economic Significance of the Archangel Route (from the late 16 th to the late 18 th Century), in: The Journal of European Economic History 2, 3 (1973), 541-581, hier 548, 552, 560-563, 568; S IMON H ART , De handelsbetrekkingen van Amsterdam met Archangel en Lapland (Kola) in de 17e eeuw, in: Nederlands Archievenblad 73 (1969), 66-80, hier 79f.; J OSEF K U- LISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte 1, Jena 1925, 322, 442. 40 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 26, 41-43, 57-62; L JUDMILA D. P OPOVA , Archangel’sk. O 2 erk istorii stroitel’stva (konec XVI-na 2 alo XX v.), Archangelsk 1994, 17; V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 656; D E B UCK , De Russische uitvoer (wie Anm. 2), 175; B USHKOVITCH , The Merchants (wie Anm. 39), 26, 29; J ACQUELINE K AUFMANN - R OCHARD , Origines d’une bourgeoisie russe, XVI e et XVII e siècles: marchants de Moscovie, Paris 1969, 48; H ART , De handelsbetrekkingen (wie Anm. 39), 70; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 321f. <?page no="389"?> Jan Willem Veluwenkamp 390 Zollabgaben bezahlten. 41 Die große Mehrheit der niederländischen Russlandkaufleute hatte von russischer Seite nur die Genehmigung, in Archangelsk selbst Geschäfte zu tätigen. Sie konnten zwar ins Landesinnere reisen und dort Handel treiben, doch musste für jede einzelne dieser Reisen ein russischer Pass beantragt werden. Der Großteil nahm diese Mühe nicht auf sich und beschränkte seine Geschäfte auf die Messe in Archangelsk. 42 Eine kleine Zahl von Ausländern besaß eine žalovannaja gramota, eine russische Handelslizenz, die es ihnen gestattete, auf Dauer in Russland zu leben, zu reisen und im Landesinneren Geschäfte zu machen. Im Regelfall aber verblieben die Inhaber solcher Lizenzen nicht in Russland und bereisten das Land auch nur selten selbst. Sie waren in ihrer Jugend in Russland gewesen, um Wissen zu erwerben und Erfahrung zu sammeln, und nach Gründung ihrer eigenen Firma ließen sie ihre Interessen durch ein Mitglied oder einen Repräsentanten des Unternehmens wahrnehmen, oft durch einen Verwandten, der sich für längere Zeit in Russland niederließ. 43 Im Winter lebten diese Partner oder Agenten in Moskau. 44 Genau wie die russischen Kaufleute reisten sie jedes Jahr zur Messe nach Archangelsk. 45 Neben ihren Häusern oder „Höfen“ in Moskau hatten sie auch eigene Unterkünfte in Archangelsk, wo sie und ihre Leute im Sommer wohnten. Nur wenige Kaufleute verbrachten den Winter in Archangelsk, denn wenn die ausländischen Schiffe und russischen Kaufleute nach der Messe die Stadt verließen, waren dort keine Geschäfte mehr zu machen. 46 Die russischen Hauptexportartikel, Pelze und Juchtenleder, konnten in der Regel ohne Einschränkungen ausgeführt werden. Doch der Export vieler 41 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 72; O LEG V. O VSJANNIKOV / M AREK E. J ASINSKI , Gollandcy. „Nemeckaja sloboda“ v Archangel’ske XVII-XVIII vv., in: Archangel’sk v XVIII veke, J URIJ N. B ESPJATYCH (Hrsg.), St. Petersburg 1997, 108-180, hier 112f. 42 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 26, 41-43, 57; P OPOVA , Archangel’sk (wie Anm. 40), 17; V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 656; B USHKOVITCH , The Merchants (wie Anm. 39), 26, 29; K AUFMANN -R OCHARD , Origines (wie Anm. 40), 48; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 321f. 43 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 25, 30, 36, 43f., 48-52, 88; Bd. 2, 35; E RIK A MBURGER , Die Familie Marselis. Studien zur Russischen Wirtschaftgeschichte, Giessen 1957, 69, 78, 97, 101; Ot 2 ët Al’berta Burcha i Iogana fan Feltdrilja o posol’stve ich v Rossiju v 1630 i 1631 gg. Sbornik Imperatorskago Russkago Istori 2 eskago Obš 2 estva, V ENJAMIN A. K ORDT (Hrsg.), St. Petersburg 1902, 180; C HRISTIANUS C. U HLENBECK , Verslag aangaande een onderzoek in de archieven van Rusland ten bate der Nederlandsche geschiedenis, Den Haag 1891, 17-22. 44 A NKE M ARTENS , Hamburger Kaufleute im vorpetrinischen Moskau, Lüneburg 1999, 36f.; V ERA A. K OVRIGINA , Nemeckaja sloboda Moskvy i eë žiteli v konce XVII-pervoj 2 etverti XVIII vv., Moskau 1998, 25f.; K AUFMANN -R OCHARD , Origines (wie Anm. 40), 48; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 321, 360f. 45 V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 656; B USHKOVITCH , The Merchants (wie Anm. 39), 30; K AUFMANN -R OCHARD , Origines (wie Anm. 40), 48, 104; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 321-324, 367. 46 P OPOVA , Archangel’sk (wie Anmerkung 40), 21; V ELUWENKAMP , Familienetwerken (wie Anm. 8), 656; H ERMANN D ALTON , Geschichte der reformierten Kirche in Russland. Kirchenhistorische Studie, Gotha 1865, 135. <?page no="390"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 391 anderer Waren war auf vielfältige Art beschränkt: Teer, Pottasche, Tran, Hanf, Korn, Kaviar, Rohseide und Rhabarber - der medizinischen Zwecken diente - waren „geschützt“ und konnten nur durch den Zaren oder mit seiner ausdrücklichen Genehmigung exportiert werden. Die Ausfuhr von Teer war bis 1635 sogar ganz verboten. Der Zar verpachtete regelmäßig den Handel mit einigen der geschützten Güter. Die Pächter, normalerweise Ausländer, pachteten das Ausfuhrmonopol der jeweiligen Ware für einen Zeitraum von fünf oder zehn Jahren. Die Einteilung in geschützte Güter und solche, die frei gehandelt werden konnten, war recht fließend; sie scheint sich hauptsächlich nach dem Finanzbedarf des Zaren und den Bedingungen des Marktes gerichtet zu haben. So proklamierte der Zar in regelmäßigen Abständen ein Staatsmonopol derjenigen Produkte, die als Naturalsteuern angefallen waren. Effektiv konnte somit niemand diese Waren anbieten, bevor das Schatzamt nicht seine eigenen Lagerbestände verkauft hatte. Mitunter ließ der Zar den gesamten Bestand einer bestimmten Ware in einer Region zu einem von ihm selbst bestimmten Preis aufkaufen, so dass er beim Weiterverkauf an russische und ausländische Händler ebenfalls den Preis diktieren konnte. 47 Um 1650 verdoppelte sich das Ausfuhrvolumen von Archangelsk in kurzer Zeit und blieb während der gesamten zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Größenordnung von 800.000 Rubel bzw. 4 Mio. fl. pro Jahr. 48 Für diesen plötzlichen Anstieg waren hauptsächlich die Niederländer verantwortlich. In der zweiten Jahrhunderthälfte beherrschten sie den Russlandhandel in nie gekanntem Ausmaß: Allein das Geschäft mit Amsterdam machte etwa 90 Prozent des gesamten russischen Handels mit Westeuropa aus. Dementsprechend verschlechterte sich die Position der Engländer, vor allem weil die Hinrichtung Karls I. 1649 den Zaren über die Maßen verärgert hatte und dieser den Engländern fortan den Handel im Landesinneren untersagte. 49 47 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 107f.; Bd. 2, 12f., 18, 46-48; A M- BURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 141; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 347-349; K ORDT , Ot 2 ët (wie Anm. 43), 180. 48 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 74; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 442. Aufzeichnungen von Piet de Buck, der sich auf die Specificatie van Russe goedern soo door den banck jaarlijcx tot Archangel van d’uytlandsche coopliedens genegotiert en over zee gevoert worden [...], datiert auf den 1. Juni 1674, Staatsarchiv Stockholm, Kommerskollegii arkiv (old series), misc. bezieht. Vgl. È DIT D. R UCHMANOVA , Archangel’skaja torgovlja Rossii (XVII v.), in: Voprosy Istorii Evropejskogo Severa. Mežvuzovskij sbornik, Petrozavodsk 1980, 137-156, hier 145-152, 155f.; B USHKOVITCH , The Merchants (wie Anm. 39), 54-56. 49 V ELUWENKAMP , Èkonomi 2 eskie otnašenija (wie Anm. 36), 32; D ERS ., Archangel (wie Anm. 2), 107; D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 71f.; Z ACHAROV , Torgovlja (wie Anm. 39), 184; B USHKOVITCH , The Merchants (wie Anm. 39), 46f.; K ELLENBENZ , The Economic Significance (wie Anm. 39), 567f., 572. <?page no="391"?> Jan Willem Veluwenkamp 392 Mit dem Anstieg des Archangelsker Exports veränderte sich auch dessen Zusammensetzung drastisch. Der Pelzanteil fiel auf etwa 10 Prozent. Stattdessen wurde Leder mit 46 Prozent im Jahre 1674 zum wichtigsten Ausfuhrprodukt. Talg fiel im selben Jahr auf etwa zwei Prozent. Neben den traditionellen Exportartikeln Pelzen, Leder und Talg begannen nun Pottasche und Hanf wichtig zu werden. Wie in der ersten Jahrhunderthälfte exportierte Russland weiterhin große Mengen Getreide, allerdings nur, wenn die Preise in Amsterdam hoch waren und der Zar seine Erlaubnis gab. Zum Ende des Jahrhunderts gewannen Teer und Masten an Bedeutung. 50 Im gleichen Maße wie das Handelsvolumen stieg auch die Zahl der Häuser in Archangelsk, die sich im Besitz von Ausländern befanden, nach 1650 schnell von acht im Jahre 1649 auf 18 im Jahre 1664 und auf 25 in der zweiten Hälfte der 1670er Jahre. Die meisten der Eigentümer waren vermutlich Niederländer. 51 Ursache für diesen schnellen Anstieg waren geänderte Geschäftspraktiken. Niederländische Kaufleute machten auch weiterhin die jährliche Reise von Holland nach Archangelsk an Bord niederländischer Schiffe. Doch die Zahl dieser „Sommermigranten“ verringerte sich dank der Entwicklung des Kommissionshandels rapide. Es wurde üblich, dass niederländische Kaufleute, die ihren Wohnsitz permanent in Russland hatten, für Dritte Geschäfte tätigten. Immer mehr Niederländer kontaktierten einen niederländischen Kommissionär, um sie auf der jährlichen Messe zu repräsentieren, statt jedes Jahr aufs Neue die beschwerliche Reise selbst zu unternehmen. Auf diese Weise sparten sie nicht nur die lange Reisezeit, sondern profitierten auch von dem Umstand, dass die Agenten mit den Russen Geschäftsabschlüsse tätigen konnten, bevor die Schiffe in Archangelsk ankamen, und sich auch nach deren Abreise weiter um die Interessen der Niederländer kümmern konnten. Während die Zahl der Sommermigranten fiel, stieg diejenige der niederländischen Kommissionäre in Archangelsk. Manche von ihnen besaßen permanente russische Handelslizenzen und konnten den Winter in Moskau oder an anderen Orten im Landesinnern verbringen. Trotzdem war es für sie von Vorteil, ein Haus in Archangelsk zu besitzen, da sie während des Sommers längere Zeit dort lebten. Andere hatte keine Lizenz und damit auch nicht das Recht, im Inneren Russlands zu wohnen. Sie wa- 50 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 98-108; D E B UCK , De Amsterdamse handel (wie Anm. 39), 30; B USHKOVITCH , The Merchants (wie Anm. 39), 68; R UCHMANOVA , Archangel’skaja torgovlja (wie Anm. 48), 147; A TTMAN , The Russian and Polish markets (wie Anm. 39), 88, 91f.; K ELLENBENZ , The Economic Significance (wie Anm. 39), 562f., 568; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 442. 51 O VSJANNIKOV / J ASINSKI , Gollandcy (wie Anm. 41), 113f., 117; P OPOVA , Archangel’sk (wie Anm. 40), 44. <?page no="392"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 393 ren gezwungen, das ganze Jahr in Archangelsk zu verbringen. Für sie war der Besitz einer komfortablen Bleibe von entscheidender Bedeutung. 52 Während des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) florierte das Geschäft in Archangelsk wie nie zuvor, da der Krieg den Ostseehandel empfindlich beeinträchtigte. Das Exportvolumen der Stadt stieg 1710 auf fast 1,8 Mio. Rubel bzw. 5,8 Mio. fl. 53 Die Ausfuhr bestand nun hauptsächlich aus Juchtenleder, Hanf und Talg. Vor allem der Hanfhandel erlebte eine gewaltige Steigerung. 54 Wie früher war in manchen Jahren der Getreideexport von großer Bedeutung. Textilien, Waffen und Metalle dominierten den Import von Archangelsk. Eine kleine Gruppe ausländischer Kaufleute lieferte viele zehntausende Gewehre, Pistolen, Degen und andere Waffen, die die russische Regierung zwischen 1705 und 1710 im Ausland bestellte. In diesen Jahren wurde fast die Hälfte aller Waffen der russischen Armee importiert. Gleichzeitig vergrößerte Russland seine Kriegsindustrie, wodurch 1711 die umfangreichen Waffenimporte beendet werden konnten. 55 Der Anstieg des Handels in Archangelsk nach 1700 war vor allem das Ergebnis der sich intensivierenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und England. Der englische Bedarf an Schiffbaumaterial war seit etwa 1675 stark gestiegen. Nachdem die russische Regierung in den 1690er Jahren den Engländern den Handel im Landesinneren wieder erlaubt hatte, fanden sie ein reichhaltiges Angebot vor allem an Hanf vor. Der gewaltige Anstieg des Hanfexports ging zu zwei Dritteln auf das Konto des Handels mit England. Dadurch fiel der niederländische Anteil am Russlandhandel 52 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 115; D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 26, 59; Z ACHAROV , Torgovlja (wie Anm. 39), 192. 53 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 19, 74; R UCHMANOVA , Archangel’skaja torgovlja (wie Anm. 48), 152; S IMON H ART , Amsterdamse scheepvaart en handel op Noord- Rusland in de zeventiende eeuw, in: D ERS ., Geschrift en getal, Dordrecht 1976, 267-314, hier 313f. 54 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 99; Z ACHAROV , Torgovlja (wie Anm. 39), 195-197, 199; R UF ’ I. K OZINCEVA , Vnešnetorgovyj oborot Archangel’gorodskoj jarmarki i eë rol’ v razvitii vserossijskogo rynka, in: Issledovanija po istorii feodal’no-krepostni 2 eskoj Rossii. Sbornik statej, Moskau / Leningrad 1964, 116-163, hier 120, 124f. 55 V IKTOR Z ACHAROV , Jan Lups - Der Handelsagent Peters des Ersten, in: Around Peter the Great. Three Centuries of Russian-Dutch Relations, C AREL H ORSTMEIER u. a. (Hrsg.), Groningen 1997, 78-85, hier 80; J AN W. B EZEMER , Een geschiedenis van Rusland. Van Rurik tot Brezjnev, Amsterdam 1988, 76f., 86, 94f.; Z ACHAROV , Torgovlja (wie Anm. 39), 193-197, 199f., 207; D ERS ., Postavki zapadnoevropejskimi kupcami oružija i voennogo snarjaženija v Rossiju v na 2 ale XVIII v., in: Problemy Istorii SSSR 12 (Moscow 1982), 53-68, hier 53, 55-58, 61; P AUL D UKES , A History of Russia. Medieval, Modern, Contemporary, London 1974, 75, 78, 94; T HOMAS E SPER , Military Selfsufficiency and Weapons Technology in Muscovite Russia, in: Slavic Review 28 (1969), 185-208, hier 186, 198, 201-208; R EINHARD W ITTRAM , Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Grossen in seiner Zeit, 2 Bde., Göttingen 1964, Bd. 1, 235; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 187. <?page no="393"?> Jan Willem Veluwenkamp 394 auf das Niveau von etwa 45 Prozent, das er bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beibehielt. 56 Unmittelbar nach dem Nordischen Krieg machte der russische Handel erneut eine starke Veränderung durch. 1703 hatte Zar Peter St. Petersburg gegründet, und nach 1720 trat sein Entschluss, dass diese Stadt, und nicht Archangelsk, künftig der wichtigste Hafen Russlands sein sollte, in Kraft. Archangelsk verlor abrupt seine zentrale Position im russischen Außenhandel. Seine Bedeutung reduzierte sich auf die eines Ausfuhrhafens für sein unmittelbares Hinterland; die Exporte bestanden hauptsächlich aus Getreide, Talg, Leinsamen und Teer aus Nordrussland und dem Wjatka-Becken. 57 1726 summierten sich die Exporte aus Archangelsk auf etwa 285.000 Rubel, ein Drittel des Vorkriegsstandes, und 1741 beliefen sie sich auf ca. 426.000 Rubel, die Hälfte des Vorkriegsvolumens. St. Petersburg gewann, was Archangelsk verlor. Das Exportvolumen St. Petersburgs war im selben Jahr bereits mehr als acht mal so hoch wie das von Archangelsk. 58 Die Engländer zögerten nicht, Archangelsk durch St. Petersburg zu ersetzen. Sie wickelten nach 1721 nur wenige Geschäfte im alten Hafen Nordrusslands ab. Auch einige Niederländer verlegten ihre Geschäfte in den neuen Hafen an der Newa, doch im Gegensatz zu den Engländern hielten viele von ihnen an Archangelsk fest, und für ihre Schiffe blieb auch weiterhin der Dwina-Hafen der wichtigste russische Bestimmungsort. Daraus ergab sich, dass den Briten der größere Teil des Handels durch St. Petersburg zufiel, während die Niederländer wie vor dem Krieg den Handel durch Archangelsk dominierten. 59 56 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 154-156, 180; Z ACHAROV , Torgovlja (wie Anm. 39), 195-197, 200. 57 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 180f.; D ERS ., The Purchase and Export of Russian Commodities in 1741 by Dutch Merchants established at Archangel, in: Entrepreneurs and Entrepreneurship in Early Modern Times. Merchants and Industrialists within the Orbit of the Dutch Staple Market, C LÉ L ESGER / L EO N OORDEGRAAF (Hrsg.), Den Haag 1995, 85-100, hier 90f. 58 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 179f.; D ERS ., The Purchase (wie Anm. 57), 90; V IKTOR N. Z ACHAROV , Inostrannye kupcy v Archangel’ske vo vtoroj polovine XVIII v., in: Russkij Sever i Zapadnaja Evropa, J URIJ N. B ESPJATYCH (Hrsg.), St. Petersburg 1999, 360-387, hier 361; D ERS ., Torgovlja (wie Anm. 39), 201; J AKE V. T H . K NOPPERS , Dutch Trade with Russia from the Time of Peter I to Alexander I. A Quantitative Study in Eighteenth Century Shipping, 3 Bde., Montreal 1976, Bd. 1, 151, 153-155, 222, 224, 227, 230; Bd. 3, 787; K ELLENBENZ , The Economic Significance (wie Anm. 39), 573f., 579, 581; A UGUST F RIEDRICH B ÜSCHING , Nieuwe en volledige geographie of aardryksbeschryving, deel I, stuk 2, Rusland, Pruissen, Polen, Hongaryen en Europisch Turkyen, naar den vierden druk uit het Hoogduits vertaald en met des schryvers afzonderlyk schriftlyk medegedeelde vermeerderingen verrykt, Amsterdam 1790, 622. 59 D E B UCK , De Amsterdamse handel (wie Anm. 39), 31; Z ACHAROV , Inostrannye kupcy (Anm. 58), 361-363; D ERS ., Torgovlja (wie Anm. 39), 201, 203; J AN W ILLEM V ELUWENKAMP , The Archangel Connection. The Dutch Merchant Community at Archangel and the Dutch Trade System in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Circumpolar Journal 10, 3-4 (1995), 23-39, hier 32f.; K NOPPERS , Dutch trade (wie Anm. 58), Bd. 1, 151-153, 155, 240f.; K ELLENBENZ , The Economic Significance (wie Anm. 39), 574, 581. <?page no="394"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 395 Nach etwa 1760 begann eine Phase erneuter kommerzieller Prosperität für Archangelsk, diesmal allerdings zum Vorteil russischer, nicht ausländischer Kaufleute. In den zurückliegenden Jahrzehnten war der Außenhandel der Republik der Niederlande strukturell hinter die sich beschleunigende Dynamik des europäischen Handels und der Wirtschaftsentwicklung zurückgefallen. 60 Auch in Russland konnten die Niederländer nicht mehr mithalten. Zwar ging in den 1770er Jahren immer noch ein Viertel des Umschlags von Archangelsk auf das Konto der Niederländer, doch war ihre Position instabil geworden und ihre Zahl hatte sich seit den 1720er Jahren, als sie in Archangelsk 17 Kaufmannshäuser besaßen, auf nur eine Handvoll verringert. Ende des 18. Jahrhunderts begann die niederländische Gemeinde in Archangelsk in der deutschen aufzugehen. 61 3. Das Geschäftsverhalten der niederländischen Russlandkaufleute Die genaue Zahl der am Geschäft mit Russland beteiligten niederländischen Kaufleute ist unbekannt. Sicher ist jedoch, dass im 17. Jahrhundert jedes Jahr Dutzende von Niederländern von Amsterdam nach Archangelsk reisten, um dort Geschäfte zu machen. Unter den 94 Westeuropäern, die 1710 in Archangelsk Abschlüsse tätigten, sind 38 als Niederländer belegt, und in der ersten Dekade des 18. Jahrhunderts importierten mindestens 243 Amsterdamer Kaufleute Waren aus Archangelsk. 62 Eine empirische Untersuchung der Geschäftspraktiken dieser Kaufleute zeigt, dass diese sehr stark von den vier grundlegenden Strategien geprägt waren, die oben vorgestellt wurden. Gleichzeitig zeigt die Untersuchung aber auch Nuancierungen auf und veranschaulicht die sich aus der Quellenlage ergebenden Schwierigkeiten. Darzustellen ist dies am besten, indem die Geschichte eines der vielen „Archangelsker Häuser“ der Niederländer herausgegriffen und nachverfolgt wird: die der Ruts und einiger mit ihnen verwandter Familien. Um 1616 zog der in Köln ansässige und im Handel mit Seidenstoffen tätige Kaufmann Nicolaes Ruts mit seiner Frau und seinen Kindern nach Mülheim und kurz darauf nach Amsterdam. Dort begannen die Ruts, sich am Russlandgeschäft zu beteiligen. 1622 charterte Nicolaes Ruts ein Schiff für eine Reise nach Vardø oder, wenn gewünscht, nach Archangelsk. Im 60 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 197; J AN DE V RIES / A D VAN DER W OUDE , Nederland 1500-1815. De eerste ronde van moderne economische groei, Amsterdam 1995, 573, 580-582. 61 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 182, 198f.; D ERS ., The Archangel Connection (wie Anm. 59), 32; Z ACHAROV , Torgovlja (wie Anm. 39), 192, 201; E RIK A MBURGER , Die van Brienen und ihre Sippe in Archangel. Aus dem Leben einer Kolonie, Berlin 1936, 14f. 62 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 70, 159. <?page no="395"?> Jan Willem Veluwenkamp 396 selben Jahr machte sein ältester Sohn David Ruts eine Spende an die protestantische Kirche in Archangelsk, wohl weil er sich in Russland niederließ. 1627 heiratete er in Moskau Maria de Moucheron, eine Tochter Cosmo de Moucherons, der aus einer Familie prominenter niederländischer Russlandkaufleute stammte und als Architekt im Dienste der Zaren stand. 63 Nach 1622 charterten Vater Nicolaes und ein anderer seiner Söhne, Caspar, jedes Jahr ein oder zwei Schiffe für die Reise nach Archangelsk, mit dem Auftrag an den Kapitän, sich bei David Ruts oder dessen dortigem Repräsentanten zu melden. Das weist darauf hin, dass die drei Ruts’ gemeinschaftlich Handel trieben, wobei David die Geschäfte in Russland überwachte und sein Vater und Bruder jene in Amsterdam. Nach dem Tod des Vaters in Amsterdam im Jahre 1638 war es Caspar Ruts, der weiterhin die Schiffe nach Archangelsk charterte, und nach dessen Tod 1653 übernahm sein jüngerer Bruder Isaac Ruts diese Aufgabe. Isaac hatte sich 1637 in Russland niedergelassen und lebte dort einige Zeit, doch 1646 war er zurück in Amsterdam. 64 1626 wurde David Ruts, neben seiner Kooperation mit seinem Vater und Bruder, der Moskauer Repräsentant der Hamburger Kaufleute Gabriel Marselis und Albert Baltzar Berns, in deren Auftrag er Getreide aus Russland exportierte. Diese Stellung behielt er nur einige Jahre, und bereits 1629 fand er in dem prominenten Russlandkaufmann Karel Jansz du Moulin einen neuen Auftraggeber. Du Moulin war im russischen Fisch- und Getreidehandel und in der Herstellung von Tauwerk und Pottasche tätig. Taue stellte er in Cholmogory her, einer Stadt an der Nördlichen Dwina etwas südlich von Archangelsk, und Pottasche in der Nähe von Totma und Ustjug, entlang der Flüsse Suchona, Jug und der Nördlichen Dwina im Norden und entlang der Wolga in der Nähe von Nižnij Novgorod. Gemeinsam lieferten du Moulin und Ruts in den Jahren 1630-32 der russischen Regierung große Mengen an schwedischem Eisen und Schwefel, als Russland sich auf den Krieg mit Polen vorbereitete. Sie waren in jenen Jahren die Hauptlieferanten des Zaren für diese kriegswichtigen Güter. 1640 beantragten du Moulin und Ruts beim Zaren die Pacht für das Pottaschemonopol in den Wäldern südöstlich von Nižnij Novgorod für einen Zeitraum von zehn Jahren, doch der Zar lehnte ab. 65 63 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 49, 93; G EERT J ANSSEN , De handelsactiviteiten van de familie Ruts (ca. 1600-1648). De functie van de ‘familie’ binnen de onderneming van Nicolaas Ruts en zijn zonen. unveröff. Manuskript [Groningen 1999], 3f.; D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 19; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 70, 81, 213; J OHAN E. E LIAS , De vroedschap van Amsterdam, 2 Bde., Haarlem 1903/ 1905, Bd. 2, 1001f., 1006. 64 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 101; Janssen, De handelsactiviteiten (wie Anm. 63), 7f.; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 213; E LIAS , De vroedschap (wie Anm. 63), Bd. 2, 1001. 65 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 49, 93, 100f.; J ANSSEN , De handelsactiviteiten (wie Anm. 63), 3f.; D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 19, 41-43; K ELLENBENZ , <?page no="396"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 397 Bis 1640 war du Moulin nach langer Zeit wieder in die Niederlande zurückgekehrt. David Ruts dagegen verbrachte vermutlich den Rest seines Lebens in Russland und blieb dort weiter als Geschäftsmann tätig. 66 Von seinen Geschäften in den 1640er und 1650er Jahren ist allerdings wenig bekannt. 1649 exportierte er Juchtenleder, 1650 Pottasche. Er importierte Taft, seidene Kleidung und Spitze. 1650 übernahm er eine Bürgschaft für John Aborn, den Moskauer Agenten der Muscovy Company, der 1638-43 und 1649-54 das Kaviarmonopol gepachtet hatte. Für diese Bürgschaft musste er mit 9.000 Reichstalern bezahlen, die ihm Aborn 1651 mit 100 Fässern Kaviar zurückzahlte und die Ruts auf einem englischen Schiff nach Venedig schickte. Über Aborns Kaviarmonopol kauften Ruts und seine Hamburger Geschäftspartner Zacharias Belkens und Philips Verpoorten 1651 11.419 pud schwarzen armenischen Kaviar direkt vom Zaren in Archangelsk. 67 David Ruts starb 1659. Seine vier Söhne und zwei Töchter bleiben vermutlich in Russland. Der älteste, Nikolaus Ruts, war 1690 Direktor der Eisenwerke des Hauses Marselis in der Nähe von Tula südlich von Moskau; von zwei weiteren Söhnen, Isaak und Georg, ist kaum etwas bekannt. Der vierte Sohn, David Ruts d. J., übernahm wahrscheinlich die Firma des Vaters, beschränkte sich jedoch auf den Handel innerhalb Russlands, da er den privilegierten Status eines „Moskauer Ausländers“ genoss. 1702 errichtete er eine Pulvermühle außerhalb Moskaus. 1711 ging er bankrott, und die Mühle wurde zusammen mit seinem Moskauer Haus vom russischen Fiskus eingezogen. Ab 1715 verwaltete Ruts die staatlichen Pulvermühlen Russlands in Ochta bei St. Petersburg, doch bereits zwei Jahre später nahm man ihm wegen seines Alters und seiner Vergesslichkeit dieses Amt wieder ab. 68 Die Töchter des älteren David Ruts, die Schwestern der vier eben erwähnten Brüder, heirateten niederländische Unternehmer, die sich in Russland angesiedelt hatten. Maria heiratete, wahrscheinlich in den 1650er Jahren, Johan van Sweeden. Susanna Catharina ehelichte 1653 Hendrick Swellengrebel. Johan van Sweeden war 1646 als Küfer im Dienste Ruts’ nach The Economic Significance (wie Anm. 39), 552; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 70, 81, 95, 213; E LIAS , De vroedschap (wie Anm. 63), Bd. 2, 1001f., 1006. 66 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 101; J ANSSEN , De handelsactiviteiten (wie Anm. 63), 7f.; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 213; E LIAS , De vroedschap (wie Anm. 63), Bd. 2, 1001. 67 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 80, 86, 93, 98, 101; Bd. 2, 19f.; Bushkovitch, The Merchants (wie Anm. 39), 155; A LEKSANDR F. I ZJUMOV , Knigi ikrjanoj i potašnoj otda 2 i v 1653-1654 (7162) gg. v gor. Archangel’ske, Moskau 1913, 5-12. 68 K OVRIGINA , Nemeckaja sloboda (wie Anm. 44), 189; D ERS ., Inozemnye kupcy-predprinimateli Moskvy petrovskogo vremeni, in: Torgovlja i predprinimatel’stvo v feodal’noj Rossii. K jubileju professora russkoj istorii Niny Borisovny Golikovoj, L JUDMILA A. T IMOŠINA u. a. (Hrsg.), Moskau 1994, 190-213, hier 192-197, 204f.; D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 19; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 171, 213; Swellengrebel, in: Nederlands Patriciaat 13 (1923), 372-395, hier 384. <?page no="397"?> Jan Willem Veluwenkamp 398 Moskau gekommen. 1648 und 1649, als er vermutlich immer noch bei Ruts angestellt war, hielt er sich im Auftrag des Zaren in Astrachan auf, um dort den Weinbau zu verbessern und den Russen dieses Gewerbe beizubringen. Einige Jahre später, nach seiner Heirat mit Maria Ruts, machte er sich selbständig. Hendrick Swellengrebel wurde 1626 in Stettin geboren. Er folgte seinem älteren Bruder Erdman Swellengrebel nach Russland und war seit 1643 als Kaufmann aus Holland in Moskau und Archangelsk ansässig. Erdman Swellengrebel war in den 1630er Jahren nach Russland gegangen. 1634, im Alter von 17, war er für die Dauer von acht Jahren in den Dienst der Amsterdamer Kaufleute Daniel und Jean Bernards getreten. Er arbeitete in deren Kontor in Amsterdam, reiste aber auch nach Russland und überwinterte dort nötigenfalls, um die Geschäfte seiner Firma unter der Aufsicht von Hendrik Haax zu führen. Offenbar eröffnete er nach Ablauf seines Vertrages in Moskau seine eigene Firma. Inzwischen war auch sein jüngerer Bruder Hendrick zu ihm nach Russland nachgekommen. 1650 jedenfalls waren beide gemeinschaftlich in Archangelsk aktiv. 69 Die beiden Schwäger Swellengrebel und van Sweeden gingen in der Regel ihren jeweiligen Geschäften getrennt nach; während des russischpolnischen Krieges um die Herrschaft über die Ukraine (1654-1667) taten sie sich jedoch zusammen, um den Zaren mit Waffen zu beliefern. Die Größenordnung, die dieses Geschäft annahm, war enorm. In den Jahren 1659- 62 waren sie die wichtigsten Waffenlieferanten für Russland, dem sie riesige Mengen an Musketen, Karabinern, Pistolen, Degen und Harnischen bereitstellten. 70 Für den Einkauf dieser Waffen reiste van Sweeden 1659 und 1660 als Bevollmächtigter des Zaren nach Hamburg und Holland. 71 Die Bezahlung der beiden durch Russland erfolgte in Handelswaren, nämlich Pelzen, Hanf, Pottasche, Pech, Talg und Juchtenleder. 72 Nach dieser gemeinsamen Tätigkeit als Heereslieferanten führten sowohl van Sweeden als auch Swellengrebel ihre eigenen Geschäfte jeder für sich weiter. Über Swellengrebels Tätigkeit ist sonst kaum etwas bekannt. In den 1660er Jahren exportierte er Zobelpelze und Juchtenleder. 1675 steckte er in großen finanziellen Schwierigkeiten, die seinen eigenen Angaben zufolge durch einen Brand verursacht worden waren. 1676 wurde er zum Hüter der Waffenkammer des Kreml von Moskau ernannt; dieses Amt behielt er 69 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 148. D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 30f.; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 155. 70 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 38, 44, 48. 71 A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 118; U HLENBECK , Verslag (wie Anm. 43), 43. 72 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 48, 50; T HEODOR J. G. L OCHER / P IET DE B UCK , Nicolaes Witsen, Moscovische Reijse 1664-1665. Journaal en aantekeningen (Linschoten Vereniging 66-68), 3 Bde., Den Haag 1966-1967, Bd. 1, xxxvi. <?page no="398"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 399 bis 1688. 73 Hendrick Swellengrebel starb 1699 im Alter von 73 Jahren in Moskau. 74 Johan van Sweeden hatte einen scharfen Blick sowohl für seine eigenen Interessen als auch für jene der russischen Regierung. Er bewies innovativen Unternehmergeist in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen, die bisher in Russland nur wenig oder gar nicht entwickelt waren. Im Mai 1665 schloss er eine Vereinbarung mit der russischen Regierung, laut der er ausländische Zeitungen nach Russland leiten und eine Postverbindung mit Westeuropa aufbauen sollte, um den Bedarf sowohl der russischen Behörden als auch der ausländischen Kaufleute im Land zu decken. Anfangs verhinderte der Krieg mit Polen die Realisierung dieser Pläne. Auch vom Friedensschluss der beiden Mächte im Dezember 1667 profitierte van Sweeden nicht, da ihm der Zar den Postdienst im Mai 1668 aus den Händen nahm. Inzwischen hatte er allerdings einige neue Projekte in Angriff genommen. 1655 hatte der Patriarch Nikon an der Pachra außerhalb von Moskau eine Papiermühle für die Regierungsdruckerei gebaut. Die Mühle ging auch in Betrieb, wurde jedoch von einer Überschwemmung - vermutlich 1666 - fortgespült. Van Sweeden übernahm ihren Neubau und den weiteren Betrieb. Die Regierung übertrug ihm die Mühle und verpachtete ihm obendrein ihre Kornmühle an der Pachra bis 1672. Die Papiermühle hatte Schreibpapier von bester ausländischer Qualität herzustellen. Zu diesem Zweck engagierte van Sweeden einen Mühlenbauer und einen Papiermachermeister aus Essen, dazu fünf weitere Handwerker aus Amsterdam. 75 Einige Zeit später, vermutlich 1667, gründete van Sweeden eine Fabrik für Wolltuch in Moskau - die erste ihrer Art, da dieser Industriezweig in Russland bis dato nicht existiert hatte. Ebenfalls 1667 widmete van Sweeden auf Wunsch des Zaren sein Organisationstalent wiederum der Entwicklung einer gänzlich anderen Art von Geschäft: Im Mai dieses Jahres schloss der Zar einen Handelsvertrag mit Persien. Zum Schutz der daraus resultierenden Handelsschifffahrt sollte eine Anzahl leichterer Kriegsschiffe gebaut werden. Er richtete an der Oka eine Werft ein und sandte van Sweeden in die Niederlande, um Schiffszimmerleute und Seeleute anzuwerben und das nötige Material zu beschaffen. Tatsächlich rekrutierte van Sweeden für den Zaren vier Schiffszimmerleute und fünfzehn Seeleute, darunter auch Kapitän David Buthler. Buthler war ein Sohn von Agneta Ruts, einer Schwester von van 73 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 1, 99, 105f., 116; Bd. 2, 52. 74 A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43); 214; S WELLENGREBEL (wie Anm. 68), 384. 75 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 11; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 155f., 198, 204; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 367f., 393, 399, 401f. <?page no="399"?> Jan Willem Veluwenkamp 400 Sweedens Schwiegervater. 1669 stellten die Schiffbauer Russlands erstes Kriegsschiff, die Orël (Adler) fertig, und David Buthler wurde ihr Kapitän. 76 Johan van Sweeden starb unerwartet 1669, ein Jahr nach Beginn seines letzten Projektes, der Fabrikation von Venetianischem Glas. Seine Frau, Maria Ruts, erbte seine Unternehmen. Sie führte die Papiermühle bis mindestens 1674 weiter, die Tuchmanufaktur bis in die 1680er Jahre. 1673 übertrug ihr der russische Staat die Pulvermühle von David Bacheracht, einem aus Glückstadt stammenden Kaufmann, der jahrzehntelang in Russland gearbeitet hatte, bis er 1671 starb. Maria Ruts wandelte seine Pulvermühle in eine Papiermühle um. 77 Das Sterbedatum von Maria Ruts ist nicht bekannt. Es könnte mit ihrem Tod zusammenhängen, dass die von ihr umgewandelte Papiermühle 1676 an ihren Schwiegersohn, Herman Löfken, den Mann ihrer einzigen Tochter Maria van Sweeden, verpachtet wurde. Auf Befehl des russischen Staates wandelte Löfken den Betrieb 1682 wieder zur Pulvermühle um. Nach seinem Tod 1685 wurde sie von seiner Witwe weitergeführt. 1693 beteiligte sie ihren Schwiegersohn, Rudolf Meijer, den Mann ihrer Tochter Katharina Löfken, an der Pacht. Ab 1696 führte er sie mit Gewinn allein weiter, bis die Mühle 1722 abbrannte. Sie wurde nicht wieder aufgebaut. 78 Rudolf Meijer wurde einer der bekanntesten niederländischen Geschäftsleute in Russland und gelangte zu großem Reichtum. Der Betrieb der Pulvermühle war nur ein Teil seiner Unternehmungen. Er exportierte Getreide aus Russland und importierte Waffen für die Armeen des Zaren. Außerdem belieferte er die russischen Behörden mit Papier und den Zarenhof mit Lebensmitteln und Wein. Zwischen ihm und dem Zaren entwickelte sich eine enge Beziehung, die Meijers Ansehen und Bedeutung unterstreicht. Er lebte im Ausländerquartier von Moskau und traf 1690 zum ersten Mal mit Peter zusammen, als dieser als junger Zar begann, das Quartier regelmäßig aufzusuchen. Im Lauf der Zeit erwies sich Meijer in mehrerlei Hinsicht für Peter als nützlich, zum Beispiel bei der Anwerbung von Handwerkern und der Beschaffung von Instrumenten im Ausland. Die Nähe der beiden 76 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 11, 52; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 198, 204, 213; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 393, 399, 401f.; B ENJAMIN C ORDT , Beiträge zu einer Russisch-Niederländischen Bibliographie, in: Verslag aangaande een onderzoek in de archieven van Rusland ten bate der Nederlandsche geschiedenis. Op last der regeering ingesteld, C HRISTIANUS C. U HLENBECK (Hrsg.), Den Haag 1891, 243-272, hier 265f. 77 D ËMKIN , Zapadnoevropejskoe kupe 2 estvo (wie Anm. 39), Bd. 2, 11f.; K OVRIGINA , Inozemnye kupcy-predprinimateli (wie Anm. 68), 191f., 195, 208-210; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 155, 177f., 180, 198, 202-204; K ULISCHER , Russische Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 39), 393, 399, 402. 78 K OVRIGINA , Inozemnye kupcy-predprinimateli (wie Anm. 68), 191f., 195, 208, 210; A MBURGER , Die Familie (wie Anm. 43), 177f., 180, 202-204. <?page no="400"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 401 Männer lässt sich anschaulich anhand der Einladungen von Meijer zu Festlichkeiten und Zeremonien bei Hof zeigen. In den 1720er Jahren suchte der Zar Meijer regelmäßig in dessen Moskauer Haus auf, und er war unter den Gästen, als Meijers Tochter Elisabeth Hendrik van Jever und sein Sohn Herman Anna Lups heirateten. 79 Sowohl Anna Lups als auch Hendrik van Jever entstammten bekannten Familien niederländischer Russlandkaufleute. Anna Lups’ Vater Jan Lups war einer jener bedeutenden Russlandkaufleute, die Zar Peter I. die Waffen für seine neuen Armeen lieferten. Er lebte von etwa 1690 bis 1718 in Russland. Hendrik van Jevers Vater Volkert van Jever hatte sich im späten 17. Jahrhundert als Kaufmann in Moskau und Archangelsk niedergelassen und war reich geworden. Hendrik führte das väterliche Geschäft in Archangelsk weiter. Anfangs importierte er vor allem Wollstoffe und exportierte große Mengen von „Pomorengütern“, also hauptsächlich Fisch und Tranöl, die von den Pomoren, den an der Weißmeerküste im hohen Norden lebenden Russen, hergestellt wurden. Nach van Jevers Heirat mit Elisabeth Meijer nahmen sein Schwager Herman Meijer und sein Neffe, Patensohn und Namensvetter sowie Teilhaber von Meijers Schwiegervater, Jan Lups d. J. ihn in ihr Geschäft auf. 1725 erwarben Meijer und Lups das russische Monopol für den Teerexport. Im selben Jahr beauftragten sie van Jever mit der Wahrnehmung ihrer Monopolgeschäfte in Archangelsk. Im Teerexport aus Archangelsk blieb van Jever sein Leben lang engagiert. 80 Hendrik van Jevers jüngerer Bruder Volkert van Jever zog nach Amsterdam und war dort 1730 bereits als Russlandkaufmann etabliert. Er war Hendriks wichtigste Geschäftsverbindung nach Amsterdam. Die Zusammenarbeit der beiden Brüder ist durch einige Verträge von 1740/ 41 belegt. Volkert charterte diesen Verträgen zufolge in Amsterdam Schiffe für den Transport von Teer, Getreide und Leinsamen nach Archangelsk und in einigen Fällen auch von Talg, Matten und Bürsten von dort nach Amsterdam. In fast allen Fällen lautete seine Anweisung an die Kapitäne, sich in Archangelsk bei der Firma seines Bruders zu melden. Dass viele der Schiffe mit Teer beladen wurden, lag zweifellos an der Rolle, die Hendrik bei der Ausbeutung des Teermonopols von Jan Lups und Herman Meijer spielte. 81 Diese Skizze der Geschäfte und der Familienbeziehungen der Familien Ruts, van Sweeden, Swellengrebel, Löfken, Meijer, Lups und van Jever ließe sich leicht erweitern, und ähnliche Geschichten könnten von vielen anderen 79 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 189. 80 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 165-169; D ERS ., Potëcha v Nemeckoj slobode. Gollandskij archangelogorodec Chendrik van Ever i ego okruženie v pervoj polovine XVIII v., in: Russkij Sever i Zapadnaja Evropa, J URIJ N. B ESPJATYCH (Hrsg.), St. Petersburg 1999, 341-359, hier 348f., 354; K OVRIGINA , Nemeckaja sloboda (wie Anm. 44), 39. 81 V ELUWENKAMP , Potëcha (wie Anm. 80), 348-351, 355. <?page no="401"?> Jan Willem Veluwenkamp 402 Familien im Russlandgeschäft berichtet werden. Die Skizze vermittelt einen Eindruck von den Vorgängen, die sich abspielten, und von den Auskünften, die die Quellen darüber geben. Es gibt Hinweise auf die vier grundlegenden unternehmerischen Strategien - Spezialisierung, langfristige Geschäftsbeziehungen, Kooperation, vorzugsweise mit Verwandten, und Generationennachfolge in der Geschäftsführung - und auf die Familiennetzwerke, die aus diesen Prozessen hervorgingen. Die in dieser Skizze vorgestellten Personen waren Kaufleute, die sich auf das Russlandgeschäft spezialisiert hatten - viele von ihnen so weit, dass sie sich in Russland niederließen. Allerdings lassen sich wenige Informationen finden, die Aufschluss darüber geben könnten, inwieweit jeder von ihnen sich auf bestimmte Handelswaren spezialisierte und inwieweit sich ein Muster in der Zusammensetzung ihrer Warenpalette ausmachen lässt. Vermutlich haben sich die meisten Russlandkaufleute spezialisiert und mit einigen, nicht allen, Produkten gehandelt - wobei sie allerdings nicht zögerten, die Zusammensetzung ihrer Produktpalette bei einer günstigen Gelegenheit zu ändern. Umfassendere Forschungen zur Spezialisierung der im 17. Jahrhundert im niederländischen Russlandhandel tätigen Familienfirmen de Vogelaer und Klenck über drei Generationen hinweg stützen diese Hypothese. Zwischen 1589 und etwa 1650 kaufte diese Firma in Russland Fisch, Tranöl, Talg, Häute und Kaviar, außerdem ab 1624 Getreide. Ab ungefähr 1650 wurden Tran, Häute und Kaviar durch Pottasche und Hanf abgelöst, so dass das Warensortiment dann aus Fisch, Talg, Getreide, Pottasche und Hanf bestand. Nach 1670 waren Talg und Fisch ebenfalls verschwunden, so dass sich ab diesem Zeitpunkt das Warensortiment auf die „neuen“ Produkte Getreide, Pottasche und Hanf beschränkte. Dies zeigt, dass sich die Kaufleute spezialisierten, aber deswegen nicht unflexibel waren. Wollten sie langfristig erfolgreich sein, mussten sie die Marktentwicklung aufmerksam verfolgen und immer bereit sein, neue Wege einzuschlagen. Ihre Geschäftspraxis war letztendlich von Spezialisierung ebenso bestimmt wie von Flexibilität. 82 Zumindest die großen und erfolgreichen Russlandkaufleute waren recht vielseitig, da sie mit großen Angebots- und Nachfrageschwankungen zurechtkommen mussten. Wenn Russland Krieg führte, stieg die Nachfrage nach Waffen sprunghaft an. Stiegen die Getreidepreise stark an, wurde Russland für einige Jahre zu einem riesigen Kornlieferanten. Darüber hinaus monopolisierte der Zar Produkte, beispielsweise Getreide, Pottasche und Teer, und verpachtete das ausschließliche Handelsrecht für diese Produkte nach seinem 82 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 176f.; D ERS ., Kompanija „De Vogelar i Klenk“ gollandsko-russkich kommer 2 eskich otnošenijach XVII v., in: Niderlandy i Severnaja Rossija, J URIJ N. B ESPJATYCH / D ERS . / L JUDMILA D. P OPOVA (Hrsg.), St. Petersburg 2003, 37-73, hier 63f. <?page no="402"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 403 Gutdünken. In allen diesen Fällen gehörte der Erfolg letztendlich den Gewitzten und Risikofreudigen. Über den zweiten Mechanismus unternehmerischen Verhaltens, die Tendenz zur Pflege fester Beziehungen, gibt die obige Skizze kaum Auskunft. Die Kunden und Lieferanten der Firmen Ruts, van Sweeden, Swellengrebel, Löfken, Meijer, Lups und van Jever kennen wir kaum. In welchem Umfang unterhielten die niederländischen Russlandkaufleute dauerhafte Beziehungen mit ihren Geschäftspartnern? Eine klare Antwort darauf könnte nur auf der Basis der Firmenarchive gegeben werden, doch wie bereits erwähnt, ist der Amsterdamer Kaufmann David Leeuw im frühen 18. Jahrhundert vermutlich der einzige niederländische Kaufmann, dessen Aufzeichnungen erhalten sind. Sie zeigen, dass Leeuws Kontakte mit seinen Korrespondenten in Archangelsk jeweils sehr schnell wieder abgebrochen sind. Sie zeigen aber auch, dass in allen Fällen beide Seiten am Anfang die Hoffnung hegten, die Beziehung möge von Dauer sein. Der in Russland ansässige Hendrik Swellengrebel zum Beispiel, ein Sohn des erwähnten Hendrick Swellengrebel, hatte viele Jahre lang Geschäfte mit David Leeuws Vater und Bruder gemacht und hoffte, nachdem beide gestorben waren, mit David ins Geschäft zu kommen. Das Scheitern erklärt sich damit, dass Leeuw in Archangelsk Luxusgüter einführte zu einer Zeit, in der die Preise für solche Produkte in Russland recht niedrig waren, was wiederum mit einem Einbruch in der Nachfrage infolge des Nordischen Krieges, der Amsterdam größtenteils von den Ostseemärkten abgeschnitten hatte, zusammenhing. Das Ergebnis war, dass Leeuws Beziehung zu seinen Archangelsker Korrespondenten jedes Mal sehr schnell unter Druck geriet. 83 Zweifellos waren bei günstigeren Marktbedingungen die Geschäftsbeziehungen langlebiger. Das Interesse der Kaufleute an langfristigen Geschäftsbeziehungen zeigt sich zusätzlich in vereinzelten Episoden aus den Geschäftskontakten zwischen Niederländern und Russen. Die Firma de Vogelaer und Klenck zum Beispiel pachtete den Fischfang in den Flüssen Ponoi und Jokanga auf der Kola-Halbinsel von etwa 1623 bis 1665. Dieses langfristige Unternehmen kann wenigstens zum Teil durch die von der Firma gewünschte Sicherheit der Fischversorgung erklärt werden. Das gleiche Bedürfnis offenbaren auch die vielen Pachtverträge für den Kauf, die Produktion und den Export von „geschützten“ Gütern wie Kaviar, Teer und Pottasche. 84 Die Neigung zur Zusammenarbeit, vor allem mit Verwandten, und die entsprechende Neigung zu Heiratsallianzen innerhalb der Branche ist bei der Familie Ruts und den mit ihr verbundenen Familien deutlich zu sehen. Die 83 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 169-176. 84 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 176. <?page no="403"?> Jan Willem Veluwenkamp 404 Mitglieder der Familie Ruts arbeiteten zusammen, um ihre Geschäfte einträglicher zu machen, ebenso die Gebrüder Swellengrebel, die Schwäger van Sweeden und Swellengrebel und die drei Schwäger Herman Meijer, Jan Lups und Hendrik van Jever. Diese Familien und Firmen waren alle durch Heiratsallianzen verknüpft. Sie zeigen auch beispielhaft die Neigung, das Geschäft der nächsten Generation zu übergeben. Die Söhne von Nicolaes Ruts führten sein Geschäft weiter, und einem von ihnen, David Ruts, folgten mindestens zwei seiner eigenen Söhne in seinen Fußstapfen nach. Eine seiner Töchter heiratete den niederländischen Russlandkaufmann van Sweeden. Van Sweedens Witwe Maria Ruts erbte seine Unternehmen, und mindestens eine ihrer Mühlen ging an ihren Schwiegersohn Löfken und an dessen Schwiegersohn Meijer über. 4. Schluss Die Analyse des Geschäftsverhaltens niederländischer Russlandkaufleute bestätigt und illustriert die theoretischen Konzepte, mittels derer die Existenz kommerzieller Familiennetzwerke unter niederländischen Kaufleuten erklärt wurden. Im Gegenzug hilft die Theorie bei der Erklärung der Vorgänge im Russlandhandel. Die Familiennetzwerke waren das direkte Ergebnis von vier weit verbreiteten Geschäftsstrategien: Kaufleute spezialisierten sich, unterhielten langfristige Geschäftsbeziehungen mit Kunden und Lieferanten, kooperierten mit Kaufleuten aus derselben Branche, vorzugsweise Verwandten, und übertrugen ihre Firmen an die nächste Generation. Diese Strategien sind die Substanz hinter jenen Fragmenten des Geschäftslebens, die die Quellen zeigen. Familiennetzwerke als Ergebnis dieser vier grundlegenden Strategien waren ein dem niederländischen Handelssystem inhärentes Charakteristikum. Ihre Funktion in diesem System war letztendlich die Gewährleistung von Sicherheit, Stabilität und Vertrauen, ohne die weit reichende geschäftliche Entscheidungen in einer Zeit, in der die meisten Kaufleute täglich das Familienkapital riskierten, weil sie ohne den Schutz einer Sozialversicherung und eines noch schwach entwickelten internationalen Rechtssystems arbeiteten, nicht zu treffen waren. Der Schutz eines kommerziellen Familiennetzwerks war notwendig, um in einer gefährlichen Welt verantwortlich handeln zu können. Dies bedeutete allerdings nicht, dass Familiennetzwerke geschäftlichen Erfolg garantieren konnten. Es gab immer Kaufleute, die in Schwierigkeiten gerieten. Manche, denen es am Glück oder am Talent mangelte, hatten selbst unter günstigen Umständen keinen Erfolg. Andere mochten über beides verfügen und Opfer der Umstände in einer Zeit widriger Marktbe- <?page no="404"?> Kaufmännisches Verhalten im niederländischen Russlandhandel 405 dingungen werden. Sie konnten entweder versuchen, sich durchzukämpfen, oder ihre Branche aufgeben und sich nach Alternativen umsehen. Dass Familiennetzwerke dem niederländischen Handelssystem Stabilität und Energie verliehen, heißt andererseits auch nicht, dass ihre innere Struktur und ihre geschäftliche Ausrichtung starr und unveränderlich waren. Ständig kamen neue Personen zu einem bestehenden Netzwerk hinzu, während andere herausfielen. Viele Neulinge waren Angestellte etablierter Unternehmer. Manche gingen mit ihrem Arbeitgeber eine Partnerschaft ein, andere heirateten die Tochter ihres Chefs. Diejenigen, die ein kommerzielles Familiennetzwerk verließen, waren entweder erfolglos gewesen und versuchten nun ihr Glück woanders, oder sie waren so erfolgreich, dass sie eine höhere Sprosse auf der sozialen Leiter erklimmen und in das Patriziat einziehen konnten. Der andere Aspekt der Anpassungsfähigkeit solcher Netzwerke war die ständige Veränderung ihrer geschäftlichen Ausrichtung. Eine Reorientierung ergab sich aus veränderten Gegebenheiten innerhalb einer Branche und der allmählichen Anpassung einer wachsenden Zahl von Unternehmern desselben Netzwerks an die neuen Umstände. Auf diese Weise konnte ein Netzwerk langsam oder auch plötzlich von einer Branche in die nächste wechseln. Es konnte auch auseinanderbrechen; seine Mitglieder gruppierten sich dann zu neuen Netzwerken mit anderer geschäftlicher Ausrichtung um. In dieser Weise entwickelten sich die Familiennetzwerke des Archangelsker Handels, nachdem im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts Scharen von Händlern aus dem Ostsee- und Skandinavienhandel in das dortige Geschäft eingestiegen waren. Im Laufe des 17. und frühen 18. Jahrhunderts passten sich die niederländischen Kaufleute in Archangelsk fortwährend den sich ändernden Marktgegebenheiten an. Als im Laufe des 18. Jahrhunderts die Bedingungen ungünstiger wurden, zog sich einer nach dem anderen aus dem Geschäft zurück und schloss sich in neuen Netzwerken zusammen, wie denen der Kaufleute von St. Petersburg, der Gewürzhändler oder derjenigen, die sich aus dem aktiven Geschäft zurückzogen und zu Rentiers wurden. 85 Letztendlich galt die Loyalität des Kaufmanns nicht seiner Firma, seinem Netzwerk oder der Handelswelt, deren Teil er war, sondern seiner Familie. Sein Ziel war die Erhaltung von deren sozialer Position. Seine Geschäfte und seine Beziehungen waren lediglich die Mittel zu diesem Zweck, und Netzwerke und Handelssysteme nur deren Nebeneffekte. 85 V ELUWENKAMP , Archangel (wie Anm. 2), 33, 201. <?page no="406"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 1 Miki Sugiura 1. Einleitung In diesem Beitrag wird das Verhältnis zwischen Eheschließung und der zunehmenden Anzahl der wijnkopers, den regional ausgerichteten Weingroßhändlern in Amsterdam, mit einem Schwerpunkt auf dem Zeitraum von 1660 bis 1710 analysiert. Die Bedeutung von Familiennetzwerken für Kaufleute wird niemand bestreiten, denn strategische Eheschließungen in ökonomischer Absicht und die Familie als Grundlage von Geschäftsbeziehungen waren für Fernhandelskaufleute zu dieser Zeit üblich. Unternehmensgeschichtliche Untersuchungen über das frühneuzeitliche Amsterdam haben die Heiratsstrategien von Fernhändlern diskutiert und dabei einige hervorragende Beispiele von Kaufmannsbrüdern und untereinander verwandten Kaufleuten vorgestellt, die ihre Verzweigungen über verschiedene Schlüsselzentren des europäischen Handels ausgedehnt und ihre Geschäfte durch intensivierte Verbindungen zwischen Kaufmannsfamilien ausgebaut haben. 2 Dennoch sind, soweit ersichtlich, Heiratsmuster und -strategien von anderen Gruppen von Kaufleuten, wie denjenigen, die im interregionalen und regionalen Handel tätig waren, kaum diskutiert worden. Die Gründe dürften in den Kategorisierungen der Kaufleute liegen. Die Kaufleute der frühen Neuzeit werden üblicherweise in zwei Kategorien unterteilt: in diejenigen, die umfangreichen Großhandel (groothandel) betrieben und diejenigen, die sich im kleinen Maßstab im Einzelhandel (kleinhandel) betätigten. Die regional spezialisierten Großhändler werden dabei meist den ersteren zugerechnet und häufig werden ihre Heiratsmuster, Familienstrategien und andere be- 1 Der Beitrag wurde von Christof Jeggle aus dem Englischen übertragen. 2 Für einen Überlick vgl. A DRIANUS H UBERTUS P OELWIJK , In dienste vant suyckerbacken. De Amsterdamse suikernijverheid en haar ondernemers, 1580-1630, Hilversum 2003, 200-207; C LÉ L ESGER , Over het nut van huwelijk, opportunisme en bedrog. Ondernemers en ondernemerschap tijdens de vroegmoderne tijd in theoretisch perspectief, in: Kapitaal, ondernemerschap en beleid. Studies over economie en politiek in Nederland, Europa en Azië van 1500 tot heden, afscheidsbundel voor prof. dr. P. W. Klein, C AROLUS A. D AVIDS / W ANTJE F RITSCHY / L OES A. VAN DER V ALK (Hrsg.), Amsterdam 1996, 55-75; Enterpreneurs and Entrepreneurship in Early Modern Times. Merchants and Industrialists within the Orbit of the Dutch Staple Market, C LÉ L ESGER / L EO N OORDEGRAAF (Hrsg.), Den Haag 1995. Zusätzlich sind gemeinsame Religion, Ethnie oder Herkunftsorte als wichtige verbindende Faktoren angesehen worden. Die Beziehungen unter den jüdischen, hugenottischen oder südniederländischen Immigranten scheinen in Familien von Kaufleuten im Vergleich zu anderen Erwerbstätigkeiten sehr viel stärker ausgeprägt gewesen zu sein. <?page no="407"?> Miki Sugiura 408 triebliche Aspekte ganz einfach denen von Fernhandelskaufleuten (koopman / kooplieden) gleich gesetzt. Allerdings nahm mit dem Wachstum von Amsterdam als Verteilungszentrum die Anzahl der regional spezialisierten Kaufleute eindeutig zu und sie setzten sich als eigene Schicht von den internationalen Seekaufleuten ab. Die wijnkoper bildeten unter ihnen die größte Gruppe. Wie später noch deutlich werden wird, waren die wijnkoper insofern einzigartig, als ihre Gilderolle von 1660 eindeutig festlegte, dass sie Wein in einer Größenordnung verkaufen durften, die zwischen den Verkaufsmengen der Großhändlern und der kleinen Einzelhändler lag. Daher waren sie von der Definition her mittelgroße Kaufleute. Dieser Aufsatz möchte ihre Heiratsmuster und Familienstrategien während ihres Aufstiegs analysieren: War die Eheschließung entscheidend für den Einstieg in ihr Geschäft oder dessen Betrieb? Welche Heiratsmuster lassen sich feststellen? Hatten diese Kaufleute dieselben Heiratsmuster wie die Fernhandelskaufleute? Was waren die Unterschiede? Wer war die begehrenswerteste Braut für sie? Um diese Fragen zu beantworten, bietet das folgende Kapitel einen Überblick über den Aufstieg der wijnkopers und ihre Tätigkeiten. Das nächste Kapitel zeigt die Unterschiede zwischen den Heiratsmustern der wijnkopers und der kooplieden. Das dritte Kapitel untersucht Heiratsverträge der wijnkopers aus der Zeit zwischen 1701 und 1710, um nach den Gründen der Eheschließung zu fragen. Das letzte Kapitel enthält eine Fallstudie über eine vermögende wijnkopers Tochter. 2. Der Aufstieg der wijnkopers in Amsterdam Vielfältige Typen von Anbietern und Händlern waren am Weinhandel in Amsterdam beteiligt. Die wijnkopers bildeten dabei lediglich einen speziellen Typus, da sie ihre Transaktionen in einer mittleren Position zwischen internationalem Seehandel und lokalem Einzelhandel durchführten. Bei der Etablierung der wijnkopersgild im Jahr 1660 wurden die wijnkopers von Amsterdam eindeutig von den „Großimporteuren: grossiers, zeehandelaars“ und den „spezialisierten Einzelhändlern für Wein: tappers“ unterschieden. Von diesem Zeitpunkt an war es den wijnkopers lediglich gestattet, eine Menge zu verkaufen, die dazwischen lag, nämlich mehr als „Kannen oder Becher“ im Einzelhandel, jedoch weniger als ein vat (900 Liter). 3 Diese neue 3 J OHAN C. B REEN , Uit de Geschiedenis van den Amsterdamschen Wijnhandel, in: Jaarboek der Historische Genootschap van Wijnhandel, 16-18 (1917-19), hier 18 (1919), 85: „Uitgezonderd werden echter alle kooplieden, die bij geen kleinere hoeveelheden verkochten dan van twaalf okshoofden of drie vaten Franschen, een voedervat Rijnsehen of een pijp Spaanschen wijn, en <?page no="408"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 409 Graphik 1: Position der wijnkopers im Amsterdamer Weinhandel Herste ller Grossier/ Koopman Kommissionshä ndle r Versteigerung Austa usch wijnverlater wijnkoper Zapfe r (spe zialisierter Einze lhä nd ler für Wei n) Herberge n Gastwirte wijnkoper Konsume nte n Definition war einzigartig. In keiner anderen Stadt der Niederlande wurden die wijnkopers je als „Kaufleute in der Mitte“ beschrieben, noch geschah dies mit Kaufleuten für irgendwelche andere Produkte. Die wijnkopers waren unabhängige Kaufleute, die mit ihrem eigenen Kapital arbeiteten. Ein anderer Typus der am Weinvertrieb Beteiligten, die wijnverlater, die ursprünglich das Recht hatten, Wein von einem Fass in kleinere Einheiten zu transferieren und auszuliefern, wobei sie keine Rechte zum Verkauf besaßen, begann sich seit Mitte des 17. Jahrhundert als Vermittler von Fernhandelskaufleuten, den kooplieden, zu betätigen. In diesem Zusammenhang bedeutete die Neubestimmung der wijnkopers, dass diese jene unabhängigen Kaufleute waren, die sich hauptsächlich im Inlandsvertrieb engagierten. 4 Trotz dieser komplizierten Aufteilung der Aufgaben zwischen den Anbietern von Wein wuchsen nach dieser neuen Definition von 1660 die wijnkopers zur größten Gruppe spezialisierter Kaufleute in Amsterdam heran. anderzijds allen die ter consumptie of ter sleet bij kannen of roemers verkochten.“ Die Obergrenze lag ursprünglich bei drei vaten (2.700 Liter), aber nach Beschwerden der wijnkopers wurde diese auf ein vat (900 Liter) gesenkt. 4 Weitere Angaben in M IKI S UGIURA , Groothandel vs. Kleinhandel? The Merchants’ Divisions of Functions in Early Modern Amsterdam, in: ‘Mag het iets meer zijn? ’ Detailhandel en distributie van consumptieartikelen in de Nederlanden, 1450-1850, R OGER D E P EUTER / E RWIN S TEEGEN (Hrsg.), Brüssel, im Druck. <?page no="409"?> Miki Sugiura 410 Ihre Gilde fing mit 280 Mitgliedern im Jahr 1660 an, sie zählte dann 485 Mitglieder im Jahr 1684 und schließlich 612 bei der offiziellen Zählung von 1668. Sie entwickelte sich zweifellos zur größten der Gilden für spezialisierte Kaufleute in Amsterdam. Unter den Bräutigamen, die in den Heiratsregistern von Amsterdam geführt wurden, begannen sie nach 1660 die anderen spezialisierten Kaufleute zahlenmäßig zu überrunden (Graphik 2). Im Einkommenssteuerregister von 1742 lassen sich immer noch mehr als 400 von ihnen zählen und sie hatten ein Einkommensniveau erreicht, das weit über dem Durchschnitt lag. 5 Graphik 2: Spezialisierte Kaufleute in den Heiratsregistern von Amsterdam 1580-1719. Anzahl der Bräutigame bei der ersten Heirat Quelle: GAA, Ondertrouwsregister 1651-1725. Dieses schnelle Wachstum führte nicht zwangsläufig zu einer hohen Fluktuation. Die Verzeichnisse der Gildemitglieder für das Spitzenjahr 1688 zeigen - obwohl die jährlichen Zahlen der Registrierungen nach 1680 erheblich zunahmen -, dass die Mehrheit über 10 Jahre und 21 Prozent (101 Personen) über 20 Jahre Mitglied blieben. Daher wurde Mitgliedschaft in der wijnkopers-Gilde nicht unbedingt als kurzfristige Option gewählt. 5 Kohier van de personeele quotisatie te Amsterdam over het jaar 1742, W ILLEM F ERDINAND H END- RIK O LDEWELT (Hrsg.), 2 Bde., Amsterdam 1945. <?page no="410"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 411 Tabelle 1: Die Jahre der Registrierung von wijnkopers in der Mitgliederliste von 1688 (nur Inhaber des Bürgerrechts) Jahr der Registrierung 1631/ 40 1641/ 50 1651/ 60 1661/ 70 1671/ 80 1681/ 88 Summe Anzahl 5 12 31 88 100 236 472 Anteil in Prozent 1 % 3 % 6 % 19 % 21 % 50 % 100 % Anmerkung: Unter den 236 Mitgliedern, die zwischen 1681 bis 1688 registriert wurden, waren es 88 (37 %) von 1681-83, 61 (26 %) von 1684-85 und 87 (37 %) von 1686-88. Quelle: GAA, Weeskammerarchief (Gildenachief), 367-452B, 1688 Lijst der gildeleden. Die Anzahl der wijnkopers in anderen holländischen Zentren des Weinhandels wie Dordrecht oder Rotterdam war mit Amsterdam nicht zu vergleichen. Im Jahr 1674 zählte das Rotterdamer klein family geld register 70 wijnkopers. In den Steuerverzeichnissen von 1742 kann man für Dordrecht 28 und für Rotterdam 151 wijnkopers zählen, während es in Amsterdam fast 400 waren. 6 Es ist allerdings wichtig festzustellen, dass sich die wijnkopers nicht nur in Amsterdam konzentrierten. Der Wein begründete einen innovativen Handelszweig sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum zwischen 1580 und 1750. Mit anderen Worten, die Zunahme der wijnkopers in Amsterdam ging Hand in Hand mit der Entwicklung des Weinhandels und der Herausbildung eines regionalen wie überregionalen Vertriebssystems in den Niederlanden. Der Hintergrund der Zunahme der wijnkopers in Amsterdam ist bislang nicht vollständig erforscht worden. Vor allem die fehlende Aufmerksamkeit hinsichtlich des regionalen Vertriebs führte zu einem Mangel an Studien. Hinzu kommt, dass der Wein keine besonders beliebte Ware war, um sie in der niederländischen Handelsgeschichte zu erforschen, da er keine vergleichbar charakteristische Bedeutung für den internationalen Handel hatte wie Getreide oder Gewürze. Erst kürzlich warfen Anne Weegener-Sleewijks Arbeiten neues Licht auf die aktiven und lebhaften Transaktionen im Weinhandel zwischen Amsterdam und Frankreich. 7 Allerdings ist ihr Blickwinkel 6 B ARJESTEH V AN W AALWIJK VAN D OORN , De importante negoite, geschiedenis van de Rotterdamse wijnhandel vanaf de middeleeuwen tot in de negentiende eeuw, Rotterdam 1996, 11f. 7 A NNE W EGENER -S LEESWIJK , Social Ties and Commercial Transactions of an Eighteenth Century French Merchant, in: Entrepreneurs and Entrepreneurship in Early Modern Times, C LÉ L ESGER / L EO N OORDEGRAAF (Hrsg.), Den Haag 1995, 203-212, D IES ., Binnenlandse belastingen en internationale handel. De crisis in de wijnhandel van 1749-1751, in: Ondernemers en bestuurders, economie en politiek in de Noordelijke Nederlanden in de late middeleeuwen en de vroegmoderne tijd, C LÉ M. L ESGER / L EO N OORDEGRAAF (Hrsg.), Amsterdam 1999, 557-573; D IES ., De nectar et <?page no="411"?> Miki Sugiura 412 mehr auf den internationalen Handel gerichtet und die Zunahme der wijnkopers wurde nicht untersucht. Johan C. Breen, einer der wenigen Autoren von Aufsätzen über die Organisation des frühneuzeitlichen Weinhandels in Amsterdam, bot nur eine unzureichende Erklärung, warum und wie die wijnkopers zunehmen konnten. 8 Zur Begründung, weshalb die wijnkopers unterschieden werden müssten, zieht er nichts anderes als die Absicht der Stadtverwaltung in Betracht, die Weinsteuern zu erhöhen. Dies war zwar der offensichtliche Grund für die Regulierung, reicht aber nicht aus, um zu erklären, weshalb dies kein Hindernis für die zunehmende Anzahl der wijnkopers war. Breen geht einfach generell von deren Zunahme aufgrund der Expansion des Weinmarktes aus. Es bleibt immer noch die Frage, wer die wijnkopers waren und wie sie Kapital erwerben und ihr Geschäft betreiben konnten. 3. Die Untersuchung von Eheschließungen: Eheverträge Hinsichtlich des Materials bilden die Verzeichnisse der Aufgebote, die Ondertrouwregister, die wesentliche Grundlage, um Heiratsmuster zu untersuchen, da sie reichhaltige Informationen über den Namen, das Heiratsalter, die Herkunft, den Beruf des Bräutigams und den Status der Eltern enthalten. Für die vorliegende Untersuchung wurde diese Quelle mit Bürgerbüchern, den Poortersboeken, Taufregistern, den Doopregisters, und Begräbnisregistern, den Begraafregisters, für weitere Informationen kombiniert. 9 Die Besonderheit dieser Studie liegt in der Untersuchung der Heiratsverträge. Im Amsterdam des 17. und 18. Jahrhunderts wurden Heiratsverträge mit den Notariatsakten im Notariatsarchiv aufbewahrt. Sämtliche zivilrechtliche Eheverträge aus diesem Zeitraum, die grundsätzlich den Notaren zugeordnet sind, befinden sich daher im Gemeindearchiv. 10 Heiratsverträge oder Testamente wurden vor allem errichtet, um in gewissem Umfang den Transfer von Eigentum zwischen Ehemann und Ehefrau, der in der Niederländischen Republik besonders eingeschränkt war, zu de la godaille: qualité et falsification du vin aux Provinces-Unices, XVIII e siècle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 51 (2004), 17-43. 8 B REEN , Uit de Geschiedenis van den Amsterdamschen Wijnhandel (wie Anm. 3). Ergänzend zu Breen gibt es eine Untersuchung zu den Einzelhändlern in Amsterdam im Jahr 1742 von Leonie van Nierop, die sowohl Zapfer (Einzelhändler) und wijnkopers behandelte. Obwohl diese Studie wertvolle Beobachtungen über den Status der wijnkoper enthält, kann sie dennoch nicht deren schnellen Aufstieg erklären, L EONIE VAN N IEROP , De handeldrijvende middenstand te Amsterdam in 1742, in: Jaarboek van het Genootschap Amsterdamum 45 (1953), 193-200. 9 Gemeentearchief Amsterdam (GAA), Ondertrouwregister, 1651-1725; Poortersboeken, 1531-1811; Doopregisters, 1564-1811; Begraafregisters, 1535-1811. 10 Sämtliche Notariatsakten finden sich unter GAA, 5075, Archief van de Notarissen ter standplaats Amsterdam. <?page no="412"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 413 regeln und zu bestätigen. Nach Ariadne Schmidt, die Heiratsverträge und Testamente des 17. Jahrhunderts aus Leiden dahingehend analysierte, wie das Eigentum von Witwen nach der Ehe transferiert worden ist, galten die folgenden drei Grundregeln für den intergenerationalen Transfer in Holland: Erstens wurde das Vermögen der Eltern in erster Linie an die Kinder transferiert; zweitens teilten die Kinder das Vermögen zu gleichen Teilen, und drittens war der Transfer von Vermögen zwischen Braut und Bräutigam dahingehend beschränkt, dass die Rechtsform der Mitgift nicht existierte und dass rechtlich gesehen die Ehefrau und der Ehemann keinen Anspruch auf das Erbe ihres Partners hatten, sondern lediglich die Kinder. 11 Der Inhalt eines Heiratsvertrags bestand üblicherweise aus vier Abschnitten: 1. Die Größe des eingebrachten Vermögens; 2. Die Bedingungen der gemeenschap, des gemeinschaftlichen Eigentums; 3. Die Vereinbarung über Gewinn und Verlust in der Ehe; 4. Die Douaries. Als erstes wurde festgestellt, welche Vermögen Braut und bzw. oder Bräutigam einbrachten, wobei die Aufstellung häufig nicht in die Verträge hineingeschrieben, sondern anderweitig verzeichnet wurde. Anschließend bestätigten sie, dass beide Seiten während der Ehe rechtmäßige Eigentümer seien und nach der Ehe ihr jeweiliges Eigentum zurück erhielten. Das Paar hatte die Möglichkeit, sein Eigentum während der Ehe als gemeenschap gemeinschaftlich zu teilen, aber häufig ließ man Vorsicht walten, insbesondere im Fall von Kaufleuten, und hielt das Eigentum getrennt, damit die Ehefrauen nicht für die Schulden ihrer Ehemänner verantwortlich waren. Am Ende einer Ehe, sei es durch Scheidung oder Tod, wurden „Gewinn und Verlust“ der Ehe durch eine bestimmte Quote geteilt, häufig je zur Hälfte, je nach zuvor getroffener Vereinbarung. Für den Fall, dass die Ehe kinderlos blieb, konnten vorsorglich douaries im Ehevertrag vereinbart werden. Dabei handelte es sich um einen Vermögensanteil in Höhe eines festgelegten Geldbetrags, der dem überlebenden Partner zustand. Nachdem die Rechtsform der Mitgift oder die vorgezogene Kompensation von Erbansprüchen anlässlich der Hochzeit in der Republik nicht üblich waren, war eine wichtige Aufgabe des Heiratsvertrags, in gewissem Maße die vom verstorbenen Partner eingebrachten Vermögensanteile und damit den Vermögenstransfer zwischen Ehefrau und Ehemann abzusichern. 11 A RIADNE S CHMIDT , Overleven na de dood. Weduwen in Leiden in de Gouden Eeuw, Amsterdam 2001, 80-120. <?page no="413"?> Miki Sugiura 414 In den Notariatsakten aus der Zeit von 1701 bis 1710 ist es möglich, alle Notariatsunterlagen entsprechend den Berufen zu verfolgen. Darunter befinden sich auch 34 Heiratsverträge von wijnkopers. Nach dem Abgleichen ihrer Berufsangabe in den Aufgebotsverzeichnissen wurden diejenigen aussortiert, die dort als wijnverlater oder koopman verzeichnet waren oder für die kein Beruf angegeben war, um so ausschließlich die Eheverträge von wijnkopers zu behandeln. Dies ergibt insgesamt 26 Fälle (siehe Anhang 1). Für jeden Fall liegt zumindest ein Heiratsvertrag vor, der in einigen Fällen durch Testamente und Inventare ergänzt werden kann. 12 In der Zeit von 1701 bis 1710 kamen ungefähr 140 Erstehen von wijnkopers zustande. Von den 26 Heiratsverträgen betreffen 19 die ersten Ehen der Bräutigame. Das bedeutet, dass ungefähr einer von sieben wijnkopers einen Heiratsvertrag aufsetzte. Es lässt sich kaum entscheiden, ob diese Quote besonders hoch oder niedrig ist, da keine Vergleichsdaten vorliegen. Diese Quote fällt sicherlich nicht so niedrig aus, um sagen zu können, es sei für wijnkopers ungewöhnlich gewesen, Heiratsverträge zu vereinbaren, sie liegt aber auch nicht so hoch, um nahe zu legen, dass Heiratsverträge die Norm waren. Generell wurden Heiratsverträge in Fällen abgeschlossen, in denen Vermögenstransfers verhandelt werden mussten. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich diejenigen, die Heiratsverträge abschlossen, auf die wohlhabenderen Kreise beschränkten. Sicherlich muss schützenswertes Vermögen vorhanden gewesen sein, aber Ariadne Schmidt verweist darauf, dass auch Leute mit mittleren Einkommen Heiratsverträge schlossen, wann immer es notwendig war, zum Beispiel, wenn das Paar unterschiedlich große Vermögen besaß. 13 Ansonsten wurden Heiratsverträge häufig im Fall von Wiederverheiratungen aufgesetzt, weil für wiederverheiratete Ehepartner eher die Notwendigkeit bestand, die Schichtung der Anteile der Kinder und des neuen Ehemanns vertraglich festzulegen. 14 In diesem Zusammenhang bleibt festzustellen, dass die Mehrzahl der ausgewählten Heiratsverträge von wijnkopers anlässlich von Erstehen vereinbart wurden. Der hohe Anteil von Heiratsverträgen bei Erstehen in den Fällen der wijnkopers legt nahe, dass ihre Eheschließung strate- 12 Nachweise in Anhang 1. In Ergänzung dazu wurden andere Notariatsdokumente herangezogen, wie diejenigen zum Transfer von geschäftlicher Verantwortung innerhalb des wijnkopers-Paares, wie zum Beispiel ein Testament allein für die Ehefrau, und Gesellschafterverträge zwischen Müttern bzw. Vätern und ihren Söhnen. 13 S CHMIDT , Overleven na de dood (wie Anm. 11), 84f. 14 S CHMIDT , Overleven na de dood (wie Anm. 11), 85. Sie stellt fest, dass im 17. Jahrhundert in Leiden an einer von drei Ehen ein Partner beteiligt war, der nicht zum ersten Mal heiratete, aber über die Hälfte der 133 ausgewählten Paare, die Heiratsverträge schlossen, waren Witwer oder Witwen, die sich wiederverheirateten. Sie hatten eine größere Motivation, Heiratsverträge abzuschließen, um die Vermögensanteile ihrer Kinder aus früheren Ehen zu sichern. Manchmal vollzogen sie einen transfer inter vivos an ihre Kinder und vermieden mit dieser Möglichkeit den Vermögenstransfer in die neue Ehe. <?page no="414"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 415 gisch motiviert war und sie üblicherweise ernsthafte Verhandlungen über das Vermögen aus der ersten Ehe führten. Der Vermögenstransfer zwischen Braut und Bräutigam war hierbei das zentrale Anliegen. Die Inhalte der Heiratsverträge werden später besprochen. Zuvor wird noch diskutiert, wie repräsentativ diese Heiraten unter den Eheschließungen der wijnkopers insgesamt waren. Dazu wird im folgenden Abschnitt die Charakteristik des allgemeinen Heiratsmusters der wijnkopers durch einen Vergleich mit jenem der kooplieden aufgezeigt. Dadurch wird auch deutlich, inwiefern die wijnkoopers-Paare, von denen Heiratsverträge vorliegen, repräsentativ waren. 4. Das Heiratsmuster der wijnkopers verglichen mit demjenigen der kooplieden Das übliche Heiratsmuster der Fernhandelskaufleute, der kooplieden, in Amsterdam war die Vereinigung eines „gereiften immigrierten Kaufmannbräutigams“ mit einer „jungen, in Amsterdam geborenen, (vermögenden) Kaufmannstochter“ durch Eheschließung. Sie heirateten zum einen meist unter Kaufleuten: Es gab 129 Amsterdamer kooplieden, die in den Aufgeboten zwischen 1655 und 1700 den immigrierten Bräutigamen ihrer Töchter die Bürgerschaft anboten. Dabei gaben fast 60 Prozent der Bräutigame den Beruf des koopman an und weitere 13 Prozent waren im Handel beschäftigt. 15 Zum anderen zogen es immigrierte Männer generell vor, in Amsterdam geborene Frauen zu heiraten, da in diesem Fall der Bräutigam mit der Heirat die Bürgerschaft erwerben konnte. Deren Erwerb würde ihn sonst 50 Gulden kosten, was zwei durchschnittlichen Monatseinkommen eines Handwerkers entsprochen hätte. Daher war es auch bei den kooplieden der Fall, dass sie in Amsterdam geborene Bräute deutlich bevorzugten. Fast 80 Prozent der aus Hamburg kommenden kooplieden heirateten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Bräute, die in Amsterdam geboren waren. 16 Statistisch gesehen war der Amsterdamer Heiratsmarkt von einem hohen Heiratsalter und einem geringen Altersabstand zwischen Braut und Bräutigam geprägt. Das durchschnittliche Heiratsalter in Amsterdam betrug bei den Bräutigamen 27 Jahre und acht bis zehn Monate und bei den Bräuten 27 Jahre und zwei Monate. 17 Allerdings gab es einen großen Altersunter- 15 Berechnet nach GAA Poortersboeken 1655-1700. 16 Berechnet nach GAA Ondertrouwregister 1651-1700. Die Herkunft von Braut und Bräutigam konnte bei 79 Paaren festgestellt werden. 17 S IMON H ART , Geschrift en getal. Een keuze uit de demografisch-, economischen sociaal-historische studiën op grond van Amsterdamse en Zaanse archivalia, 1600-1800, Dordrecht 1976, 133. 1676/ 77 heirateten 3.010 Bräutigame und 1726/ 27 3.896 zum ersten Mal und nur zwei lagen für diese Jahre unter dem Gesamtdurchschnitt. <?page no="415"?> Miki Sugiura 416 schied zwischen dem Heiratsalter von Braut und Bräutigam unter den kooplieden. Das durchschnittliche Alter der Bräutigame unter den aus Hamburg kommenden kooplieden lag bei 29 Jahren und damit über dem Durchschnitt, während das durchschnittliche Alter der Bräute lediglich bei 22 Jahren lag. Bei über der Hälfte der 66 Fälle betrug der Altersunterschied über sechs Jahre und selbst ein Unterschied von über 20 Jahren war nicht selten. Vergleichbares ist bei den wijnkopers in Rotterdam und Dordrecht beobachtet worden. Barjesteh van Waalwijk van Doorn beispielsweise betont die Bedeutung von Familiennetzwerken in Rotterdam: Die Söhne setzten das Geschäft ihres Vaters fort und die Familien der Weinhändler heirateten untereinander, insbesondere bei den Hugenotten und den Katholiken: „Das Weinhandelsgeschäft wurde meist von Vätern auf die Söhne vererbt. In den meisten Fällen trat ein junger Nachfahre aus der wijnkopers-Familie zuerst als Lehrling in das Geschäft ein (wijnkopersknecht oder gezel). Auch die Jungen, die von außerhalb in die Stadt kamen, folgten diesem Weg und stiegen die soziale Leiter hinauf. [...] Viele Netzwerke aufgrund von Familienbeziehungen können bei den wijnkopers in Rotterdam gefunden werden. Oft waren diese Netzwerke stark vom religiösen Hintergrund der Familien beeinflusst. Es gab zum Beispiel mehrere Netzwerke mit einem ausgeprägt ‚hugenottischen Charakter‘ [...]. Ebenso waren die katholischen Netzwerke klar zu unterscheiden [...].“ 18 Der konzentrierte Zuwachs der wijnkopers wurde durch den Zustrom neuer Immigranten ermöglicht. 19 Obwohl die wijnkopers wie die kooplieden nicht zu den Berufsgruppen mit den höchsten Immigrationsraten gehörten, stieg diese Rate unter den erstmalig heiratenden Bräutigamen in den Heiratsregistern von 42 Prozent in den Jahren 1629 bis 1658 auf 70 Prozent für den Zeitraum von 1659 bis 1678 und auf 68 Prozent zwischen 1679 und 1699. Im Gegensatz zu den kooplieden weitete sich das Herkunftsgebiet der Immigranten nicht sonderlich aus. Sie kamen zunehmend aus den inländischen Provinzen der Niederlande sowie aus dem deutschen Rheinland und aus Westfalen. 20 18 B ARJESTEH VAN W AALWIJK VAN D OORN , De importante negoite, geschiedenis van de Rotterdamse wijnhandel vanaf de middeleeuwen tot in de negentiende eeuw, Rotterdam 1996, 11f. 19 M IKI S UGIURA , Migration, Specialization and Formation of Middlemen in Domestic Distribution. The „wijnkopers“ (domestic wine wholesalers) in Amsterdam 1580-1750“, unveröffentlichter Vortrag zum CHORD-Workshop „Migration and Commerce“ an der Wolverhampton University am 20. April 2005, vgl. das Abstrakt unter: http: / / home.wlv.ac.uk/ ~in6086/ migration.html. 20 Deventer, Kampen, Nimwegen, Oldenzaal, Delden, Emmerich, Duisburg, Bochum, Ulsen and Minnen erscheinen für diese Gebiete als wesentliche Herkunftsorte der heiratenden wijnkopers zwischen 1700-1704; GAA, Ondertrouwregister, 1700: 702-2, 531-346, 702-66, 532-45, 532-166, 532-202; 1701: 702-211, 533-141; 1702: 534-301; 1703: 703-314, 703-315; 1704: 536-329, 537-214, 704- 233. <?page no="416"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 417 Von den 2.190 erstmalig heiratenden wijnkopers-Bräutigamen in den Amsterdamer Aufgeboten zwischen 1601 und 1700 kamen 50 Prozent aus Amsterdam, zwölf Prozent kamen aus den zentralen Provinzen der Niederlanden, Holland und Utrecht, zwei Prozent aus den niederländischen Küstenregionen Friesland und Groningen, zwölf Prozent aus den niederländischen Binnenprovinzen, 13 Prozent aus den deutschen Küstenregionen, den Hansestädten und Schleswig-Holstein, fünf Prozent aus dem deutschen Binnenland, Rheinland, Westfalen und Niedersachsen sowie vier Prozent aus den Südlichen Niederlanden. Wenn man den Zeitabschnitt von 1699 bis 1715 betrachtet, tritt wegen des Rückgangs der wijnkopers, die aus den niederländischen und deutschen Küstenregionen kamen, eine Konzentration der Herkunftsgebiete deutlicher hervor. Tabelle 2: Die Herkunft der erstmalig verheirateten wijnkopers 1699-1715 Anzahl Prozent Amsterdam 125 057 % Niederlande 52 024 % Deutschland Binnenland 28 013 % Deutschland Küstenregionen 2 001 % Frankreich Südliche Niederlande Skandinavien 10 004 % ohne Angabe 3 001 % Summe 220 100 % Quelle: GAA Ondertrouwregister wie Anm. 19. Diese Verteilung entspricht derjenigen der 26 wijnkopers, die Heiratsverträge abschlossen. Dementsprechend kamen etwas mehr als die Hälfte, nämlich 15, aus Amsterdam. Die übrigen lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: in die kleine Gruppe von Personen, die aus den großen Städten Hollands, Haarlem und Den Haag, sowie kleineren wie Weesp kamen, und in die größere Gruppe, die aus den deutschen Regionen Rheinland, Westfalen und Niedersachsen und den niederländischen Regionen nahe der deutschen Grenze immigriert waren. Demnach kann nicht behauptet werden, dass entweder die Amsterdamer oder die Immigranten eine größere Neigung hatten, Heiratsverträge zu vereinbaren. Die Eheschließungen der wijnkopers waren keine Vereinigungen innerhalb desselben Gewerbes. Diese Beobachtung entspricht ebenfalls dem allgemeinen Heiratsmuster. Graphik 3 zeigt die Erwerbstätigkeiten der Väter und Schwiegerväter der wijnkopers im Mitgliederverzeichnis der Gilde von <?page no="417"?> Miki Sugiura 418 1684. 21 Von den in Amsterdam geborenen wijnkopers erwarben 44 die Bürgerschaft durch ihre Väter, deren Erwerbstätigkeiten in den Bürgerbüchern verzeichnet wurden. 33 der im Mitgliederverzeichnis aufgeführten wijnkopers bekamen die Bürgerschaft durch die Heirat. In diesen Fällen wurden die Erwerbstätigkeiten der Väter der Bräute ins Bürgerbuch aufgenommen. Unter diesen waren sowohl in Amsterdam geborene als auch immigrierte wijnkopers. Graphik 3: Erwerbstätigkeiten der Väter 21 GAA, Archief van de Gilden en het brouwerscollege 1371-1948, 366-1642, Wijnkopersgilde, Lijst van namen en woonplaatsen van wijnkopers 1684. 2 wijnkoper 13 wijnkoper 5 Kaufleute 7 Kaufleute 7 Ladeninhaber, Transporteure 8 Ladeninhaber, Transporteure 3 Handwerker 10 Handwerker 10 freie Gewerbe 4 freie Gewerbe 4 wijnverlater, Destillateure, brandewijnkoper 4 0% 20% 40% 60% 80% 100% Anzahl der Väter der in Amsterdam geborenen wijnkopers Anzahl der Väter der Bräute <?page no="418"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 419 Väter der in Amsterdam geborenen wijnkopers Väter der Bräute freie Gewerbe 4 009 % 4 012 % Handwerker 10 024 % 10 031 % Ladeninhaber und Transporteure 8 017 % 3 009 % Kaufleute 7 016 % 7 021 % wijnkoper 13 029 % 5 012 % wijnverlater, Destillateure, brandewijnkoper 2 005 % 4 015 % Total 44 100 % 33 100 % Quelle: GAA, Archief van de Gilden en het brouwerscollege 1371-1948, Wijnkopersgilde, 366- 1642, Lijst van namen en woonplaatsen van wijnkopers 1684; Poortersboeken 1651- 1700. In beiden Fällen konzentrierten sich die Erwerbstätigkeiten nicht auf den Bereich der mit dem Wein verbundenen Gewerbe oder den Weinhandel. Ein Drittel der Väter und über 40 Prozent der Schwiegerväter gingen Erwerbstätigkeiten nach, die nicht mit dem Vertrieb oder dem Handel mit Wein verbunden waren. Ein weiteres Drittel war in beiden Fällen im Handel tätig, entweder als Fernkaufleute, spezialisierte Kaufleute, Ladeninhaber oder Transporteure. Nach wie vor waren fast 30 Prozent der Väter der Bräutigame wijnkopers. Im Gegensatz dazu waren lediglich 12 Prozent ihrer Schwiegerväter wijnkopers. Dieser Unterschied ist besonders interessant, wenn man in Betracht zieht, dass in denselben Bürgerbüchern ungefähr 60 Prozent der Schwiegerväter der kooplieden bzw. der Fernhändler ebenfalls kooplieden waren. 22 Es ist daher offensichtlich, dass die Bräutigame nicht unbedingt davon ausgingen, die Tochter eines wijnkopers zu heiraten. Die Heiraten der wijnkopers folgten eindeutig nicht dem Muster einer Vereinigung von wijnkoper - wijnkoper und unterschieden sich daher deutlich vom Muster der Fernhändler. In den Heiratsverträgen konnten die Berufe der Väter der in Amsterdam geborenen wijnkopers nur in fünf Fällen verfolgt werden: drei wijnkopers, ein Biertransporteur und ein Hutmacher. Dieses Ergebnis zeigt trotz der geringen Fallzahlen, dass der Beruf des wijnkopers zumindest einen wesentlichen Anteil an den Erwerbstätigkeiten der Väter gehabt haben muss. Dies verweist auf einen klaren Unterschied zur Verteilung bei den Berufen der Väter der Bräute: bei den 25 in Amsterdam und einer in Utrecht geborenen Bräuten konnte für acht Väter der Beruf ermittelt werden. Obwohl auch in diesen Fällen die wijnkopers mit drei Fällen besonders häufig waren, fielen die Er- 22 S CHMIDT , Overleven na de dood (wie Anm. 11), 80-120. <?page no="419"?> Miki Sugiura 420 werbstätigkeiten vielfältiger aus: Schneider, Priester, Waagemeister in der Waage (weger in de waag), Lebensmittelhändler (kruidenier) und Biertransporteur. Tabelle 4: Der Altersunterschied bei der ersten Ehe in Eheverträgen von wijnkopers 1701-1710 Bräutigam > Braut (über 5 Jahre) 9 Paare 034,5 % Bräutigam = Braut (bis 4 Jahre) 8 Paare 031,0 % Bräutigam < Braut (über 5 Jahre) 9 Paare 034,5 % Summe 26 Paare 100,0 % Quelle: GAA, Ondertrouwregister, Aufgebote ausgewählter wijnkopers (Anhang 1). Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied im Vergleich mit den kooplieden bestand in der Neigung der wijnkopers, Bräute zu heiraten, die älter als sie selbst waren. Während eine signifikante Anzahl von immigrierten wijnkopers spät mit über 30 oder 40 Jahren heiratete, war mehr als die Hälfte von ihnen bei der ersten Ehe unter 27 Jahre alt. Daher teilten die Bräutigame bei den wijnkopers nicht durchgehend die Tendenz zur späten Eheschließung der Bräutigame unter der kooplieden, die generell spät heirateten, wenn sie Vermögen akkumuliert hatten. Darüber hinaus muss sich die Aufmerksamkeit auf die Tatsache richten, dass es eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Paaren gab, bei denen die Braut deutlich älter als ihr Partner war: Bei einem Drittel der Paare war die Braut über fünf Jahre älter als ihr Bräutigam. Das Heiratsalter der Bräute teilt sich in zwei sehr unterschiedliche Gruppen auf: eine sehr junge Gruppe mit 20 bis 22 Jahren und eine Gruppe mit einem deutlich überdurchschnittlichen Alter von 32 bis 36 Jahren. Dieses fortgeschrittene Alter hatte weniger mit Wiederverheiratungen oder Immigration zu tun, da drei von vier Bräuten mit einem Alter von über 30 Jahren zum ersten Mal heirateten und beinahe sämtliche Bräute aus Amsterdam kamen. Dies ist insbesondere im Fall von Maria van Ommeren bemerkenswert. Obwohl sie die Tochter eines erfolgreichen Amsterdamer wijnkopers war, heiratete sie spät im Alter von 32 Jahren. Ihr Fall wird noch ausführlicher vorgestellt werden. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich diese allgemeinen Heiratsmuster der wijnkopers deutlich von denen der kooplieden unterschieden. Während der Anteil der Immigranten gleich war, konzentrierten sich die Herkunftsorte der Bräutigame der wijnkopers auf bestimmte Gebiete, insbesondere die Binnenregionen im niederländisch-deutschen Grenzgebiet. Zudem hatten sowohl in Amsterdam geborene wie immigrierte wijnkopers eine deutliche Tendenz, Töchter zu heiraten, die nicht von einem wijnkoper abstammten. Es kann außerdem die Schlussfolgerung gezogen werden, dass <?page no="420"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 421 die Paare, von denen Heiratsverträge überliefert sind, den Durchschnitt der wijnkopers-Paare repräsentieren. Es konnten keine besonderen Unterschiede oder Häufungen hinsichtlich der Herkunftsorte, der Berufe der Väter und Schwiegerväter sowie des Alters gegenüber allgemeinen Tendenzen bei den wijnkopers festgestellt werden. 5. Der Inhalt der Heiratsverträge von wijnkopers Nun soll der Inhalt der Heiratskontrakte untersucht werden, um die Gründe der Heirat zu verstehen. Die Heirat war sicherlich eine im Laufe des Lebens einmalige Gelegenheit für Bräutigame, sich finanziell zu verbessern, und für die Bräute war sie eine Investition. Die Tabelle 5 zeigt das Vermögen der Bräute und Bräutigame, die in den ersten acht Fallbeispielen der Heiratsverträge genannt werden. Es gibt eine deutliche Tendenz, dass eine überdurchschnittliche Summe insbesondere von Seiten der Bräute in die Ehe eingebracht wurde. Nach der bereits erwähnten Untersuchung von Ariadne Schmidt über Heiratsverträge in Leiden brachten die meisten Bräute weniger als 1.000 Gulden ein. 23 Allerdings scheint es bei den Heiraten der wijnkopers die Regel gewesen zu sein, Bargeld in Höhe von 2.000 Gulden sowie zusätzliches Vermögen in Form von Wertpapieren, Schmuck oder Silber im Wert von etwa 1.500 bis 2.500 Gulden einzubringen. Die Bräute in Amsterdam müssen einen wesentlichen Vorteil gehabt haben, da Immobilien eine wesentliche Rolle spielten. In den Fällen 2 und 8 brachten sie jeweils ein Haus ein, das sie besaßen, und in den Fällen 3 und 8 hatten die Bräute halbe oder ganze Anteile an fünf bis sieben Häusern in Amsterdam. In letzteren Fällen waren die Immobilien kein Hochzeitsgeschenk, sondern das Erbe einer verstorbenen Mutter bzw. einer Großmutter. Aufgrund dieser Fälle kann festgestellt werden, dass von einer Ehefrau erwartet wurde, dass sie Vermögen im Wert von 4.000-10.000 Gulden in die Ehe brachte. Mit zunehmendem Alter der Braut oder im Fall von wiederverheirateten Ehefrauen und Ehemännern stiegen die von den Bräuten eingebrachten Beträge (Fälle 2, 5, 6, 8). Aufgrund ihres Alters, Wohnorts und ihrer Familienbeziehungen arbeiteten wahrscheinlich die Bräutigame bereits vor ihrer Eheschließung als wijnkopers. Dies lässt sich mit einigen Heiratsverträgen belegen, die angeben, wie viel Kapital ein wijnkoper für den Geschäftsbetrieb benötigte. Im Fall 3 wird deutlich, dass der 29-jährige wijnkoper Johannes Bruijning mit einem Kapital von 5.780 Gulden arbeitete. Allerdings wurden Weinvorräte und Gerätschaften mit über 6.500 Gulden (112 Prozent) bewertet. Er hatte sich 2.000 Gulden geliehen, von denen 1.500 Gulden von Catharina Caspars 23 S CHMIDT , Overleven na de dood (wie Anm. 11), 84. <?page no="421"?> Miki Sugiura 422 Tabelle 5: Das eingebrachte Eigentum und die Summe der douarie in den Heiratsverträgen Aufstellung des eingebrachten Eigentums Beträge der douarie Gulden Gulden 1. Aufstellung nicht enthalten Braut: brachte vermutlich Hausbesitz ein Braut: Bräutigam: 2.000 1.000 2. Braut: geschätztes eingebrachtes Eigentum Dieser Betrag wird neben ihrem Erbe für ihre Kinder geschützt. Sie brachte zumindest ein Haus mit Hausrat, Gold und Silber sowie Schmuck ein. 10.000 Braut: Bräutigam: 1.000 Anteil seines Kindes 3. Braut: Kleidung in die Ehe eingebrachtes Bargeld Erbe der Großmutter 7 (halbe) Häuser in Amsterdam Bräutigam Geld Geräte für Weinhandel, Weinvorräte Kredite Kleider Leinen Schulden 285 1.500 5.784,15 6.517 763,57 170 130 2.000 Braut: Bräutigam: 2.000 2.000 4. Aufstellung nicht enthalten Braut: brachte Kleidung, Leinen, Wolle, Gold und Silber ein Braut: Bräutigam: 500 500 5. Braut: geschätztes eingebrachtes Eigentum bestehend aus: Wolle, Chintz, Gold und Silber, Schmuck Bargeld 4.500 2.500 2.000 Braut: Bräutigam: 4.000 2.000 6. Aufstellung nicht enthalten Braut: brachte ein oder erhielt von ihrem Bräutigam als Geschenk vermutlich Schmuck, Gold und Silber, vielleicht brachte sie Immobilien ein Braut: Bräutigam: 500 2.000 7. Aufstellung nicht enthalten Braut: brachte vermutlich Immobilien ein Braut: Bräutigam: 2.000 2.000 8. Braut: 5 Häuser in Amsterdam Obligationsscheine Bargeld Möbel, Kleidung usw. im Haus mit 7 Räumen und Küche Bräutigam: Obligationsscheine und Bargeld 1.900 2.150 1.600 Braut: Bräutigam: 1.000 und halber Gewinn 1.000 ducatonen im Wert von 3.150 Gulden Quelle: GAA, Notarieel archieve, Heiratsverträge von wijnkopers (Anhang 1, Fälle 1 bis 8). <?page no="422"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 423 zoon, einer möglicherweise nahen Verwandten, 24 compenteert wurden, was vermutlich eine Investition oder zeitweiligen Transfer bedeutete. Mit dieser Anleihe belief sich sein Vermögen auf 7.581 Gulden, und er konnte damit seine Geschäfte betreiben, wobei der Anteil der Weinvorräte und Gerätschaften immer noch 86 Prozent ausmachte. Üblicherweise wurden die mit den Eltern oder Verwandten abgeschlossenen compagnieschap-Verträge der Kaufleute im Fall von Heirat oder Todesfall erneuert. In diesem Fall betrug der Geldbetrag der Braut, der als in die Ehe eingebracht ausgewiesen worden war, exakt 1.500 Gulden. Wahrscheinlich würde Johannes, der Bräutigam, seine Schulden bei Catharina mit dem Geld seiner Braut begleichen. In allen Fällen wurde im Ehevertrag keine gemeenschap, also keine Gütergemeinschaft vereinbart. Obwohl diese Option allgemein sehr verbreitet war, sicherten sich die Paare besonders nachdrücklich ab, um das Eigentum der Braut vor möglichen geschäftlichen Verlusten schützen, die einem wijnkoper zukünftig zustoßen könnten. Diese Praxis wurde anscheinend übernommen, weil sie sowohl für die Familie der Braut als auch für den Bräutigam vorteilhaft gewesen ist. Hinsichtlich der während der Ehe erzielten Gewinne und Verluste wurde üblicherweise eine Teilung zur Hälfte festgelegt. Auch hier wurde in fast allen Fällen betont, dass die Ehefrau die freie Wahl haben würde, ob sie sich an Gewinn und Verlust beteiligen will. Schließlich wurde in all diesen Fällen die douarie von beiden Seiten angeführt. Wie bereits erwähnt, war die douarie ein festgelegter Geldbetrag, den der überlebende Partner aus dem Eigentum des verstorbenen Partners im Fall der Kinderlosigkeit erhalten sollte. Die douarie war keine allgemein übliche Norm bei der Eheschließung. Nach Ariadne Schmidt wurde die douarie oft nur den Witwen gegeben, damit sie nach dem Tod ihres Ehemanns etwas Geld zum Überleben haben würden. In den Heiratsverträgen aus Leiden wurde die douarie für Witwen in 41 von 133 Fällen explizit aufgeführt. 25 Im Gegensatz dazu wurde die gegenseitige Gabe der douarie nur in wenigen Fällen vereinbart. Schmidt erklärt diese Fälle der Gegenseitigkeit dahingehend, dass die douarie die fehlende Gütergemeinschaft des Paares kompensieren und den Transfer von Eigentum zwischen Ehefrau und Ehemann ermöglichen sollte. 26 Im Fall der wijnkopers war die gegenseitige douarie die Norm. Diese sollte weniger der Kompensation von Witwen dienen, sondern in diesen Fällen war sie anscheinend ein Mittel, um die Rückgabe des in die Ehe eingebrachten Eigentums zu gewährleisten. Daher war in den Fällen, in denen die Braut sehr viel mehr Vermögen eingebracht hatte, die douarie, die 24 Ihre Identität konnte wegen gleichlautender Namen nicht näher geklärt werden. 25 S CHMIDT , Overleven na de dood (wie Anm. 11), 88. Wenn die implizit erwähnten douarien für Bräute einbezogen werden, dann lassen sie sich in mehr als der Hälfte des Samples finden. 26 S CHMIDT , Overleven na de dood (wie Anm. 11), 90. <?page no="423"?> Miki Sugiura 424 die Braut erhalten würde, wenn ihr Ehemann vor ihr sterben würde, grundsätzlich höher. Dies zeigt, dass das von der Ehefrau eingebrachte Vermögen vor allem vom Ehemann für dessen Geschäfte eingesetzt wurde, solange bis er es schlussendlich seiner Ehefrau wieder zurückgeben konnte. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es bei der Eheschließung von wijnkopers die Norm war, ein ziemlich großes Vermögen einzubringen. Das Eigentum der Ehefrau an ihrem Vermögen wurde gesichert, aber sie investierten eindeutig ihr Vermögen in das Geschäft ihres Ehemanns. 27 6. War die Tochter eines wijnkopers eine gute Partnerwahl? Der Fall der Maria van Ommeren Wie jedoch sah der begehrenswerteste Typ einer Braut für einen wijnkoper aus? Dieser Frage wird anhand einer genaueren Untersuchung des ersten Falls (Tabelle 5, Nr. 1), der Heirat von Maria van Ommeren, der Tochter eines wijnkopers, 32 Jahre alt, mit Jacob van Aalst, einem 25-jährigen wijnkoper, der ebenfalls aus Amsterdam kam, nachgegangen. 28 Das größte Rätsel bei diesem Fall ist die Frage, weshalb Maria so spät heiratete. Ihr Vater war ein erfolgreicher wijnkoper und ihre Brüder waren ebenfalls in diesem Geschäft tätig. Weshalb war es ihr nicht möglich, früher zu heiraten? Glücklicherweise sind für diesen Fall einige Notariatsakten für die weitere Untersuchung verfügbar. Das Jahr 1705 fiel für die beiden sehr geschäftig aus. Maria und Jacob vereinbarten einen Heiratsvertrag am 10. Februar 1705 und die Ehe wurde am 20. Februar geschlossen. Am 23. März starb Marias Vater Albertus. Das Paar errichtete sein Testament am 30. Mai und am 9. September wurde das Nachlassinventar von Albertus vollendet. 29 Marias Vater, Albertus van Ommeren, konnte auf eine ungewöhnlich lange Laufbahn von 40 Jahren als wijnkoper zurückblicken. Bereits im Jahr 1668, bei seiner ersten Heirat mit Emerentia Huijberts, war er im Alter von 28 Jahren als wijnkoper registriert, und er ist in beiden Mitgliederverzeichnis- 27 Im Fall 8 stellte die Braut, die fünf Häuser in Amsterdam sowie Obligationsscheine und Bargeld im Wert von 4.150 Gulden mitbrachte, großzügig fest, dass ihre douarie lediglich 1.000 Gulden betragen würde, ein Drittel von dem was ihr Ehemann für sich beanspruchte. Allerdings erhob sie den Anspruch auf die Hälfte des Gewinns, den ihr Mann erzielen würde. Mögliche Interpretationen für diese Arrangements bestehen darin, dass das Vertrauen der Ehefrau in die geschäftlichen Fähigkeiten ihres Ehemanns sehr groß war oder das Vermögen des Ehemanns fiel derart mager aus, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als auf zukünftige Profite zu hoffen. Möglichweise traf beides ein Stück weit zu. 28 Tatsächlich müsste Jacob im Gegensatz zu den angegebenen 25 Jahren nach der Berechnung seines Alters aufgrund des Taufregisters vermutlich schon 27 Jahre alt gewesen sein; GAA, Doopregisters 1679 9/ 17 45-20 29 GAA, Notarieel Akten 5075: 5197: 1013; 5075: 6977: 872; Ontertrouwregister 1705 2/ 20 538-94. <?page no="424"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 425 sen der wijnkopers-Gilde aus den Jahren 1684 und 1688 aufgeführt. 30 Seit den 1680er Jahren lebte er am Fluwelbrugwal, einem Kanal, an dem sich prominente Großkaufleute niedergelassen hatten. Er betrieb sein Geschäft, bis er 1705 im Alter von 65 Jahren starb. Ursprünglich stammte er aus Eemnes bei Utrecht und seine erste Ehefrau Emerentia kam aus dem nahegelegenen Amersfoort. Emerentia muss aus einer reichen Familie gekommen sein, denn wie eine Schätzung im Nachlassinventar von Albertus zeigt, hatte sie zumindest 8.000 bis 10.000 Gulden in die Ehe eingebracht. Albertus und Emerentia hatten sieben Kinder: Maria kam 1672, gleich gefolgt von Antonia und drei Jungen, Dirck, geboren 1674, Huybertus, geboren 1676, und Cornelius, geboren 1677. Zwei weitere Kinder starben relativ jung in den Jahren 1682 und 1683. Emerentia starb 1684 im Alter von 46 Jahren. Zwei Jahre später verheiratete sich Albertus erneut mit der 37 Jahre alten Hester Deurhoff aus Amsterdam. Hester war die Tochter von Abraham Deurhof, einem Kistenmacher. Es war Hesters erste Ehe. Zum Zeitpunkt der Heirat waren ihre Eltern beide verstorben und ihr um ein Jahr jüngerer Bruder Willem, ein Kistenmacher wie sein Vater, unterstützte sie. Trotz ihrer späten Eheschließung hatten Hester und Albertus zwei Kinder, Geertruijd, geboren 1687, und Abraham, geboren im Jahr 1688. 31 Aus den zwei Ehen wuchsen vier Jungen auf. Albertus band seine Söhne offensichtlich in seine Kaufmannsnetzwerke ein. Die beiden älteren Söhne Dirck und Huijbertus erwarben die Bürgerschaft als wijnkopers im Alter von 21 und 24 Jahren und die beiden jüngeren Cornelius und Abraham als koopman im Alter von 25 bzw. 31 Jahren. 32 Der älteste Sohn Dirck heiratete im Alter von 24 Jahren Johanna Coupe aus Amsterdam und hatte zumindest zwei Kinder. 33 Dirck starb um 1704, und Johanna Coupe verheiratete sich erneut im Alter von 30 Jahren mit dem 25jährigen wijnkoper Baren Wilthuisen aus Amsterdam. Der zweite Sohn Huijbertus heiratete die 22jährige Anna Colorerus aus Danzig sehr viel später, als er 34 Jahre alt war. Der jüngste Bruder unterstützte die Eheschließung, heiratete aber selbst noch später. Auf der anderen Seite konnten die Eltern des Bräutigams Jacob van Aalst, Anthoni van Aelst und Maria Jacobs, nicht in den Aufgeboten von Amsterdam gefunden werden. Sie haben möglicherweise an einem anderen 30 GAA, Archief van de Gilden en het brouwerscollege 1371-1948, 366-1642, Wijnkopersgilde, Lijst van namen en woonplaatsen van wijnkopers 1684; Weeskammerarchief (Gildenachief), 367-452B, 1688 Lijst der gildeleden. 31 Geertruid: GAA, Doopregisters 1687 8/ 1, Ondertrouwregister 562-104. Abraham: GAA, Doopregisters 1688 1/ 14; Poortersboek 1719/ 8/ 20 14-26, angegebener Beruf: koopman. 32 Dirk: GAA Doopregisters 1674 11/ 16; Poortersboeken 1695 8/ 11, angegebener Beruf: wijnkoper; 8- 138; Huijbertus: GAA, Doopregisters 1676 5/ 15; Poortersboeken 1700 4/ 8 9-246; Cornelius: GAA, Doopregisters 1677 10/ 10; Poortersboeken 1702 9/ 27, angegebener Beruf: koopman; Abraham, GAA, Doopregisters 1688 1/ 14; Poortersboeken 1719 8/ 20 14-26. 33 In GAA, Ondertrouwregister 1706 7/ 15 539-225 wurde bei Dirck als Beruf koopman angegeben. <?page no="425"?> Miki Sugiura 426 Ort geheiratet. Jacob wurde in Amsterdam geboren und war 14 Jahre alt, als sein Vater starb. Sein Stiefvater, ein koopman in Amsterdam, und sein Onkel, dessen Erwerbstätigkeit unbekannt ist, unterschrieben gemeinsam seinen Heiratsvertrag. Seine Eheschließung wurde von seinem Neffen unterstützt, der ursprünglich aus Haarlem kam, aber zu dieser Zeit als wijnverlater in Amsterdam tätig war. Jacob lebte währenddessen im Oud Zijds Armsteeg, einer weniger prestigeträchtigen Straße als der Fluwenbrugwal, aber dennoch eines der lebhaften Zentren des Handels inmitten von Amsterdam. Obwohl er seine Bürgerschaft als wijnkoper durch die Heirat mit Maria erworben hatte, kann aufgrund seiner familiären Beziehungen, seines Wohnorts und Alters vermutet werden, dass er sehr wahrscheinlich bereits vor seiner Hochzeit im Vertrieb von Wein tätig war. Aber selbst dann erscheint Jacob nicht als der attraktivste Kandidat für Maria. Er befand sich in der Startphase seiner Karriere und zumindest der Ertrag seiner Geschäfte war so gering, dass er es sich nicht einmal leisten konnte, für sich selbst die Bürgerschaft zu erwerben. Warum konnte Maria, die enge Beziehungen durch ihren Vater und ihre Brüder in Amsterdam hatte und die eine ideale Braut für einen wijnkoper zu sein schien, nicht früher und jemand wohlhabenderen heiraten? Dabei ist die Tatsache bemerkenswert, dass Geertruijd, Marias im Jahr 1687 geborene Halbschwester, 20 Jahre später demselben Heiratsmuster folgte. Geertruijd heiratete 1724 im Alter von 34 Jahren Jacob de Bruin, der aus Amsterdam kam und 25 oder 27 Jahre alt war. 34 Die Erwerbstätigkeit von Jacob wurde beim Eintrag seiner Hochzeit nicht registriert. Sein Vater war ein Silberschmied, der wie seine Mutter aus Amsterdam kam. Jacob hatte, genau wie Marias Ehemann, einen Verwandten, der im Weinhandel tätig war. Sein drei Jahre jüngerer Bruder war ein wijnkoper und hatte die Bürgerschaft 1723 erworben. Zudem heirateten beide, Maria und Geertruijd, genau in dem Moment, als ihre Eltern kurz vor ihrem Tod standen. Maria heiratete 1705, 20 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter und einen Monat bevor ihr Vater Albertus verstarb. Ebenso heiratete Geertruijd 1724, 20 Jahre nach dem Tod von Albertus und als ihre Mutter Hester als finanziell impotent beschrieben wurde. 35 Die Möglichkeit, dass ein Elternteil die Verheiratung der Töchter mit der Weigerung, Vermögenstransfers zuzustimmen, verhindern wollte, erscheint sehr unwahrscheinlich. Im Fall von Maria stand dieser nach dem Tod ihrer Mutter Emerentia 1684 grundsätzlich der Rechtsanspruch auf den 34 Nach seinem Taufzeugnis war Jacob 1679 geboren worden und daher bei seiner Heirat 27 Jahre alt; GAA, Doopregister 9/ 17 45-20. 35 In den Nachlassinventaren von Albertus im Jahr 1705 unterzeichnete Hester - im Gegensatz zu anderen Bräuten - mit einer schön geschriebenen Unterschrift, aber zum Zeitpunkt von Geertruijds Heirat, war sie, beinahe 75 Jahre alt, nicht mehr fähig, ein handschriftliches Zeichen zu hinterlassen; GAA, Ondertrouwsregister 1724 2/ 25 562-104. <?page no="426"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 427 Anteil eines Kindes am Eigentum der Mutter zu, und dieser Betrag vermehrte sich noch, als ihre Schwester Antonia 1699 verstarb, offensichtlich ohne geheiratet oder Kinder bekommen zu haben. Die Angaben im Nachlassinventar von Albertus offenbaren, dass er als Vater den Erbteil Marias bis zu seinem Tod nutzte, und unterstützen die Vermutung. Der gesamte Anteil Tabelle 6: Das Nachlassinventar von Albertus van Ommeren Gulden 1. Möbel und andere Gegenstände in den Räumen 01.657 2. sonstiger Hausrat wie Möbel, Bücher, Gemälde 00.263 3. Schmuck, Gold und Silber 01.222 4. Bargeld 03.608 5. Weinvorräte 05.133 6. Immobilien 1. Ein Haus mit Hinterhaus am Fluwelburgwal bei der Oudekerk, wo Albertus bis zu seinem Tod lebte. 2. Ein kleines Haus in Amsterdam an der Baengracht 3. Ein halbes Haus in Amersfoort keine Angaben 7. Kredite 1. Obligationsscheine (obligaties), eine Obligatie of Gemeene Land van Holland und West Friesland 2. Schiffsanteile (Sheepspartij) 3. Kredite bei 53 Personen 4. Alte, zweifelhafte Kredite bei 26 Personen keine Angabe keine Angabe 10.854 02.522 8. Schulden 1. Schulden bei 24 Personen 2. Erbteile der Familienmitglieder und eingebrachte Vermögensteile 01.596 08.715 Quelle: GAA, Notariel Archief Amsterdam, 5075: 6977; 871-791. von Maria am Eigentum ihrer Mutter war zu diesem Zeitpunkt immer noch in Albertus’ schulden enthalten. Dieser Abschnitt des Inventars (Tabelle 6, Nr. 8.2.) beschreibt, wie die Familienmitglieder nach Albertus’ Tod Geldanteile erhielten. Hier wird deutlich, wie der „Eigentumstransfer inter vivos“ durchgeführt wurde oder auch nicht. Bei den Krediten ihres Vaters standen Maria die größten Anteile zu. Zuerst bekam Hester Deurhoff als Witwe 2.083 Gulden für die effecten zurück, die sie in ihre Ehe eingebracht hatte, und sie entschied sich auch, die wäh- <?page no="427"?> Miki Sugiura 428 rend der Ehe erzielten Gewinne zu übernehmen, allerdings stand dieser Betrag noch nicht fest. Bei den Kindern wurde zuerst der Anteil der Kinder des verstorbenen Dirck van Ommeren, die durch die Witwe vertreten wurden, aufgeführt. Diese bekamen den Rest der Erbschaft von Dircks Mutter - von Albertus’ erster Ehefrau Emerentia Huibert - zuzüglich des Anteils der verstorbenen Anthonia van Ommeren, der sich auf 801 Gulden belief. Jedes von Emerentias Kindern erhielt aus diesem Grund Geld, aber die angegebenen Beträge waren je nach Person unterschiedlich: Huijbert van Ommeren erhielt 1.792 Gulden und Cornelis van Ommeren bekam 1.138 Gulden. Letztlich hatte Maria mit 2.234 Gulden 12 Stuiver 8 Cent den größten Anteil und erhielt zusätzlich noch 437 Gulden. Insgesamt war ihr Anteil zweibis dreimal größer als der ihrer Brüder. Die Beträge der Brüder fielen geringer aus, da sie vermutlich bereits einen Teil des Vermögens ihrer Mutter über ihren Vater bekommen hatten, als sie ins Geschäft eingestiegen waren und dieses gemeinsam mit ihrem Vater betrieben. Es kam häufig vor, dass der Vater oder die Mutter in eine compagnieschap mit ihren Söhnen eintrat, wenn diese ins Geschäft einstiegen. 36 Heirat war ein weiterer Anlass für die Söhne, ihren Anteil für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Allerdings schienen sämtliche Söhne keinen Anspruch auf einen eigenen Anteil am Erbe ihrer Mutter zu erheben. Dem könnte eine besondere Vereinbarung zwischen Emerentia und Albertus zugrunde liegen; es scheint jedoch naheliegender, anzunehmen, dass die Söhne übereinkamen, ihre Anteile bei ihrem Vater zu belassen, da sie die Geschäfte mehr oder weniger gemeinsam betrieben. Obwohl die Anteile der drei Söhne zusammengefasst und im Geschäft eingesetzt wurden, scheinen sie dazu nicht ausreichend gewesen zu sein. Daher setzten sie auch den Anteil von Maria und letztlich auch den von Anthonia weitgehend ein. Auf diese Weise konnte Albertus das Vermögen seiner Ehefrau für seine Geschäfte als wijnkoper verwenden. Deshalb kann vermutet werden, dass es für Albertus vorteilhafter war, wenn seine Tochter unverheiratet blieb, denn wenn sie heiraten würde, könnte der Vater das Eigentum, das sie von ihrer Mutter geerbt hat, nicht mehr nutzen. Indem sie die gesamte Erbschaft seiner früheren Ehefrau Emerentia behielten, konnten Albertus und seine Söhne 8.000 bis 10.000 Gulden bekommen, die für über 40 Jahre die Grundlage ihres Geschäfts bildeten. Bei ihrer Hochzeit einen Monat vor dem Tod ihres Vaters konnte Maria davon ausgehen, dass sie ihren Anteil am Erbe ihrer Mutter von ungefähr 2.000 Gulden in die Ehe einbringen konnte. Maria und Jacob vereinbarten 36 Siehe zum Beispiel GAA, Notariel Archief Amsterdam 7727-495, 1710, 1. Oktober, Kontrakt tussen Johaness Hoogheijden en zijn moeder Catharina Streepkamp, wed van Gerrit Hoogheijden, waarin zij voor de tijd van 6 jaar een compagnieschap aangaan, waarbij zij ieder f 9000 inbrengen, het compagnieschap eindigt bij huwelik of sterfgeval. <?page no="428"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 429 in ihrem Heiratsvertrag für den Fall, dass Jacob zuerst sterben würde, dass sie eine douarie von 2.000 Gulden erhalten würde, sollte jedoch Maria zuerst sterben, dann würde Jacob mit 1.000 Gulden weniger bekommen, was nahelegt, dass Maria mehr Vermögen in die Ehe einbrachte als Jacob. Nun, wie viel würde die Erbschaft vom Vater und wijnkoper Albertus dem Paar einbringen? Wie die Bilanzierung von Albertus’ Nachlassinventar (vgl. Tabelle 6) zeigt, gehörte er eindeutig zu den wohlhabenderen Einwohnern Amsterdams, aber sein Vermögen fiel eher bescheiden aus. Er war dahingehend erfolgreich, dass er seinen Kindern keine Schulden hinterließ. Die Bilanz am Ende seiner beiden Ehen war positiv, weshalb sich Hester, seine zweite Ehefrau, für eine Teilhabe an dem während der Ehe erzielten Zugewinn entschied. Dennoch gewährleistete auf der anderen Seite sein Vermögen kein ausreichendes Kapital für seine Nachfahren. Letztendlich war es weniger als das Vermögen, mit dem seine Ehefrauen die Familie versorgten. Sein Vermögen bestand aus Immobilien, Hausrat, Bargeld, Weinvorräten und Krediten. Wenn die Immobilien und Obligationsscheine, die nicht sehr umfangreich waren, abgezogen werden, besaß Albertus ein Vermögen von 21.651 Gulden. Obwohl seine Geschäfte anscheinend sehr viel stabiler verliefen als diejenigen des 29jährigen wijnkopers Johannes Bruijning, bestand das Vermögen von Albertus zu 60 Prozent aus Krediten, die noch einzutreiben waren und von denen 20 Prozent als zweifelhaft bewertet wurden, sowie zu 24 Prozent aus Weinvorräten. Bargeld und Schmuck machten nur ein Fünftel seines Vermögens aus. Zudem beliefen sich Albertus’ Schulden auf 10.311 Gulden. Wie bereits festgestellt, war er vom Erbteil seiner Kinder aus dem Erbe seiner verstorbenen Ehefrau Emerantia und dem Beitrag seiner zweiten Ehefrau Hester extrem abhängig. Die Schulden, die außerhalb der Familie bestanden, waren gering, während der Großteil von 80 Prozent bei Familienmitgliedern angefallen war. Wenn diese Schulden und die zweifelhaften Kredite abgezogen werden, dann belief sich das Vermögen von Albertus van Ommeren auf 8.818 Gulden. In gleiche Teile geteilt würde jeder der sechs Erben 1.469 Gulden erhalten. Dies war kein kleiner Betrag, denn er entsprach dem vierfachen jährlichen Einkommen eines durchschnittlichen Handwerkers und wäre für eine durchschnittliche Braut ein gutes Vermögen gewesen, um es in die Ehe einzubringen. Allerdings muss betont werden, dass dieser Betrag deutlich niedriger ausfiel als derjenige, den die beiden Ehefrauen mitbrachten, und zu niedrig war, um ein neues Geschäft zu begründen. Wie bereits erwähnt, lag der Betrag, den die Mutter eines wijnkopers ihrem Sohn zur Geschäftsgründung zur Verfügung stelle, bei 9.000 Gulden. Ebenso zeigen die Nachlassinventare von Albertus und Jan Bruinings, dass ein wijnkoper ein Kapital von 7.500 bis 10.000 Gulden hatte. Unter diesen Umständen hätten weder Al- <?page no="429"?> Miki Sugiura 430 bertus’ Söhne noch Marias Ehemann Jacob nur auf Grundlage ihres eigenen Vermögensanteils ins Geschäft einsteigen können. Ihre einzige Option scheint darin bestanden zu haben, das Geschäft gemeinschaftlich unter Vereinigung des Familienvermögens zu betreiben. Dies traf auch für Jacob van Aalst, den Ehemann von Maria zu. Er konnte aus dem Erbe von Marias Mutter 2.600 Gulden und dem Erbe ihres Vaters 1.469 Gulden erwarten. Diese Beträge würden ihm ein gutes Geschäftskapital gewährleisten, aber zugleich müsste er vermutlich das Geschäft mit seinen Schwägern teilen. Es wäre für ihn wahrscheinlich erstrebenswert gewesen, eine Tochter, die nicht von einem wijnkoper abstammte, zu heiraten und wie Albertus das Kapital uneingeschränkt einsetzen zu können. Tabelle 7: Der Status der Eltern von Bräutigamen und Bräuten bei ihrer ersten Ehe Vater des Bräutigams Mutter des Bräutigams Vater der Braut Mutter der Braut Herkunft des Eigentums seitens der Braut 1. verstorben* verstorben lebt, liegt aber im Sterben verstorben Erbschaft der Mutter nach dem Tod des Vaters 2. vermutlich verstorben ohne Angabe*** vermutlich verstorben** vermutlich verstorben 3. lebt in Hersenburgh ohne Angabe lebt vermutlich verstorben Erbschaft der Großmutter mütterlicher Seite 4. vermutlich verstorben vermutlich verstorben verstorben impotent 5. verstorben verstorben verstorben lebt Mutter stimmte Vermögenstransfer zu 6. lebt in Oostenwijk ohne Angabe verstorben verstorben 7. lebt ohne Angabe verstorben verstorben 8. lebt in Weesp ohne Angabe verstorben verstorben 9. verstorben verstorben verstorben verstorben 10. verstorben verstorben verstorben verstorben 11. vermutlich verstorben lebt vermutlich verstorben lebt, ist aber impotent Im Heiratsvertrag, nur notarieller Beistand 12. vermutlich verstorben vermutlich verstorben lebt ohne Angabe Vermutlich Erbschaft von mütterlicher Seite 13. lebt ohne Angabe verstorben verstorben <?page no="430"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 431 14. verstorben verstorben verstorben verstorben Eltern der Braut bei erster Ehe verstorben 15. vermutlich verstorben lebt verstorben verstorben 16. lebt lebt vermutlich verstorben impotent 17. verstorben verstorben lebt lebt Eltern gaben speziellen Konsens für ein freiwilliges Hochzeitsgeschenk 18. verstorben verstorben verstorben verstorben Vater lebte bei der ersten Ehe der Braut mit einem Schiffskapitän 19. keine Unterlagen keine Unterlagen keine Unterlagen keine Unterlagen 20. ohne Angabe ohne Angabe verstorben verstorben 21. verstorben verstorben verstorben verstorben Eltern der Braut waren verstorben bei der ersten Heirat mit einem Schneider 22. ohne Angabe ohne Angabe vermutlich verstorben vermutlich verstorben 23. vermutlich verstorben lebt lebt ohne Angabe Vermutlich Erbschaft von mütterlicher Seite 24. verstorben verstorben vermutlich verstorben lebt 25. verstorben verstorben verstorben verstorben 26. verstorben verstorben verstorben verstorben Quelle: Anhang 1, Heiratsaufgebote ermittelt aus den Heiratsverträgen der wijnkopers. * Der Status der Eltern wird mit „verstorben“ ausgewiesen, wenn deren Tod im Bestattungsregister oder mit anderen Dokumenten belegt werden kann oder wenn sie im Heiratsregister als „verstorben“ registriert wurden. In diesem Fall muss beachtet werden, dass einige Immigranten ihre Eltern für tot erklärten, wenn es ihnen zu mühsam erschien, Konsensbriefe von ihren an anderen Orten lebenden Eltern zu besorgen. Allerdings kamen die Bräute mit einer Ausnahme aus Amsterdam, daher kann davon ausgegangen werden, dass deren Eltern tatsächlich verstorben waren, wenn dies im Heiratsregister angegeben wurde. In vielen Fällen stand der Vormund (voogd) bei, was belegt, dass die Eltern verstorben waren. ** „Vermutlich verstorben“ wird angegeben, wenn andere Verwandte als die Eltern, wie zum Beispiel Neffen oder Cousins, die Heirat unterstützten. Zudem wurde im Fall, dass die Mutter ohne den Vater angegeben wurde, der Vater mit „vermutlich verstorben“ ausgewiesen. *** Andererseits wurden im Fall, wenn nur die Väter als lebend, die Mütter jedoch gar nicht angegeben wurden, die Mütter mit „ohne Angabe“ ausgewiesen. Bei fehlenden Angaben ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Person noch am Leben war. <?page no="431"?> Miki Sugiura 432 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Maria ironischerweise mit einem Vater und Brüdern, die wijnkopers waren, eine nicht so günstige Partnerin für einen wijnkoper war, wie ihre Mutter und ihre Stiefmutter es waren. Sie konnte lange Zeit nicht heiraten, weil ihr Vater ihren Anteil am Erbe ihrer verstorbenen Mutter nicht zu Verfügung stellte, insbesondere als ihre Brüder ihre Geschäfte ausbauten. Erst 1705, als Albertus vermutlich altersschwach wurde, oder sich möglicherweise die Geschäfte ihrer Brüder stabilisiert hatten, hatte sie eine Aussicht auf Heirat. Selbst dann hatte Maria keine andere Wahl als einen wijnkoper zu heiraten, da sie ihr Eigentum mit ihren Brüdern, die wijnkopers waren, teilte. Sie musste jemanden finden, der damit zufrieden war, ihr Vermögen zu verfügen, um es im Weingeschäft zu teilen, und Jacob van Aalst erfüllte diese Bedingungen. Der Fall von Maria traf nicht für alle Töchter von wijnkopers zu. Unter den 26 Heiratsverträgen aus den Jahren 1701 bis 1710 finden sich auch zwei anders gelagerte Verträge von wijnkopers-Töchtern. Im Gegensatz zu Maria heirateten beide sehr jung mit 20 bzw. 19 Jahren. Ihre Heiratsverträge zeigen, dass ihre Bedingungen ziemlich unterschiedlich waren. Beide Eltern von Agnes Molepad (Tabelle 7, Nr. 9) waren verstorben, als sie im Alter von 20 Jahren heiratete, und ihre Vormünder gewährleisteten, dass sie ihr Eigentum in die Ehe einbringen konnte. Barbara Tiedemann (Tabelle 7, Nr. 17), die sich im Alter von 19 Jahren verheiratete, war einer von zwei Ausnahmefällen unter diesen 26 Heiratsverträgen, in denen die Eltern ausdrücklich einem großzügigen Hochzeitsgeschenk für ihre Tochter zu ihren Lebzeiten zustimmten. Daher waren die Bedingungen je nach Umständen verschieden. Dennoch zeigt die Tabelle 7, dass es wahrscheinlicher war, dass die Eltern der Braut verstorben waren, als die des Bräutigams. Im Fall der Bräutigame waren in 13 von 26 Fällen entweder ein oder beide Elternteile noch am Leben, wobei in vier Fällen der Status der Eltern nicht ermittelt werden konnte oder nicht angegeben wurde, während bei den Bräuten lediglich in einem Fall beide Eltern noch am Leben waren. Dies war bei der bereits erwähnten Tochter eines wijnkopers, Barbara Tiedemann, der Fall, deren Eltern außergewöhnlicherweise einem transfer inter vivos für beide Töchter zustimmten. In fünf anderen Fällen war einer der Elternteile am Leben und in einem rechtsfähigen Status. Bei drei Fällen war noch ein Elternteil am Leben, der jedoch im Sterben lag oder keine rechtliche Verantwortung mehr übernehmen konnte. In diesen Fällen gab der verbliebene Elternteil, häufig die Mutter, einen ausdrücklichen Konsens zum Hochzeitsgeschenk. 37 Die 37 Im Fall 2 verfügte die Tochter eines Nadelmachers über eine Erbschaft ihrer Großmutter seitens ihrer verstorbenen Mutter. Im Fall 5 stellte die Mutter der Tochter eines Geistlichen im Heiratsvertrag ihrer Tochter ausdrücklich fest, dass sie ihrer Tochter als Braut 2.000 Gulden in Bargeld als Hochzeitsgeschenk mitgeben würde. <?page no="432"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 433 meisten Bräute kamen nicht aus Kaufmannsfamilien und daher bestand für ihre Herkunftsfamilien kein besonderer Vorteil, die Töchter unverheiratet zu lassen, um ihren Vermögensanteil zu nutzen. Es ist offensichtlich, dass Töchter, deren Eltern verstorben waren und ihr Vermögen ihrem zukünftigen Ehemann zur Verfügung stellen konnten, ideale Partner zu sein schienen. Wie sah es mit der Witwe eines wijnkopers aus? Witwen, die freier über ihr Eigentum verfügen konnten, scheinen beliebter als die Töchter der wijnkopers gewesen zu sein. Es kann festgestellt werden, dass sich einige Witwen erneut mit einem wijnkoper oder jemandem mit einem dem Weinvertrieb verwandten Beruf wieder verheirateten. Zum Beispiel finden wir mit dem Fall 2 eine Braut, die zum vierten Mal heiratete. In diesem Fall heiratete Aeltje Rutgers beim ersten Mal Jan Valckenburg. Sie könnten an einem anderen Ort geheiratet haben, Dokumente zur Heirat liegen nicht vor, aber Jan Valckenburg ist möglichweise Textil(laken)händler oder wijnkoper gewesen, und zumindest sein Bruder Marcus war ein wijnkoper. Aeltje verheiratete sich 1693 das zweite Mal mit einem 27jährigen wijnkoper aus Venlo, zwei Jahre später mit einem anderen 22 Jahre alten wijnkoper aus Emmerich und schließlich 1710 mit Roeloff Backer, einem 32 Jahre alten wijnverlater bzw. wijnkoper aus Amsterdam. Dieser vierte und letzte Ehemann, Roeloff Backer, war ein wijnverlater an der Herengracht. 38 Nach der Heirat zog er wie die vorherigen Ehemänner in das Haus seiner Ehefrau in der Ridderstraat und wurde wijnkoper. Es finden sich weitere ähnliche Beispiele: Der Neffe von Aeltjes drittem Ehemann, Jan Bast, der ebenfalls ein wijnkoper aus Emmerich war, heiratete 1692 Barbara Cramers. Für Barbara war es die dritte Ehe mit einem wijnkoper. Ein weiteres Beispiel ist in Fall 7 die erste Ehefrau von François Golt, Maria Catharina van Waardenburgh, die ebenfalls zwei wijnkopers heiratete: zuerst einen 31 Jahre alten wijnkopersknecht bzw. wijnkoper aus Nijmegen, als sie selbst 26 Jahre alt war, und fünf Jahre später, mit 32 Jahren, den 27jährigen wijnkoper François Golt aus Rheinberg. Diese Frauen waren keine Töchter von wijnkopers, sondern sie scheinen durch ihre ersten Ehen mit dem Weinhandel in Verbindung gekommen zu sein. Es ist interessant zu beobachten, wie sie dabei blieben, jüngere, immigrierte wijnkopers zu heiraten, deren Herkunftsorte ziemlich weit entfernt von Amsterdam lagen, meist nahe der deutschen Grenze oder im deutschen Rheinland bzw. in Westfalen. Die Anzahl des Samples ist zu klein, um allgemeine Aussagen zu treffen, aber es kann vermutet werden, dass Heiraten 38 Die Herengracht war eine der prestigeträchtigsten Straßen in Amsterdam, wo die prominenten Fernkaufleute wohnten. Wenn man in Betracht zieht, dass Roeloff aus der Herengracht wegzog, kann vermutet werden, dass er selbst nicht zu diesen reichen Kaufleute gehörte, sondern für sie als wijnverlater arbeitete oder in einem Hinterhaus an der Herengracht lebte. <?page no="433"?> Miki Sugiura 434 mit Witwen für die immigrierenden wijnkopers attraktiv war. Andererseits muss es auf Seiten der Witwen eine Notwendigkeit gegeben haben, sich wieder mit einem wijnkoper zu verheiraten. Üblicherweise hatten Witwen das Recht, das Vermögen ihres früheren Ehemanns zu behalten, wenn sie das Geschäft als Witwen ohne Wiederverheiratung fortsetzen. Auch hatten sie, wenn dies entsprechend im Testament festgelegt worden war, das Recht, das Vermögen ihres Ehemanns zugunsten ihrer Kinder zu verwalten, selbst wenn sie erneut heirateten. Die erste Option war üblich, und im Verzeichnis der Gildemitglieder von 1684 waren insgesamt 24 Witwen als wijnkoper verzeichnet. Was war günstiger, Witwe zu bleiben oder sich erneut zu verheiraten? Es ist zu vermuten, dass der Zustand des Vermögens des früheren Ehemanns und das Verhältnis zu seinen Geschäftskollegen oder den im Geschäft aktiven Familienmitgliedern die Wahl entschieden. Angenommen es handelte sich um die Witwe Hester Deurhoff, die zweite Ehefrau von Albertus van Ommeren, die ihr ursprüngliches Vermögen von 2.000 Gulden, weitere 3.000 Gulden aus dem Vermögensanteil ihrer beiden noch jungen Kinder und außerdem die Hälfte der Gewinne aus der Ehe erhielt und nun ein Vermögen von zumindest 6.000 bis 7.000 Gulden zur Verfügung hatte, während das Geschäft von Albertus’ Söhnen und Marias Ehemann Jacob betrieben wurde - sie entschied sich, Witwe zu bleiben. Aber angenommen, sie wäre eine Witwe mit zwei noch kleinen Kindern, die nicht die Geschäfte führen konnte, und das Vermögen ihres früheren Ehemanns würde überwiegend aus Weinvorräten, Gerätschaften und Kundenkrediten bestehen? Sie würde sich sicherlich entschieden haben, wieder einen wijnkoper zu heiraten. Ob sie sich wieder verheiraten konnte, hing in diesem Fall von der Verfügbarkeit des Anteils ihrer Kinder am Vermögen ihres früheren Ehemanns ab. Es muss die Tatsache in Erinnerung gerufen werden, dass Johanna Coupe, die Witwe von Marias Bruder Dirck van Ommeren, erst nach Albertus’ Tod und nachdem der Kinderanteil am Erbe von Dircks verstorbener Mutter 1706 gesichert war, erneut heiratete. 39 War es nur Zufall oder konnte sie nicht heiraten, weil die Familie Dircks Anteil nutzte, während Albertus noch am Leben war? Auf jeden Fall geht es nicht zu weit, anzunehmen, dass der Status der Ehefrauen denjenigen der nächsten Generation beeinflusste. Wie sahen die unterschiedlichen Bedingungen für eine (reiche) wijnkopers-Witwe und einer wijnkopers-Tochter in den Auswirkungen dahingehend aus, wie die beiden Cornelius, der eine Cornelius als Sohn von Maria van Ommeren und der andere Cornelius als Enkelkind von Hester Deurhoff, sich entwickelten? Wie 39 GAA, Ondertrouwregisters, 1706 7/ 15, 539-225. <?page no="434"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 435 bereits festgestellt, wurde Abraham, Sohn von Hester und Albertus, koopman und die Tochter Geertruid verheiratete sich 1724 mit einem koopman, als Hester krank wurde und keine Verantwortung mehr für finanzielle Angelegenheiten übernehmen konnte. Jacob van Aalst starb 1730 im Alter von 51 Jahren. 40 Maria lebte weitere acht Jahre und als sie mit 66 Jahren verstarb, hatte sie wie Hester ihre Kinder in Kaufmannsgeschäften untergebracht. 41 Es war nur ein Jahr vor ihrem Tod, dass ihr Sohn Cornelius van Aalst die Bürgerschaft als koopman erwarb. 42 Ihre andere Tochter Maria heiratete ebenfalls einen koopman, Jan Dauser aus Amsterdam. 43 Bis hierher wurde betont, wie unattraktiv die Tochter eines wijnkopers als Ehefrau für einen wijnkoper sein konnte, aber es sollte nicht die Tatsache übersehen werden, wie es ihr gelang, dass die folgende Generation immer noch im Handel tätig war. Es mag attraktiver und einfacher gewesen sein, die Tochter eines Amsterdamer Handwerkers zu heiraten, deren Eltern verstorben und deren Vermögen leicht transferierbar war; es war eine andere Angelegenheit, wenn die nächste Generation Kaufleute werden würde. Im Fall der Tochter eines Tischlers Pauwelina Bensschop (Anhang 1, Fall 4) wurde der Sohn ebenso Tischler wie der Großvater mütterlicher Seite, und die beiden Töchter heirateten jeweils einen Maurer und einen Maler. 44 Dennoch gab es im Ergebnis auch einen Unterschied zwischen Hesters Enkelkind und Marias Sohn. 1742 lebte Cornelius van Aalst, der Sohn von Maria und Jacob, im selben Haus am O. Z. Voorburgwal mit Cornelius van Ommeren, vermutlich der Sohn von Abraham van Ommeren und damit Hesters Enkelsohn und Marias Neffe. 45 Die beiden betrieben offensichtlich ein gemeinsames Geschäft in demselben Haus, aber ihre Anteile waren nicht gleich verteilt. Cornelius van Ommeren führte ein wohlhabendes Leben als Makler (makelaar) mit einem jährlichen Einkommen von 2.000 Gulden und einem Diener. Er war als capitalist registriert, was belegt, dass er zu den reichsten Einwohnern gehörte. Der Sohn Cornelius van Aalst auf der anderen Seite war ein Schiffsmakler mit dem moderaten Einkommen von 800 Gulden. 40 GAA, Begraafregister, 1730 9/ 29 1082-131, 1075-113. 41 GAA, Begraafregister, 1738 2/ 6 164-941. 42 GAA, Poortersboeken 1737 1/ 23 18-94. 43 GAA, Poortersboeken, 1727 1/ 23 18-731. 44 Sohn Thomas: GAA, Poortersboeken 1734 3/ 16 17-494; Töchter Dina und Hesta van Jacobus, Maler: GAA, Poortersboeken 1729 3/ 8 16-551; Töchter Catharina und Sijmonse Gerrit, Maurer: GAA, 1734 11/ 16, 17-228. 45 O LDEWELT , Kohier van de personeele quotisatie (wie Anm. 5), 3-625. <?page no="435"?> Miki Sugiura 436 7. Schluss Mittels Fallstudien auf Grundlage von Heiratsverträgen aus den Jahren 1701 bis 1710 hat dieser Beitrag die Heiratsmuster und den Transfer zwischen den Generationen bei den wijnkopers mit dem Ziel untersucht, herauszufinden, weshalb diese in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts so stark zunahmen. Ausgehend vom bisher Diskutierten kann geschlossen werden, dass das Heiratsmuster, die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Praktiken des Transfers zwischen den Generationen eng mit der Zunahme der wijnkopers verbunden waren. Nach der Neudefinition ihrer Aufgabe im Jahr 1660 sahen viele, deren Eltern keine Kaufleute waren oder nicht aus Amsterdam stammten, im wijnkoper eine neue Geschäftsmöglichkeit und traten der Gilde bei. Ein wijnkopers-Geschäft benötigte ungefähr 7.500 bis 10.000 Gulden Kapital. Obwohl bislang nicht genug Beispiele untersucht wurden, wie sie ihr Grundkapital erwarben, legen die wenigen aufgefundenen Fälle nahe, dass sie mit einer Anleihe von nahestehenden Verwandten - in einigen günstigen Fällen konnten compagnieschap-Verträge mit den Eltern geschlossen werden - anfingen oder in ein bestehendes Geschäft von Verwandten einstiegen. In jedem Fall war die Heirat eine entscheidende Möglichkeit für diese wijnkopers, ihre finanzielle Grundlage zu verbessern. Nachdem das Erbschaftsgesetz einen genau gleichen Anteil für Töchter vorsah, konnten die wijnkopers ihre finanzielle Grundlage von ihren Partnerinnen durch Heirat bekommen. Diese wijnkopers waren als Bräutigame nicht in der Position, gemeinschaftliches Eigentum am Vermögen ihrer Ehefrauen zu verlangen oder deren Anteil nach deren Tod zu erben. Dies hätte zu sehr gegen die Regel verstoßen, und sie waren zufrieden, wenn die Braut das Vierbis Fünffache eines durchschnittlichen Vermögens einbrachte und sie ihre Geschäfte auf der Grundlage des Vermögens ihrer Ehefrauen betreiben konnten. Töchter, die diese Möglichkeit bieten konnten, mussten nicht notwendigerweise die Töchter von wijnkopers sein. Sie kamen häufig aus Amsterdam, nachdem dies als Vorteil angesehen wurde; wenn sie jedoch genügend Vermögen zur Verfügung stellen konnten, dann war dies ausreichend. Sobald die Eltern verstorben waren und das Erbe gesichert, verbanden sie sich mit wijnkopers, die sich bereits fest etabliert hatten. Daher heirateten junge Bräute und ältere wijnkopers. Dieses Muster entsprach dem der Heiraten bei den kooplieden, aber der Unterschied bestand darin, dass nicht alle Bräute und Bräutigame aus einem kaufmännischen Hintergrund kamen. Die Heiraten der wijnkopers waren keine selektiven Verbindungen zwischen Kaufmannsfamilien. Ihre Heiratsverträge wurden hauptsächlich vereinbart, um zwei Ziele abzusichern: zum einen sollte gewährleistet werden, dass die Braut <?page no="436"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 437 das zugesagte Vermögen einbringen würde, und zum anderen, dass sie es letztendlich auch wieder zurück bekommen würde. Letzteres war nicht nur zum Vorteil der Braut. Es war eine alte Tradition, dass Kaufleute, um den Verlust von Vermögen zu vermeiden, Eigentum unter dem Namen ihrer Frauen führten. Auch in diesem Fall bot das Eigentum der Ehefrauen einen Schutz vor zukünftigen Verlusten für den Ehemann oder die kommende Generation. Dasselbe Ehegüterrecht führte jedoch zu Schwierigkeiten, wenn die Ehefrau verstarb, weil nun ihr Eigentum formell den Kindern gehören würde. Es war entscheidend, das akkumulierte Kapital zusammenzuhalten, um das Geschäft betreiben zu können. Daher gab es eine Tendenz, das Geschäft mit den Kindern zu teilen. Obwohl sie unabhängige Kaufleute waren, betrieben daher die wijnkopers ihre Geschäfte gemeinschaftlich und teilten sich das Vermögen. So kam der Fall zustande, dass die Tochter eines wijnkopers, deren Erbteil im Geschäft angelegt war, für lange Zeit nicht heiraten konnte. Sie konnte vielleicht dennoch einen Partner finden, wenn ihr Eigentum gesichert war; in diesem Fall einen aufstrebenden jungen wijnkoper, der bereit war, sich mit einem kleinen Anteil am Familienunternehmen zu beteiligen. Ein wijnkoper mit weniger günstigen Bedingungen aufgrund seines jüngeren Alters oder eines Immigrationshintergrunds, konnte auch seine Chance in der Heirat einer Tochter eines wijnkopers oder, ökonomisch noch erstrebenswerter, einer wijnkopers-Witwe finden, die das Vermögen ihrer Ehemänner zugunsten ihrer Kinder verwalteten. Beide, Töchter wie Witwen, hatten keine große Wahl, als wiederum einen anderen wijnkoper zu heiraten, da ihr Vermögen im Geschäft steckte. Die Muster von Heirat und dem Transfer zwischen den Generationen, wie sie hier beschrieben wurden, waren, wenn nicht die einzigen, dann sicherlich die wichtigsten Gründe, weshalb die wijnkopers im Zeitraum von 1660 bis 1750 so zahlreich waren. In einem nächsten Schritt müssen diese Beobachtungen durch weitere Beispiele bestätigt und ergänzt werden. Die hier gewonnenen Einsichten führen zu der Frage, mit welchen Vorstellungen von ökonomischer Rationalität und Effizienz die Zunahme der wijnkopers verbunden war. Zudem verlangen die Ergebnisse ein Überdenken des Konzepts von Familiennetzwerken bei Kaufleuten. <?page no="437"?> Miki Sugiura 438 <?page no="438"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 439 <?page no="439"?> Miki Sugiura 440 <?page no="440"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 441 <?page no="441"?> Miki Sugiura 442 <?page no="442"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 443 <?page no="443"?> Miki Sugiura 444 <?page no="444"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 445 <?page no="445"?> Miki Sugiura 446 <?page no="446"?> Das Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660-1710 447 ANHANG 2: Albertus van Ommeren und seine Kinder Albertus van Ommeren (1640-1705) 1. heiratet 1668 Emmerentia Huijberts (geb.? -18.5.1684) Kinder: 1. Geertruid (1672-1682? ) 2. Maria Antonia (1673-1738) heiratet 1705 Jacob van Aalst (1679/ 80-1730, 25/ 27 Jahre alt, aus Amsterdam) Vater: Antonij van Aelst, Mutter: Maria Jacobs; Stiefvater: Dirck De Bosch (koopman) Kinder: Cornelis van Aalst (koopman) Maria van Aalst, heiratet 1737 Jan Danser (koopman aus Amsterdam) 3. Dirck (1674-1705) heiratet (Jahr? ) Johanna Coupe (heiratet 1706 Wilthuijsen Barent) Kinder: Elisabeth 1702 Albertus 1704. 4. Huijbertus (1676-†? ) heiratet 1708 Anna Colerus (22 Jahre alt, aus Dantzig) 5. Cornelius (1677-†? , 1702 koopman) 6. Margrita (1680-1683? ) 7. Albertus (geb.? -†? ) 2. heiratet 1686 Hester Deurhof (1649-†? ) Kinder: 1. Geertuijd (1687-†? ) heiratet 1724 Jacob de Bruijn (25 Jahre alt, von Amsterdam) 2. Abraham (1688-†? ; 1719 koopman) <?page no="448"?> 5. Formen des Regional- und Einzelhandels <?page no="450"?> Geschäfte kleiner Leute im Spannungsfeld von Markt, Monopol und Territorialwirtschaft. „Regionaler Handel“ als heuristische Kategorie am Beispiel des Fleischgewerbes der Stadt Bern im 17. und 18. Jahrhundert Daniel Schläppi 1. Einleitung Die Beschäftigung mit dem regionalen Kleinhandel ist ein ebenso spannendes wie herausforderndes Forschungsgebiet. Nicht nur haben sich die Geschäfte kleiner Leute nur selten in der Überlieferung niedergeschlagen. Vielmehr ist es ein anspruchsvolles Unterfangen, die manchmal eher impressionistischen denn systematischen Beobachtungen in theoretische, methodische und analytische Zusammenhänge zu bringen. 1 Wie sich im Rahmen der fünften Irseer Tagung zeigte, ist der Begriff „regional“ in verschiedener Hinsicht offen und entsprechend vielfältig interpretier- und anwendbar. Dieser Beitrag verwendet den Terminus „regional“ zunächst als beschreibende Kategorie, denkt ihn von seiner umgangssprachlichen Bedeutung her als ein überblickbares, zusammenhängendes Gebiet. Die Flächenausdehnung einer Region braucht für den Moment nicht festgeschrieben zu werden, denn eine Region kann außer über Distanzen auch über funktionale Zusammenhänge und ökonomische Interdependenzen definiert sein. Wird die Frage nach der räumlichen Ausdehnung von Regionen in dieser Weise offen gelassen, die Kategorie „Region“ gleichzeitig aber hinsichtlich immanenter funktionaler Abläufe reflektiert, kann wirtschaftliche Aktivität von ökonomisch wenig bedeutsamen Akteuren sichtbar gemacht werden. Deren Wirtschaften ist zwingend regional, da sie in Bezug auf Produktion und Absatz gar nicht anders als regional zu „handeln“ vermögen. Das heißt sie agieren nur innerhalb von Räumen und Sinnzusammenhängen, die sie selber erschließen und bewirtschaften können. Am Beispiel von Abläufen der Warenzirkulation und von Handlungsweisen unterschiedlicher Marktteilnehmer wird im Folgenden gezeigt, dass beschränkte Aktionsradien das Wirtschaften einfacher Leute in der frühen 1 Zum Potential und zu den Problemen von Untersuchungen zum Einzelhandel vgl. zuletzt D ANIEL S CHLÄPPI , Lebhafter Einzelhandel mit vielen Beteiligten. Empirische Beobachtungen und methodische Überlegungen zur bernischen Ökonomie am Beispiel des Fleischmarkts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Einzelhandel, kulturhistorisch. Traverse, Zeitschrift für Geschichte 3 (2005), 40-53. <?page no="451"?> Daniel Schläppi 452 Neuzeit grundsätzlich prägten. 2 Der Hauptteil dieses Beitrags befasst sich mit der Konkurrenz zünftischer Metzgermeister mit Anbietern aus der Landschaft (Kapitel 2), den Szenerien des grauen Gewerbes (Kapitel 3) und thematisiert die obrigkeitliche Wirtschaftspolitik hinsichtlich der festgestellten Erscheinungen (Kapitel 4). 3 Anschließend werden anhand eines Strukturvergleichs mit Erscheinungsformen des lokalen Handels in heutigen Entwicklungsländern sowie unter Einbezug von neueren Ansätzen aus der Mikroökonomie und der Anthropologie konstante Grundzüge des Marktverhaltens kleiner Leute in Volkswirtschaften mit limitierten Ressourcen herausgearbeitet (Kapitel 5). Zuletzt folgen Überlegungen dazu, inwiefern das „Lokale“ und die „Region“ als heuristische Kategorien dazu dienen können, die Aktionsräume von Anbietern von Waren des täglichen Bedarfs besser erforschen und adäquat beschreiben zu können (Kapitel 6). 2. Zünftische Metzgermeister und ihre Konkurrenz aus der Landschaft 21 Batzen und 2 Kreuzer gab Johann Rudolf Roder, der Stubenmeister der Ehrenden Gesellschaft zu Metzgern der Stadt Bern, am 13. März 1730 auf Kosten der Kasse seiner Metzgerzunft für Speis und Trank und für Belohnungen aus, als er zusammen mit vier Kollegen einen Tag lang vergeblich einem Fleischschmuggler namens Riedler nachstellte, ohne den Delinquenten schließlich dingfest gemacht zu haben. Dafür gingen dem Trupp bei der gleichen Aktion die alte Süderenbänin 4 und eine Magd des Venners von Graffenried, notabene eines der höchsten Beamten im bernischen Stadtstaat, 2 Ist hier von „Markt“ die Rede, so sind damit nicht ausschließlich die Fleischverkäufe in der Schal oder am Wochenmarkt gemeint, wie dies ein auf den zeitgenössischen Rechtsverhältnissen beruhendes Begriffsverständnis implizieren würde. Vielmehr soll „Markt“ hier ganz allgemein Transaktionen von Waren und Geld bezeichnen. Diese Begrifflichkeit lässt sich an die Definition von J OSEF E HMER / R EIN- HOLD R EITH , Märkte im vorindustriellen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2004), 9-24, hier 9, anschließen, die unter Markt „ein wirtschaftliches Regelsystem“ verstehen, das „den Austausch innerhalb einer arbeitsteiligen Wirtschaft gewährleistet, zwischen Produzenten bzw. Anbietern von Dienstleistungen und Konsumenten vermittelt, und dabei den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage und die Verteilung der ökonomischen Ressourcen in einer Gesellschaft bewirkt.“ 3 Bibliographische Angaben zur Handwerksgeschichte des Metzgergewerbes, zum internationalen Ochsenhandel und zu städtischer Umlandpolitik bei S CHLÄPPI , Einzelhandel (wie Anm. 1), 50f., Anm. 1f., 4. 4 Zunftarchiv Metzgern (ZAMe) 1085, Stubenmeisterrechnung (21)1730/ 32. Die meisten Quellenzitate in diesem Beitrag basieren auf Recherchen im „Zunftarchiv Metzgern“, das von der Burgerbibliothek Bern verwaltet wird und derzeit im Staatsarchiv des Kantons Bern lagert. Die Nachweise erfolgen mit ZAMe, Bandnummer, Seitenzahl und - falls eine Datierung möglich ist - Entstehungsjahr. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Zitatausschnitten gilt der erste Nachweis jeweils bis zur nächsten Anmerkung mit einem Quellenvermerk. Nachweise von Zitaten, die für den Inhalt eines Abschnittes über die zitierten Passagen hinaus maßgebend sind, werden in den Sammelfußnoten am Abschnittsende nicht eigens wiederholt. <?page no="452"?> Geschäfte kleiner Leute 453 in die Fänge. Allerdings konnten weder Bußen kassiert noch Fleischwaren von Wert konfisziert werden, denn die beiden Frauen trugen keinerlei verbotene Waren oder Bargeld mit sich, waren also zu Unrecht verdächtigt worden. In der Bilanz war die Operation der wackeren Metzger gegen die grundlos beargwöhnten Leute fehlgeschlagen. Weil die Metzgerschaft für alle Auslagen und Belohnungen der Beteiligten aufkommen musste, wenn die angeheuerten Schergen keine Bußen kassieren konnten, wurden missglückte Hetzjagden von den Stubenmeistern - sie waren für das Gesellschaftshaus und die Zunftkasse zuständig - buchhalterisch verarbeitet und so für die Nachwelt festgehalten. Besagter Eintrag Johann Roders vom 13. März 1730 machte den Anfang einer ganzen Reihe von Ausgabenposten, die in den folgenden Wochen aus ergebnislosen Pfändungsaktionen erwuchsen. Schon am 21. März war der nächste Fehlschlag zu verzeichnen. Meister Salomon Stoos und Profos Pytto, ein gegen bares Geld mit den Metzgern kooperierender Landjäger, lauerten die ganze Nacht hindurch vergeblich bei der Neubrücke. Am 4. April patrouillierten der Stubenmeister persönlich, Meister Scheuermeister und zwei Knechte mit der Unterstützung von Pytto nächtens bei der Untertorbrücke, dem damals wichtigsten Zugang zur Stadt von Osten her. Am 12. Mai wartete Roder mit Meister Gunier und Pytto eine ganze Nacht umsonst auf den Thorberg Metzger. In der folgenden Nacht wollte Abraham Änenen den gleichen Missetäter auf einem Kirchhof überraschen. Doch der Gejagte war auch beim zweiten Mal schlauer - oder gewarnt. Wenn dann wirklich jemand auf frischer Tat ertappt wurde, entzogen sich etliche der Überführten dank geistesgegenwärtiger Flucht den Sanktionen. So etwa Bollmetzger Sturzenegger, 5 der seinen Häschern die Ware kurzerhand dargeworffen und davon geloffen. Selbst der Unbekannte, über den man gehört hatte, er schlachte und zerlege gerade auf offenem Feld in Dießbachs Matten 6 ein Kalb, entwischte der umgehend ausgerückten Patrouille gerade noch rechtzeitig. Anhand dieser ersten Eindrücke von einigen ergebnislosen Streifgängen der Berner Metzger lassen sich folgende Sachverhalte festhalten: 1. Ob es sich nun um den Heiri zu Bümplitz, den Metzgerhauseli, eines Hofers Weib von Biglen, das Barbli Änni oder eines Kieners Tochter von Bowil, oder wie sie sonst noch hießen, handelte, in den Kontenblättern begegnen uns einfache Leute - Männer und, mit rund einem Drittel aller erwähnten Personen, zahlreiche Frauen -, die erheblichen Risiken zum Trotz den direkten Absatz bei der städtischen Konsumentenschaft suchten. Einige, wie etwa die Kellermagd eines Herren von Münchenwiler oder eine bereits genannte 5 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnung (22)1748/ 50. 6 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnung (15)1708/ 10. <?page no="453"?> Daniel Schläppi 454 Magd des Venners von Graffenried, standen in direkter Verbindung zu exklusiven Kreisen des bernischen Herrenstandes. 7 2. In den Stubenmeisterrechnungen hat mikroökonomische Aktivität schriftlichen Niederschlag gefunden, die anhand von Rechtsquellen wie Handwerksordnungen bestenfalls indirekt zu fassen ist. 8 Die in den spröden Stubenmeisterrechnungen überlieferten Episoden liefern einen bunten, aber realen Hintergrund zu den normativen Texten und öffnen so Zugänge zu weiteren Quellenbeständen und Forschungsfeldern. 9 7 Zu den in diesem Abschnitt zur Illustration genannten Namen vgl. die Quellennachweise in Anm. 13 unten, wo die einschlägigen Akten aufgezählt werden. Der prominente Auftritt von Frauen überrascht nicht, waren sie doch nach C HRISTIAN P FISTER , Klimageschichte der Schweiz 1525-1860. Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, Bern 1982, 32f. und R UDOLF R AMSEYER -H UGI , Das altbernische Küherwesen, Bern 1961, 74, für die Bewirtschaftung der Gärten und des Kleinviehs verantwortlich. Es liegt auf der Hand, dass sie sich auch um die Vermarktung ihrer Erzeugnisse kümmerten. Auf eine analoge Zuordnung von Arbeitsbereichen auf kleinen Bauernbetrieben in nicht industrialisierten Agrargesellschaften heutiger Entwicklungsländer lassen die Ausführungen von M ARCUS K NUPP , Wochenmärkte in Jemen. Ein traditionelles Versorgungssystem als Indikator gesellschaftlichen Wandels, Köln 2001, 113, 118 schließen. 8 Auf grundsätzliche methodische Schwierigkeiten bei der Erfassung von Alltagsgeschäften und niederschwelligen Märkten hat F RANZ I RSIGLER , Stadt und Umland im Spätmittelalter. Zur zentralitätsfördernden Kraft von Fernhandel und Exportgewerbe, in: Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung, E MIL M EYNEN (Hrsg.), Köln / Wien 1979, 1-14, hier 3, hingewiesen. In der Tat finden sich die Quellen, die sich in Bezug auf den Einzelhandel auswerten lassen, manchmal an überraschenden Orten. So auch im vorliegenden Fall, würde man hinter den als „Stubenmeisterrechnungen“ inventarisierten Kontenbüchern, die Anlass zu dieser Studie gegeben haben, nicht unbedingt die spannenden Einblicke in den Einzelhandel vermuten, welche sie tatsächlich bieten. In diesem Sinn argumentieren auch E RIKA F LÜCKIGER / A NNE R ADEFF , Globale Ökonomie im alten Staat Bern am Ende des Ancien Régime. Eine außergewöhnliche Quelle, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 62 (2000), 5-50, hier 13. Den beiden Autorinnen zufolge liegt „der immense Wert“ derartiger Dokumente „weniger in der quantitativen als in der qualitativen Aussage“. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt M ICHAELA F ENSKE , Marktkultur in der frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln / Weimar / Wien 2006, 35, die in amtlichen Dokumenten immerhin einschlägige Marginalien gefunden hat, welche von der Präsenz von Kleinhändlern und Hausierern zeugen. Nach L AURENCE F ONTAINE , Die Zirkulation von Gebrauchtem im vorindustriellen Europa, in: Märkte im vorindustriellen Europa, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2004), 83-96, hier 87, hat der informelle Sektor mit Ausnahme krimineller Aktivitäten keine Spuren in den Archiven hinterlassen. Ein weitgehend zutreffender Befund, denn auch die hier präsentierten Beobachtungen sind letztlich der versuchten Verfolgung von Straftatbeständen zu verdanken, selbst wenn die fraglichen Aktennotizen mehrheitlich auf ungeahndete Übertretungen verweisen. 9 Inhaltliche Verbindungen lassen sich beispielsweise zu der sich mit Belangen des Zunfthandwerks beschäftigenden Wirtschafts- und Stadtgeschichte herstellen, wobei hier der Begriff „Nahrung“ von zentraler Bedeutung ist. Der Sammelband Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk, R OBERT B RANDT / T HOMAS B UCHNER (Hrsg.), Bielefeld 2004 präsentiert Beiträge, die inhaltlich eng an die anhand von bernischen Verhältnissen gewonnenen Erkenntnisse anschließen. R OBERT B RANDT , Frankfurt sei doch eine Freye-Reichs-Statt, dahin jedermann zu arbeithen frey stünde. Das Innungshandwerk in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert - zwischen Nahrungssemantik und handwerklicher Marktwirtschaft, in: ebd. 155-199, hier 195, weist nach, dass von einem heterogenen Kreis von Anbietern, die mit oder ohne Genehmigung auf dem Frankfurter Markt agierten, dem Zunfthandwerk beträchtliche Konkurrenz erwachsen konnte. Außerdem etablierten sich auch in Frankfurt Formen des Warenumschlags, die sich „von einem konkreten, von einem <?page no="454"?> Geschäfte kleiner Leute 455 3. Die zünftisch organisierten Metzger Berns wollten verhindern, dass Produzenten aus dem Umland Erzeugnisse in der Stadt absetzten. Lange Zeit schlugen Prämien für beteiligte Meister, das Ausstellen von Pfandzetteln und Belohnungen für Zeugenaussagen in verschiedenen Rechnungen zu Buche. Die Stubenmeisterrechnung von 1754 verbuchte das Außgeben. Bey Pfändung der Stümpleren 10 , der illegal operierenden Kleinhändler und Störmetzger, erstmals als eigenständige Rubrik. Diese Systematisierung im Rechnungswesen zeigt, dass die tonangebenden Angehörigen der Meisterschaft den marktpolizeilichen Bestrebungen, welche sie zum Schutz ihrer monopolartigen Privilegien unternahmen, bei allen Misserfolgen einige Bedeutung beimaßen. 4. Die Stubenmeisterrechnungen sind lückenhaft überliefert. Konsistente Datenreihen lassen sich so nicht konstruieren. Das Material erlaubt also keine Rückschlüsse auf Konjunkturen im Kleinhandel, das Handelsvolumen und den Anteil des grauen Handels an der Versorgung der Stadt. 11 Es sagt nichts über Ansehen und Ruf der auf dem Schwarzmarkt agierenden Anbieter bei der Konsumentenschaft, oder darüber, ob die Risiken - Verlust aller Waren und Bestrafung mit Buße, Schlägen oder gar Verhaftung -, welche die „Stümpler“ eingingen, in einer nachvollziehbaren Relation zu den realisierbaren Gewinnen standen. 12 besonderen Ort und Termin schon gelöst hatten und über illegalen Import, hausieren, einstellen und schwarz backen allgegenwärtig sein konnten“, ebd., 197. 10 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnung (23)1752/ 54. 11 Ähnliche Schwierigkeiten stellten sich F ONTAINE , Zirkulation (wie Anm. 8), 87. In Ermangelung statistisch verwertbarer Angaben ist auch das Ausmaß des Gebrauchtwarenhandels kaum zu quantifizieren. Da auch vernünftige Schätzungen keinen verlässlichen Aufschluss über die faktischen Anteile des Graumarktes und des informellen Gewerbes zu geben vermögen, stellt die beschreibende Mikroanalyse der ökonomischen Verflechtungen die einzige methodisch sinnvolle Annäherung an die Thematik dar. 12 Nach S CHLÄPPI , Einzelhandel (wie Anm. 1), 44, kam es häufig zu Gewaltexzessen der Fleischhacker gegen die Marktkonkurrenz von auswärts. Diesen Eindruck legen jedenfalls die entsprechenden Ermahnungen und Verbote der Obrigkeit nahe. Im Rahmen der fünften Irseer Tagung hat Peter Rauscher auf ein besonderes Konfliktfeld im Fleischhandel hingewiesen, das auch von steten physischen Übergriffen geprägt war: Wo jüdische Bevölkerungsgruppen in Gemeinschaft mit Christen lebten, sind chronische Spannungen zwischen christlichen und jüdischen Metzgern zu beobachten; vgl. den Beitrag von P ETER R AUSCHER in diesem Band, 559. Mit dieser Thematik beschäftigen sich u.a. M A- RIANNE A WERBUCH , Alltagsleben in der Frankfurter Judengasse im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart, K ARL E. G RÖZINGER (Hrsg.), Wiesbaden 1997, 1-24; P ETER R AUSCHER , Langenlois. Eine jüdische Landgemeinde in Niederösterreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Horn-Waidhofen a. d. Thaya 2004; G ERHARD R ENDA , Der Konflikt der Rothenberger Juden mit der Metzgerzunft in Schnaittach, in: Jüdische Landgemeinden in Franken. Beiträge zu Kultur und Geschichte einer Minderheit, Bayreuth 1987, 79-86; S ABINE U LLMANN , Kontakte und Konflikte zwischen Landjuden und Christen in Schwaben während des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts, in: Ehrkonzepte in der frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, S YBILLE B ACKMANN / H ANS -J ÖRG K ÜNAST / S ABINE U LLMANN / B. A NN T LUSTY (Hrsg.), Berlin 1998, 288-315. <?page no="455"?> Daniel Schläppi 456 Streuung der in den Akten der Meisterschaft des Metzgerhandwerks auftauchenden „Stümpler“ sowie der illegalen Fleischproduzenten und -lieferanten. Zeichenerklärung: Ausgefüllte Punkte markieren eindeutig zuordenbare Herkunftsorte; unausgefüllte Punkte dienen der Orientierung. (Angaben aus dem Zeitraum von 1689-1774, reproduziert mit Bewilligung von swisstopo [BA 067771]). Die Karte erlaubt einige aufschlussreiche Beobachtungen, so beispielsweise den beachtlichen Aktionsradius der teilweise mehrfach gefassten, manchmal aber auch vergeblich verfolgten „Stümpler“ betreffend. In 62,5 Prozent der 64 erfassten Fälle liegen Angaben über die räumliche Herkunft der im grauen Bereich operierenden Akteure vor. Die Absatzmöglichkeiten bei der städtischen Konsumentenschaft wurden in erster Linie von Anbietern aus der näheren Umgebung der Stadt wahrgenommen. Wenn Grenzfälle wie Worb <?page no="456"?> Geschäfte kleiner Leute 457 und Thorberg mitgezählt werden, stammten 21 der 40 mit Angabe ihres Herkunftsortes aktenkundig gewordenen Landwirte, Bäuerinnen, Fleischträger, Knechte, Mägde oder kleingewerblichen Metzger aus Gegenden, die weniger als 10 km von Bern entfernt lagen. Dies entspricht 52,5 Prozent der Personen mit dokumentiertem Wohnsitz. 13 Die sich im Schleichhandel eröffnenden Gewinnchancen boten gleichzeitig Anreiz genug, dass einige Leute die verbotene Verkaufstour in die Stadt selbst dann wagten, wenn sie Distanzen von 40 km und mehr unter die Füße nehmen mussten, um ihre Produkte direkt an die solvente Kundschaft der Hauptstadt verkaufen zu können. Die Fleischwaren stammten nur in Ausnahmefällen aus dem Kornland (Münchenwiler, Rüti bei Burgdorf). Erwartungsgemäß dominierten die klassischen Viehzuchtgebiete wie das untere Emmental und die ausladenden Hügelzüge rund um Bern. Die Ballungen in regionalen Zentren wie Worb und das häufige Vorkommen von Orten, die an den wichtigsten Transportachsen hin zur Stadt lagen, können dahingehend interpretiert werden, dass lokal operierende Zwischenhändler ein wenig Umsatz zu machen versuchten, indem sie entlang der hauptsächlichen Handelsströme die spärlichen Erzeugnisse der Kleinstproduzenten zusammenkauften, um sie mit etwas Gewinn in der Stadt abzusetzen. Bei den vorliegenden Erhebungen ist von einer beträchtlichen Dunkelziffer auszugehen, denn niemand hielt Arrestationen und Pfändungen schriftlich fest, wenn Bußen bezogen oder Fleischstücke beschlagnahmt wurden. Nach erfolgreichen Streifgängen wurden Geld und Waren jeweils vor Ort aufgeteilt. Ausmaß und Wirkung der Repressionsmaßnahmen sind also schwer abzuschätzen. Sicher konnten zeitweise die Preise gestützt und gewisse Güter der schwarzen Warenzirkulation entzogen bzw. dem kontrollierten Markt zugeführt werden. Insgesamt waren die stadtbernischen Gewerbetreibenden bei den Interventionen zur handfesten Verteidigung ihrer Monopole aber auf sich gestellt, denn es mangelte an einem staatlich gestützten Kontrollapparat, um das illegale Treiben der Anbieter aus der Umgebung systematisch zu unterbinden. Zudem gab es triftige Gründe, weshalb die Metzger nicht immer gleich konsequent gegen ihre Konkurrenz vorgingen. Erstens gab es am Platz Bern nur gerade 26 Meister, die mit ihren täglichen Angelegenheiten schon einige Arbeit hatten. Zweitens waren ihre persönlichen Geschäfte und die Verarbeitung der eigenen Fleischwaren in der Regel einträglicher als die Bußen und 13 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnungen (12)1689/ 90, (13)1691/ 92, (15)1708/ 10, (17)1712/ 14, (18)1714/ 16, (20)1718/ 20, (21)1730/ 32, (22)1748/ 50, (23)1752/ 54, (29)1766/ 68, (31)1772/ 74, (32)1774/ 76. Die untersuchten Stubenmeisterrechnungen decken 25,9 Prozent der Periode von 1689 bis 1774 ab. Basierend auf den vorliegenden Daten, scheiterten jährlich rund drei Razzien. Wäre der Bestand lückenlos überliefert, so ergäbe die Hochrechnung bei im Jahresschnitt knapp drei gescheiterten Razzien für den untersuchten Zeitraum von 85 Jahren 247 Ereignisse der genannten Art. <?page no="457"?> Daniel Schläppi 458 der Verkauf gepfändeter Lebensmittel. Drittens tauchen in den gesichteten Abrechnungen häufig die gleichen Personen als Aufseher auf. Möglicherweise handelte es sich bei ihnen um jene Handwerker, deren Geschäfte nicht so gut liefen. Während sich erfolgreiche Berufskollegen von der wenig beliebten Aufsichtspflicht loskauften, mussten sie sich mit nächtlichen Streifen ein Zubrot verdienen. Viertens standen Produzenten, Händler, Metzger und Konsumenten aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen im Fleischgewerbe in engen Abhängigkeitsverhältnissen. Auch Bauern schlachteten und zerlegten Tiere und waren dafür auf professionelles Werkzeug sowie Know-how angewiesen. 14 Umgekehrt hüteten und versorgten sie die Viehherden von Händlern und Metzgern. Die städtischen Fleischer ihrerseits mussten etwas von Landwirtschaft verstehen, wenn sie ihre bis zu 100 Stück zählenden Herden auf Dauer ohne Qualitäts- und Wertverlust aus eigenen Ressourcen erhalten wollten. Schließlich war die Fleischversorgung aufgrund fehlender Kühlmöglichkeiten und aufwändigen Konservierungstechniken von schnellem Warenumsatz geprägt. 15 Wollten die städtischen Händler im täglich neu abzuwickelnden Geschäft gute Gewinne machen, mussten sie tragfähige Beziehungen zu den Agrarproduzenten in den umliegenden Dörfern pflegen. Nur so konnte ein konstantes Angebot zu guten Preisen garantiert werden. Die Bauern ihrerseits waren auf Geschäftspartner angewiesen, die sich in puncto Zahlungsmoral und Geschäftsgebaren loyal verhielten. Wären die städtischen Metzger immer mit aller Härte gegen illegale Umtriebe vorgegangen, hätte dies dem fragilen Zusammenspiel der Interessen möglicherweise geschadet. Stattdessen ist über weite Strecken eine „Laissez-Faire-Politik“ der Meisterschaft zu beobachten. Es ist anzunehmen, dass Metzgerstreifen vor allem dann ausrückten, wenn konkrete Informationen über bevorstehende Lieferungen aus dem Umland vorlagen, an denen sich notorische Wiederholungs- 14 Zum intern umstrittenen Verleih von Gerätschaften wie Messern, Beilen usw., über den namentlich die reichen Metzger ihre Privatkunden an sich zu binden versuchten, vgl. ZAMe, Nr. 1, 2, 1665 und analog dazu Nr. 4, Revidierte Metzgerordnung, Punkt 6, nach 1674. 15 Nach F RANZ L ERNER , Die Bedeutung des internationalen Ochsenhandels für die Fleischversorgung deutscher Städte im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, in: Internationaler Ochsenhandel (1350- 1750), Akten des 7th International Economic History Congress zu Edinburgh 1978, E KKEHARD W ESTERMANN (Hrsg.), Stuttgart 1979, 197-217, hier 208f. waren nur Dauerwaren und auch diese nur in begrenzten Mengen unter strengen Vorsichtsmaßnahmen lagerungsfähig. Fleischvorräte wurden vorwiegend für die Verpflegung von Truppen im Feld angelegt. Reserven in Form von lebendem Schlachtvieh zu unterhalten, konnte zwar kleinere Versorgungslücken überbrücken helfen, erforderte aber viel Kapital und ausreichende Weideflächen, was in der Regel ein Problem darstellte. Zu ähnlichen Befunden wie die vorliegende Untersuchung kommt R AINER B ECK , Lemonihändler. Welsche Händler und die Ausbreitung der Zitrusfrüchte im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Märkte im vorindustriellen Europa, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2004), 97-123, hier 103f. Er kann zeigen, dass die hohe Verderblichkeit und die Konsumentennachfrage den Handel mit Zitrusfrüchten sowie die diesbezüglichen gesetzlichen Rahmenbedingungen zum Vorteil exogener Anbieter beeinflussten. <?page no="458"?> Geschäfte kleiner Leute 459 täter beteiligten, die man von früheren Vorkommnissen her kannte, und deren Verhalten den Rahmen des Tolerierbaren sprengte. 16 3. Szenerien des grauen Gewerbes: Viel Betrieb inner- und außerhalb der Stadtmauern Trotz der Bemühungen zur Eindämmung des illegalen Fleischhandels gelang es immer wieder einigen Lieferanten, ihre Ware bis an die Stadtmauern, so beispielsweise in die etwas abseits der frequentierten Handelsrouten gelegenen Vorstadtquartiere Altenberg oder Marzili zu schmuggeln und dort feil zu halten. Es wurden nicht nur fertig verarbeitete Fleischerzeugnisse angeboten. In den 1670er Jahren stellte man fest, in ställen und Höfflinen à parte 17 - das heißt an abgelegenen und versteckten Orten - würden versteckt verbotenerweise Schweine gehandelt und geschlachtet. Obwohl diese Tiere oftmals krank seien, würden sie mit großer betrüglichkeit für gesund und gerächt verkauft. Die „Stümpler“ hatten keine Probleme, bei Privaten Unterschlupf zu finden, um im Verdeckten ungestört arbeiten zu können. Sogar Angehörige der aristokratischen Oberschicht Berns wie ein Herr Zeender oder Frau Landvögtin von Wattenwyl im alten Berg 18 stellten den Fleischträgern und äußeren Metzgern Lokalitäten zur Verfügung. Einige weitere Schauplätze des 16 Vor dem Hintergrund der Berner Verhältnisse hat die Vermutung Josef Ehmers, in den Konflikten der rivalisierenden Gruppen von Marktkonkurrenten sei es in erster Linie „um die Suche nach einem ›modus vivendi‹ und um die Konstruktion alltagstauglicher Hierarchien“ gegangen, einiges für sich; zit. nach B RANDT , Frankfurt (wie Anm. 9), 193. Jedenfalls lässt sich das Verhältnis zwischen den konzessionierten und den freien Anbietern im Fleischgeschäft nicht als eine allzeit bis aufs Blut ausgetragene Feindschaft charakterisieren. Diesen Befund erhärten auch die Beobachtungen bei B RANDT , Frankfurt (wie Anm. 9), 180, wonach sich die Supplikationen und Selbstjustiz oft auch gegen Mitmeister richteten, die technische oder organisatorische Innovationen vorgenommen hatten, indem sie beispielsweise neue Maschinen und Arbeitsgräte nutzten oder eine größere Zahl Gesellen einstellten. Diese Konfliktfelder wie auch chronische Streitigkeiten mit anderen Gewerbebetrieben um die Abgrenzung der jeweiligen Arbeitsfelder lassen sich auch bei den Berner Metzgern beobachten. Etwas weniger prominent ist in Bern die Argumentationsformel, die Verhaltensweisen der Konkurrenz gefährdeten die „Nahrung“ der Bürger. In Abweichung zu den Feststellungen von R OBERT B RANDT / T HOMAS B UCHNER , Einleitung, in: D IES . (Hrsg.), Nahrung (wie Anm. 9), 9-35, hier 32, die in der „Nahrung“ eine Kernkategorie der meisten von Seiten des Zunfthandwerks an frühneuzeitliche Obrigkeiten gerichteten Supplikationen erkennen, taucht der Begriff in der bernischen Überlieferung eher selten auf. Vgl. ein vereinzeltes Beispiel in: Die Rechtsquellen des Kantons Bern (RQ). Erster Teil, Stadtrechte. Das Stadtrecht von Bern VIII/ 1, Wirtschaftsrecht, in: Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, II. Abteilung. Die Rechtsquellen des Kantons Bern, Aarau 1966, 173i), 398, 1633. Zu den Verfolgungsmaßnahmen, welche die Zünfte gegen unliebsame nichtzünftische Konkurrenz vielerorts ergriffen, vgl. zuletzt mit zahlreichen bibliographischen Hinweisen A RND K LUGE , Die Zünfte, Stuttgart 2007, 252. 17 ZAMe, 4, Revidierte Metzgerordnung (nach 1674, älterer Vermerk auf Rückseite mit Bleistift „ohne Datum, ca. 1680“), Punkt 17. Zu den Vorstädten als Brennpunkten halblegaler gewerblicher Aktivitäten vgl. K LUGE , Zünfte (wie Anm. 16), 250. 18 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnung (21)1730/ 32. <?page no="459"?> Daniel Schläppi 460 heimlichen Schlachtens: Herren Wurstembergers Hauß, 19 Junker von Wattenwyls Haus, 20 der Hagelsteinin Hauß oder Achille Jenners Keller, 21 also alles Behausungen von Leuten mit klingenden Patriziernamen. 22 Neben den Konkurrenten von außerhalb der Stadt operierten innerhalb der Mauern zahlreiche halbprofessionelle Schlächter, so etwa die Tavernen Wirthen, 23 die Gesellschafft“Stuben“ oder Winckel Wirthen und die Pastettenbecken. Alle hätten sie laut Gesetz nur durch konzessionierte Fleischer die ihrem Hausgebrauch angemessenen Mengen zurichten lassen dürfen. Aber statt sich die für den täglichen Bedarf erforderlichen Kontingente im regulären Verkaufsbetrieb zu beschaffen, schlachteten die Wirte im Verborgenen teilweise schlechte Ware, die sie dann ihren Gästen auffstellen, oder in die Pasteten th n, 24 wie in Metzgerkreisen gemutmaßt wurde. Für die konzessionierten Metzger waren die Wirte nicht nur wegen des wenig schicklichen Verkaufs von verdorbenem Fleisch eine Problemgruppe. Es kam vor, dass die Obrigkeit sämtliche Wirte der Stadt vernahm, weil alle gegen die eidlichen Gelübde verstießen. Die Gesellschaft zu Metzgern hatte sogar mit ihren eigenen Stubenwirten einigen Ärger. So musste einmal einer ermahnt werden, nit mehr dan ein stuk vychs Jährlich 25 für seine hauß haltung zu schlachten. Oder es erging eine scharpfe remonstranz, 26 er solle den Vorderen Saal in der Wirtschaft nicht mehr als Fleisch Schaal und zu aufhenkung der Kalbfählen - Produkte verbotener Schlachtungen und begehrte Handelsgüter - missbrauchen. Für den Stubenwirt der Gesellschaft zu Metzgern waren die verbotenen Geschäfte am grauen Markt besonders verlockend, saß er doch an der Schnittstelle zwischen Produktion, Vertrieb und Vermarktung. 27 Nicht nur 19 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnung (15)1708/ 10. 20 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnung (18)1714/ 16. 21 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnung (25)1756/ 57. 22 ZAMe, 1085, Stubenmeisterrechnungen (22)1748/ 50, (32)1774/ 76. Neue Beobachtungen, welche S IMON H ARI , Sanfte Regulierung. Herrschaft und Verwaltung in der Landvogtei Yverdon 1750- 1756, Lizentiatsarbeit, Bern 2004, hier 36f. und bes. Anm. 60 vorgelegt hat, weisen darauf hin, dass Patrizier mit Agrarerzeugnissen, namentlich mit Wein, handelten. Die Vermutung liegt nahe, sie hätten die Erzeugnisse ihrer eigenen Landgüter selber vermarktet. 23 ZAMe, 1, 13, 1681. Zu analogen Konflikten zünftischer Metzgermeister mit Wirten im 15. Jahrhundert äußert sich am Beispiel der Luzerner Verhältnisse A NNE -M ARIE D UBLER , Handwerk, Gewerbe und Zunft in Stadt und Landschaft Luzern, Luzern 1982, 144f. 24 ZAMe, 4, Revidierte Metzgerordnung (nach 1674, älterer Vermerk auf Rückseite mit Bleistift „ohne Datum, ca. 1680“), Punkt 13. 25 ZAMe, 17, 58, 1669. 26 ZAMe, 18, 55, 1698. 27 B EAT K ÜMIN / A NNE R ADEFF , Markt-Wirtschaft. Handelsinfrastruktur und Gastgewerbe im alten Bern, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 50 (2000), 1-19, hier 15, sprechen von einem „Informationsvorsprung“ und einer „Broker-Stellung“, welche den Gastwirten Vorteile beim „Knüpfen von Kontakten zwischen Käufern und Verkäufern“ eingeräumt hätten. Diese informelle Schlüsselposition nahm besonders auf der Berner Landschaft in der baulichen Ausgestaltung der stattlichen Gasthö- <?page no="460"?> Geschäfte kleiner Leute 461 musste er auf obrigkeitliches Geheiß von 1641 pauren und landtleüth 28 aus der Landschaft, welche die köstlichen tavernen mechtig scheüchend und mydendt, über Nacht günstig beherbergen, wenn sie geschäftlich in der Stadt zu tun hatten. Gleichzeitig gingen in der Metzgerstube natürlich auch alle Anbieter und Käufer größerer Warenmengen ein und aus, wenn sie mit einem städtischen Großabnehmer ins Geschäft kommen wollten. Nicht umsonst ging in der Meisterschaft die Klage über den Stubenwirt, er stehe immer nur sinen Bauren zu dienst. 29 Wenn die Meister ein trunk thun wollind, müsse der Wirt diesen Platz machen und seine Bauren nit allezeit zu vorderst sein lassen. 30 Überhaupt sollten nicht immer Pauren oder sonst unsaubere Leüth 31 die Räumlichkeiten besetzen, die eigentlich den Stubengesellen vorbehalten seien. Mit immer neuen Kontingentierungsforderungen versuchten die zünftischen Metzger, den halblegalen Umtrieben von privaten Konkurrenten beizukommen. Weil die Einhaltung von vorgeschriebenen Höchstmengen im realen Vollzug kaum durchzusetzen war, richtete sich der Argwohn der Meisterschaft sogar gegen karitative Institutionen wie das Obere und das Untere Spital, das Waisen- und Siechenhaus sowie das Inselspital. Nach Meinung der zünftisch organisierten Fleischer kamen auch hier Verstöße vor, weshalb selbst die wohltätigen Betriebe unter Kontrolle offizieller Fleischschätzer gestellt werden müssten. Solch egoistischen Begehren entsprach die Obrigkeit in der Regel nicht. Im Gegenteil räumte sie beispielsweise den Lieferanten von außerhalb manchmal Sonderrechte ein und beschränkte im Gegenzug den Kleinviehhandel der Meisterschaft. 32 Man gewinnt den Eindruck, der bernischen Regierung sei zeitweise stärker an der aktiven Dynamisierung der ländlichen Wirtschaftsstrukturen als am Schutz der Zunftprivilegien ihrer städtischen Meisterschaft gelegen gewesen. So durften die Säümer von Aeschi, auß dem Siebenthaler und Frutiger Land 33 jeweils an bestimmten Wochentagen ihre Lämmer und Gytzi [Zicklein] an der Butterwaage wägen lassen und direkt verkaufen. Ein Erlass von 1693/ 94 fe auch äußerlich Gestalt an. Mancherorts boten die imposanten Vordächer der Wirtshäuser an Markttagen Platz für zusätzliche Stände. 28 RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 114a), 216, 1641. Vgl. dazu K ÜMIN / R ADEFF , Markt-Wirtschaft (wie Anm. 27), 16, die auf eine analoge Regelung von 1671 hinweisen. 29 ZAMe, 17, 52, 1668. 30 ZAMe, 17, 57, 1669. 31 ZAMe, 17, 88, 1671. 32 ZAMe, 1, 17, 33f., 1665/ 1673; ebd. 1, 11, 1681. Auf Auseinandersetzungen um das Ausmaß eines begründbaren „Eigenbedarfs“, in die zünftische Produzenten und Institutionen wie Universitäten, Spitäler und privilegierte Hoflieferanten immer wieder verwickelt waren, weist K LUGE , Zünfte (wie Anm. 16), 256-262 hin. 33 ZAMe, 4, Revidierte Metzgerordnung (nach 1674, älterer Vermerk auf Rückseite mit Bleistift „ohne Datum, ca. 1680“), Punkt 16. <?page no="461"?> Daniel Schläppi 462 weitete diese Befugnis auf alle anderen von Ihr Gnd: bestelten Säümer 34 sowie auf die Ordinari auß dem Oberland und Emmenthal aus, womit alle mit oberkeitlichen patenten 35 ausgestatteten Lieferanten gemeint waren. 36 Diese offiziell beglaubigten Hersteller produzierten noch weiter weg von der Stadt als die bereits bekannten „Stümpler“. Natürlich kam ihnen der herausragende Vorteil des Tiers gegenüber anderen Handelsgütern entgegen. Schlachtvieh bewegte sich über längere Distanzen aus eigener Kraft in Richtung der Märkte. Einzig Kleintiere bewältigten die Marschstrecken manchmal nicht, weshalb die Treiber sie vilmalen underwegen stechen 37 und dann im Rucksack in die Stadt tragen mussten. Dies übrigens mit ausdrücklicher Erlaubnis der Obrigkeit, denn wenn es sich um Qualitätsware aus dem Oberland handelte, waren auf dem städtischen Markt selbst todtne gitzi und wz derglichen [tote Zicklein und dergleichen] gefragt. 4. Obrigkeitliche „Territorialwirtschaft“ mit Blick aufs Ganze Die städtischen Metzger versuchten die Konkurrenz bei der Regierung systematisch zu verunglimpfen. Diesen Umtrieben zum Trotz kamen die Anbieter von außerhalb auf dem städtischen Markt in den Genuss exklusiver Privilegien. 38 Wenn die zünftisch organisierten Fleischhacker deswegen zeitweise einen schweren Stand hatten, waren sie daran zum Teil selbst schuld. Seit dem 15. Jahrhundert monierte der Kleine Rat in seinen Erlassen die immergleichen Missstände im monopolistisch organisierten Fleischgewerbe. Glaubt man der chronischen Kritik in den Metzgerordnungen, waren in allen Bereichen des Berufsstandes massive Missbräuche an der Tagesordnung: Die Metzger hielten auf Kosten der Allgemeinheit zu große Herden auf der Allmend, um sie dann an die meistbietenden Fernhändler zu verkaufen. Sie horteten in preistreiberischer Absicht Waren. Sie versteckten Vorräte in Kellern, statt diese zu regulären Preisen an Bedürftige zu verkaufen. Sie setzten sich über offizielle Preisvorgaben hinweg. Sie lieferten lausige Qualität, verkauften Abfälle, schlecht gewordenes Fleisch und weideten sogar 34 ZAMe, 1, 52, 1693/ 94. 35 ZAMe, 1, 10, 1681. 36 RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 173r), 411, 1693. Vgl. analog dazu ZAMe, 1, 55f., 1693/ 94. 37 RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 173i), 398, 1633. 38 Nach W ALTER B ODMER , Die Wirtschaftspolitik Berns und Freiburgs im 17. und 18. Jahrhundert, Bern 1973, 56, durfte in die Hauptstadt gelieferte Butter gemäß Ordnung vom 6. November 1660 bei der „Ankenwaage“ [Butterwaage] verkauft werden. Die Säumer, welche die Butter auf den Berner Wochenmarkt lieferten, taten dies laut Verordnung von 1690 mit einem besonderen Patent. Auf diese Weise sollten der Schleichhandel unterbunden sowie die Preiskontrolle erleichtert werden. B ECK , Lemonihändler (wie Anm. 15), 106, weist im Zusammenhang mit dem Zitrusfrüchtehandel ähnliche Regulierungsansätze nach, die ebenfalls auf indirekte Privilegien für bestimmte Akteure hinausliefen. <?page no="462"?> Geschäfte kleiner Leute 463 kranke Tiere aus. 39 Sie organisierten sich untereinander in monopolistischer Intention als so genannte Gemeinschaften. Sie wogen mit falschen Gewichten und verlangten für Augen, Kiefer und Zähne von Rindsköpfen den gleichen Preis wie für die verwendbaren Teile. Heulend streunten Metzgerhunde um die Verkaufsstände herum. In der Schal herrschten allgemeine Unordnung und hygienische Missstände. 40 39 An den Qualitätskriterien westlicher Marktwirtschaften des 21. Jahrhunderts gemessen muten die frühneuzeitlichen Zustände, wie sie aus den Akten eruiert werden können, geradezu unglaublich an. Allerdings sollte man die Standards heutiger Wohlstandsgesellschaften nicht unbesehen auf andere Wirtschaftssysteme und -räume übertragen. Wo im Handel beispielsweise Einheitspreise oder obrigkeitlich vorgeschriebene Höchstpreise gelten - wie eben beispielsweise im frühneuzeitlichen Fleischgewerbe - kann am Markt nicht über Qualität und Preis konkurriert werden. Die einzige Gewinnmöglichkeit ist somit der Betrug, eine Form von Profit, die nur dank dem Unwissen und somit einseitig auf Kosten der Konsumenten realisiert wird. Der Anthropologe F RANK S. F ANSE- LOW , Bizarre economies, in: Geographical magazine 64 (1992), Nr. 5, 16-19; D ERS ., The bazaar economy or how bizarre is the bazaar really? in: Man 25 (1990), 250-265, macht plausibel, dass in derart strukturierten Geschäftsbeziehungen eine durch fehlende Information bedingte Asymmetrie zwischen Händler und Konsument spezifische Verhaltens- und Denkweisen hervorbringt, welche den potentiellen Betrug als fixe Größe ins bei jedem Kauf angestellte Kalkül einbeziehen. Nach V ALENTIN G RO- EBNER , Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993, hier 111f. bildete das Strecken und Fälschen von in kleinen Mengen gehandelten Lebensmitteln des täglichen Bedarfs einen integrierten Bestandteil allseitig akzeptierter Geschäftsmethoden. Es war allgemein bekannt, dass Verfälschung der Waren und Manipulation von Maß und Gewicht die einzigen Profitchancen boten. Der frühneuzeitliche Markt lebte demnach weniger von der dauerhaften Bindung und der Loyalität zwischen Käufer und Verkäufer als vielmehr vom allgemeinen Wissen der Marktteilnehmer über das System und die Art der Profite. Vor diesem generellen Hintergrund gesehen, lassen sich die Geschäfte von privaten Kleinanbietern nochmals anders interpretieren: Während sich die Schlächter am Markt hinter der Rolle als Vertreiber und Vermarkter der Erzeugnisse anderer verstecken konnten, standen selbstvermarktende Bauern persönlich für die Qualität ihres Angebots ein. In Anlehnung an die Überlegungen von R EINHOLD R EITH , Abschied vom „Prinzip der Nahrung“? Wissenschaftshistorische Reflexionen zur Anthropologie des Marktes, in: B RANDT / B UCHNER , Nahrung (wie Anm. 9), 33-66, hier 64, lassen sich diese Vertriebsformen als „personales“ Wirtschaften charakterisieren. Hier werden der Grundkategorie des Misstrauens personale Beziehungen entgegengesetzt, welche über langjährige Geschäftskontakte zwischen Lieferanten und Verbrauchern einen Handel auf Vertrauensbasis ermöglichen. Nach K NUPP , Wochenmärkte (wie Anm. 7), 114, gelten beim Fleischverkauf im heutigen Jemen die exakt gleichen Gepflogenheiten wie im frühneuzeitlichen Europa. Auch hier werden anstelle von einzelnen Stücken ganze Anteile am Tier gehandelt. Diese Teile sollten für die Käufer möglichst gleichwertig sein und eine gleichmäßige Mischung guter und schlechter Partien enthalten. 40 Die Beschreibung der im Metzgereigewerbe gängigen Praktiken beruht auf R OLAND G ERBER , Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich, Weimar 2001, 334, sowie zahlreichen Metzgerordnungen und Erlassen der Berner Obrigkeit in RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), G. Metzgerhandwerk, 372-430: 173b), 376, 1482/ 1484; ebd. 173d), 383f.; ebd., 173f), 389; ebd. 173f), 395, 1604; ebd. 173n), 400-402, 1661/ 62; ebd., 173t), 414, 1694; ZAMe, 1, 11, 1681; ebd., 1, 27, 1665/ 1673; ebd., 3, 1f., 1587/ 88; ebd., 20, 63, 1745. Zu Beschwerden über die Metzger vgl. auch Staatsarchiv des Kantons Bern (StABE) Ratsmanuale 141.422 und 144.166; RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 173bb), 428, Instruktion für die Fleischschätzer in Bern, 1786. Die für Bern festgestellten Missstände und Schwierigkeiten decken sich mit den Beobachtungen, die bei G ROEBNER , Ökonomie (wie Anm. 39), 105-113, bes. 106f., 109 nachzulesen sind. H ELMUT B ARTELS , Von mittelalterlichen Hygienemaßnahmen zu einem modernen Verbraucherschutz, in: Lebendiges Fleischerhandwerk. Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart, F RANZ L ER- NER (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1975, 147-164, hier 152f. zufolge überliefern bereits Urkunden aus dem 12. und 13. Jahrhundert gewisse hygienische Standards, die erst im 19. Jahrhundert durch neue medizinische Erkenntnisse überholt wurden. Insgesamt mangelte es in den Schlachthöfen an Sauberkeit. <?page no="463"?> Daniel Schläppi 464 Die Stadtbevölkerung, welche direkt unter den üblen Geschäftspraktiken litt, vermutete in der Metzgerei das einträglichste aller Handwerke. Die Metzgermeister galten gemeinhin als gierige Geldsäcke. 41 Der Ruf der „Stümpler“, die der Kundschaft die Ware manchmal sogar bis an die Haustüre brachten, war da kaum schlechter. Die Angehörigen des Regiments kannten die Sorgen und die Erwartungen der Konsumenten natürlich aus eigener Erfahrung. Die Politik bildete denn auch die allgemeine Stimmung gegen die wenig beliebten zünftischen Schlächter ab. Auf Forderungen der Metzger, die auf den Ausbau der monopolartigen Stellung hinausliefen, wurde nicht eingegangen. Der Introitus zur Metzgerordnung von 1657 brachte den Zielkonflikt zwischen der Obrigkeit und den auf Gewinn fixierten Gewerbetreibenden auf den Punkt. Die Regierung beteuerte darin, während sie sich um deß gemeinen mans angelegenheit 42 kümmere, hätten die Metzger nur übermeßige gewinns- und genoßnemmung sowie eigennützige vortheile im Sinn. Namentlich in Versorgungskrisen drohte der Interessengegensatz zu eskalieren. Im Extremfall gingen die Metzger zum äußersten und bestreikten die Schal, wodurch die obrigkeitlich geregelte Fleischversorgung lahm gelegt wurde. Die Regierung ihrerseits war in solchen Fällen nicht um Druckmittel verlegen und drohte mit Strafen und wirtschaftspolitischen Zwangsmaßnahmen. Im Dreißigjährigen Krieg erschreckte die Obrigkeit das Handwerk beispielsweise mit der Idee, eine zweite Schal zu errichten, damit die frömbden ouch fleisch verkaufen 43 konnten. Konkurrenz sollte also das Angebot für die Stadtbevölkerung verbessern. In einem weiteren Schritt sollten gegen städtische Metzger Berufsverbote verhängt und ihre sämtlichen Allmendrechte aufgehoben werden. 44 Geruchsbelästigungen und direkte Abwasser- und Abfallbeseitigung in Flussläufe belasteten die Umwelt. Chronisch umstritten war das Aufblasen von Fleisch. Um bessere Beschaffenheit oder größere Mengen vorzutäuschen, wurden mittels Mund oder Blasebalg beispielsweise Lungen aufgeblasen oder mit Wasser gefüllt. Gegen diese unappetitliche und missbräuchliche Technik wurden bereits im 13. Jahrhundert vergeblich Gesetze und Verordnungen erlassen. 41 ZAMe, 1115, ohne Paginierung, Abschrift der zweiten Gegendarstellung der Gesellschaft zu Schmieden, 1777. 42 RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 160, 342, 1657. 43 RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 396, 1622. Die Drohung, den Markt für Anbieter von außerhalb freizugeben, war ein allzeit bewährtes Druckmittel frühneuzeitlicher Obrigkeiten. R OLF K IEßLING , Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Köln / Wien 1989, 196, weist bereits für das Jahr 1437 einen analogen Fall in Nördlingen nach. Nach G USTAF A DOLF W ANNER , Das Basler Metzgerhandwerk. E.E. Zunft zu Metzgern 1248-1981, Metzgermeisterverein Basel 1881-1981, Basel 1981, 23, kamen die gleichen Regierungsrezepte auch in der Politik des Basler Rates zum Ausdruck. 44 Zur Problematik der Bewirtschaftung von gemeinen Weideplätzen durch profitorientierte Fleischhändler liefern anschauliche Beispiele N IKOLAUS G RASS / H ERMANN H OLZMANN , Geschichte des Tiroler Metzgerhandwerks und der Fleischversorgung des Landes, Innsbruck 1982, 191-196. <?page no="464"?> Geschäfte kleiner Leute 465 Wenn dann der Handel von Privatpersonen überhand nahm, wechselte die Obrigkeit ihre Strategie und begünstigte plötzlich wieder die zünftischen Anbieter. So wurde die Berner Meisterschaft 1627 ermächtigt, alles Fleisch, das durch Fremde und Äußere sowie einheimische Aareschiffer verkauft wurde, ohne Ansehen der Person zu konfiszieren. Zur kurzfristigen Sicherung der städtischen Versorgung wurde den einheimischen Metzgern das generelle Zugrecht 45 gegen ausländische Viehkäufer eingeräumt. Es war dies ein Vorkaufsrecht, das erlaubte, fremden Händlern jederzeit und überall die gesamte Handelsware gegen Erstattung des Kaufpreises abzunehmen. Natürlich wurden bald Beschwerden aus der Landschaft laut, die Kaufleute aus Mailand erlitten aufgrund des Zugrechts erhebliche Einbußen, was wiederum den regionalen Viehzüchtern schade. Wenn man bedenke, dass solche frömbde veichhendler g te pare losung ins Land 46 brächten, müsste das Zugrecht baldmöglichst wieder abgeschafft werden. 47 Dieser - zugegebenermaßen typisch schweizerischen - Argumentation leistete die Regierung alsbald Folge. Periodisch ergingen auch Export- und Fürkaufverbote. Diese prohibitiven Maßnahmen bezweckten ökonomische Stabilisierung im Innern. Die Ausfuhr als solche war aber unstrittig. Das bernische Territorium war stets ein Viehexportgebiet. Obrigkeitlich initiierte Viehimporte oder eine Anbindung an den internationalen Ochsenhandel, wie sie bei etlichen deutschen Städten festzustellen sind, spielten für das bernische Staatsterritorium keine Rolle. Die oben geschilderten Maßnahmen sind Ausdruck eines von der Obrigkeit implizit praktizierten Konzeptes von „Territorialwirtschaft“. 48 Einerseits unterschieden sich die in Bern ergriffenen Maßnahmen in Vielem nicht von den Aktionsplänen vergleichbarer europäischer Städte. Auch Bern erließ punktuelle Handelsbeschränkungen und Privilegien für konzessionierte Metzger. Es wurden Schlachtkontingente, Höchstpreise und Rahmenbedingungen für die gewerblichen Aktivitäten von semiprofessionellen Herstellern definiert. Die Allmendnutzung, die Größe der Herden und die Spielregeln für den offenen Wochenmarkt mussten auch in anderen Städten ausgehandelt werden. Auf der anderen Seite reichten die Regulierungsmöglichkeiten Berns - zur Erinnerung: die Republik war der größte Stadtstaat nördlich der Alpen - 45 Zum Ausdruck „Zugrecht“ vgl. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch schweizerdeutscher Sprache, ges. auf Veranstaltung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich und Beihülfe aus allen Kreisen des Schweizervolkes, Bd. IV/ 307. 46 RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 173l), 399, 1659. 47 Vgl. RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), 173r), 410, 1675; vgl. analog dazu ZAMe, 1, 50, 1675. 48 Vgl. die entsprechende Begrifflichkeit bei B ODMER , Wirtschaftspolitik (wie Anm. 38), 11, 17f., 67, der die bernische Gewerbe- und Wirtschaftspolitik als „territorialwirtschaftlich“ charakterisiert hat. Weitere Hinweise auf ambivalente Strategien frühneuzeitlicher Obrigkeiten, die sich als territorialwirtschaftliche Steuerungsversuche deuten lassen, finden sich bei K LUGE , Zünfte (wie Anm. 16), 252. <?page no="465"?> Daniel Schläppi 466 weit über die so genannte Bannmeile hinaus, innerhalb der selbst unbedeutende Kleinstädte ohne eigenes Umland eine gewisse Kontrolle über den Warentransfer entfalten konnten. Ein in Ansätzen vereinheitlichter Rechtsraum erlaubte es der bernischen Regierung, auch außerhalb des städtischen Perimeters wirtschaftspolitische Maßnahmen durchzusetzen. Dass der herrschaftliche Zugriff über das unmittelbare städtische Umland hinausreichte, stellte die Voraussetzung dafür dar, dass die zünftischen Metzger zur Versorgung der Hauptstadt zeitweise im ganzen Territorium Waren kaufen oder gar konfiszieren durften. Oder dass die Obrigkeit im umgekehrten Fall auch den weit entfernt produzierenden Bauern einen legalen Zugang zu den städtischen Märkten eröffnen konnte. Weder Zollhemmnisse noch rechtliche Problemzonen behinderten den Warentransfer. Schwer durchsetzbare Preisabsprachen unter benachbarten Städten gleichen Rangs brauchten Schultheiß und Räte von Bern keine zu treffen. Auch auf Interessen eines regionalen Feudaladels musste nicht Rücksicht genommen werden. 49 Ein dergestalt einheitlicher Rechtsraum fand seine Entsprechung im Auf- und Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur. Zu diesem Zweck investierte das Regiment in den Straßenbau ebenso wie in ein nutzerfreundliches Logierwesen. So begründete die Obrigkeit bereits 1688 die Erstellung eines Wirtshausverzeichnisses damit, es brauche nicht nur an den Marktorten selbst Übernachtungsmöglichkeiten. Die Marktfahrer würden auch auf dem Hin- und Rückweg Unterkünfte benötigen. 50 Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die gehobene Bürgerschaft in Bern aufgrund von ausgedehntem Landbesitz stark mit Agrarproduzenten im gesamten Territorium verflochten war. 51 Eine florierende 49 In diesem Kontext zu erwähnen ist K IEßLING , Umlandpolitik (wie Anm. 43), der neben der genannten Monographie zahlreiche Aufsätze beigesteuert hat. Außerdem I RSIGLER , Stadt und Umland (wie Anm. 8); D ERS ., Zum Kölner Viehhandel und Viehmarkt im Spätmittelalter, in: W ESTERMANN , Internationaler Ochsenhandel (wie Anm. 2), 219-234; Städtisches Um- und Hinterland in vorindustrieller Zeit, H ANS K. S CHULZE (Hrsg.), Köln / Wien 1985. Zu Bern sind in jüngerer Zeit zwei einschlägige Arbeiten erschienen: A NTON B RANDENBERGER , Ausbruch aus der „Malthusianischen Falle“. Versorgungslage und Wirtschaftsentwicklung im Staate Bern 1755-1797, Bern 2004; C HRIS- TIAN P FISTER , Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt, 1700-1914, Bern 1995. 50 Vgl. K ÜMIN / R ADEFF , Markt-Wirtschaft (wie Anm. 27), 11. Implizit formulierte C ARL F RIEDRICH VON S TEIGER , Rede über die Errichtung der ausländischen Finantzen des Hohen Standes gehalten vor dem hochlöblichen Äussern Stand den 26. Februar 1784, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 14 (1952), 26-39, hier 35, am Beispiel der Verkehrsinfrastruktur, wie förderlich die prächtigen Straßen, welche fast durch das ganze Land angelegt worden, für die Regierung und die Untergebenen seien. Nach von Steiger bedurfte ihr Nutzen keines Beweises; ein jeder erfährt denselben. Der Bauer führt seine Früchte leichter zu Markte: der Kauffmann schafft die Waaren geschwinder herbey. Der Patrizier entwickelt hier das Modell einer harmonischen, weil merkantil geprägten, Wohlstandsgesellschaft. 51 Laut B ODMER , Wirtschaftspolitik (wie Anm. 38), 54f., wurde der bernische Staat nach der Reformation und der Säkularisierung der Klostergüter Alpbesitzer. Staatliche und Genossenschaftsalpen wurden teilweise verkauft, teilweise verpachtet. Einträglichere Bewirtschaftungsmethoden wie die Herstel- <?page no="466"?> Geschäfte kleiner Leute 467 Landwirtschaft mit guten Absatzmöglichkeiten nützte auch der wohlhabenden Aristokratie. Das städtische Patriziat profitierte mindestens indirekt von den Marktchancen und den Gewinnen der ländlichen Kleinanbieter. So erstaunt nicht, dass im Berner Fleischmarkt weder preisstützende Maßnahmen zugunsten des zünftischen Gewerbes noch Direktzahlungen oder kurzfristig gewährte Darlehen an einzelne Anbieter, wie sie andernorts von Regierungsseite gewährt wurden, festzustellen sind. 52 Die traditionelle Forschung geht davon aus, die bernische Obrigkeit habe dem Handel im 17. und 18. Jahrhundert grundsätzlich kritisch gegenübergestanden und mit ihrer Getreidepolitik den Marktkräften entgegengewirkt. Daraus wird gefolgert, der Agrarsektor des Bernbiets sei ungenügend auf den Markt ausgerichtet gewesen, worin wiederum der Grund für mangelndes Innovations- und Modernisierungspotential gelegen habe. In Betracht der geschilderten Beobachtungen zu den ökonomischen Strategien einfacher Leute greift diese Argumentation zu kurz. Das Fleischgeschäft war im Gegensatz zum Getreide dringend und dynamisch. Weil der Staat aus Gründen der Konservierbarkeit keine Fleischvorräte anlegen konnte, blieb ihm nur eine Versorgungsbzw. Wirtschaftspolitik, welche Loyalität und Kooperationsbereitschaft aller Akteure im gesamten Produktionsgebiet zum Ziel haben musste. Ein staatlicher Interventionismus, der in Krisen über die aktive Steuerung des Angebots die Marktkräfte aushebeln wollte, war beim Fleisch äußerst beschränkt praktikabel. Der regionale Kleinhandel im Berner Fleischgewerbe ist bislang kaum ins Blickfeld der Wirtschaftsgeschichte gelangt. Erstaunlich, denn gerade die Anbieter von Kleinstmengen konnten spontan auf eine kurzfristig schwankende Nachfrage reagieren - und stehen somit sinnbildlich für modernes Marktverhalten. 53 Die Sonderrechte, welche den ländlichen Produzenten auf dem städtischen Markt zugebilligt wurden, zeigen, dass die für ihre umsichtige Versorgungspolitik berühmten „Gnädigen Herren“ um das Spiel der Marktkräfte wussten und wiederholt die Förderung der wirtschaftlichen Dynamik auf der Landschaft über den Schutz überkommener Zunftprivilegien in der Stadt stellten. 54 Insgesamt lässt sich in der bernischen Wirtschaftspolilung von Hartkäse ließen Alpweiden zu einer interessanten Kapitalanlage werden. Seit Ende des 16. Jahrhunderts erwarben erste Berner Patrizier Alpeigentum. Im 17. und 18. Jahrhundert gelangten dann viele Angehörige des Herrenstandes in den Besitz der schönsten und rentabelsten Emmentaler Alpen. 52 Nach L ERNER , Ochsenhandel (wie Anm. 15), 201, richtete der Nürnberger Rat im 16. Jahrhundert zum Beispiel eine Vorschusskasse für seine Metzger, das „Mastochsen-Bezahlungs-Amt“, ein. 53 Funktionierte dieser als Summe des Transfers von Ressourcen verstandene Markt (vgl. Anm. 2) zufriedenstellend, so wirkte er laut S CHLÄPPI , Einzelhandel (wie Anm. 1), 49, sozial ausgleichend und konnte stabilisierende Effekte auf die Gesamtgesellschaft entfalten. 54 Nach B RANDT / B UCHNER , Einleitung (wie Anm. 16), 31, sind derartige Formen der Wettbewerbsregulierung, welche den Wettbewerb bewusst nicht unterbanden, für viele europäische Räume festzustellen. <?page no="467"?> Daniel Schläppi 468 tik des 17. und 18. Jahrhunderts in Bezug auf den Einzelhandel aber keine einheitliche Linie ausmachen. Stets zu erkennen ist jedoch das auf das Konsumentenbedürfnis 55 ausgerichtete Bemühen um Versorgungssicherheit und Preisstabilität einerseits sowie die Sorge um das wirtschaftliche Fortkommen möglichst vieler Produzenten andererseits. 56 Obwohl die „Gnädigen Herren“ grundsätzlich eine an paternalistischen Solidaritätsvorstellungen orientierte Versorgungspolitik betrieben, bezogen sie die Marktkräfte in ihre Politik ein, wenn die Konflikte mit dem städtischen Handwerk eskalierten und etwa die Schal bestreikt wurde. 57 Dabei scheinen sie von der Einsicht geleitet worden zu sein, dass unter guten Rahmenbedingungen fair vollzogene Tauschgeschäfte das gegenseitige Vertrauen und das staatsbürgerliche Einvernehmen von privilegierter städtischer Konsumentenschaft und rechtlich unterprivilegierten Anbietern aus dem Untertanengebiet stärkten. 58 In der Tat sind die herrschaftsstabilisierenden und sozial-katalytischen Effekte eines fair organisierten Kleinhandels für die Regierungskultur der frühen Neuzeit, welche sich der Logik des Freihandels explizit versagte, diesen in gewissen Bereichen implizit aber praktizierte, in die Analyse herrschaftlicher Wirtschaftspolitik einzubeziehen. 59 55 Auf analoge Maßnahmen, welche die Frankfurter Obrigkeit zum Konsumentenschutz verhängte, weist B RANDT , Frankfurt (wie Anm. 9), 191, hin. 56 Nach A NDRÉ H OLENSTEIN , Vermeintliche Freiheiten und Gerechtigkeiten. Struktur- und Kompetenzkonflikte zwischen lokalem Recht und obrigkeitlicher „Policey“ im bernischen Territorium, in: Gemeinde, Reformation und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle zum 60. Geburtstag, H EIN- RICH R. S CHMIDT / A NDRÉ H OLENSTEIN / A NDREAS W ÜRGLER (Hrsg.), Tübingen 1998, 69-84, hier 71, begründete sich diese auf pragmatische Mediation gegensätzlicher Interessen ausgerichtete Praxis namentlich darin, dass die betroffenen Gruppen die Regierung um Interventionen angingen, was auch im Fall der Berner Fleischversorgung beobachtet werden kann. Ähnlich argumentiert F RITZ B ÜRKI , Berns Wirtschaftslage im Dreißigjährigen Krieg, Diss. Bern 1937, 111. Ihm zufolge wusste die Obrigkeit, dass die Bekämpfung jeder Konkurrenz dem Land ebenso schadete wie das ungehemmte Spiel von Angebot und Nachfrage. In diesem Wissen habe sie den Markt so geregelt, dass Verbraucher und Erzeuger bestehen konnten, wobei beide Opfer zu bringen hatten. Die einen in Form höherer Preise, die anderen durch den Verzicht auf Höchstgewinne. 57 RQ VIII/ 1 (wie Anm. 16), Nr. 173n), 400-402, 1661/ 62. 58 Vgl. die entsprechenden Thesen bei S CHLÄPPI , Einzelhandel (wie Anm. 1), 49f. 59 Anhand von französischen Quellen zeigt M ICHEL F OUCAULT , Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a. M. 2004 auf, wie die französische Monarchie ihre Regierungskonzepte auf ein bestimmtes „Sicherheitsdispositiv“ fokussierte. Mit Blick auf die Getreideversorgung bezweckten die von der Krone ergriffenen Maßnahmen weniger den Ausbau der unmittelbaren Machtentfaltung als vielmehr die Stabilisierung der gesamten Gesellschaft kraft eines funktionierenden Getreidehandels, wobei die Herrschenden im Gegensatz zu ihren bernischen Berufskollegen keine Berührungsängste bezüglich einer Liberalisierung kannten. Als Forschungsthese wäre die Überlegung von Interesse, ob ein schwaches Regierungsgebilde wie das alte Bern, das im Vergleich mit zentralbürokratisch organisierten Staatswesen doch über geringere herrschaftliche Zwangsmittel verfügte, in seiner Versorgungspolitik nicht zwingend auf sanftere Strategien zurückgreifen musste. In der Tat war die Gefahr gesellschaftlicher Destabilisierung aufgrund der zerstörerischen Auswirkungen völlig entfesselter Marktkräfte für Bern ungleich höher als für das absolutistisch autoritäre Frankreich. Nach F OUCAULT , ebd., 69f., 74, schaute die französische Regierung tatenlos zu, wenn aufgrund einer schlechten Versorgungslage die Preise steigen. Wirkungsvolle Abhilfe versprach man sich von einer freien Entfaltung der Marktkräfte, weshalb mitunter die <?page no="468"?> Geschäfte kleiner Leute 469 Der Fokus der Mikrohistorie auf die ökonomischen Aktivitäten einfacher Leute vermittelt in diesem Zusammenhang nicht nur bemerkenswerte Einblicke in die Funktionsweise der Lebensmittelversorgung urbaner Räume. Er trägt auch wesentlich zum Verständnis der makroökonomischen Logik frühneuzeitlicher Obrigkeiten bei. Der methodische Schlüssel dazu ist die Untersuchung von kleinen Warentransaktionen, wie sie nur im regionalen Rahmen gewinnbringend getätigt werden konnten. Aktuelle Forschungen weisen schließlich auf die soziokulturelle Bedeutung des Handels im Allgemeinen und von Märkten im Besonderen hin. 60 Sie waren Treffpunkte für Bevölkerungsgruppen, die sich aufgrund fehlender Kommunikationsmittel normalerweise nicht begegneten. Der enge Konnex zwischen politischer Revolte und Marktaufständen zählt zu den gerne abgerufenen Topoi von Frühneuzeitforschungen. 61 Entscheidender als das aufrührerische Potential größerer Menschenansammlungen dürften indes die sozialen Vermittlungs- und Homogenisierungseffekte von Märkten gewesen sein. Neben Waren wurden auch Informationen unterschiedlichster Art ausgetauscht. 62 Der Marktgang von Landbewohnern hatte einen mindestens impliziten Kulturtransfer zur Folge. Der Handel mit Gütern bot einen konkreten Rahmen für sozialen Wettbewerb, aber auch für soziale Einbindung. Da Märkte unmittelbar der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern dienten, frequentierte sie die Bevölkerung aus eigenem Antrieb. Hierin unterschieden sie sich wesentlich von ritualisierten Veranstaltungen, über welche auf obrigkeitliche Veranlassung der Transfer immaterieller Güter organisiert wurde, wie zum Beispiel Schwörtage, Heeresmusterungen usw. Masse der Bevölkerung hungern musste. Dies war hinwiederum nicht die Sache einer sich über ein republikanisches Selbstverständnis legitimierenden Sozialelite wie der bernischen Aristokratie. Die Politik des bernischen Patriziats war vielmehr paternalistisch, pragmatisch und pluralistisch. Die ungestörte Zirkulation der Güter war nie Selbstzweck, selbst wenn fallweise die rechtlichen Grundlagen zum freien Warenverkehr geschaffen wurden. 60 Zur kulturellen Dimension von Märkten vgl. zuletzt F ENSKE , Marktkultur (wie Anm. 8) und G EORG E LWERT , Sanktionen, Ehre und Gabenökonomie. Kulturelle Einbettung von Märkten, in: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, H ARTMUT B ERG- HOFF / J AKOB V OGEL (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2004, 119-142. 61 Bezeichnenderweise verhängte die bernische Obrigkeit nach der gewaltsamen Niederschlagung der größten Untertanenerhebung in der Geschichte der alten Eidgenossenschaft im Bauernkrieg von 1653 scharfe Sanktionen über die Märkte von Sumiswald und Wiedlisbach, wo sie - möglicherweise mit Grund - die Herde aufständischer Umtriebe vermutete. 62 Vgl. dazu die anthropologisch unterfütterten Ansätze von P HILIPP H ÜMMER , Siedlungsstrukturen und sozialräumliche Beziehungsmuster in der ländlichen Türkei. Aktionsräume altbäuerlicher und ehemals nomadischer Gruppen im Tertiärhügelland der Çukurova, Bayreuth 1984, 44, oder H ELGE S CHMITZ , Marktringe und Händlerverhalten im Norden Marokkos und die Theorie periodischer Märkte, in: Periodische Märkte in verschiedenen Kulturkreisen, E RDMANN G ORMSEN (Hrsg.), Mainz 1982, 41 47, hier 42f. <?page no="469"?> Daniel Schläppi 470 5. Handlungsspielräume in Handelsräumen - unterschiedliche „Aktionsräume“ definieren das Marktpotential ökonomischer Subjekte Unter dem Eindruck der Begleiterscheinungen der zunehmend globalisierten Wirtschaft haben neuere Beiträge auf die eminente Bedeutung der regionalen Warenzirkulation selbst für moderne Volkswirtschaften des 21. Jahrhunderts hingewiesen. So beruhe „einzelwirtschaftliche Rentabilität“ auf einer real nicht praktikablen Trennung von wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gesichtspunkten. Dauerhaft tragfähiges Wirtschaften erfordere vielmehr stete Rücksichtnahme auf die Umstände vor Ort, wobei unter „Ort“ eine „historisch gewachsene Struktur in einem geographisch abgrenzbaren, überschaubaren Raum“ zu verstehen sei. Das ökonomische Potential solcher Räume liege „in der jeweiligen spezifischen Kombination der unterschiedlichen Gegebenheiten, das heißt den endogenen Potentialen, wobei die wichtigsten Potentiale nicht in den einzelnen Faktoren an sich zu suchen sind, sondern in ihrer je spezifischen Kombination (Synergie).“ Derartige Binnensysteme seien auf die Bedürfnisse einer qualitativ klar umrissenen Verbraucherschaft ausgerichtet und förderten so lokale Kreisläufe sowie den lokalen Arbeitsmarkt, indem sie Einkommen am Ort zirkulieren ließen. Um eine stabile Basis für eine Wirtschaftsregion zu legen, müsse das Geld in der Gegend mindestens dreimal umgesetzt werden, bevor es „nach draußen“ verschwinde. 63 Moderne mikroökonomische Ansätze weisen also auf die zentrale Bedeutung lokaler Zusammenhänge für notgedrungen kleinräumiges und niederschwelliges Wirtschaften von Menschen mit beschränkten Ressourcen hin. Obwohl im vorigen Abschnitt einige Begriffe gefallen sind, welche für Ohren von Frühneuzeitforschern sehr vertraut klingen mögen, sollten die Theorieangebote der Mikroökonomie nicht unbedacht auf präkapitalistische Verhältnisse übertragen werden. Anhand des Fleischhandels in heutigen Entwicklungsländern wird in den folgenden Abschnitten auf grundlegende merkantile Mechanismen eingegangen, die zwecks Theoriebildung schließlich per Analogieschluss mit den frühneuzeitlichen Verhältnissen verglichen werden. Untersuchungen zu verschiedenen Regionen der Dritten Welt haben aufgezeigt, dass die meisten Agrarproduzenten gelegentlich selbst als Anbie- 63 K ARL B IRKHÖLZER , Formen und Reichweite lokaler Ökonomien, in: Wochenmarkt und Weltmarkt. Kommunale Alternativen zum globalen Kapital, H ARALD I HMIG (Hrsg.), Bielefeld 2000, 56-88, hier bes. 58, 63, 71. <?page no="470"?> Geschäfte kleiner Leute 471 ter auf dem Markt auftreten. 64 Selbstvermarktende Bauern und nebenberufliche Händler sind wesentlich am Marktgeschehen beteiligt. Nur über den Absatz durch Verkauf lassen sich kleine Produktionsüberschüsse kapitalisieren, um die zum Überleben notwendige Liquidität zu erlangen. Der gelegentliche Marktgang verursacht minimale Kosten, da die einzelnen Produzenten keinerlei Infrastruktur und sonstige Investitionen aufzubringen haben. Allerdings sind die Aktionsradien lokaler Marktbeschicker sowohl bezüglich der Entfernung zu den Umschlagplätzen als auch hinsichtlich der handelbaren Güter beschränkt. Die in eigener Sache operierenden Marktteilnehmer frequentieren Handelspunkte, zu denen sie an einem Morgen gelangen und von denen sie vor Einbruch der Dunkelheit heimkehren können. Das Sortiment wird wesentlich durch die Transporteignung und die Möglichkeiten der Vorpräparierung bestimmt. Vielerorts wird das Vieh vor Ort an einem speziellen Schlachtplatz geschlachtet. Die fehlenden Kühlmöglichkeiten erfordern einen zügigen Absatz und baldigen Konsum. Günstige Konjunktur oder außergewöhnliche Umstände können es in Ausnahmefällen auch für bäuerliche Kleinproduzenten lohnend machen, wegen höherer Verkaufspreise weiter entfernte Marktorte anzupeilen. 65 Diese Gewinnoptimierungsstrategie ist indes mit Risiken verbunden. So müssen sich die Anbieter auf die Angaben betreffend Nachfrage am Zielort verlassen können. Lässt sich die Ware nicht erwartungsgemäß absetzen, erwachsen durch Fütterung oder Lagerung sowie durch die eigene Beherbergung zusätzliche Ausgaben. Eine Rückführung des Handelsgutes ist aus Kostengründen ausgeschlossen. Um größere Verluste zu verhindern, müssen die Produkte im schlechtesten Fall unter dem Preis losgeschlagen werden. 66 64 Die folgende Synopse basiert wesentlich auf den Beiträgen von F RANCISCO DE A SSIS C OSTA , Amazonien - Bauern, Märkte und Kapitalakkumulation. Entstehung und Entwicklung kleinbäuerlicher Produktionen im brasilianischen Amazonasgebiet, Saarbrücken / Fort Lauderdale 1989; E RDMANN G ORMSEN , Periodische Märkte in verschiedenen Kulturkreisen, in: D ERS ., Periodische Märkte (wie Anm. 62), 7-12; R EINHARD H ENKEL , Analyse der raumzeitlichen Anordnung periodischer Märkte in West-Kenya mit Hilfe quantitativer Methoden, in: ebd., 27-38; H ÜMMER , Siedlungsstrukturen (wie Anm. 62); K NUPP , Wochenmärkte (wie Anm. 7); S CHMITZ , Marktringe (wie Anm. 62); W OLFGANG S CHOOP , Wanderungsverhalten und Warenangebot mobiler Händler. Ergebnisse einer Untersuchung auf den Wochenmärkten im Becken von Cochabamba, Bolivien, in: G ORMSEN , Periodische Märkte (wie Anm. 62), 49-59. 65 Vgl. A SSIS C OSTA , Amazonien (wie Anm. 64), 222, 226f., 230. Auf ein entsprechendes Mobilitätsverhalten in der frühen Neuzeit hat A NNE R ADEFF , Gewürzhandel en détail am Ende des Ancien Régime: Handeln und Wandern, in: Gewürze: Produktion, Handel und Konsum in der frühen Neuzeit. Beiträge zum 2. ernährungshistorischen Kolloquium im Landkreis Kulmbach 1999, M ARKUS A. D ENZEL (Hrsg.), St. Katharinen 1999, 187-204, hier 201, hingewiesen. 66 Tägliche Angebotsschwankungen waren für das Fleischgewerbe in der frühen Neuzeit typisch. Selbst für Fachleute war es schwierig, die Preisentwicklung auf dem städtischen Markt abzuschätzen, denn gewisse Eigenheiten der Tierhaltung verunmöglichten zeitweise jedes logische Kalkül. So war theoretisch denkbar, dass die Preise für Güter des täglichen Bedarfs in einem langen Winter anstiegen, der Fleischpreis gleichzeitig aber sank, weil kleinere Betriebe aufgrund von knapp werdenden Futtervorräten ihre Tiere unter Preis auf den Markt werfen mussten. Zu witterungsbedingten Angebotsschwan- <?page no="471"?> Daniel Schläppi 472 Kleinbäuerliche Marktgänger haben gemein, dass sie bereits eine minimale materielle Eigenständigkeit erreicht haben. Zum Verkauf angeboten wird nur, was die Produzierenden selber entbehren können. Risiken im oben geschilderten Rahmen vermögen nur ökonomische Subjekte einzugehen, denen ein Mindestmaß an Vorräten einen gewissen Handlungsspielraum eröffnet. Die untersten Schichten, die gezwungenermaßen von der Hand in den Mund leben, können sich bietende Marktchancen auch dann nicht nutzen, wenn sie die einschlägigen Informationen und das erforderliche Knowhow haben. Wer über keine Reserven oder Speicherungsmöglichkeiten verfügt, kann es sich beispielsweise nicht leisten, günstige Marktbedingungen abzuwarten. Schließlich charakterisiert sich der Einzelhandel in wenig kapitalisierten Volkswirtschaften durch einen ausgeprägten informellen Sektor. In der Tat stellen Transaktionen im kleinen Rahmen nur geringe Anforderungen an Organisation und Infrastruktur. Je größer die Umschlagmengen, desto virulenter manifestieren sich konkurrierende Gewinninteressen und desto konfliktträchtiger ist das Markttreiben, was wiederum mehr Formalisierung und Kontrolle erforderlich macht. 67 Obwohl vielfach enge Verflechtungen mit dem formellen Sektor bestehen, ist das wichtigste Definitionsmerkmal des informellen Sektors eine nur unvollständige Anerkennung durch lokale Autoritäten, wobei es sich nicht zwingend um staatliche Behörden zu handeln braucht. Vor Ort können auch tribale oder korporative Instanzen oder schlicht die wirtschaftlich potentesten Branchenführer eine autoritäre Stellung einnehmen. Wie lassen sich diese Beobachtungen aus unterschiedlichen Regionen für einen theoretischen Ansatz in Bezug auf den lokalen Handel in der frühen Neuzeit generalisieren? Lassen wir die Impressionen aus dem frühneuzeitlichen Berner Fleischgewerbe Revue passieren, fallen starke Analogien auf: Strukturelle Rahmenbedingungen prägten die möglichen Spielarten des Handels wesentlich. Fehlende Kühlung und schlechte Konservierbarkeit, die gelegentliche Aktivität von Kleinstproduzenten an Orten, welche die Individuen unter Verzicht auf teure Verkehrsmittel erreichen können, der Faktor Transportkosten und die entsprechend hohe Bedeutung des lokalen und regionalen Handels, 68 der Verkauf von Fleisch nach Gewicht statt nach Erlesenheit der Stücke, Warentransfer im informellen Sektor und in peripheren kungen in der Nahrungsmittelversorgung vgl. R UDOLF B RAUN , Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen / Zürich 1984, 96. Auf konkrete Einflüsse des Wetters auf das Marktgeschehen weist F ENSKE , Marktkultur (wie Anm. 8), 86-93, hin. 67 K NUPP , Wochenmärkte (wie Anm. 7), 127. 68 Zur Bedeutung der Transportkosten in Bezug auf die Versorgung vgl. besonders H ENKEL , West- Kenya (wie Anm. 64), 32. <?page no="472"?> Geschäfte kleiner Leute 473 Zonen von Marktorten, beschränktes Geld- und Warenkapital der Mehrzahl der Akteure, die Rolle der Frauen in der Vermarktung spezifischer Erzeugnisse eines Haushalts, der Fleischhunger der Städte als dynamisches Moment im Fleischgewerbe, der Einfluss von nichtstaatlichen Autoritäten, chronisch drohende Unterversorgung - all diese Erscheinungen sind Ausdruck eines ökonomischen Gefüges, das a priori zwar niemanden ausschließt, gleichzeitig aber jedem ökonomischen Subjekt bestimmte Entfaltungsmöglichkeiten und Grenzen zuweist. Die ökonomischen Handlungsspielräume von kleinbäuerlichen Produzenten waren in der frühen Neuzeit ebenso durch geringe Reserven vorgezeichnet 69 , wie es jene von Kleinbetrieben in Entwicklungsländern der Gegenwart heute noch sind. Nur wer über materielle Vorräte, finanzielle Mittel und - auf machtpolitische Kategorien übertragen - über wirtschaftliche oder politische Zwangsmittel verfügte, konnte sein ökonomisches Streben über die unmittelbare Umgebung hinaus entfalten. 70 Einfache Leute hingegen waren und bleiben auf interpersonelles Wirtschaften innerhalb einer kleinräumigen Warenzirkulation und den Rückhalt minimaler Solidarsysteme vor Ort angewiesen. 71 Wie neuere Forschungen gezeigt haben, strebte frühneuzeitliche Wirtschaftspolitik danach, mikroökonomische Aktivität möglichst vieler nicht durch hinderliche Rahmenbedingungen zu erschweren. Es entsteht der Eindruck, Kernmotiv vieler regulatorischer Maßnahmen sei gewesen, rein auf individuellen Gewinn ausgerichtetes Treiben sich nicht ungehemmt entfalten zu lassen und statt dessen die Interferenzen zwischen Produzenten, Konsumenten und Händlern im regionalen Kontext auf einem für den Zusammenhalt des Gemeinwesens verträglichen Niveau zu halten. 69 Charakteristisch für die geringe Liquidität großer Teile der frühneuzeitlichen Bevölkerung ist die entscheidende Bedeutung des Gebrauchtwarenhandels. Nach F ONTAINE , Zirkulation (wie Anm. 8), 94, zeigt diese ökonomische Praxis, dass die Menschen regelmäßig mit ihrem Besitz handelten, wobei sie bei jeder Transaktion viel mehr als heute den möglichen Wiederverkaufswert bedachten. Der Handel mit Gebrauchtem ist Abbild der ökonomischen Situation der Mehrheit, die aus praktischen Gründen häufig verkaufen musste, was sie gerade nicht benötigte. Je bescheidener die Reserven, desto unbedeutender auch die gehandelten Stücke. 70 Eine Alternative zu notgedrungener Beschränkung auf das unmittelbare Umland und zur Territorialpolitik mit Mitteln physischer Übermacht stellten die von vielen wirtschaftlich potenten Städten unternommenen Versuche dar, über Absprachen und vertragliche Vereinbarungen mit benachbarten und entfernteren Gemein- oder Staatswesen, also mit politischen Mitteln, ihre Versorgung vor krisenbedingten Einbrüchen und schädlichen Marktmechanismen zu schützen. Auch diese politischen Maßnahmen konnten nur innerhalb klar definierter Aktionsradien ergriffen werden. So vermochte eine einzelne Stadt unmöglich die Wirtschaftspolitik eines benachbarten Nationalstaates zu beeinflussen. 71 Was dies konkret bedeutete, lässt sich aus der Lebensbeschreibung von U LRICH B RÄKER , Sämtliche Schriften, A NDREAS B ÜRGI / A LFRED M ESSERLI / H EINZ G RABER / C LAUDIA H OLLIGER -W IES - MANN (Hrsg.), 5 Bde., München 1998, Bd. I, 471, erschließen: Demnach hatte sich Bräker auf anrathen gutter freünden, in den liechtsinigen jugent jahren, weiss selbst nicht mehr auss was vor absichten auf den Handel eingelassen. Dabei hatte er sich bald in schulden verthiefft so das es mir dato unmöglich wär den schuldneren zu entsprechen, und noch darzu mich und meine hausshaltung zuernehren. <?page no="473"?> Daniel Schläppi 474 6. Das „Regionale“ als heuristische Kategorie Um Wirtschaftssysteme zu verstehen, in denen viele der aktiven Produzenten und Konsumenten über wenig Marktpotential und entsprechend geringe Handlungsspielräume verfügten, kommt die Forschung um die Untersuchung lokaler und regionaler Versorgungskreisläufe folglich nicht herum. Kleinräumige Beziehungen zwischen Anbieter- und Verbraucherschaft waren für die vormoderne Ökonomie zentral. Der regionale Handel kann gewissermaßen als Grundkategorie frühneuzeitlichen Wirtschaftens angesprochen werden und sollte von der Mikrohistorie eine Schlüsselrolle unter unterschiedlichen heuristischen Zugängen zugewiesen bekommen. 72 Das tägliche Überleben breiter Bevölkerungskreise lässt sich gar nicht anders als ein sozialräumlich eng determiniertes Handeln von Individuen mit beschränkten Aktionsfeldern beschreiben. Die einträglichen Geschäfte mit großen Volumen, Wucher und Preistreiberei blieben wohlhabenderen Subjekten und professionellen Geschäftsleuten vorbehalten. Die Produktion von schnell umzusetzenden Massengütern des täglichen Gebrauchs in entfernten Gegenden war aufgrund der Transportschwierigkeiten in der frühen Neuzeit nicht konkurrenzfähig. Die Vermarktung frischer Verbrauchswaren erfolgte in der Regel direkt ab Hof in einem bis maximal drei Zwischenschritten. Im Gegensatz zum heutigen globalen Markt, dessen Mechanismen von Kleinstanbietern weder durchschaut noch beeinflusst werden können, entschieden in den geschilderten Beispielen die beteiligten Marktteilnehmer selber darüber, ob sie eine Transaktion tätigen wollten oder nicht, und sie kannten den durch den Verkauf ihrer Produkte faktisch zu erzielenden Mehrwert. 73 Der Austausch kleiner Güter- und Geldmengen war die den frühneuzeitlichen Rahmenbedingungen angemessene Form des Warenverkehrs. Eine 72 Über die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und -möglichkeiten von Mikro- und Makrohistorie vgl. S CHLÄPPI , Einzelhandel (wie Anm. 1), 41-43. 73 Die Konkurrenz aus Europa und der zunehmend global liberalisierte Agrarmarkt haben im letzten Jahrzehnt zu einer Verschärfung der finanziellen Lage der meisten schweizerischen Landwirtschaftsbetriebe geführt. Die betroffenen Bauern reagieren mit zunehmend autonomer Vermarktung ihrer eigenen Produkte. Schon zeichnet sich in der Schweiz ein flächendeckend zu beobachtender Trend zum Direktvertrieb durch „Bauernhofläden“ und Hauslieferungen durch Landwirte ab. Hintergrund dieser Entwicklung ist ein Preisverfall im Großhandel, welcher die Bauern nach neuen Vertriebskanälen und Absatzformen suchen lässt. Die zunehmende Verbreitung alternativer Verkaufsstrategien ruft jetzt den Protest des etablierten Detailhandels hervor, wie die meistgelesene Schweizer Tageszeitung „Blick“, 3.3.2006, 2f., berichtete. Genau wie die städtischen Metzger im frühneuzeitlichen Bern ruft das etablierte Gewerbe nach Abhilfe gegen die wilde Konkurrenz. Die im 21. Jahrhundert vorgebrachten Kritikpunkte sind identisch mit jenen der frühen Neuzeit. Demnach profitierten die nebenberuflichen Anbieter von günstigeren Produktionsbedingungen, verstießen gegen die gesetzlichen Qualitätsauflagen und würden nur ungenügend kontrolliert. Wie in der Schweiz seit Jahrhunderten üblich, dürften ordnungspolitische Maßnahmen zum Ausgleich zwischen den Interessen der widerstreitenden Akteure nicht lange auf sich warten lassen. <?page no="474"?> Geschäfte kleiner Leute 475 wenig kapitalisierte Ökonomie litt an chronischer Illiquidität und war auf den Umsatz kleiner Handelsvolumen angewiesen. Gleichzeitig waren bei der Vermarktung von Frischprodukten räumliche Mindestbzw. Höchstreichweiten zu beachten, die sich aus Faktoren wie Beschaffenheit, Haltbarkeit und Transportfähigkeit herleiteten. Diese Kategorien wurden überlagert von pekuniären Faktoren wie der langfristigen finanziellen Risikoresistenz der Handeltreibenden, der täglich schwankenden Kaufkraft bzw. -bereitschaft potentieller Konsumenten sowie von den rechtlichen und sozialhierarchischen Gegebenheiten. 74 Der Fokus auf den Lokal- und Regionalhandel lässt diese naheliegenden und überraschend einleuchtenden Sachverhalte klare Konturen annehmen. Gerade die Geschäfte kleiner Leute zeigen, wie beschränkt und manchmal doch wieder überraschend weit die Aktionsradien ökonomischer Individuen bemessen sein konnten. An diesem Punkt schließen die Befunde dieses Beitrags an das Postulat Reinhold Reiths an, der unlängst festgestellt hat, eine „Kulturanthropologie der Tauschbeziehungen“ müsse die Frage beantworten, wie die Zeitgenossen den Markt „unter den spezifischen Rahmenbedingungen gestaltet und erfahren haben“ 75 , wobei er die „Handlungsspielräume und -grenzen“ zu zentralen Untersuchungsgrößen erklärt. Eine ins Detail gehende Untersuchung von Versorgungskreisläufen gibt Aufschluss über alltägliche gesellschaftliche Vorgänge und Beziehungen, die nur auf den ersten Blick von wenig Belang sind, da sie in täglicher Routine abgewickelt werden mussten. Formuliert man diesen Sachverhalt antonymisch, so bekommt scheinbar Unwichtiges große Bedeutung: Ökonomisches Handeln in lokalen und regionalen Dimensionen prägte in einer Zeit, die geregelte Anstellungsverhältnisse und den sozialen Status von Lohnempfangenden mit Bankkonto noch nicht einmal der Idee nach kannte, das Leben einfacher Leute jeden Tag neu. 76 74 Der Besitz des Bürgerrechts einer Stadt konnte exklusiven Zugang zu bestimmten Märkten eröffnen, gleichzeitig die Partizipation an anderen Geschäftssphären verhindern. Zur Ambivalenz personenrechtlicher Privilegien vgl. B RANDT , Frankfurt (wie Anm. 9), 181. 75 R EITH , Abschied (wie Anm. 39), 65f. 76 Die Befunde der Pionierstudie von O LWEN H AZEL H UFTON , The Poor of Eighteenth-Century France 1750-1789, Oxford 1974 decken sich mit den im Rahmen des vorliegenden Beitrags ausgeführten Beobachtungen. Hufton hat die Existenzform von in prekären Verhältnissen lebenden Bevölkerungsgruppen als „economy of makeshifts“ bezeichnet, ebd. 15f. Diese „Ökonomie des Behelfs“ charakterisiert sich über die kurzfristige Perspektive der mit beschränkten Handlungsspielräumen ausgestatteten Akteure sowie das schnell wandelbare und deshalb unsichere regionale Wirtschaftsgefüge. <?page no="476"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur. Zahlungspraktiken auf einem Jahr- und Viehmarkt Michaela Fenske 1. Die Konjunktur der Marktkultur Marktkultur hat Konjunktur. Die Kultur von Märkten wird zunehmend in Aufsätzen, Monographien sowie auf Tagungen thematisiert. Auf dem Gebiet der Frühneuzeitforschung gehören etwa die Beiträge von Craig Muldrew über die konfliktbeladene Kreditkultur der frühneuzeitlichen Gesellschaft dazu. 1 Obgleich zuvor bereits von anderen, etwa dänischen Wissenschaftlern, ähnliche Fragestellungen diskutiert wurden, 2 erfreuen sich doch Muldrews Arbeiten aufgrund ihrer breiten empirischen Basis, der weitreichenden und eingängig formulierten theoretischen Schlussfolgerungen besonderer Bekanntheit. Die von Muldrew herausgestellte Kategorie des Vertrauens als Grundlage des Kreditwesens hat - ungeachtet der schwierigen Anwendbarkeit des Begriffes - über die Kreise der Frühneuzeitforschung hinweg breite Aufnahme gefunden. Vertrauen gehört inzwischen zu den Schlüsselkategorien bei der Analyse wirtschaftlichen Handelns. 3 Die derzeitige „Marktkulturforschung“ ist ein Produkt der so genannten kulturalistischen Wende. Im Zuge dieser Wende erfolgt ein wechselseitiger Annäherungsprozess zwischen Wirtschafts- und Kulturwissenschaften, die bisherigen Grenzziehungen zwischen den methodisch harten und methodisch weichen Fächern werden fragwürdig. Während auf der einen Seite die Wirtschaftswissenschaften die Bedeutung kultureller Faktoren für wirtschaft- 1 C RAIG M ULDREW , Zur Anthropologie des Kapitalismus. Kredit, Vertrauen, Tausch und die Geschichte des Marktes in England 1500-1750, in: Historische Anthropologie 6 (1998), 167-199; D ERS ., The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Houndsmills u. a. 1998. 2 Zum Beispiel B JØRN P OULSEN , Bondens penge. Studier i sønderjyske regnskaber 1400-1650, o. O. 1990; D ERS ., Bonde og Marked i 1700-Talet, Kerteminde 1997; aus diesem Kontext auch J ØRGEN M IKKELSEN , Merchant Trade and Fairs in Zealand, ca. 1750-1810. A Study in Market Economy, in: Regional Integration in Early Modern Scandinavia, F INN -E INAR E LIASSEN / J ØRGEN M IKKELSEN / B JØRN P OULSEN (Hrsg.), Odense 2000, 162-185. 3 Zum Beispiel H ARTMUT B ERGHOFF , Die Zähmung des entfesselten Promotheus? Die Generierung von Vertrauenskapital und die Konstruktion des Marktes im Industrialisierungs- und Globalisierungsprozeß des 19. Jahrhunderts, in: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, D ERS . / J AKOB V OGEL (Hrsg.), Frankfurt a. M. / New York 2004, 16-35; M ARTIN F IEDLER : Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer. Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 576-592. <?page no="477"?> Michaela Fenske 478 liches Geschehen entdecken, 4 öffnen sich auf der anderen Seite die Kulturwissenschaften vermehrt Fragen des wirtschaftlichen Handelns. 5 Die Ergebnisse der Arbeiten von Muldrew und anderen lassen die bisher bestehenden Kategorisierungen zwischen moderner und nichtmoderner Wirtschaftsweise, wie sie etwa Karl Polanyi in den 1940er Jahren entwickelt hat, 6 zunehmend als unhaltbar erscheinen. 7 Zugleich führen Muldrew und andere Forscher die dichotomische Einteilung insofern fort, als sie ihre Ergebnisse aus dem frühneuzeitlichen Forschungsfeld als Vorläufer moderner Wirtschaftsweise interpretieren. 8 Damit bleibt die Annahme grundlegend verschiedener Wirtschaftssysteme in Vormoderne und Moderne letztlich bestehen. Ein näherer Blick auf die Vielfalt der vorliegenden Publikationen zeigt ein im Einzelnen sehr unterschiedliches Verständnis von Marktkultur. Diese Unterschiede sind in verschiedenen Definitionen von Kultur begründet und verweisen indirekt auf die sich letztlich doch behauptenden Fächergrenzen. So setzt beispielsweise William Reddy in seiner Arbeit „The Rise of Market Culture“ „Marktkultur“ mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise und der modernen Konsumgesellschaft westlicher Prägung gleich; 9 in der Arbeit von Thomas Haskell und Richard Teichgraeber „The Culture of the Market“ dient Marktkultur als Arbeitsbegriff zur Beschreibung und Analyse einzelner kultureller Einflüsse auf das Marktgeschehen; 10 in den Arbeiten von Adrian 4 Vgl. Anm. 3 sowie: P AUL N OLTE , Der Markt und seine Kultur - ein neues Paradigma der amerikanischen Geschichte? in: Historische Zeitschrift 264 (1997), 329-360; Ökonomie und Anthropologie, A XEL T. P AUL (Hrsg.), Berlin 1999; H ANSJÖRG S IEGENTHALER , Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 276-301. Für die Frühe Neuzeit bietet der „Irseer Arbeitskreis für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ ein wichtiges Diskussionsforum, vgl. C HRISTOF J EGGLE , Ziele und Aufgaben des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Rundbrief des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 82 (2001), 33-47. 5 Dies gilt für verschiedenste Disziplinen einschließlich der Literaturwissenschaften; hingewiesen sei hier nur auf die programmatischen Beiträge aus dem Zusammenhang der Kulturanthropologie/ Europäischen Ethnologie von R EINHARD J OHLER , Bäuerliches Kreditwesen im Alpenraum. Vorbemerkungen zu einer „economic anthropology“, in: Historische Anthropologie 6 (1998), 146-153; J OHANNES M OSER , Wirtschaftliches Handeln in spätmodernen Gesellschaften, in: Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. 33. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Jena 2001, S ILKE G ÖTTSCH / C HRISTEL K ÖHLE -H EZINGER (Hrsg.), Münster u. a. 2003, 279- 284. 6 K ARL P OLANYI , The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a. M. 1994, 4. Aufl. 7 Aus dem ethnologischen Kontext zum Beispiel J AMES G. C ARRIER , Meanings of the Market. The Free Market in Western Culture, Oxford / New York 1997; für die Geschichtswissenschaften vgl. B ERG- HOFF / V OGEL , Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 3); Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk, R OBERT B RANDT / T HOMAS B UCHNER (Hrsg.), Bielefeld 2004. 8 M ULDREW , Anthropologie (wie Anm. 1); D ERS ., Economy (wie Anm. 1). 9 W ILLIAM M. R EDDY , The Rise of Market Culture. Textile Trade and French Society, 1750-1900, Cambridge u. a. 1984. 10 Zum Beispiel The Culture of the Market. Historical Essays, T HOMAS L. H ASKELL / R ICHARD F. T EICHGRAEBER III (Hrsg.), Cambridge 1993, Neudruck 1995; vgl. hierzu auch N OLTE , Markt (wie Anm. 4). <?page no="478"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur 479 Randall und Andrew Charlesworth über Marktkultur und Protest in England und Irland im 18. Jahrhundert meint Marktkultur in Anlehnung an Edward Thompsons Konzept der „moral economy“ 11 die Werte und Normen, die das wirtschaftliche Handeln beeinflussen. 12 Mit der im Titel dieses Beitrags angekündigten Marktkultur ist dagegen etwas anderes gemeint. Gegenüber den genannten Konzepten ist das hier praktizierte Verständnis von Marktkultur im Hinblick auf das zugrunde gelegte Kulturkonzept erheblich weiter und im Hinblick auf das Untersuchungsfeld als empirische Grundlage erheblich enger gefasst. Entsprechend der in der Kulturanthropologie/ Europäischen Ethnologie üblichen Praxis wird Kultur hier in Zusammenhang und im Wechselverhältnis mit Wirtschaft und Gesellschaft gesehen. Kultur meint - so hat es für das Feld kulturhistorischen Arbeitens etwa Carola Lipp formuliert - „das Ganze in seinen vielfältigen Beziehungen und Bedeutungen“. 13 Dabei geht es der kulturanthropologischen Perspektive entsprechend um die Handlungsebenen des Alltags, und im vorliegenden Fall konkret um die Kultur eines frühneuzeitlichen Face-to-Face-Marktes, nämlich des Jahr- und Viehmarkts der Stadt Hildesheim. 14 Marktkultur meint im vorliegenden Fall die Auseinandersetzung der auf dem Hildesheimer Markt handelnden Menschen mit den vor Ort gegebenen natürlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten. Marktkultur umfasst Verhaltensweisen, Dispositionen, normative Werte und Orientierungen der Akteure. In Anlehnung an eine Definition des amerikanischen Folkloristen Roger Abrahams könnte man auch sagen: Marktkultur ist das Set von Normen, Regeln, Verhaltensweisen und Erwartungen, über das in Hildesheim im 17. und 18. Jahrhundert jeder Marktbesucher und jede Marktbesucherin selbstverständlich verfügte und das ihnen half, sich auf dem Markt zu orientieren. 15 Mit der Analyse eines frühneuzeitlichen Marktes aus kulturanthropologischer Perspektive geraten die alltäglichen Handlungsspielräume und damit das scheinbar Selbstverständliche, das weder Zeitgenossen noch die Mehrzahl späterer Historiker erwähnenswert fanden, in den Blick. Die zumeist auf der Basis von wirtschafts- und sozialhistorischen Makrostudien erhobenen Aussagen über 11 E DWARD P. T HOMPSON , Die ‚moralische Ökonomie’ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: D ERS ., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, D IETER G ROH (Hrsg.), Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1980, 67-130. 12 Zum Beispiel A DRIAN R ANDALL / A NDREW C HARLESWORTH , Markets, Market Culture and Popular Protest in Eighteenth-Century Britain and Ireland, Liverpool 1996. 13 C AROLA L IPP , Kulturgeschichte und Gesellschaftsgeschichte - Mißverhältnis oder glückliche Verbindung? in: Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, P AUL N OLTE u. a. (Hrsg.), München 2000, 25- 35, hier 27. 14 M ICHAELA F ENSKE , Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln / Weimar / Wien 2006. 15 R OGER A BRAHAMS , Folklore and the Market-Place. Unveröffentlichtes Manuskript. Philadelphia o. J. <?page no="479"?> Michaela Fenske 480 frühneuzeitliches Marktgeschehen werden damit um solche auf der Ebene der alltäglichen Praxis erweitert. Anhand des konkreten empirischen Falles zeigt sich schnell, dass die auf dem Face-to-Face-Markt praktizierte Wirtschaftsweise im Wesentlichen als eine eigenständige betrachtet werden muss. Insofern wird im Folgenden in Anlehnung an wirtschaftsethnologische Ansätze 16 der Versuch unternommen, die gängige Dichotomie modernen oder vormodernen Wirtschaftens zu überwinden. 2. Zur Kultur des Hildesheimer Jahr- und Viehmarkts Wirtschaftliches Handeln war in Hildesheim in den Gesamtzusammenhang des kulturellen Systems „Markt“ eingebunden. Die in der Moderne als einzelne Segmente wahrgenommenen Felder von Wirtschaft, Macht und Unterhaltung hingen auf dem Face-to-Face-Markt zusammen, sie bedingten einander und gaben sich wechselseitig Impulse. Insofern gibt eine gesonderte Betrachtung der einzelnen Themenfelder einen nur begrenzten Einblick in historische Realitäten. Unterhaltung wird dabei im doppelten Sinne verstanden: einerseits meint Unterhaltung Kommunikation und damit die Rolle des Marktes als eines wichtigen sozialen Treffpunkts, als Informationsbörse und Ort der Meinungsbildung, andererseits umfasst Unterhaltung Belustigung und Zerstreuung einschließlich des „wissenschaftlichen“ Belehrens und ärztlichen Kurierens. Zur frühneuzeitlichen Marktkultur gehört das Vergnügen und Amüsement der Marktbesucher ebenso wie die Durchsetzung bzw. Verhandlung von gesellschaftlichen Normen, von politischer oder ökonomischer Macht; zur Marktkultur gehören schließlich vielfältige soziale Interaktionen. Dabei war der Markt sowohl ein besonderer als auch als ein gewöhnlicher Ort innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Er war ein besonderer Ort, weil hier kurzzeitig einige Regeln des Alltagslebens außer Kraft gesetzt und durch andere ersetzt wurden. Zugleich war der Markt ein Ort, an dem die bestehenden gesellschaftlichen Regeln eingebracht und dabei bestätigt oder aber hinterfragt wurden. Der Markt als Handlungsraum bietet damit einen interessanten Einblick in die frühneuzeitliche Gesellschaft. Eine historische Ethnografie des Marktes bedarf einer spezifischen Quellenüberlieferung, die eine möglichst dichte Beschreibung des Geschehens ermöglicht. Der Archivbestand der Stadt Hildesheim erwies sich dabei als besonders günstig. 17 Das örtliche Archiv verfügt über „Jahrmarktprotokolle“, 16 Zum Beispiel M ARTIN R ÖSSLER , Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung. Berlin 1999, hier 115. 17 Vorausgegangen war eine Anfrage an 152 Archive, die nach ihren Beständen in „Marktsachen“ gefragt wurden. Die Auswahl der Archive erfolgte aufgrund der Liste der berühmtesten Messen und Jahrmärkte in Europa bei J ACOB P AUL M ARPERGER , Beschreibung der Messen und Jahr-Märkte, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1711, Frankfurt a. M. 1968, 87-153. <?page no="480"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur 481 die für den Zeitraum von 1646 bis 1717 lückenlos überliefert sind. Als Protokolle der Marktgerichtsbarkeit dokumentieren diese Niederschriften Ordnungswidrigkeiten und Streitigkeiten auf dem Jahr- und Viehmarkt sowie alle weiteren Geschehnisse, die aus der Sicht der obrigkeitlichen Repräsentanten, der Hildesheimer Marktherren, von Belang waren. Marktprotokolle wurden an Markttagen direkt am Marktort aufgenommen und führen so vergleichsweise nahe an das Geschehen heran. Die Hildesheimer Marktprotokolle wurden in der Untersuchung mit anderen Quellen - Marktrechnungen, Gerichtsprotokollen und Kämmereirechnungen - kombiniert, so dass ein enges Informationsnetz geknüpft werden konnte. Die Auswertung der Archivalien erfolgte dabei ganz im Sinne der ethnografischen Arbeitsweise als offene Auseinandersetzung mit den Quellen. 18 Die auf diese Weise für Hildesheim gewonnenen Ergebnisse werden vor dem Hintergrund der Aussagen von Quellen anderer Städte und Markttypen gewichtet und konturiert. Denn das Treiben auf dem Viehmarkt unterscheidet sich essentiell von dem auf anderen Märkten wie Wochenmärkten oder Spezialmärkten, 19 so dass man für die Frühe Neuzeit im Plural von „Marktkulturen“ sprechen sollte. Wann immer am und über den Einzelfall Allgemeines thematisiert wird, ergeben sich Fragen nach der Verallgemeinerbarkeit der derart gewonnenen Ergebnisse. Vertreter und Vertreterinnen des methodischen Ansatzes von Mikrostudien verweisen in solchen Fällen gerne auf das Allgemeine im Besonderen bzw. auf die Normalität im Außergewöhnlichen. 20 Tatsächlich stellt die auf das Lokale begrenzte Studie eine von wenigen methodischen Möglichkeiten dar, Alltagspraktiken historischer und gegenwärtiger Gesellschaften in ihrem jeweiligen Kontext zu untersuchen. Dabei werden die Einzelbeispiele allerdings selten für sich betrachtet, in der Regel gehen in die Analyse eines Einzelfalls Beobachtungen aus zahlreichen Orten in verschiedenen Gebieten ein. Auch im Falle der hier vorgestellten Studie wurde das gewählte Beispiel unter Zuhilfenahme der Befunde aus dreizehn weiteren städtischen und landesherrlichen Archiven in Deutschland konturiert. Inwieweit das, was anhand der Hildesheimer Archivalien über den frühneuzeitlichen Markt und die dortige Wirtschaftsweise gesagt wird, am Ende beispielhaft im Sinne der Verallgemeinerbarkeit ist, kann mit letzter Gewissheit nur ein systematischer Vergleich mit vergleichbaren Einzelfallstudien erge- 18 K ASPAR M AASE , Das Archiv als Feld? Überlegungen zu einer historischen Ethnographie, in: Die Poesie des Feldes. Beiträge zu einer ethnographischen Kulturanalyse, K ATHARINA E ISCH / M ARION H AMM (Hrsg.), Tübingen 2001, 255-270. 19 Für die gegenwärtige Gesellschaft hat Michèle de La Pradelle gezeigt, dass unterschiedliche Markttypen mit einer unterschiedlichen Soziokultur einhergehen, vgl. M ICHÈLE DE L A P RADELLE , Le Vendredi de Carpentras. Faire son marché, en Provence ou ailleurs, Paris 1996. 20 Vgl. zum Beispiel die Aufsätze in: Mikrogeschichte - Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel? J ÜRGEN S CHLUMBOHM (Hrsg.), Göttingen 1998. <?page no="481"?> Michaela Fenske 482 ben. Manchen Regionalforschern gilt das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allenfalls noch regional bedeutsame Hildesheim allerdings gerade deshalb als spannendes Forschungsgebiet, weil die Stadt in Vielem keine Besonderheiten aufwies. 21 Für Fragen des Kredits wurden Marktprotokolle insbesondere im deutschsprachigen Raum bislang nicht systematisch ausgewertet. In der englischen Forschung wurden sie hingegen berücksichtigt, Craig Muldrew hat sie beispielsweise für seine Analyse des frühneuzeitlichen Wirtschaftsverhaltens herangezogen. 22 Im Hinblick auf die Frage nach Zahlungsgewohnheiten scheinen die Marktprotokolle zunächst nicht unbedingt die vielversprechendste Quelle zu sein. So haben unter anderen Bjørn Poulsen und Jørgen Mikkelsen in ihrer Arbeit über Kreditbeziehungen der dänischen Landbevölkerung gezeigt, wie informationsreich in diesem Zusammenhang bäuerliche Rechnungsbücher sind. Deren Analyse zeigt die breite Einbeziehung der Landbevölkerung in Kreditnetze und Marktbeziehungen. 23 Marktprotokolle lenken den Blick dagegen auf die Mikroebene. Sie thematisieren die Praktiken, die Bedingungen des Zustandekommens von Krediten, ihre Formen sowie die mit Krediten verbundenen Konflikte. Der in der Forschung immer wieder diskutierten Frage nach Barzahlung oder Kredit als bevorzugter Zahlungspraxis auf dem Markt stellt die Analyse dieser Quelle eine neue, umfassendere Perspektive zur Seite: die der Komplexität des Handelsgeschehens auf einem frühneuzeitlichen Markt. Barzahlung oder Kredit waren konkret von einer Vielzahl von Faktoren abhängig. Auch die im Zusammenhang mit Kreditzahlung häufig herausgestellte Kategorie „Vertrauen“ erhält bei der Analyse von Marktprotokollen eine Konkretisierung. Die Hildesheimer Handeltreibenden investierten Vertrauen in den guten Ruf ihrer Handelspartner sowie in die Verbindlichkeit informell und institutionell abgesicherter Normen und Regeln. Vertrauen war darüber hinaus eine Frage persönlicher Erfahrungen, individueller Kenntnisse, des Alters und nicht zuletzt wohl auch der gesellschaftlichen Position. Vertrauen gründete sich vor allem in soziale Beziehungen - Verwandtschaften, Freundschaften, Bekanntschaften, Mitgliedschaft in einer Gemeinde. Auf dem Markt wurde neben dem ökonomischen direkt und indirekt ein beträchtliches soziales Kapital mobilisiert. Ziel der Aktionen war ein möglichst profitables Geschäft, das nicht zuletzt auf einer für jede Seite möglichst günstigen Verteilung des Risikos bestand. In ihrer Gesamtheit kann die Wirtschaftspraxis auf dem Hildesheimer Markt als eine „Kultur des Risikoausgleichs“ beschrieben werden. Aus- 21 Zur Hildesheimer Stadtgeschichte vgl. zum Beispiel J OHANNES G EBAUER , Geschichte der Stadt Hildesheim 1-2, Hildesheim / Leipzig 1922/ 24, Nachdruck Hildesheim 1994/ 97; H ERBERT R EYER , Kleine Geschichte der Stadt Hildesheim, Hildesheim 1999. 22 M ULDREW , Economy (wie Anm. 1). 23 P OULSEN , Bondens (wie Anm. 2); M IKKELSEN , Trade (wie Anm. 2). <?page no="482"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur 483 gleich meint sowohl die konkrete Verteilung der Risiken unter den Handelspartnern, die dabei zum Tragen kommenden Moralvorstellungen und Werte, als auch einen Ausgleich im Sinne des Auffangens von Risiken durch Praktiken der sozialen Absicherung. Die von Kulturanthropologen wie Stuart Plattner in Auseinandersetzung mit den Studien des Wirtschaftswissenschaftlers George A. Akerlof 24 herausgestellte Bedeutung sozialer Beziehungen als Strategie der Risikominimierung 25 gilt in besonderer Weise auch auf dem frühneuzeitlichen Jahr- und Viehmarkt. 3. Handel mit erheblichen Risiken Das wirtschaftliche Geschehen auf dem Hildesheimer Viehmarkt wurde grundsätzlich durch drei Problembereiche bestimmt: 26 1. spezielle Probleme mit dem Handelsgut Vieh; 2. allgemeine Probleme mit dem Zahlungsmittel Geld und 3. das marktspezifische Problem einer im Vergleich zum dörflichen und städtischen Handel größeren Anonymität des Kaufgeschäftes. 27 1. Spezielle Probleme mit dem Handelsgut Vieh: Vieh ist ein Produkt, dessen Qualität sich nicht unmittelbar erschließt, die Leistungsfähigkeit der Tiere kann etwa durch nicht sofort zu erkennende Krankheiten und Mängel, aber auch durch falsche Fütterung oder Haltung, herabgesetzt werden. Dabei zeigen die Beobachtungen auf dem frühneuzeitlichen Markt, dass die Menschen mit vielen Mängeln an Tieren ganz gut leben konnten, der Umgang mit den Tieren war gebrauchsorientiert. Dennoch sorgten gesetzliche Regelungen für eine gewisse Rechtssicherheit. Im Falle des Auftretens eines der so genannten vier Hauptmängel Rotz, Koller, Haarschlächtigkeit und Hauptsiechisch-Sein 28 etwa wurde dem Kunden 29 automatisch das Umtauschrecht 24 G EORGE A. A KERLOF , The Market for „Lemons“. Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: The Quarterly Journal of Economics 84 (1970), 488-500. 25 S TUART P LATTNER , Economic Behavior in Markets, in: Economic Anthropology, S TEPHEN G UDE- MAN (Hrsg.), Cheltenham / Northhampton 1998, 9-23; D ERS .: Economic Custom in a Competitive Marketplace, in: American Anthropologist 85 (1983), 848-858. 26 Soweit nicht besonders angemerkt beruhen die in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse auf der Auswertung der im Stadtarchiv Hildesheim vorhandenen Marktprotokolle: Stadtarchiv Hildesheim (StArch Hildesheim), Bestand 50, Nr. 2400, 2402 (Jahrmarktsprotokollbücher, 1646-1690, 1690- 1717). Detaillierte Darstellung bei F ENSKE , Marktkultur (wie Anm. 14). Zur Zitierweise der Quellen ist anzumerken, dass Satzzeichen sowie Groß- und Kleinschreibung dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und Abkürzungen ausgeschrieben wurden; die Namen wurden ins Hochdeutsche übertragen. 27 Neben den genannten prägten weitere Faktoren wie die Situation der Landwirtschaft insgesamt sowie die Größe und Lage der bäuerlichen Betriebe das Handelsgeschehen. 28 Vgl. hierzu Art. Pferdehandel, in: J OHANN H EINRICH Z EDLER , Grosses vollständiges Universal- Lexikon, Leipzig / Halle 1741, Nachdruck Graz 1961, Bd. 27, Sp. 1405-1408; sowie die Artikel Pferdekranckheiten, ebd., Sp. 1405-1409 und Pferde-Maengel, ebd., Sp. 1409. 29 Die hier gebrauchte ausschließlich männliche Form erklärt sich auch daraus, dass beim Kaufgeschäft auf dem Viehmarkt in der Regel Männer die Akteure waren, während Wochenmärkte eine Domäne der Frauen waren. <?page no="483"?> Michaela Fenske 484 garantiert. Für die Einhaltung dieser Garantien in der Praxis sorgte unter anderem das städtische Marktgericht, das mit seinen schnellen Urteilen eine gewisse Sicherheit im Handelsgeschehen gewährleistete. Beim Viehhandel möchte der Käufer möglichst günstig an ein qualitativ hochwertiges Produkt gelangen, während der Verkäufer sein vielleicht nicht ganz hervorragendes Produkt losschlagen und dabei die Unkosten möglichst niedrig halten will. Beide Seiten wollen ein gutes Geschäft machen. Das Handelsrisiko wurde in Hildesheim durch die kurze Dauer des Marktes zusätzlich erhöht, denn es herrschte ein nur eintägiger Marktverkehr. In der Praxis ging man zur Reduzierung des Risikos daher gelegentlich dazu über, das Vieh entgegen der Marktordnung schon im Vorfeld zu verhandeln und damit die Marktzeit zu verlängern, womit man zum Nachteil und Ärger der städtischen Obrigkeit zugleich den lästigen Zoll „sparen“ konnte. Hier deutet sich bereits an, dass Handeltreibende den erheblichen ökonomischen Risiken mit kulturellen Strategien zu begegnen wussten. Ähnliches hat der Ethnologe Frank Fanselow auf einem vom ihm untersuchten indischen Markt entdeckt: Er zeigt, dass mit dem Verkauf nicht standardisierter Güter besondere Wirtschaftspraktiken einhergehen, die von westlichen Ethnologen häufig als merkwürdig und irrational beschrieben werden. 30 Auch hier stellen die von außen als „merkwürdig“ wahrgenommenen Wirtschaftspraktiken Strategien der Risikominimierung dar. 2. Allgemeine Probleme mit dem Zahlungsmittel Geld: Nicht zuletzt die verbreitete Bargeldknappheit der frühneuzeitlichen Gesellschaft hat den Blick der Forschung auf den Kredit als notwendige und verbreitete Zahlungsform gelenkt. 31 Bargeld war auch in Hildesheim knapp, und diese Knappheit betraf die unteren Schichten in besonderem Maße, jedoch - wie aus den Hildesheimer Marktprotokollen immer wieder zu erfahren ist - keineswegs ausschließlich. Mit Geld als Zahlungsmittel waren zudem weitere Probleme verbunden: dazu gehört der Umlauf verschiedenster Währungen und Geldstücke, deren Wertigkeit sich durch ihren Edelmetallgehalt unterschied. In der Praxis führte das in Hildesheim zu einem Run auf das „wertvolle“ Geld, das als das „richtige“ Zahlungsmittel bevorzugt wurde. 32 3. Das marktspezifische Problem einer im Vergleich zum dörflichen und städtischen Handel größeren Anonymität des Kaufgeschäftes: Im Vergleich zum Handel innerhalb der städtischen und ländlichen Gemeinden trafen auf Märkten Menschen unterschiedlicher geographischer und sozialer Herkunft zusammen. Damit bestand die Möglichkeit, dass Handelspartner sich nicht 30 F RANK S. F ANSELOW , The Bazar Economy. Or How Bizarre is the Bazar Really? in: Man 25 (June 1990), 250-265. 31 Vgl. auch C RAIG M ULDREW , ‚Hard Food for Midas’. Cash and its Social Value in Early Modern England, in: Past and Present 170 (2001), 78-120. 32 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 2402. <?page no="484"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur 485 persönlich kannten und einander möglicherweise auch nicht wieder begegneten. Dies erschwerte den Handel beträchtlich. In der Praxis wurde dieses Problem zum einen dadurch gemindert, dass der Hildesheimer Markt einen nur begrenzten Einzugsbereich besaß: Die Teilnehmer des Handelsgeschäfts stammten überwiegend aus den Städten und Dörfern des Bistums und der direkt angrenzenden Fürstentümer. 33 Man bewegte sich also in der Regel innerhalb des Marktnetzes des norddeutschen Raums und hier vor allem im Kontext des eng geknüpften Netzes auf dem Gebiet des heutigen mittleren und südlichen Niedersachsen. Darüber hinaus lässt sich anhand des häufigen Auftauchens einiger Personennamen in den Protokollen sowie aufgrund des Wortlauts der getroffenen Kaufvereinbarungen vermuten, dass auf dem Markt ein Stammpublikum vorhanden war, insbesondere die Viehhändler kamen regelmäßig nach Hildesheim. Den genannten Problemen begegneten die Handelspartner auf dem Markt mit einem Set von Vereinbarungen, die zusammengenommen für beide Partner ein günstiges Geschäft versprachen. Die Art und Weise des Zahlens war ebenso wie die Preisfestlegung und Qualitätsgarantien Bestandteil des jeweiligen Kaufkontrakts. Die einzelnen Bestandteile des Kontrakts waren variabel und aufeinander bezogen; sie wurden individuell zwischen den Geschäftspartnern ausgehandelt. 34 4. Zahlungsformen und Zahlungspraktiken Alle in der Frühen Neuzeit verbreiteten Zahlungsformen - Bargeldzahlung, Kredit und Tauschhandel - waren auch auf dem Markt üblich. Sie waren hier jedoch mit unterschiedlichen und jeweils spezifischen Problemlagen verknüpft. Barzahlung bedeutete, dass der komplette Kaufpreis bis zum Marktende um 18.00 Uhr gezahlt werden musste. Diese Zahlungsform taucht in den Marktprotokollen öfter auf als Kredite oder Tausch. 35 Die relative Häufigkeit der Barzahlung besagt allerdings wenig über die tatsächliche Bedeutung dieser Zahlungsform, sondern mehr über die mit ihr verbundenen spezifischen Problemlagen, denn sie war besonders konfliktträchtig und taucht 33 Die Angabe der Herkunftsorte beruht auf den Ortsangaben in den Jahrmarktsprotokollbüchern, StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400 und 2402. Aufgrund uneinheitlicher Schreibweisen und von Lesefehlern war dabei eine Zuordnung der Orte allerdings nur eingeschränkt möglich. 34 Eine ähnliche Praxis beschreibt Sabine Ullmann für den Handel jüdischer Viehhändler in der Markgraftschaft Burgau, vgl. S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999, 268-290. 35 Von insgesamt 211 Fällen, in denen genaue Angaben über die Zahlungsform gemacht wurden, einigte man sich in 103 Fällen auf Barzahlung, Jahrmarktsprotokollbücher der Stadt Hildesheim: StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 2402. <?page no="485"?> Michaela Fenske 486 daher besonders oft in der ausgewerteten Quelle auf. Mit dem sofortigen Begleichen des Kaufpreises bei der Barzahlung trug der Kunde das volle Handelsrisiko. Er hatte im Falle von Qualitätsmängeln sein Recht zu suchen und - weitaus schwieriger - auch zu beweisen. Kein Wunder also, dass das sofortige Begleichen des Kaufpreises bei Kunden nicht beliebt war, während Händler dagegen Barzahlung bevorzugten. Sie hatten in diesen Fällen nicht nur das geringere Risiko, sondern gelangten an ein in der Regel nicht unbeträchtliches Kapital, das sie nicht selten augenblicklich weiter investierten. Barzahlung auf dem Markt sagt nichts darüber aus, wie der Kunde zu dem Geld gekommen war. War die wirtschaftliche Decke dünn und das soziale Kapital gering, so wurde mitunter Land verpfändet, um an Bargeld zu kommen. Häufig beruhte die Barzahlung auf dem Markt auf Krediten durch andere Marktteilnehmer oder durch Personen außerhalb des Marktes. Der Marktkauf war somit in ein weit gespanntes Kreditnetzwerk eingebunden, indem Kredite von Verwandten, Freunden oder Nachbarn den Viehkauf auf dem Markt ermöglichten. Kredite, aber auch Bürgschaften, schufen in den Herkunftsgemeinden und im Verwandtschafts- und Freundeskreis soziale Abhängigkeiten und damit auch - wie beispielsweise die Studien von Martin Dinges oder Craig Muldrew gezeigt haben - zahlreiche Konfliktlagen. 36 Ein Kredit durch den Verkäufer bewirkte hier für den Kunden unter Umständen soziale Entlastung. Ein Kredit bedeutete, dass der Händler dem Käufer die vereinbarte Summe für einen festgelegten Zeitraum ganz oder teilweise stundete. Meist wurde bis zu einem der folgenden Markttermine geborgt und zwar in der Regel zinsfrei. Der Kauf auf Kredit war bei den Kunden am beliebtesten. Er gestattete ihnen nicht nur den Erwerb und den Gebrauch von Gütern, deren Kaufpreis sie erst noch erwirtschaften mussten, er bot ihnen auch die größtmögliche Sicherheit. Im Fall von Beanstandungen oder später auftauchenden Mängeln war der Käufer in der für ihn günstigen Lage, den Kaufpreis kurzerhand zu reduzieren oder die Zahlung sogar ganz verweigern zu können. Hette nicht getaucht, könte ihn also nicht völlig bezahlen - so oder so ähnlich lautete die Begründung, die die Käufer gegenüber dem Verkäufer in diesen Fällen vorbrachten. 37 Der Verkäufer musste dann zusehen, wie er zu seinem Recht kam. Händler borgten aus diesen Gründen eher ungern, insbesondere Fremde mussten stets bar bezahlen. Auch der Kredit an bekannte Personen ersparte den Verkäufern jedoch oft die Klage nicht, denn Zahlungsvereinbarungen wurden häufig nicht gehalten. So mancher Verkäufer musste sich 36 M ULDREW , Economy (wie Anm. 1); D ERS ., Anthropologie (wie Anm. 1); D ERS ., ‚Hard Food for Midas’ (wie Anm. 31); M ARTIN D INGES , Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. 37 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 2402, passim. <?page no="486"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur 487 jahrelang bis zur vollständigen Begleichung der vereinbarten Kaufsumme gedulden. Heinrich Schuhhagen zum Beispiel, der Hans Benecke für etliche Jahre, dabei bleibt unklar, ob für sieben oder zehn Jahre, einen Teil des Kaufpreises eines Pferdes borgte, stellte diesbezüglich zwar einen besonders langwierigen Fall, jedoch keineswegs eine Ausnahme dar. 38 Angesichts der Bargeldknappheit war der Pferdehandel ohne eine gewisse Risikobereitschaft auf Seiten der Pferdehändler jedoch nicht möglich. Zudem boten Kredite den Händlern letztlich auch Vorteile: Das Borgen stiftete oder festigte soziale Beziehungen und ermöglichte den Aufbau einer relativ verlässlichen Stammkundschaft. Der Tausch umfasste alle Formen des Naturalhandels mit oder ohne Aufpreis in Form von Barzahlung oder Kredit. Getauscht wurde Ware gegen Ware, meist Pferd gegen Pferd, gelegentlich aber auch anderes Vieh. In Zeiten des allgemeinen Bargeldmangels bot der Tauschhandel eine probate Möglichkeit, auch ohne Bargeldeinsatz oder die mit einem Kredit verbundenen Risiken die in den Haushalten jeweils benötigten Tiere zu erlangen. Theoretisch war das Risiko, beim Tausch ein gesundes und tüchtiges Tier gegen ein krankes oder mangelhaftes zu tauschen, auf beide Partner gleichermaßen verteilt. In der Praxis entschied vor allem die Erfahrung der Handeltreibenden, ob ein Tausch mehr oder weniger vorteilhaft war, Gewinn oder Verlust bedeutete. Auch hier bestätigte sich einmal mehr, dass des Feilschens und Viehhandels Unerfahrene auf dem Viehmarkt Lehrgeld zu zahlen hatten. Entsprechend erklärt sich vermutlich der Reukauff, eine Art Entschädigung, den 1658 Heinrich Wulffes auf Beschluss der Marktherren hin seinem Tauschpartner zu zahlen hatte, obwohl dieser ihn offenkundig im Hinblick auf das Alter des verhandelten Tieres getäuscht hatte: Heinrich Wulffes, welcher ein Füllen mit Hinrich Rahmekern vertauscht, nachgehends aber gesehen, daß er betrogen undt das Pferd, welches er bekommen, nicht 6 Jahr wie es ußgeben sondern wol fünfzehn Jahr alt hat deswegen geclagt und den Tausch zu refeindiren begehret. Worin er dann gehöret, hat aber dem anderen 18 gute Groschen Reukauff geben müssen. 39 Auf dem Hildesheimer Markt war der Tausch offenbar wenig verbreitet, auch scheint er wenig prestigeträchtig gewesen zu sein. In der Praxis des Handels war die Art und Weise der Bezahlung meist alles andere als selbstverständlich. Mitunter wurde zwischen Käufern und Verkäufern lange um die gewünschte Zahlungsform gefeilscht. Zur Minimierung des eigenen Risikos bedienten sich Käufer und Verkäufer dabei einer ganzen Reihe von Strategien: Verkäufer gaben Kunden beispielsweise einen Anreiz zur Barzahlung, indem sie dafür einen beträchtlichen Nachlass vom 38 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 5.5.1679. 39 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 26.4.1658. <?page no="487"?> Michaela Fenske 488 Kaufpreis gewährten. Der Kunde hatte dann zwischen dem höheren Risiko und der möglichen Ersparnis abzuwägen. Gewährten Verkäufer Kredit, so hielten sie sich an den später auch in den Handlungswissenschaften, etwa bei Jacob Paul Marperger zu findenden Merksatz: Trau schau wem. 40 Zwar lassen sich anhand der Marktprotokolle Stammkundschaften im Wesentlichen nur vermuten und nicht komplett rekonstruieren, wie dies etwa anhand kaufmännischer Rechnungsbücher möglich wäre. Dennoch deutet die bruchstückhaft überlieferte regionale Verteilung der Kredite an, wie vorsichtig Händler bei der Gewährung von Krediten verfuhren. Waren die Herkunftsorte von Händlern und Käufern weit voneinander entfernt, so bestanden Händler offenbar meist auf Barzahlung. Das gilt allerdings nicht im Umkehrschluss: Räumliche Nähe bedeutete nicht zwangsläufig die Gewährung eines Kredits. Wichtig war eine wie auch immer geartete, direkte bzw. vermittelte Bekanntschaft, regelmäßiger Kontakt und damit eine gewisse Kontrolle über den Schuldner. Das Stellen eines dem Händler bekannten Bürgen war eine weitere Sicherheit, die Verkäufer für gewöhnlich bei Stundung von Kaufsummen akzeptierten. Der Einsatz dieser Möglichkeit setzte freilich voraus, dass der Käufer einen solchen Mann stellen konnte, was keineswegs selbstverständlich war. 41 Verkäufer sicherten sich darüber hinaus ab, indem sie Kredite bevorzugt für kurze Laufzeiten gewährten. In der Praxis kam es allerdings wegen der verbreiteten Zahlungsschwierigkeiten regelmäßig zu Stundungen. Ein Teilkredit, das heißt die teilweise Barzahlung und teilweise Stundung des vereinbarten Kaufpreises, stellte unter Umständen eine für beide Seiten akzeptable Lösung dar. Die Verkäufer gelangten auf diese Weise wenigstens an einen Teil des bar geleisteten Kaufpreises. Käufer sicherten sich damit vor dem Risiko eines nicht erkennbaren Mangels des erworbenen Tieres ab. Auch um die Gewährung von Teilkrediten wurde hart gestritten: Jede Seite versuchte, der anderen das höhere Risiko aufzubürden. Dabei gehörte es zu den beliebten Strategien der Käufer, einen bereits auf Bargeld abgeschlossenen Kauf wegen tatsächlich oder vorgeblich vermuteter Mängel nachträglich auf einen Teilkredit zu moderieren. Ein beliebter Trick bei Käufern war in diesem Zusammenhang auch die Behauptung, nicht genügend Bargeld dabei zu haben. Wer wie 1669 Andreas Cordes in der Hoffnung auf die Einigungsbereitschaft des Verkäufers einen Kauf auf Bargeld abschloss, ohne das nötige Geld dabei zu haben, büßte seine Fehleinschätzung unter Umständen mit der Zahlung von Schadensersatz, denn mancher 40 M ARPERGER , Beschreibung (wie Anm. 17), 397. 41 So trat Joachim Schmeltzer etwa 1713 von einem geschlossenen Kauf zurück, weil ihm der Verkäufer einen Teilbetrag nur stunden wollte, wenn er einen Bürgen stellte. Dies war Schmeltzer jedoch nicht möglich; StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2402, 26.6.1713. <?page no="488"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur 489 Verkäufer blieb in einem solchen Fall unnachgiebig und pochte auf die vereinbarte Barzahlung: Andras Cords wird mit jenem [Peter Andreas] eins umb ein Pferdt auff 22 Reichtstaler. Wie es zur Zahlung kommen sollen, hat er nicht mehr Bahrgeldt dann 5 Reichtstaler, übrige 17 Taler will er geborgt haben biß auffs Hannoversche Marckt. Womit aber Venditor nicht zu frieden gewesen, sondern das Geldt jetzo zusammen haben wollen, weil nun [Käufer] mit keinem Zeugen wie er vorgeben darthuen können, daß Venditor solches mitbelibet, ist aus dem Kauff nichts worden, sondern hat dz Pferd Käuffer dem Verkäuffer und 1 Taler 17 Groschen Reukauff dazugeben mußen. 42 In anderen Fällen bangten wiederum Verkäufer nach Vertragsabschluss um ihre Bezahlung, zogen die Bereitschaft zum Teilkredit wieder zurück und behaupteten, auff baar gelt gehandelt zu haben. 43 Auch bei Teilkrediten zog sich die vollständige Ableistung des Kaufpreises unter Umständen hin. In der Praxis stotterte mancher Käufer die gestundete Summe in mehreren kleinen Schritten ab, so dass auch Teilkredite beträchtliche Laufzeiten haben konnten. Um wenigstens in den Besitz eines Teils der gestundeten Summe zu kommen, brachten nicht wenige Verkäufer ähnlich wie Heinrich Reineke einiges Entgegenkommen auf: Hermann Krüger ist von seinem Pferde, welches er von Heinrich Reineke vor ohngefehr 2 Jahren […] gekaufft gehabt 5 Taler schuldig plieben, hat dieselbe deßwegen bißher nicht bezahlen wollen, weil seinem Vorgeben nach daß Pferdt rotzig gewesen sein soll. Worüber Venditor allhier geklagt. Ist die Sache endlich dahin verglichen, daß Käuffer anstatt 5 Taler den Halbscheidt alß 2 Thlr 18 Groschen Verkäuffere bezahlen müssen. 44 Andere Verkäufer ließen sich dagegen weniger erweichen. So hatte Cord Lampe bereits beim Kauf eines Pferdes von Cord Scheunemann mangels Bargeld auf Naturalien zurückgreifen müssen und bot dem Händler, als er diesem die Restschuld nicht zahlen konnte, als Sicherheit für den noch ausstehenden Teilkredit eine Hypothek auf einen Morgen Land an. Der geringe Kaufpreis des Tieres von sieben Talern spricht übrigens für eine eher mindere Qualität, denn ein normales Pferd kostete zwischen zehn und zwanzig Taler. Dessen ungeachtet forderte der Verkäufer das Tier zurück und war nur noch bereit, dem Käufer das Geld für wenige Tage zu stunden: Cord Lampe […] hette Beklagten [Cord Scheunemann] ein Pferd für 7 Taler und einen Himpten Weitzen verkauft und wehre ihm annoch davon 3 Taler 12 Groschen in Rest. […] Beklagter gestehet die Schuld könnte sie aber itzo nicht abführen, zwischen hier und Ostern aber wolte er bezahlen und daher behuef den Actori ein mit Rocken besambten Morgen Landes zur Hypothec setzen auch in wiedrigen Fall alle Unkosten bezahlen. Der Kläger will solches 42 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 28.6.1669. 43 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2402, 19.4.1697. 44 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 26.3.1672. <?page no="489"?> Michaela Fenske 490 nicht annehmen, sondern das Pferd wieder haben [es sei denn] Beklagter würde künfftig Sonntag ihm drey Thalr zahlen, [dann] solte er das Pferd ohne eintzige Einrede wieder bekommen in widrigen Fall aber müste er die Fütterung bezahlen. 45 Solche Fälle zeigen, mit welchen Anstrengungen der Erwerb eines Tieres in weniger begüterten Haushalten verbunden war, und sie lassen erahnen, welche Katastrophe der Verlust eines solchen Tieres im Falle von Zahlungsunfähigkeit oder - auch dies kam nach dem Viehkauf auf dem Markt oft genug vor - das vorzeitige Ableben des Tieres darstellte. Das Maß des Entgegenkommens der Händler im Falle säumiger Schuldner wird von vielen Faktoren abhängig gewesen sein: der individuellen Haltung der Verkäufer, ihrer wirtschaftlichen Situation, nicht zuletzt dem Grad der Bekanntheit und des verbliebenen Vertrauens in die Zahlungsfähigkeit des Käufers. Eine Reihe von Maßnahmen garantierte dem Händler beim Handel auf dem Markt die Rückzahlung seines Kredits. Zu den formalen Maßnahmen zählte die Ausstellung eines gerichtlichen Schuldscheines. Noch mehr Erfolg versprachen unter Umständen die informellen Maßnahmen. Bei Zahlungsunfähigkeit hielten sich die Händler beispielsweise an Verwandte des Schuldners oder an Leute aus dem gleichen Herkunftsort. Gemeindemitglieder fühlten sich nicht zuletzt deshalb zur Zahlung der Schulden anderer Dorfbewohner verpflichtet, weil die Verkäufer ihre schlechten Erfahrungen gegebenenfalls allen Bewohnern des jeweiligen Ortes anlasteten. So beschimpfte der zur auf dem Hildesheimer Markt bekannten Familie Nortmeyer gehörende Rosshändler Diedrich Nortmeyer auf dem Ostermarkt 1680 alle Bewohner des Dorfes Rhüden im Harz als Betrüger und Diebe und verweigerte dem aus Rhüden stammenden Andreas Herrenberg die Kreditierung eines Teiles des Kaufpreises für ein Pferd. Hintergrund des Streits war ein Konflikt zwischen Nortmeyer und dem Schwager des Käufers, von dem sich der Pferdehändler um die Restsumme eines früheren Kaufes betrogen fühlte. 46 Gerade Mitglieder kleinbäuerlich strukturierter Gemeinden, die auf Kredite besonders angewiesen waren, reagierten sehr sensibel auf solches Geschrei. Der Rufmord in der Öffentlichkeit des Marktes als eine der letzten Möglichkeiten der Geldeintreibung bestätigt umgekehrt die in der Forschung vielfach herausgestellte große Bedeutung der Reputation als eines wichtigen sozialen Kapitals im Handelsgeschäft. Andere Verkäufer griffen zu Formen der Selbsthilfe und holten sich aus der Koppel des säumigen Zahlers kurzerhand das betreffende Tier als Pfand für die Restsumme: Hermann Westphal […] hat von Jobst Pleßer und deßen Camaradt 2 Pferde im Jungsten Marckte zu Eltze gekaufft gehabt vor 44 Taler, darauff er ihm in unterschiedenen Posten 31 Taler bezahlt undt ihm 13 Taler schuldig bliebn. Wie nun Käuf- 45 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2402, undatiert 1701. 46 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 26.4.1680. <?page no="490"?> Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur 491 fer dazu nachgehends nicht rahten können, nimmt der Käuffer Jobst Pleße das beste Pferdt wieder zu sich und will daßelbe nicht höher als für den Rest der 13 Taler abrechnen, worüber sich Käuffer […] enorm beklaget undt Nachschuß vom besagten Jobst Pleßen begehret. Hat sich aber endlich auff 5 Taler mit dem Verkäuffer verglichen […]. 47 Trotz aller Wehklagen des Käufers stand auch am Ende dieses Verfahrens wie in vielen anderen der vor dem Marktgericht verhandelten Fälle ein Vergleich. Unter den schwierigen Bedingungen des Handelns in der Frühen Neuzeit waren die Geschäftspartner untereinander auf ein gewisses Maß an Kompromissbereitschaft und Fairness angewiesen. 5. Kredit als Teil einer „Kultur des Risikoausgleichs“ „Ich habe Euch dz Pferd abgekaufft sehet zu und betriget mich nicht“ mit diesen Worten schloss Hans Bussen 1681 seinen Kauf mit Jürgen Angermann. 48 Auch andere Käufer betonten, dass sie „auf gutem Glauben“ den Kontrakt schlössen. Auf der anderen Seite waren Händler im Hinblick auf die Zahlungswilligkeit und Zahlungsfähigkeit ihrer Kunden zuversichtlich und gewährten ganz oder zumindest teilweise Kredit. Auf die komplexen ökonomischen Risiken, die mit dem Viehhandel verbunden waren, reagierten die Akteure auf dem Markt flexibel, für wirtschaftliche Probleme gab es vielfältige kulturelle Antworten. Die Hildesheimer Befunde zeigen, dass und inwieweit das Vertrauen der Handelspartner wesentlich auf einer Handelspraxis ruhte, in der Risiken für die einzelnen Beteiligten reduziert und untereinander aufgeteilt wurden. Dass dies auch den moralischen Ansprüchen der Beteiligten entsprach, lassen gelegentliche Randbemerkungen vermuten. 49 Diese Kultur des Risikoausgleichs schloss zugleich profitorientiertes und eigennütziges Handeln keineswegs aus. Die Analyse der in diesem Beitrag nicht näher behandelten Praktiken des Feilschens oder der im Falle späterer Reklamationen zu Tage kommenden haarsträubenden Verkaufstricks und -kniffe der Händler zeigen, mit welchem Kalkül und mit welcher Gewitztheit sowohl Händler als auch Käufer auf dem Hildesheimer Markt ihre ökonomischen Ziele verfolgten. 50 Die besonderen Bedingungen frühneuzeitlichen Wirtschaftens, die Unsicherheit und Knappheit, zeitigten enge Handlungsspielräume. Daraus resultierte eine Vielzahl spezifischer Praktiken, von denen hier einige hier beispielhaft beschrieben worden sind. Wenn sich mittels der Marktprotokolle auf dem beispielhaft ausgewählten Hildesheimer 47 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 10.4.1654. 48 StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 21.3.1681. 49 So wurde im Schadensfall etwa gefordert, dass kein Partner den Schaden alleine haben dürfe, zum Beispiel StArch Hildesheim, Bestand 50, Nr. 2400, 18.3.1678. 50 Vgl. F ENSKE , Marktkultur (wie Anm. 14), bes. 195-234. <?page no="491"?> Michaela Fenske 492 Markt zugleich Praktiken und Einstellungen beobachten lassen, die modern anmuten, so liegt dies daran, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten mit ähnlichen Praktiken auf vergleichbare ökonomische Herausforderungen reagieren. Doch sind diese in andere Kontexte integriert und werden von weiteren spezifischen Praktiken flankiert. Insofern stellt sich die hier beschriebene Wirtschaftsweise als eine Mischung unterschiedlicher, aus heutiger Perspektive bekannter, und anderer, in der spezifischen frühneuzeitlichen Lebenswelt begründeter Elemente dar. Daraus ließe sich folgern, dass historischer Wandel eine offene und keineswegs lineare Entwicklung bedeuten würde; einen Fortschritt im Sinne moderner Utopien gäbe es nicht. Was den frühneuzeitlichen Markt und seine Wirtschaftsweise betrifft, so hat ihn die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Laurence Fontaine erst kürzlich als „die beste kaufmännische Organisation“ bezeichnet, die unter diesen spezifischen Bedingungen möglich war. 51 51 L AURENCE F ONTAINE , Bemerkungen zum Kauf als soziale Praxis. Feilschen, Preise festlegen und Güter ersteigern im frühneuzeitlichen Europa, in: Historische Anthropologie 14 (2006), 334-348, hier 337. <?page no="492"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts Susanne Schötz In Forschungen zur Geschichte der Frauenarbeit im Mittelalter und insbesondere im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit dominierten lange Zeit die vielfach bestätigten Ergebnisse und Thesen Karl Büchers. Dieser hatte 1882 in einem berühmt gewordenen Vortrag behauptet, dass Frauen im Mittelalter von keinem Gewerbe ausgeschlossen gewesen seien, zu dem ihre Kräfte reichten - weder als Lehrlinge und Gehilfinnen noch als Meisterinnen. 1 Diese Sicht auf das Mittelalter als „goldenes Zeitalter“ der Frauenarbeit ist erst relativ spät in Frage gestellt und schließlich 1980 durch Kurt Wesolys fundamentale Quellenkritik an den Untersuchungen Karl Büchers, Helmut Wachendorfs, Wilhelm Behagels und anderen dekonstruiert worden. 2 Seitdem werden die Möglichkeiten von Frauen zur eigenständigen Gewerbeausübung im hohen und späten Mittelalter vorsichtiger beurteilt, 3 doch sind problemorientierte Detailstudien, die die konkrete Teilhabe von Frauen an einzelnen Gewerben und zu verschiedenen Zeitpunkten unter breitester Einbeziehung normativer wie nicht normativer Quellen erforschen, nach wie vor selten. So existieren über Handelsfrauen zwar einzelne, häufig zitierte Belege, doch stammen diese nicht selten aus den von Wesoly quellenkritisch widerlegten älteren Forschungen. Zur konkreten Untersuchung der Handelstätigkeit von Frauen im Spätmittelalter bzw. zu Beginn der Frühen Neuzeit trugen in jüngerer Zeit hauptsächlich Margret Wenskys Dissertation über die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft, Merry E. Wiesners in Süddeutschland ange- 1 Vgl. K ARL B ÜCHER , Die Frauenfrage im Mittelalter: Vortrag, gehalten am 28. März 1882 im Liebigschen Hörsaale zu München, Tübingen 1882, 15. 2 Vgl. K URT W ESOLY , Der weibliche Bevölkerungsanteil in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten und die Betätigung von Frauen im zünftigen Handwerk (insbesondere am Mittel- und Oberrhein), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 128 (1980), 69-117; siehe auch: H ELMUT W ACHENDORF , Die wirtschaftliche Stellung der Frau in den deutschen Städten des späten Mittelalters, Quakenbrück 1934. 3 Siehe hierzu die Forschungsüberblicke von B ARBARA H ÄNDLER -L ACHMANN , Die Berufstätigkeit der Frau in den deutschen Städten des Spätmittelalters und der beginnenden Neuzeit, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 30 (1980), 131-175; C HRISTINA V ANJA , Zwischen Verdrängung und Expansion, Kontrolle und Befreiung - Frauenarbeit im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 79 (1992), 457-482 sowie E RIKA U ITZ , Frauenarbeit im Handwerk. Methodenfragen und inhaltliche Probleme, in: „Was nützt die Schusterin dem Schmied? “ Frauen und Handwerk vor der Industrialisierung, K ATHARINA S IMON -M USCHEID (Hrsg.), Frankfurt a.M. / New York 1998, 35-52. <?page no="493"?> Susanne Schötz 494 siedelte Studie „Working Women in Renaissance Germany“, Ingrid Bátoris Arbeit über Frauen in Handel und Handwerk in der Reichsstadt Nördlingen, Klaus Arnolds Beitrag über Frauen in den mittelalterlichen Hansestädten Hamburg, Lübeck und Lüneburg, Monika Salets Aufsatz über Handelsfrauen in Frankfurt am Main, die 1995 vorgelegte Studie von Grethe Jacobsen zur dänischen städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters bzw. der Reformationszeit sowie Sheilagh C. Ogilvies Buch über Frauenarbeit in Wildberg (Württemberg) bei. 4 Zu nennen ist auch Gertrud Schmidts Untersuchung zur berufstätigen Frau in Nürnberg aus dem Jahre 1950, die zeitlich allerdings zwischen der älteren und neueren Beschäftigung mit Phänomenen der Frauenerwerbsarbeit liegt. 5 Dabei konstatiert Wensky große Selbständigkeit von Frauen im Kölner Handel und Gewerbe, wie sie in keiner anderen deutschen Stadt des Spätmittelalters erreicht worden sei, 6 doch auch Wiesner, Schmidt und Bátori bestätigen das Vorhandensein zahlreicher Frauen im Verkauf von Handwerkswaren, Lebensmitteln sowie im Klein- und Kleinsthandel. Weitaus vorsichtiger beurteilen dagegen Arnold, Salet, Jacobsen und Ogilvie die Möglichkeiten weiblicher Handelstätigkeit. Vielleicht reichen auch die Prognosen für den Bereich der weiblichen Handelstätigkeit aufgrund des Mangels an konkreter Tatsachenfeststellung aus dem Spätmittelalter bzw. vom Beginn der Frühen Neuzeit von der Verdrängungsthese bis zur Behauptung nicht erkennbarer Beschränkung, ja sogar beständiger Verbesserung selbständiger Positionen von Handelsfrauen. 7 4 Vgl. M ARGRET W ENSKY , Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter, Köln / Wien 1980; M ERRY E. W IESNER , Working Women in Renaissance Germany, New Brunswick, N.J. 1986; K LAUS A RNOLD , Frauen in den mittelalterlichen Hansestädten Hamburg, Lübeck und Lüneburg - eine Annäherung an die Realität, in: Frauen in der Ständegesellschaft. Leben und Arbeiten in der Stadt vom späten Mittealter bis zur Neuzeit, B ARBARA V OGEL / U LRIKE W ECKEL (Hrsg.), Hamburg 1991, 69-88; I NGRID B ÁTORI , Frauen in Handel und Handwerk in der Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert, in: ebd., 27-47; M ONIKA S ALET , Handelsfrauen in Frankfurt im 15. und 16. Jahrhundert, in: Brücke zwischen den Völkern - Zur Geschichte der Frankfurter Messe, R AINER K OCH (Hrsg.), 3 Bde., Frankfurt a. M. 1991, Bd. 2, 272-279; G RETHE J A- COBSEN , Zusammenfassung, in: DIES ., Kvinder, køn og købstadslovgivning 1400 - 1600, lovfaste Mænd og ærlige Kvinder. Mit deutscher Zusammenfassung, København 1995, 351-368 sowie S HEI - LAGH O GILVIE , A Bitter Living. Women, Markets, and Social Capital in Early Modern Germany, Oxford 2003. 5 G ERTRUD S CHMIDT , Die berufstätige Frau in der Reichsstadt Nürnberg bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Inaugural-Dissertation, MS, Erlangen 1950. 6 Vgl. W ENSKY , Stellung der Frau (wie Anm. 4), 318f. Wensky stellte für Köln die Frauenzünfte der Garnmacherinnen, Goldspinnerinnen, Seidweberinnen und Seidspinnerinnen fest - ein in der westeuropäischen Wirtschaftsgeschichte seltener Fall. Vergleichbare Phänomene sind bislang nur für Paris und Nördlingen bezeugt. Siehe ebd., 319, sowie U ITZ , Frauenarbeit im Handwerk (wie Anm. 3), 51. Vgl. auch S CHMIDT , Die berufstätige Frau in der Reichsstadt Nürnberg (wie Anm. 5), insbesondere 55-78. 7 Während beispielweise Wensky Verdrängung konstatiert, spricht Olwen Hufton von der Allgegenwart der Frauen als Händlerinnen auf dem Markt zwischen 1500 und 1800 in ganz Europa, wenngleich diese nicht mit sämtlichen Produkten handeln durften. Dagegen betont Schmidt die beständige Ver- <?page no="494"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 495 Im Rahmen einer größeren eigenen Untersuchung zur Geschichte weiblicher Handelstätigkeit in Leipzig, die vom ausgehenden 15. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert reichte, kam dem 16. Jahrhundert in zweifacher Hinsicht besondere Bedeutung zu. 8 Zum einen erbrachte die epochenübergreifende Analyse von rechtlichen Strukturen, quantitativen Anteilen und des konkreten Arbeitsalltages vielfache Belege dafür, dass im 16. Jahrhundert die Möglichkeiten zur eigenständigen Handelstätigkeit von Frauen noch deutlich größer als in der Zeit vom 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren. Zum anderen erwies sich jedoch ebenso unzweifelhaft, dass im 16. Jahrhundert grundlegende Weichenstellungen zur Verschlechterung eigenständiger wirtschaftlicher Positionen von Frauen und zur Einschränkung weiblicher Handlungsspielräume im Detailhandel erfolgten. Dieser Doppelcharakter des 16. Jahrhunderts für die Teilhabe von Frauen am Handelsleben der Stadt Leipzig soll im Folgenden näher erläutert werden. 9 1. Der grundsätzliche rechtliche Rahmen Zunächst einmal war für die eigenständige Gewerbeausübung von Frauen in der Welt des Leipziger Handels die in Sachsen erfolgte rechtliche Sonderstellung von Handelsfrauen von grundlegender Bedeutung. Diese hatte sich als notwendig erwiesen, weil durch das in Sachsen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geltende Institut der Geschlechtsvormundschaft die allgemeine Geschäfts- und Handlungsfähigkeit von Frauen stark eingeschränkt war. So bedurften Frauen vor Gericht und in allen Verträgen, in denen sie sich gegenüber Dritten verpflichteten, eines männlichen Vormundes. Die rechtliche Sonderstellung von Handelsfrauen beinhaltete deshalb, dass Handelsfrauen ohne Hinzuziehung eines Vormundes verbindlich Geschäfte abschließen durften und dafür in vollem Umfang haftbar waren. Im Schadensfall mussten sie mit dem Verlust des gesamten, auch des eingebrachten Vermögens rechnen. 10 besserung selbständiger Positionen von Handelsfrauen im Laufe der Neuzeit. Vgl. M ARGRET W ENSKY , Frauen in der Hansestadt Köln im 15. und 16. Jahrhundert, in: V OGEL / W ECKEL , Frauen in der Ständegesellschaft (wie Anm. 4), 49-68, hier 60ff.; O LWEN H UFTON , Frauenleben. Eine europäische Geschichte 1500-1800, Frankfurt a. M. 1999, 232 und 240 sowie S CHMIDT , Die berufstätige Frau in der Reichsstadt Nürnberg (wie Anm. 5), 78. 8 Es handelt sich dabei um mein Habilitationsprojekt; vgl. S USANNE S CHÖTZ , Handelsfrauen in Leipzig. Zur Geschichte von Arbeit und Geschlecht in der Neuzeit, Weimar / Köln / Wien 2004. 9 Alle im folgenden genannten Fakten, geäußerten Behauptungen und gezogenen Schlussfolgerungen sind detailliert in meiner Habilitationsschrift belegt; vgl. deshalb grundsätzlich die ausführlichen Darlegungen in: S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8). 10 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 1: Die rechtliche Stellung von Handelsfrauen nach sächsischem Recht: ein Überblick. <?page no="495"?> Susanne Schötz 496 Handelsfrauen besaßen damit in der unmittelbaren Gewerbeausübung die gleichen Rechte und Pflichten wie ihre männlichen Kollegen, was einer grundlegenden Tendenz zur Gleichstellung von Männern und Frauen und damit zu egalitären Geschlechterverhältnissen in der Welt des Handels gleichkommt. Die entsprechenden Regelungen sind sehr alt; sie reichen gewohnheitsrechtlich wohl bis ins hohe Mittelalter zurück und resultieren wesentlich aus dem Erbrecht von Kaufmannstöchtern und Kaufmannswitwen und aus der zugleich marktwirtschaftlichen wie familienwirtschaftlichen Organisation des Tertiärsektors jener Zeit. 11 Die rechtliche Sonderstellung von Handelsfrauen fand 1572 zum ersten Mal Aufnahme in ein sächsisches Gesetzeswerk, in die von Kurfürst August erlassenen Constitutionen. Darin heißt es: und insonderheit denen Weibs=Personen, so zu handthieren pflegen, mit kauffen und verkauffen, in denen Kramen und andern dergleichen Waaren, ohne Vormünden, beständig und verbindlich zu schliessen und zu handeln, hiermit unbenommen seyn soll. 12 Die rechtliche Sonderstellung von Handelsfrauen wurde damit als Ausnahmeregelung zu einem Zeitpunkt kodifiziert, da sich mit der ausdrücklichen landesherrlichen Bestätigung der allgemeinen Geschlechtsvormundschaft und der gleichzeitigen Rezeption römischen Rechts und des hier geltenden Interzessionsverbots für Frauen die rechtlichen Handlungsbedingungen von Frauen verschlechterten. Dass der Gesetzgeber das weitaus ältere Gewohnheitsrecht von Handelsfrauen unmissverständlich bekräftigte, deutet darauf hin, dass es am Beginn der Frühen Neuzeit eine hinreichend große Zahl eigenständiger, ihr Gewerbe selbständig ausübender Händlerinnen gab, an deren Verbindlichkeit die männliche Handelswelt zutiefst interessiert war. Der Gesetzgeber trug insofern ganz wesentlich einem Kapitalbedürfnis der Akteure des sich entfaltenden Marktes des 16. Jahrhunderts Rechnung. Auch bei der Weiterentwicklung des Leipziger Handelsrechts 1682 ist der Grundsatz der gleichen Verbindlichkeit von Männern und Frauen in der Welt des Handels erneut berücksichtigt und schrittweise umgesetzt worden. Vor allem an der Wechselgesetzgebung lässt sich nachweisen, dass sie die vollständige Haftbarkeit von Groß- und Fernhändlerinnen als verlässliche Schuldnerinnen wie Kreditgeberinnen sicherstellen sollte. Sie zielte auf die vollständige männliche Nutzung weiblichen Vermögens in der schrankenlo- 11 Vgl. G UDRUN W ITTEK , Bemerkungen zur Rolle der Frau in den mittleren Handels- und Gewerbestädten des nördlichen Harzvorlandes von der Zeit ihrer Entstehung bis zum Höhepunkt ihrer kommunalen Autonomie, in: Untersuchungen zur gesellschaftlichen Stellung der Frau im Feudalismus, Historiker-Gesellschaft der DDR (Hrsg.), Magdeburg 1981, 70-80. 12 Vgl. Codex Augusteus oder neuvermehrtes corpus juris Saxonici, worinnen die in dem Churfürstenthum Sachsen und darzu gehörigen Landen, auch denen Marggrafenthümern Ober- und Nieder-Lausitz, publicirte und ergangene Constitutiones, Decisiones, Mandata und Verordnungen enthalten, nebst einem Elencho, dienlichen Summarien und vollkommenen Registern ... ans Licht gegeben und in richtige Ordnung gebracht von J OHANN C HRISTIAN L ÜNIG , Bd. 1.2. Leipzig 1724, 89. <?page no="496"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 497 ser werdenden Verkehrswirtschaft ab, gewährleistete aber zugleich die Teilhabe dieser Frauen an neuen innovativen Handelspraktiken und der Entgrenzung der Warenwirtschaft. 13 2. Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts: ein Überblick So unentbehrlich die rechtliche Sonderstellung von Handelsfrauen für ihre selbständige Gewerbeausübung in Sachsen auch war, so wenig beinhaltete sie doch für all jene Frauen, die als Händlerinnen tätig sein wollten, bereits das Recht dazu. Denn dieses war von den spezifischen örtlichen Festlegungen für einzelne Händlergruppen abhängig: 1. Innerhalb der vielschichtigen Welt des Leipziger Handels gebührte den Groß- und Fernhändlern das Recht, Handel im Großen, das heißt in großen Mengen zu betreiben, und folglich vor allem die Zwischenhändler zu beliefern. Sie waren im 16. Jahrhundert weder in einer Innung noch einer sonstigen Körperschaft vereint und hinterließen daher weder Innungsartikel noch Aufnahmelisten oder Mitgliedsverzeichnisse. Das macht die Suche nach den Frauen unter ihnen schwierig - dass es sie als eigenständige Händlerinnen gab, verdeutlichen vor allem Rechtsstreitigkeiten wie ein Rechtsfall aus dem Jahre 1673, in dem es um die Begleichung der Wechselschuld von Hieronymus Zankens Eheweib ging. 14 2. Als am frauenfreundlichsten erwiesen sich in Leipzig die Innungsartikel der Höken aus dem Jahre 1504. Höken, damals Hocken genannt, waren städtische Händler, die mit landwirtschaftlichen Produkten wie Butter, Käse, Eiern, Speck, Trockenfleisch, Hühnern und Gänsen, Mohn, Hanf, Nüssen, Kastanien, Birnen und anderem Obst handelten. Der Hökenordnung von 1504 zufolge durfte in Leipzig jeder Mann und jede Frau mit Lebensmitteln handeln, wenn die betreffenden das Bürgerrecht und die an Gebühren gebundene Innungsmitgliedschaft erlangt hatten. So regelte Punkt 1: Czum ersten sal kein man oder weib Burger ader burgeryn hocken, er habe dan der hocken Innunge gewonen, vnnd sal die selbige gewynnen mit fünff groschen, die sal er zum ersten In die Innunge geben, vnnd darnach alle weichfasten sechs alte pfennige. 15 Rein formal gesehen besaßen damit beide Geschlechter die gleichen Zugangsmöglichkeiten zur selbständigen Gewerbeausübung im Lebensmittel- 13 Vgl. im einzelnen S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 1: Die rechtliche Stellung von Handelsfrauen nach sächsischem Recht: ein Überblick, insbesondere 59-67. 14 S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), 51-55. 15 Vgl. G USTAV W USTMANN , Leipziger Höken=Ordnung von 1504, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs 2 (1878), 7-10, hier 7. <?page no="497"?> Susanne Schötz 498 handel. Allerdings hat sich die Innung der Höken aus bislang unbekannten Gründen bereits 1513 aufgelöst. Während sich der Hökenordnung von 1504 entnehmen lässt, dass die Höken nicht nur während der Markttage, sondern auch zwischen diesen in ihren Häusern oder in sonstigen Verkaufslokalen und sogar außerhalb Leipzigs Handel trieben, mussten sie im 17. und 18. Jahrhundert eine drastische Verschlechterung ihres Handelsrechts hinnehmen. Nach der Marktordnung von 1723 war es ihnen nur noch wenige Stunden lang an den drei Markttagen und auf dem Marktplatz gestattet, Handel zu treiben, was die Warenabsatz- und Gewinnmöglichkeiten enorm einschränkte. Damit war der Hökenhandel nur noch für jene Menschen attraktiv, die kaum andere Einkommensperspektiven besaßen. Sein Beispiel belegt in eindrucksvoller Weise, wie mit der Einschränkung des Gewerberechts die soziale Deklassierung und Feminisierung des Gewerbes einherging, setzten sich doch sämtliche Höken des Jahres 1726 aus Schutzverwandten und nicht mehr aus Bürgern zusammen, und 129 von 130 Höken waren nun weiblich. 16 3. Ganz anders entwickelte sich dagegen die Geschlechterrelation im Leipziger Kramwarenhandel. 17 Kramer waren jene Händler, die das Recht zum Handel mit Waren des täglichen Bedarfs in kleinen und kleinsten Mengen, der so genannten Stück- und Pfennigware, beanspruchten. Sie waren schon frühzeitig in einer Innung organisiert und haben vielfältige Quellen mit hohem Aussagewert hinterlassen. Das in den Kramerartikeln überlieferte Handelsrecht aber sah zu keinem Zeitpunkt grundsätzlich gleiche Teilhabemöglichkeiten für Männer und Frauen vor. So sind im Unterschied zur Hökenordnung von 1504 in allen vorliegenden Kramerordnungen - und das waren immerhin elf verschiedene Ordnungen für den Zeitraum von 1477 bis 1695 - sämtliche Paragraphen, die die Aufnahme in die Innung regelten, explizit an männliche Adressaten gerichtet. So heißt es beispielsweise um 1477: Keiner soll aufgenommen werden, der nicht Brief und Siegel seiner Geburt und des redlichen Herkommens vorlegt, einen bestimmten Aufnahmebeitrag in Bargeld und Wachs erlegt, dem man nicht die Artikel vorgelesen und der sich nicht zu Gehorsam verpflichtet hat. Um 1543: Keiner soll in die Innung genommen werden, der nicht Bürger ist, Gehorsam gelobt und 16 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 3: Der Wochenmarkt und seine Händlerinnen. Die Verpflichtung, das Bürgerrecht zu gewinnen, bestand nur für diejenigen, die entweder über Haus- und Grundbesitz in der Stadt verfügten oder ein selbständiges Gewerbe ausübten - zumeist also für Angehörige der städtischen Mittel- und Oberschichten. Die dafür zu entrichtenden Bürgerrechtsgebühren lagen wesentlich höher als die Schutzgebühren. Diese wurden von den Schutzverwandten für die Gewährung des Schutzrechtes bezahlt. Schutzverwandte waren damit jene Einwohner, die in Leipzig mit eigenem Haushalt, jedoch ohne Haus- und Grundbesitz und ohne Ausübung eines „bürgerlichen Gewerbes“ lebten - zumeist also Lohnarbeiter unterschiedlicher Art. 17 Vgl. zum Folgenden S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel. <?page no="498"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 499 ein bestimmtes, nunmehr höheres Aufnahmegeld, differenziert für „halbe“ und „ganze“ Kramer entrichtet. 18 Frauen kamen in Kramerordnungen lediglich als Familienangehörige von Kramern vor. Die entsprechenden Innungsartikel lassen auf ihre selbstverständliche Mitarbeit im Kramhandel des Ehemanns schließen, ohne jedoch Spezifika ihrer Handelstätigkeit zu regeln. Sie stellten damit die Teilhabe von Ehefrauen an den Geschäften ihres Ehemannes ganz in das Belieben des Ehemannes als des Familienoberhauptes und Geschlechtsvormundes. Dies schloss allerdings keinesfalls aus, dass Frauen mit großer Umsicht und in zum Teil höchst eigenständigen Rollen am gewerblichen Arbeitsalltag teilnahmen, wie das unter anderem der verbotene so genannte Handel an zwei Orten belegt. 19 Die Mitarbeit von Ehefrauen und weiblichen Familienangehörigen ist nicht nur im 16. Jahrhundert, sondern durch die Jahrhunderte hindurch in breiten Schichten des Handelsstandes nachweisbar. Diese alte, auf dem Ehepaar als Arbeitspaar beruhende zugleich familienwirtschaftliche und kleingewerbliche Existenzweise im Handel lässt sich als eine sozialökonomische Struktur langer Dauer beschreiben, die in zeitgenössischen bildlichen Darstellungen ihren Niederschlag fand. Dennoch bleibt festzuhalten, dass ein Recht zum Handel mit Kramwaren und damit zur eigenständigen Gewerbeausübung ausschließlich für Witwen und hinterlassene Töchter von Kramern kodifiziert worden ist und an bestimmte Bedingungen gebunden war. 20 Frauen sollten folglich erst nach dem Tod des Familienoberhauptes in eigenständige wirtschaftliche Positionen gelangen. Damit legte das geschriebene Kramerrecht für sie eindeutig unter- und nachgeordnete Rollen fest, es legitimierte eine geschlechtshierarchische Struktur des Arbeitens und Lebens in der Innung. 18 Vgl. S IEGFRIED M OLTKE , Die Leipziger Kramer-Innung im 15. und 16. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zur Leipziger Handelsgeschichte, Leipzig 1901, 104-107, sowie Stadtarchiv Leipzig (SAL), Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 7-8 und 11-13. „Ganze“ Kramer gehörten ausschließlich der Kramerinnung an, während „halbe“ Kramer auch noch in einem anderen Gewerbe, zum Beispiel einem Handwerk tätig waren. 19 Es war durch die Jahrhunderte hindurch verboten, dass ein Kramer Handel an zwei Orten zugleich betrieb, dass er also beispielsweise seine Waren während der Markttage in einer Marktbude und zugleich in einem Kaufgewölbe oder in zwei Marktbuden, zwei Kaufgewölben usw. anbot. Tatsächlich ist der Handel an zwei Orten jedoch immer wieder von Kramerehepaaren praktiziert worden, indem zum Beispiel der Mann im Kaufgewölbe verkaufte, die Frau aber während dessen in der Marktbude Waren feilhielt; vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel. 20 Dazu gehörten „Wohlverhalten“ sowie die Pflicht, nicht aus der Innung heraus zu heiraten. Tat dies die Witwe oder Tochter eines Kramers, verlor sie die Innungsmitgliedschaft und damit das Recht zum Kramwarenhandel. Damit seiner Frau das so genannte Witwenrecht gebührte, musste ein Kramer für sie allerdings das so genannte Weibergeld bezahlt haben. Auch eine ledige Kramertochter, die selbständig Kramerei betreiben wollte, hatte zunächst eine gewisse Aufnahmegebühr zu entrichten, doch war diese, wie auch für Kramersöhne, um die Hälfte niedriger als das sonst bei der Innungsaufnahme zu bezahlende Geld; vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel. <?page no="499"?> Susanne Schötz 500 Interessanterweise sprechen jedoch die vorhandenen Mitglieds-, vor allem aber die Aufnahmeverzeichnisse der frühen Zeit (1477-1604) eine Sprache, die dem überlieferten Aufnahme- und Mitgliedsrecht der Kramerinnung widerspricht: Sie weisen immer wieder, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, Frauen aus, die die Innungsmitgliedschaft und damit das Recht zur Kramerei gewonnen haben, ohne Ehefrauen, Witwen oder hinterlassene Töchter von Kramern gewesen zu sein. Obgleich den Verzeichnissen zufolge auch im 16. Jahrhundert die Aufnahme als Ehefrau eines Kramers der häufigste Weg von Frauen in die Innung war, existierte offensichtlich die Möglichkeit der Innungsaufnahme von Frauen unabhängig von der Verwandtschaft mit einem Kramer. Der Anteil solcher in die Innung aufgenommener Frauen betrug einem von Siegfried Moltke 1901 publizierten Aufnahmeverzeichnis der Jahre 1477 bis 1548 zufolge 24 Frauen oder 11 Prozent 21 ; nach der von mir ausgewerteten Aufnahmeliste des Zeitraums 1549 bis 1579 waren es 41 Frauen oder 24 Prozent der Aufgenommenen, im Zeitraum 1582 bis 1588 14 Frauen oder 30 Prozent und im Zeitraum 1589 bis 1604 bei 13 Frauen noch 16 Prozent. Dabei lassen sich einige Grundmuster der eigenständigen Innungsaufnahme von Frauen im 16. Jahrhundert erkennen. So haben Frauen erstens die Innungsmitgliedschaft für sich selbst gewonnen. Dabei handelte es sich um verheiratete Frauen, die unabhängig von ihren Ehemännern einen Kramwarenhandel betrieben, aber auch um verwitwete Frauen. Einige dieser Frauen sind nur gegen Auflagen in die Innung aufgenommen worden. So wurde beispielsweise ausdrücklich festgelegt, dass den Ehemännern das Recht zum Kramhandel nicht gebühre, es sei denn, sie gewännen gegen ein Aufnahmegeld und die Gewinnung des Bürgerrechts selbst die Innungsmitgliedschaft. So heißt es 1554 im Fall der Else Kabischin, dass ir mann keine gerechttigkeit an der Innung hat, er gewinne dan die Innung mit 7 ½ fl auch, vnd dass er purger sey. 22 Oder aber es wurde den Frauen nur der Handel mit ganz bestimmten, häufig von ihnen selbst hergestellten Waren gestattet - so im Jahr 1577 der Schmittin, einer Witwe, dass sie soll bei ieren iezig waren als haub und porth, welche sie selbst macht, bleiben. 23 Auch für die Reichin hält das Aufnahmeprotokoll 1589 fest, welche Waren sie verkaufen darf: sol feill haben hauben, porth, zwirn vnd was sie sonst machen kann vnd hat. 24 21 Das eigentliche Verzeichnis umfasst nur den Zeitraum von 1477 bis 1548, doch ist dem eine Liste mit den Namen derjenigen Frauen beigefügt, die zwischen 1549 und 1554 „auf Bitten des Rates“ in die Kramerinnung aufgenommen wurden. Sie fanden sich in unterschiedlicher Diktion im Kramermemorial 1543-1631 wieder und wurden der Aufnahmeperiode 1549-1579 zugeordnet. Vgl. M OLTKE , Die Leipziger Kramer-Innung (wie Anm. 18), sowie S CHÖTZ , Handelsfrauen in Leipzig (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel. 22 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 32 RS. 23 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 43. 24 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 73 RS. <?page no="500"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 501 Zweitens gewannen Frauen die Innungsmitgliedschaft vor sich und ire kinder. Das ist beispielsweise für Regina christoff witherin, ein wittwe vorm grimbsch thor im Jahre 1573 nachweisbar, aber auch für Bendix Fritzschens Eheweib Catharina 1576 und für die Hans Preussin Withwe 1577. 25 Wiederum praktizierten dies verheiratete Frauen unabhängig von Ehemännern, aber auch Witwen. Auch hier sind mitunter Auflagen zu beobachten, so sollten die Kinder zum Beispiel nach dem Tod der Mutter die Innung nicht mehr, dan zum halben theil genießen 26 und hatten demnach zur Ausübung der Kramerei das halbe Aufnahmegeld zu erlegen. Drittens, und das war seltener, gewannen Frauen die Innungsmitgliedschaft für sich, ihre Männer und Kinder oder nur für sich und ihre Männer. So zum Beispiel 1572 die Jacoff Hennickin, schrifftgiesserin, von der es heißt, sie habe die Innung vor ir person [...] vnd auch vor Ihren Mann, vnd also beide gewonnen. 27 Viertens kam es vor, dass innungsfremde Männer, beispielsweise Handwerker oder andere Händler, die Innungsmitgliedschaft für ihre Frauen gewannen - wie zum Beispiel 1563 Tobias Pfeiffer, Zockermacher oder 1578 Zacharias, ein hiesiger Weisgerber. 28 Auch hier gingen die Ehepartner demnach unterschiedlichen Gewerben nach. Fünftens erhielten besonders arme Frauen das Kramerrecht aus Gunst der Innung und/ oder auf Bitten des Rates und zumeist nur unter bestimmten Auflagen, so zum Beispiel für eine bestimmte Zeit wie die Augustin Partzschin ölschlägerin [...] uff 2 iar, die Michel Hilleprandin [...] von hier bis Weihnachten, die Gertrautt Lehmannin [...] biss sie sich vorehlicht. 29 Oder aber nur für den Verkauf ganz bestimmter, wiederum meist selbst gefertigter Waren. Schließlich gewannen auch innungsfremde Männer gemeinsam mit ihren Frauen das Kramerrecht. Diese Männer waren Handwerker, beispielsweise Goldschmiede, Weißgerber, Seidensticker, Zuckermacher; sie sind auch Stadtpfeifer oder andere Händler, wie die damals noch nicht zur Innung gehörenden Eisen- und Baretkramer, gewesen. Als Beispiele seien Melchor Steinert, ein Schuhflicker, und seine Frau aus dem Jahre 1549 30 und Abraham Sperling, ein Kürschner, und seine Frau aus dem Jahre 1590 31 angeführt. 25 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 40, 42 RS sowie 46. 26 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 40 und 46. 27 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 39 RS. 28 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 36 RS sowie 47 RS. 29 Vgl. M OLTKE , Die Leipziger Kramer-Innung (wie Anm. 18), 130f. 30 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 29. 31 SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 2, Bl. 74. <?page no="501"?> Susanne Schötz 502 4. Im Unterschied zu den Höken und der Kramerinnung war der Leipziger Fischhandel im 16. Jahrhundert durch eine Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung gekennzeichnet, bei der männliche Großhändler, die so genannten Fischhändler, mit weiblichen Detailhändlerinnen, den so genannten Heringsweibern oder Heringshöken, Hand in Hand arbeiten. Während den Fischhändlern das Recht zukam, den in Leipzig benötigten Fisch in großen Mengen auf auswärtigen Handelsplätzen zu erwerben und nach Leipzig einzuführen, besorgten die Heringsweiber den Fischverkauf vor Ort - sie setzten in ihren Heringsbuden an zugewiesenen Plätzen an den Stadttoren die von den Fischhändlern herangeführte Ware in kleinen Mengen oder im Einzelverkauf an die Verbraucher ab. Noch eine Ratsverordnung von 1612 berechtigte ausschließlich die 20 verordneten, das heißt vom Leipziger Rat speziell hiermit betrauten Heringsweiber zum Fischeinzelverkauf. 32 Obgleich die Heringsweiber ihre Ware nur bei den Leipziger Fischhändlern erwerben durften und insofern völlig unter deren Preisdiktat standen, sicherte ihnen ihr ausschließliches Recht zum Einzelverkauf von Fisch doch stets ein gewisses Auskommen. Diese Organisationsform des Fischhandels zerbrach gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als einige Kramer als Kommissionäre zum Fischverkauf auf Rechnung auswärtiger Kaufleute, doch im eigenen Namen und gegen Provision, übergingen. Sie brachten nun nicht nur selbst den Fisch zu billigeren Preisen als die angestammten Fischhändler in die Stadt, sondern verkauften ihn auch einzeln weiter wie ehedem die Heringsweiber. Diese wie auch die Fischhändler mussten sich nun mit den Kramern alte Rechte teilen. Damit entwickelte sich der Fischeinzelverkauf im 18. Jahrhundert von einem weiblichen Gewerbe zu einem Gewerbe, das beide Geschlechter betrieben. 33 5. Frauen waren im 16. und 17. Jahrhundert in Leipzig nicht nur als Groß- und Fernhändlerinnen, im Höken-, Kramwaren- und Fischeinzelhandel tätig, sie verkauften auch als Ehefrauen, Töchter oder sonstige weibliche Verwandte von Handwerkern den so genannten Handwerkskram, sei es in der Werkstatt, an Marktständen oder in Buden auf dem Leipziger Wochenmarkt. Auch die Leipziger Handwerker hatten im Laufe des 17. Jahr- 32 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 3: Der Wochenmarkt und seine Händlerinnen. Dass wir es hier mit keinem spezifisch Leipziger Phänomen, sondern mit einer offenbar im Spätmittelalter bzw. am Beginn der Frühen Neuzeit weit verbreiteten Organisationsform des lokalen Handels zu tun haben, in die Frauen fest integriert waren, belegen die Untersuchungen von Gertrud Schmidt und Merry E. Wiesner. Schmidt wies für Nürnberg vom 14. bis zum 16. Jahrhundert die Existenz geschworener, das heißt vor dem Amtbuch vereidigter so genannter Käuflinnen nach, Wiesner bestätigt das Vorhandensein solcher „geschworenen“ Markthändlerinnen für süddeutsche Städte überhaupt. Vgl. S CHMIDT , Die berufstätige Frau in der Reichsstadt Nürnberg bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 5), 67ff. sowie W IESNER , Working Women in Renaissance Germany (wie Anm. 4), 138f. 33 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 3: Der Wochenmarkt und seine Händlerinnen, insbesondere 250-260. <?page no="502"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 503 hunderts bedeutende Einschränkungen ihrer Handelsrechte hinzunehmen. Seit 1672 durften sie nur noch eigene, selbstgefertigte Produkte absetzen, aber nicht mehr mit fremder Handwerksware, mit Werkzeugen und Arbeitsmaterialien Handel treiben, wie das andernorts üblich war. 34 6. Während der Leipziger Messen allerdings besaß jeder Mann und jede Frau grundsätzlich das Recht, Handel zu treiben; die Messen wirkten insofern wie ein Ventil in der begrenzten Warenwirtschaft. Diese so genannte Handelsfreiheit während der Messen ist in einem Umfang genutzt worden, den man sich kaum groß genug vorstellen kann. Denn jetzt und nur jetzt war vor Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1862 ein unbegrenzter Warenaustausch möglich. Das galt nicht nur für sämtliche zugelassene Händler und Händlerinnen - viele Menschen, die außerhalb der Messen keine Berechtigung zum Handel besaßen, wurden jetzt zu temporären Handeltreibenden. Daneben gab es aber auch eigenständige Händlerinnen, die ausschließlich auf den Absatz unterschiedlichster Waren auf Märkten und Messen spezialisiert waren, ohne jedoch Groß- und Fernhändlerinnen gewesen zu sein. 35 3. Weichenstellungen für die Verschlechterung eigenständiger wirtschaftlicher Positionen von Frauen im Leipziger Handel Den ermittelten Fakten zufolge verschlechterten sich im 16. und 17. Jahrhundert die Möglichkeiten von Frauen zum eigenständigen Warenabsatz und insbesondere zur eigenständigen Mitgliedschaft in der Kramerinnung und zum auskömmlichen Höken- und Fischhandel. Vor allem der selbständigen Teilhabe von Frauen am lokalen Detailhandel wurden engere Grenzen gesetzt, während die Rechte von Groß- und Fernhändlerinnen unangetastet blieben. Bei der Abdrängung der Kleinhändlerinnen lässt sich kein einfacher Ursache-Wirkungs-Mechanismus feststellen; es scheint vielmehr so gewesen zu sein, dass es männlichen Akteuren seit dem 16. Jahrhundert zunehmend gelang, verschiedene, nahezu gleichzeitig ablaufende Prozesse zielstrebig zur Einschränkung weiblicher Handlungsspielräume zu nutzen. Diese patriarchale Offensive, die möglicherweise eine Gegenoffensive war, 36 erfolgte auf 34 S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel, insbesondere 102-107. 35 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 5: Frauen im Leipziger Messehandel. 36 Diese Argumentation vertritt unter anderen James B. Collins. Er stellt im Hinblick auf Frankreich im 17. Jahrhundert eine Zunahme restriktiver Bestimmungen zur Einschränkung zahlreicher ökonomischen Aktivitäten von Frauen fest. Unter Bezugnahme auf Martha C. Howell beurteilt er dies als eine <?page no="503"?> Susanne Schötz 504 verschiedenen Ebenen und betraf keinesfalls nur Handelsfrauen, wie Forschungen zur Handwerksgeschichte erbrachten. 37 Sie hatte einen die Geschlechterhierarchie insgesamt verstärkenden, polarisierenden Effekt, der weit über den unmittelbaren Erwerbsbereich hinausging. Dabei entstanden strukturelle Bedingungen, die die individuelle Entscheidungsfreiheit von Frauen, selbständig einer lukrativen Kleinhandelstätigkeit nachzugehen, außerordentlich einschränkten, ja fast vollständig beseitigten. Sie wirkten lange Zeit wie ein Mechanismus, dessen Erhaltung zwangsläufig immer wieder die gleiche Geschlechterordnung des Arbeitens und Erwerbens reproduzierte. Als ein solcher Mechanismus langer Dauer erwies sich das Zusammenwirken von Durchsetzung der Zunftverfassung und Nachordnung von Frauen, von Professionalisierung des Detailhandels und Ausschluss von Frauen und von allgemeiner Stärkung ehemännlicher und familienväterlicher Gewalt über Frauen und der Beibehaltung ihres Ausschlusses aus öffentlichrechtlichen Angelegenheiten. Im Leipziger Kleinhandel geschah das, indem die Kramerinnung während der Frühen Neuzeit das Monopol zum Detailhandel eroberte, denn von nun an war ihre Mitgliedschaft entscheidend, um über umfassende Detailhandelsrechte und damit über wirtschaftliche Möglichkeiten jenseits des Niedrigst-Einkommens zu verfügen. Dabei hatte die Leipziger Kramerinnung das Privileg zum Detailhandel, das heißt das ausschließliche Recht zum Verkauf jeder beliebigen Ware in kleinen und kleinsten Mengen, keinesfalls von Anbeginn an besessen, sondern schrittweise durch eine zielgerichtete, kluge und viel Geld kostende Politik der inhaltlichen Ausgestaltung und obrigkeitlichen Konfirmation ihrer Innungsartikel erreicht. Dem waren im Laufe der Zeit unzählige Auseinandersetzungen mit Handwerkerzünften und anderen Händlern vorausgegangen, die schließlich in Vergleiche mündeten, in welchen exakt festgeschrieben war, mit welchen Waren die Kramer und mit welchen die Handwerker bzw. anderen Händler handeln durften - so mit den Leinewebern 1549 und 1655, den Hutmachern 1507, 1509 und 1610, den Goldschmieden 1607, den Kürschnern 1590, 1607 und 1609, den Nagelschmieden 1505 und 1590, den Posamentierern 1614, den Antwort auf die Bedrohung des patriarchalen europäischen Geschlechtersystems durch starke unabhängige Geschäftsfrauen im 16. Jahrhundert. So J AMES B. C OLLINS , The Economic Role of Women in Seventeenth-Century France, in: Women in Business, M ARY A. Y EAGER (Hrsg.), 3 Bde., Cheltenham 1999, Bd. 2, 330-364 (zuerst in: French Historical Studies 16, 1989). Für England ist die Studie von A LICE C LARK , Working Life of Women in the Seventeenth Century, London 1919 (ND 1968) noch immer interessant. Siehe zur Würdigung von Clark auch N ATALIE Z EMON D AVIS , Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte, in: DIES ., Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1989, 117-132. 37 Vgl. den vorzüglichen Sammelband „Was nützt die Schusterin dem Schmied? “ Frauen und Handwerk vor der Industrialisierung, K ATHARINA S IMON -M USCHEID (Hrsg.) Frankfurt a. M. / New York 1998. <?page no="504"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 505 Schneidern 1574, mit fremden Kramern 1610, mit den Höken 1613 und verschiedentlich mit den Tuchhändlern im 17. Jahrhundert. Die im Artikelbrief der Kramer von 1672 verankerten Festlegungen zur rigorosen Einschränkung des Handwerkerhandels und des Handels fremder Händler ließen sich allerdings nicht mehr auf dem Weg des Vergleichs durchsetzen, wie der mehr als ein Jahrzehnt währende erbitterte Konflikt zwischen der Kramerinnung und ihren Kontrahenten um die Einführung der neuen Kramerartikel verdeutlicht. 38 Insgesamt dokumentieren die Artikelbriefe und Vergleiche aus dem 16. und 17. Jahrhundert das zähe Ringen um die Einführung, Durchsetzung und Ausgestaltung des kommerziellen Privilegs zum Handel mit Kramwaren. Sie zeugen von fortwährender Auseinandersetzung um die Aufteilung des sich zunächst entfaltenden, dann durch den Dreißigjährigen Krieg stark begrenzten Marktes. Dabei waren die Kramer letztlich gegenüber ihren Konkurrenten sehr erfolgreich. Es ist ihnen in der Frühen Neuzeit gelungen, eine überaus wichtige Schnittstelle in der sich entfaltenden Warenwirtschaft monopolartig zu besetzen, indem sie in einem großen Warenbereich die Position der einzig legitimierten Vermittler zwischen dem Angebot von Großhändlern und auswärtigen Produzenten einerseits und der Detail- Nachfrage der Kunden und Kundinnen vor Ort andererseits errangen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist mit der kurfürstlichen Konfirmation der Innungsartikel von 1672 erreicht worden, die die Kramer durch Paragraph 11 nicht nur zum Einzelhandel mit allen Produkten so jetzt gangbar privilegierte, sondern selbst für die, die ins künfftige erdacht werden können. 39 Die Artikel von 1672 sind 1682, 1692 und 1695 durch die jeweiligen neuen Landesherren konfirmiert worden und blieben im Wesentlichen bis 1861, bis zur Einführung der sächsischen Gewerbefreiheit, in Kraft. Sie bildeten die rechtliche Grundlage für die rigorose Einschränkung des Gewerberechts der Leipziger Höken, kulminierend in der Marktordnung von 1726, für die empfindliche Einschränkung des Handwerkerhandels, aber auch für das Eindringen von Kramern in den Leipziger Fischhandel zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Meines Erachtens müssen die im 16. Jahrhundert feststellbaren Aufnahmen von Frauen in die Kramerinnung vor allem im Lichte der Durchsetzung des Detailhandelsmonopols der Kramer betrachtet werden. Sie deuten darauf hin, dass das Bemühen um die obrigkeitliche Bestätigung des sich immer weiter ausformenden Kramerprivilegs mit der schrittweisen Durchsetzung des Beitrittszwanges in die Kramerinnung einherging. Dies verdeutlicht unter anderem ein Ratsmandat von 1557, das die Notwendigkeit der 38 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel. 39 Vgl. SAL, Leipziger Ordnungen, 1701, Tit. LX. B. Nr. 21, 184. <?page no="505"?> Susanne Schötz 506 Kramerinnungsmitgliedschaft betont, indem es ausdrücklich darauf hinweist, dass nur derjenige einen „offenen Laden“ halten dürfe, der Bürger und Mitglied der Kramerinnung sei. 40 Damit nahm wohl der Zwang zu, der Kramerinnung beizutreten, um einen offenen Laden führen zu dürfen. 41 Den mehr oder weniger freiwillig in die Innung aufgenommenen Frauen brachte die Innungsmitgliedschaft das geschützte Recht zum öffentlichen Verkauf von Waren, sei es in Verkaufsfenstern, Läden oder auf dem Markt. Häufig handelte es sich dabei wohl um selbst gefertigte Produkte. Die Innungsmitgliedschaft berechtigte und verpflichtete die Frauen aber auch zur Teilhabe am religiösen und sozialen Leben der Innung; sie forderte ihnen Beitragszahlungen und die Unterwerfung unter das Reglement bzw. unter partielle Auflagen der Innung ab, wozu Heiratsbeschränkungen gehörten oder auch die Festlegung auf den Handel mit ganz bestimmten Produkten an einem festgelegten Platz in der Kramerreihe. Die Aufnahme eigenständiger Händlerinnen eröffnete der Kramerinnung im 16. Jahrhundert folglich vor allem die Möglichkeit der Kontrolle über potentielle Konkurrentinnen; 42 sie ist im Falle der erwähnten sehr armen Frauen daneben als Akt solidarischen Verhaltens zu verstehen. Bei den in die Innung aufgenommenen Handwerkern und ihren Ehefrauen ist es wohl in vielen Fällen zu einer doppelten Innungsmitgliedschaft gekommen. Dieses Phänomen ist auch in den Kramerinnungen anderer Städte beobachtet worden, so von Eckert für Ausgburg, Ulm, Strassburg und Worms, von Birkenmaier für Freiburg und Zürich in weniger verbreiteter Form im 14. Jahrhundert, von Katharina Simon-Muscheid für Basel bis zur Einführung der Reformation. 43 Die doppelte Innungsmitgliedschaft, die als historisches Phänomen bislang kaum untersucht worden ist, wird sich in vielfacher Hinsicht als problematisch erwiesen haben. Sie bedeutete nach der Auffassung der Zeitgenossen „doppelte Nahrung“ und ist kaum vorstellbar ohne Konfusion im Sozialbereich. Sollte das Mitglied zweier Innungen an den (mitunter geheimzuhaltenden) Versammlungen beider Innungen teil- 40 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel. 41 Ähnliche Tendenzen stellte Sasse im 16. Jahrhundert auch in Bremen fest: 1533 wurden hier erleichterte Aufnahmebedingungen für „Nebenkramer“ getroffen, um diese in das bremische Krameramt einzubinden; vgl. H EINRICH S ASSE , Das bremische Krameramt. I. Teil. Die Geschichte des Krameramtes vom 14. bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, in: Bremisches Jahrbuch 33 (1931), 108-157, hier 122. 42 Dieser Gesichtspunkt trifft selbstverständlich ebenso auf in die Innung aufgenommene Männer (Handwerker, sonstige Händler und Gewerbetreibende) zu. 43 Vgl. H EINRICH E CKERT , Krämer und Krämerzunft in süddeutschen Städten (Augsburg, Ulm, Strassburg, Worms) bis zum Ausgang des Mittelalters, Inaugural-Dissertation, Berlin / Leipzig 1909, 15-23; A DOLF B IRKENMAIER , Die Krämer in Freiburg i. Br. und Zürich im Mittelalter bis zur Wende des XVI. Jahrhunderts, Inaugural-Dissertation, Emmendingen 1913, 28-30, sowie K ATHARINA S IMON - M USCHEID , Basler Handwerkerzünfte im Spätmittelalter. Zunftinterne Strukturen und innerstädtische Konflikte, Bern / Frankfurt a. M./ New York / Paris 1988, 5. <?page no="506"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 507 nehmen? An beider Geselligkeit, Begräbnissen, kirchlichen Zeremonien? Durfte es das überhaupt? Konnten Mann und Frau im Extremfall unterschiedlichen Kirchgemeinden angehören? Dass die Doppelzünftigkeit nur eine zeitlich begrenzte Zwischenstufe auf dem Weg zur ausschließlichen Mitgliedschaft darstellen konnte, wird in bald einsetzenden Bestrebungen der Abgrenzung sichtbar, wie sie sich in den von den Kramern geschlossenen Vergleichen mit zahlreichen Handwerkern und Händlern äußern. Beispielhaft sei eine Festlegung aus der Kramerordnung von 1574 angeführt. Diese gestattete es zwar Schneidern und anderen Handwerkern, der Innung beizutreten, um einen offenen Laden führen zu können, forderte aber von ihnen, dass sie alleine eins treiben, Krahmerey, Schneiderey oder Ihr handtwerge ond nicht beides. 44 Diese Bemühungen um die Aufteilung des Marktes über die Durchsetzung des Beitrittszwanges zu einer Innung kulminierten in den Kramerartikeln von 1604, die die Ausübung eines Handwerks und der Kramerei zugleich untersagten, auch wenn der Kram gar nicht durch den Handwerker, sondern durch dessen Ehefrau betrieben wurde. 45 Damit wird die für das 16. Jahrhundert belegbare Praktik der jeweils selbständigen Erwerbsarbeit von Eheleuten durch die je eigene Ausübung eines selbständigen Gewerbes abgebrochen; Mann und Frau werden auf ein gemeinsames Gewerbe mit klar umgrenzten Rechten und Rollen festgelegt. Wenngleich sich das von der Kramerinnung errungene Privileg zum Detailhandel keinesfalls ausschließlich gegen weibliche Konkurrenz richtete, beschränkten doch die verbrieften Kramerordnungen die eigenständigen wirtschaftlichen Existenzmöglichkeiten von Frauen ungleich stärker als von Männern. So intendierte vor allem die Kodifizierung einer formalen Ausbildungszeit von sechs Jungen- und zwei Dienerjahren als Aufnahmevoraussetzung für die Innungsmitgliedschaft den grundsätzlichen Ausschluss von Frauen von der eigenständigen Innungsaufnahme. Mit dem Prinzip der so genannten Jungen- und Dienerjahre, das erstmals in den Kramerartikeln 1604 Verschriftlichung fand, wurde eine weit über die Kramerinnung hinausgehende langlebige Geschlechterdifferenz im Detailhandel begründet. Denn während Männer dann, wenn sie die moralischen, finanziellen und professionellen Anforderungen zur Aufnahme in die Kramerinnung erfüll- 44 Vgl. SAL, Kramerinnung, Kra II Nr. 18, Bl. 8. 45 In den Artikeln heißt es, dass keiner in die Innung aufgenommen werden soll, so sich seines Handtwerks nehret, vnd dasselbige treibet, wann er auch gleich die Cramerey für sich selbst, vnd sein Handtwerkh durch gesellen, oder aber das Handtwerkh für sich, vndt die Kramerey durch sein weib od einen Cramer Diener führen woltte. Vgl. SAL, Kramerinnung, Kra I Nr. 10, Bl. 5 und 6. <?page no="507"?> Susanne Schötz 508 ten, 46 selbst Kramer werden konnten, blieben Frauen davon nun - fast - grundsätzlich ausgeschlossen. Sie mochten zwar die moralischen und finanziellen Voraussetzungen erfüllen; ein formaler, von der Innung anerkannter Berufsabschluss mit den vorgeschriebenen Jungen- und Dienerjahren war ihnen unerreichbar. Dabei verwehrten die Innungsartikel der Kramer den Frauen nicht explizit eine formale kaufmännische Ausbildung, aber mit der Festschreibung des sprachlichen Codes der Jungen- und Dienerjahre vollzog sich die symbolische Ausgrenzung der Frauen. Denn Frauen waren im Unterschied zu Männern eben keine Jungen und Diener und konnten auch keine werden. Es war fortan unwesentlich, ob sich Frauen aufgrund praktisch erworbener Kenntnisse und Erfahrungen zur Führung eines Handelsgeschäfts in der Lage fühlten oder durch ihre Sozialisation im Handelsstand mit kaufmännischen Praktiken bestens vertraut waren - entscheidend war nun, dass sie keine gültigen Ausbildungszertifikate vorweisen konnten, die zur Führung eines Kramhandels berechtigten. Frauen konnten seit dem 17. Jahrhundert als eigenständige Händlerinnen - fast - keine Aufnahme mehr in die Kramerinnung finden und blieben in jene Bereiche des Detailhandels verwiesen, die die Kramer nicht oder nicht ausschließlich besetzten: auf den konzessionierten Handel auf dem Wochen- und Trödelmarkt, auf den konzessionierten Hausierhandel, auf den Handel auf Jahrmärkten und Messen - und auf den Handel in den Grauzonen und außerhalb des Rechts. 47 Sie teilten sich jedoch selbst diese Bereiche noch mit jenen Männern, die ebenfalls nicht in der Lage waren, das Kramerrecht zu erlangen. Der Besitz oder Nichtbesitz des Kramerrechts wirkte somit im Detailhandel für beide Geschlechter sozial differenzierend, platzierte Frauen jedoch grundsätzlicher am Rand des ökonomischen Geschehens. Sie konnten seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts - fast - nur noch durch die Ehe mit einem Kramer in den Besitz des Kramerrechts gelangen und dann als Mitglied der Leipziger Kramerinnung an ökonomischen Aktivitäten teilhaben, die die Chance besaßen, über den Kleinsthandel der eigenständigen Markthändle- 46 Gemeint sind die eheliche Geburt, das zu zahlende Aufnahmegeld und sonstige Gebühren sowie die Beibringung der geforderten Ausbildungsnachweise. Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), Kapitel 2: Frauen im Leipziger Kramwarenhandel. 47 Hierzu zählten zum Beispiel der verbotene Handel an zwei Orten bei Kramerfrauen, -töchtern oder -witwen, der verbotene Auf- und Vorkauf, das verbotene Lagerhalten und der verbotene Hausierhandel von Hökinnen, das Warenverschreiben von Heringsweibern, der Verkauf ungewogenen Brotes oder von Fleisch entgegen den Fleischtaxen, der so genannte Handel außer Messen von all jenen, die von ihrem temporären Messehandel noch Waren übrig hatten, der Verkauf fremder, nicht selbst hergestellter Erzeugnisse durch Handwerkerfrauen und anderes mehr. Frauen hatten beständig an Grenzüberschreitungen teil. Dabei handelten sie fast immer innerhalb von familiären Strategien, meist mit der Unterstützung von Ehemännern, Kindern, Bekannten oder Verwandten. <?page no="508"?> Weibliche Teilhabe am Leipziger Handel des 16. und 17. Jahrhunderts 509 rinnen hinauszugehen. Der Platz der Frauen im Detailhandel wurde damit nachdrücklich durch die Familienzugehörigkeit bestimmt. Der Platz der Frauen in der Familie aber ist durch die Bekräftigung der Geschlechtsvormundschaft in den Konstitutionen von 1572 abgesteckt worden. Er fand seine ideologische Begründung im reformatorischen Eheideal mit getrennten Aufgabenbereichen von Mann und Frau. Die Bekräftigung der allgemeinen Geschlechtsvormundschaft für Frauen hatte unter anderem zur Konsequenz, dass Frauen weiterhin weder das Assoziationsrecht noch sonstige Partizipationsrechte im öffentlich-rechtlichen Raum besaßen. So fehlten den Hökinnen und Heringsweibern Innungen zur autorisierten Vertretung eigener ökonomischer und sozialer Interessen in der Auseinandersetzung mit den Kramern um die Aufteilung des Marktes. Denn legitimierte und autorisierte Interessenvertretungen weiblicher Händlerinnen hätten unter den Bedingungen der Geschlechtsvormundschaft nur aus Männern, aus deren Ehemännern bzw. Vormündern, bestehen können. Selbst in einer gemeinsamen Innung mit männlichen Kollegen hätten die Hökinnen nicht die gleichen Rechte wie diese gehabt und durch Vormünder vertreten werden müssen. Erst im 19. Jahrhundert brach trotz der Beibehaltung des Ausschlusses von Frauen aus der Teilnahme am öffentlichen Recht der für die Frühe Neuzeit typische Mechanismus des Zusammenwirkens von tendenziell verweigerter Innungsmitgliedschaft, tendenziell verweigerter Teilhabe an Professionalisierung und tendenziell praktizierter privatrechtlicher Unterordnung von Frauen zunehmend auf. 48 48 Vgl. S CHÖTZ , Handelsfrauen (wie Anm. 8), insbesondere Kapitel 4: Frauen in den prosperierenden Händlergruppen des 19. Jahrhunderts. <?page no="510"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande. Einzelhändlerinnen im ’s-Hertogenbosch des 18. Jahrhunderts: Eine Fallstudie Danielle van den Heuvel 1. Einleitung In den vergangenen Jahren hat die Sonderstellung der Republik der Niederlande in der frühen Neuzeit zunehmend das Interesse zahlreicher Historiker auf sich gezogen. Ein zentrales Thema in der Debatte um diese Sonderstellung ist die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen in der niederländischen Gesellschaft der frühen Neuzeit. Im Gegensatz zu anderen Gegenden Europas wird für Frauen in den Niederlanden ein höherer Grad an Freiheit und damit einhergehend die Möglichkeit veranschlagt, sowohl innerals auch außerhalb des Hauses einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zeitgenössischen Reisenden wie heutigen Historikern zufolge schlug sich dieser Unterschied in der bemerkenswerten Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum nieder, und hier vor allem von Ladenbesitzerinnen. 1 Dessen ungeachtet ist bis heute nicht geklärt, wie weit diese Annahme der Wahrheit entspricht. Frühere Forschungen haben gezeigt, dass tatsächlich in einigen Gegenden der Republik eine signifikante Anzahl Frauen als Ladenbesitzerinnen tätig war. 2 Der größte Teil dieser Forschung ist jedoch Diese Forschungen sind Teil des Projektes „Women’s work in the Northern Netherlands in the Early Modern Period (c. 1500-1815)“ und werden unterstützt von der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung NWO. Ich danke besonders Lex Heerma van Voss, Elise van Nederveen Meerkerk, Jelle van Lottum und Ariadne Schmidt für ihre Kritik früherer Versionen dieses Aufsatzes. Außerdem möchte ich mich bei Christian Rödel, Mark Häberlein und Christof Jeggle für die Arbeit an der Übersetzung des Beitrags aus dem Englischen bedanken. 1 Siehe unter anderen S IMON S CHAMA , The Embarrassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, London 1991, 375-480; E LS M. K LOEK , De vrouw, in: Gestalten van de Gouden Eeuw. Een Hollands groepsportret, H ERMAN M. B ELIËN / A RIE T H . VAN D EURSEN / G ERT J. VAN S ETTEN (Hrsg.), Amsterdam 1995, 241-280; A NNE L AURENCE , How free were Dutch women in the seventeenth century? , in: Women of the Golden Age. An International Debate on Women in Seventeenth-Century Holland, England and Italy, E LS K LOEK / N ICOLE T EEUWEN / M ARIJKE H UIS - MAN (Hrsg.), Hilversum 1995, 127-136; J AN DE V RIES / A D VAN DER W OUDE , The First Modern Economy. Success, Failure and Perseverance of the Dutch Economy, Cambridge 1997, 599. 2 Siehe zum Beispiel L EONIE VAN N IEROP , De handeldrijvende middenstand in Amsterdam te 1742, in: Jaarboek Amstelodamum 45 (1953), 193-230; T HERA W IJSENBEEK -O LTHUIS , Van priseersters tot prostitutées. Beroepen van vrouwen in Delft en Den Haag tijdens de achttiende eeuw, in: Jaarboek voor Vrouwengeschiedenis 8 (1987), 173-201; A RIE T H . VAN D EURSEN , Werkende vrouwen in een Hollands dorp, in: De zeventiende eeuw 4 (1988), 3-16; E RWIN S TEEGEN , Kleinhandel en kramers. De verkoop van genotsmiddelen in Maastricht in de achttiende eeuw, in: NEHA-Jaarboek voor Economische, bedrijfsen techniekgeschiedenis 61 (1998), 163-195; J EAN C. S TRENG , Vrijheid, gelijk- <?page no="511"?> Danielle van den Heuvel 512 fragmentarisch, und in vielen Fällen steht die Frage nach der Beziehung zwischen Frauen und dem Einzelhandel nicht im Mittelpunkt. Deshalb ist nach wie vor unklar, ob es sich bei dem Phänomen der niederländischen Ladenbesitzerin um eine liebgewordene Legende oder eine unbezweifelbare Tatsache handelt. Das Ziel dieses Beitrages ist es, die Rolle der Frauen im Einzelhandel der niederländischen Republik zu untersuchen. Dies geschieht mit einer doppelten Fragestellung. Erstens wird der Frage nachgegangen, inwieweit der Einzelhandel einen wichtigen Erwerbszweig für Frauen darstellte. Wie hoch war der Frauenanteil im Einzelhandel im Verhältnis zu anderen Bereichen der Wirtschaft? Zweitens ist zu prüfen, ob Frauen wirklich den Einzelhandel der vorindustriellen niederländischen Städte derart dominierten, wie oft behauptet wird. Die unterstellte „natürliche“ Rolle der Frau als Ladenbesitzerin wird in diesem Aufsatz durch die Betrachtung der Frauen im Einzelhandel der Stadt ’s-Hertogenbosch überprüft. ’s-Hertogenbosch bietet dafür ein ideales Fallbeispiel: eine durchschnittlich große Stadt in der Provinz Brabant, die als regionales Dienstleistungszentrum für ihr ausgedehntes Hinterland, die Meierij, fungierte. 3 Darüber hinaus war sie ein Knotenpunkt des Handelsnetzes, das die südlichen Niederlande und die deutschen Territorien mit den bedeutenden Handelsstädten der Provinz Holland verband. Der Handel war daher für die lokale Wirtschaft von großer Bedeutung. Außerdem hat die städtische Krämergilde, Kramersgilde genannt, umfangreiches Quellenmaterial hinterlassen, das eine Rekonstruktion des Einzelhandelssektors für das gesamte 18. Jahrhundert ermöglicht. Zunächst wird im Folgenden ein allgemeiner Überblick über den Arbeitsmarkt von ’s-Hertogenbosch während des 18. Jahrhunderts gegeben. Dann wird die Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt der Stadt analysiert, um festzustellen, wie bedeutend der Handel für Frauen war. Schließlich wird mittels einer detaillierten Untersuchung der Krämergilde, die fast alle Einzelhändler der Stadt umfasste, der zweiten Frage nach der Beteiligung der Frauen innerhalb des Einzelhandels nachgegangen. heid, broederschap en gezelligheid. Het Zwolse Sint Nicolaasgilde tijdens het Ancien Régime, Hilversum 2001. 3 P IET L OURENS / J AN L UCASSEN , Inwoneraantallen van Nederlandse steden 1600-1800, Amsterdam 1997; J AN DE V RIES , European Urbanization 1500-1800, London 1984, 64; ’s-Hertogenbosch. De geschiedenis van een Brabantse stad 1629-1990, A ART V OS (Hrsg.), Zwolle / ’s-Hertogenbosch 1997, 421. <?page no="512"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 513 Abbildung 1: Karte der Republik der Niederlande 2. (Weibliche) Erwerbsarbeit in ’s-Hertogenbosch Es ist nicht einfach, die Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit in der frühen Neuzeit zu ermitteln. Häufig benutzte Quellen für die Rekonstruktion frühneuzeitlicher Arbeitsmärkte sind Einwohnerlisten und Steuerregister. Die Benutzung dieser Quellen zog einige Kritik auf sich, vor allem von Historikern, die sich für Frauenarbeit interessieren. 4 Da viele dieser Quellen zum Zweck der Besteuerung erstellt wurden, decken sie oft nur den wohlhabenderen Teil der Bevölkerung ab. Zudem sind meist nur Haushaltsvorstände verzeichnet. Aus diesem Grund ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in diesen Registern verzeichnet und Frauen sind oft unterrepräsentiert. Als Ehe- 4 So zum Beispiel B RIDGET H ILL , Women, Work and the Census: A Problem for Historians of Women, in: History Workshop Journal 35 (1993), 78-94. <?page no="513"?> Danielle van den Heuvel 514 frauen und Töchter bleiben viele hinter den jeweiligen Männern verborgen. 5 In Kombination mit anderen Quellen jedoch, wie zum Beispiel Ordnungen der Zünfte oder Mitgliederlisten, ist es möglich, die Beteiligung der Frauen in einem bestimmten Wirtschaftssektor zu analysieren. In dieser Studie gewährleisten Befunde über die Zulassungspolitik und Zusammensetzung der Krämergilde von ’s-Hertogenbosch die nötige Ausgewogenheit. Aus dem 18. Jahrhundert existieren für ’s-Hertogenbosch zwei sehr nützliche Einwohnerverzeichnisse aus den Jahren 1742 und 1775. 6 Das Verzeichnis von 1742 zeigt, dass die meisten der Eingetragenen (60%) damals im Dienstleistungssektor arbeiteten; zusammen mit den sozialen Dienstleistungen (22%) boten die ökonomischen Dienstleistungen (38%) dem überwiegenden Teil der erfassten Bevölkerung Arbeitsmöglichkeiten (Tab. 1). Obwohl der gewerbliche Sektor mit einem Anteil von 35% keineswegs unbedeutend war, blieb er doch hinter den ökonomischen Dienstleistungen zurück und war auch weniger bedeutend als in den industriellen Zentren gewerblicher Produktion Leiden und Gouda. Das Verzeichnis von 1775 zeigt jedoch ein völlig anderes Bild. Der gewerbliche Sektor nahm nun den ersten Platz ein und versorgte fast die Hälfte der verzeichneten Bevölkerung mit Arbeitsplätzen, während beide Dienstleistungsbereiche geschrumpft waren. Der stärkste Rückgang des Anteils von Erwerbstätigen in einem bestimmten Sektor betraf den Handels- und Transportsektor, der von 38% auf 26% der registrierten Bevölkerung gefallen war. Wenn wir die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den verschiedenen Kategorien betrachten, so arbeiteten 1742 fast die Hälfte der Frauen im Handel und Transport, während 1775 nur ein Viertel der weiblichen Haushaltsvorstände in diesem Sektor tätig war. 7 Zusammen mit dem Gewerbe blieb jedoch der Handels- und Transportsektor das wichtigste Arbeitsfeld für Frauen. Zwar sind hier unterschiedliche Berufsgruppen wie Handel, Transport, Herbergs- und Schankbetrieb, Kredit und Finanzen sowie Hilfsdienstleistungen für den Handel, wie Makler usw., zusammengefasst, doch war in beiden Jahren der Anteil von Frauen in diesen Berufen sehr ähnlich und die Mehrheit der Frauen in diesem Sektor arbeitete im Handel (85%). 8 Obwohl sich mit dem Übergang vom internationalen zum regionalen Handel die kommerzielle Ausrichtung der Stadt verschob, sind diese Um- 5 Sicherlich wird häufig auch nicht ersichtlich, ob Kinder gearbeitet haben, und wenn, welchen Tätigkeiten sie nachgingen. 6 Gemeentearchief ’s-Hertogenbosch (GAHt), Oud Stadsarchief (OSA), 1399 und 1433-1443. Herzlichen Dank an Maarten Prak, Aart Vos und Elise van Nederveen Meerkerk, die mir die Datenbanken zur Verfügung gestellt haben. 7 Der tatsächliche Anteil von Frauen im Handel war sicherlich höher als hier dargestellt, doch sind die genauen Zahlen nicht verfügbar. 8 Etwa zwölf bis 13 Prozent arbeiteten als Schankwirtinnen, der Rest der Frauen im Transportwesen. Im Finanzsektor oder bei den Hilfsdienstleistungen für den Handel wurden keine Frauen gefunden. <?page no="514"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 515 Tabelle 1: Verteilung der Haushaltsvorstände mit Erwerbstätigkeit in ’s-Hertogenbosch im 18. Jahrhundert nach Wirtschaftssektoren 1742 1775 Summe der Haushaltsvorstände mit Beschäftigung (n=1922) Weibliche Haushaltsvorstände mit Beschäftigung (n=389) Summe der Haushaltsvorstände mit Beschäftigung (n=2857) Weibliche Haushaltsvorstände mit Beschäftigung (n=709) Gewerbe 35% 29% 45% 49% Landwirtschaft 1% 1% 3% 1% Handel und Transport 38% 47% 26% 26% Soziale Leistungen 22% 11% 19% 13% Sonstige 4% 12% 7% 11% Quelle: GAHt, OSA, 3311-3319 und Database Blokboeken Maarten Prak wälzungen nicht für die Veränderung des Anteils der im Handel beschäftigten Frauen an der weiblichen Gesamtbevölkerung verantwortlich. 9 Ein Vergleich der tatsächlich in ’s-Hertogenbosch anwesenden Händler für beide Jahre zeigt, dass der Handelssektor nur wenig zugenommen hatte: 467 Haushaltsvorstände arbeiteten 1742 als Händler, während 35 Jahre später ihre Anzahl auf 530 gewachsen war. Dieser Anstieg wird allerdings durch das Anwachsen der Gesamtbevölkerung von etwa 12.500 im Jahre 1742 auf 14.000 im Jahre 1775 ausgeglichen, so dass die Zahl der Einwohner pro Ladengeschäft oder Händler gleich geblieben war. Im ’s-Hertogenbosch des 18. Jahrhunderts kam auf 27 Einwohner ein Laden oder Händler. Noch interessanter ist der Befund, dass die Zahl der weiblichen Haushaltsvorstände, die als Einzelhändlerinnen arbeiteten, ebenfalls so gut wie gleich geblieben war: 157 weibliche Haushaltsvorstände verdienten 1742 als Händlerinnen ihren Lebensunterhalt, 1775 waren es 158. 10 Daraus können wir schließen, dass der enorme Rückgang des Anteils der im Dienstleistungssektor tätigen Frauen nicht auf die Änderung der wirtschaftlichen Orientierung der Stadt zurückzuführen ist. Der eigentliche Wandel manifestierte sich im Anstieg der Zahl derjenigen Männer und vor allem Frauen, die im gewerblichen Sektor, genauer im Textilgewerbe, beschäftigt waren. Waren 1742 noch 666 im sekundären Sektor arbeitende Personen verzeichnet, 112 davon Frauen, so waren 35 Jahre später diese Zahlen auf 1.285 bzw. 349 angestiegen. Der Anstieg der im gewerblichen 9 T ON K APPELHOF , Laverend tussen Mars en Mercurius. Economie en demografie, in: V OS , ’s- Hertogenbosch (wie Anm. 3), 55-77, hier 63. 10 Der Anteil der Frauen im Handel von ’s-Hertogenbosch weicht daher zwischen 1742 mit 34 Prozent und 1775 mit 30 Prozent etwas voneinander ab. <?page no="515"?> Danielle van den Heuvel 516 Sektor Beschäftigten hat zweierlei Gründe - das wirtschaftliche Wachstum und die starke Expansion des Textilgewerbes in der Stadt. Nach einer schweren wirtschaftlichen Krise in den 1740er Jahren erholte sich die Stadt sehr schnell. 11 Von diesem Aufwärtstrend scheinen vor allem Frauen profitiert zu haben: Der Anteil der verzeichneten weiblichen Haushaltsvorstände ohne Arbeit fiel von 32 Prozent im Jahre 1742 auf ein Zehntel 1775. Es wurde bereits festgestellt, dass nach dieser wirtschaftlichen Erholung der Handels- und Transportsektor keine neuen Möglichkeiten für Frauen bot. Stattdessen eröffneten sich neue Gelegenheiten für Frauen in der aufstrebenden Strickwarenproduktion und als Spinnerinnen, die den wachsenden Bedarf an Leinengarn befriedigten. Außerdem arbeiteten 1775 etwa 180 weibliche Haushaltsvorstände - die Mehrheit der als Textilarbeiterinnen registrierten Frauen - als Spitzenklöpplerinnen. 12 Frauen, die zuvor keiner Erwerbsarbeit nachgegangen waren, scheinen leichter im Textilgewerbe als im Handel Arbeit bekommen zu haben. Dass Frauen nach der wirtschaftlichen Erholung der Stadt als Textilarbeiterinnen und nicht als Einzelhändlerinnen Arbeit fanden, obwohl auch der Handelssektor ein - wenn auch geringes - Wachstum aufwies, zeigt, wie schwierig es war, ohne Startkapital im Einzelhandel Fuß zu fassen, insbesondere für Frauen. Der Zusammenhang zwischen Finanzkapital und der Zugänglichkeit eines bestimmten Berufes wird noch deutlicher, wenn wir verschiedene Gruppen von Frauen hinsichtlich ihrer Anteile an weiblichen Textilarbeitern und Händlern hin untersuchen. Vergleicht man die Tätigkeiten von Frauen, die Armenfürsorge bezogen, mit weiblichen Haushaltsvorständen und weiblichen Hauptmieterinnen, so zeigt sich schnell, dass die beiden für Frauen besonders wichtigen Wirtschaftssektoren Textilien und Handel nicht miteinander konkurrierten, sondern jeweils einer anderen Gruppe zuzuordnen sind. Tabelle 2: Prozentuale Anteile von arbeitenden Frauen in Textilgewerbe und Handel in den Verzeichnissen von 1775 Registrierung 1775 % im Textilsektor tätig % im Handel tätig Hauptmieter 36% 22% Haushaltsvorstände 43% 14% Registrierte Arme 53% 2% Quelle: GAHt, OSA, 3328-3338 11 K APPELHOF , Mars en Mercurius (wie Anm. 9), 76. 12 E LISE VAN N EDERVEEN M EERKERK , De draad in eigen handen? Vrouwen en loonarbeid in de Nederlandse textielnijverheid, 1581-1810, Amsterdam 2007, 119-122. <?page no="516"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 517 Während der Anteil der Händlerinnen in der Gruppe der Hauptmieterinnen am größten war (22 Prozent), ist der größte Teil derer, die im Textilgewerbe arbeiteten, unter den registrierten Armen zu finden (53 Prozent). Das zur Verfügung stehende Finanzkapital scheint eine wichtige Rolle für den Zugang zu diesem Beruf gespielt zu haben; sich mit einem Ladengeschäft selbständig zu machen, setzte ein gewisses Startkapital voraus. Selbstverständlich brauchte eine Frau selbst für das kleinste Geschäft Geld zum Investieren und um ihr Warenlager zu füllen. Neben dem Einkauf musste sie einen Marktstand mieten oder eine Ladeneinrichtung erwerben. Außerdem brauchte sie genug Geld für die Aufnahme als Gildemitglied. 13 Die Zahl armer Frauen, die im Handel arbeiteten, war deshalb minimal (2 Prozent). Wir sollten allerdings nicht allzu optimistisch sein, was die Zahl der Ladenbesitzerinnen aus dem „Mittelstand“ angeht. Tabelle 2 zeigt auch, dass es selbst unter den Hauptmieterinnen immer noch üblicher war, sein Geld als Textilarbeiterin zu verdienen als im Handel. Dies alles deutet darauf hin, dass es im 18. Jahrhundert in ’s-Hertogenbosch einen stark segmentierten Arbeitsmarkt für Frauen gab: eine große Gruppe von Frauen, die im Textilgewerbe arbeiteten und deren Größe stark von der Wirtschaftsentwicklung beeinflusst wurde; und eine recht kleine und stabile Gruppe von Ladenbesitzerinnen, deren Zahl trotz sich verändernder ökonomischer Bedingungen und Bevölkerungszahlen praktisch konstant blieb. Der für diese Segmentierung ausschlaggebende Faktor scheint die Größe des verfügbaren Kapitals gewesen zu sein. 3. Die Krämergilde im 18. Jahrhundert Die Krämergilde, die Gilde der Ladenbesitzer, erlaubt einen genaueren Blick auf die Beteiligung der Frauen im Einzelhandel der Stadt ’s-Hertogenbosch. Krämergilden waren ein verbreitetes Phänomen im Land; fast jede Stadt ab einer gewissen Größe beherbergte eine solche Gilde der Ladenbesitzer. Laut ihrer Berufsbezeichnungen waren über 90 Prozent der in den Registern von 1742 und 1775 erfassten Händlerinnen ’s-Hertogenboschs in einer Form im Klein- und Einzelhandel tätig, die unter die Zuständigkeit der Krämergilde fiel. Sie war eine der vier Gilden im vorindustriellen ’s-Hertogenbosch, deren Mitglieder vorrangig mit dem Verkauf von Waren zu tun hatten; darüber hinaus gab es die Zünfte der Handwerker und die der verschiedenen Gruppen städtischer Arbeiter. Die anderen Handelsgilden waren die der Fisch- 13 Siehe D E V RIES / V AN DER W OUDE , The First Modern Economy (wie Anm. 1), 601; A ART V OS , Vrouwenarbeid en de gilden in vroegmodern ’s-Hertogenbosch, in: Noordbrabants historisch jaarboek 20 (2003), 148-175, 165; S TEEGEN , Kleinhandel en kramers (wie Anm. 2), 169. <?page no="517"?> Danielle van den Heuvel 518 Zeichnung von J. Ewerts, 1777, Stadtarchiv ’s-Hertogenbosch händler, der Kornhändler und der Altkleiderhändler. 14 Wie aus der Tabelle im Anhang hervorgeht, war die Krämergilde jedoch zahlenmäßig wesentlich stärker als die anderen. Die Krämergilde umfasste alle mit dem Verkauf von Waren und Lebensmitteln Beschäftigten, mit Ausnahme der Fisch- und Kornhändler. 15 Nach der Gildeordnung von 1548 war jedermann, der ein offenes Geschäft betrieb oder von einem Fenster oder Keller außerhalb der Wochenmärkte und der jährlichen Messen Waren verkaufte, zur Mitgliedschaft verpflichtet. Die Gilde behielt sich den Verkauf einer Reihe von Produkten vor, die grob in zwei Kategorien unterschieden werden können: Tuch und Lebensmittel, wobei unter letztere Kategorie auch Haushaltswaren fielen, ein Privileg, das die Gilde bis zu ihrer Auflösung zu Beginn des 19. Jahrhunderts behaupten konnte. 16 14 M AARTEN P RAK , Een verzekerd bestaan, Ambachtslieden, winkeliers en hun gilden in Den Bosch (ca. 1775) in: De kracht der zwakken. Studies over arbeid en arbeidersbeweging in het verleden. Opstellen aangeboden aan Theo van Tijn bij zijn afscheid als hoogleraar Economische en Sociale Geschiedenis aan de Rijksuniversiteit Utrecht, B OUDIEN DE V RIES / E RIK N IJHOF / L EX H EERMA VAN V OSS / M AARTEN P RAK / W ILLEM VAN DEN B ROEKE (Hrsg.), Amsterdam 1992, 49-80, hier 59. 15 Wie erwähnt, hatten die Fisch-, Korn- und Altkleiderhändler ihre eigenen Gilden. Die letzteren waren allerdings verpflichtet, auch der Krämergilde beizutreten. 16 Die Gildeordnung von 1548 listet die folgenden Waren auf: fluwelen, damasten, sattynen, brux sattynen, trypen, versetten, sayen, sindelen, fusteynen, coiulair, camelotten, weerscynen, papier, grynen, maelderyen, cruyt, suycker, vygen, rosynen, pepercoeck, honich, wasch, olie, karsen, rosell, boter, keesen, speck, zeep, alluyn, galnoten, coperroet, witte zeep, ameldonck, comijn, snethout óft ennige andere gueden oft natie, der cremerye aengaende; N. H. L. VAN DEN H EUVEL , De ambachtslieden van ’s-Hertogenbosch vóór 1629. <?page no="518"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 519 1708 traten die Altkleiderhändler der Gilde bei, und obwohl sie 1750 ihre eigene Gilde ins Leben riefen, mussten ihre Mitglieder weiterhin der Gilde der Ladenbesitzer beitreten. 17 Auch die Weinhändler, Knopfmacher, Blechschmiede und Spengler waren zu bestimmten Zeiten Mitglieder der Krämergilde. Den Blechschmieden jedenfalls war es bis 1775 gelungen, eine eigene Zunft aufzubauen. 18 Handwerksberufe zu vereinnahmen war für die Händlergilden nicht ungewöhnlich. Oft handelte es sich dabei um eine geeignete Maßnahme zur Stärkung des Gildemonopols, da die aufgenommenen Handwerker häufig Waren anboten, die mit dem Monopol in Beziehung standen. Krämergilden konnten deshalb heterogener sein, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. 19 Um in ’s-Hertogenbosch Mitglied der Krämergilde werden zu können, musste man Bürger (poorter) der Stadt - durch Geburt oder Einbürgerung - sein. Im Vergleich zu anderen Städten der Republik der Niederlande war der Erwerb des Bürgerrechts hier relativ preiswert. Im 18. Jahrhundert kostete es 17 Gulden; verglichen mit Amsterdam (50 fl.) und Nimwegen (48 fl.) war das nicht viel. 20 Außer dem Besitz des Bürgerrechts war die Zahlung einer Aufnahmegebühr notwendig. In der Gildeordnung von 1548 sind drei verschiedene Tarife aufgeführt: Eingebürgerte Zuwanderer (gekochte poorters) hatten 18 fl. 2 stuiver zu zahlen, in der Stadt Geborene (geboren poorters) bekamen einen Nachlass von 2 fl. und zahlten demnach 16 fl. 2 stuivers. Die Söhne von Gildemitgliedern schließlich zahlten nur 7 fl. 12 stuivers. 21 1744 waren diese Sätze noch üblich, doch am 2. Januar 1771 wurden die Tarife für alle drei Rechtsbronnen van het bedrijfsleven en het gildewezen, Tweede stuk, Utrecht 1946, 532f.; GAHt, OSA 3842, Juli 1744. 17 B IBI P ANHUYSEN , Maatwerk. Kleermakers, naaisters, oudkleerkopers en de gilden (1500-1800), Amsterdam 2000, 258. 18 GAHt, OSA 3481, 28. September 1768 (Weinhändler); P RAK , Verzekerd bestaan (wie Anm. 14), 59. 19 1763 etwa versuchte die Krämergilde von ’s-Hertogenbosch, ihren Einfluss durch die Einbeziehung der Fischhändler, Gold- und Silberschmiede, Färber und Bäcker auszuweiten. Dieses Zusammengehen der Ladenbesitzer mit anderen, ansonsten konkurrierenden Gruppen ist auch in anderen Kleinhändlergilden zu beobachten. Die Comansgilde in Haarlem etwa vereinnahmte die Apotheker und einige kleinere Gewerbe, die Sint Nicolaasgilde in Zwolle vereinte Krämer mit Agenten und Kahnführern, und in Maastricht teilten sich die Ladenbesitzer die Gilde mit Kaufleuten und so genannten produzierenden Nebengewerben. GAHt, OSA, 3481, 28. September 1763; M AAIKE B OT , Het Haarlemse Comansgilde. De strijd tegen de ventjagerij in de zeventiende en achttiende eeuw en de uiteindelijke afschaffing van dit gilde, unveröffentlichte MA-Arbeit, Universität Amsterdam 1996, 12, 16f.; S TRENG , Sint Nicolaasgilde (wie Anm. 2), 45f., 179; S TEEGEN , Kleinhandel en kramers (wie Anm. 2), 167-169. 20 M AARTEN P RAK , Republikeinse veelheid, democratisch enkelvoud. Sociale verandering in het Revolutietijdvak, ’s-Hertogenbosch 1770-1820, Nimwegen 1999, 36. 21 Die Aufnahmegebühr betand aus mehreren Beträgen, die jeweils an die Gilde, die Stadt, die Gildevorsteher, den Gildediener und den Altar in der Johanniskirche (St Janskerk) zu zahlen waren. V AN DEN H EUVEL , Ambachtsgilden (wie Anm. 16), 532. <?page no="519"?> Danielle van den Heuvel 520 Kategorien angehoben auf 23.19, 18.19 und 8.4. Der Vergleich mit anderen Zünften ’s-Hertogenboschs und den Kaufmannsgilden in anderen Städten der nördlichen Niederlande führt zu dem Schluss, dass es in ’s-Hertogenbosch verhältnismäßig einfach war, Mitglied der Krämergilde zu werden. Die Zunft der Wundärzte verlangte von Neumitgliedern 100 fl., die Böttcher 61 fl. und die Kahnführer etwa 78 fl. 22 Die Kaufmannsgilden in anderen Städten der Republik waren ebenfalls teurer: Neumitglieder in Maastricht und Zwolle zahlten über 30 Gulden. Nur in Haarlem war es definitiv billiger, der Kaufmannsgilde beizutreten: Hier zahlten Neumitglieder im Höchstfall 9½ Gulden. 23 Außer diesen niedrigen Aufnahmegebühren wurden keine weiteren Bedingungen für den Beitritt gestellt, wie etwa ein Meisterstück oder eine entsprechende Lehre. 24 Ferner konnten Frauen Mitglied werden, wenn sie das Geschäft ihres verstorbenen Ehemannes weiterführten, doch Mitgliederlisten zeigen darüber hinaus, dass das ganze Jahrhundert hindurch auch Witwen ohne eine solche Verbindung ihrer Ehemänner zur Gilde aufgenommen wurden. 25 Verheirateten Frauen war im 18. Jahrhundert der Zugang zur Gilde verwehrt. Natürlich konnten sie einen Laden mit ihrem Mann zusammen führen, doch angemeldet wurde ein solches Geschäft auf den Namen des Mannes. 26 Ob verheiratete Frauen früher unter eigenem Namen eintreten konnten, ist unklar. Generell war der Zugang jedenfalls recht einfach und unterschied sich darin signifikant von dem der Handwerkszünfte. 4. Der Anteil von Frauen unter den Gildemitgliedern Es wurde schon festgestellt, dass im 18. Jahrhundert die Krämergilde die bei weitem größte der Stadt war. Ob dies auch in früherer Zeit der Fall war, lässt sich kaum beurteilen, da es für die Zeit vor 1700 keine quantitativen Angaben über die Mitglieder der Gilde gibt. Da jedoch die Meisterbücher - jährliche Übersichten über die der Gilde neu beigetretenen Meister - aus dem 22 P RAK , Republikeinse veelheid (wie Anm. 20), 98. 23 S TEEGEN , Kleinhandel en kramers (wie Anm. 2), 170; S TRENG , Sint Nicolaasgilde (wie Anm. 2), 50; B OT , Comansgilde (wie Anm. 19), 14. 24 Mit Ausnahme des Besitzes eines Harnischs und eines anständigen Gewehrs, um diese bei der kermisse zu tragen. V AN DEN H EUVEL , Ambachtsgilden (wie Anm. 16), 536; H. J. M. E BELING , Het kramersgild te ’s-Hertogenbosch, in: Taxandria 14 (1907), 16-21, 103-119, 145-162, hier 107. 25 P RAK , Een verzekerd bestaan (wie Anm. 14), 59, 62; E BELING , Kramersgild (wie Anm. 24), 103, 106; P ANHUYSEN , Maatwerk (wie Anm. 17), 260; GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183. 26 Eine Gildeordnung von 1749 deutet darauf hin, dass das Beitrittsverbot für verheiratete Frauen im Jahre 1715 von der städtischen Obrigkeit verfügt wurde. In den Akten der Stadtverwaltung dieses Jahres ist darüber aber nichts zu finden; GAHt, OSA 660 fol. 459, 20. Oktober 1749. <?page no="520"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 521 18. Jahrhundert erhalten sind, können wir wenigstens die Entwicklung der Neumitgliederzahlen für dieses Jahrhundert rekonstruieren. Grafik 1 zeigt alle jährlichen Neubeitritte. Grafik 1: Neuaufnahmen von Meistern in der Krämergilde von ’s-Hertogenbosch 1700-1794 Quelle: GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183 Wie das Diagramm zeigt, traten fast jedes Jahr Dutzende neuer Meister der Gilde bei. Es wird allerdings sofort klar, dass zwischen der ersten und zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu unterscheiden ist: Während die Zeit von 1700 bis 1750 von starken Fluktuationen in der Zahl der Neuaufnahmen geprägt war, zeigen die nächsten fünfzig Jahre eine größere Kontinuität. Zweitens war die Zahl der jährlichen Beitritte recht hoch. In der ersten Jahrhunderthälfte lassen sich Spitzen von etwa 80 bis 100 neuen Meistern jährlich und ein Jahresdurchschnitt von 56 Eintritten erkennen. Von 1750 an änderte sich dies und die Zahl der jährlichen Neubeitritte sank rapide; nach diesem Absinken erreichte die Zahl der Beitritte nur noch Höchstwerte von 46 Meistern pro Jahr (1764 und 1769). Auch die Gesamtentwicklung stabilisierte sich und im Durchschnitt traten jährlich 31 Meister der Gilde bei. Über die Beitritte zu den anderen Gilden ’s-Hertogenboschs sind keine Daten verfügbar, doch bedenkt man, dass die gesamte Mitgliederzahl von 14 der 30 Zünfte der Stadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht einmal die Hälfte des durchschnittlichen Zuwachses der Krämergilde im gleichen Zeitraum von 31 Beitritten pro Jahr erreichte, kann man schließen, dass die Zahl der Beitritte zu dieser Gilde besonders hoch war und die aller 0 20 40 60 80 100 120 1700 1710 1720 1730 1740 1750 1760 1770 1780 1790 Jahre Anzahl weiblich männlich <?page no="521"?> Danielle van den Heuvel 522 anderen Zünfte der Stadt übertroffen haben muss. 27 Wie bereits erwähnt, ist der Sektor insgesamt nur wenig gewachsen, so dass die hohe Zahl jährlicher Beitritte folglich nicht zu einer höheren Zahl von Ladenbesitzern, sondern vielmehr zu einem raschen Wechsel der Gildemitglieder führte. Mit ihren Hunderten von Mitgliedern und durchschnittlich 45 neuen Beitritten jährlich war die Krämergilde keine besonders exklusive Vereinigung. 28 Für Angehörige der Mittelschicht war die Aufnahme keine besonders große Hürde. Die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft waren, wie gesagt, verglichen mit denen anderer Zünfte niedrig. Dies führt zu der Frage, ob diese relativ leichte Zugänglichkeit Auswirkungen auf den Anteil weiblicher Gildemitglieder hatte. Im neuzeitlichen Westeuropa waren Frauen nahezu überall von den Zünften ausgeschlossen. 29 Obwohl manche Zünfte in der niederländischen Republik eine Ausnahme bildeten, war die Vollmitgliedschaft von Frauen nicht üblich. Nur bei einer kleinen Anzahl von Zünften waren Frauen zugelassen, und das oft nur als Mitglieder zweiter Klasse, nicht als Zunftmeister. Näherinnen mussten der Schneiderzunft beitreten und weibliche Torfträger (turfraapsters) und turfvulsters, die den Torf in Behälter füllten, der Torfträgerzunft (turfdragersgilde). Dennoch konnten in beiden Berufsgruppen Frauen nicht dieselben Rechte wie ihre männlichen Kollegen geltend machen. 30 Trotzdem wissen wir aus anderen Studien zur Frauenarbeit in den nördlichen Niederlanden, dass in den Gilden des Einzelhandels weibliche Vollmitglieder nicht ungewöhnlich waren. 31 Besonders die Register von 1742 und 1775 haben bereits gezeigt, dass wenigstens in diesen beiden Jahren etwa ein Drittel der Kleinhändler in der Stadt Frauen waren. Leider können wir die Reihen der Gildemitglieder nicht vollständig rekonstruieren, da nur für Neumitglieder Material vorhanden ist. Wenigstens die Entwicklung der Gildeneintritte von Frauen können wir mit ihnen aber nachzeichnen. 27 P RAK , Een verzekerd bestaan (wie Anm. 14), 59. Siehe Tabelle 4 im Anhang. 28 Diese Zahl ist mit der der Haarlemer Krämergilde vergleichbar. Diese verzeichnete im 18. Jahrhundert durchschnittlich 43 Beitritte pro Jahr; B OT , Comansgilde (wie Anm. 19), 15. 29 Siehe D EBORAH S IMONTON , A History of European Women’s Work: 1700 to the Present, London / New York 1988, bes. Kapitel 3. 30 P ANHUYSEN , Maatwerk (wie Anm. 17); S ANDRA B OS , „Uijt liefde tot malcander“. Onderlinge hulpverlening binnen de Noord-Nederlandse gilden in internationaal perspectief (1570-1820), Amsterdam 1998, 112; A RIADNE S CHMIDT , Women and Guilds: Corporations and Female Labour Market Participation in Early Modern Holland, in: Gender and History 21 (2009), 170-189. 31 In der Haarlemer Lucasgilde beispielsweise, in der die Künstler und Gebrauchtwarenhändler zusammengeschlossen waren, stellten Frauen etwa 20 Prozent der Mitglieder. Auch einige Kornhändlergilden ließen Frauen als Vollmitglieder zu. G ABRIELLE D ORREN , „Wat noijt gebeurt is dat een vrouw meester is geworden…“. Vrouwen en gilden in zeventiende-eeuws Haarlem, in: Ondernemers en bestuurders. Economie en politiek in de Noordelijke Nederlanden in de Late Middeleeuwen en de Vroegmoderne Tijd, C LÉ L ESGER / L EO N OORDEGRAAF (Hrsg.), Amsterdam 1999, 139-151, hier 141; D ANIELLE VAN DEN H EUVEL , Vrouwen en gilden in Amsterdam. Een onderzoek naar vrouwen binnen de Amsterdamse gilden, unveröffentlichte Abschlussarbeit, Vrije Universiteit Amsterdam 2002. <?page no="522"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 523 Grafik 2: Anteil der Frauen unter den neu aufgenommenen Meistern der Krämergilde von ’s-Hertogenbosch 1700-1794 Quelle: GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183 Grafik 2 zeigt, dass der scheinbar leichte Zugang zur Krämergilde keinen besonders hohen Anteil von Frauen bei den Neumitgliedern zur Folge hatte. Während in der ersten Jahrhunderthälfte der Frauenanteil regelmäßig 20 Prozent oder mehr erreichte, kommt dies später nur noch drei Mal vor. Während des 18. Jahrhunderts waren durchschnittlich 12,5 Prozent der Neumitglieder Frauen, wobei 1700 bis 1749 der Anteil etwas höher mit 12,7 Prozent und 1750 bis 1794 etwas niedriger mit 9,0 Prozent lag. 32 Diese Zahlen erscheinen sehr klein im Verhältnis zur generellen Bedeutung von Frauen im Handelssektor. Wollen wir diesen Widerspruch erklären, müssen wir uns zunächst daran erinnern, dass Frauen, die mit ihrem Mann zusammen ein Geschäft führten, nicht in den Registern auftauchen; wie bereits erwähnt, konnte ein gemeinsames Geschäft nicht unter dem Namen der Frau geführt werden. Weiterhin war es nicht nötig, dass eine Witwe, die das Geschäft ihres verstorbenen Ehemannes weiterführte, dieses erneut anmeldete, so dass auch sie in den Listen der Neumitglieder nicht vorkommt. 33 In den Meisterbüchern finden wir deshalb unverheiratete und verwitwete Frauen, doch die Neumitgliederlisten zeichnen möglicherweise ein verzerrtes Bild: die tatsächliche Zahl der Frau- 32 GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183. 33 Zwar steht dies nicht ausdrücklich in der Gildeordnung, es kann aber aus den Mitgliederlisten erschlossen werden. Die als Neumitglieder eingetragenen Witwen sind nicht mit Gildemitgliedern verheiratet gewesen. 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 1700 1710 1720 1730 1740 1750 1760 1770 1780 1790 Jahre Anteil Prozent <?page no="523"?> Danielle van den Heuvel 524 en, die als Gildemitglieder bezeichnet werden können, war wahrscheinlich wesentlich höher als hier dargestellt. Die Unterlagen der Gilde der Altkleiderhändler zeigen, dass die Differenz zwischen dem tatsächlichen Frauenanteil in einer Gilde und dem der Neumitglieder sehr groß sein konnte; während der Frauenanteil unter den Neumitgliedern 8 Prozent betrug, lag der Gesamtanteil weiblicher Gildemitglieder bei 25 Prozent. 34 Anhand der Einwohnerlisten von 1742 und 1775 können wir schließen, dass der Frauenanteil im Einzelhandel ’s-Hertogenboschs wenigstens zweieinhalb Mal so hoch war wie der Anteil der weiblichen Neumitglieder der Krämergilde. Darüber hinaus fügt sich ’s-Hertogenbosch in das Bild, das man durch den Vergleich des Anteils der Frauen in der Krämergilde mit der von Krämergilden anderer Städte erhält. Dank der Forschungen von Erwin Steegen, Jean C. Streng und Maaike Bot gibt es Vergleichsdaten zur Mitgliedschaft der Gilde der Ladenbesitzer in Maastricht, Zwolle und Haarlem, und eine Gegenüberstellung mit den Zahlen aus ’s-Hertogenbosch ist besonders interessant. Sowohl Zwolle als auch Maastricht sind von vergleichbarer Größe (etwa 12.000 Einwohner), Struktur und Lage innerhalb der Republik - weit entfernt von der Kernprovinz Holland. Haarlem dagegen liegt in Holland selbst. Im 18. Jahrhundert hatte die Stadt viel von ihrem Reichtum und ihrer wirtschaftlichen Dynamik eingebüßt. Trotz ihres starken Bevölkerungsrückgangs (von 45.000 im Jahre 1732 auf 21.227 im Jahre 1795) war Haarlem immer noch fast doppelt so bevölkerungsreich wie die anderen hier behandelten Städte. 35 Interessanterweise haben die hinsichtlich Bevölkerung, Struktur und Lage ähnlichen Städte auch einen vergleichbaren Frauenanteil unter den Neumitgliedern, obwohl es geringe Unterschiede gibt. Während im 18. Jahrhundert in Maastricht 15 Prozent der Neumitglieder Frauen waren, waren es in Zwolle nur 10 Prozent. Diese Anteile sind dem von ’s-Hertogenbosch ähnlich. In Haarlem lagen die Dinge vollkommen anders. Zwischen 1730 und 1797 war das Geschlechterverhältnis bei den Neuaufnahmen in die Comansgilde fast ausgeglichen (48 Prozent Frauen). 36 Der große Unterschied zwischen der Krämergilde in Haarlem und denen der anderen Städte geht vermutlich auf zwei Ursachen zurück: Zunächst betrug, wie bereits erwähnt, die maximale Aufnahmegebühr in Haarlem nur 9 fl., was sehr viel weniger als in den anderen Städten war. Die Gilde stand also einem größeren sozialen Spektrum der Stadtbevölkerung offen. Zwei- 34 P ANHUYSEN , Maatwerk (wie Anm. 17), 263. 35 L OURENS / L UCASSEN , Inwoneraantallen (wie Anm. 3). 36 Maastricht 1700-1784 15 Prozent, Zwolle 1700-1800 10 Prozent, Haarlem 1730-1794 48 Prozent. S TEEGEN , Kleinhandel en kramers (wie Anm. 2), 170; S TRENG , Sint Nicolaasgilde (wie Anm. 2), 113; B OT , Comansgilde (wie Anm. 19), 15. Ich danke J. C. Streng für die Erlaubnis, seine Zahlen zum Einzelhandel in Zwolle zu verwenden. <?page no="524"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 525 tens, und dies ist vielleicht noch wichtiger, konnten in Haarlem auch verheiratete Frauen Gildemitglieder werden. 37 Auf diese Weise eröffnete die Gilde neben den Witwen und Unverheirateten nicht nur für eine weitere Gruppe von Frauen Möglichkeiten, sondern ganz allgemein auch für Ehepaare, die auf zwei (oder mehr) Erwerbsquellen aus verschiedenen Berufen oder Tätigkeiten angewiesen waren. Die Folge war, dass in Haarlem jemand, der nicht über die finanziellen Mittel zur Eröffnung eines Ladengeschäfts verfügte, um damit als Ehemann allein die Familie zu ernähren, einen von der Ehefrau betriebenen kleinen Laden mit dem Verdienst aus einer anderen Arbeit oder einem Handwerk kombinieren konnte. Die Gilde in ’s-Hertogenbosch war für Frauen weitaus weniger zugänglich. Es gibt allerdings in den Akten der Stadtwie der Gildeverwaltung Hinweise darauf, dass eine Öffnung der Gilde nach Art der Haarlemer Comansgilde regelmäßig diskutiert wurde. Vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint diese Frage die Gemüter in der Gilde beschäftigt zu haben. 5. Neue Möglichkeiten? Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten in den Ordnungen der Krämergilde von ’s-Hertogenbosch einige institutionelle Änderungen auf. Seit den 1740er Jahren legten die Gildevorsteher dem Stadtrat mehrere Anträge auf Änderung ihrer Aufnahme- und Mitgliederpolitik vor. Jede dieser Änderungen hätte sowohl die gesamte Mitgliederzahl als auch die Zugänglichkeit und Attraktivität der Gilde für Frauen beeinflussen können. 38 1745 wurden die Rechte unverheirateter weiblicher Meister eingeschränkt, 39 1749 baten die Gildevorsteher um die Erlaubnis, die Frauen von Soldaten in die Gilde aufzunehmen, im selben Jahr - und nochmals 1752 - beantragten sie für die Töchter von Gildemitgliedern eine ebenso niedrige Aufnahmegebühr, wie sie den Söhnen zugebilligt wurde, und 1753 forderten sie eine niedrigere Aufnahmegebühr für Arme. 40 37 Keuren en Ordonnantiën der stad Haerlem, op auctorisatie en met goedkeuringe van de edele groot achtbare heeren burgermeesteren en regeerders derzelver stad: bijeen verzameld en in order gebragt en uijtgeg. tot het jaar 1755, deel II, Haarlem 1755, 135f. 38 Nach Jahren des regelmäßigen Zugangs von 80 bis 100 Neumitgliedern sank die Zahl der jährlichen Neueintritte ab 1743 auf etwa 30 bis 37. Möglicherweise war dieser Mangel an Beitritten der Grund für die verschiedenen Anliegen, mit denen die Gilde bei der Stadt vorstellig wurde; siehe Grafik 1. 39 Bisher wurde diese Maßnahme der Gildevorsteher als Versuch missdeutet, den Handlungsspielraum für Frauen zu erweitern, indem unverheirateten Frauen ab 1745 der Beitritt zur Gilde erlaubt wurde. E BELING , Kramersgild (wie Anm. 24), 108; V OS , Vrouwenarbeid (wie Anm. 13), 163. 40 GAHt, OSA, 363 fol. 94v-95v (1745), 660 fol. 548-548v (1749), 3842 (1752, 1753). <?page no="525"?> Danielle van den Heuvel 526 Eine erste institutionelle Änderung wurde vom Stadtregiment am 25. März 1745 gebilligt. 41 In Zukunft verloren allein stehende „Zunftschwestern“ bei der Heirat ihre Mitgliedschaft. Wollte das Paar das Geschäft weiterführen, musste der frisch verheiratete Ehemann der Gilde beitreten. Dadurch wurden unverheiratete Frauen den Witwen gleichgestellt. 42 Obwohl der Grund für dieses Gesuch nicht genannt wird, deuten die Behörden in ihrem Bewilligungsschreiben einen bestimmten Hintergrund an. Der Fall der unverheirateten Frauen wurde dem Stadtregiment zusammen mit einem weiteren Problem vorgelegt. Die Gildevorsteher fragten sich auch, ob für die Führung des gemeinschaftlichen Ladens eines Ehepaares die Frau statt des Mannes der Gilde beitreten könne. Anfangs stellte der Stadtrat die Gehorsamspflicht der Frau gegenüber ihrem Ehemann als Hauptargument gegen die weibliche Vollmitgliedschaft dar, auch wenn sie vorher, wie Witwen und Unverheiratete, Vollmitglieder gewesen waren. Bruchstückhaft aber wird eine andere Absicht deutlich. Laut den Gildevorstehern war es in der Vergangenheit geduldet worden, dass verheiratete Frauen sich in die Gilde einschlichen (inkruijpingen). Trotzdem hatten sich diese Frauen des Betruges an der Gilde, der Stadt und dem hoofdschout (dem Oberschultheißen) schuldig gemacht, da sie Töchter von Gildemeistern waren und damit wesentlich niedrigere Aufnahmegebühren zu zahlen hatten als ihre Ehemänner, wenn diese in die Gilde eingetreten wären. 43 Wir können daraus also schließen, dass der Grund für das Ersuchen der Gildevorsteher an das Stadtregiment weniger die Gleichstellung von Witwen und Unverheirateten, sondern vielmehr die finanziellen Vorteile einer solchen Regelung waren. Durch die Änderung der Rechte lediger Frauen konnten auch die unlauteren Machenschaften der Meisterstöchter unterbunden werden. Es bleibt die Frage, ob diese inkruijpingen wirklich eine solche Bedrohung für die Gilde darstellten. Die zuständigen Stellen der Gilde sprechen nur von vier verheirateten Frauen, die vor 1745 beitraten. 1723 war es Maria van Tessel, die Ehefrau von Martinus Calf, 1740 Maria Copier, Frau von Jan Albinus, und schließlich 1741 die Frauen von La Bronte (Ida Otto) und Lodewijk Gerdessen (Magdalena Catharina Spaler). 44 Lediglich Magdalena Catharina Spaler lässt sich anhand der städtischen Taufregister als Tochter eines Gildemeisters, Anthonij Spaler, Gildemitglied seit 1709, identifizie- 41 GAHt, OSA, 363, fol. 141-142v. 42 Für Witwen war dieser Vorbehalt bei der Gildemitgliedschaft bereits in der Gildeordnung von 1548 niedergelegt; VAN DEN H EUVEL , Ambachtsgilden (wie Anm. 21), 537. Der Gegenstand beider ist die Heirat mit einem Mann, der selbst nicht Mitglied der Gilde war. Die Regelung für die Heirat zweier Gildemitglieder ist nicht bekannt. 43 GAHt, OSA, 363, fol. 94v-95v, 141-142v. 44 GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183. <?page no="526"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 527 ren. 45 Das Stadtregiment beschloss, diese Fälle zwar zu ignorieren, dergleichen in Zukunft aber nicht mehr zuzulassen. Wie hat diese Anpassung der Bedingungen für die Mitgliedschaft von ledigen Frauen in der Gilde sowohl den Frauenanteil als auch die Gilde insgesamt beeinflusst? Unverheiratete hat diese Änderung hinsichtlich in ihrer Mitgliedschaft oder ihrer möglichen Beitrittsabsicht wohl unbeeindruckt gelassen. Die neue Regelung kam erst mit der Heirat zum Tragen. Warf das Geschäft - nach einigen Jahren zumindest - genug Gewinn ab, um die Einstiegsinvestitionen hereinzuholen, dürfen wir annehmen, dass die Satzungsänderung unverheiratete Frauen nicht vom Beitritt zur Gilde abhielt, zumal es auch in den anderen Zünften die Regel war, dass Frauen mit der Heirat ihre Mitgliedschaft verloren. Allerdings ist nach 1744 ein Anstieg des Anteils männlicher Neumitglieder festzustellen. Während zwischen 1740 und 1744 der Anteil der Männer bei den Neubeitritten 79 Prozent nicht überstieg, stieg er nach 1744 auf 86 Prozent und mehr. 46 Für die Gildevorsteher ergab sich aus der Änderung vom März 1745 zumindest ein Problem. Am 27. August unterrichteten sie den Stadtrat, dass sie seit der Entscheidung vom 25. März von vielen Frauen angesprochen worden waren, die wegen ihrer Heirat ihre Gildemitgliedschaft verloren hatten. Alle diese Frauen hatten angefragt, ob es möglich sei, eines ihrer Kinder, die - wenn auch minderjährige - Bürger der Stadt waren, statt ihres verstorbenen Mannes als Gildemeister eintragen zu lassen und das Geschäft unter dem Namen des Kindes zu führen. Außerdem gingen Anträge auf die Mitgliedschaft von Kindern ein, deren Väter keine Bürger der Stadt und deren Mütter keine Gildemitglieder waren. Wie im Falle der oben behandelten Meisterstöchter lag das Problem in der Möglichkeit, über die Mitgliedschaft der Kinder die hohen Ausgaben zu vermeiden, die die Eltern als ordentliche Neumitglieder hätten zahlen müssen. Die Gildevorsteher glaubten nicht, den Kindern die Mitgliedschaft verweigern zu können, da die Gildeordnung von 1548 kein Mindestalter für neue Meister vorschrieb. Sie überlegten jedoch, ob es den Eltern erlaubt sei, ein Gewerbe im Namen des Kindes auszuüben. Obwohl der Stadtrat die Auffassung teilte, dass Minderjährigen eine Mitgliedschaft nicht verwehrt werden könne, griff er der Gilde doch mittels eines Beschlusses unter die Arme, der von den Eltern eines der Gilde beigetretenen Kindes den Eid verlangte, dass das Geschäft nur das Kind betraf. 45 GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183. Magdalena Catharina Spaler war eine Tochter von Antonius Spaler und Maria Agnes Zinck. Sie wurde am 11. Februar 1710 getauft, GAHt, Doop-, Trouw, en Begraafregisters, 212. 46 Die Differenz zwischen 1744 und 1745 beträgt 10 Prozent. <?page no="527"?> Danielle van den Heuvel 528 1749 trat eine weitere Änderung ein, die die Stellung von Frauen in der Gilde beeinflusste. Seit diesem Zeitpunkt konnten die Ehefrauen von Soldaten Mitglieder der Krämergilde werden. 47 Als Garnisonsstadt beherbergte ’s- Hertogenbosch eine große Zahl von Soldaten. Während des 18. Jahrhunderts waren die Soldaten samt ihrer Frauen und Kinder zeitweilig gegenüber den Bürgern der Stadt sogar in der Überzahl. 48 Die Präsenz der Armee lastete schwer auf der Stadt: Soldatenfamilien lebten oft am oder unter dem Existenzminimum. Die Soldatenfrauen versuchten, mit kleinen Arbeiten für die Armee oder durch das Schneidern und Ausbessern von Kleidern etwas dazuzuverdienen, doch wenn ihnen das nicht gelang, waren sie auf die Fürsorge angewiesen. 49 1749 verbesserten sich die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Soldatenfrauen durch die oben erwähnte Änderung. Sie konnten nun, sofern sie Bürger der Stadt wurden, der Gilde beitreten. Mit dem Ende der Dienstzeit des Mannes lief auch dieses Sonderrecht ab, und wenn das Ehepaar das Geschäft weiterführen wollte, musste der Mann der Gilde beitreten. Dies mag als ungewöhnliche Maßnahme erscheinen; wie wir gesehen haben, hatte noch wenige Jahre zuvor der Stadtrat eindeutig erklärt, dass verheiratete Frauen nicht im eigenen Namen Mitglieder der Gilde werden konnten, da sie sich der Vormundschaft ihres Mannes unterzuordnen hatten. Nun wurde eine ziemlich unorganisierte Gruppe von verheirateten Frauen, die keine Bürgerinnen waren, besser gestellt. Welche Motivation mag hier zugrunde gelegen haben? In diesem spezifischen Fall entschied die Obrigkeit, dass sie den Soldatenfrauen das Recht auf Mitgliedschaft in der Gilde nicht verweigern konnte, da die Verordnungen der Stadt festlegten, dass „eine verheiratete Frau mit der Erlaubnis ihres Ehemannes ein Handwerk ausüben kann“. 50 Diese Begründung ist ziemlich bemerkenswert, da nur wenige Jahre zuvor, bei der Entscheidung über den Status unverheirateter Frauen in der Gilde, die Obrigkeit in bezug auf verheiratete Frauen in der entgegengesetzten Richtung argumentiert hatte. Offenbar hatte diese städtische Verordnung damals keine Rolle gespielt. Der Gedanke, dass das Motiv ein anderes war, erscheint daher nicht weit hergeholt. In ihren Eingaben an den Stadtrat stellten die Gildevorsteher fest, dass die Krämergilde ernster und illegaler Konkurrenz durch die Soldatenfrauen ausgesetzt war, die in der Stadt verschiedene Produkte verkauften. 51 Für die Soldatenfrauen war das wahrscheinlich eine wichtige Möglichkeit, ihre Familie zu ernähren. Diesen Frauen den Beitritt zur Gilde zu ermöglichen, 47 GAHt, OSA, 3842, 22. Dezember 1749. 48 K APPELHOF , Mars en Mercurius (wie Anm. 9), 55. 49 V OS , Vrouwenarbeid (wie Anm. 13), 154f. 50 GAHt, OSA, 3842, 22. Dezember 1749. 51 GAHt, OSA, 369, 12. September 1749. <?page no="528"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 529 entlastete die Stadt: indem man sie auf legale Weise für sich selbst sorgen ließ, waren sie nicht auf die Armenfürsorge angewiesen und fielen dementsprechend nicht der Stadt zur Last. Darüber hinaus gewann die Stadt durch diese Änderung der Aufnahmepolitik sowohl Einnahmen als auch ein erhöhtes Maß an Kontrolle hinzu. Die Soldatenfrauen mussten das Bürgerrecht erwerben und, vom Zeitpunkt ihres Gildebeitrittes an, Steuern bezahlen. Außerdem fielen sie nicht mehr unter die Militärgerichtsbarkeit. Obwohl die Gildevorsteher eigentlich ein Verbot der Geschäfte der Soldatenfrauen erwirken wollten, scheinen sie sich der Entscheidung des Stadtrates gefügt zu haben. Dass auch sie etwas durch eine solche Regelung zu gewinnen hatten, könnte den Ausschlag gegeben haben: die Soldatenfrauen mussten ja auch die Aufnahmegebühr entrichten. Allerdings war diese neue Aufnahmeregelung nicht von langer Dauer. Schon 1756 wurde das Privileg kassiert, weil, so der Stadtrat, sowohl dessen Versuch, Soldatenfamilien zum Verlassen der Stadt zu bewegen, als auch die aus der Mitgliedschaft der Soldatenfrauen in der Krämergilde resultierenden ernsten Konflikte mit den Militärgerichten die Maßnahme „illusorisch“ gemacht hatten. 52 Unmittelbar nach der Einführung dieser Regelung im Dezember 1749 sehen wir einen enormen Anstieg der Zahl neuer Gildemeister (Grafik 3). In den folgenden Jahren bleibt die Zahl der Beitritte über der vor 1749, allerdings bei leicht rückläufiger Tendenz. In den beiden Jahren nach der Zulassung der Soldatenfrauen verdoppelt sich die Zahl neu aufgenommener Frauen von vier im Jahre 1749 auf erst neun, dann acht. 53 Sind diese zusätzlichen weiblichen Neumitglieder die Soldatenfrauen, auf die die Maßnahme abgestellt war? Nachdem in den Registern Hochzeiten mit Soldaten vermerkt wurden, lässt sich dies feststellen. In den Aufnahmeregistern stehen insgesamt 4.243 Mitglieder, davon 530 Frauen. Nur drei dieser Frauen waren mit Soldaten verheiratet, von denen eine der Gilde sogar erst Jahrzehnte nach der Aufhebung des Privilegs beitrat. Sie wurde nur deshalb aufgenommen, weil sie mit einem Offizier verheiratet war und beim Stadtregiment um eine Sondererlaubnis nachgesucht hatte. 54 Die wenigen Beitritte von Soldatenfrauen können nicht auf nachlässige Führung der Unterlagen zurückzuführen sein, da mit großer Sicherheit ihr Sonderstatus eingetragen worden wäre: sie mussten die Gilde ja wieder verlassen, sobald ihr Mann aus dem Militär ausschied. Außerdem lässt sich die Aufhebung des Privilegs eben nicht in einem drastischen Rückgang weibli- 52 E BELING , Kramersgild (wie Anm. 24), 110; V OS , Vrouwenarbeid (wie Anm. 13), 156. 53 Das bedeutet eine Steigerung von sieben auf elf bzw. zwölf Prozent. 54 1752: Maria Elisabeth von Heijnsbergen; 1753: Maria van Beugen; 1786-87: Maria Ente; GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183. <?page no="529"?> Danielle van den Heuvel 530 Grafik 3: Neue männliche und weibliche Meister 1740-1760 Quelle: GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183 cher Beitritte nach 1756 ablesen. Die Auswirkungen dieser Maßnahme werden daher allem Anschein nach sowohl hinsichtlich der Soldatenfrauen als auch der Gilde selbst minimal gewesen sein. Dafür kommen zwei Erklärungen in Betracht. Einmal, dass die Soldatenfrauen keine Veranlassung sahen, der Krämergilde beizutreten, weil ihre Verdienstmöglichkeiten auch ohne diesen Schritt groß genug waren. Der Gilde beizutreten wäre dann nur eine unnötige Ausgabe gewesen, zumal die meisten von ihnen vorher ja auch noch das Bürgerrecht von ’s-Hertogenbosch hätten erwerben müssen. Zweitens ist es auch möglich, dass der Beitritt für diese Frauen schlicht zu teuer war. Eine weitere Entscheidung des Stadtrates bezüglich der Gilde der Krämer stützt diese Vermutung. In den 1760er Jahren schrieben einige Soldatenfamilien - selbst die Schweizer - ihre Kinder als Mitglieder ein, um ein Ladengeschäft zu betreiben. 55 Auf diese Weise fielen die Kosten der Einbürgerung weg: die Kinder waren in der Stadt geboren und damit automatisch Stadtbürger. Offenbar waren die Soldatenfamilien auf den Zusatzverdienst aus einer solchen Tätigkeit angewiesen, und ohne Gildemitgliedschaft schien es nicht zu gehen. Zusammen mit der Konkurrenz der Soldatenfrauen thematisierten die Gildevorsteher noch ein weiteres Problem: das der Meisterstöchter. Laut Gildevorstand gab es trotz der eindeutigen und strengen Vorschrift, dass nur 55 Niederländisch: Dat ook […] de militairen, zelfs de Zwitsers, hunne kinderen 7 a 8 jaren oud en alhier geboren tot kramer lieten aanstellen en op dat pretext negotie voerden; GAHt, OSA, 3481. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1740 1742 1744 1746 1748 1750 1752 1754 1756 1758 1760 Jahre Anzahl weiblich männlich <?page no="530"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 531 Söhnen von Gildemitgliedern der niedrigere Beitrittssatz zu gewähren war, große Widerstände und Schwierigkeiten. 56 Es scheint, als ob einige Töchter von Mitgliedern gleiche Rechte wie die Meistersöhne einforderten und beim Eintritt in die Gilde nur den ermäßigten Satz zahlen wollten. Nachdem ein Ausschuss die Sache untersucht hatte, entschied die Stadt jedoch, dass diese Ausnahme nur für die Söhne gelte. 57 Den Streit zu beenden vermochte dieser Beschluss allerdings nicht. Offensichtlich waren Gildemitglieder und Vorsteher weiter damit befasst, und im Oktober 1752 stellte die Gilde einen neuen Antrag. Diesmal argumentierte sie etwas anders und ging davon aus, dass den Töchtern die gleichen Rechte zustünden wie den Söhnen, da das hergebrachte Recht von ’s-Hertogenbosch den Söhnen keinen Vorteil gibt, der von den Töchtern nicht geteilt wird. 58 Es muss eine interne Diskussion gegeben haben, in der die Töchter die Gildevorsteher überzeugen konnten, für sie zu sprechen. Auf der Sitzung vom 26. November 1753 wurde die Sache offiziell vertagt, und die letztendliche Entscheidung des Stadtrates ist nicht bekannt. Überraschend ist, dass sich zwischen 1745 und 1784 in den Büchern der Gilde tatsächlich Frauen finden, die zum selben ermäßigten Satz wie die Söhne von Mitgliedern aufgenommen wurden. Am 18. Mai 1746 stellte der Bandweberlehrling Casper Kolf einen Antrag an die Gildevorsteher, ihn wenn möglich zum ermäßigten Satz in die Gilde aufzunehmen. Er sei im Begriff, das Dienstmädchen Johanna van Dooren zu heiraten. Da beiden das Geld fehle, um sich selbst, Johannas Kind aus einer früheren Ehe und obendrein noch ihren Vater, der aufgrund seines Alters zu keiner Arbeit mehr imstande sei, zu ernähren, wollten sie ein eigenes kleines Geschäft aufbauen, einen Laden. Sie seien jedoch nicht in der Lage, die volle Beitrittsgebühr zu entrichten. Seiner Bitte wurde entsprochen. 59 Fünf Jahre später scheinen die Gildevorsteher erneut mit jemandem, der sich die volle Beitrittsgebühr nicht leisten konnte, nachsichtig gewesen zu sein. Sie fanden heraus, dass Fredrik Camps seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Spitze verdiente, ohne Mitglied der Krämergilde zu sein. Fredriks Frau erklärte, dass er die Beitrittssumme nicht auf einmal aufbringen konnte. Die Gildevorsteher entschieden, dass Fredrik in zwei Raten bezahlen könne. Dies sollte allerdings nicht zum Präzedenzfall werden; Fredrik war nur eine Ausnahme. 60 56 GAHt, OSA, 660, fol. 459-465, 12. September 1749. Niederländisch: groote tegenstrevingen en moeijlikheden. 57 GAHt, OSA, 369, fol. 707v und 708, 22. Dezember 1749. 58 GAHt, OSA, 663, fol. 498-499, 9. Oktober 1752. Niederländisch: maxime costumiere alhier vigeerende genoegsam geen voordeele aan de zoonen worden geatribueert, welke de dogters niet meede gedeelt warden. 59 GAHt, OSA, 3546, 18. Mai 1746. 60 Letztendlich verließ Fredrik die Stadt und zahlte seine Schulden bei der Gilde nicht; GAHt, OSA, 3551. Im Dezember 1752 scheinen zwei weitere Mitglieder zu niedrigeren Sätzen zugelassen worden <?page no="531"?> Danielle van den Heuvel 532 Zwei Jahre später jedoch fand die letzte Anpassung der Aufnahmepraxis statt. 1753 stimmten die Stadtväter der Senkung der Aufnahmegebühren für Arme zu. Offenbar wurde die Gilde immer öfter gebeten, ihre Beitrittsgebühr zu senken, da Arme in die Gilde aufgenommen werden wollten, aber die Gebühr nicht zu zahlen vermochten. Man entschied, dass Arme, statt eine Beitrittsgebühr von im Höchstfall 18 fl. zahlen zu müssen, jährlich eine Summe von maximal anderthalb Gulden zahlen sollten. Wer sich dafür entschied, wurde aber nicht Vollmitglied, und seine Kinder galten nicht als Kinder eines Gildemeisters. Diese Mitglieder wurden daher auch nicht in den Meisterbüchern aufgeführt. 61 Aus den Rechnungsbüchern können wir ihre Zahl jedoch rekonstruieren. In diesem Diagramm sehen wir, dass der Mitgliederrückgang, der seit 1744 zu beobachten ist, größtenteils durch die Zulassung von Armen mit niedrigeren Gebühren ausgeglichen wurde. Die Spitzenwerte der Jahre 1727 bis 1742 werden zwar nicht mehr erreicht, doch dank dieses Zuflusses einer neuen Art von Mitgliedern bleibt die Zahl der Neueintritte auf demselben Grafik 4: Reguläre Beitritte und Beitritte von Armen in die Krämergilde 1730-1790 Quelle: GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183 und GAHt, OSA, 3494, 3504, 3514, 3524, 3534 zu sein. Laut der Mitgliederlisten wurden Johannes Clerk (6. Dezember) und Jan Heesels (19. Dezember) ausnahmsweise aufgenommen; GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183. 61 GAHt, OSA, 3842, 26. November 1753. 0 20 40 60 80 100 120 1730 1735 1740 1745 1750 1755 1760 1765 1770 1775 1780 1785 1790 Jahre Anzahl Neue reguläre M itglieder Neue arme M itglieder <?page no="532"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 533 Niveau. So gelang es der Gilde, ihre Mitgliederzahl zu halten, weswegen wir keinen Unterschied in der Zahl der Ladenbesitzer zwischen 1742 und 1775 feststellen. Normalerweise stellten die Armen den kleineren Teil der Neumitglieder, doch 1770 und 1790 wurden mehr arme als reguläre Gildemitglieder eingeschrieben. Daraus lässt sich folgern, dass die ursprünglich verlangte Geldsumme für viele zu teuer geworden war. Neben wirtschaftlichen Turbulenzen erlebte ’s-Hertogenbosch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch eine zunehmende Proletarisierung seiner Einwohner. Erhielten 1775 nur 20 Prozent der Stadtbevölkerung Armenunterstützung, so war diese Zahl 15 Jahre später bereits auf 30 Prozent gestiegen. 62 Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Krämergilde immer weniger Leute fand, die die volle Beitrittsgebühr bezahlen konnten. Interessanterweise scheinen die Kosten für die Geschäftseröffnung (Warenlager, Ladenausstattung, angemessene Räume) für diese Leute kein Hindernis gewesen zu sein. Grafik 4 zeigt, dass in dem Moment, in dem die Gebühren gesenkt wurden, Dutzende neuer Mitglieder eingeschrieben wurden. 63 Tabelle 3: Anteil der Frauen in der Krämergilde von ’s-Hertogenbosch, 1755-1790 Anteil reguläre neue Mitglieder Anteil neue Mitglieder insgesamt 1755 3% 15% 1760 7% 30% 1765 13% 39% 1770 3% 16% 1775 3% 27% 1780 11% 16% 1785 7% 15% 1790 10% 18% Quelle: GAHt, Archief van het kramersen tingietersgilde, 183 und GAHt, OSA, 3494, 3504, 3514, 3524, 3534 62 M AARTEN P RAK , Een verbazende menigte armen. Zorg en samenleving, in: V OS , ’s-Hertogenbosch (wie Anm. 3), 79-93, hier 80. 63 Ich bin mir noch nicht sicher, wie viel für eine Ladeneröffnung in ’s-Hertogenbosch in jedem Falle investiert werden musste. Johannes C. G. M. Jansen hat die Angaben von Auktionen benutzt, um die nötige Summe für ein Kaffee- oder Teegeschäft in Maastricht am Ende des 18. Jahrhunderts bei knapp unter 100 Gulden anzusetzen. Da die Transportkosten für die auf Amsterdamer Auktionen erworbenen Waren für Ladenbesitzer in Maastricht höher gewesen sein müssen als für solche aus ’s- Hertogenbosch, darf man annehmen, dass im letzteren Fall die erforderliche Summe etwas niedriger war; J OHANNES C. G. M. J ANSEN , Wilt u koffie of thee? Consumentengedrag in Maastricht in de achttiende eeuw, in: NEHA-Jaarboek voor Economische, bedrijfsen techniekgeschiedenis 60 (1997), 36-68, hier 65. <?page no="533"?> Danielle van den Heuvel 534 Hat diese Anpassung des Jahres 1753 auch zu einem höheren Frauenanteil in der Gilde geführt? Aus der obigen Tabelle lässt sich schließen, dass die Senkung der Gebühren für Arme automatisch zu einem höheren Frauenanteil in der Gilde führte. Links ist der Anteil der Frauen unter den Neueintritten angegeben, rechts der Gesamtanteil unter den Neumitgliedern und Armen. Obwohl die Zahlen nicht hoch sind (4 bis 11 arme Frauen jährlich), veränderten sie dennoch das Geschlechterverhältnis unter den Neumitgliedern, wie die Tabelle deutlich zeigt. Der höchste Anteil an Eintritten von Meisterinnen ist 1765 mit 13 Prozent erreicht, während der Frauenanteil unter den Mitgliedern insgesamt (sowohl Meister als auch arme Mitglieder) bei 39 Prozent liegt. Die Zensuslisten von 1742 und 1775 zeigen jedoch, dass, wenigstens in diesen beiden Jahren, die Zahl der Frauen in der Gilde abnahm, wenn auch nur minimal. Letztendlich hat dasjenige Instrument, das am wenigsten zur Verbesserung oder Einschränkung der Stellung der Frauen in der Gilde gedacht war, diese am meisten beeinflusst. 6. Zusammenfassung Eine Analyse des Arbeitsmarktes der Stadt ’s-Hertogenbosch im 18. Jahrhundert hat gezeigt, dass der frühneuzeitliche städtische Arbeitsmarkt für Frauen stark segmentiert war. Deshalb war der Einzelhandel als wirtschaftlicher Sektor nicht für alle Frauen von gleicher Bedeutung. Durch die Einbeziehung der Textilarbeit in die Analyse wurde deutlich, dass diese vor allem eine Beschäftigung für ärmere Frauen war, während die wohlhabenderen Einwohnerinnen ’s-Hertogenboschs weitgehend im Klein- und Einzelhandel ein Auskommen fanden. Veränderungen der Wirtschaftslage hatten daher Rückwirkungen auf den Frauenanteil in beiden Sektoren: Während in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Einzelhandel die wichtigste Tätigkeit weiblicher Haushaltsvorstände war, änderte sich das mit dem Anwachsen des örtlichen Textilgewerbes, das auch bislang unbeschäftigte Frauen mit Arbeitsplätzen versorgte. Die wachsende Proletarisierung der Stadtbevölkerung am Ende des Jahrhunderts verstärkte diese Entwicklung wohl noch. In vielen Städten der nördlichen Niederlande stand der Einzelhandel unter der Kontrolle der Krämergilden. Diese Gilden standen der Mitgliedschaft von Frauen nicht strikt ablehnend gegenüber, sondern nahmen oft Witwen und unverheiratete Frauen auf. Dennoch führte diese relative Offenheit Frauen gegenüber nicht zu einem weiblichen Übergewicht unter den Ladenbesitzern. In ’s-Hertogenbosch waren etwa ein Drittel der Mitglieder der Krämergilde Frauen. Der Anteil der Frauen unter den neuen Mitgliedern war mit 12,5 Prozent allerdings erheblich niedriger. Da diese Zahl etwa der <?page no="534"?> Kauffrauen in der Republik der Niederlande 535 anderer Kaufmannsgilden in den Niederlanden entspricht, ist anzunehmen, dass es sich mit der Gesamtzahl der weiblichen Mitglieder ebenso verhält. In Haarlem zeichnete sich der Einzelhandel durch einen außerordentlich hohen Anteil von Frauen aus. Ob diese Stadt als für die Republik der Niederlande ungewöhnlich oder als für die Provinz Holland typisch zu gelten hat, bleibt noch zu klären. Wahrscheinlich als Folge der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung ’s- Hertogenboschs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sah sich die Gilde der Ladenbesitzer einem Rückgang der Beitrittszahlen gegenüber. Wir dürfen annehmen, dass dies eine Lockerung der Beitrittsbedingungen zur Folge hatte, die (überraschenderweise) vor allem Frauen betraf. Als Ärmere zu geringeren Beitrittsgebühren in die Gilde aufgenommen wurden, war dies für Frauen interessanterweise von größerem Vorteil als jene Maßnahmen, die spezifisch auf die Position der Frauen in der Gilde Bezug genommen hatten. Daran zeigt sich, dass vor 1753 eine Gildemitgliedschaft für viele Frauen zu teuer gewesen war. Aus dem Zusammenhang zwischen geänderten Aufnahmebedingungen und der Entwicklung der weiblichen Mitgliederzahlen in der Krämergilde können wir schließen, dass der relativ kümmerliche Anteil von Frauen unter den (neuen) Gildemitgliedern in hohem Maße mit dem Fehlen der finanziellen Mittel zum Aufbau eines eigenen Geschäfts zu erklären ist. Das Beispiel der Haarlemer Comansgilde untermauert diesen Verdacht, da es zeigt, dass schon eine so simple Maßnahme wie die eigenständige Zulassung verheirateter Frauen zur Gilde und demnach die Möglichkeit für Mann und Frau, in verschiedenen Gewerben zu arbeiten, die Gilde attraktiver machte. Natürlich zeigte sich das vor allem im Anteil neuer weiblicher Mitglieder, der dreibis fünfmal so hoch lag wie in anderen Städten, doch es ist auch vorstellbar, dass dadurch insgesamt mehr Leute die Möglichkeit hatten, ein Geschäft zu eröffnen. Abschließend lässt sich feststellen, dass für Frauen aus der Mittelschicht das Ladengeschäft eine wichtige Möglichkeit war, Geld zu verdienen. Dadurch, dass sie die finanziellen Hürden senkte, konnte eine Krämergilde jedoch leicht die Zahl weiblicher Gildemitglieder erhöhen, da es so auch für die Ärmeren möglich wurde, in das Geschäft einzusteigen. Dennoch werden sehr arme Frauen von solchen Maßnahmen nicht profitiert und weiterhin in den erschwinglichsten und somit am leichtesten zugänglichen Berufen gearbeitet haben, die in ’s-Hertogenbosch vor allem im Textilgewerbe zu finden waren. <?page no="535"?> Danielle van den Heuvel 536 Anhang Tabelle 4: Gilden und Mitgliederzahlen in ’s-Hertogenbosch, 1750-1800 Gilde Jahr Anzahl der Mitglieder Handschuhmacher - Getreideverkäufer und Lebensmittelhändler ? Schulmeister 1770 ? Blechschmiede und Klempner 1775 5 Leinen- und Wollweber 1785 5 Binnenschiffer 1770 5 Maler und Glasmacher 1775 8 Müller und Ölmüller 1775 10 Getreide- und Salzmesser 1770 14 Gold- und Silberschmiede 1774 16 Bahrenträger 1770 16 Hafenarbeiter 1770 16 Bierträger 1770 16 Kutscher 1770 20 Sackträger 1770 24 Schmiede 1754 26 Schiffsführer 1789 27 Wundärzte 1780 32 Torfträger 1770 33 Zimmerleute 1773 34 Fischhändler 1779 36 Bandmacher 1753 41 Bäcker 1792 45 Gerber und Schuhmacher 1770 45 Nadelmacher 1793 54 Metzger 1767 62 Böttcher 1775 62 Trockenscherer und Schneider 1773 94 Einzelhändler 1775 530 Quelle: Prak, Een verzekerd bestaan, 59. Database Blokboeken, Database Noord-Nederlandse Gilden 1200-1800 International Institute of Social History Amsterdam. <?page no="536"?> 6. Minderheiten in der frühneuzeitlichen Wirtschaft <?page no="538"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer. Die Rolle der Juden im frühneuzeitlichen Handel am Beispiel der österreichischen Länder im 17. Jahrhundert Peter Rauscher Für Martha Keil Die Wirtschaftstätigkeit von Juden war und ist einerseits eine traditionelle Quelle antijüdischer Stereotype, angefangen vom Juden als Wucherer, Betrüger, „Leuteaussauger“ bis hin zum Schmuggler und Hehler. 1 Andererseits war es zwar keineswegs ausschließlich, aber doch in einem erheblichen Maß die ökonomische Ebene, auf der engere soziale Kontakte zwischen Juden und ihrer christlichen Umwelt stattfanden. 2 Da Juden der Besitz landwirtschaftlicher Nutzflächen nicht gestattet und damit im Gegensatz zu großen Teilen der christlichen Bevölkerung die Produktion agrarischer Güter für sie nicht möglich war, und Juden außerdem von den zünftisch organisierten Handwerken ausgeschlossen blieben, bildete der Warenhandel einen Schwerpunkt jüdischer Erwerbstätigkeit in der Frühen Neuzeit. 3 Eng mit dem Warenhan- Dieser Aufsatz beruht auf Ergebnissen der Projekte „Germania Judaica IV - Austria Judaica“ (finanziert vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung/ Österreich, 1998-2005), und „Juden in Niederösterreich im 18. Jahrhundert. Ein Forschungsdesiderat“ (gefördert von der Abteilung „Kultur und Wissenschaft“ des Landes Niederösterreich, 2005), die am Institut für jüdische Geschichte Österreichs (St. Pölten) durchgeführt wurden. Vgl. P ETER R AUSCHER , 150 Jahre jüdisches Leben in Österreich. Das Forschungsprojekt Austria Judaica des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich (1998-2005), in: Frühneuzeit-Info 16 (2005), 81-86. Gewidmet sei diese Studie der Direktorin des Instituts, PD Dr. Martha Keil, als kleiner Dank für ihre großherzige Unterstützung. 1 Vgl. S TEFAN R OHRBACHER / M ICHAEL S CHMIDT , Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek bei Hamburg 1991, 43-147. 2 Zum Problemfeld: B ARBARA S TAUDINGER , Nur am Rande der Gesellschaft? Die jüdische Minderheit zwischen Abgrenzung und Integration im frühneuzeitlichen Österreich, in: Ein Thema - zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, E VELINE B RUGGER / B IRGIT W IEDL (Hrsg.), Innsbruck 2007, 67-89; S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999, 471. 3 Vgl. U LLMANN , Nachbarschaft (wie Anm. 2), 229-343. Ausschließlich auf Brandenburg-Preußen im späten 17. und im 18. Jahrhundert bezieht sich S TEFI J ERSCH -W ENZEL , Jewish Economic Activity in Early Modern Times, in: In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany, R ONNIE P O -C HIA H SIA / H ARTMUT L EHMANN (Hrsg.), Cambridge u. a. 1995, 91-101. Wie die Autorin selbst betont, war „Jewish life in Brandenburg-Prussia [...] not typical of Jewish life in general; ” ebd., 92. Selbstverständlich waren keineswegs alle jüdischen Erwachsenen im Handel tätig. Unklar ist noch immer, in welchem Umfang Frauen selbständig Geschäften nachgingen oder in die ihrer Ehemänner involviert waren, und schließlich ist auf eine erhebliche Zahl von Menschen hinzuweisen, die im innerjüdischen Dienstleistungssektor - sei es im Auftrag einer Gemeinde oder eines wohlhabenderen Haushalts - angestellt waren. Zur Berufstätigkeit jüdischer Frauen siehe M ICHAEL T OCH , Die jüdische Frau im Erwerbsleben des Spätmittelalters, in: Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland, J ULIUS C ARLEBACH (Hrsg.), Berlin 1993, 37-48; M ARTHA K EIL , Ge- <?page no="539"?> Peter Rauscher 540 del verbunden war die Vergabe meist kleinerer Kredite, die häufig gegen Pfand gewährt wurden, doch dürfte bereits im ausgehenden Mittelalter die Bedeutung des Kreditgeschäfts als Haupterwerbsquelle für Juden zurückgegangen sein und bis spätestens zum 17. Jahrhundert diese Funktion endgültig verloren haben. 4 Allein aus diesem Grund ist das Thema „Handel“ für Historikerinnen und Historiker, die sich mit den Lebensbedingungen von Juden in der christlichen Umwelt beschäftigen, von erheblicher Bedeutung, und dies sowohl für das dörfliche als auch für das städtische Judentum. Eine Auseinandersetzung mit dem jüdischen Handel ist allerdings weit davon entfernt, nur für die Erforschung der materiellen Grundlagen der Juden als der nichtchristlichen Minderheit in Europa schlechthin interessant zu sein, sondern ist Teil der europäischen bzw. globalen Wirtschafts- und Kommunikationsgeschichte. So konnten beispielsweise Juden beim Handel zwischen dem „christlichen“ Europa und dem Osmanischen Reich auf beiden Seiten der Grenze auf Kontakte zu Glaubensgenossen zurückgreifen. 5 „Jude sein“ war damit die Voraussetzung für die Integration in ein überregionales Handelsnetz. Fernand Braudel nennt in dem Band seines dreiteiligen Werks zur „Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts“, der dem Handel gewidmet ist, Juden - neben den Armeniern - als typisches Volk von Kaufleuten. 6 Auch schäftserfolg und Steuerschulden. Jüdische Frauen in österreichischen Städten des Spätmittelalters, in: Frauen in der Stadt, G ÜNTHER H ÖDL / F RITZ M AYRHOFER / F ERDINAND O PLL (Hrsg.), Linz 2003, 37-62. 4 M ICHAEL T OCH , Geldleiher und sonst nichts? Zur wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 22 (1993), 117- 126, hier 124; D ERS ., Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998, 12. Vgl. auch die auf Beispielen aus dem hessischen Raum basierende Studie: D ERS ., Die ländliche Wirtschaftstätigkeit der Juden im frühmodernen Deutschland, in: Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutschjüdischen Geschichte, M ONIKA R ICHARZ / R EINHARD R ÜRUP (Hrsg.), Tübingen 1997, 59-69, vor allem 61-63. Zur Dominanz des Warenhandels siehe R EINHARD J AKOB , Frühneuzeitliche Erwerbs- und Sozialstrukturen der schwäbischen Judenschaft dargestellt vornehmlich am Beispiel der oettingischen Stadt Harburg an der Wörnitz, in: Aschkenas 3 (1993), 65-84, hier 67; J. F RIEDRICH B AT- TENBERG , Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001, 94-96. Zu Burgau vgl. U LLMANN , Nachbarschaft (wie Anm. 2), 290-311. Zum Pfandhandel: D IES ., ‚Leihen umb fahrend Hab und Gut‘. Der christlich-jüdische Pfandhandel in der Reichsstadt Augsburg, in: Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, R OLF K IEßLING / S A- BINE U LLMANN (Hrsg.), Berlin 1999, 304-335; B ERNHARD S TEGMANN , Aspekte christlich-jüdischer Wirtschaftsgeschichte am Beispiel der Reichsgrafschaft Thannhausen, in: Ebd., 336-362, hier 350- 352. 5 Vgl. exemplarisch die Handelstätigkeit des Wiener (Hof)Juden Lebl Hörschl bei R EINHARD B UCH- BERGER , Lebl Hörschl von Wien und Ofen: Kaufmann, Hofjude und Spion des Kaisers, in: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, S ABINE H ÖDL / P ETER R AUSCHER / B ARBA- RA S TAUDINGER (Hrsg.), Berlin / Wien 2004, 217-250. Vgl. D ERS ., Das Leben im Grenzraum. Grenzräume zwischen Österreich, Ungarn und dem Osmanischen Reich - Die Grenze der Christenheit als Chance für die Juden? , in: Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich 1300-1800, R OLF K IEßLING / P ETER R AUSCHER / S TEFAN R OHRBACHER / B ARBARA S TAUDINGER (Hrsg.), Berlin 2007, 217-251. 6 F ERNAND B RAUDEL , Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2: Der Handel, 3 Bde., München 1986, 162-167. <?page no="540"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 541 wenn Juden nicht - wie Werner Sombart postulierte 7 - die Entstehung des Kapitalismus entscheidend beeinflussten, übten sie vor allem seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als so genannte „Hoffaktoren“ in einem zunehmenden Maß spezifische Funktionen in der Staatsfinanzierung, vor allem der Kriegsfinanzierung, und im Handel aus, die sie - zumindest in manchen Regionen - sowohl für den lokalen und regionalen als auch für den überregionalen Warenverkehr unentbehrlich machten. 8 So klar diese groben Entwicklungslinien zu sein scheinen, so schwierig ist es, sowohl die Quantität der Geschäfte von Juden als auch die Organisationsstruktur jüdischer Unternehmen zu bestimmen. Aus diesem Grund sind regionale Detailstudien, die die Rahmenbedingungen jüdischer Existenz unter enger Rückbindung an die jeweilige Quellenlage reflektieren, von großer Bedeutung. 9 Für Österreich unter der Enns ist es mangels statistischen Materials unmöglich, den Anteil jüdischer Kaufleute am gesamten Handelsvolumen oder dem einzelner Branchen zu beziffern. „Absolute“ Angaben über die Handelsaktivitäten von Juden sind daher nicht möglich, hingegen können Handelszweige, in denen Juden verstärkt engagiert waren, untersucht und Konstanten und Entwicklungstendenzen aufgezeigt werden. Mit Hilfe einer Untersuchung der Handelstätigkeit von Juden können jedoch nicht nur tiefere Erkenntnisse zur jüdischen Geschichte gewonnen, sondern auch allgemeinere Aussagen über die Transformation des wirtschaftlichen Denkens während des 17. Jahrhunderts getroffen werden. So zum Beispiel im Fall der österreichischen Länder, genauer in den Ländern Österreich unter und ob der Enns einschließlich der Residenzstadt Wien, mit denen sich diese Untersuchung beschäftigt. 10 Noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts zeigten sich die niederösterreichischen Landstände gegenüber den landesfürstlichen Behörden überzeugt, dass die Juden mit ihrem Betrug und Wucher die christlichen Untertanen aussaugten, die Jugend zur Verschwendung verführten, durch ihren Handel den 7 W ERNER S OMBART , Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911. 8 Aus der breiten Hofjudenforschung sei hier lediglich hingewiesen auf das grundlegende aber problematische Werk von H EINRICH S CHNEE , Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, 5 Bde., Berlin 1953- 1965; vgl. S TEPHAN L AUX , „Ich bin der Historiker der Hoffaktoren“. Zur antisemitischen Forschung von Heinrich Schnee (1895-1968), in: Simon Dubnow Institute Yearbook V (2006), 485-514. Sowie: Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, R OTRAUD R IES / J. F RIEDRICH B ATTENBERG (Hrsg.), Hamburg 2002. 9 Vgl. B ATTENBERG , Juden (wie Anm. 4), 96. 10 Die grundlegende Darstellung der jüdischen Geschichte in Österreich unter der Enns im 16. und 17. Jahrhundert stammt von B ARBARA S TAUDINGER , „Gantze Dörffer voll Juden.“ Juden in Niederösterreich 1496-1670/ 71, Wien 2005. Zum breiteren Kontext siehe: D IES ., Die Zeit der Landjuden und der Wiener Judenstadt 1496-1670/ 71, in: E VELINE B RUGGER / M ARTHA K EIL / C HRISTOPH L IND / A LBERT L ICHTBLAU / B ARBARA S TAUDINGER , Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, 229- 337. <?page no="541"?> Peter Rauscher 542 Christen das Brod vor dem Maul abschneiden und die aufgekauften Waren außer Landes schmuggeln würden, wodurch schließlich auch dem Landesfürsten großer Schaden entstünde. 11 Aus diesen und einer Vielzahl anderer Gründe hatten die Stände seit dem 15. Jahrhundert immer wieder die Ausweisung der wenigen Juden, die es in Österreich unter der Enns gab, oder zumindest eine Verschärfung ihrer Aufenthaltsbedingungen verlangt. Ein dreiviertel Jahrhundert später, nachdem die Juden tatsächlich aus Wien und Niederösterreich vertrieben worden waren, liest sich eine Stellungnahme der Stände ganz anders: Zehenten berichten mehr wohlgedachte Herrn Verordnete [der Landstände], dass sie wegen der ausgeschafften Judenschaft, auf dass selbig in diesem Land Österreich die Handelsschaft treiben mögen, über die darüber gehandelte Notdurften eiferigist urgirten, indeme nun hieran in Verschleißung und Verkaufung des Lands fast unversilberlichen Effecten denen löblichen Ständen merklichen daran gelegen und die zulassende Handlung denen Herrschaften, Burgern, Untertanen und Inwohnern zu sonderbahren Nuzen, auch besserer Bestreitung der Landsanlagen gedeiete, vermeindte der löbliche Ausschuß, das solches zu erhalten die Herrn Verordnete unablässlich inhaerieren möchten. 12 Diese Einschätzung der Verordneten und des Ausschusses der Landstände Österreichs unter der Enns, des heutigen Niederösterreich, über die Bedeutung der Juden für den Handel stammt vom Juli 1675. Damals lebten bereits seit über vier Jahren keine Juden mehr in Österreich. Nachdem bereits 1669 der ärmere Teil der Wiener Judenschaft, etwa 1.400 Personen, auf landesfürstlichen Befehl die Residenzstadt und das Land Niederösterreich hatte verlassen müssen, wurde Ende Februar 1670 die Ausweisung aller übrigen Juden aus Wien angeordnet. Auch die Landjuden, die vor allem in Dörfern und Märkten adeliger Grundbesitzer gelebt hatten, mussten bis Ostern 1671 das Land räumen. 13 Die Gründe für diese drastische Maßnahme Kaiser Leopolds I., die nicht nur von den beiden periodischen Geschichtschroniken der Zeit, dem Diarium und dem Theatrum Europaeum, sondern auch in Form von Spottgedich- 11 Herrn Landtmarschalch und der herrn verordneten bericht, die außschaffung der juden, ihre wuecherliche betriegliche partida und correspondents mit den türcken betr. (1601), Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), Ständische Akten, B-1-24, fol. 71v-75r, Zitat fol. 72v. 12 Abschlussgutachten der Verordneten der Landstände in Österreich unter der Enns über den Handel der Juden in Österreich, o. O. [Wien], 1675 Juli 24, NÖLA, Ständische Akten B-1-24, fol. 107v. 13 D AVID K AUFMANN , Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich. Ihre Vorgeschichte (1625-1670) und ihre Opfer, Wien 1889; P ETER R AUSCHER , Ein dreigeteilter Ort: Die Wiener Juden und ihre Beziehungen zu Kaiserhof und Stadt in der Zeit des Ghettos (1625-1670), in: Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit, S USANNE C LAUDINE P ILS / J AN P AUL N IEDERKORN (Hrsg.), Innsbruck 2005, 87-120; D ERS ., „Auf der Schipp“. Ursachen und Folgen der Ausweisung der Wiener Juden 1670, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 16 (2006), 421-438; S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 314-322, dort mit weiterer Literatur. <?page no="542"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 543 ten thematisiert wurde und als Ereignis auch Eingang in wichtige zeitgenössische Biographien des Kaisers fand, wurden in der Forschung öfter diskutiert. Protokolle der entscheidenden Sitzungen der Geheimen Konferenz, an denen auch der Kaiser selbst teilgenommen hatte, sind nicht überliefert. Aus den erhaltenen Akten, den ganz oder halb offiziösen zeitgenössischen Berichten und aus dem Verhalten Leopolds während der Verhandlungen um die Wiederaufnahme der Vertriebenen wenige Jahre später wird ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Interessen deutlich: die ökonomische Konkurrenz der Wiener Bürgerschaft und der Juden, die religiös-antijüdischen Vorstellungen am Kaiserhof, ja in der Familie des Kaisers selbst, und Rivalitäten einzelner Parteiungen am Hof. Ebenfalls eine Rolle spielten die internen Auseinandersetzungen innerhalb der Wiener Judenschaft und die Rückstände bei der Steuerleistung, die die Behörden immer wieder beschäftigten. Im Gegensatz zum Kaiser und einem Teil seiner Räte waren sich die Wirtschafts- und Finanzfachleute über die negativen Folgen der Ausweisung weitgehend einig: Die Tatsache, dass die Juden ausgewiesen worden waren, hatte nicht nur zur Folge, dass der Kaiser auf deren direkte Steuern verzichten musste - die Stadt Wien hatte zwar versprochen, den Steuerausfall zu übernehmen, war dazu aber nicht in der Lage -, sondern es entfielen auch die indirekten Steuern und Abgaben in Form von Zöllen und Mauten sowie der Fleischaufschlag für geschlachtetes Rindvieh. Die Abgaben, die über indirekte Besteuerung des Handels und des Konsums der Juden an den Fiskus flossen, überstiegen dabei deren direkte Steuern. 14 Außerdem wirkte sich die nun fehlende Kaufkraft der Juden nach Meinung der Hofkammer schädigend auf den Tuch- und Lebensmittelhandel sowie auf zahlreiche Handwerke aus. Im Bereich des Handels litt, so meinte die Kammer, vor allem der Handel mit Wolle, Fischen, Pferden und Altwaren, da die Wiener Bürger zu faul seien, sich damit zu beschäftigen: Fünftens die allgemeinen Klagen, welche fast groß und klein, Arm und Reich betref[fen], bestehen Vornemblich in dem, daß seithero die Juden weckkommen, die Commercia mercklich abgenommen, insonderheit haben es diejenigen empfunden, Welche ihr einkommen von Schafen und 14 Vgl. das Gutachten der Hofkammer, o. O., o. D. [Sommer 1673], Österreichisches Staatsarchiv (Wien), Abt. Allgemeines Verwaltungsarchiv/ Finanz- und Hofkammerarchiv: Hofkammerarchiv (HKA), Niederösterreichische (NÖ) Kammer, Akten, rote Nr. 331, Konvolut Dezember, unfol. (Nr. 3). Zusammengefasst bei A LFRED F. P RIBRAM , Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien. Erste Abteilung, allgemeiner Teil 1526-1847 (1849), Bd. 1, Wien / Leipzig 1918, Nr. 118/ I, 257-261, hier 258. Druck bei G[ ERSON ] W OLF , Die Juden in der Leopoldstadt („unterer Werd“) im 17. Jahrhundert in Wien, Wien 1864, 97-109. Die direkten Steuern der Juden betrugen 10.000 bzw. 12.000 fl. von der Wiener Gemeinde und 4.000 fl. von den Landjuden. Die Hofkammer schätzte den Verlust an Einnahmen in Folge der Ausweisung der Juden auf 40.000 fl. pro Jahr. Vgl. auch V LADI- MIR L IPSCHER , Zwischen Kaiser, Fiskus, Adel, Zünften: Die Juden im Habsburgerreich des 17. und 18. Jahrhunderts am Beispiel Böhmens und Mährens, phil. Diss., Zürich 1983, 40f. <?page no="543"?> Peter Rauscher 544 Woll, auch von Teucht und Fischen gehabt haben. Wehr von dissen ein schlechtes Roß, alten Wagen, Spalier 15 , Klaidt und dergleichen sachen, so Er nit mehr gebrauchen wollen, gehabt, hat selbiges gleichwohl Vermittels der Juden Verdauschen oder anderwerten mit Nuzen anbringen können, Welches man anjezo fast alles muß ligen und verderben lassen. Dann bey denen Christen und sonderlich denen Wienern die Faulheith gar zu groß ist, sich umb etwas solches anzunemmen. 16 Außerdem gebe es nun, weil die notwendigen Makler zwischen Kreditgebern und -nehmern fehlten, Probleme beim Darlehensgeschäft, ein Thema, das selbstverständlich mit zum Handel gehört, auf das ich hier allerdings nicht eingehen werde. Insgesamt beurteilte die oberste kaiserliche Finanzbehörde die Auswirkungen der Vertreibung für die österreichische Wirtschaft und damit für den Fiskus äußerst negativ. Ein ähnlich nüchternes Urteil über die wirtschaftliche Bedeutung der Wiener Juden fällte der englische Arzt Edward Brown, in seinem erstmals 1677 in London erschienenen, 1686 auch ins Deutsche übersetzten Bericht über seine Reisen durch Europa. Nachdem er die Ausweisung der Juden aus Wien konstatiert hatte, schrieb er: Ich muß zwar bekennen / daß sie der Stadt nicht so gar undienlich zu seyn schienen / wegen der gemächlichen Dienste / so man von ihnen haben kunte / es seye um etwas zu kauffen / oder zu vertauschen / oder zu wechseln. Gleichwohl wurden sie von der Bürgerschafft mit keinem guten Auge angesehen / dieweil sie derselben grossen Eintrag thaten in ihrem Handel / und wo sich einer von der Bürgerschafft hätte können gebrauchen lassen / gleich ein Jude schon vorher sich eingedrungen. So wurden sie auch angesehen als Leute / von denen man zu Kriegs-Zeiten keine Dienste haben / noch dieselben zur Verthaidigung der Vestung gebrauchen könte: Worbey sie nicht ohne Verdacht waren / als ob sie einigen heimlichen Verstand mit dem Türcken hätten / und demselben in der Stille kundt thäten / wie es mit der Stadt beschaffen wäre. Gleichwohl handelten die Soldaten viel mit ihnen / wie auch die Hauptleute / weil sie ihren Compagnien mit Kleidung / und anderer Nothdurfft auszuhelffen wusten. 17 15 Gemeint ist damit sicherlich kein Baumgeländer, sondern wohl entweder ein Kleidungsstück, das ursprünglich unter dem Harnisch getragen wurde, oder Tuche zum Behängen von Wänden. Vgl. Lemma „Spalier“, in: J ACOB G RIMM / W ILHELM G RIMM , Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Abt. 1, M ORIZ H EYNE u. a. (Bearb.), Leipzig 1905, ND München 1984, Bd. 16, 1845-1847. 16 Gutachten der Hofkammer (wie Anm. 14); W OLF , Juden (wie Anm. 14), 104. 17 E DWARD B ROWN , M. D., Auf genehmgehaltenes Gutachten und Veranlassung der Kön. Engell. Medicinischen Gesellschafft in Londen Durch Niederland / Teutschland / Hungarn / Serbien / Bulgarien / Macedonien / Thessalien / Oesterreich / Steiermark / Kärnthen / Carniolen / Friaul / etc. gethane gantz sonderbare Reisen [...], Nürnberg, Johann Ziegler 1686, 268, Original: E DWARD B ROWN , An Account of Several Travels Through a great part of Germany. [...] Wherein The Mines, Baths, and other Curiosities of those Parts are Treated of, London 1677, 113-115. <?page no="544"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 545 Bevor näher auf den Handel der österreichischen Juden eingegangen wird, sind einerseits die Siedlungsstruktur der jüdischen Bevölkerung selbst und andererseits der Wirtschaftsraum, von dem im Folgenden die Rede sein wird, kurz zu skizzieren. 1. Die Residenzstadt und die Wiener Judenschaft Zunächst zur jüdischen Siedlungsstruktur: Nach der Vertreibung und Ermordung der Mitglieder der Wiener Gemeinde in den Jahren 1420/ 21 kam es - abgesehen von wenigen Ausnahmen - erst im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zu einem Anstieg der jüdischen Bevölkerung Wiens und Niederösterreichs. 18 Als Motor für die Ansiedlung kapitalkräftiger Familien vor allem aus Prag wirkte schließlich die Rückverlegung des Kaiserhofs von der böhmischen Hauptstadt nach Wien mit dem Regierungsbeginn Ferdinands II. Ende des zweiten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts. Der Kaiserhof bildete nicht nur das entscheidende politische Zentrum, das es ausgewählten Juden erlaubte, sich entgegen dem Willen der Landstände und vor allem des Magistrats der Stadt selbst unter fürstlichem Schutz in Wien anzusiedeln, der Kaiserhof war auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Kurz einige Zahlen: Hatte der Hof Maximilians II. um 1570 bereits über 700 Mitglieder umfasst, wuchs er bis zum frühen 18. Jahrhundert auf über 2.100 Personen an. 19 Nicht nur die Hofhaltung des Kaisers und die kaiserlichen und landesfürstlichen Behörden kosteten immense Summen, sondern auch die im 17. Jahrhundert zunehmend errichteten Adelspalais und deren Haushaltungen vergrößerten die Nachfrage nach Lebensmitteln und vor allem nach Luxusgütern. Wien entwickelte sich damit nach 1620 zu einer „Konsumptionsstadt“, zum Typus einer Großstadt, „dessen Wachstum primär aus dem (Luxus)Konsum städtebildender Großkonsumenten resultiert“. 20 Folge dieser Entwicklung war eine Transformation der städtischen 18 Vgl. S ABINE H ÖDL , Eine Suche nach jüdischen Zeugnissen in einer Zeit ohne Juden. Zur Geschichte der Juden in Niederösterreich von 1420 bis 1555, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 45 (1997), 271-296; D IES ., Zur Geschichte der Juden in Österreich unter der Enns 1550-1625, ungedr. phil. Diss., Wien 1998; S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 45-50. 19 Siehe P ETER R AUSCHER , Zwischen Ständen und Gläubigern. Die kaiserlichen Finanzen unter Ferdinand I. und Maximilian II. (1556-1576), Wien / München 2004, 252; H ANNS L EO M IKOLETZKY , Der Haushalt des kaiserlichen Hofes zu Wien (vornehmlich im 18. Jahrhundert), in: Carinthia I 146 (1956), 658-683, hier 668f. 20 A NDREAS W EIGL , Die Haupt- und Residenzstadt als Konsumptionsstadt, in: Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 2: Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert), K ARL V OCELKA / A NITA T RA- NINGER (Hrsg.), 3 Bde., Wien / Köln / Weimar 2003, 137-141, Zitat 138. Zum Begriff der „Konsumptionsstadt“ siehe auch H ORST K. B ETZ , Sombarts Theorie der Stadt, in: W ERNER S OMBART (1863-1941) - Klassiker der Sozialwissenschaften. Eine kritische Bestandsaufnahme, J ÜRGEN B ACK- HAUS (Hrsg.), Marburg 2000, 221-237. <?page no="545"?> Peter Rauscher 546 Ökonomie. Hatten noch im 16. Jahrhundert Wiens privilegierte Stellung als Markt für den Zwischenhandel und der Weinexport eine wichtige Rolle gespielt, entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert ein zunehmend diversifiziertes Luxusgewerbe, das die Bedürfnisse der Hofgesellschaft bediente. Im 16. Jahrhundert kann man Wien noch dem durch Augsburg und Nürnberg geprägten oberdeutschen Handelsraum zurechnen. Im Vergleich zu Augsburg lag in Wien während des gesamten Jahrhunderts das Preisniveau deutlich niedriger, die Reallöhne hingegen deutlich höher; beide Parameter weisen darauf hin, dass Wien nicht dem wirtschaftlichen Zentralraum angehörte, sondern der Peripherie. Dies änderte sich im Verlauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ein deutliches Indiz für den Bedeutungsverlust Augsburgs ebenso wie für den Aufstieg Wiens. 21 Neben dem Hof und seiner Gesellschaft spielte für den Aufstieg der Residenzstadt Wien die Tatsache eine wesentliche Rolle, dass die Stadt über weite Strecken des 17. Jahrhunderts von kriegerischen Ereignissen verschont blieb. In Ungarn herrschte nach dem Ende des Langen Türkenkriegs Rudolfs II. von 1606 bis 1663 relativer Friede. Erst danach war Wien mit der zweiten Türkenbelagerung 1683 als Höhepunkt wieder von den osmanischen Truppen bedroht. Auch während des Dreißigjährigen Kriegs war die Stadt von militärischen Ereignissen, die andere Städte im Reich massiv schädigten, kaum betroffen. Nach den Gefechten in den Jahren 1619 und 1620 verlagerte sich der Krieg zunächst nach Böhmen, dann ins Reich, die östlichen Erbländer waren hingegen bis zum Einfall der Schweden Mitte der 1640er Jahre kein Kriegsschauplatz. Dementsprechend verzeichnete Wien ohne die Vororte einen Bevölkerungsanstieg von etwa 30.000-35.000 Einwohnern um 1600 auf ca. 50.000 Mitte des 17. Jahrhunderts und schließlich ca. 70.000 um 1680. Reichsstädte wie Nürnberg oder Augsburg wurden damit bei weitem überflügelt. 22 Einen noch größeren Anstieg als die übrige Bevölkerung Wiens verzeichneten die Juden. Durch Zuwanderung aus dem Reich, den böhmischen 21 E RICH L ANDSTEINER , Wien im zentraleuropäischen Kontext, in: V OCELKA / T RANINGER , Wien (wie Anm. 20), 133-137. 22 Zur Bevölkerungsentwicklung Wiens siehe A NDREAS W EIGL , Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt: Stadtwachstum und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole, in: Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung - Gesellschaft - Kultur - Konfession, A NDREAS W EIGL (Hrsg.), Wien / Köln / Weimar 2001, 31-105, hier 57; D ERS ., Stadtwachstum, in: V OCELKA / T RANINGER , Wien (wie Anm. 20), 109-111, hier 110. Zu den Kriegsschäden im Umland siehe E RICH L ANDSTEI- NER / A NDREAS W EIGL , „Sonsten finden wir die Sachen sehr übel aufm Landt beschaffen...“. Krieg und lokale Gesellschaft in Niederösterreich (1618-1621), in: Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, B ENIGNA VON K RUSENSTJERN / H ANS M EDICK / in Zusammenarbeit mit P ATRICE V EIT (Hrsg.), Göttingen 1999, 229-271. Zum Rückgang der Bevölkerungszahlen in süddeutschen Städten siehe B ERND R OECK , Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, 2 Teilbde., Göttingen 1989, 2. Teilbd., 881, Tabelle 107. <?page no="546"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 547 Ländern, Polen und Italien stieg die Zahl der Juden von 35 Haushaltsvorständen - und damit geschätzten ca. 200 Personen im Jahr 1599 - auf wohl mindestens 2.000, wahrscheinlich aber eher 3.000 Personen in den 1660er Jahren an. 23 Die Wiener Judenstadt, außerhalb der Stadtmauern im so genannten Unteren Werd gelegen, entwickelte sich ab der Mitte der 1620er Jahre zu einem der wichtigsten Zentren des aschkenasischen Judentums und bildete den kulturellen, wirtschaftlichen und „politisch-jurisdiktionellen“ Mittelpunkt der umliegenden jüdischen Landgemeinden. In der Judenstadt wohnten die bedeutendsten Familien, die über Zugang zum Kaiserhof, einflussreichen Adeligen und zu den niederösterreichischen Landständen verfügten. 24 In der Geschichte Wiens als Fernhandelszentrum wurde die Frühe Neuzeit in der älteren Historiographie durchgängig als eine Epoche des Niedergangs beschrieben. 25 Dieser Befund scheint, soweit überhaupt aussagekräftige Quellen vorhanden sind, in seiner apodiktischen Form nicht haltbar zu sein. Aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage an der Donau bildete die Stadt weiterhin einen Umschlagplatz im Handelsverkehr von Nordwestnach Südosteuropa. Über die Donau und ihre Nebenflüsse war die Stadt eng mit den süddeutschen Städten Augsburg, Ulm, München, Regensburg und Nürnberg verbunden, ebenso mit Tirol und Oberitalien. Die Ausfuhr hochwertiger Güter in Richtung Südosten übertraf dabei die Einfuhr hauptsächlich agrarischer Produkte wie Wein oder Getreide. Auf dem Landweg wurde hingegen das Hauptexportgut Ungarns im 16. und 17. Jahrhundert, nämlich die bekannten ungarischen Ochsen nach Wien getrieben, von denen jährlich in der Judenstadt angeblich 2.000 Stück konsumiert wurden. 26 Neben der Residenzstadt spielten die Städte Linz in Österreich ob der Enns und Krems im Land unter der Enns mit ihren zweimal jährlich stattfindenden Jahrmärkten eine wichtige Rolle, auch wenn zumindest die Bedeutung der Linzer Messen im 17. Jahrhundert deutlich abnahm. 27 Auch die Freistädter Märkte 23 S TAUDINGER , Zeit der Landjuden (wie Anm. 10), 284-288; D IES ., Juden (wie Anm. 10), 65-78; I GNAZ S CHWARZ , Das Wiener Ghetto, seine Häuser und Bewohner, Wien / Leipzig 1909. 24 R AUSCHER , Dreigeteilter Ort (wie Anm. 13). 25 Vgl. zum Folgenden: E RICH L ANDSTEINER , Handel und Kaufleute, in: V OCELKA / T RANINGER , Wien (wie Anm. 20), 185-187. 26 Vgl. ein theologisches und kameralisches Gutachten zur Wiederaufnahme der Juden in Österreich, o. O., o. D. [ca. 1673], HKA, NÖ Kammer, Akten, rote Nr. 331, Konvolut Dezember, unfol. (Nr. 25). Teilabdruck bei W OLF , Juden (wie Anm. 14), 59. Literatur zum Handel mit ungarischen Schlachtochsen ist zusammengestellt von: I STVÁN K ENYERES , Die Finanzen des Königreichs Ungarn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Finanzen und Herrschaft. Materielle Grundlagen fürstlicher Politik in den habsburgischen Ländern und im Heiligen Römischen Reich im 16. Jahrhundert, F RIEDRICH E DELMAYER / M AXIMILIAN L ANZINNER / P ETER R AUSCHER (Hrsg.), München / Wien 2003, 84-122, hier 94f., Anm. 45. 27 F RITZ M AYRHOFER / W ILLIBALD K ATZINGER , Geschichte der Stadt Linz, Bd. I: Von den Anfängen zum Barock, Linz 1990, 341-345; M ANFRED B RANDL , Freistadt, in: Die Städte Oberösterreichs, redigiert von H ERBERT K NITTLER (Österreichisches Städtebuch, Bd. 1), Wien 1968, 137-151, hier <?page no="547"?> Peter Rauscher 548 wurden von Juden besucht, die allerdings weder am Eisenwarennoch am Salzhandel teilnahmen. 28 2. Die Landjuden Etwa zur selben Zeit als sich in Wien um 1600 die jüdische Gemeinde konsolidierte, begannen sich in größerer Zahl jüdische Siedlungen außerhalb der Residenzstadt, so genannte Landgemeinden, zu bilden. 29 Einen Überblick über die Dichte dieser Siedlungen auf dem Land können wir uns ab der Mitte des 17. Jahrhunderts verschaffen. Zu beachten ist, dass es besonders bei kleineren Ansiedlungen von nur wenigen Familien relativ leicht vorkommen konnte, dass diese nach kurzer Zeit wieder verschwanden. Trotzdem war Niederösterreich verglichen mit anderen Regionen im Reich ein von Juden relativ dicht besiedeltes Territorium, das zudem mit der Wiener Judenstadt ein urbanes Zentrum besaß. Strukturell vergleichbare Regionen gab es im Reich Mitte des 17. Jahrhunderts nur im Rhein-Main-Gebiet um Frankfurt und Worms, in Böhmen mit Prag und mit Abstrichen in Mähren mit Nikolsburg (Mikulov). Da uns oft die genauen Umstände der Ansiedlung von Juden an einzelnen Orten unbekannt sind, können wir kaum Aussagen über die konkreten Motive der Obrigkeit und der Juden machen, die zur Gemeindebildung führten. Betrachtet man die Karte der jüdischen Siedlungen in Österreich unter der Enns, fallen jedoch deutliche Ballungsräume auf. Die meisten jüdischen Siedlungen befanden sich östlich der Wachau entlang der Donau und 142f. Zu Krems siehe H ERBERT K NITTLER , Abriß einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Doppelstadt Krems-Stein, in: 1000 Jahre Kunst in Krems. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Dominikanerkloster Krems, 28. Mai bis 24. Oktober 1971, Stadt Krems (Hrsg.), Schriftleitung H ARRY K ÜHNEL , Krems a. d. Donau 1971, 43-73. Zur Frequentierung der Jahrmärkte von Linz und Krems durch Juden in den 1630er Jahren siehe P ETER R AUSCHER , Den Christen gleich sein. Diskriminierung und Verdienstmöglichkeiten von Juden an österreichischen Mautstellen in der Frühen Neuzeit (16./ 17. Jahrhundert), in: H ÖDL / R AUSCHER / S TAUDINGER , Hofjuden (wie Anm. 5), 283-332, hier 296. 28 Zur Teilnahme von Juden an den Freistädter Märkten siehe P ETER R AUSCHER , Langenlois - Eine jüdische Landgemeinde in Niederösterreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Horn / Waidhofen a. d. Thaya 2004, 83f. Zum Eisen- und Salzhandel siehe die Überblicksdarstellungen von O TH- MAR P ICKL , Die Rolle der österreichischen Städte für den Handel mit Eisen und Eisenwaren, in: Stadt und Eisen, F ERDINAND O PLL (Hrsg.) / redigiert von M ICHAELA L AICHMANN -K RISSL , Linz a. d. Donau 1992, 171-195, und H ERBERT K NITTLER , Der Salzhandel in den östlichen Alpenländern: Bürgerliche Berechtigung - Städtische Unternehmung - Staatliches Monopol, in: Stadt und Salz, W IL- HELM R AUSCH (Hrsg.) / redigiert von W ILLIBALD K ATZINGER , Linz a. d. Donau 1988, 1-18. 29 Vgl. dazu die mittlerweile überholte Pionierarbeit von L EOPOLD M OSES , Die Juden in Niederösterreich (Mit besonderer Berücksichtigung des XVII. Jahrhundert), Wien 1935; auf Basis neuester Forschungen: S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 79-163. Daneben: R AUSCHER , Langenlois (wie Anm. 28); D ERS ., Eine vergessene Geschichte: Die jüdischen Landgemeinden in Niederösterreich im 17. Jahrhundert, in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 75 (2004), 304- 321. <?page no="548"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 549 <?page no="549"?> Peter Rauscher 550 auf beiden Seiten des Manhartsbergs, auf einer ungefähren Linie der Straßen ins benachbarte Mähren bzw. Böhmen. Darüber hinaus lagen mehrere überdurchschnittlich große jüdische Siedlungen entlang der Ostgrenze Niederösterreichs zu Oberungarn, der heutigen Slowakei, und an der Handelsstraße in das Königreich Ungarn Richtung Süden. Freilich kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Siedlungen nach rein ökonomischem Kalkül der Juden entstanden, vielmehr spielten die Herrschaftsstrukturen eine maßgebliche Rolle. Auffällig ist beispielsweise, dass sich nahezu keine jüdische Siedlung im Viertel ob dem Wienerwald befand, das nicht nur eine andere Agrarverfassung aufwies als die übrigen Landesviertel, sondern in einem überdurchschnittlichen Maße in kirchlichem Besitz war. Die jüdischen Landgemeinden lagen nämlich fast ausschließlich auf den Grundherrschaften des Adels. 30 Kirchliche Grundbesitzer als Obrigkeiten von Juden gab es nicht, und ebenso wenig spielten landständische Städte oder Märkte mit Ausnahme von Langenlois als Wohnorte von Juden eine Rolle. Wegen der Konkurrenz zwischen christlichen Kaufleuten und Handwerkern und den Juden verhinderten die Bürgerschaften deren Ansiedlung innerhalb der Stadtmauern. Der wichtige Handelsplatz Krems blieb so - abgesehen von einzelnen privilegierten jüdischen Kaufleuten in der angrenzenden Stadt Stein - Juden als Wohnort verschlossen. Immerhin konnten Juden hier wie auch in Linz an den Jahrmärkten teilnehmen, während ihnen in anderen Städten wie in Waidhofen an der Thaya oder in Bruck an der Leitha der Handel untersagt wurde. Wie bereits Vladimir Lipscher für Mähren und Böhmen feststellte, waren es daher die ökonomischen Interessen einzelner Adeliger, die zur Entwicklung der jüdischen Landgemeinden führten. 31 Das ökonomische Denken einer Reihe von adeligen Grundbesitzern hatte sich ganz offenbar in den Jahrzehnten nach 1600 insoweit geändert, dass nun die Anwesenheit von Juden im Land und sogar auf der eigenen Grundherrschaft nicht mehr per se negativ bewertet wurde. 3. Ein neues ökonomisches Bewusstsein? Diese Entwicklung korrespondiert mit einer auch in Niederösterreich feststellbaren Tendenz in der grundherrschaftlichen Ökonomie, nämlich der Umwandlung der traditionellen Rentenherrschaft in eine, von Alfred Hoffmann so genannte, „Wirtschaftsherrschaft“. Durch eine Reihe von Maß- 30 Zur niederösterreichischen Grundherrschaft siehe: H ELMUTH F EIGL , Die niederösterreichische Grundherrschaft. Vom ausgehenden Mittelalter bis zu den theresianisch-josephinischen Reformen, St. Pölten 1998, 2. Aufl. 31 L IPSCHER , Juden (wie Anm. 14), 75. <?page no="550"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 551 nahmen, unter anderem durch Ansiedlung von Gewerbebetrieben sowie die Teilnahme am Handel, versuchten einzelne Grundherren, ihre Herrschaften zu „autarken Produktionsgebiet[en] und zu einem - wenigstens im lokalen Bereiche - monopolisierten Binnenmarkt“ zu entwickeln. 32 Die Ansiedlung von Juden auf einer Herrschaft brachte nicht nur den Vorteil, dass von ihnen eine ganze Reihe von Abgaben kassiert werden konnte, sondern dass sie für den Absatz der Agrarprodukte sorgten. Diese Symbiose zwischen Herrschaft und Juden, die man auch in anderen Regionen wie beispielsweise im benachbarten Mähren und besonders in Polen-Litauen findet, ging sogar so weit, dass sich nach der Ausweisung aller Juden aus Niederösterreich und trotz eines strengen Ansiedlungsverbots wieder Juden auf einigen Grundherrschaften niederließen. Wie in einem Behördenbericht aus dem Jahr 1708 ausgeführt wird, wurden diese Juden ausdrücklich als „Haus- und Hofjuden“ bezeichnet und standen, ähnlich wie die kaiserlichen Hofjuden, in einem besonderen rechtlichen und ökonomischen Verhältnis zu ihrer Grundobrigkeit. 33 Was sich hier im Kleinen abspielte, vollzog sich auch im Großen: Auch Leopold I. konnte trotz seiner bei der Ausweisung der Wiener Juden an den Tag gelegten Glaubensüberzeugung auf Dauer nicht auf jüdische Finanziers verzichten. 4. Der Handel der Juden Doch zurück in die Zeit vor 1670: Das vorhandene Quellenmaterial ist trotz einer quantitativ reichen Überlieferung in seinem Aussagewert relativ be- 32 A LFRED H OFFMANN , Wirtschaftsgeschichte des Landes Oberösterreich, Bd. I: Werden - Wachsen - Reifen: Von der Frühzeit bis zum Jahre 1848, Salzburg / Linz 1952, 99; D ERS ., Die Grundherrschaft als Unternehmen, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 6 (1958), 123-131. Siehe darüber hinaus: H ERBERT K NITTLER , Zwischen Ost und West. Niederösterreichs adelige Grundherrschaft 1550-1750, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4 (1993), 191-217; D ERS ., Gewerblicher Eigenbetrieb und frühneuzeitliche Grundherrschaft am Beispiel des Waldviertels, in: D ERS ., Nutzen, Renten, Erträge. Struktur und Entwicklung frühneuzeitlicher Feudaleinkommen in Niederösterreich. Mit einem Beitrag von W ERNER B ERTHOLD , Wien / München 1989, 182- 203; D ERS ., Adel und landwirtschaftliches Unternehmen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Adel im Wandel. Politik - Kultur - Konfession 1500-1700. Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung, Rosenburg, 12. Mai-28. Oktober 1990, Horn 1990, 45-54; D ERS ., Agrarraum und Stadtraum. Ländliches und städtisches Wirtschaften im Waldviertel vom 16. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, in: Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, H ERBERT K NITTLER (Hrsg.), Horn / Waidhofen an der Thaya 2006, 77-194, hier 82-115; A NDRÉ H OLENSTEIN , Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, München 1996, 33. Vgl. P ETER R AUSCHER , Feinde der Städte, Diener des Adels? Die Entwicklung jüdischer Siedlungen in Niederösterreich (16.-17. Jahrhundert), in: K IEß- LING / R AUSCHER / R OHRBACHER / S TAUDINGER , Räume und Wege (wie Anm. 5), 47-78. 33 Befehl im Auftrag des Kaisers an die Niederösterreichische Regierung, die illegal auf einigen Herrschaften in Niederösterreich lebenden Juden festnehmen zu lassen und auszuschaffen sowie die Juden und Herrschaftsinhaber zu bestrafen, Wien, 1708 Januar 23. Hausarchiv der Regierenden Fürsten von Liechtenstein (Wien) (HALW), Herrschaftsarchiv Feldsberg, Archiv noch ungeordnet: vorläufiger Karton 8, fol. 72r-73v. <?page no="551"?> Peter Rauscher 552 grenzt. Es fehlen selbstverständlich jegliche firmeninternen Geschäftsbücher, wie sie beispielsweise für einzelne christliche Kaufleute schon früh vorhanden sind. 34 Wir müssen daher im Wesentlichen auf die Überlieferung der wichtigen Marktorte zurückgreifen, auf Zoll- und Mautakten und auf die Wirtschaftsakten von Grundherrschaften. Quantitative Aussagen zum gesamten Umfang der Handelsaktivitäten von Juden sind nicht möglich und daher auch kein Vergleich mit Christen. Dies erkannte bereits Sombart, der daher folgerichtig eine „statistische Methode“ (Quantifizierung) zur Ermittlung der Beteiligung von Juden am Wirtschaftsleben ablehnte und eine qualitative Untersuchung vorschlug. 35 Im Folgenden will ich drei Aspekte genauer ansprechen: 1. Welche Waren handelten Juden auf den Jahrmärkten in Niederösterreich? 2. In welchen Branchen waren Juden außerhalb der Jahrmärkte engagiert? 3. will ich kurz auf die Frage nach christlich-jüdischen Kooperationen eingehen. 4.1 Juden auf den Jahrmärkten. Das Beispiel Krems In der Abrechnung des Schlüsselamtes Krems über verzollte Waren aus dem Jahr 1611 sind 21 jüdische Händler verzeichnet, die für ihre Waren Maut entrichteten. 36 Jeweils zwei von ihnen passierten die Mautstation dreimal bzw. zweimal in diesem Jahr, alle anderen nur einmal. Die Waren lassen sich in elf verschiedene Gruppen einteilen, von denen zwei deutlich herausragen, nämlich Federn, die insgesamt 16-mal verzollt wurden, und Tierhäute und Felle, für die elfmal Maut bezahlt wurde. Alle anderen Waren traten in einer wesentlich geringeren Häufigkeit auf, nämlich viermal Werk - wahrscheinlich geschmolzenes silberhaltiges Metall -, je dreimal Zinn und Eisen und zweimal Tuch. Jeweils einmal werden Nägel, Hanf, Leinöl, Dochtgarn und Nüsse genannt. Bei der Kremser Maut handelte es sich um keinen Grenzzoll, sondern um eine der zahlreichen Binnenmauten in Österreich unter der Enns, 37 trotzdem wurde in der Abrechnung angegeben, ob die Güter impor- 34 Zum Thema „Rechnungsbücher“ siehe „Computatio - Die Marburger Seite zu Rechnungen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit“: http: / / online-media.uni-marburg.de/ ma_geschichte/ com putatio/ , dort mit umfangreichen bibliographischen Hinweisen. Zu Österreich: O THMAR P ICKL , Das älteste Geschäftsbuch Österreichs. Die Gewölberegister der Wiener Neustädter Firma Alexius Funck (1516-ca. 1538) und verwandtes Material zur Geschichte des steirischen Handels im 15./ 16. Jahrhundert, Graz 1966; zu Geschäftsbeziehungen zwischen der Firma Funck und ungarischen/ burgenländischen Juden siehe 201-206. 35 Sombart propagierte eine „genetische Methode“: „Die genetische Methode läßt sich etwa wie folgt kennzeichnen: ermitteln wollen wir vor allem, inwieweit eine Bevölkerungsgruppe (Juden) bestimmend wird (oder geworden ist) für Gang und Richtung, Wesen und Art des modernen Wirtschaftslebens, gleichsam also ihre qualitative, oder [...] ihre dynamische Bedeutung.“ S OMBART , Juden (wie Anm. 7), 3-7, Zitat 5. 36 Jahreshauptrechnung des Schlüsselamtes Krems 1611, Stadtarchiv (StA) Langenlois, Bücher 61/ 3. 37 Vgl. B ENJAMIN B OWMAN , Das Mautwesen des 18. Jahrhunderts im heutigen Niederösterreich, ungedr. phil. Diss., Wien 1950. <?page no="552"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 553 tiert oder exportiert werden sollten oder nur durch das Land transportiert wurden. Dabei ergibt sich ein recht eindeutiges Bild: Die überwiegende Menge an Waren wurde von Juden nach Niederösterreich eingeführt, allen voran die Häute und Federn, aber auch das Werk, das Zinn, das Leinöl und der Hanf. Ausschließlich ausgeführt wurden das Eisen, die Nägel und das Tuch sowie die verzeichneten zwei Wagenladungen Nüsse. Lediglich durch das Land transportiert wurden etwa ein Drittel der Federn und ein Teil des Werks. Entsprechend der Richtung des Warenflusses, nämlich der Dominanz der Einfuhr, dürfte es wenig erstaunen, dass die meisten jüdischen Händler 1611 aus Böhmen und Mähren stammten und nur wenige aus Österreich, nämlich aus Wien und aus Feldsberg (Valtice). Dieser Befund entspricht der damals noch geringen jüdischen Bevölkerung im Land unter der Enns. Dass die Abrechnung von 1611 keine zufällige, unrepräsentative Momentaufnahme darstellt, belegen auch die Niederlags- und Waagbücher der Stadt Krems. In den vier erhaltenen Büchern aus den 1620er Jahren ist kein einziger österreichischer Jude, sondern ausschließlich mährische verzeichnet. 38 Gehandelt wurden vor allem Bettfedern, in wesentlich geringerem Maß Hanf, Käse und Schmalz. Erst für die beginnenden 1640er Jahre sind auch österreichische Juden auf den Kremser Jahrmärkten nachweisbar. 39 In den 1640er Jahren traten verstärkt österreichische Juden aus Stein, Langenlois und Spitz, Waidhofen und Wien in Krems als Händler auf. 40 Für die 1660er Jahre verbessert sich dann die Quellengrundlage insofern, als in den Niederlagsbüchern nun auch die Handelspartner der Juden genannt werden, zu unserem Bedauern fehlen allerdings oft die Herkunftsorte der jüdischen Händler. Wegen dieser Quellenprobleme kann das Verhältnis von auswärtigen und einheimischen jüdischen Kaufleuten, die in Krems tätig waren, nicht genau festgestellt werden, die Tendenz, dass der Anteil der Österreicher zunahm, dürfte sich aber weiter fortgesetzt haben. Der mit Abstand wichtigste Händler in den frühen 1660er Jahren war Salomon Samson aus Langenlois, der wohlhabendste oder zumindest einer der reichsten Landjuden Niederösterreichs, der wahrscheinlich das Oberhaupt der so genannten Langenloiser Judenkompanie und auch in einem kaiserlichen Hofjudenprivileg eingeschrieben war. 41 Salomon setzte innerhalb von vier Jahren allein 38 StA Krems, Niederlagsbücher aus den Jahren 1621, 1624, 1626 und 1627. H ANNELORE H RUSCHKA , Die Geschichte der Juden in Krems an der Donau von den Anfängen bis 1938, ungedr. phil. Diss., Wien 1978, 135f. 39 H RUSCHKA , Geschichte (wie Anm. 38), 138; R AUSCHER , Langenlois (wie Anm. 28), 76. Ob österreichische Juden bereits in den 1630er Jahren den Kremser Markt besuchten, ist aufgrund des Fehlens der Niederlagsbücher für dieses Jahrzehnt nicht festzustellen. 40 Vgl. H RUSCHKA , Geschichte (wie Anm. 38), 139. 41 Zu Salomon Samson und seiner Handelstätigkeit in Krems siehe R AUSCHER , Langenlois (wie Anm. 28), 78-85; K URT S CHWINGHAMMER , Der l.f. Markt Langenlois im XVII. und XVIII. Jahrhundert <?page no="553"?> Peter Rauscher 554 am Kremser Markt Waren in einem Wert von über 56.000 fl. um. Andere wichtige jüdische Händler waren Josef Landau aus Stein, Moses und Moses Isak aus Spitz oder Moses Löwl aus Mautern. 42 Anhand des breiten Spektrums der gehandelten Güter lassen sich gewisse Handelsbeziehungen feststellen: Verkauft wurden von den Juden vor allem Federn, Schaf- und Baumwolle und Juchtenleder, aber auch türkisches Garn, Weinstein, Wachs, Indigo, Alaun, Zinn, Kupfer und Messing. Von christlichen Händlern bezogen die Juden Gewürze wie Pfeffer, Safran und Lorbeeren, Butter und Käse, Zwirn, Rötel, Blei und Kastanien, oder auch Stockfisch. Balthasar Rist aus Augsburg verkaufte zahlreichen Juden Tabak. Unter den Juden wurden in Krems Wolle, Kreide, Galläpfel, Federn, Weinstein oder Alaun gehandelt. Zusammengefasst und vereinfacht ist davon auszugehen, dass Juden landwirtschaftliche Roherzeugnisse wie Wolle, Federn und Weinstein sowie Metalle verkauften und dafür vor allem Gewürze und Tabak erwarben, die sie dann auf dem Land oder in der Residenzstadt Wien weiterverkauften. Jedenfalls handelten auf dem Kremser Markt mit Sicherheit nur kapitalkräftigere jüdische Kaufleute, Trödler waren hier nicht vertreten. Dafür sorgte schon die Leibmaut von einem Dukaten, die ein Jude für das Betreten der Stadt Krems zu entrichten hatte. In unmittelbarer Nähe zu Krems, in Stein an der Donau, besaßen seit den 1630er Jahren einige Juden Handelsgewölbe. 43 Dass Juden Jahr- oder Wochenmärkte besuchten, ist auch für andere niederösterreichische Städte und Märkte wie zum Beispiel Korneuburg, Wiener Neustadt oder Perchtoldsdorf belegt. 44 Wie von der Hofkammer ausdrücklich festgestellt wurde, bildete der Handel mit Altwaren einen wichtigen Teil der jüdischen Wirtschaftstätigkeit, der allerdings quellenmäßig schwer zu erfassen ist. 45 Auf den größeren Märkten wurden Altwaren nicht gehandelt, und mangels christlicher Konkurrenz liegen auch keine Beschwerden über die Tätigkeit von Juden in diesem Handelssegment vor. Probleme bereitet auch, die Formen des Broterwerbs ärmerer Juden zu erforschen. Zwar können wir davon ausgehen, dass sie sich vor allem als Dienstboten, kleine Pfandleiher und Hausierer durchs Leben schlugen, Hinweise in den Quellen sind jedoch sehr spärlich. 46 unter besonderer Berücksichtigung der bürgerlichen Vermögensverhältnisse, ungedr. phil. Diss., Wien 1957, 71f. und XC-LXXXXVII. 42 H RUSCHKA , Geschichte (wie Anm. 38), 140. 43 L YDIA G RÖBL , „... auf wolgefallen ..., doch das er sich also der gebüer nach verhalte ...“. Juden in Stein im 17. Jahrhundert, in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 71 (2000), 268-278. 44 S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 208f., dort mit Angabe der Quellen. 45 Gutachten der Hofkammer (wie Anm. 14), W OLF , Juden (wie Anm. 14), 104; P RIBRAM , Urkunden (wie Anm. 14), Bd. 1, 259. 46 Vgl. zum Beispiel: Auf Beschwerde der Kaufleute und Krämer des Markts Neukirchen erlassenes kaiserliches Verbot fremder Hausierer und Juden, Wien, 1657 Januar 10, NÖLA, Ständisches Archiv, Kaiserliche Patente vom Jahre 1657-1662 (Karton 14), [Stück] 1657-I-10. <?page no="554"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 555 Nach der Ausweisung der Wiener und niederösterreichischen Juden in den Jahren 1669-1671 verschwanden zwar die jüdischen Landgemeinden, nicht aber die jüdischen Händler. Bereits 1672 wurde den böhmischen, mährischen und schlesischen Juden mit Ausnahme der dort lebenden vertriebenen österreichischen Juden gestattet, die Kremser Jahrmärkte zu besuchen, 47 ein Jahr später dann auch die Jahrmärkte in Laa an der Thaya, Retz und Mistelbach. 48 Die bedeutende Judengemeinde von Nikolsburg (Mikulov) unter der Herrschaft der Fürsten Dietrichstein 49 wurde als Vertreterin der mährischen Juden am 10. Juli 1675 privilegiert, all das jenige, so auf dem landt erzeiget würdt, als benentlichen allerhandt vich, gethraidt, und andere victualien oder consumptibilia, item rauchgeflügl und gearbeitets leder, schaafwohl, wax, hönig, anneis [Anis], oder was sonsten bey dennen herrschaften und baursmann aufgebracht würdt, einzukhaufen und ohne mäniglichen hinternus heraus zu führen. 50 Im Jahr 1707 versuchten die Nikolsburger bzw. mährischen Juden, ihre Handelsprivilegien in Niederösterreich weiter auszudehnen. Gegen den bereits ausgehandelten Vertrag mit der kaiserlichen Ministerial-Bancodeputation, der den mährischen Juden den freien Handel in ganz Niederösterreich bis vier Meilen vor die Residenzstadt Wien gestattet, sie gegen Bezahlung einer jährlichen Pauschalsumme sogar von den Mauten befreit und die - stille - Befolgung der jüdischen Gebräuche gestattet hätte, legten sich nun allerdings die Landstände, die der antijüdischen Politik der Städte, allen voran Wiens folgten, quer. 51 Ganz anders fiel die Stellungnahme der Stände Mitte des Jahrhunderts zu einem landesfürstlichen Mandat am 18. Juni 1750 aus, in dem der Handel der Juden auf die Jahrmarktzeiten beschränkt werden sollte. Als die Nikolsburger Judenschaft gegen dieses Mandat Einspruch erhob, 52 betonten die Stände die Bedeutung der Juden für den Ver- 47 H RUSCHKA , Geschichte (wie Anm. 38), 146; Patent Leopolds I., Wien, 1672 Juli 14, NÖLA, Regierungsarchiv, Patentbücher 2 (Patente und Zirkularien 1671-1683). 48 Bewilligung Leopolds I. für die ausländischen Juden, die nicht zu den ausgeschafften Juden aus Wien und Österreich unter der Enns gehören, die Jahrmärkte in Krems, Laa, Retz und Mistelbach zu besuchen, Wien, 1673 Juli 7 [kollationierte Abschrift, Nikolsburg, 1693 Mai 13; Wien, 1693 Juli 16], NÖLA, Ständische Akten B-1-42, fol. 3r-4v. 49 B RUNO M AURITZ T RAPP , Geschichte der Juden in Nikolsburg, in: Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Sammelwerk, H UGO G OLD (Hrsg.), Brünn 1929, 45-52; M ARIE B U ATOVÁ , Die Nikolsburger Juden 1560-1620. Wirtschaftliche Prosperität unter adeligem Schutz, in: H ÖDL / R AUSCHER / S TAUDINGER , Hofjuden (wie Anm. 5), 333-361. 50 Supplikation der Nikolsburger Juden an die Landstände von Österreich unter der Enns, Nikolsburg, 1694 März 25, NÖLA, Ständische Akten B-1-42, fol. 1r-2v, 11r-v, Zitat fol. 1r-v. Vgl. dazu den entsprechenden Befehl des Kaisers an den Mautner von Drasenhofen, Wien, 1675 Juli 10 [kollationierte Abschrift Nikolsburg, 1693 Mai 2; Wien, 1693 Juli 16], ebd., fol. 8r-9v. 51 Zu dieser Diskussion siehe NÖLA, Ständische Akten B-1-42, fol. 12r-38v. 52 Supplikation der jüdischen Gemeinde Nikolsburg an Maria Theresia, o. O., o. D. [1. Quartal 1751], NÖLA, Ständische Akten B-1-42, fol. 40r-42v, fol. 62r-65v. <?page no="555"?> Peter Rauscher 556 trieb der Agrarprodukte und damit für die Wohlfahrt des Landes. 53 Diese Einschätzung wird durch grundherrschaftliche Abrechnungen durchaus bestätigt: Wie aus den überlieferten Rentamtsrechnungen der Herrschaften Juliusburg bzw. Stetteldorf hervorgeht, wurde die in Wolfpassing erzeugte Wolle im 18. Jahrhundert regelmäßig an Juden verkauft. 54 Auch wenn die Geschäfte der mährischen Juden in Niederösterreich im 18. Jahrhundert noch nicht eingehend erforscht sind, kann davon ausgegangen werden, dass für den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen Juden auch nach der Ausweisung von 1670 weiterhin eine Rolle spielten. 4.2 Der Handel außerhalb der Jahrmärkte Im Gegensatz zum Kremser Jahrmarkt und einigen Zollregistern liegen uns für außerhalb der Märkte abgeschlossene Geschäfte kaum Quellen vor. Ausnahmen bilden hier Geschäfte mit der Obrigkeit, den Grundherren ebenso wie dem Landesfürsten und den Landständen, sowie Geschäfte, bei denen es zu Streitigkeiten gekommen war, die vor Gericht ausgetragen wurden. Geschäfte mit dem Hof des Landesfürsten, der gleichzeitig Kaiser war, sind sicherlich die spektakulärsten, hier ging es teilweise um größere Summen, um Schmuck, Gold und ähnliche Luxuswaren, Tuche und Pferde. 55 Die Durchsicht der Rechnungsbücher des kaiserlichen Hofzahlmeisteramts er- 53 Vgl. Gutachten der drei oberen Stände (= Prälaten-, Herren- und Ritterstand) in Österreich unter der Enns an die Kaiserin, Wien, 1751 April 3, NÖLA, Ständische Akten B-1-42, fol. 67r-68v; kaiserliches Reskript an die drei oberen Stände in Österreich unter der Enns, Pressburg, 1751 Mai 15, ebd., fol. 69r-70v. 54 Tabelle: Verkauf von Schafswolle (Sommer-, Winter-, Lämmerwolle) von der Herrschaft Wolfpassing an Juden im 18. Jahrhundert: Jahr Jüdische Käufer Gesamtgewicht Gesamtpreis 1728 Joachim Spitz und Marx Schlesinger aus Wien 61 Zentner, 49 Pfund 1106 fl. 50 kr. 1742 David Hamburger aus Triesch (T 3 eš 5 ) 50 Zentner, 63 Pfund 2133 fl. 56 kr. 1774 Meir Spitz aus Nikolsburg 49 Zentner, 11 Pfund 827 fl. 24 kr. 1787 Jakob Wottiz aus Neuhaus (Jind 3 ich 9 v Hradec) 31 Zentner, 34 Pfund 1441 fl. 39 kr. 1799 Moises Fleischmann aus Neuhaus 4 Zentner, 71 Pfund 244 fl. 54 kr. Quellen: 1728: NÖLA, HA Stetteldorf, Handschrift [HS] 38: Rentamtsrechnung der Herrschaft Juliusburg, fol. 55v; 1742: ebd., HS 39: Rentamtsrechnung der Herrschaft Juliusburg; 1774: ebd., HS 46: Rentamtshauptbuch der Herrschaft Stetteldorf, fol. 50r; 1787: ebd., HS 40: Rentamtsrechnung der Herrschaft Stetteldorf, unfol.; 1799: ebd., HS 47: Rentamtshauptbuch, fol. 78v. Zum Warenhandel vgl. auch S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 211-219. 55 Vgl. R AUSCHER , Dreigeteilter Ort (wie Anm. 13); vgl. auch M AX G RUNWALD , Samuel Oppenheimer und sein Kreis (Ein Kapitel aus der Finanzgeschichte Österreichs), Wien / Leipzig 1913, 10-18. <?page no="556"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 557 gibt allerdings, dass solche Geschäfte eher selten waren und die Wiener Juden keine größere Rolle für die Versorgung des Kaiserhofs spielten und auch keinerlei Einfluss auf die Staatsfinanzen hatten, wie es um 1700 bei Samuel Oppenheimer der Fall war. 56 Eine Ausnahmegestalt war daher der Gemeindevorsteher Moises Fröschl, der während der 1630er und 1640er Jahre Kredite in Höhe von über 200.000 fl. aufbrachte und mehrere Schmuckstücke an den Hof lieferte. Größere Bedeutung erlangten einzelne Wiener Juden mit dem Verkauf von Pferden an den Kaiserhof. Der „Hofrosshändler“ Salomon Jakob Auspitz und Jakob Tröstl bezogen ihre Pferde nicht nur aus Österreich, sondern auch aus Norddeutschland, Ungarn und Mähren. 57 Auch andere Höfe, wie die der Fürsten von Liechtenstein, 58 bezogen eine ähnliche Warenpalette von jüdischen Händlern: In den 1660er Jahren zum Beispiel Leinöl und Juchten von Nikolsburger Juden, von Wiener Juden Atlasstoff, Edelsteine und Pferde, unter anderem vom kaiserlichen Rosshändler Salomon Auspitz, von Juden aus dem liechtensteinischen Feldsberg (Valtice) altes Zinn und Seide sowie Waren für den Hofstall, von einem Eisenstädter Juden ein Pferd, von einem Trebitscher Juden Tuche. Eine ungenannte Jüdin verkaufte in Kosteletz (Schwarzkosteletz / erný Kostelec / Kostelec nad ernými Lesy) Gewürze, einmal wurde auch Rindfleisch von Juden bezogen. 59 Darüber hinaus bestanden auch andere Geschäftsbeziehungen zwischen dem Haus Liechtenstein und Juden. Der genannte Wiener Hofjude Salomon Auspitz fungierte beispielsweise als Vermittler eines Kredits in Höhe von 75.000 fl., andere Juden dienten als Spielleute oder Seiltänzer. 60 56 Dazu grundlegend: G RUNWALD , Oppenheimer (wie Anm. 55). Für die Zeit vor dem Wiener Ghetto siehe S ABINE H ÖDL / B ARBARA S TAUDINGER , „Ob mans nicht bei den juden [...] leichter und wolfailer bekommen müege? “ Juden in den habsburgischen Ländern als kaiserliche Kreditgeber (1520- 1620), in: E DELMAIER / L ANZINNER / R AUSCHER , Finanzen und Herrschaft (wie Anm. 26), 246- 269. 57 R AUSCHER , Dreigeteilter Ort (wie Anm. 13); G RUNWALD , Oppenheimer (wie Anm. 55), 13. Zu Tröstl siehe auch den Index zum Grundbuch der jüdischen Gemeinde (ca. 1660), gedruckt bei S CHWARZ , Ghetto (wie Anm. 23), 220-226, hier 226; und M OSES , Juden (wie Anm. 29), 99. 58 Zur liechtensteinischen Hofhaltung siehe T HOMAS W INKELBAUER , Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters, Wien / München 1999, 354-409; zur Verwaltung der Herrschaften: D ERS ., Gundaker von Liechtenstein als Grundherr in Niederösterreich und Mähren. Normative Quellen zur Verwaltung und Bewirtschaftung eines Herrschaftskomplexes und zur Reglementierung des Lebens der Untertanen durch einen adeligen Grundherrn sowie zur Organisation des Hofstaats und der Kanzlei eines „Neufürsten“ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Wien / Köln / Weimar 2008. 59 Vgl. die Einträge in: HALW, Hofzahlamtsbücher (HZAB), H. 83: HZAB 1660 Mai 31-1661 Mai 31, Nr. 81, Nr. 218; HZAB 1661 Mai 31-1662 Mai 31, Nr. 115, Nr. 242; HZAB 1662 Mai 31- 1663 Mai 31, Nr. 346; HZAB 1664 Mai 31-1665 Mai 31, Nr. 328; HZAB 1665 Mai 31-1666 Mai 31, Nr. 347, Nr. 389; ebd., H. 84: HZAB 1666 Mai 31-September 30, Nr. 262, Nr. 266, Nr. 276, Nr. 277; HZAB 1667 St. Michaeli-1668 St. Georgi, Nr. 206; HZAB 1668 St. Georgi-St. Michaeli, Nr. 272; HZAB 1668 St. Michaeli-1669 St. Georgi, Nr. 332. 60 HALW, H. 83: HZAB 1664 Mai 31-1665 Mai 31, Nr. 410; HZAB 1658 Mai 31-1659 Mai 31, Nr. 216; HZAB 1660 Mai 31-1661 Mai 31, Nr. 228. <?page no="557"?> Peter Rauscher 558 Für den jüdischen Handel mindestens ebenso wichtig wie die Versorgung des Kaiserhofs und anderer Höfe war der Bereich des Kriegswesens. Hier agierte eine jüdische Gesellschaft, die aus den Wiener Hofjuden Jakob Fränkl und Zacharias Mayr sowie zeitweilig Löb Austerlitz bestand und ab den späten 1630er Jahren die so genannte Raaber Grenze mit Tuchen belieferte. Bei der Raaber Grenze handelte es sich um einen Abschnitt der „Türkengrenze“, einen Festungsgürtel, der sich halbkreisförmig von der Adria über Oberungarn bis nach Siebenbürgen erstreckte. Verwaltet wurde dieser Grenzabschnitt mit dem Zentrum Raab (Gy r) nicht vom Kaiser, sondern von den niederösterreichischen Landständen, die ihre Söldner, wie allgemein üblich, zum Teil nicht mit Bargeld, sondern in Tuchen bezahlten. 61 Jakob Fränkl und Zacharias Mayr organisierten diesen Handel als so genannte „Hof- und Landschaftsjuden“ über einen Zeitraum von ca. drei Jahrzehnten. Sie können damit hinsichtlich ihrer Funktion als Heereslieferanten als direkte Vorläufer von Samuel Oppenheimer angesehen werden, nur dass sie im Dienst der Stände, der Landschaft, standen und nicht im Dienst des Kaisers. Wichtige Handelszweige der Wiener Juden im 17. Jahrhundert waren neben dem Tuchhandel der Münz- und Münzmetallhandel sowie der Weinhandel, vor allem der Handel mit koscherem Wein, der aus Ungarn importiert wurde, aber auch von nichtkoscherem Wein, der in Niederösterreich in den Weinbaugebieten als Zahlungsmittel fungierte. 62 Im lokalen und regionalen Handel außerhalb der Metropole Wien war die Warenpalette der jüdischen Kaufleute ähnlich breit wie in der Residenzstadt, allerdings entfielen hier die Waren für das Repräsentationsbedürfnis des Hofadels, in erster Linie Juwelen und Schmuckstücke. Bis zur Ausweisung von 1670 bildete der Handel mit Tuchwaren auch im lokalen Bereich einen Geschäftszweig der in Niederösterreich ansässigen Juden. 1641 klagte zum Beispiel ein Waidhofener Kaufmann gegen den Juden Mayerl, der vor den Toren der Stadt auf dem Grund der Herrschaft wohnte, weil dessen 61 G ÉZA P ÁLFFY , The Origins and Development of the Border Defence System Against the Ottoman Empire in Hungary (Up to the Early Eighteenth Century), in: Ottomans, Hungarians, and Habsburgs in Central Europe. The Military Confines in the Era of Ottoman Conquest, G ÉZA D ÁVID / P ÁL F O- DOR (Hrsg.), Leiden / Boston / Köln 2000, 3-69; D ERS ., Die Türkenabwehr in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert - ein Forschungsdesiderat, in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse 1/ 137 (2002), 99-131, dort mit der älteren Literatur. P ETER T RAWNICEK , Tuchsold und Landschaftsjuden. Beiträge zur Geschichte der Soldzahlung in Tuch durch die niederösterreichischen Stände und ihrer Finanzierung durch Wiener Juden im 17. Jahrhundert, ungedr. Dipl. Arbeit, Wien 2000. Zu Zacharias Mayr und Jakob Fränkl siehe außerdem B ERNHARD W ACHSTEIN , Die Inschriften des alten Judenfriedhofes in Wien, Teil 1, Wien / Leipzig 1912, Nr. 590, 446-450 (Zacharia b. Isaschar Beer ha- Levi) und Nr. 634, 482-484 (Jakob Koppel b. Jeremia Isak ha-Levi). Der Grabstein von Löb Austerlitz ist wahrscheinlich der des Jehuda Löb b. David ha-Levi Austerlitz, ebd., Nr. 685, 523f. 62 Zum Münzwesen siehe: P ETER T RAWNICEK , Münzjuden unter Ferdinand II. nach den Akten des Hofkammerarchivs in Wien, ungedr. phil. Diss., Wien 2003. Zum Weinhandel siehe R AUSCHER , Langenlois (wie Anm. 28), 69f.; S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 223f. <?page no="558"?> Hoffaktoren und Kleinkrämer 559 weib mit meßlän - Mesolan, ein aus braunen, grünen und grauen Fäden gewebter Wollstoff - in der statt umbgangen sei, also hausiert hatte. 63 Daneben spielte auf dem Land der Pferdehandel eine große Rolle. Angeblich lebten ganze jüdische Gemeinden ausschließlich von diesem Geschäft. Wie wir aus Gerichtsakten wissen, war der Pferdehandel ein konfliktanfälliges Gewerbe 64 und dürfte auch nicht die ganz großen Gewinne versprochen haben, denn die Besitzer großer Vermögen finden wir hier nicht. Noch wesentlich konfliktreicher als der Pferdehandel war der Handel mit Rindfleisch. 65 Weil Juden das hintere Teil des Rinds als unkoscher an Christen weiterverkaufen durften, traten sie zwangsläufig in Konkurrenz mit den Fleischhackerzünften, denen sie mit billigem Fleisch die Kunden abspenstig machten. 4.3 Jüdisch-christliche Kooperationen und Konfrontationen Doch selbst im Fleischhandel kam es zu christlich-jüdischer Zusammenarbeit. So übernahm beispielsweise in Waidhofen an der Thaya ein vor den Toren der Stadt ansässiger Jude den Vertrieb des Rindertalgs der christlichen Fleischhacker, den diese nicht vollständig vor Ort absetzen konnten. Da ihnen die Möglichkeiten fehlten, den Unschlitt über das direkte städtische Umland hinaus zu verkaufen, nahmen sie gerne einen jüdischen Zwischenhändler in Anspruch, auch wenn die Waidhofener Metzger, wie überall anderswo auch, den Juden grundsätzlich nicht wohl gesonnen waren. Hinweise auf christlich-jüdische Kooperationen bis hin zu regelrechten Gesellschaften finden wir in unterschiedlichem Maß. Formen der Kooperation reichten vom Investieren in jüdische Unternehmen durch Christen, wie dies angeblich in Langenlois geschah, 66 und den gemeinsamen Transport von Waren, durch den sich Juden die für sie höheren Mauten ersparen konnten, 67 bis hin zur Beteiligung in einer gemeinsamen Unternehmung wie bei der berühmten Gesellschaft des Wallenstein-Finanziers Jan de Witte. 68 63 StA Waidhofen a. d. Thaya, Rats- und Stadtgerichtsprotokolle 3/ 115 (1641-1642), fol. 31v: Ratssitzung im Gerichtshaus, 1641 Juli 10. 64 Vgl. S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 215f. Zum Pferdehandel von Juden am Beispiel des westösterreichischen Raums vgl. K ARL H EINZ B URMEISTER , Der jüdische Pferdehandel in Hohenems und Sulz im 17. und 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1989. 65 In nahezu allen Publikationen zur jüdischen Wirtschaftstätigkeit finden sich Hinweise auf Konflikte zwischen Juden und christlichen Fleischhauern; vgl. zum Beispiel B URMEISTER , Pferdehandel (wie Anm. 64), 14; S TAUDINGER , Juden (wie Anm. 10), 213-215; R AUSCHER , Langenlois (wie Anm. 28), 88-91, dort mit weiterer Literatur. 66 R AUSCHER , Langenlois (wie Anm. 28), 96. 67 Zum Verbot für Juden, ihre Waren von Christen über Mauten transportieren zu lassen, siehe R AU- SCHER , Christen (wie Anm. 27), 299. 68 A NTON E RNSTBERGER , Hans de Witte. Finanzmann Wallensteins, Wiesbaden 1954. <?page no="559"?> Peter Rauscher 560 Die Regel war eine solch enge Zusammenarbeit zwischen jüdischen und christlichen Kaufleuten freilich nicht. Typischer war vielmehr die Kooperation zwischen adeligem Grundherrn auf dem Land, der Aufenthaltsrecht und Schutz gewährte, und den Juden, die eine Reihe von Abgaben leisteten, für den Absatz der landwirtschaftlichen Erzeugnisse sorgten und zum Teil als Kreditgeber herangezogen werden konnten. Gegnerschaft erzeugte dieses Arrangement, das vom Kaiser bis zu einfachen Grundherrn verbreitet war, bei Gruppen der christlichen Gesellschaft, denen die Juden als Konkurrenten gegenüber traten. Dies waren nicht nur die Fleischhacker, sondern vor allem die Kaufleute in den Städten, 69 die den Juden deshalb die Ansiedlung verweigerten oder, wie in Wien, grundsätzlich deren Ausweisung forderten. So stellte die Hofkammer in einem Gutachten fest, es hätten die von Wien oder viell mehr nur etliche auß ihnen, sich stark bemühet, die Juden forth zu treiben, welches re ipsa nur ein privatum et proprium interesse etlicher Handelsleuth und Kramer gewesen, von denen man anfänglich viell geschrey gemachet, als ob Sie allein alles geben und ersetzen würden, waß durch die Judenschaft entgangen. Man hat aber bishero wahrgenommen, daß Sie zwar Ihre wahren statlich gestaigert, und wenig oder nichts zugetragen, sondern den Last auf andere gewelzet haben. 70 Mit der Vertreibung der Juden von 1670 aus Wien und Niederösterreich hatte sich zunächst diese Interessengruppe durchgesetzt und nutzte nun - so die Hofkammer - ihre Monopolstellung gegenüber den Konsumenten aus; sie konnte aber nicht verhindern, dass nur wenige Jahre später der Kaiser wiederum jüdische Finanziers in die Residenzstadt holte und auch den Handel in Niederösterreich für die auswärtigen Juden wieder öffnete. Dies war der Kompromiss, der es Leopold I. erlaubte, nach dem Erlassen des Ausweisungsbefehls sein Gesicht zu wahren, und es dennoch dem Kaiser und dem österreichischen Adel gestattete, weiterhin auf jüdische Unternehmer zurückgreifen zu können. 69 Dies war ein generelles Phänomen und galt nicht nur für Wien und die niederösterreichischen Städte. Vgl. zum Beispiel zu Frankfurt: R OBERT B RANDT , Autonomie und Schutz der „Nahrung“, Bürgerrecht und Judenfeindschaft. Das Frankfurter Innungshandwerk während des Verfassungskonflikts 1705-1732, in: Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit, M ARK H ÄBERLEIN / C HRISTOF J EGGLE (Hrsg.), Konstanz 2004, 229-248, hier 235. 70 Gutachten der Hofkammer (wie Anm. 14); W OLF , Juden (wie Anm. 14), 102. <?page no="560"?> Wie es im Buch steht. Handel, Region und Verwandtschaft des Pierre Marquerat, Immenstadt (1720-1740) Martin Zürn 1. Wie es im Buch steht: Ziffern in einem „Zementband“ Im Staatsarchiv Augsburg lagert das Handelsbuch des Immenstädter Kaufmanns Pierre Marquerat. Die Einträge umfassen auf 240 beschriebenen Folio-Blättern, das entspricht 480 Seiten, die Zeit zwischen 16. Oktober (Gallusmarkt) 1716, meist aber ab 20. September 1720, und 20. Mai 1740. Die Quelle setzt ein nicht mehr erhaltenes „Buch Nr. 3“ fort, aus dem gelegentlich Summen übertragen wurden. 1 Der Struktur nach handelt es sich um ein Hauptbuch, in dem links - das heißt auf der Rückseite des vorigen Blattes - die Haben-Posten und rechts - auf der folgenden ungeraden Seitenzahl - als Gegenrechnung die Soll-Posten aus Geschäften mit bestimmten Personen oder Firmen eingetragen sind. Aufgrund eines schweren Wasserschadens sind zahlreiche Seiten miteinander verklebt und die Eintragungen meist sehr verblasst. Deshalb stehen in diesem „Zementband“ etwas unter 22,5 Prozent der Informationen überhaupt nicht mehr zur Verfügung, 2 zudem sind auf den Seiten, die noch aufgeschlagen werden können, viele Einträge eher zu erraten als sicher zu lesen. Fast nie ist angegeben, um welche Art von Geschäften es sich handelt. Bereits der Vermerk „Waren“ ist selten. Es ist also weitgehend unmöglich, den Warenverkehr zu klassifizieren und den Anteil der Bank- und Kreditgeschäfte zu ermitteln. 3 Ein Geschäftszweig bestand im Salzhandel mit der Eidgenossenschaft. 1735 erschien Marquerats Witwe Anasthasia Göhlin auf der Königsegg-Rothenfelser Kanzlei, um sich einen Vermögensnachweis bzw. eine Kaution über 2.200 fl. bestätigen zu lassen. Die Kaution war er- 1 Staatsarchiv Augsburg (StAA) Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, im Repertorium irreführend als „Rechnungsbeilage“ bezeichnet. In dieser Quelle wird auf das vorgängige Handelsbuch unter anderem Bezug genommen bei Claude Passier, fol. 98v: Übertrag von 425 fl. Haben-Saldo. 2 Als zunächst völlig unbenutzbar erwiesen sich die Seiten (je einschließlich): fol. 2b-9r, 10b-16r, 17b- 28r, 30v-32r, 37b-38v, 57b-61r, 62b-64r, 66v-68r, 73vf., 81vf., 84v-87r, 89vf., 91vf., 95vf., 134vf., 219vf., 222v-224r, 225v-226r. Innerhalb dieser verklebten Seitenfolgen konnten teilweise aufgeschlagen werden: 59vf., 62v, 66vf., 73vf., 219vf. Treffend von „Zementband“ spricht Dr. Rudolf Vogel, Stadtarchiv Immenstadt, in seiner Auskunft an den Verfasser vom 20.2.2001. Ihm sei an dieser Stelle für wertvolle Hinweise herzlich gedankt. 3 Hierzu methodisch vorbildlich: M ARKUS A. D ENZEL , Die Geschäftsbeziehungen des Schaffhauser Handels- und Bankhauses Amman 1748-1779. Ein mikroökonomisches Fallbeispiel, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89 (2001), 1-40, zum Wechselgeschäft 8, 27-38. <?page no="561"?> Martin Zürn 562 forderlich, damit Marquerats Kinder den väterlichen Salzhandel mit Zürich und Glarus fortsetzen konnten. Über dessen Bedeutung kann nur spekuliert werden; da Salzfuhr- und Handelskonzessionen in vielen Händen lagen, kann er auch ein marginaler Geschäftszweig gewesen sein. 4 Laut dem Protokolleintrag muss Marquerat also wohl Anfang April 1735 gestorben sein. Da das Handelsbuch wie erwähnt bis 1740 fortgesetzt wurde, ist es möglich, dass Anasthasia Göhl als zweite Ehefrau für die Buchführung verantwortlich war. Für diese Vermutung sprechen auch die konsistente Handschrift sowie die Tatsache, dass Marquerat nach seinem familiären Umfeld bilingual gewesen sein muss, der Schreiber bzw. die Schreiberin des Handelsbuchs hingegen romanische Namen gelegentlich nach deutscher Phonetik verballhornt. 5 Dass Frauen für ihre abwesenden Männer die Geschäfte führten, war in Savoyen wie in Deutschland zumindest nicht ungewöhnlich. 6 Die einzelnen Einträge werden im Folgenden auch als Transaktion oder Buchung bezeichnet. Sie sind sowohl in der Sollals auch in der Haben- Rubrik fast ausnahmslos datiert und in unregelmäßigen Abständen zu Zwischenbilanzen zusammengefasst. Ist eine Doppelseite mit Einträgen gefüllt, werden die Aufzeichnungen an völlig anderer Stelle fortgesetzt. Auf diese Folgeseiten wird häufig, aber nicht regelmäßig verwiesen. Datum und Summe einer Zwischenbilanz bei den Aktiva brauchen nicht mit den Eckdaten einer Bilanzierung bei den Passiva übereinzustimmen. Es wurde also von Fall zu Fall abgerechnet, ohne das Ziel, die Geschäftsbeziehungen dabei restlos auszugleichen. Hingegen weist das endgültige Ende der Geschäfte mit einem bestimmten Partner so gut wie immer ein ausgeglichenes Ergebnis aus. Zur Frage, wie die Rubriken „Soll“ und „Haben“ inhaltlich zu verstehen sind, entstehen bei genauer Lektüre Irritationen. Beispielsweise heißt es in einem der relativ seltenen Einträge, bei denen der Band auskunftsfreudiger wird, unter der Soll-Rubrik zu einem Betrag von 724 fl.: Jn Münchner Jacobi Markt habe ich diese forderung [gegen einen gewissen Nikolaus Schamuße in Schongau] meinem H: Brueder Heinrich Ducrue daselbs zuekauffen geben vmb 4 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 28.4.1735. Zum wenig bedeutsamen Salzhandel des Schaffhauser Unternehmens Amman siehe D ENZEL , Amman (wie Anm. 3), 9, 12. 5 Als Geschäftspartner genannt wird zum Beispiel Herr Peter Leer in Augsburg, StAA Adel / Königsegg- Rothenfels Nr. 398, fol. 32v-33r, 24.10.1720-10.3.1730. Gemeint ist zweifellos der Krämer Peter Layre aus Castagnoli in Languedoc. Er heiratete die Augsburgerin Anna Barbara Kolbin. Seine Bürgen hierbei waren der Krämer Johann Waybold und der Siegelschneider Philipp Heinrich Müller, ihr Beistand ihr Vater, Goldschlager Johann Jakob Kolb, Stadtarchiv Augsburg (StadtAA), Reichsstadt, Hochzeitsamtprotokolle Bd. 20, fol. 104v, 21.6.1710. 6 Zu deutschen Kauffrauen: H EIDE W UNDER , Er ist die Sonn’, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, 125; zu den Härten der Partnerschaft, die durch langjährige Trennung entstanden, bis hin zur Polygamie der ambulant erwerbstätigen Männer: C HANTAL M AISTRE / G ILBERT M AISTRE / G EORGES H EITZ , Colporteurs et marchands savoyards dans l’europe des XVIIe et XVIIIe siècles, Annecy 1992, 80f. <?page no="562"?> Wie es im Buch steht 563 vnd für Nembl[ich] 400 fl habe also an meiner rechtmäsßgen praetension verluest gelitten 324 fl 10 kr zuesammen ohne allen Zinß. 7 Auf der Haben-Seite findet sich unter dem Namen Schamuße ein Bilanzabschluss von 2.124 fl. 50 kr., davon waren aber 1.931 fl. 26 kr. aus dem erwähnten verlorenen Buch Nr. 3 übertragen worden. Darunter wurde noch ohne Datum ergänzt: verluest [? ] zusammen 724 [fl.]. 8 Zwischen Ducrue und Marquerat fand offenbar ein Handel mit einem notleidenden Wechsel statt, dessen Ertrag unsystematisch bilanziert wurde. Da derlei Erläuterungen jedoch selten sind, wird bei der quantifizierenden Auswertung der Quelle davon ausgegangen, dass die „Haben“-Rubrik Forderungen bzw. Guthaben bilanziert, die durch die Herausgabe von Waren, Geld oder Geldäquivalenten entstanden waren, die „Soll“-Rubrik hingegen Verpflichtungen Marquerats. Das Handelsbuch nennt häufig, aber bei weitem nicht immer, Name und Wohnort der Geschäftspartner. Dort, wo Marquerat (oder seine Ehefrau) keinen Wohn- oder Geschäftsort angaben, wurde zur Datenaufbereitung wie folgt verfahren: Findet sich allein die Bezeichnung Savoyar, also Savoyarde, 9 wurde in der Datenbank Savoyen als Ortsangabe eingetragen. Aus der eigenen Forschungsarbeit sowie aus den - zum Allgäu und zu Bayerisch-Schwaben sehr unvollständigen - Zusammenstellungen der Sekundärliteratur konnten nachträglich Wohnsitze savoyischer Geschäftspartner ermittelt werden. 10 Bei gräflichen Beamten und bei Geistlichen ohne Ortsangabe wurde Immenstadt als Wohnsitz zugewiesen. Insgesamt konnten im Handelsbuch des Pierre Marquerat 329 Handelspartner ermittelt werden. Davon wurden aber nur 255 wirklich „gezählt“, denn bei den übrigen handelt es sich um Boten, Zwischenhändler oder auch um Gesellschafter der Handelspartner, die im Handelsbuch zwar erwähnt sind, jedoch nicht eigenständig mit Marquerat in Kontakt traten. Letztlich bleiben von 329 noch 25 Personen übrig, deren Wohnsitz bis zum Projektabschluss nicht mit gewisser 7 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 94r, 25.7.1726. 8 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 93v, o. D. 9 Moriz Ducrue Savoyar, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 38v, 20.11.1720; Herr Anselmus Ducrue Savoyar, ebd., fol. 105v, 1718 o. D.-1724 o. D.; Herrn Johan Schussy Savoyardt, ebd., fol. 106v, 12.5.-27.11.1721; Herrn Franz Leder Savoyar, ebd., fol. 109v, 20.9.1720; Monsieur Pierre Amis et Fronse Savoyardt, ebd., fol. 131v, Dreikönigsmarkt München 1724, ebd., fol. 132r, Jacobimarkt München 1725; Herr Claudi Mollie Savoijard, ebd., fol. 132v, 6.3.1721; Herr Michael Passier Savoyardt, wohl nicht in Augsburg ansässig, ebd., fol. 139v, 15.12.1723; Herr Franz Stelle Savoyardt, ebd., fol. 152v, 10.10.1721-14.10.1724; Mr. Ducrue Barto et Comp. Savoyardt, ebd., fol. 198v, 6.5.1725-20.1.1730 u.ö. 10 K ARL M ARTIN , Die Einwanderung aus Savoyen in das Allgäu und in einige angrenzende Gebiete, Kempten 1955; F RANZISKA R AYNAUD , Savoyische Einwanderungen in Deutschland (15.-19. Jahrhundert), Neustadt a. d. Aisch 2001. Weitere Personendaten wurden im Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Reichweite und Grenzen der Integration ethnischer und religiöser Minderheiten in der Frühen Neuzeit: Südwestdeutschland und Pennsylvania im Vergleich“ unter der Leitung von Prof. Dr. Mark Häberlein an der Universität Freiburg ermittelt. Sie betreffen vor allem die savoyische Einwanderung nach Augsburg. <?page no="563"?> Martin Zürn 564 Plausibilität festgestellt bzw. zugewiesen werden konnte. Von diesen sind nur 13 als Handelspartner für die Bilanzen relevant. Die Datengrundlage ist im Handelsbuch nicht allein nur aufgrund der schweren Schäden problematisch; sie wird jedoch durch den Abgleich mit den Personenangaben in den Briefprotokollen der Grafschaft Königsegg- Rothenfels und mit den prosopographischen Angaben zu den Savoyern in Augsburg aussagekräftig. Dadurch lässt sich immerhin ein zentrales Anliegen dieser Studie umsetzen: Es gelingt, die Anzahl und Höhe der Transfers, dazu die Gesamtumsätze nach Partnern, Städten und Regionen gruppiert, zu errechnen. Insofern versteht sich die Auswertung als Beitrag zur historischen Wirtschaftsgeographie im heutigen Dreiländereck von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Leider ist es nicht mehr möglich, hierzu chronologische Verlaufskurven (Konjunkturen) zu ermitteln. Zur Begründung ist im Folgenden das Verfahren zu erläutern, nach dem die Daten in die Datenbank eingegeben wurden. Aufgrund des Quellenzustands und des unvertretbaren Arbeitsaufwands war es unmöglich, jede Transaktion genau nach Ort, Datum und Betrag zu erfassen. Deshalb wurden - getrennt nach Soll und Haben - jeweils das erste und letzte Datum einer Abrechnungsperiode, die Anzahl der darin enthaltenen, teilweise nicht mehr entzifferbaren Einzeltransaktionen, und nicht zuletzt der Gesamtwert der Buchungen dieser Rechnungsperiode gespeichert. Bezüglich des Meersburger Savoyers Peter Faber wurde die Soll-Bilanz der Haben-Bilanz angeglichen. 11 In acht Fällen wurde die Zahl der Transaktionen in einer Größenordnung zwischen zwei und zwölf geschätzt. 12 Bei der Dateneingabe wurden aus Zeitgründen teilweise mehrere Abrechnungsperioden in der Quelle zu einer größeren Abrechnungsperiode zusammengefasst, die Zahl der Buchungen und der Geldbeträge vor der Eingabe entsprechend aufaddiert. So sind zwar die Werte korrekt, die Rhythmen in der Bilanzierungspraxis lassen sich durch dieses Eingabeverfahren mit Hilfe der Datenbank aber nicht mehr abbilden. Somit lassen sich zwar keine Konjunkturen mehr ermitteln, aber es lässt sich unter dem schon genannten Vorbehalt, dass keine weiteren Transaktionen in den verklebten Seiten verloren sind, für jeden Partner der gesamte Zeitraum rekonstruieren, in dem gehandelt wurde, dazu die Gesamtzahl der 11 Bei der Überprüfung der Datensätze wurde ein mangelhafter Datensatz in der Soll-Bilanz festgestellt. Hier wurde der Fehlbetrag gegenüber der Haben-Bilanz in Höhe von 87 fl. 30 kr. 2 d ausgeglichen. StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 61vf. 12 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 61v (5 Transaktionen), 67r (10), 71v (zweimal 5), 90r (12 wegen Unlesbarkeit der Seite vor der Bilanzierung), 117v (2), 130r (2), 215r (2). Bei der Schätzung wurden der zeitliche Abstand zwischen dem ersten und letzten Eintrag berücksichtigt (je geringer, desto weniger Transaktionen), die Höhe der Beträge (höhere Beträge = mehr Transaktionen), schließlich die nachweisbaren durchschnittlichen Transaktionsfrequenzen. <?page no="564"?> Wie es im Buch steht 565 Buchungen. Der Quotient aus dem Zeitraum und dieser Gesamtzahl der Buchungen ist die durchschnittliche Zahl der Transaktionen pro Jahr („Jahresfrequenz“) mit einem Partner, gegebenenfalls auch mit allen Partnern in einer Stadt. Aufgeschlüsselt nach Soll- und Haben-Bilanz können die Zahlen daraufhin überprüft werden, ob im Handel mit auswärtigen Partnern bzw. Städten markante Unterschiede in der Jahresfrequenz bestehen. Die Jahresfrequenz wiederum kann als Indikator für die Richtung der Waren- und Geldströme herangezogen werden: Hätte zum Beispiel Marquerat Textilien von einem Augsburger Kaufmann bezogen, wäre es denkbar, dass in wenigen, relativ teuren Posten geliefert wurde, dass aber Marquerat aufgrund der Zahlungsnöte seiner Kundschaft die Schuld in vielen kleinen Beträgen „abstotterte“. Die Korrelation mit dem Durchschnittswert einer Transaktion liefert möglicherweise einen Beitrag zu der Frage, wie der Fern- und der Regionalhandel beschaffen waren. Als Arbeitshypothese gilt, dass Fernhandel in einer geringeren Transaktionsfrequenz, dafür mit höheren Durchschnittswerten betrieben wurde, der Lokalhandel hingegen durch eine Vielzahl geringwertiger Transaktionen gekennzeichnet war. Aufgrund der Quellenschäden können aber alle numerischen Ergebnisse nur Näherungswerte sein. Der Seitenbzw. Informationsverlust von über 22 Prozent macht es wahrscheinlich, dass einzelne Handelspartner gar nicht erfasst werden und dass bei anderen die Transaktionsziffern und damit die Jahresfrequenz zu niedrig ausfallen. Führt der Quellenschaden einerseits zu einer künstlichen Reduktion der realiter erzielten Umsätze, so werden andererseits durch Überträge aus dem erwähnten „Buch Nr. 3“ das Handelsvolumen aufgebläht und die Laufzeit indirekt verlängert. Es ist nicht klar, ob Pierre Marquerat bzw. seine Ehefrau derlei Übertragungen immer als solche gekennzeichnet haben. Deshalb wurden grundsätzlich alle Beträge zu Beginn einer Saldierung berücksichtigt. Mit wem und in welchem Umfang Marquerat Handel trieb, ist nicht zuletzt für die historische Minderheitenforschung von Interesse. Die weit verzweigten, von der deutschen Konkurrenz gefürchteten savoyischen Handelsfamilien werden von der Forschung als hochgradig straff und hierarchisch organisiert beschrieben. Am vorliegenden Beispiel lässt sich nun quantifizierend beschreiben, wie es um die angebliche Dominanz savoyischer Landsleute unter den Geschäftspartnern bestellt war. Kann man von - familiär oder ethnisch verdichteten - Handelsnetzwerken sprechen oder zeichnete sich die Firma Marquerats durch Offenheit gegenüber anderen Nationalitäten aus? Um diese Frage zu klären, ist auch eine Suche nach den Spuren <?page no="565"?> Martin Zürn 566 der Familie Marquerat und ihrem Umfeld in notariellen Quellen in Savoyen und Immenstadt erforderlich. 13 2. Blick auf die Herkunft Pierre Marquerat aus Arâches im Faucigny gehörte zu den zahlreichen savoyischen Krämern, die sich nach dem Dreißigjährigen Krieg in süddeutschen Orten niederließen. Marquerat stellte am 18. März 1705 seinem Schwiegervater André Ducrue eine Generalvollmacht für seine heimatlichen Geschäfte und Verpflichtungen aus, Par estre Contraint Daller En almagne En son Traficque ordinaire [...]. 14 Marquerat war also bereits vor 1705 regelmäßig geschäftlich in Deutschland unterwegs. Der Notar Bernard Pernat protokollierte in dieser Zeit auch Eheverträge zwischen François Roux und Claudine Marquerat 15 und zwischen Claude François Marquerat und Claudine Pernat. 16 Alle genannten Personen stammen ebenfalls aus der Pfarrei Arâches; die Familiennamen der Ehepartner sind häufig unter Augsburger Einwanderern nachweisbar. 17 Welche Geschäftsbeziehungen Marquerat zu ihnen unterhielt, wird die Analyse seines Handelsbuches erweisen. Hier sei lediglich erwähnt, dass die Witwe Maria Barnatin aus Arâches am 2. November 1728 13 In dichten Stichproben ausgewertet wurden: Archives départementales de Haute-Savoie Annecy (ADHS) 2 E 5456-5487 (Notariat B[ernard] Pernat, Arâches, 1700-1734); StAA Adel / Königsegg- Rothenfels, Lit. 146-148 (Briefprotokolle 1696-1738). 14 ADHS 2 E 5460 (Minute B. Pernat, Arâches, 1705), fol. 21vf., 18.3.1705, Zit. 21v. Solche Vollmachten waren allgemein üblich; vgl. C HANTAL M AISTRE / G ILBERT M AISTRE , L’émigration marchande savoyarde aux XVIIe et XVIIIe siècles: l’exemple de Nancy-sur-Cluses, Annecy 1986, 98f.; ebenso M AISTRE / M AISTRE / H EITZ , Colporteures (wie Anm. 6), 69f. 15 ADHS 2 E 5460 (wie Anm. 14), fol. 105r-107r, 29.08.1705. Die verwitwete Claudine Marquerat heiratete später Joseph, Sohn des Louis Maniquet aus Collonaz, Pfarrei Magland. ebd. 2 E 5467 (minute B. Pernat, Arâches, 1712), fol. 37v-38v, 25.7.1712. 16 ADHS 2 E 5461 (Minute B. Pernat, Arâches 1706), fol. 15v-17r, 24.4.1706. Die Hochzeiten fielen im Gegensatz zu anderen Agrarregionen, in denen Feldarbeiten anstanden, im Faucigny in die Frühlings- und Sommerzeit, da sich die Männer im Herbst, nach Ende des Agrarzyklus, auf die Wanderschaft begaben. Demzufolge lagen im Spätwinter und Frühjahr die Monate mit der höchsten Geburtenrate, M AISTRE / M AISTRE , Nancy-sur-Cluses (wie Anm. 14), 100f. 17 Claudius Pernat aus Sabaudi wurde 1675 als Beisitzer und 1680 als Bürger angenommen, StadtAA Beisitzaufnahmen Fasz. 8, 1675, Nr. 25; StadtAA Bürgeraufnahmen Fasz. 8, 1680, Nr. 12. Michel Pernat, ehemaliger Handelsdiener des Savoyers Joseph Duboin, wurde am 14.12.1713 mit Beistand seines Arbeitgebers und des Savoyers Gervais Ducrue als Bürger aufgenommen, StadtAA Bürgeraufnahmen Fasz. 15, 1713, Nr. 22. Maria Catharina Bernati war verlobt mit dem Savoyer Michael Bernhard Passy. Maria Katharina Pernat bzw. Bernati aus München heiratete um 1748 den Savoyer Michel Bernard Passy, StadtAA Heiratskonsense Fasz. 1, 1748, Nr. 5. Schließlich die Bürgeraufnahme des Jacob Bernat aus Aras [Arâches], der Handelsdiener beim Savoyer NN Crettier war. StadtAA Bürgeraufnahmekonsense Fasz. 2, 1752, Nr. 18. Er heiratete 1753 die ledige Walburga Rennerin aus Wehringen, StadtAA Bürgerrecht 1507-1779, Bürgereid, 17.2.1753; StadtAA Bürgerrecht 1507-1779, Bürgereid, 31.1.1753; StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 26, 12, So. 18.2.1753, Nr. 8. Sämtliche savoyische Namen der Augsburger Bezugspersonen sind auch in den zitierten Notariatsprotokollen des Bernard Pernat nachgewiesen. Ebenfalls in Augsburg ansässig war die Familie Roux aus Arâches. <?page no="566"?> Wie es im Buch steht 567 mit 1.500 fl. in Marquerats Immenstädter Soll-Bilanz erscheint. Der Ausgleich erfolgte zum 1. September 1730. 18 Claudine Marquerat, Tochter des Nicolas, trat 1709 ihrem Bruder Pierre 600 fl. ab. 19 Gleichzeitig war Marquerat selbst in der Lage, dem honorable Jacques Burnet in Arâches 2.650 fl. zu borgen. 20 Claudine Marquerat zahlte außerdem 50 fl. an Claude Roux. 21 Auch die Roux, möglicherweise ein Bruder und ein Sohn des Claude, machten sich in Augsburg ansässig. 22 Solche Informationen beweisen, dass zwischen Augsburg und Immenstadt ein soziales Netzwerk bestand, das bereits in der Heimat geknüpft worden war. Verschwägerte Familien unterhielten daheim wie in der Fremde Geschäftskontakte. Doch sind die savoyischen Notariatsprotokolle ebenso reich an Rechtsformeln wie arm an Hintergrundinformationen. So lässt sich zum Beispiel die Frage, warum Claude Roux von einem Pierre Passier 1711 eine jährliche Rente aus einem Kapital von 200 fl. überschrieben bekam 23 - auch die Passy bzw. Bassi wurden in Augsburg eingebürgert 24 - nicht beantworten. Wurden mit solchen Transaktionen, wie die Forschung nahe legt, innerhalb des 18 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, fol. 232vf., 2.11.1728 bzw. 1.9.1730. 19 ADHS 2 E 5464 (minute B. Pernat, 1709), fol. 10rf., 18.2.1709. 20 ADHS 2 E 5464 (minute B. Pernat, 1709), fol. 12v-13r, 16.[? ]2.1709. 21 ADHS 2 E 5464 (minute B. Pernat, 1709), fol. 140r-141r, 27.10.1709. 22 Der Handelsmann Franz Claudius Roux aus Arach [Arâches] in Savoyen heiratete die hiesige Maria Franziska Wellerin, beide ledig. Seine Bürgen waren die savoyischen Handelsleute Franz Goney und Claude Ludwig Grange, ihr Beistand der Vater, Bildermaler Johann Georg Weller, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 23, fol. 149r, 18.5.1729. Die letzten erhaltenen Steuerbücher weisen ferner einen Barthlome Roux nach: Materialist Bartholomäus Roux, Bezirk 52 Von Predigern, Marginalie Gerosa Erben. Steuerbetrag am 20.5.1715 des Materialisten Barthelme Roux 15 fl. 30 kr. 1 d. Nachbarn Johann Eggert mit Marginalie Maurman, Bezirksende (Schuesterhaus), StadtAA Steuerbücher Bd. 1714, Sp. 98c. - Bezirk 52 Von Predigern, Marginalie Gerosa Erben. Betrag 0 d, mit Vermerk 2000 f l[iegend] 1200 f b[ar] in all[em] per diß [Jahr der Heirat mit NN? ]. Nachbarn Johann Eckerts witib NN mit Marginalie Maurman, Handelsmann Johann Battist Montegan, StadtAA Steuerbücher Bd. 1717, Sp. 99d. 23 ADHS 2 E 5466 (minute B. Pernat, 1711), fol. 23a-23b, 12.4.1711. 24 Einbürgerung des ledigen Peter Bassi, StadtAA Bürgeraufnahmen Fasz. 17, 1725, Nr. 3. Peter Bassi [Passy] aus Arach in Savoyen heiratet Maria Theresia Schlitterin [Schlüter], Die Hochzeitsbücher der Augsburger Bürgerstube und Kaufleutestube bis zum Ende der Reichsfreiheit, A LBERT H AEMMERLE (Hrsg.) München 1936, Nr. 3782, 22.9.1726. Michael Bernhard Passy, verlobt mit Maria Catharina Bernati, München. Die Handelslehre absolvierte er bei seinem Bruder Peter Passy, Augsburg. StadtAA Bürgeraufnahmen Fasz. 23, 1748, Nr. 29; StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 25, 419, Eintrag 1748 Nov. 24; StadtAA Heiratskonsense Fasz. 1, 1748, Nr. 5. Claudius Passy, noch ledig, seit 14 Jahren in Diensten bei seinem Vetter Peter Passy, Augsburg. Jetzt mit 1.000 fl. Kapital an dessen Handlung beteiligt, StadtAA Bürgeraufnahmen Fasz. 19, 1734, Nr. 12. Derselbe Claudius Passy, geb. in Aranche in Savoyen, heiratet Agatha Doßenbergerin aus Eschenlohe. Beistände sind die savoyischen Handelsleute Peter Passy bzw. Andreas Decret, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 24, 384, 19.10.1737; dagegen: Krämer Claudius Passi aus Arrache in Savoyen, heiratet hiesige Anna Maria Magdalena Wellerin. Beide sind ledig. Seine Bürgen sind die Handelsleute Claude Passy und Gottlieb Cretier, ihr Beistand ist der Maler Balthasar Huber, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 25, 99, 18.7.1744. Handelsmann Georg Passy aus „Aranche“ in Savoyen heiratet die hiesige Maria Augusta Rosenheimerin. Beide sind ledig. Seine Bürgen sind die Handelsleute Dionysius Brambilla und Johann Franz Jaccoud, ihr Beistand ist Handelsmann Franz Xaverius Kentlin, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 23, fol. 280, 15.1.1732. <?page no="567"?> Martin Zürn 568 Netzwerks Verbindlichkeiten aus dem Deutschlandhandel ausgeglichen, Abhängigkeiten erzeugt, fernes Finanzkapital in heimatliches Sozialkapital konvertiert? 25 3. Als Fremder daheim: Der Einwanderer in Immenstadt Als Pierre Marquerat sich in Immenstadt niederließ, hatte die Bürgerschaft bereits seit mehreren Generationen Erfahrungen mit savoyischen Einwanderern, die zunächst aus dem Aostatal stammten. Zu nennen sind Peter Donier, verheiratet mit Agatha Göhl (vor 1642); Clement Carle (vor 1681), seit 1650 Ratsmitglied; dessen Bruder, der Adlerwirt Carlo Carle (vor 1698) sowie Christoph und Alban Campetram (bis 1683). Franz Luzan, „der Italiener“, heiratete 1693 eine Immenstädterin. Wohlhabend wurde schließlich Domenico Barma (1712 bis ca. 1740). 26 Nachdem Pierre Marquerat seinem Schwiegervater André Ducrue die erwähnte Generalvollmacht erteilt hatte, vergingen vier Jahre, bis er von dem Schwarzfärber Johann Müller in Immenstadt ein halbes Haus mit zwei Gewölben an der Oberen Gasse für 1.000 fl. kaufte. Davon waren 700 fl. bar auf Michaelis zu zahlen, und man fragt sich, ob die erwähnte Abtretung der 600 fl. durch die Schwester mit Marquerats Einbürgerung in Immenstadt im Zusammenhang steht. 27 1709 oder später war Marquerat mit Anasthasia Göhlin aus Immenstadt verheiratet, die seine zweite Frau gewesen sein muss. Wenn man sich daran erinnert, dass zwei Generationen vorher (vor 1642) Agatha Göhlin, die „welsche Agathe“, mit Peter Donier verheiratet gewesen war, ist zu vermuten, dass die Familie Göhl sozusagen aus Tradition offen gegenüber Einheiraten von „Welschen“ war. Marquerats Schwager Thomas Göhl sowie der Schwager Frantz Gfaser wurden zu Vögten der Kinder Marquerats bestimmt, als diese für den Schweizer Salzhandel auf Jhre bey seiner Vermögschafft iure prioritatis Zue Erfordern habendte 2200 fl vmb die außstellendte bollith versiche- 25 L AURENCE F ONTAINE , Espaces, usages et dynamiques de la dette dans les hautes vallées dauphinoises (XVIIe-XVIIIe siècles), in: Annales. Histoire, sciences sociales 49 (1994), 1375-1391. 26 Immenstadt im Allgäu. Landschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, kulturelles und religiöses Leben im Lauf der Jahrhunderte, R UDOLF V OGEL (Hrsg.), Immenstadt 1996, 329f. 27 Johann Müller Schwarzferber verkhauft Peter Margra von arrasch aus Sauoyen gebürtig handelsman diser orthen seine halbe behausung an der oberen gassen gegen der herrschafft Residenz stehendt, bestehet in 3 Stuben 2 Cammern 2 gewölber ainen Keller Vnd holz Cammer wie Es die Schaydtwang weiset. Die S.V. Stallung solle auf beederseits Costen gebawen, Vnd dan Zur helffte abgethailt werden. Die lehre aus, Vnd die [? ] fahrt gegen Mang kocheler mag wider wie bishero gebrauch[en] die S.V. baw lege, solle Zur helffte abgethailt werd[en] die Stallung der wäg[en] solle khaufer in nhemen, Vnd der färber im Tremmel hab[en]. Hierumb ist der Khauf begangen Vmb 1000 fl hieran baar 700 fl auf Negste Michaeli [? ] 100 fl im negsten Jahr dan auf solche Zeith iedes mahl so uil das Capital p[er] 1 fl 10 kr nach blaiha [? ] Vnd das lehen [? ] auch [? ] rauch Hell [? ] ao 6xer auf ain fahl solle khaufer ohne abzug vornemmen, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 146 (Briefprotokoll 1696-1712), fol. 276vf., 01.6.1709. <?page no="568"?> Wie es im Buch steht 569 rung thun sollen. Den Vögten wurde auferlegt, eine jährliche Abrechnung zu verlangen, damit das Gut der Kinder keinen Verlust erleide, wobey der Margerat sich obligiert die fuehr bollith auf Jeweillige Erfordern bahr abzuefüehren oder in nicht Erfolg dessen sich der Saltz spedition von selbstiges schuldt Verlustiget halth[en] wolle. 28 Die Kinder sind namentlich nicht genannt. Ein Sohn Anton Nikolaus Marquerat, 1711 geboren, war von 1759 bis zu seinem Tod 1775 Pfarrer in Immenstadt. Im 19. Jahrhundert finden sich Träger des Familiennamens in Fischen, Landkreis Oberallgäu. 29 Ein weiterer Schwager Marquerats, wie Gfaser wohl Ehemann einer Schwester der Anasthasia Göhlin, kaufte 1731 von Marquerat ein kleines Wiesengrundstück. 30 Der Schwager Thomas Göhl ließ zahlreiche Käufe und Verkäufe protokollieren, woraus unter anderem hervorgeht, dass er Metzger bzw. Wirt zum Schwarzen Ochsen war. 31 Als Schuldner Marquerats erscheint ferner der Kreuzwirt Johannes Göhl. 32 Ein weiterer Kreditnehmer war der Bürger und Färber Johann Miller, der am 22. April 1716 412 fl. bei ihm aufnahm. Diese Forderung musste Marquerat 1730 an Joseph Prestel Burgern allhier vnd blaicher zu Bihl und an Ignaz Prestel abtreten, was erst 1735 protokolliert wurde. 33 28 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 13.11.1731. 29 Freundliche Mitteilung von Herrn Dr. Rudolf Vogel, Immenstadt; keine Angaben in M ARTIN , Allgäu (wie Anm. 10) und in R AYNAUD , Einwanderungen (wie Anm. 10). 30 Peter Marquerat Verkaufft seinem schwager Christoph Seelos ein Stückhle wüßfeldt zwischen dennen Moßgärten stosßet herein an Kaüffer, oberhalb vnnd hinaus an gn Herrschafft, vnderhalb an die aach für ledig vnnd Looß, pr 34 fl, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 13.11.1731. 31 Thomas Göhl, Metzger allhier [...] kauft vergantete Güter auf, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokolle [1726]-1738), o. fol., 15.9.1732. Thomas Gehlen Metzger allhier, ebd., Lit. 147, fol. 225r, 14.6.1713. Thomas göhl burger undt Metzger allhier gibt dem H: StattAmann Hösle seinen rauth ahn der Staig, nebst zwey wayd[en] in dem hindern grumbach geleg[en], Von Jhro gestreng H: Landtschreiber schiessen ahn sich Erhandelte Hinsgegen gibt gd H: StattAmann dem thoma göhlen zwey stuckh Veldt ahn dem Mögericht [? ]= undt scharben ackher alles fir ledig und los, ebd., Lit. 147, fol. 240r, 20.10.1716. Thomas Göhl Schwarzochsenwirt verkauft dem Johann Kesel seine zwei Stück Feld gen. Gaisbühl an Franz Gfasser und Georg Göhlen stoßend, für ledig und los, für 80 fl. bar, ebd., Lit. 147, fol. 256v, 30.3.1719. 32 Johannes Göhl burger undt kreütz würth allhier ist dem Peter Margerat schuldig worden 450 fl gibt zum underpfandt sein hauß hoff undt Veldter wie Er alles d.o besitzet 1721 auf weynachten dz Erste mahl zue Verzünsen mit 22 fl 30 kr wan was hierahn bezahlt wirt, solle es so gleich ahn Capital undt Zünsß abgeschriben, undt 60 fl CapitL in allhiesiges Hospital von H: Margerat gefordert werden, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 260r, 17.12.1720. Johannes Göhl musste darüber hinaus weitere 150 fl. bei Marquerat aufnehmen: Johannes Göhl burg[er] Vndt Creuth Wirth allhier Jst yber die vndter dem 17ten xbris 1719 ad Prothol: verpfändte 450 fl dem H Peter Margerat allhier ferners kandtlich schuldig worden 150 fl Jährl mit 5 p[ro] Cento verzünslich von welche der schuldtner gleich fahls sein hauß hof vndt veldter zuer versicherung constituiert, Jmenstatt den 30 May 1722, ebd., fol. 262r. 33 Peter Marguerat Burger vnd des Raths zu Jmmenstatt cediert dem Joseph Prestel Burgern allhier vnd blaicher zu Bihl, dan dem Jgnati prestel alda Eine obligation pr: 412 fl welche Er besag obligationis dd. 22. April 1716 an Johann Miller burger vnd ferber auch allhier zu erfordern gehabt, das also der Joseph prestel 100 fl der Jgnati prestel den rest mit 312 fl zu ford[ern] hat, 9.10.1730, StAA Adel / Königsegg- Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 18.6.1735. <?page no="569"?> Martin Zürn 570 Die Schulden Marquerats deuten darauf hin, dass die Geschäfte nicht immer gut liefen. Bei Maria Rosina Hueberin zu Kaufbeuren nahm er 1716 550 Gulden auf. 34 1725 lieh ihm der Königseggsche Rat und Rentmeister Ferdinand Hiemer 1.600 fl. 35 Von seinem Bruder (wohl dem Bruder seiner ersten Frau) Heinrich Ducrue erhielt Marquerat 1730 5.000 fl. mit dem Zusatz, dass bei der Rückzahlung 1.500 fl. als Dotation auf Marquerats Kinder übergehen sollten. Dieser Vorgang ist auch im Handelsbuch notiert; er stellt vermutlich die vom Volumen her größte Einzeltransaktion dar. 36 Am 11. November 1731 übernahm Marquerat von seinem Schwager Thomas Göhl zwei Schuldverpflichtungen über 186 fl. 37 Zwei Tage später musste er wie erwähnt seine Kinder über deren Vögte zur Absicherung seiner Salzgeschäfte heranziehen. 38 Marquerat war zu verschiedenen Gelegenheiten auf dem Immenstädter Immobilienmarkt aktiv. 1716 kaufte er von Josef Gsell zwei Äcker um 124 fl. in bar. 39 Warum er 1729 eine weitere Behausung um 450 fl. erwarb, 40 34 [Durchgestrichener Eintrag: ] Züns brieff. - H: Peter Margerat burg[er] undt handelsmann will verzünsen der Maria Rosina Hueberin dermahlen Zue Kauffbeyrin wohnhafft 550 fl gelihenes gelth, gibt zum vnd[er]pfandt sein haus, hof undt glegir [? ] güther, wie solche in dem Steurbuch beschriben steh[en], für ledig, los, undt ohnversezt, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 239r, 28.10.1716. Das Handelsbuch nennt eine Maria Huberin, o. O., fol. 146vf., 26.4.1717- 17.10.1718 (Haben-Bilanz) bzw. 16.10.-11.11.1716 (Soll-Bilanz) mit fünf bzw. drei Transaktionen bei jeweils insgesamt 641 fl. 10 kr. 35 Peter Marquerat deß Rathß, burger vndt handelßmann alhier ist dem hochgräfl: KönigßEgg: Rath vndt Rentmaistern herren Ferdinandt Hiemer [? ] bahr geleihenes gelth schuldig wurdten p 1600 fl jedes mahl auf allerhayl: und zwar ao 1726 anfahendt mit 80 fl Landtßbräuchig verzinßl: gibt zum vndterpfandt sein von Egidi Mayrseif zu bihel Erkhauffte wirthschafft sambt Hauß, hoff Liegendt vndt fahrendten mit 16 Winterfuhren fir ledig vndt Loß, die aufkindung deß Capitalß solle von jedem Thaill Ein halb Jahr vorherig bescheh[en], 26.10.1725, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 276v, ad prot. 09.1.1726. 36 Der Gläubiger wird als H Brueder Hainrich Doucrè bezeichnet, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 27.10.1730; StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 398, fol. 176r, 15.11.1730. 37 Peter Marquerat alhier übernimbt von Thoma Gehl seinem schwager zway in die geistl Verwalterey Jährl Verzünßliche Capitalia â 126 fl der Züns hieruon auf Martini 1732 anfachendt, mehr ein Zue Hanns bachen seel. Jahrtag verordnetes Capital â 60 fl auf 15 8bris obermelten Jahrs verzünslich fallendt, versezt vor solche 186 fl sein Vermögen, souill vonnöthen, in Specie den ackher bey St. Joannis Nepomuceni Capell stossendt an Bawstrasß vnnd Hanns Jerg Kirchmann, herein an H Oberambtmann vnnd gn: Herrschafft für frey Ledig vnnd Looß, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 11.11.1731. 38 Vgl. Anm. 28. 39 Joseph Gsell verkaufft Herrn Peter Margerat burgern vndt Raths verwanth[en] allhier seine zwey äckher bey den gethallten weegen ahn dz Hospital, Jhne käuffer selbsten undt H Cantzleyverwalther Stosßendt für ledig und los p[ro] 124 fl bahre Zahlung, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712- 1729), fol. 236r, 3.1.1716. 40 Joseph Lorsch, Bürger in Immenstadt, verkauft dem Peter Marquerat des Rats allhier seine halbe Behausung von Mang Hindelang zue ruben ledig und los, mit Ausnahme der 19 fl., die der hiesige Pfarrer an Kapital darauf hat, um 450 fl., wobei der Käufer sofort 150 fl. zu zahlen hat, in Geld oder Waren, den Rest aber darf der Käufer für seine Forderung von 336 fl. 19 kr. 2 hl in Händen behalten. Der Verkäufer muss auf kommenden Johannistag ausziehen, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 18.10.1729. <?page no="570"?> Wie es im Buch steht 571 muss im Dunkeln bleiben - jedenfalls verkaufte er die Immobilie bereits 1730 zum gleichen Preis an Joseph Luiz. 41 Bereits 1726 hatte er ein Gasthaus in Bihel, Pfarrei Immenstadt, um etwas über 2.700 fl. veräußert. 42 An seinen Schwager Christoph Seelos ging 1731 ein kleines Wiesengrundstück, 43 desgleichen an Franz Gfaßer. 44 Insbesondere über die Göhl und Prestel scheint Marquerat in die Immenstädter Ehrbarkeit der Wirte, Ratsmitglieder und Beamten integriert gewesen zu sein, die zum Teil mehrmals jährlich mit Schuldtiteln oder Immobilientransaktionen in den Rothenfelser Briefbüchern aufgeführt sind. Ansonsten lieferte Marquerat Waren für den Alltagsbedarf des gräflichen Hofes 45 oder für das Kreiskontingent des Königseggschen Militärs. 46 Wie nun entwickelte sich die Zusammenarbeit mit dem in Immenstadt ansässigen savoyischen Landsmann Dominik Parma? Grundsätzlich scheint Parma eine ähnliche Verknüpfung von geschäftlicher- und sozialer Integration verfolgt zu haben. Als Schwager von Joseph Keckh und in Verbindung mit seinem Schwöher Frantz Berkhmann erscheint Parma im Kontext einiger durchaus beachtlicher Immobilientransfers, mit denen er Erbansprüche li- 41 Peter Marquerat verkauft die von Joseph Lorsch gekaufte Behausung dem Joseph Luiz, ledig und los, mit Ausnahme des Kapitals des Pfarrers in Höhe von 18 fl. 50 kr., für 450 fl. nach Abzug obigen Kapitals, nach vier Wochen drei Tagen bar zu bezahlen. Actum im Beisein der Interessenten NN, dann Johann Gohl und Conrad Schneider, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 18.6.1730. 42 Peter Marquerat Burger vndt Handelßmann in Jmmenstadtt Verkhaufft dem Joseph Berlinger von Staad sein von Egidi Marseiff ahn sich käufflL gebrächte vndt zu bihel gelegene Wirtschaft sambt den darzue gehörigen völligen guth, wie Er Egidi vndt vor Jhme H: Johl: Christoph Croneißen dermahl: haußmaist[er] solche jnngehabt, fir ledig vndt loß, außer daß p[ro] 400 fl Cap in die Lanttasch Capell darauf hafften, herumben ist der Kauff Ergangen p[ro] 2727 fl sambt Einem Species dugaten in den Kauf, woran nach abzug obigen Capit. auf georgi p[ro] 600 fl dan allJährl auf solche Zeith biß zu völliger abtragung deß Kauffschillingß p 400 fl sambt interée pro rato Erlegt werden sollen, ferners solle Kauffer die Jhme in dem Jnventarioi vorgewißene Mobilien, außßer Kupfer Zünn brennhaffen vndt bratter, annemmen vnd Lauth angesezten Preyßes bar bezahlen. Actum den 14 april 1726 in beysein beeder Jnteressenten H Joh: Christoph Croneißen Handelmann, H Franz Lucian Kalßer Verwalter, Philip Jacob Schmidt Cronenwirhß, vndt Jst Prestel des blaichers ad Proth: den 27 May eisud anni, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 325rf., 27.5.1726. 43 Peter Marquerat Verkaufft seinem schwager Christoph Seelos ein Stückhle wüßfeldt zwischen dennen Moßgärten stosßet herein an Kaüffer, oberhalb vnnd hinaus an gn Herrschafft, vnderhalb an die aach für ledig vnnd Looß, pr 34 fl., StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 148 (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 13.11.1731. 44 Peter Marquerat verkaufft dem Franz Gefasßer alhier ein Wißfeldt beym Ziegelstadl von Franz Hößle see. Herkommendt, stosst vnder halb an Fueß weeg hinaus an Joseph heesß herein werts an Kaüffer selbst, oberhalb an haag vnnd Michael Kennerkhts baindle für ledig vnd looß vnnd baar gelt pr 50 fl., StAA Adel / Königsegg-Rothenfels (Briefprotokoll [1726]-1738), o. fol., 28.10.1731. 45 So verkaufte er der Herrschaft einen Festochsen fürs Freischießen für 100 fl. oder auch nur 1/ 4 lb Negele und 1/ 2 lb Pfeffer zum Fischeeinmachen für 1 fl. 14 kr., Einnahme- und Ausgaberechnung der Herrschaft Königsegg-Rothenfels 1718/ 19, 101 bzw. 186, o. D. StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 404. 46 Goller [Göller = Schulterstücke, Krägen? ] und Pferdedecken für das Kreisregiment erwähnt die Landschaftsrechnung 1727/ 28, Stadtarchiv Immenstadt, zit. nach einem Hinweis von Dr. Rudolf Vogel. <?page no="571"?> Martin Zürn 572 quidierte. 47 Zweimal vergab Parma Kredite unterschiedlicher Höhe. 48 Auffällig ist, dass weder Parma und Marquerat noch deren deutsche Verwandte und Partner Geschäfte untereinander auf der Kanzlei protokollieren ließen. Hier stellt sich die Frage nach dem strategischen Gebrauch des herrschaftlichen Notariatsmonopols durch die Untertanen. Es ist durchaus denkbar, dass beide Handelsleute ihre Beziehungen nicht vor den Beamten offen legen wollten. Nach einer anderen Hypothese könnten Parma und Marquerat aber in unterschiedliche deutsche Netzwerke eingebunden gewesen sein, die ausweislich der Rothenfelser Briefprotokolle tatsächlich kaum Geschäfte untereinander abwickelten, vielleicht sogar rivalisierenden Parteiungen angehörten. Marquerats Handelsbuch beschreibt die Geschäftsbeziehungen zu Parma wie folgt: Die Haben-Seite führt zwischen dem 28. Februar 1721 und dem 47 Dominicus Barma, Krämer, verkauft Joseph Wageggen, Gerber, sein Haus und Hofstatt neben dem warrjgarth[en] an der Landstraße für 500 fl., davon sind 100 fl. sofort in bar fällig, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 146 (Briefprotokoll 1696-1712), fol. 292rf., 21.1.1712. Jacob Haugge Verkhaufft dominicus barma ainen kraut [? ] stegeg [? ] aufm Most [...] um 12 fl in bar, StAA Adel / Königsegg- Rothenfels, Lit. 146 (Briefprotokoll 1696-1712), fol. 292v, 23.1.1712. Florian Wölfle Creüzwürth verkhaufft dominicus barma seinen Jnnern altwisackher [...] für 82 fl., StAA Adel / Königsegg- Rothenfels, Lit. 146 (Briefprotokoll 1696-1712), fol. 292v, 23.1.1712. Felix khaufman Verkhaufft dominicus barma ainen ackher Vnterm Spithal an die landt stras, vnnd Franz Hösle Stosendt für frej ledig, vnnd looß, auser das in die Verwalterey 57 fl 45 x daraus gehet, p[ro] 70 fl bar gelt, actum 14.6.1712 [? ], StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 218v, protokolliert 18.6.1712. H. Frantz Lucian Kalser gaistl: Verwalther verkaufft dem dominico Barma Handelsmann allhier Ein Stuckh Platz worauf Ein altes gewölb stehet, vndt zu dem Caplaney haus gehörig ist, von der fordern gassen bis ahn d[ie] hindere geg[en] den R: R: S: S: P: Capucinis raichendt p[ro] 75 fl voran auf Pfinst[en] negstkünfftig 50 fl dann der Rest auf Michaeli bezahlt werd[en] solle, mit disem Vorbehalt, dz wan künfftig dz haus weg[en] disem Plaz nicht verkäufflich sein wurde, Er auch dz haus um billich[en] Preys anzuenemmen verbunden wäre. Actum den 20ten Marty, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 222v, ad prot. 15.4.1713. Dominicus Barma Burg[er] undt handelsmann in JmmenStatt Verkaufft seinem schwager Joseph Keckh in der herrschafft Stauffen wohnhafft die von seinem Schwöher Frantz Berkhmann seel: Erblich ahn Jhne Barma gefallene helffte, ahn den dem Haus, hof, 6. Stükhel Veldt undt zwey wurtz garth[en] p[ro] 300 fl, actum in beysein Christian Kekh[en] undt Joseph Wageggen, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 240v, 28.10.1716. Dominicus Barma burger und handelßmann verkaufft dem Anthoni helchenberg kupferschmidt und burg[er] sein so genanthe dickhe halden oberhalb ahn Jgnati habißreithinger, auff der seithen ahn hanß Erb, Jacob Me, gdge herrschafft und Christoph Stadler geleg[en], für frey ledig und loß, ausßer daß solches gdger herrschafft 30 x lehen bahr ist, p[ro] 100 [900? ] fl bahrer, zahl: , StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 272v, 14.4.1725. Dominique Barma Burger vndt handelßmann Verkhaufft dem Florian Wölffle sein von Joseph Keckhen herkhommenden ackher bey der seegmiehlen geleg[en] ahn hanß Seeloß vndt Joh: Stadler stossendt fir ledig vndt loß p[ro] 47 fl bahr gelth [...] in beysein Johl: Schmidelers, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 277v, 13.6.1726. 48 Felix Mayer ist Dominico Barma schudig wordten p[ro] 10 fl 28 1/ 2 xr, versezt hingeg[en] seine beste kuhe, vndt verspricht biß negsten gallj Markht solche schuldt sambt dem zünß abzuführen, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 274v, 22.4.1725. Jacob Linckhenhöhl ist dem Dominicus Barma allhier zinsbahres Capital schuldig 160 fl verspricht solches sambt den zünß pro rato inner negsten drey Jahren iedes Jahr auf Georgj ao 1726 anfahendt mit 1/ 3 tl abzuezahlen gibt zur versicherung undt undterpfandt seinen ackher bey dem schwartz Creutz fir ledig vndt los, ausßer dz denen Martin Prestlischen Kinder noch 20 fl vorherig darauf hafften thueth, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels, Lit. 147 (Briefprotokoll 1712-1729), fol. 274v, 10.9.1725. <?page no="572"?> Wie es im Buch steht 573 16. Januar 1727, also für knapp sieben Jahre, in sechs Rechnungsintervallen 41 Transaktionen auf, das heißt durchschnittlich knapp unter sechs pro Jahr, mit einem Gesamtvolumen von 1.462 fl. 6 kr., das sind durchschnittlich 35 fl. 37 kr. pro Transaktion. Auf der Soll-Seite wurde zwischen dem 27. Dezember 1720 und dem 17. Januar 1727 nach 30 Transaktionen mit durchschnittlich knapp 48 fl. 45 kr. pro Transaktion in ebenfalls sechs Intervallen mit genau dem gleichen Betrag abgeschlossen. Ob danach weitere Geschäftsbeziehungen bestanden, kann aufgrund der Textverluste nicht ermittelt werden, doch legt der exakte Rechnungsabschluss ein definitives Ende nahe. Dass die Soll-Bilanzierung zeitlich früher einsetzt als die Haben-Bilanzierung, deutet eventuell darauf hin, dass Marquerat der Warenlieferant war und Parma seine Schulden in kleineren Tranchen beglich. Im Vorgriff auf die Endauswertung ist festzuhalten, dass der Umsatz zwischen Parma und Marquerat vermutlich auf Detailhandel beruhte und im Vergleich mit anderen Umsätzen sehr bescheiden ausfiel. Zur Beziehung der beiden Savoyer in Immenstadt wird man somit als Vermutung formulieren können: sie war rein geschäftlich und nicht ausschlaggebend für Marquerats wirtschaftlichen Erfolg. Sie wurde wohl nicht nennenswert durch ergänzende soziale Beziehungen gestützt, falls nicht die Patenschaftseinträge in den Kirchenbüchern etwas anderes erweisen. In den Bereichen Kreditvergabe und Immobilienhandel gab es keinen gemeinsamen Kreis deutscher Geschäftspartner am Ort. 4. Marquerats Handelspartner, Orte und Umsätze Eine Grobgliederung des Datenmaterials erbringt folgendes Ergebnis: Bilanzteil Datensätze Transaktionen Saldi (fl.) Haben 0.767 3.596 0554.269 Soll 0.680 4.327 0549.508 (Summen) 1.447 7.923 1.103.777 Pierre Marquerat könnte im Untersuchungszeitraum mit knapp 8.000 Transaktionen einen Gesamtumsatz (Summe aus Soll und Haben) von über 1,1 Millionen Gulden erzielt haben, eine Summe, von der wie erwähnt die Überträge aus „Buch Nr. 3“ abzuziehen wären, zu der aber andererseits die aufgrund der Textverluste verlorenen Posten hinzuaddiert werden müssten. Für die ganze Rechnungsperiode, das heißt für mehr als 20 Jahre, ergibt sich zwischen Soll und Haben eine Differenz von + 4.761 fl., sei es wegen Mängeln in der Buchführung, sei es wegen der Quellenschäden. Stellt man zum <?page no="573"?> Martin Zürn 574 Beispiel die Soll- und Haben-Saldi nach Nationalität der Handelspartner differenziert gegenüber (Anhang 2.2.), werden die zum Teil beträchtlichen Differenzen zwischen Aktiva und Passiva deutlich, auch wenn Marquerat Soll und Haben mit den meisten seiner 251 Partner wenigstens annähernd ausgleichen konnte. Rückschlüsse auf die Umsatzrendite lassen sich weder aus diesen Angaben noch aus sonstigen Quelleninformationen ziehen. Aus dem ungefähr zur gleichen Zeit von Maurice Montfort in Riegel am Kaiserstuhl angelegten Handelsbuch lässt sich ermitteln, dass savoyische Kaufleute ihre Ware mit einem Aufschlag von zehn Prozent auf den Einkaufspreis veräußerten. 49 Was die Geschäftskonjunktur bei Marquerat betrifft, lässt sich aus den oben erwähnten Kreditaufnahmen, Güterverkäufen und der Rückversicherung des Salzhandels bei den Kindern schließen, dass sich 1730/ 31 die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechterten. Vielleicht spiegelt sich hierin die für landwirtschaftliche Erzeuger und Bezieher naturaler Renten bescheidene Agrarkonjunktur dieser Zeit. Wie sich diese Situation für Marquerat genau auswirkte, hing aber von seiner Kundenstruktur ab. Grundsätzlich stärkten mäßige Getreidepreise die Kaufkraft landarmer Bevölkerungsschichten und belasteten marktorientierte Bauern. Allerdings trug die Getreideversorgungspolitik des Schwäbischen Kreises ein Janusgesicht. Die Fruchtsperren, das heißt die Verbote des Getreideexports in die Schweiz, insbesondere in den Jahren 1733 bis 1735, verhinderten während des Polnischen Erbfolgekrieges zwar einerseits eine Explosion der Preise, beschränkten aber andererseits den Kapitalzufluss in die Region. Die flaue Konjunktur sowie der politisch bedingte Verlust des größten Aktivpostens in der regionalen oberschwäbischen Handelsbilanz könnten sich konkret für Marquerat verheerend ausgewirkt haben, falls er von gut situierten Kunden wie dem Königsegg-Rothenfelser Grafenhof und reichen Bauern und Wirten abhängig war. 50 Ob Marquerat von der Verbindung zum Hof letztlich profitierte, muss insgesamt in Zweifel gezogen werden. Die Residenz der gräflichen Linie Königsegg-Rothenfels litt zweifellos unter der Abwesenheit einiger fähiger Regenten, die sich im österreichischen Dienst oder in hohen geistlichen Würden Verdienste erwarben. Deren Neffen und Nachfolger wiederum zeigten 49 Stadtarchiv Freiburg E 1 B III 8, Geschäftsbuch Moritz Montfort 1724-1740. Die Stichprobe umfasst die Seiten 1 bis 174, auf denen neun Geschäfte mit seinem Bruder Karl Franz Montfort in Freiburg mit einem Gesamtumsatz von ca. 920 Gulden festgehalten sind. 50 W ILHELM A BEL , Agrarkrisen und Agrarkonjunkturen. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg / Berlin 1978, 3. neu bearb., erw. Aufl., hier 194f.; F RANK G ÖTTMANN , Getreidemarkt am Bodensee. Raum - Wirtschaft - Politik - Gesellschaft (1650-1810), St. Katharinen 1991, 366f., 369, zu der Totalsperre 1733-1735 ebd., 91f., 377. Der Kernen kostete 1725-1734 auf dem Überlinger Fruchtmarkt nur ca. die Hälfte bis zwei Drittel des Preises, der in den „Franzosenkriegen“ Ende des 17. Jahrhunderts gezahlt werden musste, Vgl. ebd., 478, Anhang 26. <?page no="574"?> Wie es im Buch steht 575 zu Marquerats Zeiten zwar ein barock-exzessives Konsumverhalten, doch wirtschafteten sie den Hausbesitz in den Bankrott, so dass die Grafschaft Rothenfels 1803/ 04 an Österreich verkauft werden musste. 51 Die Hoflieferanten mussten in einer solchen Situation üblicherweise lange auf die Bezahlung warten, konnten es sich aber nicht erlauben, dem mächtigsten Kunden der Umgebung weitere Lieferungen zu verwehren. Jenseits solcher Spekulationen lässt sich die wirtschaftsgeographische Verflechtung Marquerats nach Umsätzen, Transaktionen und Geschäftspartnern eindeutig beschreiben (Anhang 1). Die Auswertung ergibt eine Rangfolge von 67 Orten einschließlich der Restgröße „unbekannt“. Im arithmetischen Mittel entfiel von den über 1,1 Mio. fl. an Umsätzen auf jede Stadt ein Umsatzvolumen von ca. 16.474 fl.. Den Median (das heißt die 34. Position im Sample) nimmt jedoch Staufen im Allgäu mit nur 2.195 fl. Umsatz ein, den Marquerat in 26 Transaktionen mit dem dortigen Vogt Johann Peter Kroneisen erzielte. 52 Darin zeigt sich das starke Bedeutungsgefälle ebenso wie in den Beobachtungen, dass bereits nach den ersten drei Orten (Arbon im Thurgau, Lindau im Bodensee und Augsburg) mit 504.778 fl. die Hälfte aller Umsätze annähernd erreicht bzw. mit dem vierten Ort (Immenstadt) überschritten wird, dass beim 17. Ort (Memmingen) eine Umsatzsumme von 1.008.656 fl. erreicht ist und schließlich, dass nur 18 Orte Umsätze von über 10.000 fl. aufzuweisen haben. 53 Pierre Marquerat bestritt in erster Linie seinen Handel mit zwei Nachbarregionen des Allgäu, mit dem heutigen Bayerisch-Schwaben und dem südlichen und östlichen Ufer des Bodensees. Darüber darf jedoch der Handel mit der Schweiz und Savoyen nicht vernachlässigt werden. Was die Einzelanalyse von Orten und Regionen betrifft, liegt mit einem Anteil von 276.933 fl. (25,1 Prozent aller Umsätze) die Schweizer Bodenseestadt Arbon im Thurgau eindeutig an der Spitze. Dieses Ergebnis wird noch bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass es nur mit zwei Gesellschaften, 51 Reichsvizekanzler Leopold Wilhelm von Königsegg-Rothenfels (1639-1694) organisierte diplomatisch den Entsatz von Wien gegen die Türken. Er erhielt zur Belohnung das Tabakmonopol, investierte die Einnahmen jedoch in ein Schloss vor Wien. Sein Sohn Sigismund Wilhelm, der die Türken bei Belgrad schlug, residierte ebenfalls dort. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten und weil er keinen Sohn hatte, verlor er die Regentschaft über die Linie. Die Nachfolger rangen vergeblich um die Sanierung der Hausfinanzen, nachdem der gescheiterte Deutschordenskomtur Christian Moritz (1705-1778) als „Schlemmergraf“ mit einem Hoforchester den erzwungenen Ruhestand in Immenstadt genoss; H ER- MANN B OXLER , Die Reichsgrafen von Königsegg im Dienst von Kaiser und Kirche - Territorialherren, Landvögte und Grundbesitzer, in: Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, M ARK H ENGERER / E LMAR L. K UHN (Hrsg.), 3 Bde., Ostfildern 2006, Bd. 1, 229- 240, hier 236f. 52 Vogt Johan Petter Croneysen in Stauffen, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 131v, 20.2.1721-15.12.1729. Unter diesem Namen wurde in der Datenbank auch erfasst: Gerichtsammann [NN] in Staufen, ebd., fol. 82v, 15.7.1723. 53 Hierin enthalten sind allerdings die Sammelgrößen „unbekannt“, „Savoyen“ und „Sachsen“, wo genauere Ortsangaben fehlen. <?page no="575"?> Martin Zürn 576 Jacob Furttenbach u. Co. sowie Schaidlin & Ebertz, nach 614 Transaktionen erzielt wurde. Hiervon entfielen auf Furttenbach 112.469 fl. im Haben- Saldo aus 198 Buchungen und 98.697 fl. im Soll aus 272 Buchungen, so dass allein hier der Umsatz 211.166 fl. betrug. Gemessen am Umsatz von 65.767 fl. lagen Schaidlin & Ebertz auf Rang drei aller Geschäftspartner. Auf der Haben-Seite erzielte Marquerat mit ihnen aus 60 Buchungen 32.918 fl. 36 kr., auf der Soll-Seite 32.848 fl. 36 kr. aus 84 Transaktionen. Der zweitwichtigste Ort war für Marquerat Lindau im Bodensee mit 140.647 fl. (12,7 Prozent aller Umsätze), verteilt auf 1.254 Transaktionen. In dem für den frühneuzeitlichen Handel bedeutenden Speditionsort waren immerhin 19 Partner ansässig, doch bestanden mit keinem so intensive Geschäftsbeziehungen wie mit Andreas Kramer. Mit ihm allein setzte Marquerat bei 818 Buchungen 110.308 fl. um, wovon 55.673 fl. mit 246 Einträgen auf der Haben-Seite und 54.635 fl. mit 572 Einträgen auf der Soll-Seite zu finden sind. Kramer nimmt damit unter allen Handelspartnern die zweithöchste Position ein. Insgesamt ist das Bodenseeufer unter allen Regionen stark in der Spitzengruppe vertreten, denn gemessen am Umsatz von 55.453 fl. (5,02 Prozent) auf der Basis von 198 Transaktionen bzw. Buchungen, die sich auf fünf Partner verteilten, liegt das schweizerische Rorschach im Thurgau an siebter Stelle aller Städte. Meersburg befindet sich mit einem Umsatz von 2.984 fl. bei 34 Buchungen auf Platz 28, damit im Mittelfeld und unter den unbedeutenden Handelsorten. Alleiniger Geschäftspartner war hier Peter Faber (Favre), Repräsentant der „Fugger vom Bodensee“, eines savoyischen Unternehmens aus Tignes (Tarentaise). 54 Unter den bayerischen bzw. bayerisch-schwäbischen Städten nimmt die bedeutende Gewerbe- und Handelsstadt Augsburg den ersten Rang ein. In der Addition von Soll und Haben ergibt sich aus 712 Transaktionen ein Anteil von 87.198 fl., das entspricht 7,9 Prozent von allen Umsätzen, der mit 30 Geschäftspartnern erzielt wurde. Durchschnittlich entfielen auf einen Augsburger Partner knapp 2.907 fl.; der Wert einer Transaktion lag im Schnitt bei gut 122 fl. München, erst recht Franken mit Nürnberg und Fürth fallen demgegenüber weit ab. Immenstadt liegt mit 80.908 fl. und 7,3 Prozent aller Umsätze eine Position hinter Augsburg auf Rang vier. Diese Summe setzt sich aus 723 Buchungen zusammen, die sich auf 15 Partner verteilen. An Durchschnittswerten lassen sich 112 fl. pro Buchung errechnen, aber pro Partner 5.394 fl. Umsatz. Hier offenbaren sich intensive Geschäftskontakte zu einem sehr 54 R AYNAUD , Einwanderungen (wie Anm. 10), 75f. <?page no="576"?> Wie es im Buch steht 577 überschaubaren lokalen Personenkreis, in dem nach den oben vorgestellten Zahlen der savoyische Landsmann Dominik Parma nur eine Randfigur war. Die Tendenz zum Kleinhandel wird noch deutlicher bei der Stadt Kempten, die nach den insgesamt 1.064 Transaktionen an der Spitze aller Städte liegen würde, doch konnte Marquerat mit den dortigen 24 Partnern durchschnittlich lediglich knapp 2.700 fl. Umsatz erzielen; der Durchschnittswert einer Buchung betrug nicht einmal 61 fl. Doch der Kleinhandel bringt die Stadt auf insgesamt 64.736 fl. an Umsätzen und damit an die sechste Stelle im Sample. 55 München liegt demgegenüber deutlich abgeschlagen auf Position zehn mit 26.681 fl. Umsätzen bei neun Partnern und 185 Transaktionen bzw. Einträgen, sehr dicht gefolgt von Isny im Allgäu mit 25.655 fl. bei drei Partnern und 160 Einträgen. In den Bilanzen fast nicht vertreten ist Oberschwaben mit Bayerisch- Schwaben. Vom Umsatz her den 17. Platz belegt Memmingen mit 13.268 fl. bei zwölf Partnern mit 409 Transaktionen. Herr Dominico Vacant, eventuell Vertreter der auch in Augsburg ansässigen Handelsdynastie Vaccano aus dem Herzogtum Mailand, vertrat allein die Stadt Waldsee (Position 30): Marquerat setzte mit ihm 2.601 fl. um, verteilt auf 54 Buchungen. Günzburg, wichtige Etappenstadt der Donauschifffahrt am nordöstlichen Rand Oberschwabens, war mit 566 fl. Umsätzen für Marquerat fast ebenso bedeutungslos wie Ravensburg (342 fl.), Ehingen a. D. (283 fl.), Neuburg a. D. (238 fl.), überraschenderweise Ulm (204 fl.) und der Klosterort Ochsenhausen (79 fl.). Unter ferner liefen rangieren schließlich die damals wie heute österreichischen Städte Bregenz, Innsbruck und Wien mit Umsätzen von deutlich unter 2.000 fl. Lediglich Reutte in Tirol mit 4.180 fl. Umsätzen bei zwei Partnern ist in der vorderen Hälfte des Samples angesiedelt. Wichtiger für Marquerat war die Nordostschweiz. Irritierend ist der Befund zu Zürich. Der Salzhandel hätte erwarten lassen, dass Marquerat das Massengut in relativ großen und teuren Chargen liefern ließ. Die Stadt an der Limmat kam mit Gesamtumsätzen von 24.636 fl. (2,2 Prozent) jedoch „nur“ auf die zwölfte Position. Diese verteilen sich auf 194 Buchungen mit zehn Geschäftspartnern, was beim Umsatz einen Durchschnitt von 2.464 fl. und einen durchschnittlichen Transaktionswert von knapp 127 fl. ergibt. Zwar nicht vom Umsatzvolumen her, aber hinsichtlich der arithmetischen Mittelwerte beim Umsatz pro Partner und Buchungswert liegt Zürich damit 55 Politisch und konfessionell getrennt in Stiftsstadt und Reichsstadt war Kempten, das mit weiteren 2.485 fl. Umsatz aus 55 Transaktionen mit drei Partnern auf Rang 32 liegt. Würde man diese Ergebnisse der Reichsstadt zuschlagen, würde sich deren Position unter allen Orten dennoch nicht verändern. <?page no="577"?> Martin Zürn 578 hinter Vevey, bei allen Indikatoren hinter Genf. Der (Salz-) Handel mit Glarus kann im Vergleich hierzu fast vernachlässigt werden. 56 Die Nordschweiz mit dem protoindustriellen Appenzeller Textilrevier scheint in Immenstadt mit Augsburg und Umgebung ohne sonderlichen Erfolg konkurriert zu haben. Neun St. Galler Handelshäuser trugen mit 194 Transaktionen 41.501 fl. bzw. 3,76 Prozent zur Summe aller Umsätze bei. Dies reichte zu Platz acht im Sample. Mit Bischofszell (13.422 fl., Platz 16) gehörte ein weiterer Ort dieser Region gerade noch zu den Plätzen, zu denen Marquerat nennenswerte Beziehungen pflegte. Deutlich abgeschlagen auf Rang 29 positioniert ist dagegen das früh industrialisierte Herisau mit 2.816 fl. an Umsätzen, für die zwei Partner mit neun Transaktionen verantwortlich zeichneten. Im Handel mit Appenzeller Textilien waren durchaus auch „Piemonteser“ engagiert, 57 so dass Marquerats Zurückhaltung mit landsmannschaftlichen Zugehörigkeiten kaum zu erklären ist. Relativ stark sind die Westalpen vertreten, zunächst an fünfter Stelle durch Genf. Der dortige Gesamtumsatz von 79.452 fl. resultierte aus 242 Buchungen mit elf Geschäftspartnern. Das arithmetische Mittel aller Buchungen beträgt immerhin 328 fl., auf einen Partner entfiel ein durchschnittlicher Umsatz von 7.223 fl.. Im Vergleich mit den Kemptener oder Immenstädter Zahlen betrieb Marquerat hier „Großhandel“. Dieser wurde zwar nicht immer direkt in Genf oder Immenstadt, sondern häufig auf den Zurzacher Messen abgewickelt. Preistreibender Zwischenhandel fand aber wahrscheinlich kaum statt. Dies zeigt der Blick auf die Etappenstädte zwischen dem Bodensee und der Westschweiz, die in Marquerats Handelsbeziehungen zumeist keine prominente Rolle spielen: Beachtlich ist noch der Austausch mit Schaffhausen (17.086 fl. / drei Partner / 239 Buchungen) und Vevey am Genfer See (13.840 fl. / vier Partner / 55 Buchungen) auf den Plätzen 14 und 15. Basel auf dem 20. Platz fällt demgegenüber deutlich ab (6.849 fl. / sechs Partner / 72 Buchungen), erst recht Lausanne (3.382 fl. / ein Partner / 19 Buchungen) und Neuchâtel (200 fl. / zwei Partner / vier Buchungen) auf den Positionen 26 bzw. 61. 56 Mit einem Partner wurden in 15 Buchungen 4.158 fl. umgesetzt. 57 Die ostschwäbische Konkurrenz beklagte 1740, die „Piemonteser“ würden derzeit die schmale Leinwand aus Appenzell bevorzugen, da sie mit besserem Garn hergestellt worden sei, A NKE S CZESNY , Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2002, Zit. 153f.; zur Proto-Industrie dieser Region siehe A L- BERT T ANNER , Spulen-Weben-Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell-Außerrhoden, Zürich 1982; F RANK G ÖTTMANN , Aspekte der Tragfähigkeit in der Ostschweiz um 1700: Nahrungsmittelversorgung, Bevölkerung, Heimarbeit, in: Gewerbe und Handel vor der Industrialisierung. Regionale und überregionale Verflechtungen im 17. und 18. Jahrhundert, J OACHIM J AHN / W OLFGANG H AR- TUNG (Hrsg.), Sigmaringendorf 1991, 152-182; A LBERT T ANNER , Korn aus Schwaben - Tuche und Stickereien für den Weltmarkt. Die appenzellische Wirtschaft und die interregionale Arbeitsteilung im Bodenseeraum, 15.-19. Jahrhundert, in: Appenzell-Oberschwaben. Begegnungen zweier Regionen in sieben Jahrhunderten, P ETER B LICKLE / P ETER W ITSCHI (Hrsg.), Konstanz 1997, 283-307. <?page no="578"?> Wie es im Buch steht 579 Marquerats Heimat spielt in direkten Transaktionen kaum eine Rolle. Mit den zehn als „Savoyarden“ bezeichneten Partnern ohne Wohnsitzangabe wurden in 125 Einträgen insgesamt 18.448 fl. umgesetzt. Wie erwähnt, kam mit der Witwe Maria Parnatin aus Arâches 1728/ 30 in vier Transaktionen ein Umsatz von zweimal 1.500 fl. zustande. Weitere drei Landsleute aus Nancy-sur-Cluses, ebenfalls im Faucigny gelegen, steuerten 2.546 fl. zu den Umsätzen bei. Die Summe dieser Umsätze (23.994 fl.) macht nicht einmal 2,2 Prozent des Marqueratschen Geschäftsvolumens im Berichtzeitraum aus. Es ist zwar wahrscheinlich, dass diese Quote realiter beträchtlich höher liegt, doch selbst ihre Erhöhung um 9.342 fl. ändert am marginalen Status (3 Prozent aller Umsätze) des Handels mit der Heimat nichts. 58 Über das mit Landsleuten insgesamt erzielte Handelsvolumen ist damit jedoch noch nichts gesagt, da die savoyischen Partner in der Statistik gegebenenfalls unter ihrem deutschen Wohnsitz erscheinen. Die Untersuchung der Personenkreise in ihrer Gruppierung nach Nationalitäten bleibt dem nächsten Abschnitt vorbehalten. 5. Fremde Freunde - die Nationalität der Handelspartner Für die weitere Untersuchung wurden die Handelspartner nach Familiennamen, nach dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgruppe und schließlich nach Herrschaftszugehörigkeit des Namenträgers den verschiedenen Nationen zugeordnet. Hieraus ergeben sich jedoch Probleme: Die Statistik (Anhang 2.1) weist auch diejenigen Savoyer noch als solche aus, deren Familien bereits mehrere Generationen in Deutschland ansässig waren, wie zum Beispiel die Farket in Augsburg. Vor allem erweist sich die Gruppe der „Welschen“ als problematische Größe. Hierbei handelt es sich um Personen mit deutschem Wohnsitz, deren Familienname auf einen romanischen Hintergrund schließen lässt, aber auch um Partner aus der französischsprachigen 58 Aus Gründen einer stringenten Datenerfassung wurden Personen, die in der Quelle nicht als Savoyarden bezeichnet werden und zu denen auch kein Hinweis auf den Wohnsitz zu ermitteln ist, mit Wohnsitz „unbekannt“ eingetragen, auch wenn sie nach der Literatur savoyische oder wenigstens „welsche“ Namen tragen. Hier sind zu nennen: Herr Geörg Sallie et Comp [Saillet / Salliet: Savoyer vor allem in Konstanz, dort jedoch kein Georg Saillet], StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 54v, 20.9.1720; Herrn Joseph Purne [sav. Burnet] vndt Salie et Comp., ebd., fol. 94v, 25.10.1721; Petter Radda [sav. Raddaz], ebd., fol. 108v, 14.11.1720-1724 Dreikönigsmesse München; Mr. Alexander Rouge [sav. Rouge] et Janin Sayable“, ebd., fol. 153v, o. D. und ohne Betrag; Herr Brueder Franz Peter [Ducrue? Marquerat? ], ebd., fol. 177v, 1725 Dreikönigsmarkt München, 10.3.1726; Wegen Herrn Claudj Mochet, ebd., fol. 36v, 4.6.1721 [Mochet / Mouchet: Savoyer in Augsburg, dort jedoch kein Claude Mouchet nachgewiesen]; NN Caprano et Bern [Papierschaden], ebd., fol. 16v, 12.3.1721- 13.5.1729. Diese Personen zusammen trugen 9.342 fl. zu den Umsätzen bei, wovon sich auf der Haben-Seite 32 Einträge mit insgesamt 5.421 fl. und auf der Soll-Seite 83 Einträge mit 3.921 fl. erhalten haben. <?page no="579"?> Martin Zürn 580 Schweiz, das heißt aus Vevey, Neuchâtel und Lausanne. 59 Die Stadt Genf wird als eigenständiges Staatswesen gesondert ausgewiesen. Mit knapp 444.000 fl. dominieren eindeutig Partner der deutschsprachigen Schweiz, was aus den engen Geschäftsbeziehungen Marquerats in die „Speditionsorte“ Arbon, Rorschach und Schaffhausen resultierte. Mit weitem Abstand folgten die deutschen Partner mit knapp 372.000 fl. Umsätzen. Damit sind schon rund 74 Prozent aller Umsätze erfasst. Personen unbekannter Nationalität steuerten 1,5 Prozent des Umsatzes bei. In der großen Gruppe „welscher“ Händler mit 24,5 Prozent aller Umsätze dominieren die Savoyarden mit gut 131.000 fl., das entspricht 11,9 Prozent Anteil an allen Umsätzen. Die Aufnahme der Zahl der Transaktionen pro Handelspartner in die Datenbank gestattet genauere Aufschlüsse über den Charakter der Handelsbeziehungen (Anhang 2.2). Bei 660 Aktiva-Buchungen mit Schweizern ergibt sich ein arithmetischer Mittelwert von gut 345 fl. pro Buchung, auf der Sollseite bei 904 Buchungen ein Wert von knapp 239 fl. Wesentlich geringer fallen diese Werte im Verkehr mit deutschen Partnern aus. Aus 2.076 Transaktionen auf Marquerats Haben-Seite lässt sich ein durchschnittlicher Wert von 90 fl., auf der Soll-Seite bei 2.444 Transaktionen von nicht einmal 76 fl. errechnen. Der Vergleich stützt die Hypothese, dass der Handel in die Schweiz in wesentlich größerem Stil betrieben wurde als der mit deutschen Orten. Insbesondere im Verkehr mit bayerischen und Allgäuer Gemeinden herrschte Detailhandel vor, so dass die Buchungen erst in ihrer Masse zum Umsatz nennenswert beitrugen. Savoyische Geschäftspartner liegen hier im Mittelfeld: Auf der Soll-Seite betrug der mittlere Buchungswert gut 182 fl., auf der Haben-Seite gut 144 fl. Ob hier die Gleichung Fernhandel gleich Großhandel gilt, kann nur durch eine Gegenüberstellung der Landsleute aus der alten mit denen aus der neuen Heimat ermittelt werden. Der folgende Abschnitt stellt deshalb exemplarisch die Kontakte Marquerats mit Augsburger Handelsleuten aller Nationalitäten dar, ermittelt den Anteil des Handels mit den „Augsburger“ 59 Als welsch* wurden Partner klassifiziert, deren Namen eindeutig auf den romanischen Sprachraum verweisen, unter anderem auf die Welschschweiz: Philipp Cretein, Ehingen, Jakob Pellegrini, München, Franz und Matthäus Bernhard Gonay, beide Augsburg, Biolley Godi et Comp., Augsburg, Caprano et Bern [Quellenschaden], o. O., Franz Babba, München, Dominik Vakant, Waldsee, Emé Mounier, München, Joseph Mounier, Mirecourt [Vosges? ], Alexander Rouge et Janin Sayable, o. O., Johann Baptist Ransignol, München, Mr. Brique, Neschatel [Neuchâtel], Der kleine Pierre de NeuChatel, Dauid Dauid, Lausanne, Johann Martin de Abhanson, Sionte et Dolor, Vevey. Wie die Nationalität zugewiesen wird, ist jedoch häufig abhängig von historischen Zufälligkeiten und damit letztlich auch ein dezisionistischer Akt. Zum Beispiel unterstand Vevey 1250-1536 dem Herzogtum Savoyen, danach bis 1798 der Stadt Bern. Unter welsch* wurde ferner Lucas Fattet, Basel, eingeordnet, da die Fattet als „Welsche“ aus Kaisersberg im Elsass in Freiburg i. Br. eingebürgert wurden. In Marquerats Handelsbuch erscheint als „Welscher“ lediglich ausdrücklich: Herr Carl Parmon et pierre Fort von londe in welschland. <?page no="580"?> Wie es im Buch steht 581 Savoyern und vergleicht die Werte mit denen, die im Kontakt mit der Heimat erzielt wurden. Methodisch ist allerdings anzumerken, dass der Handel weder mit deutschen noch mit „welschen“ Orten unbedingt in diesen Orten abgewickelt wurde. Häufig traf man sich auf den Münchner und Zurzacher Märkten und Messen, was im Handelsbuch gelegentlich vermerkt wird. 6. Augsburger Handelsleute Die bisherigen Ausführungen legen die Geschäftsstrategie Marquerats nahe, Salz über Bodenseeorte in die Schweiz zu exportieren und im Gegenzug von dort Textilien, Metallwaren und anderes für den Allgäuer Absatzmarkt einzukaufen. Ebenso sind Einkäufe bei der Augsburger Textilindustrie denkbar. Die Übersicht über die mit den Augsburger Partnerinnen und Partnern getätigten Umsätze erwecken jedoch Zweifel an dieser Hypothese (Anhang 3.1). Im Handelsbuch fehlt zum Beispiel der Genfer Textilfabrikant Jean-François Gignoux (1692-1761), der 1719 nach Augsburg einwanderte. 60 Von den übrigen Partnern ist nicht bekannt, auf welche Waren sie sich spezialisierten. Keine Einträge im Handelsbuch weisen zweifelsfrei darauf hin, dass Marquerat Direkteinkäufer bei Augsburger Fabrikanten war. Relativ wichtig sind stattdessen die savoyischen Kaufleute. Erst auf Rang elf findet sich mit 3.324 fl. Umsatz (gut 6½ fl. pro Buchung) ein deutscher Kaufmann. Bei der Person Nr. 5 handelt es sich laut Handelsbuch um „Madame Depra in Augsburg“, wahrscheinlich eine ebenfalls savoyische Ehefrau eines Angehörigen der Familie Depra-Deplan, die wohl alle aus St.-Nicolasde-Véroce (Haute-Savoie) stammten. 61 Ebenfalls aus St. Nicolas kam Philippert de l’Espine, Joseph de l’Espine hingegen aus Sallanches. 62 Die Trauzeu- 60 Augsburger Stadtlexikon, G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL / G ÜNTER H ÄGELE / R UDOLF F RANKENBER- GER (Hrsg.) Augsburg 1998, 2. neu bearb. und erw. Aufl., 441; Frauen- und Unternehmensgeschichte Gignoux verbindet C HRISTIANE W ERKSTETTER , Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert, Berlin 2001, 59, 111, mit weiteren Hinweisen. 61 Mme Depra in Augsburg, StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 169v, 1723 o. D., 18.9.1724-7.3.1730, wie folio 501 [dort nicht enthalten! ]. Vgl. hierzu: 1. Jakob Debra Deplan aus St. Nicola in Savoyen, verheiratet mit Maria Catharina Violatin, zehn Jahre Commis in Dillingen, StadtAA Bürgeraufnahmen Fasz. 13, 1690, Nr. 7. 2. Josef Debra Deplan, verheiratet, StadtAA Bürgeraufnahmen Fasz. 17, 1724, Nr. 27. Johann Baptist Sartori, fürstbischöflicher Hofrat und Cabinet- Secretarius, heiratet Maria Catharina Dufresne, Witwe des verstorbenen Handelsmannes Joseph Depra. Consensschein wird erteilt, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 23, fol. 184r, 20.4.1730. Zum Familienname Dupra / Dupre, jedoch ohne jeden Bezug zu Augsburg, siehe R AYNAUD , Einwanderungen (wie Anm. 10), 162f. 62 Handelsmann Philipp del Espine aus St. Niclas de Vero [St. Nicolas de Véroce] heiratet die hiesige Maria Anna Bibergerin, beide sind ledig. Seine Bürgen sind der Stadtkassierer Herr Frantz Semmler und der Handelsmann Herr Johann Mehr [ebenfalls Savoyarde], ihr Beistand ihr Vater, der Krämer Sebastian Biberger. Der Bräutigam liefert binnen sechs Monaten seine Briefe ein, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 17, fol. 43r, 31.12.1696. Der Handelsmann Josef de l'Espine aus Sallanches in <?page no="581"?> Martin Zürn 582 genschaft eines Christoph Depra in Augsburg deutet darauf hin, dass die Depra intensive Kontakte zu den Kaufleuten aus Arâches pflegten, ebenso zu den mutmaßlich „welschen“ Gonay, die ebenfalls relativ bedeutende Augsburger Partner des Pierre Marquerat waren. 63 In Marquerats Handelsbuch machen allein die Umsätze mit den verwandten Ducrue (Positionen 1 und 2) 30 Prozent des Augsburger Handels aus - allerdings bei nur 117, also 16,4 Prozent der Augsburger Buchungen. Deren arithmetischer Mittelwert erreicht knapp 224 fl., einen innerhalb des Samples relativ hohen Wert. Diese Einschätzung betrifft die Durchschnittswerte sowohl im Handel mit Landsleuten insgesamt (siehe Abschnitt 5), als auch im Handel mit allen Augsburger Partnern, wo der durchschnittliche Wert einer Buchung 122 1/ 2 fl. beträgt. Bereits mit den ersten vier Partnern ist die Hälfte der Augsburger Umsätze annähernd erreicht (42.115 1/ 2 fl.), mit dem fünften deutlich überschritten (49.443 1/ 2 fl.). Splittet man die Augsburger Umsätze nach Partnern in Soll- und Haben-Saldi auf (Anhang 3.2), wird ersichtlich, dass bei den beiden ersten Partnern die Soll-Saldi die Haben-Saldi relativ deutlich übersteigen. Dies kann seinen Grund sowohl in den beschriebenen Quellendefekten haben als auch in einer spezifischen Geschäftspraxis unter Verwandten, in der sich Marquerat erlauben konnte, den einen oder anderen Posten offen zu lassen. Ungeachtet dieser Frage offenbaren die Augsburger Quellen eine durch Heirat, Herkunft und Trauzeugenschaft gestützte soziale Verflechtung, die sich deutlich in den Umsätzen niederschlägt, die Marquerat mit Augsburger Kaufleuten tätigte. Demgegenüber völlig zu vernachlässigen sind die Umsätze mit je einem in Augsburg ansässigen italienischen und einem Graubündener Partner (Positionen 14 und 25). Solchen kommerziellen Prioritäten entspricht die Tatsache, dass sich die Heiratsstrategien „welscher“ Zuwanderer in Augsburg - forciert durch die Ratspolitik - in erster Linie am deutschen Heiratsmarkt orientierten, in zweiter Linie an Landsleuten, und dass Heiraten zwischen Zuwanderern unterschiedlicher geographischer Herkunft relativ selten sind. 64 Savoyen heiratet die hiesige Jungfrau Maria Elisabeth Weiß. Ein Konsensschein wird erteilt, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 23, fol. 9r, 2.5.1726. NN de l’Espine, StadtAA Heiratskonsense Fasz. 1, 1726, Nr. 1. 63 Handelsmann Johann Xaver Greffoz aus Arrach in Savoyen heiratet die hiesige Maria Victoria Goneyin. Beide sind ledig. Seine Bürgen sind die [savoyischen] Handelsleute Christoph Depra [-Deplan] und Peter Passy, ihr Beistand ist ihr Vater, Handelsmann Peter Franz Bernhard Goney, StadtAA Hochzeitsamtprotokolle Bd. 23, fol. 93v, 10.4.1728. Der Name Goney ist evtl. identisch mit „Goynet“, Namensnachweis in: M AISTRE / M AISTRE / H EITZ , Colporteurs (wie Anm. 6), 17. 64 M ARTIN Z ÜRN , „Damit man des unnützen Volks abkomme“. Savoyer und andere Welsche in Süddeutschland zwischen Sesshaftigkeit und Vagantentum, in: Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, M ARK H Ä- BERLEIN / D ERS . (Hrsg.), St. Katharinen 2001, 141-181, hier 160 mit Anm. 45. <?page no="582"?> Wie es im Buch steht 583 „Soziale Verflechtung“ und „Wirtschaftsgeographie“ reichen aber keinesfalls aus, um die landsmannschaftliche Dominanz im Handel mit Augsburg zu erklären. Denn die Allokation von sozialem und finanziellem Kapital in einer Stadt wurde bekanntlich vom Magistrat kontrolliert, wobei in Augsburg, der Reichsstadt, die Landesherrschaft als Revisionsinstanz entfiel. Was sich also in Marquerats Handelsbuch ebenfalls niederschlägt, ist das relativ große Gewicht, das sich Savoyarden in Augsburg dank einer utilitaristischen Politik formaler Integration seitens des Magistrats erarbeiten konnten. Die tendenziell negativ besetzten Begriffe „welsch“ bzw. „savoyisch“ verhinderten die Niederlassung kaum mehr, wenn Bewerber um das Bürgerrecht vor dem Rat genügend Vermögen, eine überzeugende Geschäftsidee und solide Bürgen vorweisen konnten. 7. Handel mit den savoyischen Landsleuten Die relativ hohe Bedeutung der Savoyarden aus Augsburg für Marquerat kontrastiert mit den keinesfalls überragenden Umsätzen mit den savoyischen Landsleuten (Abschnitt 4 mit Anhang 1). Deshalb soll das Sample abschließend nach dem Anteil savoyischer Händler insgesamt befragt werden, der sodann nach geographischen Gesichtspunkten aufgeschlüsselt werden soll: Welche Partner waren in Savoyen ansässig, welche an unbekannten Orten, welche im heutigen Südwestdeutschland? 807 von 7.923 Transaktionen bzw. Buchungen (10,2 Prozent) erbrachten einen savoyischen Umsatzanteil von 131.288 fl. (11,9 Prozent von gut 1,1 Millionen fl.; siehe Anhang 2.1). Davon entfielen nach Anhang 4 auf savoyische Firmen mit unbekanntem Geschäftssitz bzw. mit dem alleinigen Zusatz Savoyard 65 nur 150 Transaktionen mit einem Gesamtumsatz von 22.716 fl., so dass das arithmetische Mittel bei den Buchungsposten hier 151 fl. beträgt. Geschäftspartner mit nachgewiesenem Wohnsitz in Savoyen brachten es lediglich auf insgesamt 17 Buchungen bzw. Umsätze von 5.519 fl., was allerdings einem stattlichen Mittelwert von 325 fl. pro Buchung entspricht. Kurz - die allermeisten Landsleute, mit denen Marquerat Handel trieb, waren wie er in Deutschland ansässig: Sie allein trugen mit 640 Transaktionen rund 103.052 fl. zu den Umsätzen bei. Bemerkenswert ist, dass Landsleute für einen guten Teil der Umsätze mit deutschen Städten verantwortlich waren, die eigentlich im Handelsbuch überraschend schlecht vertreten sind. So findet sich München mit Umsätzen von 26.681 fl. nur auf dem 10. Platz aller Orte wieder (Anhang 1), wovon aber 14.889 fl. auf Heinrich Ducrue entfielen - das ist der zweithöchste 65 Vgl. Anhang 4. <?page no="583"?> Martin Zürn 584 Umsatz, den Marquerat mit einem Landsmann erzielte. Hier drückt sich offenbar die Bedeutung der Verschwägerung in Zahlen aus. Kontakt nach Wien hatte Marquerat wohl ausschließlich über die savoyische Gesellschaft [Jean-Baptiste? ] Perinet, 66 der mit 24 Buchungen bei 1.683 fl. Umsatz verzeichnet ist. Auch die Bischofsresidenzen Freising mit 44 Buchungen mit 5.246 fl. und Meersburg mit 34 Buchungen mit 2.984 fl. waren nur durch die Savoyer Joseph Depra bzw. Peter Faber vertreten. 8. Überlegungen zur Handelspraxis Die Beschädigungen des Handelsbuches lassen, wie erwähnt, einen vertieften Einblick in die Praxis nicht zu. Soweit möglich und notwendig, wurde aber dennoch versucht, in Erläuterungen zu Einzeltransaktionen den Geschäftsort aufzunehmen. Hierbei zeigt sich ein dynamisches Ausgreifen in den südwestdeutschen Raum. Mit Matthias Merz in Kaufbeuren wurde zum Beispiel ein Gewürzhandel abgewickelt, der durch einen ins Handelsbuch eingeklebten, in Nürnberg ausgestellten Geschäftsbrief dokumentiert ist. Die Transaktion lief via Anthoni Brentano Mezzegra in Augsburg, einen Angehörigen der bekannten, weit verzweigten Obst- und Gewürzhändlerdynastie vom Comer See. 67 Eine andere Transaktion, die Marquerat mit 400 fl. auf der Haben- Seite verbuchte, wurde durch H. [Andreas] Crammer in Lindaw nach Aullendorff bezahlt, 68 also in den oberschwäbischen Residenzort des Deutschordenskomturs. Aulendorf erscheint allerdings nicht als Wohn- oder Geschäftsort eines Partners, der bei Marquerat ein Conto hatte. Für 6 Stück Kelschbaum zum Färben verbuchte Marquerat im Handel mit Johann Friedrich Burkhart in Basel auf der Haben-Seite 63 fl. 69 Wie diese Transaktion abgewickelt wurde, geht aus dem Handelsbuch nicht hervor. Wahrscheinlich ist, dass sich Marquerat mit seinen Partnern auf den 66 Jean-Baptiste Perinet, geboren in Megève im Faucigny, war reicher Handelsmann und Hoflieferant in Wien und dort 1720 mit Anna Maria NN verheiratet. Partner der Muffat aus Megève in Wien, trat er seit Beginn der 1730er Jahre in der Heimat als Stifter für kirchliche Ausstattungen in Erscheinung, M AISTRE / M AISTRE / H EITZ , Colporteurs (wie Anm. 6), 38, 158, 167; R AYNAUD , Einwanderungen (wie Anm. 10), 216. 67 Geschäftsbrief Nürnberg o. D., aufgeklebt auf fol. 82r. Die Waren sind Zucker, Zimt, Kandis, Pfeffer, Nägel [Gewürznelken], Nuss und zwei weitere unverständliche Posten. Der Wert der Sendung beträgt 119 fl. 58 kr. Nach dieser Transaktion beträgt der Gesamtschuldenstand 460 fl. 4 kr. Zu den italienischen Krämern siehe J OHANNES A UGEL , Italienische Einwanderung und Wirtschaftstätigkeit in rheinischen Städten des 17. und 18. Jahrhunderts, Bonn 1971; A LFRED E NGELMANN , Die Brentano am Comer See, München 1974. Eine lesenswerte Lokalstudie zu den italienischen Krämern bietet T HEA S TOLTERFOHT , „Sind einst Citronen- und Pomeranzengänger gewesen“. Die Einwanderung italienischer Spezereikrämer in Bretten, in: Brettener Jahrbuch für Kultur und Geschichte N.F. 2 (2001), 32- 77. 68 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 112v. 69 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 9v, 5.5.1724. <?page no="584"?> Wie es im Buch steht 585 Schweizer und südwestdeutschen Messen traf und die Abmachungen sodann über Mittelsmänner umgesetzt wurden. In diesem Kontext waren die Zurzacher Messen einschlägig, insbesondere die Verenamesse Anfang September, bei denen es sich nach Markus A. Denzel allerdings eher um einen Finanzals um einen Warenumschlagplatz handelte. 70 Marquerat bezahlte dort 1726 in zwei Teilbeträgen 55 fl. 18 kr. an Burkhart, die er unter „Haben“ verbuchte. 71 Zurzach erscheint in 39 von 52 in der Datenbank erfassten Fällen 72 als der Ort, an dem Marquerat Geschäfte tätigte (Anhang 5). Offensichtlich waren die Messen für Marquerats Handel mit der Nord- und Welschschweiz jenseits von Basel und Zürich sowie mit Savoyen zentral, während der Bodensee und die Nordostschweiz dort möglicherweise weniger präsent waren. Die Frage kann hier nicht beantwortet werden, inwiefern ein Messeplatz wie Zurzach den regelmäßigen Kontakt zwischen „welschen“ Firmen in der Fremde garantierte. München wurde diesbezüglich mit elf Nennungen erfasst, wobei über diese Stadt unter anderem der Kontakt zur Wiener Firma Perinet bestand. Auffällig ist, dass die Hälfte der dortigen Partner Savoyarden waren. Auch hierin zeigt sich vermutlich die wirtschaftliche Funktion Münchens als Residenz- und damit als „Konsumentenstadt“, in der sich „welsche Krämer“ als Hoflieferanten etabliert hatten. Insgesamt waren Marquerats Aktivitäten von den Lokalitäten und den personellen Verflechtungen her zu differenziert, als dass ihre Realität durch die oben angegebenen, strikt ortsbezogenen Umsatzzahlen in voller Breite wiedergegeben werden könnte. Vermittler, Zwischen- und Kommissionshandel sowie die Spedition von Waren in Zusammenarbeit mit den genannten Partnern an Orte, die in der Statistik nicht erscheinen, sind aber jenseits der skizzierten regionalen Grobstrukturen aufgrund der Quellenproblematik kaum zu erfassen. 9. Schluss Erstaunlich hoch bleibt schließlich der nachgewiesene Gesamtumsatz von 1,1 Millionen Gulden innerhalb von ca. 20 Jahren, während der ebenfalls wohlhabende Moritz Montfort in Riegel in 16 Jahren „nur“ 175.000 Gulden umsetzte. Obwohl sich dem „Zementband“ des Pierre Marquerat ohne 70 W ALTER B ODMER , Die Zurzacher Messen von 1530-1856, Aarau 1962; danach D ENZEL , Amman (wie Anm. 3), 12, 31f. 71 StAA Adel / Königsegg-Rothenfels Nr. 398, fol. 9v, Verenamesse Zurzach 1726. 72 52 von 7.923 = 0,66 Prozent aller erfassten Buchungen. <?page no="585"?> Martin Zürn 586 unvertretbaren Aufwand keine Informationen zur Umsatzentwicklung entnehmen lassen und auch die Umsatzrendite im Dunkeln bleiben muss, kann anhand begleitender Quellen vermutet werden, dass Marquerats Unternehmen nach seiner Ansiedlung in Immenstadt lange florierte, sich das geschäftliche Klima dann aber ab ca. 1730 verschlechterte. Sowohl bei Marquerat im Allgäu als auch bei Montfort im Breisgau zeigt sich eine deutliche wirtschaftsgeographische Strukturierung ihrer Aktivitäten. Den Umsatzschwerpunkt bildet eindeutig die durch Binnenschifffahrt erschlossene Region Bodensee-Hochrhein. Mit weitem Abstand folgen Immenstadt und Allgäu, dahinter Augsburg und Bayerisch-Schwaben, die Nordwestschweizer Transitregion zwischen Genf und Basel, sowie die Nordschweiz mit Graubünden (Abb. 1). Abbildung 1: Gesamtumsätze des Pierre Marquerat nach Regionen Schwarz: Gesamtumsatz über 100.000 Gulden; grau: Gesamtumsatz über 10.000 Gulden. Weiß: Gesamtumsatz unter 10.000 Gulden. Als Grundregel kann gelten, dass der Durchschnittswert einer Transaktion stieg, je weiter die Handelsregion von Immenstadt entfernt war. Umgekehrt nahm die Zahl der Transaktionen mit zunehmender Entfernung ab (Abb. 1). Marquerat war einerseits stark zum Bodensee hin, andererseits nach Bay- Savoyen: 5.546 fl. Savoyarden ohne Ortsangabe: 18.448 fl. Genf - Basel: 97.462 fl. Schweiz/ Graubünden: 89.233 fl. Venedig: 1.477 fl. Hochrhein- Bodensee: 503.578 fl. Österreich: 6.937 fl. Immenstadt und Allgäu: 185.473 fl. Oberschwaben: 3.022 fl. Donau: 1.292 fl. Augsburg, Bayerisch Schwaben: 100.846 fl. Bayern: 36.177 fl. Franken/ Sachsen: 21.533 fl. Heidelberg: 857 fl. Unbekannt: 31.897 fl. Norden Osten <?page no="586"?> Wie es im Buch steht 587 erisch-Schwaben einschließlich Kempten hin orientiert. Mit Städten am See und in der Nordostschweiz sowie mit Augsburg wickelte er fast den gesamten nennenswerten Handel ab, und man kann vermuten, dass Marquerat von dort die Waren bezog. Auffällig ist, dass mit Ausnahme von Genf und Augsburg keine Stadt prominent vertreten ist, die damals wie heute als Oberzentrum für Gewerbe und Handel fungierte. Dies wird vor allem bei den geringen Anteilen der Städte München, Basel und Zürich deutlich. Immenstadt selbst und andere Orte im Allgäu - vielleicht mit Ausnahme von Isny - waren vermutlich die „Kundenstädte“, die in dieser Funktion für Marquerat die Metropolen vom Umsatz her erreichten bzw. sogar überflügelten. Für diese Annahme spricht der hohe Gesamtumsatz (Abb. 1) im Zusammenhang mit dem relativ geringen Durchschnittswert der einzelnen Transaktionen in dieser Region (Abb. 2). Abbildung 2: Durchschnittliche Transaktionswerte nach Regionen: Fett gedruckte Zahlen: Absolute Zahl der Transaktionen; Kursiv gedruckte Zahlen: Durchschnittswert einer Transaktion, gerundet auf volle Gulden. Schwarz: Durchschnittswert einer Transaktion über 200 Gulden Grau: Durchschnittswert einer Transaktion 101 bis 200 Gulden Weiß: Durchschnittswert einer Transaktion maximal 100 Gulden. Rundungsbedingt ergibt das Produkt aus der Zahl der Transaktionen und dem Durchschnittswert einer Transaktion nicht den jeweiligen Guldenwert in Abb. 1. Savoyen: 16 / 347 Savoyarden ohne Ortsangabe: 125 / 147,6 Genf - Basel: 397 / 263 Schweiz / Graubünden: 489 / 180 Venedig: 7 / 211 Hochrhein- Bodensee: 2.457 / 203 Österreich: 152 / 46 Immenstadt und Allgäu: 2.363 / 79 Oberschwaben: 69 / 44 Donau: 29 / 45 Augsburg, Bayerisch Schwaben: 1.152 / 88 Bayern: 247 / 147 Franken / Sachsen: 196 / 110 Heidelberg: 13 / 66 Unbekannt: 211 / 151 Osten Norden <?page no="587"?> Martin Zürn 588 Allgemein bestätigt sich die These Denzels, der zufolge Handelshäuser in Städten, die keine Metropolen waren, eine wichtige Rolle „als Intermediär zwischen verschiedenen Wirtschaftsräumen und zentralen Handelsströmen“, das heißt bei der Distribution im frühneuzeitlichen Warenverkehr, spielten. Ferner muss der eigenständige Beitrag vieler Landstädte zum frühneuzeitlichen Wirtschaftskreislauf hervorgehoben werden. Auch das wiederholt zitierte Handelsbuch des Moritz Montfort in Riegel oder der Firmen Perrollaz am Hochrhein und der Castell in Elzach belegen diesen Befund. 73 Die klassische wirtschaftshistorische Regionalforschung arbeitete hingegen mit der Hypothese vom Stadt-Umland-Gefälle. Die durch Marktrechte fundierte Zentralität eines Ortes wurde zum Beispiel mit dem berühmten Modell der Thünen’schen Ringe beschrieben und durch Christallers Theorie der zentralen Orte fortgesetzt. Ausgehend vom Modell des „isolirten Staates“ mit einer Stadt im Mittelpunkt weist Thünen nach, dass sich - abhängig von Investitionen, Arbeitslöhnen und Transportkosten - um diese Stadt kreisförmige Zonen mit verschiedenen landwirtschaftlichen bzw. gewerblichen Tätigkeiten herausbilden. Christaller arbeitet die „wellenförmige“ Struktur von Wirtschaftsregionen heraus, der zufolge um den bedeutendsten Ort mit höchster Zentralität Orte mit geringer und geringster Zentralität liegen und sich erst in einiger Entfernung ein Kreis von Mittelzentren etablieren kann. 74 Solche hierarchisch aufgebauten Modelle, die letztlich eine Kongruenz von ökonomischer und sozialer Dominanz des Zentralorts und eine Konkurrenz von Zentralorten in sich überschneidenden Randzonen postulieren, müssen anhand der savoyischen Handelsbücher auf mehrerlei Weise verfeinert werden. Methodisch in Betracht zu ziehen sind erstens der Stadttypus in seinem regionalen Umfeld und zweitens Grundlinien landesfürstlicher und kommunaler Wirtschaftspolitik im Raum, zum Beispiel Staatsgrenzen, historische Bannmeilen und die Ansiedlung oder Ausgrenzung wirtschaftlich aktiver Minderheiten. Zum ersten Punkt: Der oben erwähnte Moritz Montfort, der ebenfalls ein umfangreiches Handelsbuch hinterließ, war in Riegel am Kaiserstuhl ansässig. Er belieferte unter anderem den Zentralort Freiburg, vom Stadtty- 73 D ENZEL , Amman (wie Anm. 3), 40; M ARK H ÄBERLEIN , Savoyische Kaufleute und die Distribution von Konsumgütern im Oberrheingebiet, ca. 1720-1840, in: Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23.-26. April 2003 in Greifswald, R OLF W ALTER (Hrsg.), Stuttgart 2004, 81-114. 74 J OHANN H EINRICH VON T HÜNEN , Der isolirte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Nationalökonomie. Erster Theil. Untersuchungen über den Einfluß, den die Getreidepreise, der Reichthum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben (1826), Rostock 1842, 2. verm. u. verb. Aufl.; W ALTER C HRISTALLER , Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomischgeographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Darmstadt 1968, Nachdruck der 1. Aufl. Jena 1933. Hierzu G ÖTTMANN , Getreidemarkt (wie Anm. 50), 277; J ÖRG V ÖGELE , Getreidemärkte am Bodensee im 19. Jahrhundert: Strukturen und Entwicklungen, St. Katharinen 1989, 4-6. <?page no="588"?> Wie es im Buch steht 589 pus her - einmal abgesehen von der krisenanfälligen Edelsteinverarbeitung - eine „Konsumentenstadt“ der Beamten, der Universitätsbürger und des Militärs. 75 Das hierarchische Modell zentraler Orte, demzufolge städtische Märkte vom Land Lebensmittel importierten und dafür Handwerks- und Industrieware auf das Land ausführten, greift hier nicht. In ähnlicher Weise können München, Meersburg und Freising aufgrund ihrer landesfürstlichen bzw. bischöflichen Höfe als „Konsumentenstädte“ gelten und erscheinen vermutlich aus diesem Grund in Marquerats Handelsbuch. Vor allem aber dürfte Immenstadt seine herausragende Stellung in Marquerats Bilanzen seiner Funktion als „Konsumentenort“ verdanken. Anhand von Immenstadt lässt sich die Überlegung anstellen, welchen Einfluss die Handels- und Gewerbemetropole auf ihr Umland haben konnte. Ohne die Bedeutung Augsburgs für das bayerische und österreichischburgauische Umland schmälern zu wollen, ist es für die regionale Wirtschaftsgeschichte doch interessant zu erfahren, welche beachtlichen Geld- und Güterströme im Umland zwischen den Mittelzentren (Residenzen, Speditionsorten) zirkulierten und die Metropolen (Augsburg, München) vielleicht nie erreichten. Von hierarchischen „Ring-Modellen“ mit Zentrum und Peripherie wird man sich womöglich zugunsten eines Netzwerk-Modells verabschieden müssen, eines raumgreifenden Kräfte-Polygons, dessen Eckpunkte sich immer wieder verschoben. 76 So war Marquerats wirtschaftliche Integration im Allgäu durch Handelskontakte abgefedert, die in einem Bogen von Genf über den Hochrhein ins Allgäu und von dort nach Bayerisch- Schwaben bzw. Bayern reichten. Demgegenüber waren seine Kontakte zu der nördlich verlaufenden Achse entlang der Donau (Ulm - Dillingen - Günzburg - Regensburg) als Abfolge diversifizierter zentralörtlicher Funktionen und unterschiedlichem Rechtsstatus (Handel und Gewerbe - Residenz und Universität - Speditionsort) auffällig marginal. Die Donau-Schifffahrt brachte ihre eigenen Wirtschafts- und Sozialbeziehungen hervor. Marquerat verfügte offensichtlich weder über genügende Sozialbeziehungen noch über das nötige Kapital, um für „welsche Krämer“ wie die reichen Brentano in Günzburg als Partner interessant oder als Konkurrent gefährlich zu werden. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die Zentralität der Handelsorte mitunter eine saisonale war. Zurzach, eigentlich ein sehr kleiner Ort, hatte 75 Der Typus „Konsumentenstadt“ im Sinne Max Webers nach M ARTINA R EILING , Bevölkerung und Sozialtopographie Freiburgs i. Br. im 17. und 18. Jahrhundert, Freiburg 1989, 44; R UDOLF H OL- BACH , Die Schmucksteinschleiferei in Freiburg i. Br. und Waldkirch im 16. Jahrhundert. Entwicklungen und Bedingungen eines Luxusgewerbes, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80 (1993), 318-344; zur frühneuzeitlichen Stadttypologie siehe H EINZ S CHILLING , Die Stadt in der frühen Neuzeit, München 1993, 68, 70, zu Residenzen und Universitäten als „Motor[en] der Urbanisierung“ im 18. Jahrhundert. 76 Zur Relativierung des Stadt-Land-Gegensatzes durch mobile Handelstätigkeit siehe L AURENCE F ON- TAINE , History of Pedlars in Europe, Oxford / Cambridge 1996, 205. <?page no="589"?> Martin Zürn 590 während der Messetermine für Pierre Marquerat zweifellos eine wesentlich größere Bedeutung als internationale Kontaktbörse und Umschlagplatz, als in dieser Studie quantifizierend ermittelt werden konnte. Obwohl eher nach Zufall denn nach Systematik in die Datenbank aufgenommen, ist die Dominanz des Zurzacher Verenamarktes gegenüber München und Augsburg doch frappierend. Über ihn lief offensichtlich ein Großteil des Handels mit der Nord- und Welschschweiz. Zum zweiten Punkt: Die „Annales-Schule“ hat Geographie, Klima und natürliche Ressourcen als Kräfte „langer Dauer“ identifiziert, säkulare Trends des Bevölkerungswachstums und der Wirtschaftsentwicklung festgestellt und die Konjunkturen von Ernteergebnissen und Kaufkraftentwicklung beschrieben. Zu den Möglichkeiten menschlichen Handelns bzw. Wirtschaftens im Raum verhält sie sich letztlich deterministisch. Gegenüber diesem „substantialistisch-essentialistischen“ Raumverständnis heben „relationalkonstruktivistische“ Ansätze auf die menschliche Fähigkeit ab, Räume und Raumerfahrung individuell oder kollektiv zu prägen, ja letztlich herzustellen. 77 Im erstgenannten Sinne sind die Landschaften zwischen Genf und Lindau übereinstimmend als mäßig fruchtbar, gewässerreich und daher für Transporte gut geeignet zu charakterisieren. Vor allem die Qualität des Oberrheins als geographisch-ökonomische Einheit steht außer Frage. Was den zweiten Aspekt betrifft, sind nicht nur politisch, sondern auch handelsgeschichtlich die vielfältigen Grenzen der historischen (Klein-) Staaten von Interesse. Die „New Institutional Economics“ stellen die Frage nach dem politisch veränderbaren Einfluss der gesetzlichen Regularien auf das Wirtschaftsgeschehen. Es geht um die Kunst, Grenzen zu ziehen und auch durchzusetzen, um die damit verbundene Zoll- und Währungspolitik, um die Fähigkeiten der obrigkeitlichen „Regelanbieter“ wie der Wirtschaftssubjekte, über Grenzen hinweg zu kommunizieren. So war Bayerisch-Schwaben ein Textilrevier, in dem im 15. und 16. Jahrhundert die Reichsstädte Ulm, Memmingen und Augsburg Interessensphären absteckten und Bannmeilen zogen, freilich unter der erheblichen Einschränkung, dass sie aufgrund lückenhafter Herrschaftsrechte als „Regeldurchsetzer“ ihre Ansprüche nie dauerhaft abstecken konnten. Der Ausweg war regionale Kooperation, die einem eigenständigen, zünftisch organisierten und durchaus profitablen ländlichen 77 Klassisch: F ERNAND B RAUDEL , Histoire et sciences sociales. La longue durée, in: Annales. Économies, sociétés, civilisations 13 (1958), 725-753, deutsch in: Geschichte und Soziologie, H ANS -U LRICH W EHLER (Hrsg.), Köln 1976, 189-215; D ERS ., La Méditerranée. L’espace et l’histoire, Paris 1977; zu den Raumauffassungen W OLFGANG E. J. W EBER , Die Bildung von Regionen durch Kommunikation. Aspekte einer neuen historischen Perspektive, in: Kommunikation und Region, C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IEßLING (Hrsg.), Konstanz 2001, 43-67, hier 43f. <?page no="590"?> Wie es im Buch steht 591 Textilgewerbe Raum ließ. 78 Südwestlich davon entwickelte sich das erfolgreiche Textilrevier in der Nordostschweiz. Wie Marquerat in dieser Situation agierte, geht aus seinem Handelsbuch nicht in voller Deutlichkeit hervor. Die Hinweise auf die Handelspartner in Augsburg, Kempten usw. einerseits und in der Nordostschweiz (St. Gallen, Bischofszell und Herisau) andererseits lassen vermuten, dass er über Zwischenhändler die Mittellage zwischen den zwei „Gewerbelandschaften“ 79 ausgenutzt haben könnte; Direkteinkäufe sind unwahrscheinlich. Würde sein Handelsbuch über die Warensorten nicht schweigen, hätte sich vielleicht abschätzen lassen, inwieweit obrigkeitliche Wirtschaftspolitik die Konkurrenz zwischen den Gewerberegionen beeinflusste. Die relativ schwache Präsenz der Nordostschweiz (ohne Bodensee) könnte zum Beispiel auf Zollbarrieren schließen lassen. Doch waren Staats- und Zollgrenzen keine unüberwindlichen Hindernisse. Um Rothenfels herum lagen die rivalisierenden Reichsstände Bayern und Habsburg, dazwischen die zahlreichen kaisertreuen kleinen geistlichen und weltlichen Reichsstände; außerdem befand sich wie erwähnt die Schweiz im Aktionsradius des Pierre Marquerat. Anscheinend beeinträchtigte diese Staatenvielfalt Marquerats Handel nicht. Ähnlich zerbrach das Oberrheingebiet im 16./ 17. Jahrhundert als zusammengehöriger Wirtschafts- und Kommunikationsraum an den politischen Gegensätzen zwischen Habsburg, Bourbon und der Eidgenossenschaft. Doch belegen die Aktivitäten des Riegeler Kaufmanns Moritz Montfort zwischen Basel, Straßburg und Frankfurt, dass bestimmte Handelsinstitutionen und -wege die Zeiten überdauerten. 80 Gerade die territoriale Fragmentierung am Oberrhein schuf eine Konkurrenz der „Regelanbieter“, die auf der Suche nach zollgünstigen Routen Optionen bot. Schwierigkeiten bereiteten die verschiedenen Währungen am Oberrhein, in den schwankenden Wechselkursen lagen aber auch Gewinnchancen. 81 Sehr deutlich gibt das Handelsbuch des Moritz Montfort das breite Warensortiment preis, in dem wie bei den Castell in Elzach der Schwerpunkt eindeutig auf Textilien (Halbfabrikate, Kurzwaren) lag. Von Marquerat ist 78 R OLF K IEßLING , Die Überwindung herrschaftlicher Grenzen durch regionale Zusammenarbeit. Ostschwaben im 15./ 16. Jahrhundert, in: Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit, W OLF- GANG S CHMALE / R EINHARD S TAUBER (Hrsg.), Berlin 1998, 155-170. 79 Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert H ANS P OHL (Hrsg.), Stuttgart 1986; R OLF K IEßLING , Kommunikation und Region in der Vormoderne. Eine Einführung, in: H OFFMANN / D ERS ., Kommunikation (wie Anm. 77), 9-39, hier 20, zur „Wirtschaftslandschaft“ Ostschwaben als „kommunikativem System“ 30f. 80 T OM S COTT , Regional Identity and Economic Change. The Upper Rhine, 1450-1600, Oxford 1997; hierzu K IEßLING , Einführung (wie Anm. 79), 32. 81 Allgemein F ONTAINE , Pedlars (wie Anm. 76), 9, 32; L EOPOLD G ÖLLER , Die Handelsleute Martin in Staufen. Geschäftsbriefe vor zweihundert Jahren, in: Schau-ins-Land 78 (1960), 42-55, hier 46, 48 (Wechselkurse), 30, 49 („Conterband“ und Zoll). Allgemein zum Verhältnis von Wirtschafts- und Politikgeschichte am Oberrhein S COTT , Regional Identity (wie Anm. 80). <?page no="591"?> Martin Zürn 592 immerhin bekannt, dass er in Richtung Schweiz mit Salz handelte, in Nürnberg mit Gewürzen, in Immenstadt mit Ochsen und mit Militärbedarf. Ein sehr breit gefächertes Angebot scheint für savoyische Handelshäuser des 18. Jahrhunderts charakteristisch gewesen zu sein. 82 Kundenorientierung war sicher die eine Seite dieser Geschäftsstrategie. Es ist aber auch zu fragen, ob es sich hier nicht um eine Strategie zur Minimierung von Geschäftsrisiken handelte. Missernten und Preiskonjunkturen, Änderungen in der merkantilistischen Wirtschaftspolitik der beteiligten Staaten, drohende und tatsächlich stattfindende Kriege erforderten zweifellos ein geschmeidiges Reagieren, das durch Angebotsdiversifikation erleichtert wurde. Ein wesentliches Moment obrigkeitlicher Wirtschaftspolitik und daher Thema der „New Institutional Economics“ war die Aufnahme oder Ablehnung von (rechtlich) Fremden. Insbesondere die Ansiedlung von religiösen und ethnischen Minderheiten, die über Kapital und Know-how verfügten, konnte die regionale Mikrostruktur der Ressourcenzirkulation durchaus stark beeinflussen. 83 Wir wissen leider nicht genau, aus welchen Gründen die Castell, die Montfort und die Marquerat sich in relativ kleinen Orten niederlassen wollten oder mussten. Wenn savoyischen Handelsleuten die Integration in die Kaufmannschaft eines Oberzentrums wie Freiburg nicht gelang - falls sie diese überhaupt anstrebten - dann boten der Marktflecken oder die Residenzen der Duodezfürsten häufig attraktive Ausweichmöglichkeiten. Dort agierten die Savoyer als Hoflieferanten und Versorger der Stadtbewohner wie auch der umliegenden Landgebiete. Die Eingliederung in die lokale Ehrbarkeit ergab sich - wie im Falle Marquerat und Moritz Montfort - daraus fast zwangsläufig. Von daher bestätigt sich auch die Berechtigung der Frage, wie die politisch und konfessionell heterogene Gesellschaft im frühneuzeitlichen Südwestdeutschland Grundlagen für wirtschaftliches Wachstum bot. 84 82 Dies trifft auch auf die Martin in Staufen i. Br. zu, wobei dort der Kristallhandel als regionale Besonderheit hinzukommt, siehe G ÖLLER , Handelsleute Martin (wie Anm. 81), passim. 83 Für religiöse Minderheiten stellte sich die Frage nach Zentralität und Peripherie ganz anders als für die christliche, zünftisch organisierte Mehrheitsgesellschaft. Siehe zur jüdischen Siedlungsstruktur in Bayerisch-Schwaben S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999. 84 O LIVER V OLCKART , Politische Zersplitterung und Wirtschaftswachstum im Alten Reich, ca. 1650- 1800, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 86 (1999), 1-38, hier 3, 33. Die empirische Grundlegung dieser Abhandlung ist allerdings von Irrtümern und Fehleinschätzungen durchsetzt. Empirische Studien unter anderem von U LLMANN , Nachbarschaft (wie Anm. 83), sowie von F RANK K ONERSMANN , Duldung, Privilegierung, Assimilation und Säkularisation. Mennonitische Glaubensgemeinschaften in der Pfalz, in Rheinhessen und am nördlichen Oberrhein (1664-1802), in: H ÄBERLEIN / Z ÜRN , Minderheiten (wie Anm. 64), 339-375; M ICHAELA S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN / M ARK H ÄBERLEIN , Die Ansiedlung von Täufern am Oberrhein im 18. Jahrhundert. Eine religiöse Minderheit im Spannungsfeld herrschaftlicher Ansprüche und wirtschaftlicher Interessen, in: ebd., 377-402. <?page no="592"?> Wie es im Buch steht 593 In allen ausgewerteten Handelsbüchern fällt die relativ geringe quantitative Bedeutung savoyischer Landsleute und erst recht der Heimatorte auf. Wenn man aber allgemein annimmt, dass in Süddeutschland zwischen zwei und fünf Prozent „Welsche“ lebten, sind Savoyer unter den Handelspartnern zwar überrepräsentiert - doch zumeist wohl, weil sie Kaufleute und Standesgenossen und nicht weil sie Landsleute oder Verwandte waren. Wirtschaftlicher Erfolg resultierte also keineswegs, wie zeitgenössische deutsche Konkurrenten und zum Teil die Forschung in fremdenfeindlichen Ausfällen glauben machen wollten, aus einer familiär-landsmannschaftlich gestützten „mafiosen“ Organisationsform und aggressiven Vertriebsmethoden, auch wenn wir gut funktionierende Kontakte Marquerats mit den verschwägerten Ducrue und Pernat in Augsburg und in der Heimat annehmen dürfen. 85 Kennzeichnend - und vom Geschäftsvolumen her entscheidend - ist jedoch die perfekte Anpassung an die räumlichen und sozialen Strukturen der Zielregion. Dies schloss nicht aus, dass die Kontakte des Pierre Marquerat in die Residenzen Wien, München, Freising und Meersburg zu guten Teilen, manchmal vollständig, über Landsleute liefen. Die relativ geringe quantitative Bedeutung savoyischer Landsleute hinsichtlich der Umsätze wird vielleicht durch die hohe strategische Bedeutung, das heißt durch ein qualitatives Merkmal, ausgeglichen. Denn falls nicht die schweren Schäden am Handelsbuch des Pierre Marquerat das Ergebnis verzerren, können hin und wieder Diskrepanzen zwischen „Soll“ und „Haben“ im Verkehr mit Verwandten und Landsleuten beobachtet werden. Deutet dies auf gesteigerte Kreditwürdigkeit innerhalb eines verwandtschaftlichen bzw. landsmannschaftlichen Netzwerks hin? Würde sich dies bestätigen lassen, dann wäre dieses Netzwerk die wichtige Sozialversicherung, auf die man bei wirtschaftlichen und politischen Kalamitäten zurückgriff, auch wenn das Handelshaus ansonsten rein auf Markt und Region bezogen agierte. Die Quellen geben - zumindest im Licht der Literatur - wenige Hinweise darauf, wie Marquerats Aktionsraum entlang des Alpennordrandes entstand. Nach der eingangs zitierten Generalvollmacht an seinen Schwiegervater hat er ihn sich reisend erarbeitet. Er nutzte zweifellos das in der Heimat breit vorhandene Wissen, über das auch die savoyischen Vaganten des 16. Jahrhunderts verfügten. 86 Dass dieser Aneignungsprozess durch ver- 85 E BERHARD G OTHEIN , Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften, Straßburg 1892, 49, 406, 432f., 738-741; K ARL M ARTIN , Die Einwanderung aus Savoyen nach Südbaden. Ein Beitrag zur Erforschung der blutmäßigen Zusammensetzung unserer Bevölkerung, Freiburg o. J. (= Sonderdruck aus: Schau-ins-Land 65/ 66 [1938/ 39]), 7; F ONTAINE , Pedlars (wie Anm. 76), 18, 33, 207. 86 Den Verhören in Strafverfahren lässt sich mitunter in Bruchstücken das Itinerar der Vaganten entnehmen. M ARTIN Z ÜRN , Savoyarden in Oberdeutschland. Zur Integration einer ethnischen Minderheit in Augsburg, Freiburg und Konstanz, in: H OFFMANN / K IEßLING , Kommunikation (wie Anm. 77), 381-419, hier 407-409. <?page no="593"?> Martin Zürn 594 wandtschaftliche Arbeitsteilung mit den Ducrue unterstützt wurde, lässt sich zumindest vermuten. Marquerat unterschied sich darin wahrscheinlich nicht von Moritz Montfort in Riegel, der in engem, aber wirtschaftlich nicht entscheidendem Kontakt mit seinen Verwandten in Freiburg stand. Insgesamt dominieren sowohl bei Montfort als auch bei Pierre Marquerat erstens die Orientierung am wirtschaftsgeographischen Raum und zweitens die Integration in das lokale Honoratiorentum über ethnische Kriterien. Erwartet und unterstellt man in der Begegnung mit dem Fremden gerne das Außergewöhnliche, dann ist außergewöhnlich, dass der Handel der untersuchten savoyischen Handelshäuser so normal war. <?page no="594"?> Wie es im Buch steht 595 10. Anhänge Anhang 1: Gesamtumsätze, Partnerzahlen und Transaktionen nach Städten Geschäftsort Umsätze Partner Buchungen 01. Schweiz, Arbon 276.932,844 2 614 02. Deutschland, Lindau 140.647,279 19 1254 03. Deutschland, Augsburg 087.198,412 30 712 04. Deutschland, Immenstadt 080.908,202 15 723 05. Schweiz, Genf 079.451,674 11 242 06. Deutschland, Kempten 064.735,670 24 1064 07. Schweiz, Rorschach 055.452,557 5 198 08. Schweiz, St. Gallen 041.501,373 9 194 09. unbekannt 028.192,071 13 180 10. Deutschland, München 026.680,691 9 185 11. Deutschland, Isny 025.654,857 3 160 12. Schweiz, Zürich 024.635,937 10 194 13. Savoyen, o.O. 018.448,074 10 125 14. Schweiz, Schaffhausen 017.085,547 3 239 15. Schweiz, Vevey 013.839,694 4 55 16. Schweiz, Bischofszell 013.422,224 1 33 17. Deutschland, Memmingen 013.267,572 12 409 18. Deutschland, Sachsen, o. O. 011.806,448 3 112 19. Deutschland, Nürnberg 008.387,700 3 54 20. Schweiz, Basel 006.849,132 6 72 21. Deutschland, Kaufbeuren 005.341,871 6 94 22. Deutschland, Freising 005.246,348 1 44 23. Deutschland, Schongau 004.249,666 1 18 24. Österreich, Reutte 004.179,706 2 112 25. Schweiz, Glarus 004.158,101 1 15 26. Schweiz, Lausanne 003.381,576 1 19 27. Savoyen, Arâches 003.000,000 1 4 28. Deutschland, Meersburg 002.984,279 1 34 29. Schweiz, Herisau APZ 002.815,901 2 9 30. Deutschland, Waldsee 002.601,383 1 54 31. Savoyen, Nancy-sur-Cluses 002.546,242 3 12 32. Deutschland, Kempten, Stift 002.485,915 3 55 33. Deutschland, Berlingen 002.432,426 2 83 34. Deutschland, Staufen im Allgäu 002.195,492 1 26 35. Deutschland, Rieden 001.694,159 1 100 36. Österreich, Wien 001.682,833 1 24 37. Welschland, Londe [? ] 001.671,878 2 4 <?page no="595"?> Martin Zürn 596 38. Italien, Venedig 001.477,219 1 7 39. Schweiz, Hauptwiler 001.231,900 1 2 40. Schweiz, Graubünden 001.136,368 1 30 41. Deutschland, Dingau 001.131,900 1 16 42. Österreich, Innsbruck 001.074,916 3 16 43. Österreich, Bregenz 001.022,126 2 34 44. Deutschland, Hindelang 001.021,752 1 71 45. Deutschland, Obersonthofen 000.901,476 1 51 46. Deutschland, Fürth 000.875,528 1 18 47. Deutschland, Heidelberg 000.857,117 1 13 48. Frankreich, Mirecourt 000.588,200 1 4 49. Frankreich, Aubenasson [? ] 000.573,550 1 3 50. Deutschland, Günzburg 000.566,184 1 18 51. Deutschland, Eichstätt 000.463,471 1 12 52. Deutschland, Füssen 000.435,538 1 11 53. Deutschland, Ravensburg 000.341,884 1 12 54. Deutschland, Ottobeuren 000.339,567 1 29 55. Deutschland, Staad 000.327,234 1 8 56. Deutschland, Ehingen 000.283,000 1 5 57. Deutschland, Neuburg 000.238,167 1 4 58. Deutschland, Rechtobel 000.212,000 1 5 59. Deutschland, Ulm 000.204,750 1 2 60. Schweiz, Neuchâtel 000.200,400 2 5 61. Schweiz, Gottlieben TG 000.171,425 1 3 62. Schweiz, Chur GR 000.118,950 1 5 63. Deutschland, Berlingen 000.090,900 1 4 64. Deutschland, Ochsenhausen 000.079,000 1 3 65. Deutschland, Sonthofen 000.051,000 1 2 66. Deutschland, Haldenwang 000.046,833 1 6 67. Deutschland, Krumbach 000.040,000 1 2 <?page no="596"?> Wie es im Buch steht 597 Anhang 2.1: Transaktionen und Umsätze nach Ländern / Regionen Vorbemerkung: Die Einteilung nach Handelsgebieten erfolgte in erster Linie in Orientierung an der zeitgenössischen politischen Geographie; deshalb wurde Graubünden als eigener Staat behandelt. Immer wieder kam es aber in der Welschschweiz und der burgundischen Pforte zwischen eidgenössischen Mächten (zum Beispiel Bern), dem Königreich Savoyen, der Krone Frankreich und Habsburg bzw. dem Reich zu territorialen Veränderungen. Deshalb, und auch um der sprachlichen Zugehörigkeit Rechnung zu tragen, wurden welschschweizer Partner ebenso wie Träger „welscher“ Namen, die durchaus auch auf Reichsgebiet ansässig sein konnten, in einer eigenen Kategorie erfasst. 87 Die Herkunftsangabe „Welschland“ ist dem Handelsbuch selbst entnommen. Leider fehlen dort nähere geographische Hinweise, was für die kaum zu systematisierenden, teils auf Staat und Herrschaft, teils auf Sprache, Religion oder Landschaftsformation aufbauenden geographischen Zuordnungen der Zeitgenossen Marquerats typisch ist. 88 Nation Buchungen Umsätze 01. Schweiz 1.564 0.443.658,957 02. Deutschland 4.520 0.371.731,660 03. Savoyen 0.807 0.131.287,632 04. Genf 0.242 00.79.451,674 05. Welsch* (siehe Vorbemerkung) 0.484 00.50.686,579 06. Unbekannt 0.146 00.16.584,322 07. Frankreich 0.080 0.005.692,660 08. Italien 0.041 0.002.846,053 09. Graubünden 0.037 0.001.315,318 10. „Welschland“ 0.002 0.000.522,334 (Summen) 7.923 1.103.777,189 87 Siehe hierzu auch die Ausführungen in Anm. 59. 88 Siehe hierzu die Beiträge in S CHMALE / S TAUBER (Hrsg.), Grenzen (wie Anm. 78). <?page no="597"?> Martin Zürn 598 Anhang 2.2: Soll- und Habensaldi nach Nationalität und Zahl der Partner Nation Bilanzteil Partner Buchungen Saldi (fl.) H 39 660 227.858,655 Schweiz S 37 904 215.800,302 H 117 2.076 187.040,794 Deutschland S 113 2.444 184.690,866 H 45 419 060.498,140 Savoyen S 46 388 070.789,492 H 11 116 039.822,724 Genf S 11 126 039.628,950 H 20 188 025.740,206 Welsch* S 20 296 024.946,373 H 13 77 008.292,161 unbekannt S 13 69 008.292,161 H 1 34 002.846,330 Frankreich S 1 46 002.846,330 H 4 15 001.443,136 Italien S 4 26 001.402,917 H 3 10 000.465,667 Graubünden S 2 27 000.849,651 H 1 1 000.261,167 „Welschland“ S 1 1 000.261,167 H 254 3.596 554.268,980 (Summen) S 248 4.327 549.508,209 <?page no="598"?> Wie es im Buch steht 599 Anhang 3.1: Umsätze mit den Augsburger Partnern Name Vornamen Nation Buchungen Umsätze (fl.) 01. Ducrue Peter Savoyen 96 16.544,333 02. Ducrue Gervasius Savoyen 21 09.645,783 03. Espine Philipp de l' Savoyen 44 08.174,321 04. Gonay Mathias Bernhard Welsch* 35 07.751,050 05. Depra NN unbekannt 29 07.328,012 06. Gonay Franz Welsch* 105 05.787,567 07. Biolley Franz Savoyen 20 05.695,766 08. Laire Peter Frankreich 80 05.692,660 09. Passier Claude Savoyen 32 05.106,032 10. Gollet Georg Savoyen 22 04.032,334 11. Jäger Matthias Deutschland 54 03.323,674 12. Espine Josef de l' Savoyen 6 01.717,500 13. Rauner Wilhelm Michael Deutschland 8 01.339,032 14. Matti Josef Italien 25 01.123,834 15. Bernet Michael Savoyen 6 01.016,000 16. Ilger Johannes Deutschland 46 00.840,356 17. Fimal Wilhelm Savoyen 14 00.464,608 18. Brennius Johann Georg Deutschland 10 00.260,910 19. Schmidt Kaspar Deutschland 14 00.246,334 20. Schweighart Michael Deutschland 4 00.234,000 21. Köpf Johann Deutschland 4 00.205,800 22. Gutermann Johann Jakob Deutschland 16 00.178,878 23. Ador Claude Savoyen 5 00.164,200 24. Guichet Stefan Savoyen 2 00.070,666 25. Vacano Andreas Graubünden 2 00.060,000 26. Michon Claudius Franz Savoyen 2 00.051,000 27. Kesel Philipp Jakob Deutschland 2 00.047,500 28. Cardon Johann Georg Savoyen 2 00.037,000 29. Mouchet NN Savoyen 4 00.031,262 30. Lu[i]del NN Deutschland 2 00.028,000 (Summen) 712 87.198,412 <?page no="599"?> Martin Zürn 600 Anhang 3.2: Soll und Haben im Handel mit Augsburger Partnern Name Vornamen Nation Bilanzteil Buchungen Summe (fl.) H 36 7.141,533 Ducrue Peter Savoyen S 60 9.402,800 H 16 4.806,783 Ducrue Gervasius Savoyen S 5 4.839,000 H 30 4.078,004 Espine Philipp de l’ Savoyen S 14 4.096,317 H 11 2.847,883 Biolley Franz Savoyen S 9 2.847,883 H 14 2.553,016 Passier Claude Savoyen S 18 2.553,016 H 9 2.016,167 Gollet Georg Savoyen S 13 2.016,167 H 4 0.858,750 Espine Josef de l’ Savoyen S 2 0.858,750 H 4 0.508,000 Bernet Michael Savoyen S 2 0.508,000 H 9 0.252,308 Fimal Wilhelm Savoyen S 5 0.212,300 H 2 0.082,100 Ador Claude Savoyen S 3 0.082,100 H 1 0.035,333 Guichet Stefan Savoyen S 1 0.035,333 H 1 0.025,500 Michon Claudius Franz Savoyen S 1 0.025,500 H 1 0.018,500 Cardon Johann Georg Savoyen S 1 0.018,500 H 2 0.015,631 Mouchet NN Savoyen S 2 0.015,631 <?page no="600"?> Wie es im Buch steht 601 Anhang 4: Savoyische Geschäftspartner des Pierre Marquerat nach Wohnort Wohnort 89 Name Vornamen Buchungen Umsätze 01. Deutschland, Augsburg Ducrue Peter 96 16.544,333 02. Deutschland, München Ducrue Heinrich 56 14.889,249 03. Deutschland, Lindau Courtabad Rudolf 57 14.396,750 04. Deutschland, Augsburg Ducrue Gervasius 21 09.645,783 05. Deutschland, Augsburg Espine Philipp de l' 44 08.174,321 06. Savoyen Passier Michael 22 05.825,667 07. Deutschland, München Marquerat Heinrich 34 05.816,617 08. Deutschland, Augsburg Biolley Franz 20 05.695,766 09. Deutschland, Freising Depra Josef 44 05.246,348 10. Deutschland, Augsburg Passier Claude 32 05.106,032 11. Savoyen Barto Claude 36 04.763,300 12. Savoyen Ducrue NN 35 04.073,341 13. Deutschland, Augsburg Gollet Georg 22 04.032,334 14. Savoyen, Arâches Barnat Maria 4 03.000,000 15. Deutschland, Meersburg Faber Peter 34 02.984,279 16. Deutschland, Immenstadt Parma Dominik 81 02.924,216 17. Savoyen Ducrue Anselm 7 01.860,014 18. Deutschland, Augsburg Espine Josef de l' 6 01.717,500 19. Österreich, Wien Perinet NN 24 01.682,833 20. unbekannt Saliet Georg 4 01.402,976 21. Savoyen, Nancy-sur- 21. Cluses Valence Christian de 5 01.360,406 22. unbekannt Burnet Josef 3 01.309,117 23. unbekannt Marquerat Franz Peter 7 01.060,000 24. Deutschland, Augsburg Bernet Michael 6 01.016,000 25. Deutschland, Kempten Fels Johann Christoph 4 00.929,838 26. Savoyen Molly Claude 5 00.764,734 27. Österreich, Innsbruck Bovier Claude Franz 8 00.741,316 28. Savoyen, Nancy-sur- 28. Cluses Mounier Alexius 4 00.596,586 29. Savoyen, Nancy-sur- 29. Cluses Benit Marcel 3 00.589,250 30. Deutschland, Augsburg Fimal Wilhelm 14 00.464,608 31. Deutschland, Eichstätt Gontier Paul 12 00.463,471 89 Die Wohnortangabe „Savoyen“ weist auf die Quellenangabe Savoyard hin; Wohnsitz „unbekannt“ bedeutet, dass der entsprechende Namen zwar in der Sekundärliteratur, aber nicht im Handelsbuch als savoyisch apostrophiert wird, und dass das Handelsbuch keinerlei Angaben zu Nationalität oder Wohnsitz macht. <?page no="601"?> Martin Zürn 602 32. unbekannt Radda Peter 10 00.406,434 33. Savoyen Schussi Johann 4 000.397,916 34. Savoyen Stelle Franz 10 000.324,768 35. Savoyen Ducrue Moritz 2 000.248,334 36. Deutschland, Augsburg Ador Claude 5 000.164,200 37. Österreich, Innsbruck Faber Peter 4 000.135,334 38. Savoyen Amis Pierre 2 000.110,000 39. unbekannt Rouge Alexander 1 000.089,733 40. Savoyen Leder Franz 2 000.080,000 41. Deutschland, Augsburg Guichet Stefan 2 000.070,666 42. Deutschland, München Jaquemod Kaspar 4 000.064,000 43. Deutschland, Augsburg Michon Claudius Franz 2 000.051,000 44. Deutschland, Augsburg Cardon Johann Georg 2 0000.37,000 45. Deutschland, Augsburg Mouchet NN 4 000.031,262 46. Deutschland, München Ducrue Johann 3 000 (Summen) 807 131.287,632 <?page no="602"?> Wie es im Buch steht 603 Anhang 5: Orte der Handelskontakte 90 Name Vornamen Nation Wohnort Transaktionsort H/ S 01. Beck Johann Rudolf Schweiz Schweiz, Basel Zurzach 1/ 3 02. Brique NN welsch Schweiz, Neuchâtel Zurzach 1/ 0 03. Burkhart Johann Friedrich Schweiz Schweiz, Basel Zurzach 1/ 0 04. Ducrue NN Savoyen Savoyen, o. O. Zurzach 2/ 0 05. Duvoisin NN Genf Schweiz, Genf Zurzach 1/ 1 06. Esling David Schweiz Schweiz, Zürich Zurzach 4/ 2 07. Kerner Johannes deutsch Berlingen Zurzach 1/ 0 08. Lu[i]del NN deutsch Augsburg Zurzach 0/ 1 09. Matthias Jean Genf Schweiz, Genf Zurzach 1/ 0 10. Mitz Benedikt Schweiz Schweiz, Basel Zurzach 1/ 3 11. Ode NN welsch Schweiz, Vevey Zurzach 0/ 1 12. Ott Heinrich Schweiz Schweiz, Schaffhsn. Zurzach 1/ 1 13. Pallard Denis Genf Schweiz, Genf Zurzach 3/ 2 14. Parmon Karl welsch Welschland, Londe Zurzach 0/ 1 15. Passier Michael Savoyen Savoyen, o. O. Zurzach 1/ 0 16. Rouge Alexander Savoyen unbekannt Zurzach 0/ 1 17. Rutlinger Johann Ulrich Schweiz Schweiz, Zürich Zurzach 1/ 1 18. Taxil Pierre Genf Schweiz, Genf Zurzach 0/ 1 19. Unbe- 19. kannt Pierre welsch Schweiz, Neuchâtel Zurzach 1/ 1 01. Amis Pierre Savoyen Savoyen, o. O. München 1/ 1 02. Guichet Stefan Savoyen Augsburg München 1/ 0 03. Kerisch Michael deutsch unbekannt München 1/ 2 04. Marquerat Franz Peter Savoyen unbekannt München 1/ 0 05. Perinet NN Savoyen Österreich, Wien München 1/ 1 06. Schamuße Nikolaus unbekannt Schongau München 0/ 1 07. Schickhart Gottfried deutsch Nürnberg München 1/ 0 01. Bernet Michael Savoyen Augsburg Augsburg 0/ 1 02. Schickhart Gottfried deutsch Nürnberg Augsburg 1/ 0 deutsch: 4 Zurzach: 39 20/ 19/ Genf: 4 München: 11 6/ 5 Savoyen: 8 Transaktionsorte Augsburg: 2 1/ 1 Schweiz: 6 unbekannt: 1 27 Personen, davon welsch: 4 90 Spalte H / S: Anzahl der Nachweise in den Bilanzteilen Haben / Soll. <?page no="604"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 1 Handelspraktiken der Brüder Castell in Elzach im Schwarzwald (1814-1843) Irmgard Schwanke Mehr als einmal betonten Johann Joseph und Johann Anton Castell in ihren Briefen an Geschäftspartner, sie wünschten weder Streitigkeiten noch unangenehme Korrespondenz, sondern wollten vielmehr mit ihren freund einig sein. Auseinandersetzungen seien schädlich und würden unnötige Portokosten verursachen. 2 Tatsächlich waren die Geschäftsbriefe der Brüder jedoch keineswegs von liebe zur einigkeit bestimmt. 3 Sie vermitteln eher den Eindruck einer ausgeprägten kaufmännischen Streitkultur, die sich in vielfältigen Beanstandungen und Beschwerden äußerte. Eine Meinungsverschiedenheit mit einem Lieferanten kommentierten die Castell so auch mit den Worten, dieser behandle sie auf eine Weise, dass sie mit ihm imerwärend zancken müssten. 4 Die Briefe sind einem Handelsbuch der aus Savoyen stammenden und in Elzach im Schwarzwald ansässigen Brüder Castell entnommen. Das Buch ist im ersten Teil in Form eines Hauptbuches geführt, das in Personenkonten unterteilt für die Jahre 1814 bis 1843 Forderungen, Warenlieferungen und Zahlungen einander gegenüberstellt. Im zweiten Teil des Handelsbuches sind Kopien von Geschäftsbriefen der Brüder Castell aus den Jahren 1824 bis 1834 festgehalten. 5 Haupt- und Briefkopierbuch sind von sehr unterschiedlichem Informationsgehalt. 6 Die Konten des Hauptbuches erfassen 1 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 139 (24.9.1831). Die Zitate entsprechen abgesehen von der Interpunktion, die heutigem Gebrauch angepasst wurde, dem Original. 2 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 705 (7.11.1825), Nr. 1094 (24.12.1827), Nr. 139 (24.9.1831) (Zitat). 3 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 705 (7.11.1825). 4 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1436 (31.1.1830). 5 Das Castell-Handelsbuch befindet sich in Privatbesitz. Es wurde von Mark Häberlein und Irmgard Schwanke in einer Datenbank erfasst. Mark Häberlein stellte das Handelsbuch bereits unter konsumgeschichtlichen Fragestellungen vor: M ARK H ÄBERLEIN , Savoyische Kaufleute und die Distribution von Konsumgütern im Oberrheingebiet, ca. 1720-1840, in: Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23.-26. April 2003 in Greifswald, R OLF W ALTER (Hrsg.), Stuttgart 2004, 81-114. 6 Vgl. zu Haupt-, Briefkopierbüchern und Kaufmannsbriefen W ILFRIED R EININGHAUS , Kaufmännisches Schriftgut im „Hinterland“ von Amsterdam: Das Beispiel der Kompanie J. C. Harkort und der Iserlohner Kaufleute (1684-1819), in: Kaufleute in Europa. Handelshäuser und ihre Überlieferung in vor- und frühindustrieller Zeit. Beiträge der Tagung im Westfälischen Wirtschaftsarchiv 9. bis 11. Mai 1996, J OCHEN H OOCK / W ILFRIED R EININGHAUS (Hrsg.), Dortmund 1997, 51-60; D ERS ., Ams- <?page no="605"?> Irmgard Schwanke 606 nur einen Teil der Geschäftspartner der Castell und sollen lediglich als Ergänzung bei der Analyse der Briefe herangezogen werden. Auch diese liefern kein vollständiges Bild der Handelstätigkeit der Brüder, da sie sich auf Partner beschränken, zu denen schriftliche Kontakte bestanden. Dies waren in etwa 90 Prozent der Fälle Lieferanten, davon ein nicht unbeträchtlicher, allerdings quantitativ nicht genau zu ermittelnder Anteil Produzenten, insbesondere Hersteller von Textilwaren. Die rund 1.500 Briefe geben somit in erster Linie einen Eindruck vom Wareneinkauf des Unternehmens. Sie spiegeln kaufmännische Techniken und Strategien und zeigen, wie Handel in einem konkreten Fall „funktionierte“. Der Umgang mit Meinungsverschiedenheiten ist dabei nur ein Aspekt. Darüber hinaus enthalten die Schreiben beispielsweise Informationen über die Kommunikation mit Handelspartnern, über den Wandel der Moden und die Möglichkeiten der Bestellung von Waren, über Lieferwege, Zahlungsmodalitäten und Preisverhandlungen. Die Briefe bieten die Möglichkeit, exemplarisch die Handelspraktiken eines Familienbetriebs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit in einer Phase des Übergangs von der vorindustriellen zur industriellen Zeit zu analysieren. Bevor darauf näher eingegangen wird, soll zunächst jedoch die Familie Castell vorgestellt und ein Überblick über Geschäftspartner und Warensortimente gegeben werden. 1. Die Brüder Castell und ihre Handelsfirma 1774 heirateten in Gressoney, einer in einem Seitenarm des Aostatals gelegenen alemannisch-deutschen Sprachinsel, Johann Jakob Castell und Maria Johanna Thumiger. 7 Wie zahlreiche Gressoneyer gingen zwei ihrer Söhne, Johann Joseph und Johann Anton Castell, als Handelsmänner in die Fremterdam - Harkorten via Wesel. Briefe des Handelshauses Johann Caspar Harkort an Heinrich Bieben & Gebrüder in Wesel (1750-1754), in: Wesel. Beiträge zur Stadtgeschichte, Wesel 1985, 123-141; D ERS ., „Fünsche Sensen“ aus Harkorten 1684, in: Soll und Haben, Geschichte und Geschichten aus dem Westfälischen Wirtschaftsarchiv, O TTFRIED D ASCHER / W ILFRIED R EININGHAUS / G ABRIELE U NVERFERTH (Hrsg.), Dortmund 1991, 12f.; D ERS ., Handel und Siebenjähriger Krieg, in: Ebd., 20f.; O TTFRIED D ASCHER , Kaufmannsbriefe, in: Ebd., 66f.; M ARKUS A. D ENZEL , Die Geschäftsbeziehungen des Schaffhauser Handels- und Bankhauses Amman 1748-1779. Ein mikroökonomisches Fallbeispiel, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89 (2002), 1-40, hier 4. 7 Vgl. zur Familiengeschichte Castell und allgemein zur Zuwanderung aus Savoyen K ARL M ARTIN , Die italienische Gemeinde Gressoney am Monte Rosa und ihre Beziehungen zum Breisgau, in: Schau-ins- Land 62 (1935), 32-55, hier 42-44, 46f.; D ERS ., Die Einwanderung aus Savoyen nach Südbaden. Ein Beitrag zur Erforschung der blutmäßigen Zusammensetzung unserer Bevölkerung, in: Schau-ins- Land 65/ 66 (1938/ 39), 3-118, hier 53f., 58, 62; F RANZISKA R AYNAUD , Savoyische Einwanderung in Deutschland (15. bis 19. Jahrhundert), Neustadt an der Aisch 2001, 146; I RMGARD S CHWANKE , Fremde in Offenburg. Religiöse Minderheiten und Zuwanderer in der Frühen, Konstanz 2005, 111- 123, 160f., 205f.; M ARTIN Z ÜRN , Savoyarden in Oberdeutschland. Zur Integration einer ethnischen Minderheit in Augsburg, Freiburg und Konstanz, in: Kommunikation und Region, C ARL A. H OFF- MANN / R OLF K IEßLING (Hrsg.), Konstanz 2001, 381-419. <?page no="606"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 607 de. Um 1800 wurden sie zunächst Schutzverwandte in Riegel am Kaiserstuhl, bevor sie 1813 ein Haus in Elzach kauften und später das Bürgerrecht in dem Schwarzwaldstädtchen erwarben. Auch nach dem Erhalt des Bürgerrechts pflegten die Brüder Beziehungen zu Landsleuten aus dem Heimatort. Zeitweise sollen sie Mitglieder einer Kommanditgesellschaft gewesen sein, der der in St. Georgen bei Freiburg ansässige Johann Joseph Sebastian Thumiger, ferner Nikolaus Montering, Joseph Anton Mehr sowie Joseph Zumstein angehörten. Alle diese Männer stammten aus Gressoney. 8 Zwar lässt sich eine Gesellschaft anhand der Briefe der Castell nicht belegen, wohl aber Beziehungen geschäftlicher, zum Teil auch privater Natur zwischen den genannten Familien. So arbeiteten Thumiger & Montering und Johann Joseph und Johann Anton Castell beim Wareneinkauf zusammen bzw. unterstützten sich bei Engpässen. Beispielsweise schickten die Brüder 1827 Seide an Thumiger & Montering, allerdings nur eine kleine Menge, da sie mehr nicht vermanglen, also entbehren, konnten. 9 Im gleichen Jahr sandten sie einen Wechsel mit der Bitte, nöthiges zu besorgen, wobei in der Briefkopie nicht angegeben ist, um welche Waren es sich dabei handelte. 10 Als sie im darauffolgenden Jahr Seide brauchten, schickten sie eine Bestellliste an Thumiger und baten diesen, den Auftrag an seinen Lieferanten in Italien weiterzuleiten und die Ware seiner Fracht beilegen zu lassen. 11 Mitgliedern der Familie Mehr liehen die Castell über mehrere Jahre 1.000 Gulden zu einem vergleichsweise günstigen Zinssatz. 12 Ein Mehr ging bei ihnen in die Lehre. 13 Für vertrauliche, persönliche Beziehungen zu Gressoneyern sprechen Formulierungen in den Briefen, etwa wenn ein Adressat als lieber alter guter Freund bezeichnet oder einem anderen ein vergnügter Sommer gewünscht wurde. 14 Als Johann Joseph Sebastian Thumiger im März 1829 starb, 15 kümmerte sich Johann Anton Castell um dessen deutsches Vermögen und übernahm die Pflegschaft für die unmündigen Kinder. Besonders bemühte er sich um den jungen Sebastian Thumiger. Knapp einen Monat nachdem dieser Halbwaise geworden war, richtete Castell einen Brief an einen sogenannten Musterlehrer Merkle in St. Blasien im Schwarzwald, in welchem er schrieb, Sebastian habe daß Glück [...] die Lehr seyt einiger Zeit von [diesem] zu 8 Vgl. M ARTIN , Gressoney (wie Anm. 7), 46f. Karl Martin beruft sich auf Quellen, die sich zum Zeitpunkt seiner Recherchen im Besitz von Nachkommen Monterings befunden haben. 9 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 926 (27.2.1827). 10 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1046 (8.10.1827). 11 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1286 (11.12.1828). 12 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 627 (11.6.1825), Nr. 796 (22.6.1826), Nr. 345 (16.3.1834), Nr. 360 (18.4.1834). 13 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 503 (13.10.1824). 14 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1329 (13.3.1829), Nr. 367 (16.5.1834). 15 M ARTIN , Gressoney (wie Anm. 7), 46. <?page no="607"?> Irmgard Schwanke 608 empfangen. Er bitte Merkle, Sebastian die Pflichten ein[zu]prägen, die Ihme durch seynes Vaters Todte ja nur zu geschwind [...] zum theil geworden seynd. Sebastian trage nun Verantwortung für seine Mutter und die jüngeren Geschwister, und es sei nicht - wie die junge[n] Menschen glauben - durch den Verlust des Vaters der Zaum [...] gelückert, nein sondern vielmehr strenger angezogen worden. 16 Den jungen Mann tröstete er mit den etwas spröde anmutenden Worten: liebes Kind! dein Vater ist todt, betrieb dich aber deßen nicht allzusehr, dann so gefiel es dem Schöpfer, ich will künftig dein Vater seyn und für dich alles thun, was mir für dich nüt[z]lich zu seyn scheint. 17 Zwei Jahre später schrieb Castell an die Witwe Thumiger in Gressoney, es bereite viel Mühe, den Sohn Sebastian auf den rechten Bahn zu bringen. Dieser wolle nun Kunstmaler werden, was eine sehr kostspielige Angelegenheit sei. 18 Auch nachdem Sebastian schließlich seine künstlerische Ausbildung in München angetreten hatte, blieb er unter der Aufsicht der Castell, die Erkundigungen über seinen Caracter und über die Fortschritte beim Malen einholten. 19 Johann Joseph und Johann Anton Castell waren mit Savoyerinnen verheiratet, die ihnen nach Elzach folgten: Johann Anton mit Johanna Lettry, Johann Joseph mit Maria Rial aus Gressoney, in zweiter Ehe mit der Elzacherin Maria Anna Trenkle. 20 Während Johann Joseph offenbar in beiden Ehen kinderlos blieb, hatten Johann Anton Castell und Johanna Lettry mindestens drei Söhne und sechs Töchter, von denen die älteren in Gressoney, die jüngeren in Elzach zur Welt kamen. Joseph Anton wurde 1814 kurz nach dem Erwerb des Elzacher Hauses noch in der alten Heimat geboren, seine Schwester Josephine 1817 bereits am neuen Wohnort. 21 Vier der Mädchen heirateten Handelsmänner aus Elzach und der Umgebung. 22 Die Söhne absolvierten kaufmännische Ausbildungen in Genf und in Morges am Genfer See. Johann Jacob, der älteste Sohn, übernahm 1833 ein Handelsgeschäft im oberrheinischen Offenburg, das eng mit der Elzacher Firma verbunden 16 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1334 (6.4.1829). 17 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1333 (6.4.1829). 18 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 116 (6.8.1831). 19 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 188 (22.3.1832), Nr. 271 (20.9.1833). 20 Diözesanarchiv Freiburg i. Br., Ehebuch Elzach, 14.9.1820. 21 Hinweis auf Gressoney als Geburtsort im Eheeintrag von Joseph Anton: Diözesanarchiv Freiburg i. Br., Ehebuch Elzach, 10.12.1840 (Joseph Anton Castell, geb. am 31.3.1814 in Gressoney); Taufbuch Elzach, 20.3.1817 (Josephine Castell). 22 Diese und die folgenden Angaben stammen aus der oben genannten Literatur von Karl Martin sowie aus Stadtarchiv Offenburg (StadtA Offenburg), 4/ 3324, Inventar des Johann Joseph Castell und seiner Witwe Maria Anna, geb. Trenck, 1855. Die Ehemänner der Töchter waren laut dem Inventar Händler in Elzach, Haslach im Kinzigtal sowie Zell am Harmersbach, eine Tochter war bereits verstorben, eine noch ledig. Eine 1819 geborene Tochter taucht in dem Inventar nicht mehr auf, sie muss ebenfalls schon verstorben gewesen sein. Diözesanarchiv Freiburg i. Br., Taufbuch Elzach, 18.2.1819 (Johanna Franziska Kastell). Josephine Castell hatte 1846 einen Händler aus dem bei Elzach gelegenen Prechtal geheiratet. Diözesanarchiv Freiburg i. Br., Ehebuch Elzach, 30.4.1846. <?page no="608"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 609 war, 23 und heiratete die Bürgerstochter Maria Elisabeth Strebel, in zweiter Ehe Luise Beckmann, ebenfalls aus Offenburg. 24 Joseph (auch Johann) Anton trat nach einer Tätigkeit als Gastwirt später ebenfalls in das Offenburger Unternehmen ein. In einem beim Tod seiner Schwägerin 1855 angefertigten Inventar wird er als Geschäftsführer bezeichnet, in einem Kirchenbucheintrag 1856 als Bürger in Elzach, jedoch Kaufmann in Offenburg. 25 Bereits 1840 hatte er Valentia Feger aus Steinach (wahrscheinlich Steinach im Kinzigtal) zur Frau genommen, 26 später war er mit einer Maria Anna Lang verheiratet. 27 Der jüngste Bruder Johann Joseph übernahm das Geschäft in Elzach und betrieb dort neben der Handelsfirma ab 1867 eine mechanische Leinenwerberei. Verheiratet war er mit Theresia Merckle, Tochter des Elzacher Hirschenwirts und Posthalters Sigmund Merckle. 28 Während Johann Anton Castell sen. im Alter wieder in die Heimat zurückkehrte, starb sein Bruder 1855 in Offenburg 29 und setzte für das nicht der Ehefrau zustehende deutsche Vermögen die Nichten und Neffen als Erben ein. Der nicht bekannte Besitz in Gressoney sollte dem inzwischen dort lebenden Bruder Johann Anton zufallen. 30 Im Grunde wies die Familie Castell typische Formen einer doppelten Integration in der neuen wie in der alten Heimat auf. 31 Beide Brüder waren zunächst mit Savoyerinnen verheiratet. Der eine heiratete jedoch - wie seine Nichten und Neffen - in zweiter Ehe in eine einheimische Familie ein und verbrachte seinen Lebensabend in der Zuwanderungsregion. Dennoch behielt er Vermögen in Gressoney. Außerdem bedachte er laut Testament Verwandte in Gressoney mit einem Geldgeschenk. 32 Den anderen der Brüder zog es wieder nach Savoyen. Seine Ehefrau jedoch blieb in Elzach und starb dort 1863. 33 Soziale Beziehungen zu Landsleuten zeigen sich in der 23 Der erste Teil des Handelsbuches zeigt, dass man sich gegenseitig mit Waren aushalf; Castell- Handelsbuch, fol. 65-67, 70. Die Brüder sahen in dem Offenburger Geschäft anscheinend eine Art Filiale. So schrieben sie in einem Brief, sie hätten nun auch dorten ein Etablismant; Castell- Handelsbuch, Brief Nr. 317 (29.12.1833). 24 StadtA Offenburg, 10/ 2/ 104, Ehebuch Offenburg 1820-1852, 20.6.1835, 20.1.1848. 25 StadtA Offenburg, 4/ 3340, Inventar der Louise Castell, geb. Beckmann, und ihres Witwers Johann Jacob Castell, 1855; 10/ 2/ 12, Taufbuch Offenburg 1845-1858, 30.3.1856. Hinweise auf die Tätigkeit in Offenburg auch bei Martin, Gressoney (wie Anm. 7), 43. 26 Diözesanarchiv Freiburg i. Br., Ehebuch Elzach, 10.12.1840. 27 StadtA Offenburg, 10/ 2/ 12, Taufbuch Offenburg 1845-1858, 30.3.1856 (Geburt einer Tochter). 28 Diözesanarchiv Freiburg i. Br., Ehebuch Elzach, 18.1.1852. 29 StadtA Offenburg, 10/ 2/ 207, Sterbebuch Offenburg 1841-1857, 16.2.1855. 30 StadtA Offenburg, 4/ 3324, Inventar des Johann Joseph Castell und seiner Witwe Maria Anna, geb. Trenck, 1855. 31 S CHWANKE , Fremde (wie Anm. 7), 265; Z ÜRN , Savoyarden (wie Anm. 7), 407. 32 StadtA Offenburg, 4/ 3324, Inventar des Johann Joseph Castell und seiner Witwe Maria Anna, geb. Trenck, 1855. 33 M ARTIN , Gressoney (wie Anm. 7), 43. <?page no="609"?> Irmgard Schwanke 610 Sorge um das Vermögen und die Kinder Johann Joseph Sebastian Thumigers. Der Großteil der Taufpaten der in Elzach geborenen Kinder Johann Anton Castells und Johanna Lettrys kam entweder aus dem Schwarzwaldort selbst oder aus der Umgebung. Lediglich bei zwei Kindern taucht eine Frau mit savoyischen Vorfahren als Patin auf: Karolin Badiani, Bürgerstochter aus Riegel, dem früheren Wohnort der beiden Castell-Brüder. 34 Kontakte in die Herkunftsregion rissen somit auch nach der Einbürgerung in Elzach nicht ab, während gleichzeitig Verbindungen zu Einheimischen aufgebaut wurden, die in den Eheschließungen sichtbar wurden. Abgesehen von den erwähnten Beziehungen zu Gressoneyer Familien spielten Geschäftskontakte zu Savoyern in den Briefen der Castell quantitativ kaum eine Rolle. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Handelstätigkeit von Johann Joseph und Johann Anton Castell in Elzach charakterisieren. Wenn das Handelsbuch auch über Kunden wenig Auskünfte gibt, so spricht doch einiges dafür, dass die Brüder Zwischen- und Detailhandel verknüpften. Das von ihnen erworbene Haus in Elzach war „mit dem Krämerrecht versehen.“ 35 Möglicherweise betrieben die Castell dort einen Laden für Kunden aus der direkten Umgebung. Daneben besuchten sie die Jahrmärkte der Region, beispielsweise in Offenburg sowie Oberkirch im Renchtal. Dies waren auch gute Gelegenheiten, Schulden einzutreiben. 36 In mehreren Briefen erwähnten die Brüder allgemein den Verkauf von Waren auf Märkten bzw. auf ihren Hauptmärkten. 37 Zur Seite standen ihnen offenbar mehrere Beschäftigte. So ist in einem Schreiben von zahlreich[em] Hauspersonal, in anderen von einem Schreiber bzw. einem Italienische[n] Buchhalter die Rede, der momentan nicht anwesend sei, weshalb der Turiner Geschäftspartner doch bitte deutsch oder französisch schreiben solle. 38 Bedient wurden jedoch nicht nur Endverbraucher, sondern auch Händler, die größere Mengen bezogen. Die Castell betonten gegenüber Lieferanten, sie würden deren Artikel nicht im Detail absetzen, vielmehr verkauften sie die Waren auch wieder en gros. 39 Da bereits bei der Bestellung von einigen 34 Diözesanarchiv Freiburg i. Br., Taufbuch Elzach, 20.3.1817 (Badiani), 18.2.1819 (Badiani), 13.6.1820, 26.5.1822, 20.7.1824, 10.12.1827, 23.4.1832. Badiani oder Battiany aus Gressoney ließen sich in verschiedenen südwestdeutschen Ortschaften nieder. Seit den 1780er Jahren lassen sich in Riegel Johann Peter Badiani und seine Ehefrau Catharina Domiger (Thumiger), beide aus Gressoney, nachweisen. Siehe M ARTIN , Gressoney (wie Anm. 7), 48. 35 M ARTIN , Gressoney (wie Anm. 7), 42. 36 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 902 (30.12.1826), Nr. 1038 (22.9.1827), Nr. 66 (21.3.1831). 37 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 164 (11.12.1831), Nr. 1418 (12.11.1829). 38 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 53 (30.1.1831), Nr. 1400 (13.9.1829), Nr. 1414 (26.10.1829). 39 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 539 (18.12.1824) (Zitat), Nr. 836 (12.10.1826), Nr. 630 (12.6.1825), Nr. 991 (1.7.1827). Vgl. zur Abgrenzung von Detail- und Großhandel auch D ENZEL , Amman (wie Anm. 6), 23-26. <?page no="610"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 611 Dutzend Baumwolltüchern vom Verkauf en gros die Rede war, muss man allerdings davon ausgehen, dass der Zwischenhandel teilweise von eher bescheidenem Umfang war. 40 Die wenigen in den Geschäftsbriefen namentlich erwähnten Kunden kamen größtenteils aus dem Schwarzwald und vom Oberrhein und bezogen vergleichsweise kleine Mengen, so etwa Knopflochseide zum Preis von 4 fl. 23 xr., Damast für 9 fl. 12 xr. oder Weberrohr für 24 fl. 41 Erst ab 1833 finden sich in den Briefen deutliche Abweichungen von diesem Muster in Gestalt einzelner Kaufleute in Genf und Aosta, die bei den Castell umfangreichere Textillieferungen im Wert von jeweils einigen hundert Gulden in Auftrag gaben. 42 Genauere Angaben zu den Handelswaren finden sich in den schriftlichen Bestellungen der Brüder Castell. Etwa zwei Drittel betrafen Textilien und Accessoires wie Stoffe, Tücher, Bänder, Garne, Kopfbedeckungen, Strümpfe, Handschuhe und Knöpfe. 43 Darüber hinaus bezogen die Castell Metallwaren wie Draht und Sensen, zudem Pulver und Tabak, Essig und Öl, vereinzelt Löffel, Drucke, Färbemittel, Glas, Lichter, Wachs und Kohle. Außerdem deckten sie sich mit Kolonialwaren ein. So kauften sie bei einem Lieferanten innerhalb von zwei Jahren einige Säcke und zusätzlich über 700 Pfund Kaffee (unter anderem kleinbohnigen und feinen Havannakaffee), daneben Reis, Mandeln, Pfeffer, Ingwer, Gallus und ähnliches. 44 Häufig ließen sich die Castell zudem Weberrohr oder Cannetti schicken. Dabei handelte es sich um Ried, bzw. Rohr, das für die Herstellung der zum Weben benötigten Kämme und Spulen erforderlich war und ebenfalls in der Umgebung, genauer im Schwarzwald und in der Rheinebene zwischen Bühl und Lahr, abgesetzt wurde. 45 Die Handelsfirma von Johann Joseph und Johann Anton Castell wies somit eine für viele Kaufleute der Zeit noch typische breite Produktpalette auf, wenn auch mit deutlicher Konzentration auf den Textilbereich. Die Lieferanten waren diesem Schwerpunkt entsprechend überwiegend Produ- 40 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 630 (12.6.1825). 41 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 960 (18.4.1827), Nr. 359 (14.4.1834), Nr. 790 (10.6.1826). 42 Zumindest in einem Fall standen diese Geschäftsbeziehungen in Zusammenhang mit der Tätigkeit des jungen Johann Anton Castell in Genf; zum Beispiel Castell-Handelsbuch Briefe Nr. 265 (14.9.1833), Nr. 350 (4.4.1834), Nr. 370 (16.5.1834), Nr. 355 (10.4.1834). 43 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch H ÄBERLEIN , Savoyische Kaufleute (wie Anm. 5), 97f.; S CHWANKE , Fremde (wie Anm. 7), 169f. 44 H ÄBERLEIN , Savoyische Kaufleute (wie Anm. 5), 112. 45 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch Briefe Nr. 767 (5.4.1826), Nr. 790 (10.6.1826), Nr. 913 (22.1.1827), Nr. 1162 (10.5.1828). Hinweise auf das Produkt in E DUARD S CHONEWEG , Das Leinengewerbe in der Grafschaft Ravensberg. Ein Beitrag zur niederdeutschen Volks- und Altertumskunde, Osnabrück 1985; Technisches Wörterbuch. Italienisch-Deutsch und Deutsch-Italienisch, zusammengestellt von A. M EYER / S. O RLANDO , Teil 1, Mailand / Wiesbaden 1964, 3. Aufl., 195, cannétta: unter anderem Garnkörper, Spulröhrchen; Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 6, Frauenfeld 1909, Sp. 1238, Weber-Rörli, Schilfrohr. In Castell-Handelsbuch Brief Nr. 1129 (29.2.1828) ist explizit die Rede von für Kammmacher bestimmtem Weberrohr. <?page no="611"?> Irmgard Schwanke 612 zenten aus Textilgewerbelandschaften der Nordschweiz, etwa aus Thalwil im Kanton Zürich, Wattwil im Kanton St. Gallen oder Roggwil im Kanton Bern, sowie aus dem Bergischen Land, vor allem aus Barmen, Elberfeld und Langenberg. 46 Dazu kamen Firmen in Turin und Mailand, bei denen vor allem Seide und Damast bestellt wurde. 47 Kappen wurden in Hohenstein in Sachsen und in Schönenwerd im Kanton Solothurn bezogen, Weberrohr in der Schweiz und in Arona. 48 Aus dem süddeutschen Raum kamen in erster Linie Kurz-, Kolonial- und Druckwaren, Schießpulver und Metallwaren. Genutzt wurden somit Bezugsmöglichkeiten in der Region, für den Kauf ausgewählter Produkte jedoch ebenso an entfernteren Orten. Teilweise war der Umfang der Lieferungen beträchtlich. Einen Eindruck davon gibt das Hauptbuch der Castell, in dem einige der wichtigsten Geschäftspartner aufgeführt sind. Dort finden sich beispielsweise zwischen September 1821 und Oktober 1824 Wareneingänge von einem Langenberger Seidentuchlieferanten im Wert von rund 15.000 Gulden. In etwa dem gleichen Zeitraum lieferte eine Firma in Thalwil sogenannte Fransen- und Sacktücher für mehr als 12.000 Gulden, ein Turiner Unternehmen schickte von April 1822 bis Juli 1824 Seide für gut 5.000 Gulden. 49 Es stellt sich die Frage nach der hinter diesen Geschäftsvorgängen stehenden Kommunikation. Diese wird als „soziale Interaktion“ und als „wechselseitig stattfindende[r] Prozeß der Bedeutungsvermittlung“ definiert. 50 Im Bereich des Zwischenhandels ist in erster Linie an Kontakte von Firmeninhabern und -vertretern sowie Kunden zu denken. Räume der Kommunikation konnten Niederlassungen der Geschäftspartner, lokale und regionale Märkte wie auch überregionale Messen sein. Neben direkte mündliche Kontakte trat der Brief als Kommunikationsmedium. Aber auch Druckmedien wie Musterkarten und Preislisten dienten der kaufmännischen Kommunikation. Voraussetzung für den Austausch von Waren, Geld und Informationen war ein funktionierendes Post-, Verkehrs- und Finanzwesen. Diese Aspekte 46 Vgl. zur Entwicklung der Textilindustrie am Beispiel der Schweiz W ALTER B ODMER , Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrie und Wirtschaftszweige, Zürich 1960, hier 181-238, 275-324. 47 Differenziertere Angaben bei H ÄBERLEIN , Savoyische Kaufleute (wie Anm. 5), 97f.; S CHWANKE , Fremde (wie Anm. 7), 182. Mailänder Seidenfabrikanten werden nur in einem Brief erwähnt; Castell- Handelsbuch, Brief Nr. 1314 (17.2.1829). 48 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 45 (13.1.1831), Nr. 78 (16.5.1826), Nr. 715 (30.11.1825), Nr. 785 (5.6.1826). 49 Castell-Handelsbuch, fol. 44, 46f. 50 Nach M ICHAEL N ORTH , Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der frühen Neuzeit, München 2000, 45f. Siehe zum Thema Kommunikation auch die Sammelbände H OFFMANN / K IEßLING , Kommunikation und Region (wie Anm. 7); Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, J OHANNES B URKHARDT / C HRISTINE W ERKSTETTER (Hrsg.), München 2005, darin besonders zu Formen der Kommunikation und Kommunikationsmedien am Beispiel von Dörfern und Städten G ERD S CHWERHOFF , Kommunikationsraum Dorf und Stadt. Einleitung, 137-146. <?page no="612"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 613 werden im Folgenden unter den Stichworten „Kommunikationsmittel und wege“, „Mode und Markt“ sowie „Lieferung und Bezahlung“ erörtert. 2. Kommunikationsmittel und -wege Im Januar 1831 beschwerten sich Johann Joseph und Johann Anton Castell bitter über das Verhalten eines Handelsreisenden der Firma Somborn & Böesner in Elberfeld. Sie hätten sich bei der Ankunft des zwar brieflich angekündigten, ihnen jedoch unbekannten Reisenden informieren wollen, ob dieser tatsächlich von rechtem Hause seyn möchte, also von Somborn & Böesner geschickt sei. Daraufhin habe er ihnen sogleich Schläge angedroht. Lediglich die Anwesenheit des Hauspersonals habe Schlimmeres verhindern können. Empört schrieben die Brüder an den Auftraggeber des Reisenden: Ob nun dieser Man gerade zu dieser Zeit im Kopf verrückt, oder aber etwas zu viel begeistert, wollen nicht untersuchen, nur so viel ist uns bekannt, das[s] der selbe durch sein freches benehmen, Schimpfungen, gräsliche Dröungen aller unser grausenten Art ein Ertz Grobian von erster Clase sein muß. 51 Gewöhnlich verliefen die Besuche von Handelsreisenden in Elzach allerdings sehr viel ruhiger. Wenn Vertreter in das Haus Johann Joseph und Johann Anton Castells kamen, legten sie Warenmuster vor, 52 handelten Preise und Lieferbedingungen aus 53 und nahmen Bestellungen auf. 54 Sie begutachteten mangelhafte Ware und nahmen Bezahlungen entgegen. 55 Dabei zeigten sie teilweise großes Engagement. Sie waren offensichtlich auf Verkaufserfolge bedacht oder - wie die Brüder Castell in einem Brief klagten - gar zu zudrünglich. 56 In der Regel scheinen die Vertreterbesuche jedoch nicht unerwünscht gewesen zu sein, sondern wurden sogar angefordert, so wenn die Castell schrieben: [...] und wan ihr hr. Reisende[r] einmahl in diese Gegend kommt, so bitten, uns zu besuchen [...]. 57 Während der Großteil der Männer in den Briefen an die Firmeninhaber wie im vorliegenden Fall nur als ‚Reisende’ oder ‚Herren Reisende’ bezeichnet wurde, nannten die Castell bei anderen, die ihnen wohl durch häufige Besuche bekannter waren, die Namen. 58 Entsprechend der Konzentration der Castell auf Textilwaren kam auch die überwiegende Mehrheit der Handelsvertreter von Firmen, die Pro- 51 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 53 (30.1.1831). 52 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 849 (30.10.1826), Nr. 1090 (12.12.1827). 53 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1415 (26.10.1829), Nr. 67 (26.3.1831). 54 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 995 (8.7.1827), Nr. 196 (15.5.1832). 55 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1247 (13.10.1828), Nr. 11 (8.10.1830). 56 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1107 (14.1.1828). 57 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 849 (30.10.1826). 58 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 520 (28.11.1824), Nr. 1080 (24.11.1827). <?page no="613"?> Irmgard Schwanke 614 dukte aus diesem Bereich anboten, beispielsweise aus Rothrist in der Schweiz oder Barmen im Bergischen Land. 59 Gelegentlich suchten Lieferanten oder deren Familienangehörige die Brüder Castell auch persönlich auf. So kam beispielsweise Johann Heggi aus Roggwil im Kanton Bern selbst nach Elzach, und mehrfach schickte er seinen Sohn, der Bestellungen aufnahm und mit den Castell abrechnete. 60 Für Georg Caspar Arnold in Aalen waren ein Reisender und ein Sohn unterwegs. 61 Der Sohn eines Inhabers der Turiner Firma Dupre & Soldati machte auf der Rückreise von Frankfurt Station im Breisgau. 62 Der Seidenfabrikant Colsman aus Langenberg im Bergischen Land unternahm ab 1810 Reisen, um vorhandene oder potentielle Kunden aufzusuchen. Bis dahin hatte die Familie die Organisation des Absatzes befreundeten Handelshäusern überlassen. An seine Frau schrieb Colsman: „Kein Reisen ist ohn Ungemach [...], indeßen hat es auch sein angenehmes, und was für mich Hauptsache ist, viel nützliches, [...] persöhnliche Bekanntschaft, und eine mündliche Unterredung nützt mehr, als wenn ich 10 Briefe schreibe, man sieht und hört was man sonst nicht erfährt.“ 63 Die Brüder Castell, die zu den Kunden Colsmans zählten, dürften wohl ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Mehrfach erwähnten sie in den Briefen eigene - auch geschäftlichen Zwecken dienende - Reisen nach Italien, nach Gressoney und nach Genf sowie jeweils auf der Rückreise Besuche bei Lieferanten in der Schweiz. 64 Hinzu kamen Aufenthalte in den Häusern von Geschäftspartnern in der Umgebung, beispielweise in Haslach im Kinzigtal, in Offenburg und Lahr. 65 Vor allem aber besuchten Johann Joseph und Johann Anton Castell Messen und Märkte. 1824 erwähnten sie eine Reise zur Frankfurter Messe. 66 59 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1145 (17.3.1828), Nr. 1080 (24.11.1827). 60 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 880 (10.12.1826), Nr. 589 (24.3.1825), Nr. 1086 (30.11.1827), Nr. 1315 (27.2.1829). 61 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 803 (6.8.1826), Nr. 1398 (26.8.1829). 62 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 380 (27.1.1824). 63 Zitiert nach C AROLA G ROPPE , Der Geist des Unternehmertums - Eine Bildungs- und Sozialgeschichte. Die Seidenfabrikantenfamilie Colsman (1649-1840), Köln / Weimar / Wien 2004, 271. Die Inhaber wie auch Vertreter der in der Grafschaft Mark beheimateten, zunächst im Handel, später zudem in der Fabrikation von Eisenprodukten engagierten Firma Harkort unternahmen beispielsweise ausgedehnte Reisen in die Regionen, in denen sie ihre Waren absetzten; S TEFAN G ORIßEN , Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720- 1820), Göttingen 2002, hier 221-224. 64 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 626 (6.6.1825), Nr. 644 (5.7.1825), Nr. 807 (8.9.1826), Nr. 78 (16.5.1826), Nr. 1120 (3.2.1828), Nr. 22 (4.9.1830). 65 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 270 (17.9.1833), Nr. 861 (12.11.1826), Nr. 379 (21.1.1824). 66 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 424 (18.5.1824). Siehe A LEXANDER D IETZ , Die zwei Reichsmessen zu Frankfurt a. M., Separatabdruck aus der Frankfurter Handelsgeschichte, Frankfurt/ M. 1908; R OLF W ALTER , Zentraleuropäische Mustermessen im 19. Jahrhundert, in: Brücke zwischen den Völkern - Zur Geschichte der Frankfurter Messe, R AINER K OCH (Hrsg.), 3 Bde., Bd. 1: Frankfurt im Messenetz Europas - Erträge der Forschung, H ANS P OHL (Hrsg.), Frankfurt/ M. 1991, 281-293, hier 284f.; N ORTH , Kommunikation (wie Anm. 50), 65f. <?page no="614"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 615 Mit Schweizer Lieferanten trafen sie sich häufig auf den Zurzacher Messen. 67 Nicht nur Kunden, sondern auch Lieferanten, vor allem aus dem südwestdeutschen Raum, wurden auf regionalen Jahrmärkten kontaktiert. Beispielsweise kündigten die Castell bei der Bestellung von Drucken in Lahr - vier Dutzend des hinkenden botten, 12 Dutzend des landbotte[n] und jeweils ein halbes Dutzend des hausfreund und eines Schreibkalenders - die Bezahlung auf dem dortigen Markt an. 68 50 Pfund Musketen- und Sprengpulver ließen sich die Brüder aus Schiltach auf den Jahrmarkt im nahegelegenen Wolfach im Kinzigtal liefern. Auch in diesem Fall sollte auf dem Markt bezahlt werden. 69 Zumindest einen Teil der Textilwaren, die Johann Joseph und Johann Anton Castell nach Genf exportierten, wollten sie auf einer Messe in Haslach (höchstwahrscheinlich Haslach im Kinzigtal) erwerben. 70 Ergänzt wurden die auf Messen und Märkten, im Kontor der Castell oder in den Häusern von Geschäftspartnern gepflegten persönlichen Kontakte durch die schriftliche Korrespondenz. Wie die Briefe der Castell zeigen, gingen der Ankunft von Lieferungen häufig Schreiben der Geschäftspartner voraus, in denen diese von der Absendung ihrer Waren und gewählten Transportmitteln und -routen berichteten sowie Rechnungen ausstellten. 71 Die Brüder ihrerseits gaben schriftliche Bestellungen auf, bestätigten den Wareneingang und kündigten an, wann und auf welche Art und Weise sie bezahlen wollten. 72 Auch Referenzen wurden brieflich erteilt oder Hinweise auf Firmen übermittelt, die Empfehlungen geben könnten. So schrieben die Castell an Joseph Raschle in Wattwil über einen Geschäftspartner, dieser habe bislang zwar langssam, doch aber ordentlich bezahlt. 73 Sie selbst boten einem neuen Lieferanten an, er könne bei Raschle Erkundigungen einziehen. 74 Gleich eine doppelte Absicherung schlugen sie Jacob Gyr in Uster bei Zürich im Rahmen einer Bestellung von Textilwaren vor. Er solle sich bei Pestalozzi oder Hauser in Zürich über sie informieren oder könne die Waaren an ein haus nach freyburg im Breisgau gegen den betrag absenden [...] und dann werden wir bis nägsten Z[ur]Zacher Verena Mesen schon näher bekan[n]t 67 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 442 (20.6.1824), Nr. 892 (23.12.1826), Nr. 1404 (31.8.1829), Nr. 1501 (13.9.1830), Nr. 225 (27.9.1832). Siehe W ALTER B ODMER , Die Zurzacher Messen von 1530 bis 1856, in: Argovia. Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kontons Aargau 74 (1962), 3-130; D ENZEL , Amman (wie Anm. 6), 39. 68 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 511 (17.11.1824). 69 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1163 (10.5.1828). 70 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 350 (4.4.1834). 71 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1400 (13.9.1829), Nr. 2 (20.9.1830), Nr. 49 (17.1.1831). So auch bei G ORIßEN , Harkort (wie Anm. 63), 219. 72 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 55 (9.2.1831), Nr. 62 (28.2.1831), Nr. 56 (10.2.1831). 73 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 642 (8.7.1825). 74 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1405 (25.9.1829). Ähnliche Beispiele bei W ILFRIED R EININGHAUS , Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute (1700-1815), Dortmund 1995, 291f. <?page no="615"?> Irmgard Schwanke 616 werden. 75 Fehlendes Wissen über den jeweiligen Handelspartner, das Briefe alleine nicht herstellen konnten, wurde somit unter Vermittlung von beiden Seiten bekannten Geschäftsleuten aufgebaut und idealerweise durch persönliche Kontakte ergänzt. 3. Mode und Markt Bei den Handelswaren von Johann Joseph und Johann Anton Castell handelte es sich um Produkte von großer Vielfalt. Insbesondere Stoffe, Tücher, Kurzwaren und Accessoires wiesen die unterschiedlichsten Farben, Muster, Qualitäten und Größen auf. Sie mussten, egal ob die Bestellungen nun brieflich oder persönlich aufgegeben wurden, genau spezifiziert werden. Schon in Zedlers Universallexikon wurden Musterkarten und Musterbücher beschrieben, die diesem Zweck dienten. Tuch- und Seidenhändler besäßen ganze Cartons oder Bücher, in welchen sie von denen bey ihnen zu Kauf stehenden Tüchern, seidenen und wollenen Stoffen, Bändern und Seide etc. kleine Stücklein und abgeschnittene Muster aufgeklebet, aus denen ein Käufer nach seinem Belieben eine Sorte oder Farbe erwehlen kan. 76 Stoffmuster wurden auch gezeichnet. Ergänzt wurden die Muster durch Kommissionsnummern, oder es wurden gesonderte Listen angelegt, in denen die einzelnen Produkte mit Bestellnummern und häufig mit Preisen versehen waren. Musterbücher hatten somit die Funktion eines Katalogs, in welchem die Erzeugnisse eines Betriebs präsentiert wurden. Standardisierte Produkte konnten mit ihrer Hilfe potentiellen Kunden vorgestellt werden. Gleichzeitig dienten die zum Teil aufwändig gestalteten Musterbücher der Selbstdarstellung des jeweiligen Unternehmens und waren damit Werbeträger. 77 Die Briefe der Brüder Castell veranschaulichen, dass verschiedene ihrer Lieferanten dieses Marketinginstrument nutzten. Den in der Nähe von Karlsruhe ansässigen Knopflieferanten Carl Ernst Gehres baten die Brüder 75 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 137 (24.9.1831). 76 J OHANN H EINRICH Z EDLER , Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 22, Leipzig / Halle 1739, Sp. 1550. 77 Siehe O TTFRIED D ASCHER , Musterbücher - Versuch einer Typologie und Grundzüge ihrer Entwicklung, in: „Mein Feld ist die Welt“. Musterbücher und Kataloge 1784-1914. Eine Ausstellung der Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund in Zusammenarbeit mit dem Westfälischen Museumsamt Münster, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Dortmund 1984, 31-38; H ANS G ÜNTHER M EISSNER , Musterbücher als Instrumente der Werbung, in: ebd., 47-51. Beispiele für Musterbücher aus dem Textilgewerbe finden sich im Katalogteil des Ausstellungsbandes auf 215-220, 272-277, 308. Siehe zu Musterbüchern in der Metallwarenindustrie auch W ILFRIED R EININGHAUS , „Mein Feld ist die Welt“ - Musterbücher als Marketinginstrument um 1840, in: D ASCHER / R EININGHAUS / U NVERFERTH , Soll und Haben (wie Anm. 6), 44f. In diesem Zusammenhang ist auch der Übergang von der Warenzur Mustermesse im 19. Jahrhundert zu sehen, vgl. zum Beispiel K ARLHEINZ B LASCHKE , Der Übergang von der Warenmesse zur Mustermesse im 19. Jahrhundert, in: P OHL , Frankfurt im Messenetz Europas (wie Anm. 66), 263-280. <?page no="616"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 617 schriftlich um die Zusendung einer Musterkarte. 78 Gegenüber den Gebrüdern Hotz in Thalwil wurde der Erhalt eines Preyscourant[s], also einer Preisliste, erwähnt. 79 Den Besuch des Handelsreisenden ihres Tücherlieferanten Metzger & De Barry aus Barmen wollten die Castell laut eines Briefes aus dem Jahr 1826 dazu nutzen, ihre Muster carten noch einmahl durch[zu]gehn. 80 Allerdings war das Barmener Haus noch nicht so fortschrittlich, dass es seine Produkte auch mit Nummern versehen hätte, die die briefliche Bestellung hätten erleichtern können: [...] wir wären wirklich im falle [das heißt gerade im Stande], Ihnen eine ordentlich bestellung zu geben kennen, allein wir trauen nicht, Ursach weil Sie Ihre Waare bis jetzt nicht mit den Deseng No. bezeichneten, was ein fehler ist, [...] weil man ohne dies niemahls die gewünschte Deseng beschreiben kan, und dahero allzeit warten muß bis der reisend selbsten hierher komt. 81 Viele Bestellungen von Johann Anton und Johann Joseph Castell bei anderen Lieferanten waren jedoch mit Nummern versehen. Oft wurden die Aufträge in den Briefkopien in tabellarischer Form aufgezeichnet. Augenscheinlich wurde diese Struktur aus Katalogen und Listen übernommen. Die von den Brüdern angefertigten Tabellen enthielten Produktbezeichnungen und Farben wie auch Bestellnummern. Sie ähneln Preislisten, wie sie beispielsweise von der Langenberger Firma Colsman überliefert sind. 82 Bei Colsman bestellten die Castell 1824 unter anderem 61 Dutzend schwarze, glatte Tücher der Nummern null bis acht, zehn, zwölf usw. 83 Wieland & Kölliker in Thalwil gaben sie 1825 einen Auftrag über Sacktücher der Nummern 22, 66, 119, 154, 158, 196 und 201. 84 Johann Rudolf Meyer in Aarau wurde im gleichen Jahr beauftragt, insgesamt 18 Dutzend Floretttücher der Nummern fünf, sechs und sieben sowie carmosin[farbene] Bänder No. 3 zu liefern. 85 Bestellten die Castell Ware, für die es keine Musterkarten gab oder deren Qualität je nach Charge variieren konnte, legten sie dem Auftrag ein eigenes Muster bei oder baten um eine Probe. Dies betraf nicht nur Modeartikel. 1828 orderten sie Musketen- und Sprengpulver ungefähr nach einlie- 78 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 81 (19.5.1831). 79 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 996 (8.7.1827). Vgl. exemplarisch zu Preiskuranten M ARKUS A. D ENZEL , Zur Geschäftspraxis eines Nanteser Handelshauses: Der Preiskurant von Pelloutier & C ie (1763-1793), in: H OOCK / R EININGHAUS , Kaufleute in Europa (wie Anm. 6), 61-87. 80 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 849 (30.10.1826). 81 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 240 (2.11.1832). 82 Abgedruckt in G ROPPE , Colsman (wie Anm. 63), Abb. 43. Abb. 18 zeigt ein Musterbuch aus den 1830er Jahren. Abbildungen von Bändern und Kopftüchern Colsmans aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich bei G EORG E VERS , 150 Jahre Gebrüder Colsman, Essen-Kupferdreh. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Seidenweberei, o. O. [1952], 9f., 14, 30, 38, 41. 83 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 488 (26.9.1824). 84 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 651 (28.7.1825). 85 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 656 (14.8.1825). <?page no="617"?> Irmgard Schwanke 618 gendem Korn. 86 Friedrich August Winter in Backnang baten sie, ihnen zunächst lediglich jeweils ein Dutzend Floretttücher der Nummern drei bis sechs zu schicken, da sie nicht wüssten, ob es sich um gute oder gewöhnliche Qualität handle - und dann wollen wir sehen, ob etwas mit Ihnen zu unternehmen seye. 87 Besonders heikel war aufgrund von beträchtlichen Qualitätsunterschieden der Kauf von Weberrohr. An einen Lieferanten in Aarau schrieben die Castell, sie bäten um eine Probe, da es wege[n der] Canetti eine sehr kitzlige Sache [sei,] ohne Muster Waar auf einen Platz kommen zu laßen. [...] convenirt uns Preys und Waar, so werden dan 12 a 15 ballen bestellen. 88 Für die Fabrikanten von Textilwaren war es von außerordentlicher Bedeutung, sich über die neuesten Modeerscheinungen auf dem Laufenden zu halten und die Produktion jeweils anzupassen. Messen und ab Ende des 18. Jahrhunderts Modejournale boten dazu gute Gelegenheit. 89 Die Brüder Castell wiederum konnten sich bei ihren Lieferanten unter anderem anhand von deren Mustern und Musterbüchern über Neuigkeiten kundig machen, die modischen Produkte ihren Kunden anbieten und damit möglicherweise Konsumgewohnheiten beeinflussen. Zunehmend auch bei der Landbevölkerung beliebt waren Accessoires wie seidene Tücher und Bänder. 90 Ihre Farben und Muster unterlagen einem ständigen Wandel. So bevorzugte man in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts helle Stoffe. 91 Johann Joseph und Johann Anton Castell orderten dementsprechend bei ihren Lieferanten Tücher, die lebhaft[e] und keine dunklen farben haben sollten. 92 Gegenüber den Gebrüdern Hotz in Thalwil äußerten sie den Wunsch, es sollten ihnen neben den bestellten Fransentüchern noch weitere wirklich[er, also aktueller] mode beigelegt werden. 93 Bei einer anderen Bestellung schrieben sie: [...] wan Ihnen etwas Neumodisch sowohl in Sacktücher als in seyden Tücher & franzen Tücher [...] eingehet, so kennen [...] 1/ 4 dz oder 1/ 2 dz beylegen. Diese Stücke müssten aber mit einer Deseng No. bezeichnet werden, also auch hier der Hinweis auf den Nutzen von Bestellnummern. 94 Die Attraktivität bestimmter Muster und Farben hing jedoch nicht nur von allgemeinen Modetrends, 86 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1163 (10.5.1828). 87 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 638 (3.7.1825). 88 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1024 (28.8.1827). 89 Vgl. G ROPPE , Colsman (wie Anm. 63), 266. 90 Vgl. R OMAN S ANDGRUBER , Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, München 1982, 286f.; H ÄBER- LEIN , Savoyische Kaufleute (wie Anm. 5), 83 mit weiteren Literaturhinweisen. Siehe auch A NNE R A- DEFF , Über die Grenzen hinweg. Reisen und Wandern im Ancien Régime, in: Scripta Mercaturae 32 (1998), Heft 1, 24-43, hier 25. 91 Vgl. G ROPPE , Colsman (wie Anm. 63), 267. 92 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 29 (26.11.1830), Nr. 1451 (2.4.1830). Ähnliche Beispiele in den Briefen Nr. 1328 (12.3.1829), Nr. 15 (20.10.1830), Nr. 29 (26.11.1830). 93 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1299 (26.12.1828). 94 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 677 (12.9.1825). <?page no="618"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 619 sondern ebenso von der Jahreszeit und von regionalen, möglicherweise eher langlebigen, Vorlieben ab. Dessen waren sich die Castell wohl bewusst. So sollte der truck bei Som[m]er Waar[e] besonders lebhaft sein. 95 Einer Bestellung von sogenannten Modetüchern wurde der Nachsatz beigefügt, der Lieferant wisse ja, was in hiesiger Gegend Absatz finde. 96 Die Briefe der Elzacher Brüder zeigen somit, wie wesentlich das Zusammenspiel und der Austausch zwischen Produzenten und Zwischenhändlern für die Distribution von modischen Artikeln war. Für beide Seiten war es unverzichtbar, Trends aufzugreifen und Kundenwünsche zu kennen, wollten sie auf dem Markt bestehen. 4. Lieferung und Bezahlung Oft gaben die Brüder Castell bereits bei Bestellungen Anordnungen zu Lieferwegen. Ähnlich wie es Wilfried Reininghaus für das 18. Jahrhundert beschrieben hat, zeigen auch ihre Briefe, dass Waren in der Regel nicht von den Lieferanten begleitet, sondern Fuhrleute und Spediteure eingesetzt wurden. 97 Nur in Ausnahmefällen ist die Rede von einer persönlichen Übergabe: am 19t[en] pasato haten wir die Ehre, daß Ihr hr. bruder selbst die [...] Sacktücher [...] hirher Transportirte. 98 In vielen Fällen wurden die Güter nicht direkt an den Empfänger geschickt, sondern zum Teil mehrfach umgeladen. Offenbar ging es darum, etablierte Transportstrukturen zwischen in der Nähe der Ausgangs- und Bestimmungsorte liegenden größeren oder zumindest stärker frequentierten Städten zu nutzen. Mit der Organisation des Warentransports auf diesen Strecken wurden Spediteure beauftragt. 99 Waren, welche die Castell aus Italien oder der Schweiz erhielten, gingen häufig zuerst nach Schaffhausen, beispielsweise an die Spediteure Feer und Johann Caspar Ott, 100 oder nach Basel, etwa an Rudolf Paul Preiswerk. 101 Von dort aus wurden sie an Orte in der Nähe Elzachs geschickt, so an die Gebrüder Nino in Freiburg, vor allem jedoch an Welly & Sohn in Haslach 95 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1481 (11.7.1830). 96 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1406 (25.9.1829). Ebenso in Brief Nr. 1451 (2.4.1830). 97 R EININGHAUS , Iserlohn (wie Anm. 74), 339. 98 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 414 (1.4.1824). 99 Vgl. zu Lieferwegen der Firma Harkort G ORIßEN , Harkort (wie Anm. 63), 225-227, 235-240. Siehe auch R OBERT F REY , Das Fuhrwesen in Basel von 1682 bis 1848 mit besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Fuhren, Basel 1932. 100 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 720 (2.12.1825), Nr. 1061 (28.10.1827), Nr. 1271 (13.11.1828), Nr. 106 (8.7.1831). Markus A. Denzel zeigt die Verknüpfung und Entwicklung von Waren-, Wechsel- und Speditionshandel am Beispiel der Schaffhausener Firma Amman. Dort auch Erwähnung eines Spediteurs Johann Heinrich Ott in Schaffhausen. D ENZEL , Amman (wie Anm. 6), 7-12. 101 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 524 (1.12.1824), Nr. 670 (28.8.1825). <?page no="619"?> Irmgard Schwanke 620 im Kinzigtal. 102 Auch Fuhrleute wie Mathias Haberstroh aus Elzach oder Mathias Krieg aus dem benachbarten Prechtal übernahmen für die Castell Transporte in der Umgebung, ebenso ein Bote namens Moser. 103 Warensendungen aus nördlicher Richtung, etwa aus Langenberg oder Elberfeld, wurden von den Lieferanten nach Frankfurt am Main an einen Herrn Morgenstern geschickt, von dem die Castell ansonsten Lotterielose bezogen. 104 Mehrfach wünschten die Castell dabei Transporte durch schnelfuhrwagen oder Eylwagen, welche die Lieferzeiten verkürzen konnten. 105 Auch von Frankfurt aus wurden die Handelsgüter nicht direkt nach Elzach, sondern über Zwischenstationen versandt, beispielsweise an den - wie die Castell aus Gressoney stammenden - Offenburger Kaufmann Johann Valentin Battiany oder wiederum an Welly in Haslach. 106 Ebenso wie Battiany und die Castell zusammenarbeiteten, unterstützten sich auch Lieferanten beim Warenversand. So packten Burmann & Meckle in Elberfeld einer Lieferung Metzger & De Barrys aus dem benachbarten Barmen Tücher bei. 107 Johann Wilhelm und Carl Blanck in Elberfeld schickten ihre Produkte gemeinsam mit der Firma Simons Erben aus dem gleichen Ort. 108 Die Castell wurden ebenso in den Versand eingebunden. Beispielsweise legte Johann Heggi aus Roggwil einer Sendung ein Päckchen bei, das sie an Herrn Hindelang in Hornberg weiterleiten sollten. 109 Als die Brüder mit einer Lieferung Samuel Heers aus Glarus unzufrieden waren, schickten sie die Ware nicht etwa zurück, sondern weiter an einen Freund Heers in Reutlingen. 110 Die Zusammenarbeit unter Geschäftspartnern und mit Spediteuren und Fuhrleuten war somit ein wesentliches Element der Handelsorganisation und notwendig, um Entfernungen erfolgreich und möglichst kostengünstig überwinden zu können. Je nach Wahl der Transportmodalitäten und -wege konnten die Ausgaben für Fracht und Zoll erheblich variieren. Sparsamkeit zahlte sich hier nach Ansicht von Johann Anton und Johann Joseph Castell aus. Die beiden legten Wert darauf, dass Waren möglichst in einem Posten geliefert wurden, denn kleine sendungen würden Viele Spesen verursachen. 111 Gegenüber einem 102 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 476 (9.9.1824), Nr. 696 (24.10.1825), Nr. 1020 (25.8.1827). 103 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 253 (26.12.1832), Nr. 377 (21.1.1824), Nr. 1421 (26.11.1829). 104 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 496 (11.10.1824), Nr. 591 (26.3.1824). 105 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 283 (26.9.1833), Nr. 706 (14.11.1825). Vgl. allgemein zum Thema Landverkehr und Reisegeschwindigkeiten N ORTH , Kommunikation (wie Anm. 50), 12f. 106 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 706 (14.11.1825), Nr. 1080 (24.11.1827). 107 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 12 (8.10.1830). 108 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 283 (26.9.1833). 109 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1086 (30.11.1827). 110 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 915 (22.1.1827), Nr. 917 (23.1.1827). 111 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 556 (17.1.1825), zum Beispiel auch in Nr. 15 (24.10.1830). <?page no="620"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 621 Aachener Lieferanten klagten sie, es seien ihnen doppelt so hohe Kosten für die Fracht und den Zoll entstanden, weil er die Ware nicht nach Haslach, sondern über Umwege nach Freiburg habe transportieren lassen. 112 Gerade die Zölle bereiteten den Castell offenbar einiges Kopfzerbrechen und ließen sie nach Schlupflöchern suchen, mit denen die Abgaben zumindest reduziert werden konnten. So verschoben die Brüder eine Bestellung auf einen späteren Termin in der Hoffnung, daß in balde eine anderung im Zoll statt finden wird. 113 Orderten sie Ware in der Schweiz, so betonten sie immer wieder, die Lieferung müsse mit einem Ursprungsschein versehen sein, auf dem neben Inhalt und Gewicht vermerkt sei, dass es sich um selbst eigen fabricat, also direkt vom Produzenten verkaufte Güter handle, wodurch sich die Zollabgaben verminderten. 114 Bei anderen Bestellungen gaben sie an, wie die Ware zu deklarieren sei, etwa als Nähseyde [...] (was es auch wirklich ist). 115 Falsche Deklarationen konnten, wenn sie am Zoll entdeckt wurden, Probleme bereiten. So berichteten Johann Anton und Johann Joseph Castell den Basler Spediteuren Meyer & Socin, diese hätten eine Lieferung als ‚rohe Seide’ anstatt als ‚Seide’ bezeichnet. Deshalb wäre nur ein Gulden anstatt sechs Gulden Zoll angefallen. Da der Fehler jedoch aufgedeckt worden sei, hätten sie 13 Gulden Strafe bezahlen müssen, zudem sei es ihnen sehr unangenehm, dass sie künftig als fraudeur [Betrüger] angesehen würden. 116 Wie die Warenlieferungen wurde auch ein Teil der Bezahlung über Fuhrleute abgewickelt. Insgesamt sind in den Briefen rund 200 Barzahlungen mit Summen zwischen vier und 320 Gulden erwähnt. Der Durchschnittswert lag bei etwa 60 Gulden. Überbringer waren neben der Post die Fuhrleute und Boten, die die Castell auch für Warentransporte in Anspruch nahmen. 117 Das Bargeld ging vor allem an südwestdeutsche Lieferanten, nach Basel, teilweise auch in andere Schweizer Orte, jedoch nicht in das Bergische Land. Ausstände dort wurden mit Wechseln bezahlt. 118 Diese nahmen in den Briefen - sowohl was ihre Zahl als auch ihren Wert angeht - eine größere Bedeutung als die Barzahlungen ein. In gut 400 Briefen wurde die Bezahlung mit Wechseln im Durchschnittswert von etwa 250 Gulden erwähnt. Die Wechsel stammten überwiegend von Frankfurter Häusern wie Gontard & Söhne, Gebrüder Meyer oder Gebrüder Bethmann. 119 Nur in 112 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 966 (15.5.1827). 113 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 711 (22.11.1825). 114 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 506 (23.10.1824), Nr. 516 (27.11.1824). 115 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 49 (17.1.1831). 116 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 14 (12.10.1830). 117 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 84 (19.5.1831), Nr. 93 (18.6.1831), Nr. 105 (6.7.1831), Nr. 1403 (25.9.1829). 118 Vgl. zu Wechselgeschäften G ORIßEN , Harkort (wie Anm. 63), 243-250; R EININGHAUS , Iserlohn (wie Anm. 74), 346-349. 119 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 11 (8.10.1830), Nr. 115 (6.8.1831), 567 (10.2.1825). <?page no="621"?> Irmgard Schwanke 622 Ausnahmefällen sind Firmen anderer Städte erwähnt, so zum Beispiel in Augsburg Erzberger & Schmid, Johann Georg Halder und Lorenz Schätzler. 120 Am Beispiel der Bethmann lässt sich zeigen, dass die Castell die auf das Frankfurter Bankhaus ausgestellten Wechsel über die im oberrheinischen Herbolzheim ansässige Firma Kuenzer & Hettich bezogen. 121 Sie forderten dort beispielsweise am 9. September 1824 neun app[oint, Wechsel] in 2 Monath brief p[er] F[rank]furt über verschiedene Beträge an. In den folgenden Wochen bezahlten sie ihre Lieferanten mit Wechseln auf die Gebrüder Bethmann, die genau auf die gleichen Summen ausgestellt waren. 122 Neben Frankfurter Wechseln lieferten Kuenzer & Hettich zudem Wechsel auf Vevey. Mit diesen wurden in erster Linie Ausstände in der Schweiz und in Süddeutschland beglichen. 123 Als die Castell ausnahmsweise einen Veveyer Wechsel in das Bergische Land schickten, wiesen sie darauf hin, diesen könne der Empfänger in Italien einsetzen: die tratte p[er] Vevey [... können] Sie nach Italien, da es an den grenzen ist, wohl brauchen [...], wir haben gerad keine f[rank]furter haben kennen. 124 Glaubt man den Briefen der Castell, so scheint es immer wieder Schwierigkeiten gegeben zu haben, Wechselbriefe aufzutreiben. An Joseph Raschle in Wattwil schrieben die Brüder, sie müssten bar bezahlen, weil wir gegenwärtig kein Wechsel zu kaufen finden. 125 Ein anderes Mal äußerten sie ihm gegenüber, sie hätten wegen mangelnder Wechselbriefe nicht gleich zahlen können, weil selbe bei uns sehr rahr sind. 126 Neben der Barzahlung und der Einschaltung von Bankhäusern per Wechselbrief war es nicht unüblich, dass Johann Joseph und Johann Anton Castell mit einfachen Anweisungen an Dritte operierten. Sie beglichen beispielsweise eine Schuld in Höhe von 43 fl. 16 xr. gegenüber Carl Müllers Sohn in Lahr mit Bargeld im Wert von 15 fl. 53 xr. sowie einer Anweisung 120 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 271 (20.9.1833), Nr. 1033 (10.9.1827), Nr. 1154 (18.4.1828). Zu den Bankiersfamilien Halder, Schä(t)zler und Schmid vgl. im Augsburger Stadtlexikon, G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL / G ÜNTER H ÄGELE / R UDOLF F RANKENBERGER (Hrsg.), Augsburg 1998, 2. völlig neu bearbeitete und erheblich erweiterte Aufl., W OLFGANG Z ORN , Halder, 471f., G ODE K RÄMER / G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL , Schä(t)zler, 777f., W ILHELM L IEBHART , Schmid, 789. 121 Die Kuenzer waren eine alteingesessene Herbolzheimer Familie, die sich bereits Ende des 16. Jahrhunderts nachweisen lässt; vgl. Sippenbuch der Stadt Herbolzheim im Breisgau. Landkreis Emmendingen in Baden, A LBERT K ÖBELE (Hrsg.), Grafenhausen bei Lahr 1967, 446-460. 122 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 478 (9.9.1824), ferner zum Beispiel Nr. 484 (24.9.1824), Nr. 485 (24.9.1824), Nr. 487 (24.9.1824), Nr. 491 (26.9.1824). In einer Auflistung der Bethmann-Kunden bei Zellfelder finden sich für den Zeitraum 1812-1816 Kuenzer Biehler & Comp. in Herbolzheim; F RIEDRICH Z ELLFELDER , Das Kundennetz des Bankhauses Gebrüder Bethmann, Frankfurt am Main, im Spiegel der Hauptbücher (1738-1816), Stuttgart 1994, hier Anhang A58. 123 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 536 (15.12.1824), Nr. 540 (18.12.1824), Nr. 545 (25.12.1824). Ob Kuenzer & Hettich eine Niederlassung in Vevey oder nur enge Beziehungen dorthin hatten, bleibt unklar; zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 565 (5.2.1825), Nr. 568 (10.2.1825). 124 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 666 (28.8.1825). 125 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 164 (11.12.1831). 126 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1445 (5.3.1830). <?page no="622"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 623 auf einen Herrn Fischer, ebenfalls aus Lahr, über 27 fl. 23 xr.. An Fischer schrieben sie: da wir grad in Lahr etwas zu zahlen haben, waren wir so frey [...] eine anweisung[s]order Hr. G. F. Müller Carls Sohn auf Sie zu entnehmen, nehmlich f 27.30. Damit sei die aus zwei Einzelposten bestehende Schuld Fischers ihnen gegenüber beglichen. 127 Für die Brüder hatte dieses Verfahren den Vorteil, dass die Ausstände Fischers für sie erledigt waren. Stattdessen war es nun Sache Müllers, das Geld einzutreiben, was diesem möglicherweise leichter fiel, da er in der gleichen Stadt wie der Schuldner lebte. Dass diese Art des Zahlungsverkehrs allerdings nicht immer funktionierte, zeigen die Briefe ebenfalls. So schickten die Brüder Castell eine Anweisung auf einen Herrn Ruf in Elzach nach Aarau zurück, weil der sich geweigert hatte, ihnen den geforderten Betrag zu übergeben. 128 Johann Joseph und Johann Anton Castell selbst beglichen Schulden gegenüber Lieferanten unterschiedlich schnell und regelmäßig. Beispielsweise scheint die Firma Perola in Arona in der Regel relativ bald nach Ankunft der bestellten Ware vollständig bezahlt worden zu sein. 129 Mit Geschäftspartnern, von denen die Brüder sehr häufig bedient wurden, wurde dagegen nicht nach jeder Lieferung abgerechnet. Vielmehr schickten die Castell Wechsel, wenn sie gerade im besitz von solchen waren. 130 Von Zeit zu Zeit stellten sie dann Soll und Haben einander gegenüber und beglichen die Differenz. Dies zeigt die folgende Tabelle anhand der Korrespondenz mit einem der wichtigsten Lieferanten der Castell, dem Seidenfabrikanten Colsman. Sie entspricht in ihrer Struktur in etwa den Aufzeichnungen des Handelsbuches. Datum Soll Bezahlung durch Gebrüder Castell Datum Haben Warensendung durch Colsman 13.8.1825 1.043 fl. 24 xr. 10.9.1825 0.725 fl. 13.9.1825 500 fl. Wechsel 4.10.1825 400 fl. Wechsel 8.10.1825 1.342 fl. 10 xr. 26.10.1825 997 fl. 44 xr. Wechsel 14.11.1825 270 fl. Wechsel 24.11.1825 0.483 fl. 50 xr. 26.11.1825 0.924 fl. 10 xr. 1.12.1825 350 fl. Wechsel 127 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 554 (17.1.1825), Nr. 555 (17.1.1825) 128 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1296 (26.12.1828), Nr. 1313 (7.2.1829). 129 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 686 (6.10.1825), Nr. 839 (13.10.1826). 130 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 127 (30.8.1831). <?page no="623"?> Irmgard Schwanke 624 10.12.1825 0.319 fl. 10 xr. 5.1.1826 1.506 fl. Wechsel 10.1.1826 1.231 fl. 47 xr. 24.2.1826 500 fl. Wechsel [Summe] [4.523 fl. 44 xr.] Summe 6.069 fl. 31 xr. 26.3.1826 [Datum des Briefes] 20 % Rabatt auf nebige 6.069 fl. 31 xr. = 1.213 fl. 54 xr. 26.3.1826 [Datum des Briefes] 331 fl. 53 xr. Wechsel Summe 6.069 fl. 31 xr. Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 762 (26.3.1826) Den zwischen August 1825 und Januar 1826 von Colsman gelieferten Waren im Wert von 6.069 fl. 31 xr. standen zunächst Wechsel in Höhe von 4.523 fl. 44 xr. gegenüber. Abzüglich eines Rabatts von 20 Prozent blieb eine Restschuld von 331 fl. 53 xr., die Johann Joseph und Johann Anton Castell ebenfalls mit einem Wechsel bezahlten. Damit war das Konto zum ersten Mal seit über einem halben Jahr ausgeglichen. Ähnliche Aufstellungen finden sich in den Korrespondenzen der Castell immer wieder. 131 Das Handelsbuch spiegelt damit die gängige Praxis der Zeit wider, die ein gewisses Vertrauen zwischen den Geschäftspartnern und Wissen um die Liquidität der Gegenseite voraussetzte. 132 5. Reklamationen und Preise Vertrauen bedeutete keineswegs, dass die Beziehungen zwischen Lieferanten und Kunden konfliktfrei verliefen und die Geschäftsbriefe Johann Joseph und Johann Anton Castells von liebe zur einigkeit geprägt waren. Denn obwohl die Brüder angeblich unangenehme Corespodenz hassten, ließen sie keine Gelegenheit aus, ihren Lieferanten mit Reklamationen zuzusetzen. 133 In mindestens einem Fünftel der Briefe äußerten sie Beschwerden. Besonders häufig wurde Unmut über die unzureichende Qualität der Waren laut. Textilien waren zu blass, von falschem Maß, zu stark geprest und deshalb zu steif, schwarzgrün statt dunkelgrün, in der Farbe nicht lebhaft genug, nicht schön gefärbt, sondern fleckig, zu leicht in der qualitet & zu stark apretirt, um nur 131 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1135 (29.2.1828), Nr. 698 (26.10.1825). 132 Vgl. G ORIßEN , Harkort (wie Anm. 63), 241f.; S CHWANKE , Fremde (wie Anm. 7), 178. 133 Zitate wie in Anm. 1 und 3. <?page no="624"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 625 einige Beispiele zu nennen. 134 Draht war zu hart, ganz brüchig und nicht schön rund gezogen, Kaffee schimlich und faulschmeckend. 135 Immer wieder kritisierten die Castell zudem, dass andere als die bestellte Ware geliefert worden sei. So schickten Meyer & Feer in Aarau statt schwarzem und weißem nur schwarzes Band, worauf die Brüder klagten: kennen sie denn die Leut niemals nach Vorschrift bedienen, dieses ist gar ein wahres Elend. 136 Metzger & De Barry in Barmen sandten Seidentücher in falschen Farben, Schmid, Kölliker & Gebr. Hotz in Thalwil Sacktücher in anderen als den gewünschten Mustern, obwohl die Castell die Bestellung im vergangenen Sommer schon aufgegeben hatten und zur fabrication doch Zeit genug gewesen wäre. 137 Ferner wurden Preissteigerungen und Abweichungen vom vereinbarten Preis beklagt. 138 Verärgert zeigten sich Johann Joseph und Johann Anton Castell auch über verspätete Lieferungen. Gegenüber Luchsinger & Streiff in Glarus äußerten sie in einem solchen Fall, sie fänden es gar nicht solid und schön, dass die Bestellung nicht rechtzeitig ausgeführt worden sei. 139 An Meebold in Heidenheim an der Brenz schrieben sie: allein lieber Herr, Waren, die wir vor einem ½ Jahr bestellten, kennen nicht mehr annehmen. 140 Unmut riefen zudem schlechte Verpackungen hervor. 141 Besonders unzufrieden waren die Brüder in dieser Beziehung mit den Lieferungen des Seidenfabrikanten Colsman. 1826 wurde geklagt, die Ware sei durch Nägel beschädigt gewesen. Im darauffolgenden Jahr erreichte die Castell ein zusammengefallenes Kistchen, in welchem einige Tücher Schaden genommen hatten. Auch 1828 wurden durch Nägel entstandene Schäden reklamiert. Und 1829 schrieben die Brüder schließlich: Wir wisen ihnen hierin kein andere Rath zu geben, als den Deckel ferners nicht mehr zuzunageln, sondern mit Strick zu binden, so wie es die Züricher und Mayländer Seydenfabrikanten thun, von welchen wir dan niemahl keine beschädigte Waare erhalten. 142 Probleme bereiteten Johann Joseph und Johann Anton Castell schlussendlich Lieferungen, die sie zumindest im ausgeführten Umfang gar nicht in 134 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1117 (28.1.1828), Nr. 1 (21.9.1830), Nr. 549 (1.1.1825), Nr. 1252 (22.10.1828), Nr. 184 (3.3.1832), Nr. 386 (6.2.1824), Nr. 10 (8.10.1830). 135 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 28 (16.11.1830), Nr. 613 (9.5.1825). 136 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1239 (21.9.1828). 137 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 240 (2.11.1832), Nr. 745 (10.2.1826). 138 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 30 (27.11.1830), Nr. 285 (28.9.1833), Nr. 1399 (13.9.1829). 139 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1463 (17.5.1830). 140 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1124 (18.2.1828). Vgl. R EINER F LIK , Die Textilindustrie in Calw und Heidenheim 1750-1870. Eine regional vergleichende Untersuchung zur Geschichte der Frühindustrialisierung und der Industriepolitik in Württemberg, Stuttgart 1990, zum Beispiel 149-168. 141 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 262 (10.9.1833). 142 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 844 (30.10.1826), Nr. 1095 (24.12.1827), Nr. 1301 (26.12.1828), Nr. 1314 (17.2.1829). <?page no="625"?> Irmgard Schwanke 626 Auftrag gegeben hatten. Offenbar war es nicht unüblich, dass Produzenten und Händler mehr Ware als bestellt versandten, in der Hoffnung, der Kunde würde diese doch behalten. Beispielsweise schickte Jacob Gyr in Uster bei Zürich zu viele Tücher, Schöpfner in Lahr über 35 statt zehn Pfund Tabak. 143 An Johann Heggi in Roggwil schrieben die Castell 1826: [...] allein sie überheufen uns mit Waar, da sie uns anstatt 180 Stük 470 senden. 144 Dennoch lieferte Heggi im darauffolgenden Jahr nicht georderte Ware und verdoppelte 1830 eigenmächtig eine Bestellung. 145 Gegenüber Schmid, Kölliker & Gebr. Hotz klagten die Castell, man könne nicht alles annehmen, was man einem zuschickt. 146 [...] wollen sie aber gern die Waare in der Welt herumsenden und unanehmlichkeiten sich aussetzen, so ist es Ihr Eigen Schuld. 147 Abgesehen von brieflichen Klagen bestanden verschiedene Möglichkeiten, auf fehlerhafte oder unerwünschte Lieferungen zu reagieren. Gelegentlich weigerten sich die beiden Elzacher Handelsmänner, Waren zu behalten. Entweder schickten sie diese direkt zurück 148 oder sie fragten bei den Lieferanten an, was damit weiter geschehen solle. 149 Als eine Art von Kompromissangebot war es zu verstehen, wenn die Brüder vorschlugen, die Ware auf Commission zu behalten, sie also zunächst anzunehmen und zum Weiterverkauf anzubieten, jedoch vorbehaltlich der Rückgabe, sollte der Absatz nicht möglich sein. 150 Dass die Reaktionen der Castell von Geschäftspartnern nicht immer unwidersprochen hingenommen wurden, zeigt eine Auseinandersetzung mit Ferdinand von Waldkirch aus Schaffhausen, die sich über mehr als ein Jahr hinzog. Am Anfang stand im November 1827 die Rückgabe von Taffet, 151 der nicht den Vorstellungen Johann Joseph und Johann Anton Castells entsprach. Von Waldkirch akzeptierte dies jedoch nicht und sandte die Ware wieder an die Brüder in Elzach, die wiederum schickten sie erneut nach Schaffhausen zurück. Daraufhin drohte von Waldkirch offenbar mit einem Gerichtsverfahren, was die Castell zu der Äußerung veranlasste, mit dieser Ware könnten sie vor jedes Handelsgericht ziehen. Dazu kam es zwar nicht, der Taft wurde jedoch noch einmal nach Elzach geschickt und bereitete den Brüdern allemal neuen Zorn, sobald sie ihn ansahen. Ein letztes Mal wurde der Stoff im März 1829 erwähnt, als die Castell in einem Brief an 143 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 159 (17.11.1831), Nr. 41 (20.12.1830). 144 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 780 (29.5.1826). 145 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 906 (9.1.1827), Nr. 29 (26.11.1830). 146 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 896 (23.12.1826). 147 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 763 (26.3.1826). 148 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 955 (12.4.1827), Nr. 1509 (22.9.1830). 149 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 62 (28.2.1831), Nr. 94 (20.6.1831). 150 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1131 (29.2.1828), Nr. 1224 (16.8.1828), Nr. 206 (30.6.1832). 151 Taft, ein Seidengewebe; vgl. W ALTHER VON H AHN , Die Fachsprache der Textilindustrie im 17. und 18. Jahrhundert, Düsseldorf 1971, 224. <?page no="626"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 627 von Waldkirch ankündigten, ihn nun wieder per Post zurückzusenden. 152 Damit brach die Korrespondenz mit von Waldkirch ab. Offenbar bestand kein Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit. Behielten die Brüder die in ihren Augen mangelhafte Ware, so nahmen sie häufig Preisabzüge vor. 153 Ob die Reklamationen dabei immer berechtigt waren oder eher als Strategie gesehen werden müssen, um Nachlässe durchsetzen zu können, kann nicht endgültig beantwortet werden. Weiteten sich Beschwerden nicht - wie im Falle von Waldkirch - zu regelrechten Streitigkeiten aus, die eine ausgedehnte Korrespondenz verursachten, in welcher die Brüder Äußerungen ihrer Kontrahenten wiederholten, so bleiben die Reaktionen der Geschäftspartner im Dunkeln. Standardisiert erscheinende Reklamationen, die beinahe gebetsmühlenartig immer wieder gegenüber den verschiedensten Produzenten vorgebracht wurden, etwa der Hinweis auf die nicht lebhaften Farben von Textilien, nähren allerdings den Verdacht, dass Beschwerden für die Castell zu den geschäftlichen Strategien in Preisverhandlungen gehörten. Es war eine absolute Ausnahme und wohl als Lob aufzufassen, wenn die Brüder schrieben, sie seien mit einer Lieferung so ziemlich zufrieden. 154 Im Übrigen scheinen sich auch die Kunden des Elzacher Handelshauses nicht mit Reklamationen zurückgehalten zu haben. Nach Genf schrieben die Brüder, sie könnten sich gar nicht erklären, dass die von ihnen gelieferten Tücher von schlechter Qualität sein könnten, gegenüber einem anderen Kunden äußerten sie sich darüber erstaunt, dass die letzte Tuchsendung nicht zur Zufriedenheit ausgefallen sei. 155 Abgesehen von Preisabzügen aufgrund von Qualitätsmängeln feilschten Johann Joseph und Johann Anton Castell auch sonst äußerst hartnäckig. Regelmäßig baten sie um Lieferungen zum aller billigst[en] Preys. 156 Als Anerkennung für einen Preisnachlass stellten die beiden gerne künftige Bestellungen in Aussicht oder drohten, nichts mehr bestellen zu können, sollten die Preise nicht reduziert werden. 157 Auf der anderen Seite kündigten sie allerdings auch an, bei Lieferung schöner Ware angemessen bezahlen zu wollen: [...] thun sie alles moglich auf daß unsere bestellung lebhafter werden, in die Zukunft wollten wir dan uns aufschlag lieber gefallen laßen. 158 Auch mit dem Hinweis auf ihre Stellung als Zwischenhändler versuchten die Brüder, Preisnachlässe zu erwirken. Nach Aarau schrieben sie, sie wollten das angebotene 152 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1078 (19.11.1827), Nr. 1094 (24.12.1827), Nr. 1108 (14.1.1828), Nr. 1330 (14.3.1829). 153 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 889 (23.12.1826), Nr. 184 (3.3.1832). 154 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1480 (8.7.1830). 155 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 369 (16.5.1834), Nr. 354 (10.4.1834). 156 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 272 (20.9.1833). 157 Zum Beispiel Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 432 (28.5.1824), Nr. 687 (6.10.1825). 158 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 593 (26.3.1824). <?page no="627"?> Irmgard Schwanke 628 Band an Juden weiterverkaufen, es müsse ihnen deshalb jedoch zu einem günstigeren Preis als eben diesen Juden angeboten werden. 159 Neben allgemein gehaltenen Bitten um möglichst billige Lieferungen nahm das Aushandeln konkreter Rabatt- und Skontosätze breiten Raum in der Korrespondenz ein. Es drehte sich dabei teilweise um Skonti im eigentlichen Sinne, die bei Barzahlung innerhalb einer bestimmten Frist gewährt wurden, wobei die Brüder dies offenbar nicht allzu genau nahmen. So schrieben sie an einen Kurzwarenlieferanten in Stuttgart, der sich wohl über einen Preisabzug beschwert hatte: [...] wegen Verflosen Zeit des Sconto seyn Sie selbst Schuldig, wäre Ihr Reisender zur Zeit gekommen, was Sie uns allzeit meldeten, so würde diese kleine Sach gleich bezalt und auseinander gemacht worden seyn. 160 Als Skonti bezeichneten die Castell ferner verschiedene Preisnachlässe, die aus nicht immer erkennbaren Gründen ausgehandelt wurden. Die hohen Rabatte bei der Firma Colsman in Höhe von 18 bis 22 Prozent beruhten anscheinend darauf, dass die Brüder bedeutende [...] abnehmer waren. 161 Auch der Hinweis auf günstige Angebote von Konkurrenten konnte Abzüge begründen. In einem Fall zeigt das Handelsbuch, dass dies mit der Wahrheit nicht allzu viel zu tun haben musste. Gegenüber Luchsinger & Streiff wurde ein Rabatt damit gerechtfertigt, dass man die gleiche Ware bei Friedolin Heer günstiger bekommen habe. In einem Brief an Heer vom gleichen Tag schrieben Johann Joseph und Johann Anton Castell dagegen, die Produkte seien bei Luchsinger & Streiff billiger gewesen, weshalb sie einen Preisabzug vornähmen. 162 Dies war allerdings ein recht risikoreiches Unterfangen, da beide Lieferanten aus Glarus kamen und eine Überprüfung der Angabe somit recht einfach gewesen wäre. Gelegentlich wurden Preisreduktionen zudem mit der schlechten Geschäftslage und harter Konkurrenz begründet, die es schwer mache, Waren mit Gewinn weiterzuverkaufen. Bezüglich eines Abzugs von 27 Gulden äußerten die Brüder gegenüber einem Sacktuchlieferanten: [...] da wir diese Tücher noch auf 1/ 8 unter dem Ankauf hergeben müßen und so noch unser eigen Geld darauf verlieren kennen, zudem gar kein Sacktücher mehr verkaufen, weil viele Schweitzer selbst die Waaren hirher führen und solche sehr Niedrig verstümplen, es kann nicht anderst seyn, als diese leute müßen den fabricanten nichts bezahlen oder alle 3 Jahr falliren, auf diese art nur zu denken ist unsere 159 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 425 (10.5.1824). Siehe auch J ACOB T OURY , Jüdische Textilunternehmer in Baden-Württemberg 1683-1938, Tübingen 1984, zur Zeit bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 1-84. 160 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 79 (18.5.1831). 161 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1182 (8.6.1828). 162 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1505 (17.9.1830), Nr. 1506 (17.9.1830). <?page no="628"?> … den wir haßen die unangenehme Corespodenz ... 629 Sache nicht, und so kann man mit diesen boswichten nicht mehr concuriren, über dies wird man von niemand mehr bezahlt. 163 6. Schluss Das Handelsbuch der Brüder Johann Joseph und Johann Anton Castell gewährt Einblicke in vielfältige Aspekte der Warendistribution in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es beleuchtet am Beispiel regionaler Zwischen- und Detailhändler den Warenbezug insbesondere bei Produzenten, aber auch bei Zwischen- oder Großhändlern, in geringerem Umfang den weiteren Absatz dieser Waren. Zwar stellt man bei den Castell eine gewisse Konzentration auf den Textilbereich fest, im Grunde waren die Brüder jedoch Generalisten. Sie handelten mit diversen Produkten und waren offenbar weder auf den Verkauf im Detail noch en gros festgelegt. Der besondere Reiz des Buches liegt in der geographischen Struktur der Geschäftsbeziehungen sowie der Verbindung von Haupt- und Briefkopierbuch. Während das Hauptbuch einen Überblick über den Umfang des Warenaustauschs mit ausgewählten Geschäftspartnern gibt, erlauben die Briefkopien vergleichsweise detaillierte Analysen von Handelsstrategien und -praktiken, die anhand eines reinen Hauptbuches kaum möglich wären. So informiert das Buch im Hinblick auf die Lieferantenseite über den Einsatz von Handelsreisenden, den Gebrauch von Musterbüchern und Bestellnummern. Ferner zeigen die Briefe, wie die Partner geschickt versuchten, Transaktionen möglichst zum eigenen Vorteil abzuwickeln, sei es, dass Lieferanten mehr Ware als verlangt schickten oder Abnehmer die Preise zu drücken versuchten. Reklamationen scheinen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Geschäftsstrategie gewesen zu sein. Anhand der Briefe lässt sich einmal mehr die Bedeutung sozialer Netzwerke für den Handel zeigen. Dabei bestätigen sich die Ergebnisse jüngerer Studien, nach denen unter zugewanderten savoyischen Kaufleuten die Landsmannschaft nur eine von mehreren Kategorien war, die bei der Pflege von Handelsbeziehungen zum Tragen kam. 164 Zwar bestimmte die savoyische Herkunft in vielfältigen Zusammenhängen das Leben der Brüder Castell. Private und geschäftliche Beziehungen zu Landsleuten wurden aufrecht erhalten und gepflegt. Gleichzeitig kann die Familie jedoch auch in der 163 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 698 (26.10.1825). Ähnliche Klagen in den Briefen Nr. 679 (13.9.1825), Nr. 777 (7.5.1826). 164 M ARK H ÄBERLEIN / I RMGARD S CHWANKE / E VA W IEBEL / M ARTIN Z ÜRN , Fremde in der frühneuzeitlichen Stadt. Integration und Abgrenzung in Südwestdeutschland und Pennsylvania, in: Mitteilungen. Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg 10 (2002), 9-42, bes. 14-20; S CHWANKE , Fremde (wie Anm. 7), zum Beispiel 191f., 265. <?page no="629"?> Irmgard Schwanke 630 neuen Heimat als sozial und wirtschaftlich integriert gelten. Dies machen Heiratsverbindungen und Patenschaften wie die Kontakte zu den in den Briefen quantitativ weit überwiegenden nichtsavoyischen Geschäftspartnern deutlich. Ihnen gegenüber zählte die persönliche Reputation, konkret vor allem der Ruf, Lieferungen zuverlässig zu bezahlen. Regelmäßige Reklamationen taten diesen Beziehungen offenbar keinen Abbruch, solange für beide Seiten die Vorteile der Transfers überwogen. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Handelsbuches war es Johann Joseph und Johann Anton Castell gelungen, ein Handelsnetz aufzubauen, das savoyische Partner zwar einbezog, jedoch keineswegs von diesen dominiert wurde. <?page no="630"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten. Die mennonitischen Bauernfamilien Möllinger und Kägy in Rheinhessen und in der Pfalz (1710-1846) 1 Frank Konersmann 1. Aspekte einer Sozialgeschichte Handel treibender Bauern Dass manche Bauern bereits im Hoch- und Spätmittelalter nicht nur eine marktorientierte Agrarproduktion betrieben, sondern auch als Händler von Agrarprodukten aktiv waren, ist schon seit längerem bekannt. 2 Es bestehen jedoch bis heute nur wenige gesicherte Kenntnisse über die jeweiligen betrieblichen Bedingungen und Chancen bäuerlichen Agrarhandels im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit. 3 Da dieses Desiderat mit Einschränkungen selbst noch für das 18. und frühe 19. Jahrhundert festzustellen ist, dürften ihm mehrere Ursachen zugrunde liegen. Dazu gehören, erstens, die regional sehr unterschiedliche Quellenlage, zweitens, die nach wie vor bestehenden Defizite einer deutschen Sozialgeschichte der Bauern, 4 und drittens, die zunehmende inhaltliche und methodische Spezialisierung 1 Für die kritische Lektüre des Aufsatztyposkriptes danke ich Stefan Gorißen und Niels Grüne in Bielefeld, Karin Gottschalk in Frankfurt und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt in Hamburg. 2 Ich verweise auf einige Überblicke: H ERMANN K ELLENBENZ , Bäuerliche Unternehmertätigkeit im Bereich der Nord- und Ostsee vom Hochmittelalter bis zum Ausgang der neueren Zeit, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 49 (1962), 1-40; F RANZ I RSIGLER , Zum Kölner Viehhandel und Viehmarkt im Spätmittelalter, in: Internationaler Ochsenhandel (1350-1750). Akten des 7th International Economic History Congress zu Edinburgh 1978, E KKEHARD W ESTERMANN (Hrsg.), Stuttgart 1979, 225-227; T HOMAS R OBISHEAUX , The Peasantries of Western Germany, 1300-1750, in: The Peasantries of Europe from the Fourteenth to the Eighteenth Centuries, T OM S COTT (Hrsg.), London / New York 1998, 111-142, hier 120-127; T OM S COTT , Regional Identity and Economic Change. The Upper Rhine, 1450-1600, Oxford 1997; K LAUS -J OACHIM L ORENZEN - S CHMIDT , Bauern handeln über See. Die Westküste Nordelbiens als Beispielsgebiet (15.-18. Jahrhundert), in: Zur See? Maritime Gewerbe an den Küsten von Nord- und Ostsee, H EIDE G ERSTEN- BERGER / U LRICH W ELKE (Hrsg.), Münster 1999, 13-30. 3 Eine neuere Fallstudie, die auch den wirtschaftlichen Handlungsspielraum einzelner Bauernfamilien beleuchtet, hat jüngst G OVIND P. S REENIVASAN , The Peasants of Ottobeuren, 1487-1726. A Rural Society in Early Modern Europe, Cambridge 2004, vorgelegt. 4 Dieses von Christof Dipper und Ian Farr in den 1980er Jahren konstatierte Desiderat gilt mit Einschränkungen bis heute; vgl. I AN F ARR , ‚Tradition‘ and the Peasantry. On the Modern Historiography of Rural Germany, in: The German Peasantry. Conflict and Community in Rural Society from the Eighteenth to the Twentieth Centuries, R ICHARD J. E VANS / W ILLIAM R. L EE (Hrsg.), London / Sydney 1986, 1-36; C HRISTOF D IPPER , Bauern als Gegenstand der Sozialgeschichte, in: Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 4, Soziale Gruppen in der Geschichte, W OLFGANG S CHIEDER / V OLKER S ELLIN (Hrsg.), Göttingen 1987, 9-33. <?page no="631"?> Frank Konersmann 632 in der Erforschung ländlicher Gesellschaften. Diese unbefriedigende Forschungslage zeigt sich auch in dem weitgehenden Fehlen neuer Überblicke, 5 in denen der Handel mit Agrarprodukten und seine bäuerlichen Protagonisten Beachtung gefunden haben. 6 Immerhin vermitteln die nach wie vor seltenen Betriebsstudien nähere Einblicke in die Betriebsführung und Vermarktungsstrategien von Bauern. Diese Studien beruhen zumeist auf Schreibebüchern, Inventaren und dem Schriftverkehr von Bauern, Quellen mithin, die sich zumeist in privater Überlieferung befinden. 7 Obwohl gerade die Schreibebücher auch reichhaltige Informationen sowohl über die sozialen und kulturellen Bedingungen als auch über die Faktoren der Handel treibenden Bauernfamilien enthalten, sind solche Aspekte in den Betriebsstudien bisher nur selten berücksichtigt worden. Sie finden hingegen in neueren Dorf- und Kirchspielstudien Beachtung, die sich vor allem mit sozialer Differenzierung, Familienstrategien zur Statuserhaltung, neuartiger Gruppenbildung und Formen wirtschaftlicher Kooperation zwischen den ländlichen Gruppen befassen. 8 Diese Mikrostudien blenden ihrerseits allerdings weitgehend die jeweiligen Vermarktungsbedingungen für bäuerliche Agrarprodukte und auch die Beteiligung von Bauern im Agrarhandel aus. Die genannten Aspekte sollen in diesem Beitrag am Beispiel von zwei Bauernfamilien aus Rheinhessen und der Pfalz zusammengeführt werden, um den Stellenwert von Familie, Verwandtschaft und Glaubensgemeinschaft für die Vermarktungsstrategien von Bauern und für ihre Aktivitäten im Ag- 5 Folgende Überblicksdarstellungen bieten aber Anknüpfungsmöglichkeiten: R OLF K IEßLING , Markets and Marketing, Town and Country, in: Germany. A New Social and Economic History, Bd. 1, 1450- 1630, B OB S CRIBNER (Hrsg.), London / New York / Sydney / Auckland 1996, 145-179 und H EIDE W UNDER , Agriculture and Agrarian Society, in: Germany. A New Social and Economic History, Bd. 2, 1630-1800, S HEILAGH O GILVIE (Hrsg.), London / New York / Sydney / Auckland 1996, 63-99. 6 Eine erste Bestandsaufnahme zu diesem Forschungsfeld unternahm eine Tagung des Arbeitskreises für Agrargeschichte unter dem Titel „Bauern als Händler. Ökonomische Diversifizierung und soziale Differenzierung bäuerlicher Agrarproduzenten im Zuge der Marktintegration (15.-19. Jahrhundert)“ im Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen vom 23. bis 24. Juni 2006, die Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt und Frank Konersmann vorbereitet haben. Eine Publikation der Referate ist geplant. 7 Einer der wirtschaftshistorischen Pioniere dieses Forschungszweiges ist Klaus-Joachim Lorenzen Schmidt. Es sei auf zwei seiner Aufsätze verwiesen: K LAUS -J OACHIM L ORENZEN S CHMIDT , Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte bäuerlicher Betriebe in Schleswig-Holstein, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 109 (1984), 151-165, und D ERS ., Anschreibebuchforschung aus den holsteinischen Elbmarschen, in: Bäuerliche Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, D ERS . / B JORN P OULSEN (Hrsg.), Neumünster 1992, 147-163. Zu verweisen ist auch auf M ICHAEL K OPSIDIS , Peasant Accounting Books in the Context of a Market- Oriented Agricultural Development: The Case of Westphalia 1750 to 1880, in: Writing Peasants. Studies on Peasant Literacy in Early Modern Northern Europe, K LAUS -J OACHIM L ORENZEN - S CHMIDT / B JORN P OULSEN (Hrsg.), Gylling 2002, 130-150. 8 Ich verweise exemplarisch auf die Studien von D AVID W AREN S ABEAN , Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge 1990; R AINER B ECK , Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993; J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des onabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650- 1860, Göttingen 1997, 2. Aufl.; G UNTER M AHLERWEIN , Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen, 1700-1850, Mainz 2001. <?page no="632"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 633 rarhandel zu beleuchten. Die beiden ausgewählten mennonitischen Bauernfamilien Möllinger und Kägy können dem Typus des Bauernkaufmanns zugerechnet werden. 9 Er trat in Südwestdeutschland in den 1740er Jahren in Erscheinung, und seine Protagonisten übernahmen in den Prozessen der Kommerzialisierung von Agrarprodukten und zunehmenden Verflechtung der Agrarmärkte vielfältige Funktionen. 10 Für diese Bauernkaufleute ist es kennzeichnend, dass sie Agrarproduktion, ländliches Gewerbe und Agrarhandel miteinander kombinierten. In ihrem Betrieb nahm die Brennerei verbunden mit ganzjähriger Stallhaltung eine Schlüsselfunktion ein, denn sie erlaubte die Haltung großer Viehbestände und dank des vermehrten Dungs eine erhebliche Steigerung der Bodenerträge. 11 Nicht zuletzt durch diese Betriebsumstellung errangen Bauernkaufleute von den 1770er Jahren an in der gesamten südwestdeutschen Region eine führende Rolle in der Produktion und im Vertrieb von Branntwein, Essig, Mast- und Zuchtvieh, Saatgut für Futterpflanzen und Weizen. Zu den sozialen Grundlagen der ausgedehnten Marktproduktion und des weitläufigen Agrarhandels von Bauernkaufleuten gehörten - so die hier zu erläuternde These - von Anfang an ihre Familie, ihre Verwandtschaft und lange Zeit auch konfessionelle Bindungen an ihre Glaubensgemeinschaft. 12 Das gilt nicht nur für die zunächst in dieser Region zahlenmäßig stark vertretenen mennonitischen, sondern auch für die etwas später häufiger auftretenden reformierten und lutherischen Bauernkaufleute. Diese Hypothese findet in konzeptionellen Überlegungen Jürgen Kockas einen Rückhalt, der Familie und Verwandtschaft einen hohen Stellenwert in der Hinwendung zu einem kapitalistischen Wirtschaftsverhalten im späten 18. Jahrhundert beigemessen hat. 13 Seiner Einschätzung nach übernahm die Familie wesentliche 9 Diesen Bauerntypus habe ich erstmals vorgestellt in: F RANK K ONERSMANN , Existenzbedingungen und Strategien protokapitalistischer Agrarproduzenten. Bauernkaufleute in der Pfalz und in Rheinhessen (1770-1860), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 13 (2002), 62-86. 10 Über diesen Aspekt: F RANK K ONERSMANN , Entfaltung einer agrarischen Wachstumsregion und ihre ländlichen Akteure am nördlichen Oberrhein (1650-1850), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 154 (2006), 271-316. Bezogen auf die sich dem Tabakanbau zuwendenden Klein- und Parzellenbauern am Oberrhein: N IELS G RÜNE , Agricultural Commercialisation and Social Differentiation in Rural Society: A Comparative View on Northern South-west Germany, c. 1770-1860; dieser Beitrag erscheint in einem von Georg Fertig herausgegebenen Sammelband. 11 Vgl. F RANK K ONERSMANN , Bäuerliche Branntweinbrenner. Ihre Schlüsselrolle in der Agrarmodernisierung des deutschen Südwestens (1740-1870), erscheint in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 107 (2009). 12 Es handelt sich um eine der Thesen, die meiner Habilitationsschrift zugrunde liegen. Sie trägt den Arbeitstitel: Bauernkaufleute in einer agrarischen Wachstumsregion. Bedingungen, Faktoren und Akteure wirtschaftlicher Wachstumsdynamik in der Pfalz, in Rheinhessen und am nördlichen Oberrhein (1740-1880). Die Habilitationsschrift wird an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld eingereicht. 13 Vgl. J ÜRGEN K OCKA , Familie, Unternehmer und Kapitalismus. An Beispielen aus der frühen deutschen Industrialisierung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 24 (1979), 99-135, hier 100. <?page no="633"?> Frank Konersmann 634 „ökonomische Funktionen“, 14 um die unterschiedlichen Risiken frühkapitalistischer Entwicklung zu überwinden und darüber hinaus erfolgreich zu wirtschaften. Zu diesen Funktionen gehörten neben der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten die Rekrutierung verlässlicher Mitarbeiter aus der näheren Verwandtschaft, Informationsbeschaffung und Kontaktvermittlung, Akkumulation von Kapital innerhalb der Familie und Erweiterung verfügbaren Kapitals durch geschickte Heiratspolitik, Gewährleistung günstiger Kredite sowie solidarische Hilfe in Grenzsituationen und Notfällen. Insbesondere der Aspekt der Solidarität hat Kocka dazu motiviert, auf die Potentiale „nichtfamilialer Solidaritätsgemeinschaften“ von „Minoritäten, Religionsgemeinschaften und Sekten“ hinzuweisen. 15 Ihre sozialen Netzwerke übernahmen - hierin vergleichbar mit Familien - ökonomische Funktionen, und sie verfügten wegen ihrer räumlich weit verstreuten Siedlungsweise über ein „gut ausgebildetes Nachrichtensystem“. 16 Entsprechend diesen Vorüberlegungen sollen im folgenden am Beispiel der mennonitischen Bauernfamilien Möllinger und Kägy zunächst die durch die mennonitische Glaubensgemeinschaft gesetzten Rahmenbedingungen für ein marktorientiertes Wirtschaftshandeln der Bauern beleuchtet werden, um dann die ökonomischen Funktionen von Familie und Verwandtschaft zu erschließen. Im Anschluss rücken Überschneidungen und Abweichungen in der räumlichen Reichweite verwandtschaftlicher Netzwerke und Geschäftsradien der Bauernkaufleute unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen Dimension in den Vordergrund. Abschließend sollen das Ausmaß der Rollendiversifikation in den ausgewählten Bauernfamilien mit den Folgen für die Beziehungen der Bauernkaufleute zu ihrer Glaubensgemeinschaft, Verwandtschaft und Familie erörtert werden. 2. Mennonitische Glaubensgemeinschaft und marktorientiertes Wirtschaftshandeln der Bauernfamilien Möllinger und Kägy Die aus der Schweiz geflüchteten täuferischen Vorfahren der Bauernfamilien Möllinger und Kägy siedelten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zunächst auf Einzelgehöften zwischen Heidelberg und Mannheim an. 17 14 K OCKA , Familie (wie Anm. 13), 100. 15 K OCKA , Familie (wie Anm. 13), 122. 16 K OCKA , Familie (wie Anm. 13), 113, Anm. 29 17 Das geht aus den genealogischen Aufstellungen für die beiden Familien hervor, die sich in der Privatüberlieferung der Familie Kägy auf dem Bolanderhof befinden. Darüber hinaus verweise ich erstens auf die „Familiennachrichten“, die Martin Möllinger 1766 verfaßte. Sie sind abgedruckt in: G ERHARD H EIN , Beiträge zur Familiengeschichte der pfälzisch=hessischen Mennonitengemeinden, in: Christli- <?page no="634"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 635 Im Unterschied zu den meisten ihrer Glaubensangehörigen, die weitgehend mittellos die Schweiz verlassen hatten und deshalb auf Tagelohndienste in den Zufluchtsgebieten und auf Spenden ihrer niederländischen Glaubensverwandten angewiesen waren, 18 verfügten Ulrich Möllinger und Felix Kägy offenbar noch über genügend eigenes Geld, um jeweils ein Gehöft im Umfang von etwa 40 Hektar im Temporalbestand zu pachten. Diese Gehöfte gehörten neben einigen anderen Teilbetrieben zu dem jeweils etwa 200 Hektar umfassenden Kirschgarthäuserhof und Rohrhof. 19 Auffallend ist an diesen beiden wohlhabenderen mennonitischen Familien, dass ihre Vorfahren in den ersten drei Generationen häufig die gepachteten Güter wechselten, bevor sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts Einzelgehöfte und Höfe auf der Gemarkung von Dörfern in Rheinhessen, in der Vorder- und in der Nordpfalz im Erbbestand pachteten. Sie verhielten sich im Prinzip ähnlich wie die Mehrheit ihrer ärmeren Glaubensangehörigen, die zunächst nur selten länger als 10 bis 15 Jahre in einem Dorf wohnten. 20 Diese unstete Existenz dürfte vor allem mit der prekären Lage der Mennoniten bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammenhängen. Denn sie hatten wiederholt mit Ressentiments von Seiten der Geistlichen, Stadträte und Landbevölkerung und mit Erhöhungen der Schutzgebühren von Seiten der Landesherrschaft zu rechnen, so dass sie sich immer wieder nach für sie günstigeren Pacht- und Abgabebedingungen umsehen mussten. 21 Abgesehen davon dürften manche Mennoniten der ersten beiden Generationen noch gehofft haben, dass sie in absehbarer Zeit in die Schweiz zurückkehren könnten. cher Gemeindekalender 49 (1940), 83-87. Zweitens verweise ich auf die von David Kägy 1811 vorgenommene Abschrift einer kurzen Familienchronik, in: D AVID K ÄGY , Kopierbuch (1811-1837), fol. 5-6. Das Schreibebuch befindet sich ebenfalls in der Privatüberlieferung der Familie Kägy auf dem Bolanderhof. 18 Zu diesen Spenden gehörten nicht nur erhebliche Geldbeträge, sondern auch Pflüge, Wagen und Rindvieh. Das Geld sollte unter anderem zur Pacht von Gütern verwendet werden; vgl. E RNST M ÜL- LER , Geschichte der Bernischen Täufer. Nach den Urkunden dargestellt, Frauenfeld 1895, ND Nieuwkoop 1972, 194-214, und H ANS U LRICH P FISTER , Die Auswanderung aus dem Knonauer Amt 1648-1750. Ihr Ausmass, ihre Strukturen und ihre Bedingungen, Zürich 1987, 72-81, 97-113. 19 Vgl. J OHANN G OSWIN W IDDER , Versuch einer vollstaendigen Geographisch-Historischen Beschreibung der Kurfuerstl. Pfalz am Rheine, 1. Theil, Frankfurt / Leipzig 1786, 201-203 und 319-323; K ARL H EINRICH R AU , Die Landwirthschaft der Heidelberger Gegend, in: Festschrift für die Mitglieder der 21. Versammlung deutscher Land= und Forstwirthe, Heidelberg 1860, 285, 305. 20 Vgl. F RANK K ONERSMANN , Soziogenese und Wirtschaftspraktiken einer agrarkapitalistischen Sonderformation. Mennonitische Bauernkaufleute in Offstein (1762-1855), in: Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit, A NDRÉ H OLENSTEIN / S ABINE U LLMANN (Hrsg.), Epfendorf 2004, 215-237, hier 222. 21 Vgl. E RNST H. C ORELL , Das schweizerische Täufermennonitentum. Ein soziologischer Bericht, Tübingen 1925, 79-98; F RANK K ONERSMANN , Duldung, Privilegierung, Assimilation und Säkularisation. Mennonitische Glaubensgemeinschaften in der Pfalz, in Rheinhessen und am nördlichen Oberrhein (1664-1802), in: Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, M ARK H ÄBERLEIN / M ARTIN Z ÜRN (Hrsg.), St. Katharinen 2001, 339-375, hier 346-348. <?page no="635"?> Frank Konersmann 636 Eine allmähliche Konsolidierung der mennonitischen Glaubensgemeinschaft in der südwestdeutschen Region zeichnete sich in den 1730er Jahren ab, als sich eine innergemeindliche Infrastruktur mit den von Laien ausgeübten Ämtern des Ältesten, Predigers und Diakons ausgebildet hatte. 22 Diese Ämterstruktur war infolge der erheblich vergrößerten Glaubensgemeinschaft erforderlich geworden. Die fortgesetzte Einwanderung von Flüchtlingen und die endogame Reproduktion gemäß des mennonitischen Mischehenverbots hatten die Anzahl der Mennoniten in der Kurpfalz und im Herzogtum Pfalz- Zweibrücken von 183 Familien im Jahre 1685 23 auf schätzungsweise 618 Familien 24 mit über 2.100 Personen bis Ende der 1730er Jahre erheblich erhöht. 25 Mit der Vergrößerung der Glaubensgemeinschaft ging ein Prozess sozialer Differenzierung einher, der allmählich eine an ihrer Steuerleistung und ihrem Einsatz von Gesindekräften erkennbare Oberschicht von Großbauern, Müllern, Uhrmachern und Händlern von maximal 16 Prozent hervorbrachte. 26 Zu dieser Gruppe gehörten von Anfang an die Familien Möllinger und Kägy, deren Mitglieder in der Regel bäuerliche Pächter von Temporalbestandgütern waren. Einige wenige von ihnen verlegten sich auf das Uhrmacher- oder Müllerhandwerk. Die überwiegende Mehrheit der Mennoniten führte hingegen eine ökonomisch prekäre Existenz als Klein- und Parzellenbauern oder als Weber, die auf ein zusätzliches Einkommen im Tagelohn und Gesindedienst angewiesen waren. Da sie in Notlagen und bei Engpässen der karitativen Hilfe bedurften, wurde die Glaubensgemeinschaft mit wachsenden Aufgaben der Armenversorgung konfrontiert. Zudem verlangte die Landesherrschaft von allen mennonitischen Haushaltsvorständen die jährliche Zahlung einer Schutzgebühr von sechs Gulden. Da sie von deren Erfüllung die Bestätigung der Privilegien abhängig machte, musste die Gemeinschaft die Gebühren für die ärmeren Gemeindemitglieder übernehmen, um weiterhin die obrigkeitliche Duldung ihrer Gemeinschaft zu gewährleisten. 27 In Anbetracht dieser Konstellation rückte das Amt des Dia- 22 Diesen Eindruck vermitteln die Abschriften von Dokumenten aus dem Archiv der Taufgesinnten in Amsterdam, die Ernst Müller erstmals eingesehen hat; vgl. M ÜLLER , Geschichte (wie Anm. 18), 209- 212. 23 Vgl. Specification derjenigen Menonisten so sich in Churpfaltz. Landen befinden, in: Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA K) Best. 77 Nr. 4337, fol. 69-71. 24 Vgl. M ÜLLER , Geschichte (wie Anm. 18), 212. 25 Vgl. Tabelle deren in Churpfaltz befindlicheren Menonisten welche das schuldige Schutzgeld zahlen und welche solches nicht entrichten, in: GLA K Best. 77 Nr. 4212 26 Vgl. K ONERSMANN , Duldung (wie Anm. 21), 361, 363. 27 In diesem Sinne äußerten sich die in Mannheim ansässigen Mennoniten am 30.3.1744 in ihrer Supplik, in der sie versicherten, dass sie mittelst unserem Fleiß im Feldbau und sonstiger arbeithsahmen Lebensarth unsere viele Armen, damit sie niemanden beschwehrlich werden, selbst versorgen und deren onera mittragen helfen; in: GLA K Best. 77 Nr. 4213, fol. 23-24. <?page no="636"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 637 kons zu einer Schaltstelle der Gemeindeverwaltung auf, zumal der Diakon in der Regel auch die Gemeindekasse verwaltete. 28 Die zuverlässige Erledigung der verantwortungsvollen Aufgaben eines Diakons erforderte Erfahrungen, Kenntnisse und Sorgfalt im Umgang mit höheren Geldbeträgen, so dass für dieses Amt vor allem Gemeindemitglieder in Frage kamen, die mit Geldgeschäften vertraut waren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Gemeinden zumeist Personen zum Diakon wählten, die eine marktorientierte Landwirtschaft betrieben und aus Familien stammten, die im Brennereigewerbe, im Müller- und Uhrmacherhandwerk erfolgreich waren. Zu ihnen zählten beispielsweise Rudolf Kägy, Pächter eines Teilbetriebes des nordpfälzischen Weierhofes, 29 sein Neffe David Kägy, Bauernkaufmann und Pächter eines kurpfälzischen Hofgutes im rheinhessischen Dorf Offstein, weiterhin die beiden Branntweinbrenner Christian Schumacher 30 und Martin Möllinger 31 aus Mannheim, die zuvor Güter bewirtschaftet hatten, und Johannes Möllinger, Pächter eines Hofes im vorderpfälzischen Dorf Friesenheim. Die meisten dieser Amtsträger waren im Handel mit Agrarprodukten erfahren. Sie gehörten zu mennonitischen Familien, die in der südwestdeutschen Region während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine führende Rolle in der Herstellung und beim Vertrieb von Branntwein und Essig, aber auch in der Mästung und beim Verkauf von Vieh einnahmen. Diese wohlhabenderen mennonitischen Familien bildeten seit Mitte der 1730er Jahre durch Vettern-Basen-Heiraten über mehrere Generationen hinweg eng verflochtene Heiratskreise aus. Innerhalb ihres persönlichen Umfeldes entstanden die meisten mennonitischen Siedlungen, wo sich auch das jeweilige ökonomische Zentrum der aus mehreren Gemeinden zusammengesetzten Glaubensgemeinschaften befand. Diese personelle Infrastruktur begünstigte die Ausprägung einer Gruppe charismatischer Führungspersönlichkeiten, die sich sowohl bei gemäßigt konservativen Mennoniten als auch bei strenggläubigen (amischen) Mennoniten, die sich eher in der Süd- und Westpfalz niederließen, 32 nachweisen lässt. Die mennonitischen Glaubensgemeinschaften kennzeichnete insofern in besonderem Maße das Merkmal 28 Vgl. F RANK K ONERSMANN , Studien zur Genese rationaler Lebensführung und zum Sektentypus Max Webers. Das Beispiel mennonitischer Bauernfamilien im deutschen Südwesten (1632-1850), in: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), 418-437, hier 427f. 29 Rudolf Kägy war der fünfte Sohn Felix Kägys, der seit 1720 mit Barbara Krehbiel verheiratet war. 30 Christian Schumacher war seit den 1730er Jahren mit einer Tochter Vincenz Möllingers verheiratet; vgl. Landeskirchliches Archiv Baden in Karlsruhe (LKA Ka) Best. Mennonitengemeinde Mannheim, Nr. 12 (Mennonitische Familien in Alt-Mannheim ca. 1740-1860), Person Nr. 172. 31 Martin Möllinger war ein Enkel Ulrich Möllingers und der zweitälteste Sohn Vincenz Möllingers. Er war seit 1725 mit Marie Hiestand verheiratet. Vgl. LKA Ka, Best. Mennonitengemeinde Mannheim, Nr. 12 (Mennonitische Familien in Alt-Mannheim ca. 1740-1860), Person Nr. 139. 32 Vgl. H ERMANN G UTH , Amische Mennoniten in Deutschland. Ihre Gemeinden, ihre Höfe und Familien, Saarbrücken 1993, 5. Aufl., 48-74. <?page no="637"?> Frank Konersmann 638 einer patriarchalen „Familienkirche“, 33 das von ihrem religiösen Selbstverständnis als einer Gemeinschaft im Prinzip gleicher Brüder und Schwestern, die alle Mitglieder umfasste, zu unterscheiden ist. Zu diesen miteinander verwandten und räumlich in der gesamten südwestdeutschen Region verstreut lebenden gemäßigt konservativen Familien gehörten neben den Möllinger und Kägy die Schumacher, Hackmann, Geber, Hiestand, Kindig, Stauffer, Dahlem, Würtz, Strohm, Burkholter, Janson, Hirschler, Schowalter und Krehbiel. 34 Aus dem Kreis dieser Familien rekrutierten sich zahlreiche Älteste und Prediger, so dass diese Familien auch auf die religiösen Belange der einzelnen Gemeindeverbände Einfluss nehmen konnten. Dementsprechend spielten sowohl der Mennonitenprediger Martin Möllinger aus Mannheim bei der Disziplinierung pietistisch motivierter Prediger in den 1750er und 1760er Jahren 35 als auch der Diakon David Kägy aus Offstein in den Konflikten um die Aufrechterhaltung des mennonitischen Prinzips des Laienpriestertums in den 1820er und 1830er Jahren eine führende Rolle. 36 Einige dieser Amtsträger korrespondierten regelmäßig mit ausländischen Glaubensverwandten am Niederrhein, im Westerwald, in Baden, in den Niederlanden, in der Schweiz und in Amerika. 37 Gelegentlich unternahmen sie auch Reisen dorthin und wurden umgekehrt von auswärtigen Glaubensbrüdern bei gravierenden Gemeindekonflikten und anlässlich von Ältestenkonferenzen besucht. Auf diese zuweilen regen Kontakte ist wahrscheinlich die Rezeption und Einführung der ganzjährigen Stallfütterung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückzuführen, die niederländische Mennoniten ihren südwestdeutschen Glaubensverwandten nahegebracht haben dürften. 38 Dank dieser Betriebsinnovation und den sich hierdurch ergebenden 33 C RAMER , Mennoniten, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 12, Leipzig 1903, 3. Auflage, 594-616, hier 616. 34 Über die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Familien Möllinger, Kägy und Stauffer vgl. F RANK K ONERSMANN , Rechtslage, soziale Verhältnisse und Geschäftsbeziehungen von Mennoniten in Städten und auf dem Land. Mennonitische Bauernkaufleute in der Pfalz und in Rheinhessen (18.- 19. Jahrhundert), in: Mannheimer Geschichtsblätter 10 (2003), 83-115, hier 98-102. 35 Vgl. C HRISTIAN N EFF , Peter Weber, ein mennonitischer Pietist aus dem 18. Jahrhundert, in: Christlicher Gemeindekalender 39 (1930), 61-102; J OHN D. R OTH , Pietismus und Täufertum - ein schwieriges Verhältnis, in: Mennonitische Geschichtsblätter 58 (2001), 71-94, hier 84f. 36 Vgl. C HRISTIAN N EFF , David Kaege von Offstein, in: Christlicher Gemeindekalender 34 (1925), 39- 63, hier 58-60, und F RANK K ONERSMANN , Bußzuchtvorstellungen und Kirchenzuchtpraxis bei pfälzischen und rheinhessischen Mennoniten zwischen 1693 und 1852, in: Reformierte Perspektiven, H ARM K LUETING / J AN R OHLS (Hrsg.), Wuppertal 2001, 179-202, hier 189, 194, 201. 37 Vgl. M ÜLLER , Geschichte (wie Anm. 18), 195-214. Ein Teil dieser reichhaltigen Korrespondenz ist im Briefbuch des mennonitischen Gemeindeverbandes Uffhofen, Offstein, Gerolsheim und Obersülzen im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz) abgelegt. 38 Die Ursprünge dieser Betriebsinnovation werden in den Niederlanden vermutet, die bereits im 17. Jahrhundert dicht besiedelt waren und insofern nur über wenige Grünflächen verfügten, so dass neue Wege der Viehfütterung beschritten werden mussten; vgl. G ERTRUD S CHRÖDER -L EMBKE , Die Einführung des Kleeanbaus in Deutschland vor dem Auftreten Schubarts von dem Kleefelde, in: DIES ., Studien zur Agrargeschichte, Stuttgart / New York 1978, 133-181, hier 173. Es ist daher vielleicht <?page no="638"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 639 höheren Dungmengen vermochten sie nicht nur die Bodenerträge zu steigern, sondern sie erlaubte ihnen auch die zügige Amortisation des in die Brennereien investierten Kapitals. Denn das beim Branntweinbrennen entstehende Abfallprodukt der eiweißhaltigen Schlempe eignet sich besonders gut für die Viehmast, so dass ihnen der Verkauf gemästeten Viehs zusätzliche Einnahmen bescherte. Zudem erschlossen sich mennonitische Bauern dank dieser agrargewerblichen Spezialisierung relativ früh eine neue ökonomische Nische in Südwestdeutschland, wo sie mit keiner anderen Sozialgruppe in unmittelbare Konkurrenz traten und keine Proteste befürchten mussten. Dank dieser Betriebsinnovation vermochten sie ein in den 1760er Jahren auftretendes agrarisches Strukturproblem der gesamten Region auf Dauer zu lösen, das in dem eklatanten Mangel an Vieh, Futter und Dung bestand. 39 Mit dem von ihnen beschrittenen agrartechnischen Lösungsweg gewannen sie von den 1770er Jahren an die Zustimmung von Agrarreformern und Regierungen, die ihre Expertise zunehmend mehr zu schätzen wussten. 40 Insbesondere der Bauernkaufmann David Möllinger aus dem rheinhessischen Monsheim und andere mit ihm kooperierende mennonitische Bauernkaufleute rückten allmählich in den Blick der reformfreudigen Kreise nicht nur Südwestdeutschlands. 41 Diese statteten vor allem Möllinger und seinen Söhnen in Monsheim zwischen 1781 und 1817 häufig Besuche ab, um deren landwirtschaftliche Betriebsführung kennenzulernen. 42 Die hohe Wertschätzung mennonitischer Landwirtschaft durch Agrarschriftsteller und Regierungsvertreter dauerte bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Vor allem der Besuch des Agrarökonomen Johann Nepomuk Schwerz im kein Zufall, dass Albrecht Daniel Thaer 1801 die Anfänge dieser Betriebsinnovation in Brabant und Deutschland, insbesondere in der Pfalz und in den Rheingegenden verortete; vgl. A LBRECHT D ANIEL T HAER , Einleitung zur Kenntnis der englischen Landwirthschaft und ihrer neueren practischen und theoretischen Fortschritte in Ruecksicht auf Vervollkommnung deutscher Landwirthschaft fuer denkende Landwirthe und Cameralisten, Bd. 1, Hannover 1801, 755. 39 Vgl. W OLFGANG VON H IPPEL , Die Kurpfalz zur Zeit Carl Theodors (1742-1799) - wirtschaftliche Lage und wirtschaftspolitische Bemühungen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 148 (2000), 177-243, 194f. 40 So lobte der maßgebende Agrarreformer der Kurpfalz, der Botaniker und Arzt Friedrich Casimir Medicus, 1773 die mennonitischen Bauern für ihre starke Viehzucht, ihre Stallfuetterung, ihr(en) Futterbau, und daher fließende(n) viele(n) Dung, womit sie jaehrlich ihre Aecker bereicherten. F RIEDRICH C ASIMIR M EDICUS , Ueber die blos praktischen Beispiele, in: Bemerkungen der kuhrpfaelzischen physicalisch=oekonomischen Gesellschaft vom Jahre 1773, Lautern 1775, 210-259, hier 215. 41 Vgl. C HRISTIAN W ILHELM D OHM , Einige Nachrichten von der Kurpfalz, vorzueglich vom izigen Zustande der pfaelzischen Fabriken und Manufakturen, in: Deutsches Museum, zweites Stück, Februar 1778, 97-125, hier 101. 42 In dem lange Zeit als verschollen geltenden Gästebuch David Möllingers, das kürzlich in der Privatüberlieferung Norbert Spindlers in Mölsheim entdeckt wurde, trugen sich zwischen 1781 und 1817 insgesamt 276 Gäste ein und notierten kurze, ihrem Gastgeber zugeeignete Widmungen zu seinem Andenken. Möllinger selbst hatte dieses Buch dem Andenken wahrer Freunde gewidmet. Der Familie Spindler danke ich für die Erlaubnis zur zeitweiligen Nutzung dieser seltenen Quelle. Sie wird demnächst veröffentlicht: F RANK K ONERSMANN , Das Gästebuch der mennonitischen Bauernfamilie David Möllinger senior, 1781-1817. Eine historisch-kritische Edition, Alzey 2009. <?page no="639"?> Frank Konersmann 640 Jahre 1814 bei David Möllinger junior im rheinhessischen Dorf Pfeddersheim 43 und bei Christian Kägy im benachbarten Dorf Offstein 44 begründete den überregionalen Ruf dieser Familien, den Geist der Verbesserung [...] in der ganzen Pfalz verbreitet zu haben. 45 Denn Schwerz beurteilte die Verbindung von ganzjähriger Stallhaltung mit einer Brennerei als die für den agrarischen Fortschritt entscheidende Betriebsinnovation, die bis dahin in der Pfalz nicht im Gebrauche war. 46 Diese Innovation verdankte die Pfalz jedoch nicht einem einzigen Mann, einem Mennonisten, 47 wie Schwerz mit Blick auf David Möllinger senior in romantischem Stil heroisch verklärend meinte, sondern einer Gruppe mennonitischer Familien von Bauernkaufleuten, die unter den restriktiven Bedingungen des Ancien Régime seit den 1730er Jahren vielfältig kooperierten, um letztlich auch die Existenzfähigkeit ihrer gesamten Glaubensgemeinschaft zu sichern. 48 Darüber hinaus benötigten sie für die Bewirtschaftung ihrer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vergrößerten Betriebe zunehmend mehr Arbeitskräfte, die sie nicht allein aus ihren Familien rekrutieren konnten. Sie waren daher auf die Mitarbeit ihrer ärmeren Glaubensangehörigen angewiesen, denn ein nennenswerter Arbeitsmarkt entstand in der südwestdeutschen Region erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, als zunehmend mehr Klein- und Parzellenbauern infolge knapper werdender Bodenressourcen und erhöhten Bevölkerungswachstums eine zusätzliche Einnahmequelle benötigten. 49 Die Realisierung der erläuterten Betriebsinnovation erforderte teilweise erhebliches Kapital, das Mennoniten nicht zuletzt deshalb aufzubringen vermochten, weil sie nur Pachthöfe im Temporalbestand pachten konnten und ihnen gerade in der Kurpfalz das uneingeschränkte Eigentum von Gütern bis zum Ende des Ancien Régime verwehrt blieb. 50 Infolgedessen wanderten bereits in den 1720er und 1730er Jahren 43 Vgl. J OHANN N EPOMUK S CHWERZ , Beobachtungen ueber den Ackerbau der Pfaelzer, Berlin 1816, 115-167. 44 Vgl. S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 185-188. 45 S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 176. 46 S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 176. 47 S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 176. 48 Aus einigen im Archiv der mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz) überlieferten Gemeindebüchern geht hervor, dass die wohlhabenderen mennonitischen Familien regelmäßig höhere Beträge in die Gemeindekasse zahlten, um notleidende Gemeindemitglieder zu unterstützen. Abgesehen davon übernahmen diese Familien einen Großteil der Kosten zur Finanzierung mennonitischer Einrichtungen wie Schulen, Gemeindehäuser und Friedhöfe; vgl. K ONERSMANN , Soziogenese (wie Anm. 20), 229. Zudem übernahmen die Diakone wie David Kägy aus Offstein häufig die Aufgabe des Vormunds gegenüber minderjährigen und armen Glaubensangehörigen; vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 17), passim. 49 Vgl. F RANK K ONERSMANN , Bauernkaufleute auf Produkt- und Faktormärkten. Akteure, Konstellationen und Entwicklungen in der Pfalz und in Rheinhessen (1760-1880), in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 52 (2004), 23-43, hier 34-39. 50 Die Einschränkung ergab sich aus dem dreijährigen Auslösungsrecht des Vorbesitzers eines Gutes, so dass für mennonitische Pächter in den ersten drei Jahren ihres Besitzes keine Rechtssicherheit gewähr- <?page no="640"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 641 einige hundert Mennoniten nach Amerika aus. 51 Diese rechtliche Einschränkung ihres Handlungsspielraums vermochten jedoch wohlhabendere mennonitische Bauern durch verwandtschaftliche Verflechtung und wirtschaftliche Kooperation zwischen mehreren Familien und dank ihrer besonderen Risikobereitschaft bei der Einführung von Agrarinnovationen zu relativieren, indem sie die Risiken in der Produktion und im Vertrieb ihrer Agrarprodukte auf mehrere Schultern verteilten und damit für den einzelnen Haushalt verringerten. Trotz der dominanten Stellung dieser Familien in den mennonitischen Gemeinden und Gemeindeverbänden waren sie im Konfliktfall und unter den rechtlich restriktiven Bedingungen des Ancien Régime auf die Solidarität und Unterstützung der Glaubensgemeinschaft angewiesen, die unter anderem in Suppliken des Mannheimer Gemeindevorstands an den pfälzischen Kurfürsten zum Ausdruck kamen. Zudem unterlagen diese Familien nicht nur der Kontrolle der Ältestengremien, in denen auch Personen anderer Sozialkreise vertreten waren, sondern auch der strengen Kirchenzucht durch die versammelte Gemeinde. 52 In diesem Sinne wurden beispielsweise auf den Konferenzen amischer Mennoniten im südpfälzischen Essingen 1759 und 1779 Ordnungsbriefe beschlossen, die sich gegen Hoffart in Kleidung und Lebensführung richteten, das Rauchen und Schnupfen von Tabak untersagten und vor jeder Art Wucherhaendel beim Kaufen, Bauen oder sonstige(n) großen(n) Hantierungen warnten. 53 Den Ältesten wurde aufgetragen, die Ordnungsverstöße mit der Kirchenzucht zu ahnden. Ähnliche Beschlüsse wurden von den gemäßigt konservativen Mennoniten 1803 und 1805 im rheinhessischen Dorf Ibersheim vereinbart. 54 Zu den unterzeichnenden Ältesten und Predigern gehörten Mitglieder der wohlhabenden und miteinander verwandten Bauernfamilien Möllinger, Stauffer, Hiestand, Burkholter, Krehbiel, Dahlem und Würtz. 55 An der Wende zum 19. Jahrhundert erhöhten sich die Spannungen innerhalb der mennonitischen Glaubensgemeinschaften nicht zuletzt durch die staatsbürgerliche Gleichstellung der Mennoniten mit den drei christlichen Hauptkonfessionen im Jahre 1802. Die damit eingeleitete Abschwächung leistet war; vgl. C ORELL , Schweizer Täufermennonitentum (wie Anm. 21), 123; K ONERSMANN , Duldung (wie Anm. 21), 371. 51 Vgl. J OACHIM H EINZ , „Bleibe im Lande und nähre dich redlich! “ Zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung vom Ende des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Kaiserslautern 1989, 31f. 52 Vgl. K ONERSMANN , Bußzuchtvorstellungen (wie Anm. 36), 196-200; K ONERSMANN , Studien zur Genese (wie Anm. 28), 428f., 432. 53 Zitiert nach P AUL S CHOWALTER , Die Essinger Konferenzen 1759 und 1779. Ein Beitrag zur Geschichte der amischen Mennoniten, in: Mennonitische Geschichtsblätter 3 (1938), 49-55, hier 52f. 54 Vgl. P AUL S CHOWALTER , Die Ibersheimer Beschlüsse von 1803 und 1805, in: Mennonitische Geschichtsblätter 20 (1963), 29-48. 55 Vgl. S CHOWALTER , Die Ibersheimer Beschlüsse (wie Anm. 54), 36, 42. <?page no="641"?> Frank Konersmann 642 ihrer rechtlichen Diskriminierung hatte unmittelbare Folgen für ihr bisheriges religiöses Selbstverständnis als ein von Menschen verfolgtes Volk Gottes, so dass spätestens in den 1820er Jahren einige ihrer Grundsätze wie das Laienpriestertum und die strenge Kirchenzucht unter erhöhten Rechtfertigungsdruck gerieten, infolgedessen sich zwei Fraktionen herausschälten. 56 Die Bildung dieser Fraktionen verlief zum Teil quer durch die Familien und Gemeindeverbände. So führte der Diakon David Kägy aus Offstein mit Unterstützung seines Schwiegersohnes Jakob Kägy vom nordpfälzischen Bolanderhof die konservative Fraktion an, während sein Bruder Christian aus Offstein wahrscheinlich der liberalen Fraktion zuzurechnen ist. 57 Diese stand unter der Führung der akademisch geschulten Prediger Johannes Risser und Leonhard Weydmann. Mit hoher Wahrscheinlichkeit fand diese Fraktion bei den Mitgliedern der Familie Möllinger in Monsheim und Pfeddersheim einflussreiche Fürsprecher, denn die Gemeinde Monsheim stellte Weydmann 1820 als Prediger ein. 58 In dieser Fraktionierung des religiösen Selbstverständnisses zwischen den Familien Möllinger und Kägy könnte eine der Ursachen dafür liegen, dass sich ihre bis dahin enge Zusammenarbeit in geschäftlichen Angelegenheiten weitgehend auflöste, da sich dafür keine weiteren Belege mehr finden. Es ist für diese Konstellation bezeichnend, dass nur der liberalere Christian Kägy und sein lediger Sohn Jakob immerhin noch private Kontakte zu ihrem Schwager bzw. Onkel Johann Möllinger aus Pfeddersheim in den 1830er Jahren unterhielten. 59 3. Familie und Verwandtschaft als soziale Grundlagen des Agrarhandels der Bauernfamilien Möllinger und Kägy Erste Ansätze zu einer wirtschaftlichen Kooperation zwischen mennonitischen Familien, die dauerhafte Verwandtschaftsbeziehungen ausprägten, sind bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwischen den Familien Möllinger und Kindig festzustellen. 60 Vincenz Möllinger und Jakob Kindig bewirtschafteten seit 1710 jeweils einen Teilbetrieb des rheinhessischen Nonnen- 56 Vgl. N EFF , David Kaege (wie Anm. 36), 58f.; C HRISTIAN N EFF , Johannes Risser. Prediger in Sembach, in: Christlicher Gemeindekalender 23 (1914), 47-72, hier 65f.; K ONERSMANN , Bußzuchtvorstellungen (wie Anm. 36), 198f., 201f. 57 Vgl. K ONERSMANN , Soziogenese (wie Anm. 20), 229. 58 Vgl. E RNST C ROUS , Leonhard Weydmann, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. 4, Karlsruhe 1967, 521f.; H ORST G ERLACH , Mennoniten in Rheinhessen, in: Alzeyer Geschichtsblätter 18 (1982), 20- 47, hier 32. 59 Das geht aus dem Memorial (1811-1835) David Möllingers junior und Johann Möllingers hervor. Das Schreibebuch befindet sich in der Stadtbibliothek Mainz (StdBi Mz), Handschriftenabteilung, Ms 122, Bd. 19. 60 Diese Rekonstruktion beruht auf den bereits in Anm. 17 erwähnten genealogischen Aufstellungen und Veröffentlichungen. <?page no="642"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 643 hofes, um dann von 1718 an wiederum gemeinsam jeweils einen Teilbetrieb eines Einzelgehöftes nahe der vorderpfälzischen Kleinstadt Mutterstadt zu pachten. In den 1730er Jahren knüpften diese beiden Familien auch verwandtschaftliche Beziehungen, indem jeweils zwei ihrer Kinder untereinander eine Ehe eingingen. So heiratete der zweitjüngste Sohn Vincenz Möllingers namens David 1732 Maria Kindig, und Möllingers jüngste Tochter Veronika ehelichte 1736 ihren Schwager Jakob Kindig. Letzterer bewirtschaftete nachweislich bis 1768 einen Teilbetrieb im Erbbestand bei Mutterstadt. 61 Mit seinem Schwager unterhielt David Möllinger länger währende Geschäftsbeziehungen, nachdem er sich 1744 im rheinhessischen Monsheim dauerhaft niedergelassen hatte und ein etwa 150 Hektar großes Gut bewirtschaftete. 62 So verkaufte Möllinger an ihn 1747 kleinere Mengen Branntwein und Essig, die Jakob Kindig in Raten abbezahlte. Im Gegenzug verkaufte dieser an Möllinger je zwei Ochsen und Kühe, die dieser ebenfalls in Geld beglich. 63 Ähnliche Transaktionen sind auch aus den Jahren 1754 bis 1757 überliefert, als Möllinger Branntwein an Kindig und dieser wiederum Ochsen an Möllinger verkaufte. 64 Darüber hinaus lieferte ihm sein Schwager mehrere Fuhren Roggen im Umfang von insgesamt 184 Malter, die Möllinger umstandslos bezahlen konnte. 1761 verkaufte Kindig seinem Schwager Möllinger drei Malter Hanfsamen, während letzterer ihm 1766 kleinere Mengen Essig zusandte. 65 Demnach trat David Möllinger gegenüber der verwandten Familie Kindig nicht nur als Produzent und Lieferant von Branntwein und Essig, sondern auch als kapitalkräftiger Kaufmann auf, der von ihr Ochsen, Roggen und Hanfsamen erwarb. Den Roggen dürfte er zum Teil in den Städten am Rhein weiter verkauft, 66 zum Teil aber auch für seine Brennerei verwendet haben, die jährlich erhebliche Mengen Branntwein produzierte, 67 während er die Ochsen wahrscheinlich in seinen großen Stäl- 61 Vgl. Consignatio derer ad respectam dem vom 20.9.1768 eingezogenen Berichten und darin bemerckten mit dem Schutz begnädigten Menonisten, in: GLA K Best. 77 Nr. 4230. 62 Vgl. E RICH H EHR , David Möllinger (1709-1786), in: Pfälzer Lebensbilder, 1. Bd., K URT B AUMANN (Hrsg.), Speyer 1964, 67-88, hier 73f.; P AUL M ICHEL , Chronik von Monsheim. Geschichte eines rheinhessischen Dorfes, Monsheim 1983, 135f. 63 Vgl. D AVID M ÖLLINGER senior, Journal (1746-1809), in: Stadtarchiv Worms (StdA Wo) Abt. 200 Nr. 520, fol. 28. 64 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 146. 65 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 172f. 66 Denn Möllinger erntete schon in den 1750er Jahren jährlich über 250 Zentner Roggen auf seinen eigenen Äckern; vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 523f. 67 Möllinger produzierte bereits in den späten 1740er Jahren jährlich bis zu 10.000 Liter Branntwein; vgl. K ONERSMANN , Bäuerliche Branntweinbrenner (wie Anm. 11). <?page no="643"?> Frank Konersmann 644 len mästete, um sie etwa ein Jahr später zu einem höherem Preis wieder zu verkaufen. 68 Während die miteinander verwandten Familien Kindig und Möllinger reziproke Geschäftsbeziehungen unterhielten, indem sie sich als Käufer und als Verkäufer in Anspruch nahmen, hatten die Kontakte zu der Familie Schumacher aus Mannheim eine erhebliche Bedeutung für die Abwicklung der Geldgeschäfte David Möllingers; insofern trat die Familie Schumacher in die Dienste der Familie Möllinger. Bisher konnten allerdings die näheren Umstände und Gründe für die in den 1730er Jahren geschlossene Ehe zwischen dem Branntweinbrenner und Mennonitenprediger Christian Schumacher und Anna Barbara Möllinger, 69 einer Tochter des Pächters Vincenz Möllinger nahe Mutterstadt, noch nicht genau ermittelt werden. 70 Immerhin vermochte die Familie Möllinger auf diesem Wege für sie zukunftsweisende Kontakte zu den in Mannheim das Branntweingewerbe dominierenden Mennoniten zu knüpfen, denn unter ihnen befand sich der Mennonitenprediger Hans Jakob Schnebele, 71 der das „Mannheimer Wasser“ erfunden haben soll, 72 eine veredelte Sorte Branntwein, die mit Anis, Kümmel und Wacholder versetzt war. Während Schnebele mit der Vermarktung dieser Branntweinsorte offenbar keinen Erfolg hatte, vermochte sein Glaubensbruder Christian Schumacher nicht nur diese Sorte herzustellen, sondern schon 68 Mitte der 1770er Jahre besuchte ein französischer Adliger David Möllinger in Monsheim, der ihm erzählte, dass er allein über 100 Ochsen in seinen Ställen stehen habe. Nach Besichtigung des Möllingerschen Betriebes stellte der Marquis fest, dass die Bierbrauererej, sein Ackerbau, seine Viehzucht [vorbildlich seien, F. K.], besonders hat er in der Anlage seiner Staelle eine solche Einrichtung gemacht, und sie so oeconomisch gebaut, daß nicht das geringste von dem Duenger verloren geht. Wanderungen des Marquis von St. A.... durch Deutschland, in: Deutsches Museum, Sechstes Stück, Juli 1777, 519-527, hier 525. Eine Abschrift befindet sich im: StdA Wo Abt. 239 Nr. 166. 69 Vgl. LKA Ka, Best. Mennonitengemeinde Mannheim, Nr. 12 (Mennonitische Familien in Alt- Mannheim, ca. 1740-1860), Person Nr. 172. 70 Unmittelbare ökonomische Gründe dürften bei dieser Eheanbahnung keine Rolle gespielt haben. Denn die im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts aus der Schweiz in die Kurpfalz eingewanderte Familie Schumacher wohnte wahrscheinlich zunächst in bescheidenen Verhältnissen im rheinhessischen Dorf Kriegsheim, bevor sie in den 1720er Jahren nach Mannheim umzog; vgl. Specification derjenigen Menonisten so sich in Churpfälzischen Landen befinden, in: GLA K Best. 77 Nr. 4337, fol. 69. Noch im Jahre 1719 findet sich kein Vertreter der Familie Schumacher unter den in Mannheim wohnenden Mennoniten; vgl. J ÜRGEN F REIHERR VON K RUEDENER , Die Bevölkerung Mannheims im Jahre 1719, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 116 (1968), 291-343, hier 343. 71 Vgl. LKA Ka, Best. Mennonitengemeinde Mannheim, Nr. 12 (Mennonitische Familien in Alt- Mannheim, ca. 1740-1860), Person Nr. 170. 72 Denn in einer unveröffentlichten Darstellung des Küfers und Bierbrauers Johann Peter Mayer aus Mannheim von 1782 heißt es: So viel mir von meinen Eltern bekannt, so ist ein hiesiger Menonist Herr Schnebele der Erfinder des sogenannten Mannheimer Wassers gewesen; [J OHANN P ETER ] M AYER , Gründliche Anweisung zur Verfertigung der sogenannten Doppelten Brandenweinen oder des sogenannten Mannheimer Wassers als weißen und roten Anis-Kimel-Wacholder Liqueur. Die Schrift befindet sich im Privatbesitz von Friedrich Teutsch in Mannheim, der sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. <?page no="644"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 645 bald viele Kundschafften zu gewinnen. 73 Zum Beispiel durch Bemühen sich Kundschafft mit Geld zu erwerben, durch Herabsezung und noch mehr heimlicherer Nachlassung des Preises, Anhängung der Preiszettel, welches vorhero nie üblich gewesen, sondern mann verkaufte bey wolfeilen wie bey theuren Zeiten den Krug Mannheimer Wasser, habe er auch eine Maas oder auch weniger gehalten, samt dem Krug für einen Gulden. 74 Die bemerkenswerte Geschäftstüchtigkeit Schumachers wollte sich David Möllinger offensichtlich zu Nutze machen, denn er verheiratete seine älteste Tochter Marie 1755 mit seinem Neffen, dem Branntweinbrenner Johannes Schumacher, 75 einem Sohn Christian Schumachers. Mit dieser zweiten verwandtschaftlichen Verbindung zur Familie Schumacher erhielten die weitläufigen Geschäftsbeziehungen Möllingers eine solide und dauerhafte Grundlage, da ihm sein Schwager neben den notwendigen Kenntnissen für die Herstellung von Anis- und Kümmelbranntwein auch gute Geschäftskontakte vermittelte. Bevor sein Schwiegersohn Johannes Schumacher von den frühen 1760er Jahren an eine tragende Rolle bei der Abwicklung monetärer Transaktionen zwischen Möllinger und seiner weitläufigen Kundschaft im Umkreis von etwa 150 km spielte, 76 hatten gelegentlich seine drei Brüder diese Aufgabe wahrgenommen. Es handelte sich dabei um Martin Möllinger in der kurpfälzischen Residenzstadt Mannheim, 77 Jakob Möllinger in der kurpfälzischen Oberamtsstadt Neustadt 78 und Joseph Möllinger in der herzoglichen Residenzstadt Zweibrücken, 79 die vor Ort kommissarisch für ihren Bruder David tätig waren. Für die Erledigung von Geldgeschäften Möllingers und für die Bevorratung seiner Agrarprodukte unterhielt die Familie Schumacher in Mannheim ein Lager 80 und ein Kontor, 81 über die ein Teil der Lieferungen zu den Kun- 73 Johann Peter Mayer stellte dazu fest: Ein hiesiger Menonist Herr Christian Schumacher, welcher bey Lebzeiten meines Vaters schon das Mannheimer Wasser nachmachte, [habe, F. K.] viele Kundschafften von uns angezogen. Wahrscheinlich ist dieses Geschaefft [seines Vaters, F. K.] nicht mit gehörigem Fleiß und Ordnung betrieben worden, wie ich solches auch in Verschiedenem angetroffen, daher auch Herr Schumacher großen Beyfall erhalten haben muss, den er mit anderen Insinuationen und Vortheile(n) zu benuzen verstand; M AYER , Anweisung (wie Anm. 72). 74 M AYER , Anweisung (wie Anm. 72). 75 Vgl. LKA Ka, Best. Mennonitengemeinde Mannheim, Nr. 12 (Mennonitische Familien in Alt- Mannheim, ca. 1740-1860), Person Nr. 173. 76 David Möllinger nahm seine Dienste bereits einige Jahre vor der Eheschließung mit seiner Tochter Marie 1755 gelegentlich in Anspruch, wie beispielsweise 1752; vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 82. Schumacher lieferte 1763 Rotwein im Wert von 7 Gulden 30 Kreuzer nach Zweibrücken, ebd., fol. 535. 77 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 56, 74, 93, 141, 143, 149. 78 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 42, 64f., 150. 79 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 3, 118f. 80 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 17, 53. 81 So heißt es am 3.4.1765 im Konto von Michael Santino seelige Wittib zu Heidelberg: 3 Ohm 5 Viertel 2 Schoppen Fruchtbranntwein à 29 Gulden [geliefert, F. K.] thut 94 Gulden 15 Kreutzer. Empfangen in Mannheim bey meinem Tochtermann vor obigen Branntwein. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. <?page no="645"?> Frank Konersmann 646 den in entfernteren Städten wie Heilbronn, Straßburg, Colmar, Philippsburg, Offenbach und Frankfurt abgewickelt wurde. Diese Aufgaben nahmen Vater und Sohn Schumacher nachweislich bis zu Beginn der 1780er Jahre wahr, wobei sie eng mit David Möllinger und seinen Söhnen Martin und Christian zusammenarbeiteten, die seit den späten 1760er Jahren ebenfalls im Vertrieb der Agrarprodukte 82 und bei der Abwicklung von Geldgeschäften aktiv wurden. Darüber hinaus war der Schwiegersohn Johannes Schumacher für die regelmäßige Lieferung großer Mengen Zucker, Kandis, Melisse, Kümmel- und Anissamen an die Brennerei seines Schwiegervaters in das etwa 30 km entfernt liegenden Monsheim zuständig; das gilt auch für die Besorgung von Konsumgütern wie Kaffee, Baumöl, Reis, Pfeffer, Salz, Ingwer und Zitronen. 83 Für den Transport dieser Güter von Mannheim nach Monsheim wurden in der Regel Lastschiffe auf dem Rhein bis Worms und Fuhrwerke bis Monsheim in Anspruch genommen. Die Fahrten über Land übernahmen zumeist die Knechte Möllingers, während die Nutzung von Lastschiffen mit den Schiffseignern vereinbart werden musste. Insbesondere die Schiffer Cornelius Heyl 84 und Georg Esser 85 aus Worms spielten beim Vertrieb der Agrarprodukte Möllingers auch in entferntere Städte eine wesentliche Rolle, die er zudem mit der Entgegennahme der von den Kunden gezahlten Beträge beauftragte. In Anbetracht allein der erheblichen Einnahmen David Möllingers von bis zu zehntausend Gulden jährlich und der Notwendigkeit eines verlässlichen Kundenkontaktes brachte er seinem Schwiegersohn Johannes Schumacher erhebliches Vertrauen entgegen, als er ihm die Abwicklung eines Großteils seiner Geldgeschäfte übertrug. Freilich arbeitete dieser eng mit den Knechten Möllingers und dessen Söhnen zusammen, so dass er realiter stets unter einer gewissen Aufsicht der Bediensteten und Angehörigen der Familie Möllinger stand. Dies lässt sich beispielsweise den folgenden Notizen David 63), fol. 220. Am 5.11.1766 findet sich im Konto Johann Adam Hofmanns in Heidelberg der Eintrag: habe laut einem Brief von meinem Tochtermann in Mannheim die ordre, daß er überstehenden Betrag erhalten mit 42 Gulden 52 Kreutzer; fol. 251. 82 David Möllinger verkaufte bereits seit 1746 auch die lukrativen Produkte Rapsöl und Ölkuchen, vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol 21, 256. Seit der 1760er Jahren erhöhte er in Monsheim erheblich die jährliche Rapsproduktion auf gut 100 Hektoliter, in den 1780er Jahren wurde sie sogar auf über 200 Hektoliter erhöht; vgl. ebd., fol. 523f. 83 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 337, 357, 379, 421, 429, 437, 439. 84 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol 45, 66, 152. So lieferte Heyl am 2.9.1760 über sechs Ohm (9,99 Hektoliter) verschiedener Sorten Branntwein an Friedrich Carl Erst in Sachsenhausen, der Heyl den fälligen Betrag auszahlte, den dieser Möllinger übergab. So heißt es: durch Schiffer Cornelius Heyl 19 ¾ Louisdor erhalten à 11 Gulden thut 217 Gulden 15 Kreutzer; fol. 66. 85 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 197, 412, 422. Nach der Lieferung von fast neun Ohm (14,99 Hektoliter) Essig an Johann Justus Lindheimer in Frankfurt am 18.8.1779 durch Schiffer Georg Esser notierte Möllinger: Durch Schiffer Esser retour erhalten von Lindheimer 24 Gulden 5 Kreutzer [...] Erhielte durch Schiffer Esser den Saldo überstehenden Faß Essigs mit 38 Gulden 14 Kreutzer [...] Erhielte vor den Betrag vom 27.9.1780 durch Esser 38 Gulden 14 Kreutzer; fol. 197. <?page no="646"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 647 Möllingers in seinem Journal aus den Jahren 1775 und 1776 entnehmen, denen mehrere Zahlungen von Abel Stöss aus Mannheim zugrunde lagen, dem Möllinger knapp 40 Ohm (66,66 Hektoliter) Essig im Wert von etwas über 343 Gulden geliefert hatte: Jenseitiger Betrag nebst ½ Gulden an der obigen Abzug zahlt A. S. an Tochtermann Schumacher. Da der Christian [Möllinger, F. K.] in Mannheim war, von Tochtermann Schumacher [...] jenseitigen Betrag [...] mit einem Schreiben baar empfangen [...] überstehenden Betrag per retour meines Knechts empfangen [...] per saldo empfangen durch Johannes Schumacher durch Christian. 86 Diese monetären Transaktionen wurden zumeist in Bargeld oder aber in Form von Krediten abgewickelt. Gelegentlich verwendeten die Kunden Möllingers und auch er selbst Assignaten 87 und Wechsel, 88 um die Vorteile des bargeldlosen Zahlungsverkehrs zu nutzen, der gleichwohl auch mit Risiken verbunden war. 89 An keinem dieser Geschäftsvorgänge war einer der beiden Schwiegersöhne beteiligt, weder Johannes Schumacher noch Johann Jakob Kägy. Letzterer hatte 1758 Veronika Möllinger geheiratet und bewirtschaftete bis 1767 die von seinem Vater Michael Kägy gepachtete Schlossmühle in Monsheim. 90 Die Familien Kägy und Möllinger waren demnach bereits seit Jahren Dorfnachbarn. Auch Johann Jakob Kägy wurde von seinem Schwiegervater mit der Erledigung seiner Geldgeschäfte beauftragt, wenn auch in weit geringerem Maße als Johannes Schumacher. 91 Er dürfte bei David Möllinger eher in die Lehre gegangen sein, um als junger Mann alle für einen Bauernkaufmann nötigen Kenntnisse zu erwerben, Erfahrungen zu sammeln und Geschäftskontakte zu knüpfen, 92 bevor er dann selbst 1767 im rheinhessischen Dorf Offstein die Grundlagen für einen vielseitigen Agrarbetrieb legte, den er auch mit einer Branntweinbrennerei und einer Essigsiederei verband. 86 M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 267. 87 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 92, 107, 116, 116, 151, 173, 207, 295, 329, 331, 436. 88 David Möllinger stellte Georg Philipp Lentz & Söhnen aus Mannheim am 20.10.1778 einen Wechsel aus mit folgenden Worten: Als die Herrn Lentz hier waren, zahlten [sie, F. K.] 20 Gulden 48 Kreutzer, setze ihnen zu Last wegen geliehener Carolin [Gulden, F. K.] auf einen Wechsel, von einem Jahr betragend 9 Gulden 21 Kreutzer; M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 298. 89 So ging der Schuldschein Heinrich Michael Müllers aus Frankfurt verloren, wie David Möllinger am 28.10.1779 feststellte: Gegen einen meiner Scheine, da eine gehabte Assignation auf der Post, da das Brieffüllniß verlohren worden oder von Räubern entwendet worden, worinnen sie gesteckt [im Wert von, F. K.] 41 Gulden 56 Kreutzer; M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 329. 90 Vgl. Actum Monsheim in der oberen Schlossmühle, den 25.5.1758, in: StdA Wo Abt. 240 Nr. 619. 91 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 175, 177, 277, 341. 92 Vgl. F RANK K ONERSMANN , Schriftgebrauch, Rechenfähigkeit, Buchführung und Schulbesuch von Bauern in der Pfalz und in Rheinhessen (1685-1830), in: Elementarbildung und Berufsausbildung 1450-1750, A LWIN H ANSCHMIDT / H ANS -U LRICH M USOLFF (Hrsg.), Köln / Weimar / Wien 2005, 287-313, hier 299. <?page no="647"?> Frank Konersmann 648 Für Kägys Betriebsführung und sein Wirtschaftshandeln spielte ebenfalls die Zusammenarbeit mit Familien wie den Möllinger, Schumacher und Geber eine wesentliche Rolle, zu denen er allerdings erst spät weitere verwandtschaftliche Beziehungen aufbaute. 93 So unterhielt er seit 1780 zusammen mit drei Kompagnons, nämlich mit seinen Schwägern Martin und Christian Möllinger aus Monsheim und Johannes Schumacher aus Mannheim, eine Gerberei in Offstein, die mit einem kurpfälzischen Privileg ausgestattet war. 94 In dieser Gerberei dürften sie zum Teil die Häute des Rindviehs verarbeitet haben, das sie zuvor bei ganzjähriger Stallhaltung gemästet hatten, 95 um es dann in größerer Stückzahl lukrativ unter anderem an Metzger in Mannheim zu verkaufen, 96 von denen sie schließlich die Tierhäute wieder erhielten. Die Kompagnons gehörten in ihren jeweiligen Wohnorten zu den größten Besitzern von Rindviehherden, das gilt sowohl für Johann Jakob Kägy in Offstein 97 als auch für seine beiden Schwäger Möllinger in Monsheim. 98 Ähnlich wie sein Schwiegervater David Möllinger war Johann Jakob Kägy offensichtlich darum bemüht, seine vielfältigen Geschäfte als Bauernkaufmann durch geschickte Verheiratung seiner Kinder mit Partnern gleichrangiger mennonitischer Familien abzusichern. Bei der Suche nach geeigneten Ehepartnern beschritt er jedoch zunächst eigene Wege und knüpfte für seine vier ältesten Kinder Verbindungen mit den zum Teil konservativeren mennonitischen Familien Würtz, Janson, Deutsch und Hiestand, von denen sich einige wie der Gutspächter Heinrich Würtz 99 aus dem westpfälzischen Dorf Enkenbach und der Pächter Jakob Hiestand 100 vom Ibersheimer Hof als Prediger an den Ibersheimer Beschlüssen von 1803 und 1805 beteiligen sollten. 101 Nur die Familien Janson und Würtz gehörten auch zu dem engeren Heiratskreis der Familie Möllinger. Auffallend spät suchte Kägy Ehe- 93 Vgl. K ONERSMANN , Soziogenese (wie Anm. 20), 229f. 94 Die Urkunde vom 24.11.1780 befindet sich im StdA Wo Abt. 240 Nr. 627. Kägy kaufte im gleichen Jahr für die Gerberei zwei Häuser, vgl. ebd. Nr. 623. 95 Am 21.11.1793 erkundigte sich Martin Möllinger aus Monsheim bei seinem Vetter David Kägy aus Offstein, ob er schon wohlfeile Ochsen gekauft habe, um sie zu mästen. Der Brief befindet sich unter dem losen Schriftgut des Archivs der mennontischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). 96 Diese Vermarktungspraxis geht beispielsweise aus einem Brief vom 22.5.1794 von Jakob Möllinger, Sohn von Martin Möllinger, in Mannheim an seinen Vetter David Möllinger, Sohn von Christian Möllinger, in Monsheim hervor. Denn Jakob Möllinger stellte fest: Gestern ist sämtliches Rindvieh, samt Pferde versteigert geworden; ersteres ist sehr hoch an Werth gekommen, dann ein Stück gesteigt für 100 Gulden, welches hoffentlich in unsern Stall zimlich recht sein wird. Der Brief befindet sich in der Privatüberlieferung der Familie Spindler in Mölsheim. 97 1795 besaß Johann Jakob Kägy ingesamt 24 Rinder, so dass er mit deutlichem Abstand zu seinen dörflichen Mitbewohnern die größte Rindviehherde in Offstein besaß, vgl. StdA Wo Abt. 240 Nr. 47. 98 Um 1800 verfügten die Brüder Möllinger in Monsheim schätzungsweise über 20 Kühe, 20 Rinder und 45 Mastochsen, vgl. S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 177. 99 Heinrich Würtz war seit 1783 mit Anna Maria Kägy verheiratet. 100 Jakob Hiestands Tochter Elisabeth war mit Johannes Kägy verheiratet. 101 Vgl. S CHOWALTER , Die Ibersheimer Beschlüsse (wie Anm. 54), 42. <?page no="648"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 649 partner bei den sehr geschäftstüchtigen Familien Möllinger und Geber, 102 denn erst 1791 verheiratete er seine zweitjüngste Tochter Veronika mit dem Branntweinbrenner Heinrich Geber aus Mannheim. 103 Mit diesem unterhielt er bereits Geschäftsbeziehungen, um seinen Branntwein und Essig in der Metropole am Rhein lukrativ absetzen zu können. 104 Am Ende seines Lebens heiratete sein jüngster Sohn Christian 1796 Anna Maria Möllinger, eine Tochter seines Vetters Christian Möllinger, und 1797 ging seine jüngste Tochter Elisabetha eine Ehe mit Jakob Möllinger ein, einem Sohn seines Vetters Martin Möllinger. Der überlieferten Korrespondenz zwischen den Familien Möllinger und Kägy aus den frühen 1790er Jahren ist zu entnehmen, dass die gemeinsamen Geschäfte von Anfang an im Mittelpunkt ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen standen. So lieferte Christian Möllinger im August 1793 ein Maß Bierhefe an seinen Vetter Johann Jakob Kägy in Offstein, 105 während dieser ihm im September 1794 größere Mengen Rapsöl nach Monsheim schickte, 106 nachdem Möllinger ihn darum gebeten hatte. 107 Im Februar 1795 korrespondierten sie zum einen über 13 Ohm (21,66 Hektoliter) Wein, die Kägy seinem Vetter für 220 Gulden verkauft hatte, zum anderen über die Qualität und den Preis von Ochsen bei verschiedenen Bauern. 108 Als Johann Jakob Kägy 1795 starb und sein beträchtliches Erbe von rund 71.000 Gulden unter den sieben überlebenden Kindern zu gleichen Teilen aufgeteilt werden musste, 109 entstanden offenbar finanzielle Engpässe. Denn sein ältester Sohn David sah sich 1797 zur Aufnahme eines Kredits in Höhe von 4.200 Gulden bei seinen Vettern Christian und Martin Möllinger gezwungen, den sie mit 4 Prozent verzinsten. 110 Der gewissenhafte Bauernkaufmann 102 Die meisten genealogischen Informationen über die Familie Kägy stammen aus den genealogischen Aufstellungen der Familie Kägy auf dem Bolanderhof. 103 Vgl. LKA Ka, Best. Mennonitengemeinde Mannheim, Nr. 12 (Mennonitische Familien in Alt- Mannheim ca. 1740-1860), Person Nr. 63. 104 Ich verweise auf die Korrespondenz zwischen Heinrich Geber und Johann Jakob Kägy in: J OHANN J AKOB K ÄGY , Kopierbuch (1794-1811). Das Schreibebuch befindet sich im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). 105 Abschrift dieses Briefes vom 12.8.1793 durch Frau Veronika Strohm-Brauch, die sich in einem Depositum im StdA Wo befindet. 106 Der Brief vom 27.9.1794 befindet sich unter dem losen Schriftgut im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). 107 In dem Brief vom 25.9.1794 hatte Christian Möllinger geschrieben: Wir haben das Oel so höchst nötig, warum ich eigentlich diesen expresson schicke, um darnach zu fragen, kan es ausgeliefert werden, so wäre es uns sehr angenehm. Der Brief befindet sich ebenfalls in: Loses Schriftgut im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). 108 Der Brief vom 5.2.1795 in: Loses Schriftgut im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). 109 Vgl. Inventarium cum Statu Massa des verlebten Jacob Kägy in Offstein am 22.9.1796, in: Loses Schriftgut im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). 110 Vgl. D AVID K ÄGY , Handbuch (1789-1820), fol. 58, in: Loses Schriftgut im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). Gelegentlich berechneten die Brüder Möllinger kei- <?page no="649"?> Frank Konersmann 650 und mennonitische Diakon David Kägy zahlte den Kredit bis 1810 vollständig zurück, als sein Schwiegersohn Jakob Möllinger die Geschäfte in Monsheim weiterführte. 111 In Anbetracht dieser wichtigen Finanzhilfe durch seine Vettern stellte Kägy der Familie seines Schwiegersohnes mit folgenden Worten seine Unterstützung in Aussicht: Wäre also alles bezahlt, danke m[einem] l[ieben] Bruder Möllinger vor seine gute Behandlung, wenn ich oder meine Kinder Ihm dienen können, so wäre es unrecht, wenn es nicht geschehe. 112 Bis Mitte der 1810er Jahre bestanden zwischen den Familien von David und Christian Kägy in Offstein, die seit dem Tod ihres Vaters 1795 gemeinsam die Branntweinbrennerei, Essigsiederei und Gerberei bewirtschafteten, und den Familien ihrer Vettern Christian und Martin Möllinger sowie denen ihrer Nachkommen in Monsheim und in Pfeddersheim enge Geschäftskontakte, die sich in ihrer Korrespondenz und in ihren Geschäftsbüchern nachweisen lassen. So tauschte man sich im Mai 1796 über die Qualität von Pferden aus, die verschiedene Bauern im näheren Umkreis zum Verkauf anboten. 113 Im Oktober 1803 wurden die Weinpreise in Offstein mit denen in Mannheim verglichen, 114 und im Oktober 1805 bestellte Johannes Möllinger, ein Sohn von Christian Möllinger, 50 Ohm (83,33 Hektoliter) Branntwein bei seinem Onkel David Kägy. 115 Im September 1808 beriet sich Jakob Möllinger mit seinem Schwiegervater David Kägy über regelmäßige monatliche Lieferungen von Essig im Umfang von mindestens zehn Ohm (16,65 Hektoliter). 116 Offenbar hatte Kägy die feste Absicht, die bestehenden Verwandschaftsbeziehungen zwischen den Familien zu vertiefen, denn er zeigte besonderes Engagement, seinen ältesten Sohn Jakob 1816 mit Christine Möllinger zu verheiraten, 117 einer Tochter seines Vetters Martin Möllinger und Schwester seines Schwiegersohns Jakob Möllinger. Jedoch scheiterte die Ehe schon nach zwei Jahren an der Unvereinbarkeit der Interessen zwischen Vater und Sohn. Während sich Kontakte zu dem Zweig der Familie Möllinger in Monsheim nach der Jahrhundertwende nur noch sporadisch nachweisen lassen, häuften sich die Geschäftsbeziehungen David Kägys zu seinem Vetter David Möllinger junior, dem ältesten Sohn Martin Möllingers. Dieser hatte 1790 seine Base Barbara Schumacher geheiratet, eine Tochter Johannes Schumanen Zins, wie aus der Notiz Kägys vom 14.11.1804 hervorgeht: Nahmen mir keine Zinsen davon ab, ist also eine Schuldigkeit daß ich Ihnen oder Ihren Kindern wieder eine Gefälligkeit dagegen erzeige. 111 Vgl. K ÄGY , Handbuch (wie Anm. 110), fol. 109. 112 K ÄGY , Handbuch (wie Anm. 110), fol. 109. 113 Der Brief vom 10.5.1796 liegt in einer Abschrift von Veronika Strohm-Brauch vor. Er befindet sich in dem entsprechenden Depositum im StdA Wo. 114 Brief vom 29.10.1803, Depositum im StdA Wo. 115 Brief aus dem Jahre 1805, Depositum im StdA Wo. 116 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 222. 117 Vgl. N EFF , David Kaege (wie Anm. 36), 53-55. <?page no="650"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 651 chers aus Mannheim, und ließ sich 1791 im nahegelegenen Kantonsort Pfeddersheim nieder. 118 Er bewirtschaftete dort zunächst einen kleineren Betrieb von etwa acht Hektar, um einige Jahre später einen relativ modernen, auf differenzierter Buchführung beruhenden Agrarbetrieb im Umfang von etwa 50 Hektar aufzubauen, 119 der von vornherein auf Viehzucht und Viehmast sowie auf Branntwein- und Essigproduktion ausgerichtet war. 120 Im Auftrag dieses Vetters und seines Schwiegervaters Heinrich Geber aus Mannheim lieferte David Kägy im Januar 1800 über 15 Ohm (24,99 Hektoliter) Branntwein an den Schiffer Georg Esser in Worms, der fünf Fässer auf dem Rhein nach Mannheim transportieren sollte. 121 Im März desselben Jahres verkaufte ihm der Vetter einige Malter Hafer und Erbsen sowie sieben Ohm Wein (11,66 Hektoliter) für insgesamt 75 Gulden 48 Kreuzer. 122 Im April übersandte Kägy seinem Vetter sechs Obligationen eines Mitbewohners aus Offstein, um ausstehende Rechnungen zu begleichen. 123 Im August 1807 bestellte David Kägy für sich und seinen Vetter insgesamt 1.000 Tonkrüge bei einem Fabrikanten in Vallendar bei Koblenz. 124 Die mennonitischen Bauernkaufleute David Kägy aus Offstein und sein Vetter David Möllinger junior aus Pfeddersheim gehörten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Abstand zu den wohlhabendsten ländlichen Bewohnern Rheinhessens. Diesen beachtlichen Wohlstand hatten sie sowohl ihrer lukrativen Viehzucht und Viehmast als auch ihrer Branntwein- und Essigproduktion sowie ihrem weitläufigen Agrarhandel zu verdanken. David Kägy verfügte 1838 über sechs Pferde, zehn Schweine und 31 Rinder 125 und produzierte jährlich etwa 8.000 Liter Branntwein und 4.000 Liter Essig, die er auch mit Hilfe von Verwandten in einem Umkreis von etwa 70 km absetzte. 126 Als David Kägy 1846 starb, vererbte er seinen beiden überlebenden Kindern ein Vermögen von 124.382 Gulden. 127 In den Ställen seines Vetters 118 Vgl. StdA Wo Abt. 49 Nr. 600. 119 Nicht zuletzt dank dieser Buchführung lobte ihn der Agrarschriftsteller Johann Nepomuk Schwerz, als er ihn 1814 auf seiner Reise durch die Pfalz und Rheinhessen besuchte, mit folgenden Worten: Ich fand hier einen rationellen Landwirth; eine genaue, gewissenhafte und viele Jahre durchgesetzte Buchhaltung; reine Wahrheit, Offenheit und keine Schminke, keine Pralerei. S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 115. 120 Diesen Eindruck vermitteln die zahlreichen Handwerkerrechnungen in seinem Journal; D AVID M ÖL- LINGER junior, Journal (1798-1806), StdA Wo Abt. 49 Nr. 2172. 121 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 57. 122 Vgl. M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), Blatt 5 v . 123 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 62. 124 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 201. 125 Diese Rindviehherde teilte sich in acht Ochsen, zehn Rinder und 13 Kühe auf. 126 Vgl. K ONERSMANN , Rechtslage (wie Anm. 34), 105-112. 127 Vgl. Inventarium von David Kägy vom 10.1.1847, in: Loses Schriftgut im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). Zum Vergleich sei auf den reformierten Gutsbesitzer und Gastwirt Georg Jacob Hirsch I. aus dem rheinhessischen Dorf Alsheim verwiesen. Er vererbte 1861 ein Vermögen von 101.790 Gulden, das auf fünf Erbberechtigte verteilt werden musste. Vgl. M AH- LERWEIN , Die Herren (wie Anm. 8), 46. <?page no="651"?> Frank Konersmann 652 David Möllinger junior und von dessen Sohn Johann in Pfeddersheim standen 1817 drei Pferde, sieben Schweine und 33 Rinder. Er verkaufte jährlich allein etwa 20 gemästete Rinder und Kühe. 128 Darüber hinaus produzierte er zu Beginn des 19. Jahrhunderts ungefähr 9.000 Liter Branntwein und 1.000 Liter Essig. 129 Seine Geschäfte konzentrierten sich auf den rheinhessischen und pfälzischen Raum und erreichten einen Radius von 40 km, gelegentlich lieferte er aber auch an Kunden in Frankfurt und Mannheim. Auf den ersten Blick ist sein räumlich begrenzterer Agrarhandel vor allem auf seine regelmäßigen Kontakte zu mehreren Kaufleuten in Worms zurückzuführen, die seine Produkte weiterverkauften. Der 1836 gestorbene Johann Möllinger 130 dürfte ein ähnlich hohes Vermögen wie David Kägy vererbt haben, zumal er 1820 allein aus der Erbschaft seiner Verwandten aus Monsheim über 57.000 Gulden erhalten hatte. 131 4. Verwandtschaftliche Netzwerke und Geschäftsradien der Bauernfamilien Möllinger und Kägy Für die Klärung der näheren Zusammenhänge zwischen den verwandtschaftlichen Netzwerken einerseits und dem Agrarhandel andererseits sind im Fall der beiden mennonitischen Bauernfamilien Möllinger und Kägy mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Zu diesen Faktoren sind neben der gesellschaftlichen Stellung der Familien, ihrer sozialen und konfessionellen Bindung an ihre mennonitische Glaubensgemeinschaft und den persönlichen Interessen der männlichen Familienvorstände auch das jeweilige Entwicklungsstadium der regionalen Agrarmärkte, die Dynamik der Agrarkonjunktur und die Zusammensetzung der von ihnen verkauften Agrarprodukte zu rechnen. Als die mennonitische Glaubensgemeinschaft in den 1730er Jahren eine wachsende gesellschaftliche Akzeptanz erfuhr und feste Gemeindestrukturen ausprägte, vermochte sich die Familie des Vincenz Möllinger aus dem vorderpfälzischen Mutterstadt nicht zuletzt dank geschickter Eheschließungen in der südwestdeutschen Region zu konsolidieren. Diese verbesserten Rah- 128 Diese Zahlen entnehme ich dem Schreibebuch von D AVID M ÖLLINGER junior, Landwirthschaftliche Rechnungen (1803-1814). Dieses Schreibebuch ist in der StdBi Mz, Handschriftenabteilung, Ms 122, Bd. 1 deponiert. Sogenannte Viehrechnungen befinden sich jeweils am Ende der insgesamt 17 Arbeitstagebücher von David Möllinger. Sie sind in dem gleichen Bestand Ms 122, Bde. 2 bis 18 deponiert. 129 Vgl. M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), passim. 130 Vgl. StdA Wo Abt. 49 Nr. 2186. 131 Die den väterlichen Betrieb in Monsheim gemeinsam bewirtschaftenden Brüder Martin und Christian Möllinger vererbten 1820 über 799.000 Gulden, die auf insgesamt 14 Erben aufgeteilt werden mussten; vgl. Looß- und Theilungszettel für Frau Veronika Möllinger, Ehegattin von Herrn Jacob Hackmann zu Mannheim vom 9.9.1820, in: Privatüberlieferung der Familie Spindler in Mölsheim. <?page no="652"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 653 menbedingungen dürften die vier Söhne Vincenz Möllingers in den 1740er Jahren bewogen haben, den Weg beruflicher Spezialisierung einzuschlagen. Sie nahmen zu diesem Zweck obrigkeitliche Privilegien in Anspruch und wählten ihren Wohnsitz in ökonomisch relevanten Orten der südwestdeutschen Region, wo bereits mennonitische Familien lebten. So spezialisierten sich Jakob und Josef Möllinger auf das Uhrmacherhandwerk und siedelten sich in der Oberamtsstadt Neustadt und in der Residenzstadt Zweibrücken an. Martin Möllinger wurde Branntweinbrenner in der Residenzstadt Mannheim, und David Möllinger war seit 1738 zunächst Gutspächter im vorderpfälzischen Gronau, wo er sich den Pachtbedingungen gemäß mit dem Brennen von Branntwein vertraut machen musste, 132 bevor er sich 1744 in Monsheim selbständig machte und ein Gut eigentümlich erwarb. Dort führte er sogleich die ganzjährige Stallfütterung ein und verband den Betrieb mit einer Branntweinbrennerei und Essigsiederei, um für die sich ausprägenden Agrarmärkte lukrative Agrarprodukte herzustellen. 133 Für den Vertrieb seines Branntweins und Essigs nahm er von Anfang an seine Brüder in Neustadt, Zweibrücken und Mannheim, seinen Schwager Jakob Kindig in Mutterstadt und schon bald auch die Beziehungen zur Familie seines Onkels, des Branntweinbrenners Christian Schumacher aus Mannheim, in Anspruch. Insbesondere die geschäftlichen Kontakte zu der Familie Schumacher waren für den Agrarhandel der Familie Möllinger bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts von strategischer Bedeutung. Die beiden Familien waren über drei Generationen hinweg durch Vettern-Basen-Heiraten eng verflochten. Einen ähnlichen Stellenwert für die Geschäfte der Möllinger nahmen ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zur Familie Kägy ein, die ebenfalls bis in das 19. Jahrhundert anhielten und auf drei Ehen und zwei Überkreuzheiraten beruhten. Jedoch trat die Familie Kägy nicht nur in die Dienste der Familie Möllinger, wie das bei den Schumachers zu beobachten ist, sondern sie prägte ihrerseits den Typus des Bauernkaufmanns aus. Beide Familien begegneten sich in der Agrarproduktion, im Agrargewerbe und im Agrarhandel im Prinzip als gleichrangige Akteure und kooperierten wirtschaftlich miteinander, auch wenn die Familie von David Möllinger Ende des 18. Jahrhunderts über ein ungleich größeres Vermögen als die Familie Johann Jakob Kägys verfügte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind ihre Nachkommen dann in jeder Hinsicht als ähnlich vermögend einzuschätzen. Im Unterschied zur starken Mitarbeit von Verwandten bei der Organisation des Agrarhandels dieser mennonitischen Bauernkaufleute spielten die verwandtschaftlichen Netzwerke ihrer Familien für die räumliche Ausdehnung ihres Agrarhandels nur eine untergeordnete Rolle. Diese Einschätzung 132 Vgl. J OSEF Z ECH , Aus der Geschichte von Röderheim-Gronau, Neustadt 1978, 96. 133 Vgl. K ONERSMANN , Entfaltung (wie Anm. 10), 207-212. <?page no="653"?> Frank Konersmann 654 gilt auch für den Stellenwert anderer mennonitischer Glaubensangehöriger. Ihnen gegenüber trat David Möllinger senior gelegentlich als Käufer und Vermarkter ihrer Agrarprodukte auf, wie das für die Mennoniten Christian Hiestand, 134 Jakob Lichti, 135 Johannes Nef, 136 Martin Brennemann, 137 Johannes Dahlem 138 und Wohlgemuth 139 nachweisbar ist. Der vergleichsweise geringe Stellenwert mennonitischer Glaubensangehöriger für den Agrarhandel David Möllingers zeigt sich auch in der Tatsache, dass er für manche Lieferung von Branntwein und Essig beispielsweise an die Kaufmannsfamilie Karcher in Kaiserslautern nicht die Vermittlung von Glaubensangehörigen oder von Verwandten aus der Familie Würtz vor Ort in Anspruch nahm, 140 sondern selbst mit dem Kaufmann in Kontakt trat. 141 Die meisten Geschäftsbeziehungen, die den Absatz von Branntwein und Essig betrafen, knüpfte David Möllinger mit Kaufleuten, Gewerbetreibenden, Wirten und Mitgliedern städtischer Räte anderer Konfessionszugehörigkeit. Ein Großteil seiner Kunden wohnte in Frankfurt, Sachsenhausen, Hanau, Mainz, Darmstadt, Worms, Mannheim, Heidelberg, Speyer, Heilbronn, Philippsburg, Straßburg, Colmar, Basel, Forbach und Saarbrücken. Einige wenige Verkäufe wurden auch mit Kunden in Erfurt und sogar in Amsterdam vereinbart. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen italienischen Kaufleute unter anderem in Heidelberg und Mannheim, zu denen Möllinger früh Kontakte geknüpft hatte und die sich zumeist als dauerhaft erwiesen. 142 Das Journal von David Möllinger senior weist zwar auch einige Geschäftsbeziehungen zu Kunden in den nahe dem Dorf Monsheim gelegenen Kleinstädten Alzey, Grünstadt, Kreuznach und Bockenheim auf, an die er ebenfalls zumeist Branntwein und Essig lieferte, aber derartige Einträge sind eher selten. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass Möllinger auch Rapsöl, kleinere Mengen Getreide, Kleinvieh, Milch, Butter und Käse im näheren Umkreis von 30 bis 40 km verkaufte, wie das sowohl von anderen mennonitischen als auch von reformierten und lutherischen Bauernkaufleuten überliefert ist. 143 Derartige Verkäufe dürfte er in andere Schreibebücher notiert haben, die aber nicht erhalten sind. Zudem fehlen in dem Journal 134 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 150. 135 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 175. 136 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 213. 137 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 249. 138 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 255, 419. 139 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 208. 140 Vertreter der mennonitischen Familie Würtz lebten in den nahe Kaiserslautern gelegenen Dörfern Enkenbach und Hochspeyer. Der Pächter Friedrich Würtz auf dem Münchhof in Hochspeyer bewirtschaftete einen Betrieb von 33 Hektar und unterhielt eine Brennerei und Ziegelei; vgl. K ONERS- MANN , Existenzbedingungen (wie Anm. 9), 67f. 141 Vgl. M ÖLLINGER senior, Journal (wie Anm. 63), fol. 248, 362. 142 Vgl. K ONERSMANN , Entfaltung (wie Anm. 10), 302, Anm. 122. 143 Vgl. K ONERSMANN , Bauernkaufleute (wie Anm. 49), 25-34. <?page no="654"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 655 Einträge von verkauftem Mast- und Zuchtvieh, obwohl Möllinger beispielsweise jährlich Mastochsen an den Grafen von Leiningen 144 und auch häufig Mastochsen an weit entfernt wohnende Kunden in das benachbarte Frankreich verkaufte. 145 Ähnliche Informationslücken sind in der Überlieferung des Bauernkaufmanns David Kägy festzustellen, dessen Schreibebücher und Korrespondenz fast ausschließlich Notizen von seinem regionalen und überregionalen Agrarhandel mit Branntwein und Essig enthalten. Auch bei ihm spielten Verwandte für die Organisation seines Agrarhandels eine gewisse, wenn auch eine deutlich geringere Rolle als bei seinem Onkel David Möllinger senior. Zu erwähnen ist insbesondere sein Schwiegersohn, der Branntweinbrenner Heinrich Geber aus Mannheim, der für ihn nachweislich bis 1802 in zahlreichen Fällen die Geldgeschäfte mit seinen Kunden in Mannheim und Heidelberg erledigte, 146 denen Kägy Branntwein und Essig gelieferte hatte. Geber führte für seinen Schwiegervater vorübergehend ein Kontor und ein Lager in Mannheim; 147 er übernahm demnach eine ähnliche Aufgabe wie Jahrzehnte zuvor Johannes Schumacher für David Möllinger senior. Heinrich Geber kaufte gelegentlich auch Agrarprodukte seines Schwiegervaters wie beispielsweise 1799 mehrere Pfund Butter 148 und 1800 einige Ohm Branntwein. 149 Abgesehen davon lassen sich bis 1808 nur wenige Geschäftsbeziehungen zwischen David Kägy und anderen mennonitischen Glaubensangehörigen nachweisen, die von ihm einige Ohm Branntwein 150 und gelegentlich einige Pfund Kleesamen kauften. 151 Der Großteil der Kundschaft Kägys gehörte einer anderen Konfession an und wohnte in Landau, Heidelberg, Worms, Frankenthal, Darmstadt, Mainz, Hanau, Offenbach und Frankfurt. Besonders intensive und regelmäßige Geschäftsbeziehungen unterhielt Kägy zu einigen wenigen Kaufleuten in Mainz, Worms und Heidel- 144 Vgl. S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 172. Zudem stellte ein ihn Mitte der 1770er Jahre besuchender französischer Adliger fest: In meinem gestrigen Nachtquartier hoerte ich im Gespraeche mit den Bauren von einem reichen Wiedertaeufer, der eine ausserordentlich große Wirthschaft haette, und die ganze Gegend umher mit fetten Ochsen versorgte [...]; StdA Wo Abt. 239 Nr. 166. 145 Vgl. S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 180. 146 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 76, 80, 82, 86f., 91-93, 96, 109. 147 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 80. Am 15.1.1801 teilte Kägy dem Kunden Johann Peter Trau in Heidelberg, der ihm größere Mengen Melisse und Zucker geliefert hatte, mit: Ich ersuche Sie in Freundschaft endlich den Rest von 34 Gulden 15 Kreutzer nebst 9 Gulden 27 Kreutzer was ich an Melisse zu wenig hatte, verpetschiert in Geld nebst Fäßgen an Heinrich Geber in Mannheim beliebig senden [zu, F. K.] wollen; fol. 82. 148 Die Bestellung erfolgte durch Veronika Geber bei ihrem Bruder David Kägy am 27.5.1799. Der Brief befindet sich als Abschrift von Veronika Strohm-Brauch im Depositum des StdA Wo. 149 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 59. 150 Am 28.1.1800 kaufte Johannes Schumacher aus Mannheim 3,5 Ohm (5,82 Hektoliter) Branntwein, vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 59. Am 20.8.1804 kaufte Brennemann von Wachenheim eine unbekannte Anzahl Ohm an Branntwein und Essig; vgl. fol. 155. 151 Am 13.2.1808 verkaufte er an Bergdolt 1,25 Pfund Kleesamen; K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 220. <?page no="655"?> Frank Konersmann 656 berg, die seine Produkte weiter verkauften. Insbesondere die häufigen Lieferungen nach Mainz dürften mit der Wirtschaftspolitik und verbesserten Infrastruktur während der französischen Besetzung zwischen 1797 und 1814 zusammenhängen, als die Zölle am Hafen von Mainz aufgehoben wurden. Infolgedessen erhöhte sich der Absatz von Produkten des Departements Donnersberg, zu dem die Pfalz und Rheinhessen gehörten, auf dem Mainzer Umschlagsplatz. 152 Der regelmäßige Verkauf von Branntwein und Essig nach Worms beruhte hingegen vor allem auf den guten Kontakten zu einigen Kaufleuten und Schiffern wie Johannes Hartmann und Georg Esser, die für Kägy auch Bestellungen von Kunden entgegennahmen. 153 Sein Vetter David Möllinger junior in Pfeddersheim verkaufte einen Großteil seiner Produkte während der französischen Besetzung innerhalb des Departements Donnersberg an deutsche und französische Kunden. 154 Sie wohnten in den pfälzischen und rheinhessischen Städten Speyer, Frankenthal, Neustadt, Kreuznach, Rockenhausen, Oppenheim, Worms und Mainz. Äußerst selten verkaufte Möllinger Branntwein und Essig in Städte außerhalb des Departements, wie beispielsweise nach Mannheim und Frankfurt. Darüber hinaus fällt der regelmäßige Absatz von Agrarprodukten, zu denen neben kleineren Mengen Branntwein und Essig auch Kleinvieh, Butter, Klee- und Rübsamen, Most, Getreide und Spreu gehörten, in benachbarte Dörfer und auch innerhalb der Kantonsstadt Pfeddersheim auf. Bei diesen Kunden handelte es sich nicht selten um Handwerker, die Möllinger mit Arbeiten für den Ausbau seines Betriebes beauftragte. Darüber hinaus finden sich Kunden, die für ihn im Tagelohn arbeiteten. Der weitgehend lokale und regionale Charakter seines Agrarhandels ist zum einen mit der französischen Wirtschaftspolitik zu erklären, die auf eine Stärkung der Wirtschaftskraft des Departements Donnersberg zielte, zum anderen spielte die Situation seines Betriebs eine nicht unerhebliche Rolle, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch im Aufbau begriffen war. Inwiefern ihm Verwandte bei der Unterhaltung seines Agrarhandels behilflich waren, lässt sich nur einigen wenigen Einträgen seines Journals ent- 152 So stellte Ferdinand Bodmann 1809 fest: Le port franc qui a été établi à Mayence, la convention de l’octroi de navigation du Rhin qui règle et facilité les transports, l’entretien des chemins de halage, et la grande route de Paris à Mayence ne peuvent que lui donner un développment toujours croissant; déjà, sans qu’il soit besoin de prévoir et d’énumerer les objets à importer ou à exporter, le commerce a pris sa direction par Mayence pour toutes les correspondances du midi avec la Hollande et le Nord de l‘Europe; F ERDINAND B ODMAN , Annuaire Statistique du Département du Mont-Tonnerre, pour l’an 1809, Mayence 1809, 191. 153 So notierte David Kägy am 23.10.1807 in seinem Brief an Martin Wolf in Hanau: Auf Order des Schiffers Johannes Hartmann von Worms sende Ihnen 1 Faß Essig für unten berechnet, erträgt 49 Gulden 4 Kreutzer, wünsche guten Empfang und erwarte fernere Bestellungen; K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 217. 154 Vgl. M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), passim. <?page no="656"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 657 nehmen. So übernahm sein Schwager David Schumacher, Weinhändler aus Mannheim, 155 sporadisch die Abwicklung seiner Geldgeschäfte. 156 Als Käufer seiner Produkte traten zuweilen sein Vetter Jakob Möllinger und sein Onkel Christian Möllinger in Monsheim auf, die zwischen 1799 und 1803 immer wieder größere Mengen Branntwein und Essig im Umfang von etwa 10 Ohm (16,65 Hektoliter), aber gelegentlich auch Samen von Dickrüben bezogen. 157 Darüber hinaus kauften jeweils nur einmal sein Schwager David Schumacher aus Mannheim, sein Vetter Johannes Kägy vom Ibersheimerhof, 158 sein Vetter David Kägy aus Offstein 159 und seine Schwägerin Veronika Hackmann aus Osthofen 160 kleinere Mengen Butter, Erbsen, Hafer, Wein und Branntwein. Welchen Kunden er sein gemästetes Rindvieh in größerer Stückzahl zwischen 1803 und 1814 verkaufte, lässt sich dem entsprechenden Schreibebuch allerdings nicht entnehmen. 161 5. Rollendiversifikation bei Bauernkaufleuten und ihre Folgen für Glaubensgemeinschaft, Verwandtschaft und Familie - ein Ausblick Mit der Konsolidierung der mennonitischen Glaubensgemeinschaft in den 1730er Jahren als einer allmählich tolerierten religiösen Minderheit und ihrer erheblichen Vergrößerung bis auf einen Anteil von etwa 0,4 Prozent an der Bevölkerung im linksrheinischen Südwesten setzte ein Prozess sozialer Differenzierung innerhalb der Glaubensgemeinschaft ein, der sie vor eine neue Belastungsprobe stellte. Für die Aufrechterhaltung ihres inneren Zusammenhalts beschritt die Glaubensgemeinschaft nolens volens den Weg einer spezifisch mennonitischen Konfessionalisierung. 162 Es wurden kirchenähnliche Verbandsstrukturen mit entsprechenden Ämtern (Ältester, Prediger, Diakon, Lehrer) ausgebildet, wobei Vertreter einiger wohlhabender Familien Führungspositionen übernahmen. 163 Die ökonomische Basis dieser 155 Vgl. LKA Ka, Best. Mennonitengemeinde Mannheim, Nr. 12 (Mennonitische Familien in Alt- Mannheim, ca. 1740-1860), Person Nr. 177. 156 So notierte David Möllinger am 15.1.1800: Friedrich Schirmer dahier. In Mannheim bei Schwager Schumacher denselben angewiesen 30 Gulden, da er aber 22 Gulden zu gut hatte, so kommen hierher nur als Sol 8 Gulden; M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), Blatt 8. 157 Vgl. M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), Blätter 2f., 3, 4, 6 v , 12 v , 18f., 20. 158 Vgl. M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), Blatt 6. 159 Vgl. M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), Blatt 5 v . 160 Vgl. M ÖLLINGER junior, Journal (wie Anm. 120), Blatt 8. 161 Vgl. M ÖLLINGER junior, Landwirtschaftliche Rechnungen (wie Anm. 128). 162 Vgl. F RANK K ONERSMANN , Ketzer - Pioniere - Pazifisten. Gesellschaftliche Exklusion und Inklusion von Mennoniten als religiöser Minderheit (1660-1870) in: Religion und Grenzen in Indien und Deutschland, M ONICA J UNEJA / M ARGIT P ERNAU (Hrsg.), Göttingen 2008, 393-424. 163 Vgl. K ONERSMANN , Studien zur Genese (wie Anm. 28), 424-429. <?page no="657"?> Frank Konersmann 658 sozial exponierten Familien bildeten zumeist größere Agrarbetriebe, die mit einer Branntweinbrennerei und Essigsiederei verbunden waren. Mennonitische Bauernfamilien wie die Möllinger, Kägy, Schumacher und Würtz prägten von den 1740er Jahren an durch Vettern-Basen-Heiraten über mehrere Generationen hinweg dauerhafte Heiratskreise aus, die das personelle und wirtschaftliche Zentrum der mennonitischen Gemeindeverbände darstellten. Die soziale Integrationskraft dieser Familienkreise hing jedoch entscheidend vom wirtschaftlichen Erfolg ihrer Haushaltsvorstände ab, die sich zunehmend auf die Herstellung und den Vertrieb lukrativer Agrarprodukte wie Rindvieh, Pferde, Branntwein, Essig, Futterpflanzen, Rapsöl und Weizen spezialisierten und in diesen Marktsegmenten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend ohne Konkurrenz waren. Der von ihnen mit Hilfe naher Verwandter organisierte Agrarhandel diente dem gezielten und gewinnbringenden Absatz ihrer Produkte, der sich insbesondere bei David Möllinger senior und auch bei David Kägy mit einem Radius von bis zu 150 km auf den gesamten oberrheinischen Raum erstreckte. Dieses Gebiet wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dank eines starken Bevölkerungswachstums und erhöhter Nachfrage nach Agrarprodukten des benachbarten Auslandes von einer dauerhaften Agrarkonjunktur erfasst. Darüber hinaus ist es für die expandierenden Agrarmärkte Südwestdeutschlands kennzeichnend, dass dort auffallend viele Mitglieder der religiösen Minderheiten der Mennoniten und Juden bis weit in das 19. Jahrhundert wesentliche Funktionen übernahmen. 164 Die mennonitischen Vertreter bildeten seit den 1740er Jahren den Typus des Bauernkaufmanns aus, für den die Ausprägung und Verknüpfung besonderer agrarischer, gewerblicher und kaufmännischer Fähigkeiten kennzeichnend wurde. Sie lassen sich aus ihren zahlreich überlieferten Schreibebüchern und ihrer reichhaltigen Korrespondenz erschließen. Ihre zunehmende berufliche Spezialisierung wurde auch von ihren Zeitgenossen wahrgenommen, die sie von den 1770er Jahren an als Kaufmann 165 und Viehzüchter 166 , gelegentlich sogar schon als gute Kapitalisten 167 bezeichneten. 164 Dies ist einer der zentralen Thesen, deren Plausibilität in K ONERSMANN , Entfaltung (wie Anm. 10), passim erörtert wird. 165 So stellte der Mitte der 1770er Jahre David Möllinger senior besuchende französische Adlige in seinem Reisebericht fest: Du mußt dir aber in ihm nicht einen bloßen Bauren denken; er spekulirt, gleich einem Kaufmann in Marseille, und hat durch seine Spekulationen schon grosse Summen gewonnen; StdA Wo Abt. 239 Nr. 166. 166 Retrospektiv bemerkte der Agrarschriftsteller Schwerz 1814 über David Möllinger: Moellinger ward nun ein voelliger Viehmaester; er mußte also auch auf ein Mittel denken, seinen Futtervorrath zu vermehren. Das Getreide stand zu hoch im Preise, als daß aus seinem Verbrauche zum Brantweinbrennen etwas haette herauskommen koennen. Moellinger fing daher an, Versuche mit andern Dingen, mit gelben und weißen Rueben, mit Runkeln und Kartoffeln zu machen, bis er endlich bei diesen letzten stehen blieb; S CHWERZ , Beobachtungen (wie Anm. 43), 173. <?page no="658"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 659 Sie selbst nahmen sich ähnlich wahr und sahen deutliche Unterschiede zu den gewöhnlichen Bauern, wenn sie sich in ihrer Korrespondenz als Handelsmann 168 und Viehmäster 169 beschrieben. Diese ersten Bauernkaufleute erwarben ihre Kenntnisse und Fähigkeiten vor allem durch ihre reichhaltige Erfahrung im Agrarhandel und durch ihre Risikobereitschaft, in der Landwirtschaft experimentell vorzugehen und ihre Betriebe agrargewerblich auszubauen. Sie nahmen frühzeitig Chancen zur Umstellung ihrer Betriebe wahr, indem sie wie insbesondere David Möllinger senior von ihren niederländischen Glaubensverwandten Kenntnisse in der ganzjährigen Stallhaltung und im Kleeanbau erwarben, um sie mit Fertigkeiten in der Herstellung veredelter Branntweinsorten zu verknüpfen, die ihnen wiederum von verwandten Glaubensbrüdern vermittelt worden waren. Ihre bemerkenswert differenzierte Führung von Schreibebüchern - unterschieden in Haupt- und Nebenbücher mit Konten für ihre Kunden und Arbeitskräfte - vermittelt den Eindruck, dass sie die hierfür erforderlichen Fähigkeiten nicht allein durch ihre reichhaltigen Geschäftserfahrungen, sondern auch dank ihrer vielseitigen Kontakte mit bürgerlichen Kaufleuten ausgeprägt haben dürften. 170 Weiterhin drängt sich im Fall der Schreibebücher David Möllinger juniors und seines Sohnes Johann der Eindruck auf, dass sie auf bemerkenswert fachgeschulte Weise vorgingen. So nahmen sie in ihren 17 Arbeitstagebüchern nahezu für jeden Zweig ihres Betriebes immer wieder Kalkulationen vor, wobei sie ganz selbstverständlich gelegentlich ihre Ergebnisse mit Modellrechnungen und Vorschlägen des Agrarökonomen Albrecht Daniel Thaer verglichen. 171 Ob der Vater oder der Sohn bereits eine der wenigen bestehenden landwirtschaftlichen Akademien an der Wende zum 19. Jahrhundert besuchten, ist bisher jedoch nicht bekannt. Die unverkennbare Entwicklung der Bauernkaufleute in Richtung einer Professio- 167 F RIEDRICH C ASIMIR M EDICUS , Stadt= und Landwirthschaftliche Beobachtungen, bey einer kleinen Reise gesammelt, in: Bemerkungen der kurpfaelzischen physikalisch=oekonomischen Gesellschaft im Jahre 1771, Mannheim 1773, 174-337, hier 311. 168 In Absprache mit seinem Vetter David Möllinger junior richtete David Kägy am 10.7.1802 folgende Zeilen an Christian Stolze in Braunschweig: Es gehöret doch eine große Frech= und Unverschämtheit, einen Handelsmann in die damalige große Portokosten zu sezen [...] ich warne daher Sie, es zu unterlaßen, ansonsten werde ich es in die Journalen öffentlich sezen, und ihre Wische, mit embargo wieder zurüksenden; K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 120. 169 In einem Brief Martin Möllingers an David Kägy vom 21.11.1793 unterschied er deutlich zwischen ihnen und Bauern, die ihre Ochsen an sie verkaufen wollten. Der Brief befindet sich im losen Schriftgut des Archivs der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof (Pfalz). 170 Vgl. K ONERSMANN , Schriftgebrauch (wie Anm. 92), 304f. und D ERS ., Functions of Literacy and Calculation Ability in Peasant Families. The Case of Peasant Merchants in Southwest Germany (1685-1850), in: Cultural Practices of Literacy in the Early Modern Period, N ORBERT W INNIGE (Hrsg.), Göttingen, im Druck. 171 Diese 17 Arbeitstagebücher David Möllingers und seines Sohnes Johann beziehen sich auf die Jahre 1801 bis 1835, vgl. Anm. 128. <?page no="659"?> Frank Konersmann 660 nalisierung ihres Wirtschaftsverhaltens 172 wurde durch die Einrichtung von landwirtschaftlichen Vereinen im bayerischen Rheinkreis 1818 und im hessen-darmstädtischen Rheinhessen 1831 weiter vorangetrieben. Im rheinhessischen Verein waren von Anfang an Johann Möllinger, Christian Kägy und sein Bruder David neben zahlreichen anderen mennonitischen Bauern als engagierte Mitglieder tätig. 173 Dieses Engagement dürfte ihrem wachsenden Bedürfnis nach professionellem Informationsaustausch mit anderen Landwirten entsprochen haben. Von dieser beruflichen Spezialisierung wurden auch die Ehefrauen und Töchter der Bauernkaufleute erfasst, ein Vorgang, der sich aber nur selten nachweisen lässt. So dürfte Elisabeth Kägy, die Ehefrau Davids, dem milchwirtschaftlichen Sektor des Betriebes vorgestanden haben, 174 während Magdalena Würtz, eine Tochter des mennonitischen Bauernkaufmanns Jakob Würtz vom westpfälzischen Münchhof, sogar die Führung des Geschäftsbuches der Ziegelei ihres Vaters übernahm. 175 Die vielseitigen und sich weiter differenzierenden Aktivitäten der mennonitischen Bauernkaufleute als Agrarproduzenten, Gewerbetreibende und Händler erzwangen eine wachsende Koordination und erforderten eine erhöhte Abstimmung mit ihren Aufgaben als Familienvorstände und als Angehörige einer religiösen Gemeinschaft, in der das Laienpriestertum zu den Grundsätzen gehörte. Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich die Mehrheit innerhalb dieser Sozialkreise für die Einsetzung akademisch geschulter und von der Gemeinde bezahlter Prediger entschied. Die Vertreter der Familie Möllinger aus den rheinhessischen Dörfern Monsheim und Pfeddersheim dürften zu den einflussreichen Befürwortern dieser Maßnahme zu zählen sein. Der Familienzweig in Pfeddersheim entschied sich auch bereits in den 1820er Jahren, seinen männlichen Nachwuchs auf höhere Schulen wie beispielsweise auf die nahe gelegene Universität Darmstadt zu schicken, um mit den wachsenden gesellschaftlichen Anforderungen Schritt halten zu kön- 172 Bei dem Aspekt der Professionalisierung von Bauern handelt es sich um ein dringendes sozialgeschichtliches Desiderat, das Wolfgang Jacobeit erstmals angesprochen hat; vgl. W OLFGANG J ACOBEIT , Dorf und dörfliche Bevölkerung Deutschlands im bürgerlichen 19. Jahrhundert, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland in europäischen Vergleich, J ÜRGEN K OCKA (Hrsg.), München 1988, 315- 339, hier 322f., 326, 331f. 173 Vgl. Zeitschrift für die landwirthschaftlichen Vereine des Großherzogtums Hessen 1 (1831), Beilage: Verzeichniß der dem landwirthschaftlichen Verein der Provinz Rheinhessen beigetretenen Mitglieder, Kanton Pfeddersheim. 174 So schrieb David Kägy am 24.5.1799 an Joseph Koops in Mainz: Ich sende Ihnen durch Herrn Esser in Worms 4 Klumpen Butter in Eil(e), weil ich erst gestern Abend Essers Abfahrt vernommen habe, wiegen 36 Pfd., den Ertrag bitte mir zu notieren mit 10 Gulden 48 Kreutzer. Meine Frau ersuchet die Frau Liebste doch nicht böse auf sie zu werden, weil die Butter so lange außengeblieben ist, [...] K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 104), fol. 52. 175 Vgl. G ERTRUD H ERTZLER , Familie Wirz - Würtz, Menziken - Münchhof. Spurensuche und Umfeld, Weierhof-Bolanden 2000, 25. Das entsprechende Hausbuch (1797-1834) befindet sich im Nachlaß Hertzler, der im Archiv der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof deponiert ist. <?page no="660"?> Handelspraktiken und verwandtschaftliche Netzwerke von Bauernkaufleuten 661 nen. 176 Mennonitische Bauernkaufleute wie die Möllinger und manche ihrer weiblichen Angehörigen waren zu einer weitgehenden Anpassung an die zunehmende Rollendiversifikation bereit; infolgedessen lockerten sich ihre sozialen und konfessionellen Bindungen an ihre Glaubensgemeinschaft deutlich. So findet sich aus dieser vielköpfigen Familie kein einziger Vertreter unter den Unterzeichnern einer Petition an die hessen-darmstädtische Regierung im Jahre 1828, die auf die Erhaltung mennonitischer Elementarschulen und auf die Befreiung vom Besuch der Kommunalschulen zielte. 177 Desgleichen beteiligte sich kein einziges Mitglied der Familie Möllinger 1842 an der Finanzierung des neuen Gemeindehauses im rheinhessischen Dorf Obersülzen. 178 Eine derartige Anpassungsbereitschaft war dem mennonitischen Bauernkaufmann und Diakon David Kägy völlig fremd, der bei dieser Petition sogar die Feder führte. 179 Für ihn blieb die soziale und konfessionelle Bindung an die mennonitische Glaubensgemeinschaft nach wie vor wichtig, auch wenn er selbst als Bauernkaufmann mit demselben wachsenden professionellen Aufgabendruck wie seine Vettern aus der Familie Möllinger konfrontiert war, zumal er Zeit seines Lebens noch das Amt eines Diakons ausübte. Er stellte sich der in immer mehr Lebensbereiche einwirkenden Säkularisierung entgegen, weil er in ihr eine Schwächung der gewachsenen konfessionellen Identität der Mennoniten und damit auch ihres wirtschaftlichen Erfolgs erblickte. Diesen Standpunkt legte er der von ihm verfassten Petition aus dem Jahre 1828 zugrunde: Nur unserer Glaubenslehre, [die ...] man uns in allen Herrschaften und zu jeder Zeit, seitdem sich die Mennoniten Gemeinde[n] bildeten, [gestattete, F. K], verdanken wir unsere Sittlichkeit und die daraus fließenden Tugenden [...]. 180 Der Diakon und Bauernkaufmann David Kägy erblickte demnach in der Verpflichtung auf die Grundsätze der mennonitischen Glaubensgemeinschaft, die auf eine Familien- und Laienkirche ausgerichtet waren, die sozialen und konfessionellen Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs seiner Vorfahren. Dass sich jedoch gerade die Familien der Bauernkaufleute im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend sozial, wirtschaftlich und kulturell von der Mehrheit der ländlichen Gesellschaft und auch vom Gros ihrer Glaubensangehörigen abzusetzen begannen, glaubte David Kägy offenbar noch durch 176 Dies geht aus dem erhaltenen Schriftwechsel zwischen Johann Möllinger aus Pfeddersheim mit seinem Sohn David hervor. Die von Veronika Strohm-Brauch angefertigten Abschriften der Briefe befinden sich im Depositum des StdA Wo. 177 Vgl. C HRISTIAN N EFF , Ein mennonitischer Schulstreit vor hundert Jahren, in: Mennonitische Blätter 1 (1923), 42-44. 178 Vgl. StdA Wo Abt. 240 Nr. 642, D AVID K ÄGY , Kopierbuch (1839-1846), fol. 75. 179 Vgl. K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 17), fol. 213f. 180 K ÄGY , Kopierbuch (wie Anm. 17), fol. 220. <?page no="661"?> Frank Konersmann 662 eine erhöhte konfessionelle und soziale Verpflichtung der Familienvorstände auffangen zu können. Die mit ihrem steigenden Wohlstand sich abzeichnenden Chancen zu individuellerer Lebensplanung versuchte er innerhalb seiner Familie rigoros einzudämmen, eine Einstellung, die im Fall seines einzigen Sohnes Jakob allerdings tragische Folgen zeitigte. Ihn hatte er 1803 auf eine Schule nach Worms geschickt, um ihn von verschiedenen Privatlehrern in Deutsch, Französisch, Musik und Zeichnen unterrichten zu lassen. 181 Bereits ein Jahr später beendete er die individuelle Förderung seines Sohnes, obwohl der inzwischen gute Fortschritte gemacht hatte und diese Ausbildung offenbar gern fortgesetzt hätte. 182 Stattdessen leitete ihn Kägy in der Führung des landwirtschaftlichen Betriebes an und wollte ihn sobald als möglich mit seiner Base Christine Möllinger verheiraten. Als das junge Paar nach ihrer Hochzeit 1816 jedoch eigene Wege gehen wollte, versagte David Kägy seinem Sohn die Zustimmung und ging sogar gerichtlich gegen ihn vor. Daraufhin erkrankte sein Sohn Jakob schwer und starb kurze Zeit später. In diesem Konflikt kollidierten unverkennbar die sich gerade in den Familien der Bauernkaufleute abzeichnende Rollendiversifizierung und zunehmende Individualisierung der Lebensbedürfnisse einerseits mit dem Patriarchalismus der männlichen Haushaltsvorstände und ihren beruflichen Plänen für ihren Nachwuchs andererseits. 183 In diesem fundamentalen Generationenkonflikt sieht Jürgen Kocka ein sozialgeschichtliches Signum der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, 184 das sich entgegen seinen Annahmen 185 auch in bäuerlichen Familien schon im 18. Jahrhundert bemerkbar machte. 186 181 Vgl. K ÄGY , Handbuch (wie Anm. 110), fol. 93. 182 Christian Neff zitiert hier aus einem Brief von Kägys Schwiegersohn Jakob Möllinger, vgl. N EFF , David Kaege (wie Anm. 36), 53. 183 Von bemerkenswert patriarchalen Familienkonstellationen berichtete der französische Marquis, der David Möllinger senior Mitte der 1770er Jahre besuchte: Stell‘ dir seine Soehne und Schwiegertoechter, seine Schwiegersoehne und eigene Toechter um ihn herum vor, [...] und du wirst glauben, zu einem alten Patriarchen gekommen zu seyn; und wirklich ist auch die ganze Einrichtung der Familie patriarchalisch; er ist das Oberhaupt, und ordnet an, was den Tag ueber gearbeitet werden soll [...]; in: StdA Wo Abt. 239 Nr. 166. 184 Vgl. K OCKA , Familie (wie Anm. 13), 128, 133. 185 Vgl. K OCKA , Familie (wie Anm. 13), 128. 186 Ich verweise auf den instruktiven Aufsatz von Jon Mathieu, der unter anderem die Befunde Sabeans rekapituliert, J ON M ATHIEU , Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500-1900, in: Historische Anthropologie 10 (2002), 225-244, insbesondere 233f., 244. <?page no="662"?> 663 Register Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Anmerkungen. Personen - A - Aalst, Cornelius van: 435, 447 Aalst, Jacob van: 424f., 430, 432, 435, 438, 447 Aalst, Maria van: 447 Aartsen, G.: 442 Abbenhuis, H.: 439 Aborn, John: 397 Ador, Claude: 599f., 602 Adriaanst, Catrina: 440 Adriansson, Nils: 117 Adriaensz van Andrichem, Claes: 287, 290, 293 Aelst, Anthoni van: 425, 447 Aichel, Heinrich von: 345 Alba, Fernando Álvarez de Toledo, Herzog von: 364 Alberti (Familie, Bank): 177, 179, 182, 184f. Alberti, Leon Battista: 179 Albinus, Jan: 526 Albizzi, Maso degli: 177, 179, 184 Albizzi, Rinaldo degli: 175, 184f. Alighieri, Dante: 183 Amia, David: 118 Amis, Pierre: 563, 602f. Ammann, Hans: 200 Andreas, Peter: 489 Änenen, Abraham: 453 Angermann, Jürgen: 491 Antonijsz, Anthonij: 442 Arfweßon, Hinrich: 112 Arnold, Georg Caspar: 614 Arung Palakka: 80, 92, 94 Asbeek, A.: 440 Aufstender, Philipp: 336, 339 August (Kurfürst von Sachsen, 1526- 1586): 496 Auspitz, Salomon Jakob: 557 Austerlitz, Löb: 558 - B - Bacheracht, David: 400 Backer, Cornelis: 368f., 374 Backer, Roeloff: 433, 438 Badiani, Karolin: 610 Baeca, Alonso de: 336 Bailli, Benjamin: 270 Bailly, Nicolaes: 270 Bakker, R.: 438 Balduff, Hans: 206 Bali, Deonis: 270 Ballis, Anthony: 270 Ballis, Nicolaes: 270 Bär, Hans: 205, 207 Barba de la Vega, Pero: 338 Bardi (Familie): 180 Barentsz, Willem: 290 Barma, Domenico: 568, 572 Barnat, Maria: 566, 601 Barto, Claude: 601 Bascones, Garcia de: 340 Bast, Jan: 433 Battiany, Johann Valentin: 620 Bauer, Oswald: 156, 162 Beck, Johann Rudolf: 603 Becker, Hendrik: 368, 374f. Beckmann, Luise: 609 Belkens, Zacharias: 397 Benecke, Hans: 487 Benit, Marcel: 601 Bensschop, Pauwelina: 435, 439 Berchem, Jacob van: 342 Bernard, Daniel: 368, 375 Bernards, Jean: 398 Bernet, Michael: 599-601, 603 <?page no="663"?> Personen 664 Berns, Albert Baltzar: 396 Beugen, Maria van: 529 Beuningen, Coenraad van: 365 Beuningen, Hillegond van: 365 Bilderbeke, Hendrik van (junior): 287 Bilderbeke, Hendrik van (senior): 287 Biolley, Franz: 599-601 Bischoff, Andreas: 205 Blaeu, Joan: 291 Blaeu, Willem Jansz: 290f. Blanck, Carl: 620 Blanck, Johann Wilhelm: 620 Blassendonck, Jan van: 342 Bodmann, Ferdinand: 656 Boel, Augustijn: 285 Bogaert, Frans: 363 Bol, Ferdinand: 367 Bombergen, Anton van: 346f. Bonsi della Ruota, Baldassare di Baldassare: 181 Bonsi della Ruota, Niccolò: 181 Bonsi della Ruota, Raffaele: 181 Bourdieu, Pierre: 55 Bouwman, C.: 439 Bovier, Claude Franz: 601 Braambergh, F.: 439 Bräker, Ulrich: 473 Brecht, Anthonius von: 270 Brecht, Susanna von: 270 Brennemann, Martin: 654, 655 Brennius, Johann Georg: 599 Brentano Mezzegra, Anthoni: 584 Brinckman, Daniel: 443 Brique, NN: 580, 630 Broun, Jan Matthijs de: 85 Brouwer, Hendrik: 368 Brown, Edward: 544 Bruijning, Johannes: 422, 429, 439 Bruin, Jacob de: 426 Bruining, Albertus: 429 Bruining, Jan: 429 Buchs, Daniel von: 134 Buck, Piet de: 379-381, 391f., 394, 398 Bueri, Gherardo: 66, 181 Buffone, Antonio: 186 Bümplitz, Heiri zu: 453 Burkhart, Johann Friedrich: 584f., 603 Burnet, Jacques: 567 Burnet, Josef: 579, 601 Büsch, Johann Georg: 152 Buscher, Johan: 112 Bussen, Hans: 491 Buthler, David: 399f. - C - Cagener, Jacob: 343 Calf, Martinus: 526 Calvo, Pablos: 339 Campetram, Alban: 568 Campetram, Christoph: 568 Camps, Fredrik: 531 Capelle, Nicolaas Rochusz van de: 368f., 371, 374f. Cardon, Johann Georg: 599f., 602 Carion, Melchior de: 340 Carle, Carlo: 568 Carle, Clement: 568 Casparsson, NN: 111 Casparszoon, Catharina: 422 Castagno, Andrea del: 186 Castell (Familie, Brüder): 588, 591f., 605f., 609-630 Castell, Johann Anton (junior): 609 Castell, Johann Anton (senior): 605- 611, 613-630 Castell, Johann Jakob: 606 Castell, Johann Joseph: 605-611, 613- 630 Castell, Joseph Anton: 308f. Castell, Josephine: 308 Cavalcanti: 181 Cerretani, Matteo di Niccolò: 181 Chrafft, Jörg: 343 Christoff, Regina: 501 Claesz, Cornelis: 287, 290, 291, 296- 298 Clerk, Johannes: 532 Cocq, Jan de s. Coque, Juan de: 340 Coeur, Jacques: 18 Colom, Jacob Aertsz: 291 Colorerus, Anna: 425 Colsman, NN: 614, 617, 623-625, 628 <?page no="664"?> Personen 665 Contessa, Christian Salice: 134 Copier, Maria: 526 Cordes, Andreas: 488 Coque, Juan de s. Cocq, Jan de: 340 Cossa, Baldassare (Kardinal): 175, 176 Coupe, Johanna: 425, 434, 447 Coymans, Elias: 369 Coymans, Josephus: 369, 370 Courtabad, Rudolf: 601 Craemer, J.: 440 Cramers, Barbara: 433 Croek, Michiel: 441 Cromhout, Barthold: 300 Croock, M.: 441 - D - Daelders, Maria: 110, 121f. Daelders-Valck (Familie): 118 Dahlem, Johannes: 654 Dam, Adriana: 370 Dam, Pieter van: 368, 370 Damme, Jan van: 342 Dante s. Alighieri, Dante: 183 Datini, Francesco di Marco: 17, 18, 191 Dauser, Jan: 435 De Geer, Louis: 103, 107, 117 De Lasso, NN: 287 Depra, Christoph: 582 Depra, Joseph / Josef: 581, 584, 601 Depra, NN: 599 Deurhoff, Abraham (junior): 425 Deurhoff, Abraham (senior): 425 Deurhoff, Geertruijd: 425 Deurhoff, Hester: 425, 427, 434, 447 Deurhoff, Willem: 425 Dietrichstein (Familie): 555 Dinis, Jacob: 347 Dirxc, Jannetege: 367 Diuys, Jacob: 343 Donier, Peter: 568 Don Juan de Austria: 287 Dooren, Johanna van : 531 Dreyer, Mårthen: 117 Ducrue, André: 566, 568 Ducrue, Anselmus / Anselm: 563, 601 Ducrue Gervasius: 566, 599-601 Ducrue, Heinrich: 562, 570, 583, 601 Ducrue, Johann: 602 Ducrue, Moritz : 563, 602 Ducrue, NN: 601, 603 Ducrue, Peter: 599-601 Duke, Richard s. Duquí, Ricardo: 338 Dunth, Gustaf: 117 Duquí, Ricardo s. Duke, Richard: 338 Dürer, Albrecht: 309 Duvoisin, NN: 603 - E - Eber, Leopold: 336 Eilkingh, Hindrich (junior): 117 Eilkingh, Hindrich (senior): 117f. Eilkingh, Ingebor: 117 Eilkingh, Johan: 117 Elers, Hering: 117 Elers, Johan: 117f. Elle, Loys: 288 Ente, Maria: 529 Erichßon, Ambiörn: 110-112 Erichsson, Jören: 111 Erst, Friedrich Carl: 646 Esling, David: 603 Espine, Joseph de l’: 581, 599-601 Espine, Philipe de l’: 581, 599-601 Esser, Georg: 646, 651, 656 - F - Faber, Peter s. Favre, Peter: 564, 576, 584, 601f. Fandomele, Jácome: 340 Farnese, Alessandro (Herzog von Parma): 302 Favre, Peter s. Faber, Peter: 564, 576, 584, 601f. Feger, Valentia: 609 Felberger, Hans / Johann s. Veldeberger, Hans: 339, 340, 344-346, 348 Feldkirch, Hans von: 196 Fels, Johann Christoph: 601 Ferdinand II. (Kaiser): 545 Ferrantini, Alessandro: 182f. Fimal, Wilhelm: 599-601 <?page no="665"?> Personen 666 Fjodr (Sohn Zar Iwan IV.): 388 Fleischmann, Moises: 556 Francx, Cornelia: 370 Fränkl, Jakob: 558 Franszoon, Frans: 94 Frasca, Domenico di Zanobi: 181 Friedrich II. (König von Preußen): 142 Fritzschen, Bendix: 501 Fritzschen, Catharina: 501 Fröschl, Moises: 557 Fugger, Anton: 337, 341 Fugger, Christof: 337f., 343-348 Fugger, Gastel d. J.: 337 Fugger, Hans: 40 Fugger, Jakob: 191 Furttenbach, Jacob: 576 - G - Gacio, Pedro Jacome: 344 Garve, Christian: 153 Geber, Heinrich: 649, 651, 655 Gehres, Carl Ernst: 616 Geiler von Kaysersberg, Johannes: 217 Geldsack, Geertruyd: 365 Geldsack, Maritge: 365 Gemert, Paulus van: 342 Georg von Nürnberg: 230 Gerdessen, Lodewijk: 526 Gerritsz, Adriaen: 298 Gerritsz, Hessel: 286 Gfaßer, Franz: 571 Gignoux, Jean-François: 581 Gilberts, E.: 441 Goetval, D.: 439 Göhl, Agatha: 568 Göhl / Göhlin, Anasthasia: 561f., 568f. Göhl, Johannes: 569 Göhl, Thomas: 568-570 Gollet, Georg: 599-601 Golt, François: 433, 439 Gonay, Franz: 580, 599 Gonay, Mathias Bernhard: 580, 599 Gontier, Paul: 601 Gossen, Hermann Heinrich: 170 Gouverners, S.: 442 Graaf, J. de: 445 Graaf, Pieter de: 368f., 371, 374, 375 Graafland, Brechje: 369 Graafland, Brigitta: 369 Graafland, Cornelis (junior): 369 Graafland, Cornelis (senior): 368f., 374f. Graafland, Jacobus: 369 Graafland, Johannes: 369 Graafland, Pieter: 369 Grim, Coenrat: 442 Grimmel, Felix: 60 Grimmel, Jakob: 60 Grosse, Adrian de: 343 Grosse, Jacob de: 343 Gsell, Josef: 570 Guarienti, Pietro de’: 186 Guichet, Stefan: 599f., 602f. Gunier, NN: 453 Gustav II. Adolf (König von Schweden): 101 Gutermann, Johann Jakob: 599 Gyr, Jacob: 615, 626 - H - Haax, Hendrik: 398 Habermas, Jürgen: 247 Haberstroh, Mathias: 620 Hackmann, Veronika: 657 Haeyen, Albert: 290 Hagelstein, NN: 460 Halbysen / Halbisen, Heinrich: 185, 192 Halder, Johann Georg: 622 Hamburger, David: 556 Hartmann, Johannes: 656 Haselenberg, Casper: 444 Haselenberg/ Haselbergh, François: 443, 445 Haselbergh, F.: 443 Haze, Jeronimus de: 368, 374, 375 Heer, Friedolin: 628 Heer, Samuel: 620 Heere(n), A.: 440 Heesels, Jan: 532 Heggi, Johann: 614, 620, 626 Heijden, J.: 440 Heijns, Pieter: 297 <?page no="666"?> Personen 667 Heijnsbergen, Maria Elisabeth: 529 Hensler, Philip: 257 Hermann, Anton: 201f. Hermansz, Jan: 443 Hernández, Pero: 338f. Herrenberg, Andreas: 490 Herwart, Jörg: 337 Heyl, Cornelius: 646 Hiemer, Ferdinand: 570 Hiestand, Christian: 654 Hiestand (Familie): 638, 641, 648 Hiestand, Jakob: 648 Hiestand, Marie: 637 Hijool, L.: 442 Hilten, Caspar van: 294 Hoffmann, Caspar: 337 Hoffmann, Cyriakus: 337 Hoffmann, Magdalena: 337 Hoffmann, Martha: 337 Hoijas, A.: 439 Hols, A. van den: 445 Hondius, Jodocus: 298 Hooft, Cornelis Pietersz: 285, 296 Hooft, Gerrit: 285 Hooft, Jan: 285 Hooft, Willem: 285 Hoorn, Lucretia van: 363 Hoorn, Simon van: 363 Hörschl, Lebl: 540 Hotz, Gebrüder: 617f., 625f. Houtman, Cornelis de: 284 Houtman, Frederik de: 284 Howell, James: 283 Hueberin, Maria Rosina: 570 Hug, Alexander: 204f. Huijbert, Emerentia: 424, 447 Huijdekoper, Johan / Joan: 368f., 371, 374 Hulft, Balichje: 369 Hulft, Jan: 369 Hulft, Joan: 368-371, 374 Hulft, Johanna: 369 Hulft, Pieter: 369 Hundertpfund, Hans Craft: 269 Hütschy, Balthasar: 197f. Huybrechtsz, Henrick: 293 - I - Idzerd, M. van: 441 Ilger, Johannes: 599 Imhof, Jörg: 337 Imhoff, Barbara: 337 Immerseele, Jan van: 286 Isak, Moses: 554 Isermann, Laurens: 60 Iwan, IV. (Zar): 387f. - J - Jaca, Gonzalo de: 338 Jacobs, Maria: 425, 447 Jäger, Matthias: 599 Janssonius, Joannes: 291, 298 Jansz, Broer: 294 Jaquemod, Kaspar: 602 Jenner, Achille: 460 Jever, Hendrick van: 401, 404 Jever, Volkert van: 401 Johannes XXIII. (Papst): 175, 179 Jorge, Gaspar: 338 Jungermann, Heinrich: 197 Jürgensson, Jacob: 111 - K - Kabischin, Else: 100 Kägy, Anna Maria: 648 Kägy, Christian: 640, 642, 650, 660 Kägy, David: 635, 637f., 640, 642, 650-652, 655, 656, 657f., 659, 660-662 Kägy, Elisabeth: 660 Kägy, Felix: 635, 637 Kägy, Jakob: 642, 649 Kägy, Johann Jakob: 647-649, 653 Kägy, Michael: 647 Kägy, Rudolf: 637 Kägy, Veronika: 655 Kannengießer, Hans: 204 Karl I. (König von England): 391 Karl IX. (König von Schweden): 101f. Kerisch, Michael: 603 Kerner, Johannes: 603 Kesel, Philipp Jakob: 599 <?page no="667"?> Personen 668 Kesting, G.: 440 Ketten, Hans von der: 335-340, 343- 346, 348, 350, 352 Ketten, Mathias von der: 340 Keyser, J.: 445 Kindig, Jakob: 642f., 653 Kindig, Maria: 643 Klenck, NN: 402f. Kolb, Anna Barbara: 562 Kolb, Johann Jakob: 562 Kolf, Casper: 531 Königsegg-Rothenfels, Christian Moritz von: 575 Königsegg-Rothenfels, Leopold Wilhelm von: 575 Königsegg-Rothenfels, Sigismund Wilhelm von: 575 Köpf, Johann: 599 Kort, L.: 442 Kötzler, Georg (I.): 337 Kötzler, Sebastian: 335-340, 343-350, 352 Kramer, Andreas: 576 Krieg, Mathias: 620 Kroneisen, Johann Peter: 575 Krüger, Hermann: 489 - L - Laag, Lijsbeth Gerrts van der: 439 La Bronte, NN: 526 Laire, Peter: 599 Lamberteschi, Domenico: 185, 187 Lamberteschi, Lamberto di Bernardo: 185f. Lamberteschi, Lena: 185 Lampe, Cord: 489 Landau, Josef: 554 Landheer, Jan: 85, 91 Lang, Maria Anna: 609 Lary, Heitze / Heinrich: 199f. Lauterbach, Jacob: 117 Laymarius, Anthon: 103 Layre, Peter: 562 Leder, Franz: 563 Leeuw, David: 380, 386, 403 Le Gouche, Jean: 368, 375 Lemmig, Christiaan: 441 Lemmig, J.: 441 Lemmig, Matan: 441 Lemmig, Pieter (junior): 441 Lemmig, Pieter (senior): 441 Leopold I. (Kaiser): 551, 560 Lettry, Johanna: 608, 610 Lichti, Jakob: 654 Liebich, Georg Friedrich: 134 Liebich, Georg Friedrich junior: 134 Liebich, Johann Ehrenfried: 134 Liebich, Johann Gottlieb: 134 Liebich, Samuel Gottfried: 134 Liechtenstein (Fürsten): 557 Lijn, C. van: 442 Linschoten, Jan Huygen van: 284, 291, 298 Lodewycksz, Willem: 284, 285 Löfken, Herman: 400 Löfken, Katharina: 400 Loon, Pieter van: 368, 374, 375 Louw, A. ter: 442 Löwl, Moses: 554 Lubelcij, H.: 442 Luhmann, Niklas: 245, 279 Luidel, NN: 603 Luiz, Joseph: 571 Lups, Anna: 401 Lups, Jan: 401, 403f. Lups, Jan d. J.: 401 Luther, Martin: 150, 300, 318 Luzan, Franz: 568 - M - Machiavelli, Niccolò: 183 Macklier, Hans: 118 Maneß, Rudolf: 204 Maniquet, Joseph: 566 Maniquet, Louis: 566 Manlich, Christoph: 350 Marín, Diego López: 338f. Marperger, Jacob Paul: 153f., 275, 480, 488 Marquerat, Anton Nikolaus: 569 Marquerat, Claude François: 566 Marquerat, Claudine: 566f. <?page no="668"?> Personen 669 Marquerat, Franz Peter: 601, 603 Marquerat, Heinrich: 601 Marquerat, Pierre: 561-563, 565-587, 589-593, 597, 694, 601 Marselis, Gabriel: 396 Marshall, Alfred: 146 Martelli (Familie): 180, 181 Martens, M.: 443 Martens van Noorden, A.: 441 Matthias, Jean: 603 Matti, Josef: 599 Maximilian II. (Kaiser): 545 May, Johann Carl: 154 Mayer, Johann Peter: 644, 645 Mayerl, NN: 558 Mayr, Steffan: 269 Mayr, Zacharias: 558 Meder, Lorenz: 15f., 251, 256, 257, 276 Medici, Cosimo de’: 25, 175f., 178, 185 Medici, Giovanni d’Averado de’: 175, 179, 182 Medici, Giuliano de’: 176 Medicus, Friedrich Casimir: 639, 659 Mehmet II. (Sultan): 176 Mehr, Joseph Anton: 607 Meijer, Elisabeth: 401 Meijer, Herman: 401, 404 Meijer, Rudolf: 400f. Meltinger, Elsbeth: 193 Meltinger, Hans: 193 Meltinger, Heinrich: 193f., 197 Meltinger, Katharina: 193 Meltinger, Ludman: 192 Meltinger, Martin: 193 Meltinger, Ulrich: 25f., 60, 191-194, 196-208 Meltinger, Verena: 193 Mentzel, Christian: 143 Mercator, Gerhard: 298 Merckle, Sigmund: 609 Merckle, Theresia: 609 Mertens, Johann Heinrich: 137 Merz, Matthias: 584 Meulen, Andreas van der: 248 Meulen, Daniel van der: 248, 254, 255, 268, 286, 294 Meyer, Johann Rudolf: 617 Michon, Claudius Franz: 599f., 602 Miller, Johann: 569 Minden, Johan von: 112 Mitz, Benedikt: 603 Molen, Pieter van der: 254 Molepad, Agnes: 432, 440 Möller, Jeronimus: 108 Mollie, Claudi: 563 Möllinger, Anna Barbara: 644 Möllinger, Anna Maria: 649 Möllinger, Christian: 646f., 648f., 650, 652, 657 Möllinger, Christine: 662 Möllinger, David (junior): 642, 650- 652, 656, 659 Möllinger, David (senior): 639f., 643- 648, 653-655, 658f., 662 Möllinger, Jakob: 645, 648, 649, 653, 657, 662 Möllinger, Johann: 642, 652, 659f., 661 Möllinger, Johannes: 637, 650 Möllinger, Joseph: 645, 650, 653 Möllinger, Marie: 645 Möllinger, Martin: 634, 637f., 645f., 648-650, 652, 653, 659 Möllinger, Ulrich: 635, 637 Möllinger, Veronika: 643, 647, 652 Möllinger, Vincenz: 637, 642-644, 652f. Molly, Claude: 601 Montefeltro, Federico da: 176 Montering, Nikolaus: 607 Montfort, Karl Franz: 574 Montfort, Maurice / Moritz: 574, 585f., 588, 591f., 594 Morosini, Paolo: 228 Mostart, David: 288 Mouchet, NN: 579, 599f., 602 Moucheron, Cosmo de: 396 Moucheron, Maria de: 396 Moulin, Karel Jansz du: 396f. Mounier, Alexius: 601 Muijs, H.: 443 <?page no="669"?> Personen 670 Muller, Jansz: 296 Müller, Carl: 622f. Müller, Johann: 568 Müller, Philipp Heinrich: 562 Munter, Anna: 369 Munter, Cornelia: 369 Munter, Dirck: 369 Munter, Joan: 368f., 374f. Munter, Johannes: 369 Murer, Rudolf: 193 - N - Neck, Hillegond Reyniersdr van: 364 Neck, Reynier Simonsz van: 364f. Necker, Jacques: 370 Neder, J. G.: 444 Nef, Johannes: 654 Neufville, Jan Isaac de: 380, 383f. Nider, Johannes: 149-152 Nikon (Patriarch): 399 Nilsson, Swen: 117 Nilsson, Söffring: 117 Nino, Gebrüder: 619 Nortmeyer, Diedrich: 490 Nützlin, Katharina: 311 - O - Ode, NN: 603 Oelhafen, Hanns: 311 Oetgens, Frans: 364 Oetgens, Frans Hendricksz: 300 Oetgens, Maria: 364 Oetgens, Weyntge: 364 Offenburg, Henmann: 192 Ommeren, Albertus van: 424f., 427- 430, 432, 434, 447 Ommeren, Antonia van: 425, 427f. Ommeren, Cornelius van: 425, 428, 434f., 447 Ommeren, Dirck van: 425, 428, 434, 447 Ommeren, Emerentia van: 425, 428f., 447 Ommeren, Geertruijd, van: 426, 435, 447 Ommeren, Huijbertus van: 425, 428, 447 Ommeren, Maria van: 420, 424-430, 432, 434f., 438, 447 Oppenheimer, Samuel: 556, 557f. Orsi (Familie): 186 Orttel (Familie): 325, 328 Österlein, Jörg: 345 Ott, Heinrich: 619 Ott, Johann Caspar: 619 Otto, Ida: 526 Oxenstierna, Axel: 103 - P - Pali, Benjamin: 270 Pallard, Denis: 603 Pampes, M.: 439 Pancras, Nicolaas: 368f., 371, 374 Papenbroek, Gerard van: 368, 375 Parma, Herzog von s. Farnese, Alessandro: 302 Parma, Dominik: 571-573, 577, 601 Parmon, Karl: 580, 603 Partzschin, Augustin(e): 501 Passier, Claude: 561, 599-601 Passier, Michael: 563, 601, 603 Passier, Pierre: 567 Pastranack, Juan de: 336 Pater, Albert Dircksz: 363 Pazzi (Familie): 186 Perinet, NN: 584f., 601, 603 Pernat, Bernard: 566 Pernat, Claudine: 566 Peter I. (Zar): 401 Petrarca, Francesco: 183 Petri, Nicolaus: 292 Pfeiffer, Tobias: 501 Pfintzing, Katharina: 311 Pfintzing, Sebald: 311 Pfister, Marx d. Ä.: 337 Piccinino, Niccolò: 185 Pisz, Johann: 44 Plak, Christian: 444 Plak, Daniel: 444 Plak, J.: 444 Plancius, Petrus: 286, 291 Plantijn (Druckerei): 292, 297 Pleßer, Jobst: 490 Plödt, Christoph: 348 Plödt, Katharina: 348 Portinari (Familie): 180 <?page no="670"?> Personen 671 Preiswerk, Rudolf Paul: 619 Prentzel, NN: 137 Prestel, Ignaz: 569 Pretzel, Joseph: 569 Preun, Johann de: 345 Pruner, Hans: 342 Pruner, Joachim: 342 Ptolemäus: 289 Pytto, Profos: 453 - R - Radda, Peter: 579, 601 Radmacker, Christopher: 343 Radÿ, Bryngel: 123 Rahmekern, Hinrich: 487 Raschle, Joseph: 615 Rauner, Wilhelm Michael: 599 Reael, Johan Pietersz: 363-365 Reael, Maria: 363f., 365 Reael, Pieter: 364-366 Reael, Reynier: 364 Recabarren, Miquel de: 338 Reichel, Lazarus: 343f. Reichin, NN: 500 Reiffstock, Alexander: 346 Reijenburgh, J.: 444 Reijnst, Aartje / Arendina: 369 Reijnst, Cornelis: 369 Reijnst, Elisabeth: 369 Reijnst, Gerrit: 369 Reijnst, Lambert: 368f., 374 Reineke, Heinrich: 489 Rem, Andreas: 346 Rem, Lucas: 346 Rentz, Friedrich: 350 Rentz, Hans: 350 Reyter, Jacob: 321 Rial, Maria: 608 Ricardo, David: 146 Risser, Johannes: 642 Rist, Balthasar: 554 Rockenbach, Thomas: 220 Roch, NN: 368, 374, 375 Roder, Johann Rudolf: 452f. Rouge, Alexander: 579, 580, 602f. Roux, Claude: 567 Roux, François: 566 Rudolf II. (Kaiser): 546 Rutgers, Aeltje: 433, 438 Rutlinger, Johann Ulrich: 603 Ruts, Agneta: 399 Ruts, Caspar: 396 Ruts, David: 396f., 404 Ruts, David d. J.: 397 Ruts, Georg: 397 Ruts, Isaak / Isaac: 396f. Ruts, Maria: 397, 400, 404 Ruts, Nikolaus: 395, 397, 404 Ruts, Susanna Catharina: 397 - S - Saelen, Hermann: 218f., 221 Sailer, Hieronymus: 340 Saliet, Georg: 601 Samson, Salomon: 553 Savary, Jacob: 257 Savelandt, Gebrüder von: 117 Schaeffer, Ernst Friedrich: 134 Schamuße, Nikolaus: 562f., 603 Schätzler, Lorenz: 622 Scherl, Heinrich d. J.: 269 Scheuermeister, NN: 453 Scheunemann, Cord: 489 Scheurl, Christoph: 315, 317, 331, 349 Schickhart, Gottfried: 603 Schiller, Hieronymus: 269 Schlesinger, Marx: 556 Schlüsselfelder, Barbara: 337 Schmeltzer, Joachim: 488 Schmidt, Kaspar: Schmittin, NN: 599 Schnebele, Hans Jakob: 644 Scholten, Hendrik: 368, 375 Schoutert, Bernhard: 342 Schreyer, Sebald: 214, 221 Schröckh, Samuel Jacob: 154f. Schuhhagen, Heinrich: 487 Schumacher, Barbara: 650 Schumacher, Christian: 637, 644f., 653 Schumacher, David: 657 Schumacher, Johannes: 645-648, 655 Schussi, Johann: 602 <?page no="671"?> Personen 672 Schwarzenberger, Melchior: 335 Schweighart, Michael: 599 Schwerz, Johann Nepomuk: 639f., 651, 658 Seelos, Christoph: 569, 571 Sepperen, J.: 445 Serristori, Antonio di Salvestro: 184 Sforza, Francesco: 176 Sigismund (Kaiser): 39 Silvia (Königin von Schweden): 99 Silvius, Cornelius: 368 Smith, Adam: 146, 149, 157 Snel, W.: 445 Son, I. van: 444 Spalding, Gabriel: 112 Spaler, Antonij / Antonius: 526 Spaler, Magdalena Catharina: 526, 527 Spanseerder, B.: 445 Spanseerder, Bruno: 445 Spanseerder, Jacob: 445 Spanseerder, Matthijs: 445 Speelman, Adriaen: 287 Speelman, Cornelis: 80 Sperling, Abraham: 501 Spiegel, Elbert: 367 Spiegel, Hendrik: 368, 370, 374 Spindler, Norbert: 639 Spitz, Joachim: 556 Spitz, Meir: 556 Steinert, Melchior: 501 Steinkampf, Ollrich: 117, 118 Stelle, Franz: 563 Stenglin, Hans: 347 Stevin, Simon: 292 Stoltz, Hans: 339 Stolze, Christian: 659 Stoos, Salomon: 453 Stöss, Abel: 647 Strebel, Maria Elisabeth: 609 Strozzi, Mateo di Simone degli: 183, 187f. Strozzi, Palla di Nofri degli : 175, 178 Swaneveldt, Jan: 83 Swart, A.: 439 Sweeden, Johan van: 397-400, 404 Sweeden, Maria van: 400, 404 Swellengrebel, Erdman: 398, 404 Swellengrebel, Hendrick: 397-399, 403f. - T - Taxil, Pierre: 603 Ter Kerst, A.: 440 Tessel, Maria van: 526 Thaer, Albrecht Daniel: 639, 659 Thijs, Hans: 285 Thold, Bastian: 205 Thornton, Maccabeus: 117, 119f., 122 Thumiger, Johann Joseph Sebastian: 607, 610 Thumiger, Maria Johanna: 606, 608 Thumiger, Sebastian: 607f. Tiedemann, Barbara: 432, 442 Tornaquinci, Neri di Cipriano: 182 Torres, Rodrigo de: 338 Trenkle, Maria Anna: 608 Trip, Hendrick: 382 Trip, Jacob: 382 Trip, Louis: 382 Tröstl, Jakob: 557 Tucher, Anton II.: 309 Tucher, Christoff: 312 Tucher, Daniel: 312 Tucher, Endres IV.: 310 Tucher, Gabriel: 312 Tucher, Herdegen IV.: 310-312, 325f., 330-332 Tucher, Katharina: 348 Tucher, Lazarus: 347f. Tucher, Leonhart II.: 309f., 313-315, 320, 324-327, 329, 331 Tucher, Lienhart: 348 Tucher, Maximilianus: 312 Tucher, Paulus: 311, 313, 317 Tucher, Sixtus: 312, 319f., 332 Tulp, Dirck: 368, 374 Tulp (Familie): 374 Tÿman, Johan: 111 - U - Uijttenbogaert, Augustijn: 363, 365 Uijttenbogaert, Frans: 363 Uijttenbogaert, Hillegond: 363 Uijttenbogaert, Johannes: 356, 363- 366, 371f., 376 Uzzano, Niccolò da: 175 <?page no="672"?> Personen 673 - V - Vacano, Andreas: 599 Vacant, Dominico: 577 Valck, Johan Sibrantz: 117 Valck, Maria: 117, 123 Valck, Sibrant: 107f., 110, 121-123 Valckenburg, Jan: 433, 438 Valckenburg, Marcus: 433 Valckenier, Anna: 369 Valckenier, Clara: 369 Valckenier, Eva Catharina: 369 Valckenier, Gillis: 368-371, 374 Valckenier, Jacoba: 369 Valckenier, Pieter: 369 Valckenier, Rebecca: 369 Valckenier, Wouter: 369 Valck-von Minden, Margareta: 110 Valence, Christian de: 601 Vangen, Jan Arentsz: 444 Vangen, Margrietje: 444 Vangen, Maria: 444 Veckinchusen, Hildebrand: 45 Veckinchusen, Sivert: 42, 45 Veldeberger, Hans s. Felberger, Hans: 344-346, 348 Velten, Ida: 439 Verheiden, P.: 446 Verpoorten, Philips: 397 Vesanevelt, Johan: 368 Veseler, Joris: 294 Vlooswijck, Cornelis van: 368, 374 Vogel, T. de: 446 Vogelaer, de NN: 402f. Vos, A. de: 445 Voss, Cornelis de: 342 - W - Waardenburgh, Maria Catharina van: 433, 439 Waghenaer, Lucas Jansz: 290f., 298 Waldkirch, Ferdinand von: 626f. Walras, Léon: 157f., 265f. Wattenwyl, Junker von: 460 Waybold, Johann: 562 Weber, Max: 48, 589 Weickmann (Familie): 328 Weijland, M. van: 446 Welser (Gesellschaft): 344 Welser, Bartholomäus: 336, 341 Welser, Felicitas: 311 Welser, Hans: 337 Werly von Leymen: 200, 204 Wernli von Kilchen: 185 Westphal, Hermann: 490 Weydmann, Leonhard: 642 Weyer, Hans: 350 Weyer, Sebastian: 350 Wiler, Johannes: 192 Wilhelm, David le: 364f. Willemsz, Govaert: 298 Wilthuisen, Baren: 425 Winkler, Leonhard: 335f., 343-353 Winter, Friedrich August: 618 Witsen, Jonas Corneslisz: 300 Witt, Jan de: 367 Witte, Engelbrecht: 45, 59 Wottiz, Jakob: 556 Wulffes, Heinrich: 487 Wurstemberger, NN: 460 Würtz, Friedrich: 654 Würtz, Heinrich: 648 Würtz, Jakob: 660 Würtz, Magdalena: 660 - Z - Zander, Johan: 107 Zanken, Hieronymus: 497 Zeender, NN: 459 Zeghers, Laurenz: 340 Zesen, Filips von: 283 Zinck, Maria Agnes: 527 Zscheckapürlin, Ludwig: 205 Zumstein, Joseph: 607 <?page no="673"?> Geographische Namen - A - Aachen: 621 Aalborg: 115 Aalen: 614 Aarau: 617f., 623, 625, 627 Abruzzen: 63 Adria: 558 Afrika: 128f., 285, 302, 340, 379 Ahaus: 440 Alas: 83 Alexandria: 287 Alingsås: 102, 104 Allgäu: 563, 569, 575, 577, 580f., 586f., 589, 595 Almadén: 342 Almodóvar del Campo: 338 Älvsborg: 101 Alzey: 654 Åmål: 102 Ambon: 76, 8f., 87, 97 Amerika: 128f., 138, 302, 341f., 379, 638, 641 Amersfoort: 425, 427 Amsterdam: 114f., 118-120, 123, 125, 128, 136, 248, 255, 259, 260, 261, 267, 268, 270f., 273f., 277, 283- 305, 355-358, 360-377, 383, 386, 388f., 391f., 395f., 398f., 401, 403, 407-412, 415, 417-422, 424-427, 429, 431, 433, 435-447, 519, 533, 636, 654 Anghiari: 186 Antwerpen: 64, 108, 120, 207, 248, 250, 254, 268, 270, 271, 273, 277, 285-287, 288, 292, 296, 297, 300- 303, 335f., 339-342, 343-348, 350, 352, 387, 445 Aosta: 611 Aostatal: 568, 606 Appenzell: 578 Arabische Halbinsel: 74, 89 Arâches: 566f., 579, 582, 595, 601 Arboga: 104, 108 Arbon: 575, 580, 595 Archangelsk: 286, 386, 388-398, 401, 403, 405 Arnemuiden: 340 Arnheim: 287 Arona: 612, 623 Aru-Archipel: 83 Asien: 71-74, 77, 81f., 87f., 90, 91, 93, 95-97, 284, 302, 340, 356f., 380 Askersund: 102 Asti: 183 Astrachan: 398 Aubenasson: 596 Augsburg: 39, 67, 103, 108, 120, 249, 277, 300-302, 318, 336f., 340, 344, 346, 350, 546f., 554, 562, 563, 564-567, 575-584, 586f., 589-591, 593, 595, 599-603, 622 Aulendorf: 584 Aveiro: 285 Avignon: 191 - B - Bamberg: 210, 220, 346 Banda: 76, 82, 87, 97 Banda-Archipel: 72, 75 Bandar Abbas: 89, 97 Banjarmasin: 84-86, 88, 90-92, 97f. Banten / Bantam: 72, 78, 87, 94, 97 Barmen: 612, 614, 617, 620, 625 Basel: 185-187, 191-193, 196f., 201, 205-207, 506, 578, 584-587, 591, 595, 603, 619, 621, 654 Batavia (heute Djakarta): 82f., 91, 357 Bengalen: 89 Bergen: 40, 115 Bergen-op-Zoom: 254 Bergisches Land: 612, 614, 621f. Berlin: 342 Berlingen: 595f., 603 Bern: 451-455, 457, 459, 460, 461, 462f., 465-467, 468f., 472, 474, 580, 597, 612, 614 Biglen: 453 Bischofszell: 578, 591, 595 <?page no="674"?> Geographische Namen 675 Bisentzone: 277 Bochum: 416 Bockenheim: 654 Bodensee: 40, 575-578, 581, 585-587, 591 Böhmen: 139, 546, 548, 550, 553 Bohuslän: 102 Bolanderhof: 634f., 642, 649 Bologna: 186, 255, 268 Bonerate: 83 Bongaya: 80 Borås: 102, 104, 123 Bordeaux: 255, 445 Bowil: 453 Brabant: 512, 639 Brandenburg-Preußen: 539 Braunschweig: 659 Breda: 446 Bregenz: 577, 596 Bremen: 255, 270, 506 Breslau: 135-137, 139, 142, 255 Bretagne: 129 Brielle: 360 Bruck an der Leitha: 550 Brügge: 39-41, 45, 62-64, 65, 120, 187 Brünn: 136 Bufforde: 439 Bühl: 611 Buton: 81, 83f. - C - Cádiz: 100, 128, 136, 138, 338, 340, 343f., 349 Calw: 205 Castagnoli: 562 erný Kostelec s. Kosteletz: 557 Ceylon: 72, 87 Champagne: 263 China: 72-74, 88-90, 94, 98, 100, 279 Cholmogory: 396 Chur: 596 Ciudad de los Reyes: 339 Collonaz: 566 Colmar: 200, 646, 654 Comer See: 584 - D - Dalsland: 103f. Dänemark: 103, 113, 116f., 120f., 123f., 286 Danzig: 44f., 60, 115, 277, 285f., 425 Darmstadt: 654f., 660f. Delden: 416 Delft: 290, 293, 360, 441 Den Haag: 287, 360, 365, 376, 417, 445 Deshima: 89 Deutschland: 39f., 42, 45, 60, 65, 127, 183, 204, 228, 232, 249, 286f., 295, 300-302, 386, 417, 481, 493, 557, 562, 564, 566, 568, 579, 583, 592f., 595-599, 601f., 622, 633, 639, 658 Deventer: 416, 439 Diest: 340 Dillingen: 581, 589 Dingau: 596 Donau: 547f., 554, 577, 586f., 589 Dordrecht: 360, 411, 416 Dorpat: 45 Dresden: 220 Duinkerk / Dünkirchen: 115 Duisburg: 416 - E - Edam: 284 Eemnes: 425 Ehingen: 577, 580, 596 Eichstätt: 596, 601 Elberfeld: 612f., 620 Elsass: 210, 217, 580 Elzach: 588, 591, 605, 607-610, 613f., 619f., 623, 626f. Emden: 297 Emmental: 457, 467 Emmerich: 416, 433, 438 England: 69, 78, 88, 115, 120, 128- 130, 136, 182, 227, 270, 286f., 296, 301, 303, 338f., 383, 386, 388, 391, 393f., 479, 504 Enkhuizen: 284, 290, 297, 303 Enns: 541f., 547f., 552f., 555f. Enschede: 440 <?page no="675"?> Geographische Namen 676 Epen: 446 Erfurt: 654 Essen: 399 Essingen: 641 - F - Faucigny: 566, 579, 584 Feldsberg s. Valtice: 553, 557 Finnland: 102, 119 Fischen: 569 Flandern: 39, 63, 68, 129, 227, 338f., 383 Florenz: 64, 175-178, 180-188 Forbach: 654 Franken: 39, 576, 586f. Frankenthal: 655f. Frankfurt am Main: 136, 140, 198, 205, 250, 255, 259, 268, 273, 276f., 297, 301, 336, 339, 454, 468, 494, 548, 560, 591, 614, 620-622, 646, 647, 652, 654-656 Frankfurt an der Oder: 136f. Frankreich: 115, 119, 121, 123, 130, 286f., 296, 311, 344, 411, 417, 468, 503, 596-599, 655 Freiburg im Breisgau: 217, 506, 563, 574, 580, 588, 592, 594, 607, 619, 621 Freiburg im Uechtland: 199, 204 Freising: 214, 584, 589, 593, 595, 601 Freistadt: 547, 548 Friesenheim: 637 Friesland: 417, 427 Fürth: 576, 596 Füssen: 596 - G - Gamla Lödöse: 101 Geislingen: 205 Genf: 186, 370, 578, 580f., 586f., 589f., 595, 597f., 603, 608, 611, 614f., 627 Genua: 277 Glarus: 201, 562, 578, 595, 620, 625, 628 Glogau: 142 Glückstadt: 400 Goa: 284 Goa-Tallo: 77-80, 92, 94 Gorinchem: 360 Göta Älv: 99, 101, 103-106 Göteborg: 99, 100-114, 116-125 Gotland: 115 Gottlieben: 596 Gouda: 360, 362, 514 Graef: 443 Graffenried: 452, 454 Gränna: 102 Graubünden: 582, 586f., 596-599 Greifenberg: 130, 132, 137, 140, 141 Greifswald: 65, 115 Gressoney: 606-610, 614, 620 Gronau: 653 Groningen: 287, 417 Grünstadt: 654 Gujarat: 89 Günzburg: 577, 589, 596 Guyana: 373, 374 Györ s. Raab: 558 - H - Haarlem: 298, 360, 368, 417, 426, 440, 519, 520, 522, 523-525, 535 Haldenwang: 596 Halland: 115 Halmstad: 115 Hamburg: 40, 64, 114f., 118-120, 125, 129, 130, 136, 138-140, 152, 218, 250, 255, 257, 259, 270f., 273, 277, 285, 396-398, 415f., 494 Hanau: 654f., 656 Haslach im Kinzigtal: 608, 614f., 619- 621 Hauptwiler: 596 Heidelberg: 586f., 596, 634, 645f., 654f. Heidenheim an der Brenz: 625 Heilbronn: 646, 654 Helsingør: 115 Herbolzheim: 622 Herford: 440 Herisau: 578, 591, 595 <?page no="676"?> Geographische Namen 677 Hersenburgh: 430, 439 ’s-Hertogenbosch: 444, 511-515, 517- 521, 523-525, 528, 530f., 533-536 Hildesheim: 479, 480-485, 487, 490f. Hindelang: 596 Hirschberg: 131-139, 142f. Hohenstein: 612 Holland: 69, 102f., 123, 130, 283f., 290, 296-298, 302, 355, 358-362, 364, 373f., 377, 389, 392, 398, 411, 413, 417, 427, 512, 524, 535, 656 Holstein: 417, 439 Holysloot: 298 Hoorn: 284, 303 Hoorweijnder: 446 Hornberg: 620 Hull: 115, 119, 125 - I - Iberische Halbinsel: 301, 337, 341 Ibersheim: 641, 648 Ibersheimerhof: 657 Immenstadt im Allgäu: 561, 563, 566- 571, 573, 575f., 578, 586-589, 592, 595, 601 Indien: 72f., 74, 89, 91, 120, 284, 303, 337, 356 Indonesien: 74 Innsbruck: 577, 596, 601f. Irland: 129, 479 Isny im Allgäu: 577, 587, 595 Italien: 60, 64, 66, 175, 182f., 191, 230, 232, 234, 237, 241, 250, 255, 258, 268f., 287, 292, 294f., 301, 304, 341, 351, 547, 568, 582, 584, 596-599, 607, 610, 614, 619, 622, 654 - J - Jambi: 73 Japan: 74, 88-90, 94, 97f., 120 Jauer: 130f. Java: 72f., 75, 357 Jind 3 ich 9 v Hradec s. Neuhaus: 556 Johor: 72 Jokanga: 403 Jug: 396 Juliusburg: 556 Jütland / Jylland: 115 - K - Kaiserslautern: 654 Kalimantan (Borneo): 72, 83, 85, 93 Kampen: 39, 416 Kanton: 90 Karibik s. Westindische Inseln: 129 Karlstad: 104, 123 Kaufbeuren: 570, 584, 595 Kempten: 577f., 587, 591, 595, 601 Kiel: 41 Kleinasien: 302 Kleinbasel: 201, 204 Kleine Sunda-Inseln: 81 Koblenz: 651 Kola-Halbinsel: 403 Köln: 45, 136, 149, 255, 277, 287, 297, 301, 336, 340, 343, 352, 395, 493f. Konstantinopel: 287 Konstanz: 39, 175, 252, 579 Kopenhagen: 115 Korea: 279 Korneuburg: 554 Koromandelküste: 89 Kosteletz / Kostelec nad ernými Lesy: 557 Krakau: 182 Krems: 547, 550, 552-556 Kreta: 241 Kreuznach: 654, 656 Kristinehamn: 102, 104 Kronenberg: 439 Krumbach: 596 Kurpfalz: 34, 636f., 639, 640, 644, 645, 648 - L - Laa an der Thaya: 555 Lahr: 611, 614f., 622f., 626 Landau: 655 Landeshut: 131f., 135-137, 143 Languedoc: 562 <?page no="677"?> Geographische Namen 678 Langenberg: 612, 614, 617, 620 Langenlois: 550, 553, 559 La Rochelle: 255, 285 Lausanne: 578, 580, 595 Leiden: 248, 254, 268, 292, 296, 360, 368, 380, 413, 414, 422f., 514 Leipzig: 130, 136, 249f., 255, 273, 277, 493, 495-498, 502-505, 508 Levante: 227 Liechtenstein: 557 Lilla Edet: 105, 106 Lille: 120 Limmat: 577 Lindau im Bodensee: 575f., 590, 595, 601 Linz: 547, 548, 550 Lissabon: 115, 284, 287, 342 Liverpool: 255 Livland: 215, 220 Londe: 580, 595, 603 London: 40, 112, 114f., 118f., 125, 128, 130, 136, 179, 183, 255, 259, 261, 267, 273, 544 Löwen: 297 Lübeck: 40f., 63f., 67, 107f., 115, 119f., 125, 181, 201, 214, 215, 227, 494 Lucca: 178 Lund: 103 Lüneburg: 121, 139, 494 Luzern: 460 Lyon: 248, 273, 277, 311, 321, 326 - M - Maastricht: 438, 519, 520, 523, 533 Magdeburg: 255 Mähren: 548, 550f., 553, 557 Mailand: 176, 185, 228, 233, 277, 344, 465, 577, 612 Mainz: 654-656, 660 Makassar: 72, 75, 77-83, 85, 87, 90- 92, 94, 97f. Malabarküste: 89 Malaga: 338 Malaiischer Archipel: 72f., 75, 77, 79, 80, 84, 93, 96-98 Mälarsee: 105 Malakka: 72, 78, 82f., 87, 91, 97 Malmö: 114f., 122 Malta: 287 Manhartsberg: 550 Mannheim: 634, 636f., 638, 641, 644- 657 Marseille: 255, 658 Marstrand: 115 Mautern: 554 Mecklenburg: 120 Medemblik: 284 Meersburg: 564, 576, 584, 589, 593, 595, 601 Meggen: 444 Meierij: 512 Meltingen: 192 Memmingen: 575, 577, 590, 595 Middelburg: 277, 285, 287, 303, 340 Minnen: 416 Mikulov s. Nikolsburg: 548, 555-557 Mirecourt: 580, 596 Mistelbach: 555 Mocha: 89, 97 Mölsheim: 639, 648, 652 Molukken: 72, 75, 76, 77, 87, 94 Monsheim: 639, 642f., 644, 646-650, 652-654, 657, 660 Moppen: 440 Morges: 608 Moskau: 286, 390, 392, 396-401 Muijden: 439 Mülheim: 395 München: 230, 547, 566f., 576f., 579f., 583, 585, 587, 589f., 593, 595, 601-603, 608 Münster: 206, 342 Münchenwiler: 453, 457 Mutterstadt: 643f., 652f. - N - Nagasaki: 89 Nancy-sur-Cluses: 579, 595 Nantes: 250, 255 Narva: 387 Naumburg: 136, 187 <?page no="678"?> Geographische Namen 679 Neapel: 176, 187 Neuburg an der Donau: 577, 596 Neuchâtel: 578, 580, 596, 603 Neuenhaus: 442 Neuhaus s. Jind 3 ich ù v Hradec: 556 Neu-Kastilien: 339 Neustadt: 645, 653, 656 Newa: 394 Newcastle: 115, 119, 125 Niederlande: 73, 75-79, 83, 87, 89f., 128, 130, 136, 140, 250, 270, 284- 288, 297f., 301-303, 305, 340, 346-348, 355, 357-359, 362, 367, 369, 379f., 382, 386-389, 391f., 394f., 397, 399, 403, 409, 411, 416f., 511-513, 519f., 522, 534f., 638 Niederösterreich: 541f., 545, 547f., 550-556, 558, 560 Niedersachsen: 417, 485 Nikolsburg s. Mikulov: 548, 555-557 Nimwegen / Nijmegen: 416, 433, 439, 519 Nižnij Novgorod: 396 Nördliche Dwina: 388f., 394, 396 Nördlingen: 464, 494 Nordsee: 129, 139 Norwegen: 115, 117, 120f., 123f., 285f. Novgorod: 40f., 62, 396 Nürnberg: 39f., 63, 68, 206, 214, 220f., 245, 247-251, 252, 254-256, 258, 259, 260, 261, 263, 264-266, 267, 268-278, 280, 282, 299-302, 309-311, 315, 317, 320f., 325f., 335-340, 343-345, 348f., 352, 467, 494, 502, 546f., 576, 584, 592, 595, 603 Nya Lödöse: 101f. Nyköping: 108 - O - Oberdeutschland: 40, 42, 45, 60, 65, 201, 249 Oberkirch: 610 Oberndorf (Kloster): 221 Oberrhein s. a. Rhein: 191, 195, 590f., 608, 611, 622, 633, 658 Oberschwaben: 120, 577, 586f. Obersonthofen: 596 Obersülzen: 638, 661 Oberungarn: 550, 558 Ochsenhausen: 577, 596 Ochta: 397 Offenbach: 646, 655 Offenburg: 192, 608-610, 614, 620 Offstein: 637f., 640, 642, 647-651, 657 Oka: 399 Oldenburg: 444 Oldenzaal: 416, 440, 445f. Olpe: 342 Oppenheim: 656 Örebro: 104 Öresund: 102 Osmanisches Reich: 540, 546 Österreich: 230, 539, 541f., 544f., 547f., 552f., 555, 557, 560, 564, 574f., 577, 586f., 589, 595f., 601- 603 Osterwick: 439 Ostsee: 40, 47, 65, 69, 100, 112f., 121, 285, 301, 369, 386f., 393, 403, 405 Otmarsen: 442 Ottobeuren: 596 - P - Pachra: 399 Palembang: 72 Paris: 255, 494, 656 Parma: 185 Pegnitz: 247 Perchtoldsdorf: 554 Persien: 89, 399 Persischer Golf: 97 Peru: 342 Pesaro: 187 Pfalz: 632, 635, 637, 638f., 640-643, 648, 649, 651, 652f., 656, 659, 660 Pfalz-Zweibrücken: 636 Pfeddersheim: 640, 642, 650-652, 656, 660, 661 <?page no="679"?> Geographische Namen 680 Pforzheim: 204 Philippsburg: 646, 654 Piacenza: 277 Pisa: 182 Polen: 120, 139, 396, 399, 547 Polen-Litauen: 551 Pommern: 120 Ponoi: 403 Portugal: 95, 115, 119-123, 130, 137, 285f., 302 Prag: 136, 545, 548 Prechtal: 608, 620 Preußen: 127, 133, 540 Puerto de Santa María: 340 - R - Raab s. Györ: 558 Ravensburg: 60, 337, 577, 596 Rechtobel: 596 Regensburg: 39, 547, 589 Renchtal: 610 Retz: 555 Reutte in Tirol: 577, 595 Reval: 64, 286 Rhein: 67, 69, 123, 191, 195, 416f., 548, 586-591, 608, 611, 622, 633, 638, 639, 643, 646, 649, 651, 657, 658, 660 Rheinberg: 433, 439 Rheinhessen: 631f., 635, 637, 639-643, 644, 647, 651f., 656, 660f. Rheinland: 433 Rhüden (im Harz): 490 Rieden: 595 Riegel (am Kaiserstuhl): 574, 585, 588, 594, 607, 610 Riga: 45, 112, 115 Rockenhausen: 656 Roggwil: 612, 614, 620, 626 Rom: 179, 184, 186f. Rorschach: 576, 580, 595 Rostock: 45, 115 Rothenburg ob der Tauber: 210 Rothrist: 614 Rotterdam: 255, 259, 303, 360, 362, 380, 411, 416, 445 Russland: 120, 302, 379-383, 386- 388, 390-404 Rüti bei Burgdorf: 457 - S - Saarbrücken: 654 Sachsen: 309, 495, 497, 575, 586f., 595, 612 Sachsenhausen: 646, 654 Sallanches: 581 Sande: 442 San Lucár de Barrameda: 342 San Miniato al Monte: 187 St. Blasien: 607 St. Gallen: 217, 591, 595, 612 St. Georgen: 607 St. Jakob an der Birs: 193, 197 St.-Nicolas-de-Véroce (Haute-Savoie): 581 St. Petersburg: 394, 397, 405 Santiponce: 340 Santo Domingo: 344 Sardam: 115 Savoyen: 562f., 566, 567, 575, 580- 582, 583, 585-587, 593, 595, 597- 603, 605, 606, 609 Schaffhausen: 578, 580, 595, 619, 626 Schiltach: 615 Schlesien: 120, 128-130, 132, 133, 140 Schleswig-Holstein: 417 Schmiedeberg: 131, 137 Schonen: 107 Schönenwerd: 612 Schongau: 562, 595, 603 Schottland: 115, 120f., 286 Schwarzwald: 205f., 605, 607, 610f. Schwarzkosteletz s. Kosteletz: 557 Schweden: 99-105, 107f., 110, 113, 117, 123-125, 286, 380, 387, 546 Schweiz: 465, 474, 530, 564, 568, 574-578, 580f., 585-587, 590-592, 595-598, 603, 612, 614f., 619, 621f., 634f., 638, 644 Seeland: 283, 285 Selayar: 81 Seram: 83 <?page no="680"?> Geographische Namen 681 Sevilla: 335-346, 349f., 352 Siam: 91 Siebenbürgen: 558 Sizilien: 287 Skagen: 115 Skandinavien: 125, 301, 405, 417 Slowakei: 550 Småland: 104 Solothurn: 201, 612 Sonthofen: 596 Spanien: 115, 119-121, 123, 128-130, 136f., 187, 192, 287, 339, 341, 346f., 352, 358, 383 Speyer: 335, 654, 656 Spitz: 553f., 556 Staad: 571, 596 Staufen im Allgäu: 575, 592, 595 Steenwijk: 445 Stein: 550, 553f. Steinach im Kinzigtal: 609 Stetteldorf: 556 Stettin: 115, 398 Stockholm: 103, 105-108, 110f., 115, 122, 296 Stockton: 119 Stralsund: 115, 125 Straßburg: 217, 591, 646, 654 Strömstad: 102 Stuttgart: 628 Suchona: 396 Sulawesi: 72, 77, 80f., 83, 93f. Sumatra: 72f. Sumbawa: 81-83 Sunda-Straße: 72 Syrien: 120 - T - Taiwan: 87 Tecklenburg: 444 Ternate: 76f., 82, 88, 97 Texel: 389 Thailand: 91 Thalwil: 612, 617f., 625 Thorberg: 453, 457 Tidore: 76, 88, 97 Tignes / Tarentaise: 576 Tirol: 217, 547, 577 Todtnau: 205f. Totma: 396 Triesch / T 3 es 5 : 556 Triest: 129, 255 Trondheim: 63 Trujillo: 339 Tukangbesi-Archipel: 83 Tula: 397 Tunis: 182 - U - Ukraine: 398 Ulm: 39, 120, 214, 328, 506, 547, 577, 589f., 596 Ulsen: 416 Ungarn: 139, 546f., 557f. Uppsala: 103 Uster: 615, 626 Ustjug: 396 Utrecht: 287, 364, 417, 419, 425, 439 - V - Vallendar: 651 Valtice s. Feldsberg: 553, 557 Vänersborg: 102, 104f. Vänersee: 104f. Varberg: 115 Vardø: 395 Värmland: 99, 103f., 119, 125 Västerås: 104 Västergötland: 104 Vättersee: 104 Venedig: 66, 120, 175, 182, 184f., 227, 231-234, 238f., 241f., 248, 250, 255, 258, 268, 277, 287, 341, 397, 586f., 596 Venlo: 433, 438 Verona: 120, 185f. Vevey: 578, 580, 595, 603, 622 Vietnam: 91 - W - Wachau: 548 <?page no="681"?> Geographische Namen 682 Waidhofen an der Thaya: 550, 553, 558f. Waldsee: 577, 580, 595 Wattwil: 612, 615, 622 Weesp: 417, 430, 439 Weissenhorn: 120 Wertheim: 444 Wesel: 209, 217, 218f., 221 Westerwald: 638 Westeuropa: 95, 102f., 123, 259, 263, 273, 340, 388, 391, 395, 399, 522 Westfalen: 129, 416f., 433 Westindische Inseln s. Karibik: 129 Wien: 131, 149, 540, 541-548, 551, 553-555, 556, 557f., 560, 575, 577, 584f., 593, 595, 601, 603 Wiener Neustadt: 554 Wienerwald: 550 Wildberg (Württemberg): 494 Wismar: 115, 121 Wjatka-Becken: 394 Wolfach: 615 Wolfpassing: 556 Wolga: 396 Worb: 456f. Worms: 506, 548, 646, 651f., 654- 656, 660, 662 Würzburg: 217 - X - Xanten: 215, 442 - Z - Zürich: 204, 506, 562, 577, 585, 587, 595, 603, 612, 615, 625f. Zurzach: 195, 578, 581, 585, 589, 590, 603, 615 Zweibrücken: 636, 645, 653 Zwolle: 519, 520, 523 <?page no="682"?> Produkte - A - Agrarerzeugnisse s. Landwirtschaftliche Erzeugnisse: 104, 123, 460, 556, 560 Alaun: 554 Alkohol: 123, 170, 325, 328f. Almanache: 298 Altwaren: 543, 554 Anis: 555, 644f. Atlanten s. a. Karten, Seekarten: 291, 297f. Atlas: 276, 557 - B - Barchent: 110, 232f., 276, 341 Baumöl: 646 Baumwolle: 232, 236, 554 Bergwerkswaren: 123 Bierhefe: 649 Birnen: 497 Blei: 121, 228, 554 Branntwein: 123, 633, 637, 639, 643- 645, 646, 647, 649-659 Brixener Bombasin: 110, 112 Brot: 508 Bücher s. a. Atlanten, Geschäftsbücher, Musterbücher, Ratgeberliteratur, Seemannshandbücher: 42, 108, 154, 168, 186, 194, 215f., 220, 251, 257, 275, 296-299, 303f., 310, 427, 482, 485, 488 Buntmetalle: 91, 389 Bürsten: 401 Butter: 461, 462, 497, 554, 654-657, 660 - C - Creas: 143 - D - Damast: 140, 143, 276, 518, 611f. Degen: 393, 398 Dochtgarn: 552 Draht: 611, 625 Drucke: 274, 284, 289, 294, 296-300, 304, 365, 399, 611, 615 - E - Edelmetalle: 342, 484 Edelsteine: 285, 388, 557, 589 Eier: 497 Eisen s. a. Stabeisen: 99, 104, 112, 117, 119, 125, 199, 383, 396, 501, 548, 552f. Erbsen: 651, 657 Essig: 611, 633, 637, 643, 646, 647, 649-658 - F - Farbstoffe: 91, 94, 341, 389 Federn: 552-554 Felle: 241, 552 Feuerwaffen: 375, 388 Fisch: 123, 196, 396, 401, 402, 502, 517, 518 Flachs: 112, 232 Fleisch: 198, 460, 462, 464f., 467, 472, 508, 559 Futterpflanzen: 633, 658 - G - Galläpfel: 554 Gänse: 497 Garne: 131, 232, 276, 494, 516, 552, 554, 578, 611 Genussmittel: 94, 123 Gerste: 121, 388 Geschäftsbücher: 42, 107f., 186, 194- 196, 215f., 220, 345, 356, 365, 366, 386, 454, 482, 485, 488, 552f., 556, 561-566, 570f., 573, 588, 593, 605f., 616, 618, 629, 632, 640, 650, 652, 654f., 658f. Getreide: 106, 119-121, 254, 365, 392-394, 396, 400-402, 411, 467, 468, 536, 547, 574, 654, 656, 658 <?page no="683"?> Produkte 684 Gewehre: 393, 520 Gewürze: 71-74, 77, 79, 80, 83, 93, 119, 192, 227, 254, 302, 340f., 389, 411, 554, 557, 592 Gewürznelken s. Nelken Glas: 389, 400, 536, 611 Gold: 123, 157, 388, 422, 427, 494, 519, 536, 556 Goldtuche: 232 - H - Hafer: 121, 651, 657 Handschuhe: 536, 611 Hanf: 232, 391-393, 398, 402, 497, 552f., 643 Harnische: 398, 520, 544 Haushaltswaren: 518 Häute: 108, 117, 119, 125, 285, 402, 552f., 648 Hering: 120f., 502, 508, 509 Holz: 104, 119, 121, 123, 125, 206 Honig: 207, 555 Hühner: 497 - I - Immobilien: 123, 143, 180, 194, 198, 421f., 427, 429, 570f., 573 Indigo: 554 Ingwer: 611, 646 - J - Juchten / Juchtenleder: 112, 388, 390, 393, 397f., 554, 557 Juwelen: 558 - K - Kaffee: 73, 93, 139, 163, 168f., 170, 262, 533, 611, 625, 646 Kakao: 170 Kandis: 584, 646 Kappen: 612 Karabiner: 398 Karduan: 108, 112 Karten s. a. Seekarten, Atlanten: 286- 291, 294, 297f., 303f. Käse: 198, 467, 497, 553f., 654 Kastanien: 497, 554 Kaviar: 391, 397, 402f. Klee: 655f., 659 Kleinvieh: 454, 461, 654, 656 Knöpfe: 611 Knopflochseide: 611 Kohle: 121, 611 Kolonialwaren: 128, 139, 611 Korn: 388, 391, 402, 518, 522, 618 Kramwaren: 498-500, 502, 505 Kreide: 554 Kümmel: 644-646 Kupfer: 89, 112, 340f., 554, 571 Kurzwaren: 591, 616, 628 - L - Lampenöl: 214, 219 Landwirtschaftliche Erzeugnisse s. Agrarerzeugnisse: 104, 123, 460, 556, 560 Lebensmittel: 153, 161, 165, 168, 400, 420, 458, 463, 469, 494, 497, 518, 536, 543, 545, 589 Leder: 108, 227, 232, 270, 389, 392, 555 Leinen: 110, 127-132, 134-144, 227, 232, 383, 422, 536 Leinöl: 552f., 557 Leinsamen: 394, 401 Leinwand: 136, 142f., 232, 276, 578 Lichter: 611 Löffel: 611 Lorbeeren: 554 Luxuswaren: 73, 93, 556 - M - Macis: 72f. Malz: 106, 121 Mandeln: 611 Masten: 392 Mastvieh: 633, 655 Matten: 401 Melisse: 646, 655 Mesolan: 559 Messing: 341, 554 <?page no="684"?> Produkte 685 Metalle: 227, 338, 340, 393, 552, 554, 581, 611f. Milch: 654, 660 Mohn: 497 Most: 656 Musikinstrumente: 108 Muskatblüten: 72, 75, 79, 357 Muskatnüsse: 72f., 75, 79, 357 Musketen: 398, 615, 617 Müsli: 168 Musterbücher: 616, 618 Musterkarten: 612, 616f. - N - Nägel: 206, 504, 552f., 584, 625 Nelken: 72f., 75, 79, 83, 584 Nüsse: 497, 552f. - O - Obst: 497, 584 Ochsen: 112, 365, 373, 374, 375, 452, 465, 467, 547, 571, 592, 643, 644, 648, 649, 651, 655, 659 Öl: 215, 341, 611 - P - Papier: 112, 195, 389, 399f., 518 Pech: 119, 398 Pelze: 227, 388-390, 392, 398 Perlen: 388 Pistolen: 393, 398 Pfeffer: 72-74, 84-86, 88, 90-92, 98, 112, 340, 357, 554, 571, 584, 611, 646 Pfennigware: 498 Pferde: 42, 483, 487, 489-491, 543, 556f., 559, 571, 648, 650-652, 658 Pökelfleisch: 375 Pomorengüter: 401 Porzellan: 73, 90 Pottasche: 383, 391f., 396-398, 402f. Preiscouranten: 245, 248-250, 253- 256, 259-263, 265, 267-281, 293f. Pulver: 397, 400, 611, 615, 617 - Q - Quecksilber: 341f. - R - Rapsöl: 646, 649, 654, 658 Ratgeberliteratur: 149, 154, 168, 257, 275, 292, 303 Raufwolle s. a. Wolle: 201 Rechnungsbücher s. Geschäftsbücher Reis: 611, 646 Rhabarber: 391 Ried / Rohr s. a. Weberrohr: 611 Rindertalg s. a. Talg: 559 Rindfleisch: 557, 559 Roggen: 112, 121, 388, 643 Rohbaumwolle: 232, 236 Rohseide: 391, 621 Rötel: 554 - S - Sacktücher: 612, 617-619, 625, 628 Safran: 112, 206, 271, 324f., 554 Salpeter: 375 Salz: 106, 108, 112, 117, 119-121, 341, 536, 548, 562, 568, 570, 574, 577f., 581, 592, 646 Samt: 232, 276 Schafwolle s. a. Wolle: 554 Scharlachtuche: 232 Schießpulver: 375, 388, 612 Schiffbaumaterialien: 341, 393 Schleier: 131, 136, 142f. Schmalz: 553 Schmuck: 159, 421f., 427, 429, 556- 558 Schreibpapier: 389, 399 Schwefel: 396 Seekarten s. a. Karten, Atlanten: 286- 291, 294, 297f., 303f. Seemannshandbücher: 288, 290, 294, 298, 303f. Seide: 73, 90, 175f., 183, 186, 188, 232, 276, 341, 391, 395, 397, 501, 557, 607, 612, 614, 616, 618, 621, 623, 625 <?page no="685"?> Produkte 686 Seile: 373-375 Sensen: 611 Silber: 123, 205, 340f., 388, 421f., 427 Silbertuche: 232 Sklaven: 76, 128f., 168, 339 Speck: 497, 518 Spitze: 397, 531 Sprachbücher: 229-242 Spreu: 656 Stabeisen s. a. Eisen: 112, 121, 123f. Stahl: 199, 204 Steinkohle: 121 Stockfisch: 554 Stoffe: 227, 232f., 238, 341, 388, 611, 616, 618 Südfrüchte: 341 Süßigkeiten: 168 - T - Tabak: 123, 139, 554, 575, 611, 626, 633, 641 Tafeln (Navigation): 298 Taft: 397, 626 Talg s. a. Unschlitt: 388, 392-394, 398, 401f., 559 Tapisserien: 341 Taue: 396 Tee: 73, 90, 170 Teer: 119, 383, 391f., 394, 401-403 Textilien: 73, 80, 88, 93, 98, 108, 119f., 123, 144, 249, 259, 386, 393, 516, 565, 578, 581, 591, 611, 624, 627 Tierhäute s. Häute: 108, 117, 119, 125, 285, 402, 552f., 648 Töpferwaren: 91 Torf: 362, 522, 536 Tran / Tranöl: 391, 401f. Trockenfleisch: 497 Tuche: 112, 192, 199f., 204f., 207, 232-234, 238, 276, 544, 556f. - U - Unschlitt s. a. Talg: 559 - V - Vieh s. a. Kleinvieh, Zuchtvieh: 156, 194, 199, 203, 457f., 462, 465, 471, 477, 479-481, 483-487, 490f., 543, 633, 635, 637, 638, 639, 644, 648, 651, 652, 655, 657-659 - W - Wacholder: 644 Wachs: 498, 554, 611 Waffen: 91, 93, 112, 228, 383, 393, 398, 400-402 Weberrohr s. a. Ried / Rohr: 611f., 618 Wein: 106, 119, 123, 135, 194, 211, 219, 228, 239, 241f., 328f., 341, 389, 398, 400, 407-409, 411f., 416, 419, 421-423, 426f., 429, 432-434, 460, 519, 546f., 558, 645, 649, 651, 657 Weinstein: 554, Weizen: 121, 388, 633, 658 Werg: 232 Werkzeug: 382, 458, 503 Wolle s. a. Raufwolle: 201, 120, 199- 201, 204, 341, 422, 543, 554, 556, 616 Wolltuche: 175, 341, 399 - Z - Zeitungen: 59, 248f., 252-254, 257, 278f., 287f., 294-296, 300, 303f., 326, 399 Zimt: 71f., 87, 584 Zinn: 552-554, 557 Zitronen: 646 Zitrusfrüchte: 458, 462 Zobelpelze: 398 Zoll: 40, 99f., 102, 106-113, 116f., 124, 130, 139, 228, 231f., 249, 271, 286, 390, 466, 484, 543, 552f., 556, 590f., 620f., 656 Zuchtvieh, s. a. Vieh: 633, 655 Zucker: 93, 112, 139, 252, 341, 343, 389, 501, 584, 646, 655 Zwirn: 232, 500, 554 <?page no="686"?> 687 Autoren und Herausgeber PD Dr. Marcel Boldorf, Berlin Dr. Christina Dalhede, Universität Göteborg Dr. Alexander Engel, Georg-August-Universität Göttingen PD Dr. Ulf Christian Ewert, Technische Universität Chemnitz Dr. Michaela Fenske, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Mark Häberlein, Otto-Friedrich-Universität Bamberg Dr. Marjolein ’t Hart, Universiteit van Amsterdam Dr. Danielle van den Heuvel, University of Cambridge Dr. Cecilie Hollberg, Kustodin, Universität Leipzig Christof Jeggle M.A., Otto-Friedrich-Universität Bamberg Dr. Frank Konersmann, Universität Bielefeld Christian Kuhn, Otto-Friedrich-Universität Bamberg Dr. Clé Lesger, Universiteit van Amsterdam Dr. Jürgen G. Nagel, FernUniversität Hagen PD Dr. Peter Rauscher, Universität Wien Prof. Dr. Arnd Reitemeier, Georg-August-Universität Göttingen Dr. Daniel Schläppi, Universität Bern Sven Schmidt M.A., Bamberg Prof. Dr. Susanne Schötz, Technische Universität Dresden Dr. Irmgard Schwanke, Stadtarchiv / Heimat- und Grimmelshausenmuseum Oberkirch Prof. Dr. Stephan Selzer, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg Dr. Matthias Steinbrink, Universität der Bundeswehr München Dr. Miki Sugiura, Tokyo International University Dr. Jan Willem Veluwenkamp, Rijksuniversiteit Groningen PD Dr. Kurt Weissen, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Martin Zürn, Meersburg
